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German Pages 865 [860] Year 2017
Philipp Melanchthon
Philipp Melanchthon
Der Reformator zwischen Glauben und Wissen Ein Handbuch Herausgegeben von Günter Frank Unter Mitarbeit von Axel Lange
ISBN 978-3-11-033505-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-033580-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038926-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Luther und Melanchthon. Doppelporträt, 1543, von Lucas Cranach d. Ä., © akg-images Druck und Bindung: Huber und Co GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Es entspricht dem Charakter eines Handbuches, dem Leser einen aktuellen Ein- und Überblick über die gegenwärtige Melanchthonforschung zu vermitteln. Mit Melanchthon hat uns die jüngere und jüngste Forschung nicht nur den wichtigsten Gefährten an der Seite Martin Luthers und damit der Anliegen der Reformation vorgestellt, sondern gleichzeitig einen Gelehrten, der in Wissenschaft, Schule und Universität, Politik und Literatur Spuren hinterlassen hatte, die von europäischem Rang waren und sind. Die klassische, seit spätestens dem Sterbejahr Melanchthons belegte Ehrenbezeichnung „Praeceptor Germaniae“ kann deshalb vor dieser europäischen Wirkungsperspektive durchaus in „Praeceptor Europae“ umformuliert werden. Melanchthons Bedeutung liegt in seiner universalen Gelehrsamkeit und Wirksamkeit. Diese vor dem Hintergrund der aktuellen Forschung sichtbare Bedeutung darzulegen, versuchen namhafte Gelehrte aus Europa und den USA, die selbst wichtige Aspekte in dieser neueren Melanchthonforschung beigetragen haben. Gerade die facettenreiche Gestalt und die umfangreiche Wirkung sind der Grund für ein beinahe enzyklopädisches Nachschlagewerk. Natürlich wird dem kundigen Leser nicht entgehen, dass immer noch wichtige Kapitel in dieser Geschichte fehlen. So fehlt etwa der höchst wünschenswerte Beitrag über „Melanchthon und das Judentum“. So ist zwar gelegentlich bekannt, dass Melanchthon durch eine andere Haltung gegenüber dem Judentum bestimmt war, als sie von Luther bekannt ist und die auch von dem Reformjudentum des 19. Jahrhunderts gewürdigt wurde. Allerdings fehlt es hierzu an einschlägigen Studien und Gelehrten, die sich eines solchen Themas annehmen. Dies gilt in gleicher Weise für das Thema „Melanchthon als Prediger“. So bleiben auch das eine oder andere Desiderat wichtige Aufgaben künftiger Forschung. Das literarische Œuvre Melanchthons ist immens. Das Corpus Reformatorum vereinigt in 28 Bänden einen großen Teil des Briefwechsels sowie viele und wichtige wissenschaftliche Werke des Wittenbergers. Der von Heinz Scheible initiierte und von Christine Mundhenk weitergeführte Briefwechsel beläuft sich bis heute auf acht Regesten-Bände mit vier Registern und sechzehn Textbänden. Nur noch gelegentlich tauchen bislang unbekannte Briefe Melanchthons, die an sich verstreut sind, auf. Was die Schriften anbelangt, ist die Überlieferungslage in vielen Fällen noch nicht oder nur unzureichend geklärt. Dennoch legt allein der schiere Umfang der Schriften Zeugnis ab von der nachhaltigen Wirkung des Reformators und Humanisten. Dass es noch keine neue, an historisch-kritischen Prinzipien gegenwärtiger Editionswissenschaft orientierte Ausgabe der Werke Melanchthons gibt, ist zweifellos ein Mangel der gegenwärtigen Forschung. Trotz dieser Schwierigkeit kann man dennoch sagen, dass die gegenwärtige Forschung Melanchthon als wichtigsten reformatorischen Gefährten an der Seite Martin Luthers und herausragende Person im Werden des frühneuzeitlichen Europas belegt. Neben der Melanchthon-Biographie, die der renommierte Melanchthonkenner Heinz Scheible 2016 in zweiter Auflage herausgegeben hat, und der Melanchthon-Bibliographie von Helmut Claus, die 2014 erschien und die
VI
Vorwort
alle bislang bekannten Melanchthon-Drucke aus der Lebenszeit Melanchthons erschließt, bietet dieses vorliegende Melanchthon Handbuch einen Überblick über den Stand der Melanchthonforschung. Mit dessen Herausgabe verbindet sich gleichwohl die Hoffnung, dass es gleichermaßen Anstöße gibt für die weitere Forschung. Das Konzept dieses Melanchthon Handbuchs verdankt sich in vieler Hinsicht dem Luther Handbuch von Albrecht Beutel und dem Calvin Handbuch von Herman J. Selderhuis. Mein besonderer Dank geht jedoch an meinen Mitarbeiter Dr. Axel Lange, der mit großer Sorgfalt das Manuskript des Handbuchs lektoriert hat. Bretten, Pfingsten 2017
Günter Frank (Herausgeber)
Inhalt Vorwort
V
Abkürzungsverzeichnis
XIII
A Orientierung Günter Frank Person und Wirken Melanchthons Günter Frank Melanchthonausgaben Günter Frank Hilfsmittel
3
5
11
Günter Frank Melanchthonforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts
15
B Person Christine Mundhenk 25 Leben Martin Greschat Melanchthons Verhältnis zu Luther
43
Andreas Mühling Melanchthons Verhältnis zu anderen Reformatoren Calvin, Zwingli, Bullinger, Calvin, Bucer, Bugenhagen und Flacius Maria Lucia Weigel Melanchthon-Bildnisse in Geschichte und Gegenwart Andreas Gößner Reichspolitik und Religionsgespräche
97
73
61
VIII
Inhalt
Robert Kolb Innerprotestantische Streitigkeiten Natalie Krentz Kirchenreform und -visitation
109
125
Markus Wriedt Bildung, Schule und Universität
141
Melanchthon und die Bekenntnisbildung Hendrik Stössel: Luthertum 155 Matthias Freudenberg: Reformiertentum
155 179
Eike Wolgast Melanchthon und die Täufer/Spiritualisten Michael Plathow Melanchthon und die Türken
193
205
Johanna Rahner Melanchthon und der römische Katholizismus
215
C Werk I
Gattungen
Timothy J. Wengert Biblische Übersetzungen und Kommentare
233
Georg Gottfried Gerner-Wolfhard 251 Katechismus Thorsten Fuchs 263 Literatur Andreas Gößner Deklamationen, Reden und Postillen
277
Christopher Voigt-Goy Politische, kirchliche und gesellschaftliche Gutachten
295
Inhalt
Christine Mundhenk Briefe 303 II
Theologie
Günter Frank Zum Wissenschaftsverständnis: Melanchthons Topik Sven Grosse System der Theologie
333
Robert Kolb Rechtfertigungslehre Christian Link Schöpfungslehre
347
363
Hendrik Stössel 377 Christologie Bo Kristian Holm Theologische Anthropologie Johannes Ehmann Abendmahlstheologie
395
409
Johanna Rahner Ekklesiologie 419 Martin H. Jung Prädestination, Eschatologie, Frömmigkeit
439
III Philosophie Günter Frank Zum Philosophiebegriff Melanchthons Günter Frank Praktische Philosophie Sandra Bihlmaier Naturphilosophie
469
457
451
321
IX
X
Inhalt
Sandra Bihlmaier Anthropologie 483 Christoph Strohm Jurisprudenz 495 Jürgen Helm Medizin 507 Hanns-Peter Neumann Dialektik 515 William P. Weaver Rhetorik 535 Boris Djubo Grammatik Ulrich Reich Mathematik
547
559
Martin Schneider 577 Geschichte Thorsten Fuchs Antike Literatur
591
D Wirkung und Rezeption Walter Sparn Altes Reich
611
Tarald Rasmussen 647 Skandinavien Charlotte Methuen England 659 Herman J. Selderhuis 683 Niederlande
XI
Inhalt
Nicola Stricker Frankreich 701 Mariano Delgado Spanien 715 Lothar Vogel Italien 729 Karin Maag Schweiz 739 Andreas Müller Ungarn und Südosteuropa
745
Kęstutis Daugirdas Polen-Litauen 757 Günter Frank Melanchthon als „größte ökumenische Gestalt der Reformationszeit“ Literaturverzeichnis Personenregister Sachregister
773 819
831
Autorenverzeichnis
841
767
Abkürzungsverzeichnis ABG AGPh AKG ApolCA ARG ASD BGLRK BHTh BSELK
Archiv für Begriffsgeschichte. Archiv für Geschichte der Philosophie. Arbeiten zur Kirchengeschichte. Apologia Confessionis Augustanae. Archiv für Reformationsgeschichte. Opera Omnia Desiderii Erasmi Roterodami. Amsterdam 1969 ff. Beiträge zur Geschichte und Lehre der reformierten Kirche. Beiträge zur historischen Theologie. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland. Göttingen 2014. BSELK QuM BSELK Quellen und Materialien. BSHPF Bulletin de la Société de l’histoire du protestantisme français. BSLK Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. Deutscher Evangelischer Kirchenausschuß im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 2 Bde. Göttingen 1930, 41959. BSPh Bochumer Studien zur Philosophie. BzA Beiträge zur Altertumskunde. CA Confessio Augustana. CDC Corpus Doctrinae Christianae. Claus Claus, Helmut. Melanchthon-Bibliographie 1510 – 1560. 4 Teilbde. QFRG 87. Gütersloh 2014. Clemen, Kl. Schr. Clemen, Otto. Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte (1897 – 1944), 9 Bde., hg. v. Ernst Koch. Leipzig 1982 – 1988. CO Calvini Opera. 1863 – 1900 (CR 29 – 87). CR Corpus Reformatorum, Bde. 1 – 28: Philippi Melanchthonis opera quae supersunt omnia, hg. v. Karl Gottlieb Bretschneider und Heinrich Ernst Bindseil, Halle/ Braunschweig 1834 – 1860; Bde. 29 – 87: Johannes Calvin: Opera […] omnia [Bd. 1 – 59], hg. v. Wilhelm Baum, Braunschweig/Berlin 1863 – 1900; Bde. 88 ff: Huldreich Zwingli: Sämtliche Werke, hg. v. Emil Egli, Berlin/Leipzig/Zürich 1905 ff. CS Confessio Saxonica. DNP Der neue Pauly. EFN Editionen zur Frühen Neuzeit. EThSt Erfurter Theologische Studien. FC Formula concordiae. FGLP Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus. FKDG Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte. FS Festschrift FZPhTh Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie. Hammer Hammer, Wilhelm. Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte. 4 Bde. QFRG 35, 36, 49, 65. Gütersloh 1967 – 1996. HBBW Heinrich Bullinger Briefwechsel. HDThG Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. HJ Historisches Jahrbuch. HKG Handbuch der Kirchengeschichte. HST Handbuch der Systematischen Theologie.
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HuWR
HWP HWR IKaZ JusEcc JWCI KuD KD Koehn
LC LP LStRLO LThK LuJ MBW
MBW.T
Mel.Dt MSA MSB MSHTh NK NZSTh ÖR QGK QFRG R5AS RBS
RefoRC RGG RMNY RST RSTh SHCT
Abkürzungsverzeichnis
Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae, Philipp Melanchthon, am 16. Februar 1997, gewidmet Helmar Junghans, hg. v. Michael Beyer und Günther Wartenberg, unter Mitwirkung von Hans-Peter Hasse. Leipzig 1996. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Internationale katholische Zeitschrift Communio. Jus Ecclesiasticum. Journal of the Warburg and Courtauld Institutes. Kerygma und Dogma. Die Kirchliche Dogmatik. Koehn, Horst. Philipp Melanchthons Reden. Verzeichnis der im 16. Jahrhundert erschienenen Drucke. Frankfurt a. M. 1985; auch in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 25 (1984): 1277 – 1486. Philipp Melanchthon. Loci Communes 1521 Lateinisch-Deutsch, übersetzt von Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh 1993, 21997. Letters and Papers, Foreign and Domestic, Henry VIII. 1864 – 1920, 21 Bde. London. (http://www.british-history.ac.uk/letters-papers-hen8) Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der lutherischen Orthodoxie. Lexikon für Theologie und Kirche. Lutherjahrbuch. Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. v. Heinz Scheible. Abt. Regesten, bearbeitet von Heinz Scheible und Walter Thüringer. Stuttgart/Bad Cannstatt 1977 ff. Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. von Heinz Scheible. Abt. Texte, bearbeitet von Richard Wetzel, unter Mitwirkung von Helga Scheible, ab Bd. T 11 von Christine Mundhenk. Stuttgart/Bad Cannstatt 1991 ff. Melanchthon Deutsch, 5 Bde. 1997 – 2012. Melanchthons Werke in Auswahl, hg. v. Robert Stupperich. 7 Bde., Gütersloh 1951 – 1975, z. T. 2. Aufl., 1978 – 1983. Melanchthonschriften der Stadt Bretten. Münchener Studien zur historischen Theologie. Nijhoff, Wouter und Maria Elizabeth Kronenberg. Nederlandsche Bibliografie van 1500 tot 1540. Den Haag 1923 – 1966. Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie. Ökumenische Rundschau. Quellen zur Geschichte der Stadt Brassó. Kronstadt 1886 ff. Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte. REFO500 Academic Studies. Reformierte Bekenntnisschriften 1/2 1535 – 1549, hg. v. Heiner Faulenbach und Eberhard Busch im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland. NeukirchenVluyn 2006. Reformation Research Consortium. Religion in Geschichte und Gegenwart. Régi magyarországi nyomtatványok. Reformationsgeschichtliche Studien und Texte. Regensburger Studien zur Theologie. Studies in the history of Christian thought.
Abkürzungsverzeichnis
SMHR StA, StB STKG StTh SupplMel
SVRG ThBT ThLZ THR ThRv ThZ TRE UTB UUW
VD 16 VD 17 VIEG VVKGB WA WA Br WA DB WA TR WK Z ZKG ZKTh ZSRG ZSTh ZThK
XV
Spätmittelalter, Humanismus, Reformation. Stadtarchiv, Stadtbibliothek. Studien und Texte zur Kirchengeschichte und Geschichte. Studia Theologica. Supplementa Melanchthoniana. Werke Philipp Melanchthons, die im Corpus Reformatorum vermißt werden, hg. v. der Melanchthon-Kommission des Vereins für Reformationsgeschichte. 5 Bde. (Leipzig) Frankfurt a. M. (1910 – 1929) 1968. Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte. Theologische Bibliothek Töpelmann. Theologische Literaturzeitung. Travaux d′Humanisme et Renaissance. Theologische Revue. Theologische Zeitschrift. Theologische Realenzyklopädie. Uni-Taschenbücher. Urkundenbuch der Universität Wittenberg, hg v. Walter Friedensburg. Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt. Neue Reihe 3 – 4. 2 Bde. Magdeburg 1926 – 1927. Das Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1983 ff. Das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts. Berlin/Wolfenbüttel/München 2005 ff. Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden. D. Martin Luther Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar1883 ff. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe: Briefwechsel. 18 Bde. Weimar 1930 – 1985. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe: Die Deutsche Bibel. 12 Bde. Weimar. 1906 – 1961. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe: Tischreden. 6 Bde. Weimar 1912 – 1921. Wittenberger Konkordie. Huldreich Zwingli. Sämtliche Werke. 1905 ff. (CR 88 ff.). Zeitschrift für Kirchengeschichte. Zeitschrift für Katholische Theologie. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Zeitschrift für Systematische Theologie. Zeitschrift für Theologie und Kirche.
A Orientierung
Günter Frank
Person und Wirken Melanchthons Wahrnehmung und Bewertung von Person und Wirken Philipp Melanchthons unterlagen in der Vergangenheit häufig einer zweifachen Perspektive. Einerseits war seine Bedeutung als engster Mitarbeiter Martin Luthers für die Wittenberger Reformation, als Autor der meisten Bekenntnisschriften, als Handlungsführer an den verschiedenen Religionsgesprächen, als Kirchenorganisator (Praeceptor Germaniae) und als Universalgelehrter immer unbestritten. Auf der anderen Seite lässt sich schon seit den beginnenden 1520er Jahren, genauer: seit seiner Antwort auf die Pariser Theologen im Jahr 1521, das Entstehen weitverbreiteter Stereotypen und Klischees beobachten, das zu einem negativen Melanchthonbild geführt hatte und in dessen Folge ihm Sanftmut, mangelnder theologischer Tiefgang, Nähe zum Papsttum, Nachgiebigkeit in Lehrstreitigkeiten und Entfernung von Luthers Positionen vorgeworfen worden waren (Kobler 2014). Damit zusammen hängt als eine zweite Wahrnehmungsperspektive eine duographische, die in der Geschichte immer dazu geneigt hatte, Melanchthon im Zusammenhang mit Martin Luther zu bewerten, die es jedenfalls erschwert hatte, diesen in seiner eigenständigen Gestalt wahrzunehmen. Trotz der unbestrittenen Bedeutung Melanchthons als frühneuzeitlicher Gelehrter ist die Figur Melanchthons im Verlaufe ihrer Rezeption durch die oft hagiographisch gestützte Autorität der Reformatoren Martin Luther und Johannes Calvin vielfach in deren Schatten gestellt worden. So wurde seine theologische und philosophische Präsenz durch die Kritik am „Philippismus“ seitens eines sich konfessionell profilierenden Luthertums eingeschränkt. Die Ausbildung des konfessionellen Calvinismus und die im ausgehenden 16. Jahrhundert veränderte wissenschaftliche Methodologie und ihre Folgen (z. B. die Revision der Dialektik und die Einführung einer ontologischen Metaphysik in beiden protestantischen Konfessionen) verstellten zusätzlich den Blick auf Melanchthons Werke. In der neueren deutschen Kirchen- und Theologiegeschichte, deren vermittlungstheologische und unionistische Bestrebungen dem melanchthonischen Typ reformatorischen Christentums durchaus nahestanden, beschränkte die Stilisierung Luthers zum nationalen Heros das Interesse an Melanchthons Werken. Der kritischen Gesamtausgabe der Werke Luthers, die in dessen Jubiläumsjahr 1883 begonnen wurde, folgte im Melanchthon-Jubiläumsjahr 1897 trotz prominenter Unterstützung durch Adolf Harnack unter anderem lediglich der Plan einer entsprechenden Gesamtausgabe; verwirklicht wurde nur die Edition der vier Supplementa zum Corpus Reformatorum. Dadurch wurden jedoch die durch Melanchthons Reform aufgebauten grammatikalischen, rhetorischen und hermeneutischen Standards zur Aneignung und Pflege der abendländischen Tradition keineswegs außer Kraft gesetzt. Das gilt erst recht für die Verknüpfung von pietas und eruditio, die Melanchthon in seiner Person repräsentiert und die er in der Perspektive des christlichen Gottesglaubens und in der Perspektive einer universalwissenschaftlichen Gelehrsamkeit stets vehement vertreten hat. DOI 10.1515/9783110335804-001
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Günter Frank
Literatur Kobler, Beate. 2014. Die Entstehung des negativen Melanchthonbildes. Protestantische Melanchthonkritik bis 1560. BHTh 171. Tübingen.
Günter Frank
Melanchthonausgaben Melanchthon war ein überaus produktiver Gelehrter und Schriftsteller, dessen Briefwechsel ihn nicht nur mit den bedeutendsten Persönlichkeiten in Europa verbindet, sondern dessen Werke auch nahezu alle wissenschaftlichen Disziplinen und literarischen Gattungen seiner Zeit widerspiegeln. Die Druck- und Editionsgeschichte seiner Werke ist gleichzeitig kompliziert. Zu Lebzeiten Melanchthons wurden viele Werke häufig revidiert, nach seinem Tode wurden die Texte unregelmäßig gedruckt. Melanchthon hat seine Texte immer wieder überarbeitet, oft ohne dies auf dem Titelblatt zu vermerken. Viele seiner Schriften wurden ohne sein Wissen nachgedruckt. Ein weiterer Grund für die schwierige Lage der Druck- und Editionsgeschichte ist die inhaltliche Breite des Opus Melanchthonis. Seine Schriften gehören verschiedenen Gattungen an und beziehen sich auf nahezu alle universitären Disziplinen. Je nach Interesse und Verwendungskontext wurden daher einzelne Schriften in unregelmäßigen Abständen nachgedruckt. Mit der Abwertung des Theologen Melanchthon vor allem gerade im 20. Jahrhundert gerieten auch andere seiner Werke in Misskredit („Melanchthon hat die lutherische Rechtfertigungslehre verdorben“, Holl 1932, 128). Statt einer reputierlichen Gesamtausgabe wurden nur einzelne Werke präsentiert, wenn deren Gehalt nutzbringend verwendet werden konnte. Im Folgenden wird in groben Zügen die Druckgeschichte nachgezeichnet.
1 Einzelausgaben Die Geschichte der Einzelausgaben macht deutlich, dass sich das Interesse an den Werken im Laufe der Zeit abhängig von den jeweiligen Zeitumständen und Interessenlagen verschoben hat. So wurden die philosophischen Werke Melanchthons vor allem im 16. Jahrhundert geschätzt und immer wieder neu aufgelegt. Im 18. Jahrhundert richtete sich das Interesse auf die pädagogischen Schriften. Hinzu trat eine zunehmende historische Betrachtung der Werke, die zum Beispiel an den Darstellungen der Geschichte der Loci communes ablesbar ist. Im 19. Jahrhundert war vor allem die Gesamtausgabe des Corpus Reformatorum (CR) ausschlaggebend, während im 20. Jahrhundert wieder vereinzelt kommentierte Ausgaben bestimmter Werke erschienen sind. Als neuere Teileditionen liegen lediglich die lateinisch-deutsche Edition der Rhetorik von 1531, die im Jahr 2001 von Volkhard Wels publiziert wurde, vor sowie eine von Günter Frank herausgegebene lateinisch-deutsche Edition von Melanchthons Ethicae doctrinae elementa aus dem Jahr 1550, die im Jahr 2008 in der Reihe Editionen zur Frühen Neuzeit erschienen ist. Auch wenn beide Ausgaben auf gründlicher Kollationierung beruhen, sind sie doch als Studienausgaben angelegt. Die edierten Schriften sind grundsätzlich mit Blick auf Leser- und Benutzerfreundlichkeit bearDOI 10.1515/9783110335804-002
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Günter Frank
beitet, berücksichtigen die Druckgeschichte mit den unterschiedlichen Bearbeitungsstufen nur sporadisch und verfügen auch nur punktuell über wissenschaftliche Apparate. Dies gilt entsprechend auch für eine jüngst erschienene deutsche Übersetzung sowie für eine italienische Übersetzung der Initia doctrinae physicae (Melanchthon [Ludwig] 2008, Melanchthon [Bellucci] 2009). Beide Übersetzungen fußen auf der Ausgabe des CR 13 (180 – 412) beziehungsweise der dieser allein zu Grunde liegenden Ausgabe (Wittenberg: Lufft 1549). Die deutsche Übersetzung von Ludwig bietet keinerlei Kommentierung außer den Nachweisen wörtlicher Zitate. Daneben erschienen als Einzelausgaben Melanchthons deutsche Fassung seiner Loci theologici des Jahres 1553 mit einer ausführlichen Druckgeschichte sowie eine englische Übersetzung der überarbeiteten Fassung dieser Theologie aus dem Jahr 1559 (Preus 2011. Bei dieser Ausgabe handelt es sich um eine Kompilation eines unvollständigen Kommentars zu den Loci theologici von Martin Chemnitz sowie der von Melanchthon überarbeiteten Fassung des Jahres 1559). Schließlich erschien eine spanische Übersetzung der Loci communes des Jahres 1521 (Krüger 2011). Eine Sammlung von Reden Melanchthons zur Philosophie und Pädagogik in einer englischen Übersetzung liegt seit 1999 durch Sachiko Kusukawa vor.
2 Werkausgaben Die erste Sammlung der Schriften Melanchthons wurde 1541 in Basel in einer fünfbändigen Edition herausgegeben. In den 1560er Jahren gab es auf Veranlassung von Melanchthons Schwiegersohn Caspar Peucer eine vervollständigte Ausgabe der 1541er Edition (Omnia opera reverendi viri Philippi Melanthonis). Erst im 19. Jahrhundert wurde erneut das Vorhaben einer vollständigen Ausgabe ins Auge gefasst: Nach den Vorarbeiten von Georg Theodor Strobel, der in Nürnberg die größte Sammlung von Melanchthondrucken zusammentrug, plante Johannes Andreas Detzer eine Gesamtausgabe (Philippi Melanchthonis Opera Omnia, denuo diligenter collecta, in ordinem redacta et ad optimas, quae exstant, editiones inter se comparatas edita), von der 1828 aber nur der erste Band erschien (Loci Theologici summa cura ac diligentia postremum recogniti et aucti, item Appendix disputationis de coniugio ad editionem per Joan. Oporinum Basileae an. MDLXI factam denuo editi, ab J. A. D. Erlangen 1828). Ein Jahr später wurde eine Gesamtausgabe unter der Herausgeberschaft von Friedrich August Koethe angekündigt: Melanchthon’s Werke, in einer auf den allgemeinen Gebrauch berechneten Auswahl, hg. von Dr. F. A. Koethe. In sechs Theilen. Erster Theil, Leipzig 1829. Koethe hatte unter anderem das Ziel, eine „heller[e] Einsicht in das Wesen der reinen evangelischen Lehre“ zu bekommen, die „zur Versöhnung der streitenden Parteien in unserer Kirche“ dienen sollte (Vorrede, XII). 1827 wurde der Generalsuperintendent Karl Gottlieb Bretschneider vom Hallenser Verleger C. A. Schwetschke gebeten, seinen Rat zu einer Ausgabe der Werke Martin Luthers zu geben. In seiner Antwort entwickelte Bretschneider einen umfassenden Plan für eine Gesamtausgabe der Briefe und Schriften Luthers, Melanchthons, Zwinglis und Calvins.
Melanchthonausgaben
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1834 wurde der erste Band des Corpus Reformatorum mit Schriften Melanchthons veröffentlicht, aber Bretschneiders Tod brachte 1848 das Unternehmen ins Stocken. Der Hallenser Bibliothekar Heinrich Ernst Bindseil setzte die Ausgabe ab Band 16 fort und vollendete die Edition 1860, im 300. Todesjahr Melanchthons. Jedoch edierte er zahlreiche Werke Melanchthons gar nicht und einige nur in der Letztfassung, zudem verzichtete er weitgehend darauf, die edierten Texte zu kommentieren. Und so blieb auch diese Opera-Omnia-Edition letztlich unvollständig, obwohl sie in 28 Bänden erschien und der Reformationsforschung einen starken Impuls gab. Dennoch wurde schnell sichtbar, dass diese Werkausgabe nicht nur unvollständig war, sondern auch modernen, historisch-kritischen Prinzipien nicht entsprach. Die Auswahl der berücksichtigten Werke der Druckgeschichte war in vieler Hinsicht arbiträr. Auch bot der erstellte Text nicht immer einen gesicherten, weil er Texte aus unterschiedlichen Werkphasen kommentarlos ineinanderschob. Nach der Feier des 400. Geburtstages des Reformators (1897) beschloss deshalb der Verein für Reformationsgeschichte, das Corpus Reformatorum durch die Supplementa Melanchthoniana zu vervollständigen. Es wurde eine Kommission zur Ergänzung der Werke Melanchthons gebildet, die aus den Gelehrten Adolf Harnack, Friedrich Loofs, Gustav Kawerau, Theodor Kolde, Julius Köstlin, Max Lenz und Nikolaus Müller bestand. Weil aber nur Müller sich an der Edition beteiligte, ging es mit den Supplementa nur unzureichend voran. In dieser neuen Reihe ist in den Jahren 1910 bis 1926 ein Band pro Abteilung (1910 Dogmatische Schriften;1911 Philologische Schriften;1915 Katechetische Schriften;1929 Homiletische Schriften) erschienen und dabei ist es geblieben. Bereits während der Kommissionssitzungen 1897 in Berlin wurde über eine neue kritische Gesamtausgabe der Werke Melanchthons gesprochen, von der man glaubte, sie im Rahmen der Gedenkfeiern 1960 und 1997 abschließen zu können, und zu der ein Editionsplan verfasst wurde. Die Gesamtausgabe sollte 10 Bände in 30 Bogen umfassen und aus folgenden Abteilungen bestehen: I. Epistolae, praefationes, consilia, carmina; II. Academica und philosophica; III. Exegetica; IV. Philologica; V. Dogmatica; VI. Practica; VII. Varia (vgl. die Unterlagen der Kommission im Archiv des Melanchthonhauses Bretten). Obwohl davon ausgegangen wurde, dass noch Nachforschungen in Archiven und Bibliotheken durchgeführt werden müssten, dachte man doch, ab 1898 jährlich einen Band herausgeben zu können. Zur Vorbereitung wollte man in der Staatsbibliothek oder der Universitätsbibliothek Berlin eine Sammlung von Melanchthondrucken und Handschriften anlegen. Ein Antrag zur Finanzierung des Unternehmens wurde abgelehnt (die Akten der Supplementa-Kommission befinden sich im Archiv des Melanchthonhauses Bretten). Mitte des 20. Jahrhunderts wurden im Anschluss an das 450. Geburtsjahr Vorbereitungen zu einer Melanchthon-Studienausgabe getroffen, die unter der Herausgeberschaft Robert Stupperichs als neunbändige Ausgabe erschien. Der Vorteil dieser Ausgabe ist, dass gerade Werke, die im Corpus Reformatorum fehlen, hier berücksichtigt wurden und sie dadurch einige wichtige Werke in ihrer ursprünglichen Fassung enthält. Obwohl es sich um eine Ausgabe handelt, die neueren editionswissenschaftlichen Kriterien folgt als das Corpus Reformatorum, wird auch hier wiederum nur eine Auswahl der Werke präsentiert, deren Kriterien zudem nicht völlig einsichtig
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Günter Frank
sind. In den 1970er Jahren begann schließlich die noch fortlaufende wissenschaftliche Edition des umfangreichen und bedeutenden Briefwechsels Melanchthons (Scheible 1996c), der für einen nachhaltigen Aufschwung in der Melanchthon-Forschung sorgt. In acht Bänden sind hier die 9301 erhaltenen Briefe der Korrespondenz Melanchthon als Regesten erschlossen, durch vier weitere Registerbände ergänzt sowie durch bislang sechzehn Textbände zugänglich.
3 Melanchthon-DVD Melanchthons Werke, in den Bänden 9 – 28 im Corpus Reformatorum versammelt, sind in der Zwischenzeit vergriffen. Im Jahr 2008 entstand deshalb in Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Reformationsgeschichte, der Theologischen Universität Apeldoorn und dem Melanchthonhaus in Bretten eine DVD Melanchthonis Opera Database, welche das vollständige Werk Melanchthons nicht nur des Corpus Reformatorum beinhaltet, sondern auch die Supplementa Melanchthoniana. Die DVD verfügt über alle modernen Suchfunktionen.
4 Melanchthon deutsch Für das Jubiläumsjahr 1997, dem 500. Geburtstag Melanchthons, erschienen die ersten beiden Bände der Reihe Melanchthon deutsch, herausgegeben von Michael Beyer, Stefan Rhein und Günther Wartenberg (†). Ausdrückliches Ziel dieser Reihe ist – wie im Vorwort deutlich wird – „Melanchthon auch heute sprechen zu lassen“ (Bd. 1, 8) und ihn in Übersetzungen aus der Gelehrtensprache Latein einer größeren, interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Während der Band 1 Melanchthons Reden zur Schule und Universität, Philosophie, Geschichte und Politik enthält, versammelt Band 2 Reden zur Theologie und Kirchenpolitik. Im Zusammenhang des MelanchthonGedenkjahres 2010 erschienen im Band 3 Reden und Briefe, die den europäischen Einfluss Melanchthons dokumentieren, sowie im Band 4 Reden und Gutachten zur Universität und ihren Fakultäten.
5 Edition der Opera Omnia Philipp Melanchthons Schon seit 1897 war eine kritische Edition der Werke Philipp Melanchthons geplant, bislang konnte dieses Großprojekt jedoch nicht umgesetzt werden. Jetzt haben sich mehrere Projektpartner im Netzwerk RefoRC, der akademischen Abteilung von Refo500, dazu entschlossen, die theologischen und philosophischen Werke Melanchthons historisch-kritisch zu edieren. Nach einer intensiven Planungs- und Vorbereitungsphase haben die Arbeiten an der Reihe, die vom Verlag Walter De Gruyter
Melanchthonausgaben
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(Berlin) herausgegeben wird, begonnen (nähere Hinweise unter: www.melanchthonedition.com). Träger des Projekts sind die Europäische Melanchthon-Akademie Bretten, das Institut für Spätmittelalter und Reformation an der Universität Tübingen und die Theologische Universität Apeldoorn. Koordinationszentrum ist die MelanchthonAkademie Bretten. Auch mit der Melanchthon-Forschungsstelle Heidelberg und der Humboldt-Universität Berlin wurde eine enge Zusammenarbeit vereinbart. Günter Frank und Herman Selderhuis haben die Leitung des Gesamtprojekts inne. Sowohl ganze Institutionen als auch einzelne Wissenschaftler können die Edition eines oder mehrere der Werke übernehmen. Für Institutionen bringt dies die Möglichkeit mit sich, Mitglied des Reformation Research Consortium (RefoRC) zu werden. Bei Interesse an der Edition geben weitere Auskünfte Günter Frank ([email protected]), für weitere Informationen über RefoRC Herman Selderhuis ([email protected]).
Quellen Melanchthon, Philipp. 2008. Initia doctrinae physicae, übers. v. Walther Ludwig. Rahden/Westf. Melanchthon, Philipp. 2009. I libri di fisica, 2 Vol. Melantone Opere Scelte 1, hg. v. Dino Bellucci. Turin. Melanchthon, Philipp. (1553) 2002. Heubtartikel Christlicher Lere, hg. von Ralf Jenett und Johannes Schilling. Leipzig.
Literatur Holl, Karl. 61932. Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1. Tübingen. Krüger, René, Hg. 2011. Loci communes: conceptos fundamentales de las cuestiones teológicas o esbozos teológicos. Felipe Melanchton. Buenos Aires. Kusukawa, Sachiko, Hg. 1999b. Philip Melanchthon, Orations on Philosophy and Education (transl. by Christine F. Salazar). Cambridge. Preus, Jacob A.L. Hg. 2011. The Chief Theological Topics. Loci praecipui Theologici 1559. Second English Edition (transl. by Jacob A.O. Preus). St. Louis. Scheible, Heinz. (1968) 1996c. „Überlieferung und Editionen der Briefe Melanchthons.“ Heidelberger Jahrbücher 12 (1968): 135 – 161. Wiederabdruck in: ders. 1996. Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, hg. v. Gerhard May und Rolf Decot, 1 – 27. Mainz.
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Hilfsmittel 1 Melanchthonliteratur und -bibliographie Unverzichtbares Instrument der Forschung bildet nach wie vor das Verzeichnis der Melanchthonliteratur von Wilhelm Hammer, das seit 1967 in drei Bänden und einem Registerband erschienen war und das die gesamte Literatur umfasste, die zwischen 1519 und 1965 über oder gegen Melanchthon verfasst wurde. Diese Melanchthonliteratur verfolgte – wie Hammer im Vorwort festhielt (Bd. 1, 7) – nicht nur die bibliographische Einzelarbeit der einzelnen Titel über die Jahrhunderte, sondern verstand sich gleichzeitig als eine Forschungsgeschichte, „an der man die jeweiligen geistigen Strömungen der Jahrhunderte erkennen und das verfolgen kann, was einzelne Generationen an Melanchthon am meisten anzog, befremdete oder auch gar nicht berührte“. Hammer selbst verzeichnete 4.305 Einträge von Titeln aus der Zeit zwischen den Jahren 1519 und 1970. Für die Zeit ab 1970 wird dieses Verzeichnis sukzessive weitergeführt von der Bibliothek des Melanchthonhauses (siehe die MelanchthonBibliographie in der Rubrik „Wissenschaft und Forschung“ unter: www.melanchthon.com/Melanchthon-Akademie/) Eine weniger vollständige Bibliographie der Literatur zu Melanchthon findet sich auch im Literaturbericht des Archivs für Reformationsgeschichte. Obwohl Wilhelm Hammer in seinem einleitenden Vorwort zur Melanchthonliteratur (Bd. 1, 7) feststellte, dass eine „vollständige Zusammenstellung der Melanchthondrucke eine unerläßliche Vorbedingung für die Forschung sein mußte“, so ist diese jedoch trotz vielfältiger Vorarbeiten etwa durch den Brettener Privatgelehrten Otto Beuttenmüller erst in jüngster Zeit vorgelegt worden. Zwar hatte Ralph Keen 1988 eine erste Druckliste vorgestellt, die jedoch sehr unvollständig und nicht immer nachprüfbar ist. Helmut Claus (2014) hat nunmehr in vier Bänden in vorbildlicher und umfassender Weise die Drucke von Melanchthon beziehungsweise auch unter dessen Beteiligung zwischen 1510 und 1560 bibliographisch erfasst und beschrieben. Da mit dieser Bibliographie erstmals alle bekannten Drucke aus der Lebenszeit Melanchthons erfasst sind, wird die Melanchthonforschung zweifellos auf eine neue Grundlage gestellt.
2 Forschungsreihen Im Zusammenhang der intensivierten Arbeit im Melanchthonhaus in Bretten seit 1986 sind zwei Forschungsreihen entstanden: Die Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten (MSB), bislang in 14 Bänden erschienen, versammeln die einzelnen Beiträge zu den alle drei Jahre stattfindenden Melanchthonpreis-Verleihungen sowie der von der EuDOI 10.1515/9783110335804-003
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ropäischen Melanchthon-Akademie in Bretten veranstalteten internationalen Symposien. Die MSB verstehen sich dabei als Dokumentation der in den vergangenen Jahren gewachsenen Melanchthonforschung, die in der Zwischenzeit transdisziplinär und international arbeitet, in deren Fokus nicht nur Gestalt und Werk des Humanisten und Reformators stehen, sondern auch seine Wirkungsgeschichte in einem weitgehenden geistesgeschichtlichen Kontext. Daneben erscheinen seit dem Jahr 2003 die Fragmenta Melanchthoniana, bislang sechs Bände, in denen vielfältige Einzelaspekte der Melanchthonforschung dokumentiert sind, die aus den traditionsreichen Brettener Sonntagsvorträgen hervorgegangen sind. Die Fragmenta Melanchthoniana verfolgen, anders als die MSB, keine systematische Fragestellung, sondern sollen vor allem Einzel- und Gelegenheitsaspekte der Forschung festhalten und wiedergeben.
3 Einrichtungen der Melanchthonforschung 3.1 Melanchthon-Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Seit den 1960er Jahren ist die Melanchthon-Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften mit der Edition der Korrespondenz Melanchthons beauftragt. In der Zwischenzeit ist diese Korrespondenz in neun Regestenbänden mit vier Registerbänden sowie in 16 Textbänden ediert. Ihr langjähriger Leiter Heinz Scheible hat darüber hinaus über eine Vielzahl von Artikeln und Monographien die jüngere Melanchthonforschung maßgeblich mitbestimmt.
3.2 Melanchthonhaus/Europäische Melanchthon-Akademie in Bretten Das 1903 von Nikolaus Müller errichtete Melanchthonhaus sollte nach den Bestimmungen seines Erbauers nicht nur eine Melanchthon-Gedenkstätte sein, sondern ebenso eine Stätte der neueren Melanchthonforschung. Dazu hatte Müller selbst eine signifikante Sammlung von Melanchthoniana zur Verfügung gestellt: Drucke, Bildwerke, Medaillen, Münzen und Autographen. Erst im Jahr 1986 begann jedoch die eigentliche Forschungs- und Veranstaltungstätigkeit im Melanchthonhaus, beginnend mit dem Philologen Stefan Rhein und dann ab 1998 durch den Theologen und Philosophen Günter Frank. Heute beherbergt das Melanchthonhaus eine beträchtliche Sammlung von Melanchthoniana, rund 6.000 Drucke aus dem 16./17. Jahrhundert, ca. 1000 Bildnisse (Kupferstiche, Gemälde, Lithographien), ca. 500 Münzen und Medaillen, ca. 500 Autographen (Frank 1999, 13 – 14). Vor allem mit der Gründung der Europäischen Melanchthon-Akademie im Jahr 2004 hat sich die Einrichtung zu einem Zentrum der neueren Melanchthonforschung fortentwickelt. Von hier aus werden die
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beiden Forschungsreihen der Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten sowie der Fragmenta Melanchthoniana betreut. Die Melanchthon-Akademie veranstaltet Ausstellungen und Reihen von Vorträgen und Symposien zur Melanchthonforschung und vergibt alle drei Jahre den Melanchthonpreis an herausragende wissenschaftliche Forschung, der mit 7.500 Euro dotiert ist (ausführliche Informationen unter: www.melanchthon.com).
Literatur Frank, Günter. 1999. „Die Bibliothek des Melanchthonhauses.“ Mitteilungen der D.Dr. Otto-Beuttenmüller-Bibliothek der Stadt Bretten 3/2:13 – 14. Keen, Ralph. 1988. A checklist of Melanchthon imprints through 1560. Sixteenth century bibliography 27. St. Louis.
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Melanchthonforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts Die Ausgangslage der neueren Melanchthonforschung war in der Mitte des 20. Jahrhunderts einerseits alles andere als vielversprechend (Bilanzen der jüngeren Melanchthonforschung finden sich bei Junghans 2000 und 2003, Lexutt 2010, Scheible 2011). Für den deutschsprachigen Raum wirkte nachhaltig die pointierte These des einflussreichen Kirchenhistorikers Karl Holl, der festhielt, „Melanchthon hat Luthers Rechtfertigungslehre verdorben“ (zu Holls Melanchthonbild Scheible 2003, 223 – 238, hier: 227– 231). Im englischsprachigen Raum wirkte das negative Melanchthonbild, wie es etwa Richard R. Caemmerer in seinem 1947 erschienenen Aufsatz The Melanchthonian Blight (das melanchthonische Gift) oder der deutsche Mitarbeiter Martin Niemöllers, Franz Hildebrandt, in seinem 1946 verfassten Buch Melanchthon: Alien or ally zum Ausdruck gebracht hatten. Andererseits ist jedoch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein reges Interesse an der Melanchthonforschung zu verzeichnen, deren Themenfelder die neuere Forschung benennt: Bibliographisches, Texte und Übersetzungen, Biographisches, Universität, Humanismus, Philosophie und Ethik, die Entwicklung von Melanchthons Loci, sein Verhältnis zu Luther, Melanchthon und die Kontroversen seiner Zeit (vgl. hierzu den Literaturbericht von Fraenkel, Greschat 1967). Eine nachhaltige Wirkung ging dabei von der Studienausgabe von Werken Melanchthons aus, die seit 1951 Robert Stupperich in neun Bänden vorgelegt hatte. Einen gewissen ersten Höhepunkt fand diese jüngere Melanchthonforschung im Gedenkjahr 1960. Melanchthons 400. Todesjahr führte sowohl in Münster als auch in Wittenberg zu zwei Kongressen, die als Ausdruck des gewachsenen Interesses an der Melanchthonforschung gelten können (vgl. hierzu die Forschungsberichte von Vajta 1961, Elliger 1961). Intensiviert wurde diese nochmals seit der Edition des Briefwechsels an der Melanchthon-Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, die 1963 durch Heinz Scheible, einen Schüler von Heinrich Bornkamm, errichtet worden war, und die seitdem viele neue Einsichten zu Melanchthons Bedeutung als reformatorischer Gelehrter bietet (Thüringer 2001). Es wurde deutlicher bewusst, dass Melanchthon der Autor der meisten evangelischen Bekenntnisschriften der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war. Vor allem gibt der Briefwechsel Melanchthons einen tieferen Einblick in sein Denken als das vielfach für die akademische Öffentlichkeit gedachte Schrifttum. Der verdienstvolle Leiter der Melanchthon-Forschungsstelle hatte aus dieser intensiven Kenntnis eine Fülle von Beiträgen veröffentlicht, die eine tiefere Sicht auf Melanchthons zeitgeschichtliche Bedeutung bieten (May, Decot 1996, Scheible 2010). Neben diesen neueren Forschungsleistungen im Umkreis der Melanchthon-Forschungsstelle öffneten das Ökumenismus-Dekret des Zweiten Vaticanums und die ökumenische Intuition des damaligen Professors Josef Ratzinger („durch Melanchthon DOI 10.1515/9783110335804-004
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zu Luther“) die Tür zu einer genuin katholischen Melanchthonforschung (Wiedenhofer 1976, Pfnür 1975 und 1977, Frank 1995, 1996, 1997, 2003 und 2005). Diese neuere Melanchthonforschung führte nicht zuletzt im Jubiläumsjahr 1997 (500. Geburtstag Melanchthons) zu einer Fülle von Publikationen, die aus Ringvorlesungen an deutschen Universitäten und aus einschlägigen Tagungen hervorgingen (Schilling 1998, Sparn 1998, Maag 1999, Frank 2000). So stand der Internationale Kongress für Lutherforschung im Jubiläumsjahr 1997 in Heidelberg unter dem Tagungsthema „Glaube und Bildung“ und schickte sich an, Melanchthon aus der bislang weit gebräuchlichen duographischen Perspektive „Luther und Melanchthon“ herauszulösen und letzteren in seiner Eigenständigkeit zu profilieren (die Beiträge dieses Symposiums finden sich im Lutherjahrbuch 66 [1999]). Aus verschiedenen Gründen gelang dieser Versuch jedoch nur teilweise. Vor allem die Seminarberichte zeigen, dass selbst dort, wo ein originärer Melanchthontext im Zentrum stand, gerade der Vergleich mit Luther einen wesentlichen Teil der Diskussionen ausmachte. Deutlich wurde jedoch auf diesem Jubiläumskongress durchaus, in welcher Richtung eine mögliche Eigenständigkeit Melanchthons in der Reformationsgeschichtsforschung gesehen werden könnte: in der Verbindung von Reformation und Humanismus, die in der Vergangenheit nicht selten als ein unversöhnlicher Gegensatz gedacht waren, im irenischen Interesse Melanchthons im Blick auf die gegenwärtige ökumenische Bewegung sowie der sich daraus ergebenden Notwendigkeit einer rationalen Darstellung von Theologie und recht verstandener Toleranz in den interkonfessionellen Diskursen. Mit dieser Richtung waren jedoch allenfalls Leitlinien im Blick, die es seitdem zu füllen gilt. Verstärkt wurde die Forschung nochmals durch das 450. Gedenkjahr des Todes Melanchthons 2010 und daraus hervorgegangener Publikationen. In diesem Gedenkjahr und den dazugehörigen Publikationen wurden zwei Leitlinien der neueren Melanchthonforschung aufgegriffen und erfolgreich profiliert, und zwar der Versuch, Melanchthon in seiner Eigenständigkeit zu verstehen und sein Wirken in seiner ganzen europäischen Weite darzulegen, wie dies etwa in der IX. Frühjahrstagung zur Wittenberger Reformation unternommen worden war, die 2010 in Zusammenarbeit des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz und des Instituts für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig stattgefunden hatte (Dingel 2011). Neben diesen beiden Leitlinien wurde Melanchthon aber auch als philosophischer, pastoraler und exegetischer Lehrer sowie in seiner Bedeutung für die evangelische Bekenntnisbildung in den Blick genommen (Dingel 2012). Nicht zuletzt erschienen in diesem Melanchthon-Gedenkjahr einige, wenige neuere Biographien, mit dem Anspruch, Melanchthon einem breiteren Publikum zugänglich zu machen (Jung 2010b, Kuropka 2010, Greschat 2010). Die Melanchthonforschung war vornehmlich reformationsgeschichtlich und ökumenisch, in jedem Fall binnentheologisch orientiert. Diese reformationsgeschichtliche Fokussierung hat aber das systematisch-theologische Potential, das Melanchthon in seiner humanistischen Gelehrsamkeit verkörpert, noch wenig berücksichtigt. Es ist daher nicht überraschend, dass sich neben der weitergehenden reformationsgeschichtlich-ökumenischen Melanchthonforschung in den vergangenen
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zwei Jahrzehnten das Forschungsinteresse insgesamt erweitert hat. Das zeigt sich beispielhaft an der etablierten Reihe der Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten (MSB), die bisher in 14 Bänden vorliegen. Mit der Gründung der Europäischen Melanchthon-Akademie Bretten 2004 wurde die Melanchthonforschung intensiviert und besser vernetzt. Dabei gehen die einzelnen Melanchthon-Schriften aus internationalen Symposien hervor, die sich speziellen Fragen gewidmet haben, die ausdrücklich auch einen weiteren geistesgeschichtlichen und kulturhistorischen Kontext der Melanchthonforschung im Blick haben. Band 5 widmete sich als Ergebnis des Melanchthon-Jubiläums 1997 dem Theologen Melanchthon und dies nun auch ausdrücklich unter der Absicht, Melanchthon aus der duographischen Perspektive mit Luther herauszulösen. Die beiden Teilbände 6 zeichnen exemplarisch das Wirken Melanchthons in Europa nach, während im Band 7 sein Nachwirken in der Neuzeit bis zur Theologie Karl Barths nachgegangen wird. Im Band 8 findet sich eine kritische Untersuchung des aus dem 19. Jahrhundet stammenden Konzepts der sogenannten „Vorreformation“, das heißt der Frage, inwiefern mittelalterliche (Ketzer‐) Bewegungen als vorreformatorische Zeugen gelten können, eine Frage, die schon den Melanchthon-Schüler Matthias Flacius Illyricus beschäftigt hatte. Dem erst in der jüngeren Forschung in den Blick geratenen Einfluss Melanchthons auf das europäische Reformiertentum geht der Band 9 in exemplarischen Untersuchungen nach und zeigt, wie tief Melanchthon hier Spuren hinterlassen hatte, eine Fragestellung, die auch im Band 12 unter einer anderen Perspektive wieder aufgegriffen wurde: der „Philosophie der Reformierten“. Der Bedeutung der Kirchenväterrezeption nicht nur in der Reformationszeit, sondern auch in der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit widmet sich der Band 10 der Melanchthon-Schriften,während sich der Band 11 den frühneuzeitlichen, wissenschaftlichen Methodenfragen annähert und hier auch die seit Wilhelm Dilthey und Hans-Georg Gadamer viel diskutierte Frage aufgriff, in welcher Hinsicht der Reformation und hier vor allem den philosophischen Bemühungen Melanchthons Bedeutung zukommt für die Entstehung der Hermeneutik. Bedeutsam ist über all diese Forschungsleistungen hinaus, dass der Fokus der neueren Forschung stärker auf die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung Melanchthons ausgerichtet ist. Aktuell wird sein Beitrag zur Transformation der Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit diskutiert. Verschiedene Disziplinen entdecken Melanchthon als herausragenden Gelehrten in der Vermittlung antik-mittelalterlichen Wissens an die Wissensformen der Frühen Neuzeit. Die Forschungsthemen der nunmehr internationalen Melanchthonforschung lassen sich entsprechend nach disziplinären Schwerpunkten ordnen: So wird etwa Melanchthons Naturphilosophie Initia doctrinae physicae im Zusammenhang der Transformation und der Entstehung des neuzeitlichen Naturbildes diskutiert (Kusukawa 1995, Bellucci 1998, Pantin 2002), während sein Beitrag zur Ausbildung und Stärkung der Disziplinen von Astronomie und Astrologie in Wittenberg ganz im Zusammenhang seines Interesses entdeckt wird, dass die Betrachtung der natürlichen Ordnung als eines komplexen Kausalzusammenhanges die Einsicht fördert, dass es einen Schöpfer dieser „machina mundi“ gebe,
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der diese Natur zum Wohle des Menschen geschaffen habe und erhalte (MüllerJahncke 1998, Brosseder 2004). Hieraus erschließt sich auch Melanchthons Bedeutung für die „Mathematik“ seiner Zeit, die – anders als heute – noch als ein Oberbegriff zu Astronomie und Astrologie sowie auch zur Trigonometrie und Geometrie (die sogenannte niedere Mathematik umfasste Arithmetik/Algebra) Verwendung fand, deren Bedeutung seit Platon (und Pythagoras) auf der Verbindung mit der Erkenntnistheorie gesehen wurde: Die Ordnung des Seienden ist erkennbar als Zahlen und in Zahlenverhältnissen, und dem folgt auch Melanchthon, für dessen Naturtheologie sich der gottgeschaffene Kosmos allererst in mathematischen Strukturen manifestiert (Methuen 1998, Reich 1998, Fuchs 2012). Auch in den Disziplinen Medizin und Anthropologie kommt Melanchthon – wie die jüngere Forschung deutlich werden lässt (Frank 1996, Eckart 1998, Helm 1998, Hofheinz 2001) – eine besondere Rolle zu. Der Medizin der Renaissance eignete einerseits eine Kontinuität mit der mittelalterlichen Tradition, wie sie durch die arabische Gelehrsamkeit und die galenische Medizin gekennzeichnet war, andererseits jedoch setzte sie sich in ein neues Verhältnis zur eigenen Tradition. Melanchthon hatte in seinem großen Lehrbuch Liber de anima von 1552 Erkenntnisse des Anatomiebuches von Andreas Vesalius aufgenommen, ohne gleichzeitig die Autorität Galens zu bestreiten. Vielmehr war für ihn – ähnlich wie für den Kosmos insgesamt – die Kenntnis des menschlichen Körpers für jeden Gebildeten unerlässlich, weil sie diesen in seinem harmonischen Wechselspiel zwischen Körper und Geist als ein Ebenbild Gottes erweist, eine Überlegung, die seine Anthropologie insgesamt theologischphilosophisch begründet hatte. Neu entdeckt wird Melanchthons Bedeutung für die lateinische Grammatik, vielleicht das wichtigste Lateinlehrbuch der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, das noch im 17. Jahrhundert Verwendung gefunden hatte. Auch wenn Melanchthon in diesem Bemühen ganz in der Tradition führender Humanisten wie Niccolò Perotti, Bernhard Perger und Aldus Manutius stand, so erreichte doch keine Grammatik eine solche Verbreitung wie die Melanchthons (Jensen 1988, Djubo 2000 und 2003). Von kaum zu überschätzender Bedeutung war Melanchthon für die Dialektik und Rhetorik seiner Zeit. Während die Dialektik, durch die Humanisten wie Lorenzo Valla und Rudolph Agricola die antike Topik als wissenschaftliche (Gesprächs‐) Methode erneuerten, überhaupt zu Melanchthons Wissenschaftsmodell avancierte, ist er als Rhetoriklehrer noch weitgehend unerschlossen, obwohl durchaus in der Forschung bereits darauf hingewiesen wurde, dass dessen Rhetorik im 16. und 17. Jahrhundert von großem Einfluss auf die Bildungsbestrebungen und das europäische Rhetorikverständnis war, darüber hinaus hier auch der historisch-systematische Ort für die Entstehung der Frühgeschichte der Hermeneutik zu finden ist (Knape 1993, Frank 1997 und 2011, Meerhoff 1998 und 2001, Melanchthon 2001, Demonet 2002, Mack 2002). Ebenfalls jung ist das Forschungsinteresse an Melanchthons griechischer und lateinischer Dichtung, die dieser auch im Dienste der Ausbreitung reformatorischer Ideen benutzt hatte (Rhein 1987, Effe 1998, Hofmann 1999, Fuchs 2008). Ganz in der Tradition der humanistisch geprägten Historiographie, in der Geschichte nicht mehr
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ausschließlich als Phänomen göttlichen, sondern auch als Produkt menschlichen Handelns gesehen wurde, stehen Melanchthons Bearbeitungen der universalen Weltchronik seit Erschaffung der Welt durch Johannes Carion, wobei sein eigener Anteil an der von ihm 1532 herausgegebenen Chronica noch nicht hinlänglich untersucht ist (Mahlmann-Bauer 1997, Backus 2003), möglicherweise aber auch aufgrund der nicht eindeutigen Textlage nicht bestimmbar ist (Prietz 2014). Unverkennbar ging es ihm bei dieser Ausgabe jedoch um eine heilsgeschichtliche Begründung der Weltzeit in dreimal 2000 Jahren. Die jüngere Forschung hat sich auch den Schriften Melanchthons zur aristotelischen Moralphilosophie gewidmet, den Wilhelm Dilthey schon 1892/93 aufgrund der Vielzahl von ethischen und politischen Schriften „de(n) Ethiker der Reformation“ genannt hatte (Kuropka 2002, Frank 2003c, 2005, Melanchthon 2008). Genau genommen hatte Melanchthon nie mehr als die Bücher I – III und das Buch V der Ethik ausgelegt. Entsprechend seines topischen Wissenschaftsmodells hatte Melanchthon Aristoteles‘ Schriften zur Ethik und Politik anhand bestimmter Leitund Grundbegriffe neu ausgelegt und diese mit seinen theologischen Interessen harmonisiert, wobei hier seine naturrechtliche Begründung zum Tragen kam. Neu ist, dass das Glück als das aristotelische Ziel des Lebens als Nutzen (utilitas) für das Gemeinwesen ausgelegt wird (Frank 2007). Sichtbar wird in diesem Zusammenhang auch der Einfluss Melanchthons auf die zeitgenössische Jurisprudenz. Vor allem das Kapitel Über das göttliche Gesetz in der zweiten Ausgabe der Loci aus dem Jahr 1535, aber auch andere naturrechtliche und rechtsphilosophische Schriften Melanchthons offenbaren vielfältige gesellschaftstheoretische Ansätze, wie sie im Dekalog ausgeführt werden. Gerade der Dekalogkommentar in dieser Theologie kann als ein Entwurf für eine protestantische Gesellschaftstheorie gelten, indem ein von Gott gestifteter Grundriss rechtlicher Institutionen (Staat, Ehe, Eigentum) entfaltet wird (Strohm 1996; Strickhausen 22000). Schließlich geriet Melanchthon auch in den Fokus musikwissenschaftlicher Forschung, sofern zahlreiche Kompositionen ihm persönlich von musikalisch gebildeten Freunden und Verehrern gewidmet wurden, beziehungsweise theologische und geistliche Texte von ihm durch Zeitgenossen vertont und auf diese Weise durch die Musik weitergegeben wurden (Knopp 2000). In all diesen neuen Forschungsbemühungen wird immer deutlicher das Desiderat einer neuen historisch-kritischen Ausgabe der Werke Melanchthons, die den gewachsenen Ansprüchen der Melanchthonforschung im 21. Jahrhundert entspricht.
Quellen Melanchthon, Philipp. 2001. Elementa rhetorices. Grundbegriffe der Rhetorik. Bibliothek seltener Texte 7, hg. v. Volkhard Wels. Berlin. Melanchthon, Philipp. 2008. Ethicae Doctrinae Elementa et Enarratio Libri quinti Ethicorum, hg. und eingeleitet von Günter Frank. EFN 1. Stuttgart/Bad Cannstatt.
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Literatur Backus, Irena. 2003. Historical method and confessional identity in the era of the Reformation, 1378 – 1615. Studies in medieval and Reformation thought 94. Leiden/Boston/Brill. Brosseder, Claudia. 2004. Im Bann der Sterne: Caspar Peucer, Philipp Melanchthon und andere Wittenberger Astrologen. Berlin. Demonet, Marie-Luce. 2002. „La place de Melanchthon dans la logique française.“ In Melanchthon und Europa, 2. Teilbd. Westeuropa. MSB 6/2, hg. v. Günter Frank und Kees Meerhoff, 139 – 162. Stuttgart/Bad Cannstatt. Dingel, Irene und Armin Kohnle, Hg. 2011. Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas. LStRLO 13. Leipzig. Dingel, Irene et al. 2012. Philipp Melanchthon. Theologian in Classroom, Confession, and Controversy. R5AS 7. Göttingen. Djubo, Boris. 2000. „Der Einfluss des deutschen Humanisten und Reformators Philipp Melanchthon auf den ostslawischen Grammatiker Lavrentij Zizanij.“ ARG 91: 385 – 395. Djubo, Boris. 2003. „Die Wichtigkeit von Melanchthons ‚Grammatica latina‘ für die Entwicklung der russischen grammatischen Theorie Ende des 16. bis Anfang des 17. Jahrhunderts.“ In Germania latina – Latinitas teutonica, Bd. 2. Humanistische Bibliothek, Reihe 1, Abhandlungen 54, hg. v. Eckart Keßler und Heinrich Kuhn, 593 – 608. München. Eckart, Wolfgang U. 1998. „Philipp Melanchthon und die Medizin.“ In Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit. MSB 4, hg. v. Günter Frank und Stefan Rhein, 183 – 202. Sigmaringen. Effe, Bernd. 1998. „Philipp Melanchthon: Ein humanistisches Plädoyer für den Bildungswert des Griechischen.“ In Philipp Melanchthon. Exemplarische Aspekte seines Humanismus. Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 32, hg. v. Gerhard Binder, 47 – 101. Trier. Elliger, Walter, Hg. 1961. Philipp Melanchthon. Forschungsbeiträge zur vierhundertsten Wiederkehr seines Todestages, dargeboten in Wittenberg 1960. Göttingen. Fraenkel, Peter und Martin Greschat. 1967. Zwanzig Jahre Melanchthonstudium. Sechs Literaturberichte (1945 – 1965). THR 93. Genf. Frank, Günter. 1996. „Philipp Melanchthons ‚Liber de anima‘ und die Etablierung der frühneuzeitlichen Anthropologie.“ HuWR: 313 – 326. Frank, Günter. 1997. „Melanchthons Dialektik und die Geschichte der Logik.“ In Melanchthon und das Lehrbuch des 16. Jahrhunderts. Rostocker Studien zur Kulturwissenschaft 1, hg. v. Jürgen Leonhardt, 125 – 145. Rostock. Frank, Günter. 2003c. „Praktische Philosophie unter den Bedingungen reformatorischer Theologie: Die Intellektlehre als Begründung der Willensfreiheit in Philipp Melanchthons Kommentaren zur praktischen Philosophie des Aristoteles.“ In Zur Geistesgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Fragmenta Melanchthoniana 1, hg. v. Günter Frank und Sebastian Lalla, 243 – 254. Ubstadt-Weiher. Frank, Günter. 2005. „The reason of acting: Melanchthon’s concept of practical philosophy and the questions of the unity and consistency of his philosophy.“ In Moral philosophy on the threshold of Modernity, hg. v. Jill Kraye und Risto Saarinen, 217 – 233. Dordrecht. Frank, Günter. 2007. „‚Politica Aristotelis‘. Zur Überlieferungsgeschichte der aristotelischen ‚Politica‘ im Humanismus und in der Frühen Neuzeit.“ In Der Aristotelismus in der Frühen Neuzeit – Kontinuität oder Wiederaneignung? Wolfenbütteler Forschungen 115, hg. v. Günter Frank und Andreas Speer, 325 – 352. Wiesbaden. Frank, Günter und Stefan Meier-Oeser, Hg. 2011. Hermeneutik, Methodenlehre, Exegese. Zur Theorie der Interpretation in der frühen Neuzeit. MSB 11. Stuttgart/Bad Cannstatt. Fuchs, Franz, Hg. 2012. Mathematik und Naturwissenschaften in der Zeit von Philipp Melanchthon. Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 26. Wiesbaden.
Melanchthonforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts
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B Person
Christine Mundhenk
Leben
1 Kindheit und Ausbildung Philipp Melanchthon wurde am 16. Februar 1497 in der damals zur Kurpfalz gehörenden Stadt Bretten geboren. Sein Großvater Johann Reuter war dort ein angesehener Kaufmann und übte zeitweilig auch das Amt des Schultheißen aus. Er besaß ein stattliches Haus am Marktplatz. Seine Tochter Barbara heiratete 1493 den aus Heidelberg stammenden Georg Schwartzerdt. Der Sohn eines Schmiedes stand als Waffenschmied und als Plattner, dessen besonders leichte, aber trotzdem stabile Rüstungen ihm hohes Ansehen verschafft hatten, im Dienst des Kurfürsten Philipp des Aufrichtigen von der Pfalz. Zu Ehren des Kurfürsten gab Georg Schwartzerdt seinem Erstgeborenen den Namen Philipp. Aus der Ehe gingen vier weitere Kinder hervor: Anna, Georg, Margarete und Barbara. Weil Georg Schwartzerdt aus beruflichen Gründen viel unterwegs war, lebte Barbara mit den Kindern im Hause ihres Vaters, der sich um die Ausbildung seiner Enkel kümmerte. Philipp, dessen sprachliche Begabung früh erkannt wurde, besuchte zuerst die städtische Lateinschule, wurde dann aber durch einen Hauslehrer, Johannes Unger aus Pforzheim, unterrichtet. Dessen intensiver Ausbildung verdankte der Junge seine glänzende Beherrschung der lateinischen Sprache. Als Siebenjähriger erlebte Philipp die Belagerung Brettens im Landshuter Erbfolgekrieg 1504/05. Sein Vater, der bei Mannheim gekämpft hatte, kehrte als chronisch kranker Mann nach Bretten zurück. Während die Familie der Meinung war, er habe von Feinden vergiftetes Brunnenwasser getrunken, mag wohl der berufsbedingte ständige Umgang mit giftigen Chemikalien seine Gesundheit ruiniert haben. Mehrere Jahre ertrug er sein Leiden in tiefer Frömmigkeit, bis er am 27. Oktober 1508 starb. Gemeinsam mit seinem Bruder Georg wurde Philipp im selben Jahr auf die Lateinschule nach Pforzheim geschickt, die nach modernen pädagogischen Anschauungen ausgerichtet war. Dort wohnte er bei Elisabeth Reuchlin, der Schwester des Humanisten Johannes Reuchlin, einer entfernten Verwandten der Familie Reuter. Bei Georg Simler und Johannes Hiltebrant lernte er auch Griechisch. Johannes Reuchlin erkannte die Begabung des Jungen, förderte ihn und schenkte ihm am 15. März 1509 eine griechische Grammatik, mit deren handschriftlicher Widmung er dem Zwölfjährigen den Humanistennamen „Melanchthon“ verlieh; es ist die ins Griechische übertragene Form des Namens Schwartzerdt (μέλας, in Zusammensetzungen μελαν- = schwarz; χθών = Erde). Weil selbst dem so „Getauften“ der komplizierte Name Schwierigkeiten bereitete – vermutlich aufgrund eines Sprachfehlers –, benutzte er von 1531 an durchgehend die vereinfachte Form „Melanthon“. Nach knapp einem Jahr in Pforzheim wurde Melanchthon am 14. Oktober 1509 an der Universität Heidelberg immatrikuliert. Unterkunft fand er bei dem Theologieprofessor Pallas Spangel, der zum Humanistenkreis um Johann von Dalberg gehört hatte DOI 10.1515/9783110335804-005
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und mit Reuchlin befreundet war. In seinem Haus erhielt Melanchthon nicht nur geistige Anregungen, sondern konnte auch Bekanntschaft mit namhaften Humanisten schließen, zum Beispiel mit Jakob Wimpfeling, der 1511 in seinen eigenen Büchern schon die ersten Gedichte des jungen Melanchthon publizierte (SupplMel 6/1, 1– 3). In Heidelberg schloss Melanchthon auch Freundschaft mit den späteren Reformatoren Johannes Brenz und Erhard Schnepf. Für sein Grundstudium der artes liberales (Grammatik, Rhetorik, Dialektik; Arithmetik, Geometrie, Astrologie/Astronomie, Musik) wählte Melanchthon die via antiqua, die der im Rahmen des „Universalienstreites“ ausgeprägten Richtung des „Realismus“ folgte (der Gegensatz war der „Nominalismus“, den die via moderna vertrat). Am 10. Juni 1511 erlangte er den Grad des Baccalaureus artium. Im Sommer 1512 wechselte Melanchthon die Universität und ging nach Tübingen, wo er am 17. September 1512 immatrikuliert wurde. Den Anlass für diesen Wechsel dürfte ihm der Tod Pallas Spangels zwei Monate zuvor gegeben haben. In Tübingen setzte er sein Studium der artes liberales offenbar in der via antiqua fort und legte am 25. Januar 1514 die Magisterprüfung ab. Danach hörte er Vorlesungen an der theologischen Fakultät und weiterhin an der Artistenfakultät; besonders die astronomischen Vorlesungen bei Johannes Stöffler beeindruckten ihn nachhaltig und brachten ihm die Bedeutung der Mathematik nahe. Bereits als Student hatte er in der Burse gelebt, wo er von Studenten der höheren Fakultäten unterrichtet wurde; als Magister stieg er selbst zum Konventor an der Burse der „Realisten“ auf und hielt Vorlesungen und Übungen für die jüngeren Studenten. Im Mittelpunkt dieser Veranstaltungen standen Schriften des Aristoteles, in deren griechischen Urtext Melanchthon sich vertiefte. Dies war der Beginn seines lebenslangen Bemühens, den Studenten die aristotelischen Schriften durch systematische Erschließung der Lehrinhalte und durch zeitgemäße Kommentierung verständlich zu machen. Nebenher betrieb er gemeinsam mit seinen Freunden Johannes Oekolampad und Ambrosius Blarer humanistische Studien, vervollkommnete seine griechischen Sprachkenntnisse bei Georg Simler, der damals in Tübingen Jura studierte, und lernte gründlich Hebräisch. Im Judenbücherstreit stellte er sich auf die Seite von Johannes Reuchlin, der ihn nach wie vor förderte (MBW 1). Von 1514 bis 1516 arbeitete er auch als Korrektor in der Druckerei des Thomas Anshelm und wirkte wohl bei der Herstellung von elf Drucken mit; die Arbeit an der Weltchronik des Johannes Nauclerus, die 1516 mit einer Vorrede Reuchlins über die Bedeutung der Geschichte erschien, legte den Grundstein zu Melanchthons Wertschätzung der Geschichte. In diesen Jahren entstanden auch seine ersten eigenen Publikationen: 1516 erschien eine Terenzausgabe mit einer literatur- und bildungsgeschichtlichen Einleitung (VD 16 T 378; MBW 7), im Mai 1518 eine griechische Grammatik (VD 16 M 3491; MBW 16 und 17). In seiner Rede De artibus liberalibus (VD 16 M 2587) legte er seine Theorie der Wissenschaften und des Studiums dar: Den Kanon der sieben artes liberales erweiterte er um die Disziplinen, deren Wert er für sich erkannt hatte: Geschichte und Poesie.
Leben
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2 Erste Jahre in Wittenberg (1518 – 1522) 1518 wurde an der Wittenberger Universität ein Lehrstuhl für griechische Sprache und Literatur eingerichtet. Der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise wandte sich an Reuchlin; der empfahl wärmstens seinen „gesippten Freund“ Melanchthon. Diese Berufung empfand Melanchthon als eine Befreiung. Am 25. August 1518 traf er in Wittenberg ein. Drei Tage später hielt der 21-Jährige seine Antrittsrede De corrigendis adulescentiae studiis (CR 11, 15 – 25; MSA 3, 29 – 42; MBW 30), in der er vor einem großen Auditorium die Bedeutung der Sprachen, vor allem des Griechischen (um die antiken Autoren im Original lesen zu können), der Geschichte und der Mathematik hervorhob und so für eine umfassende Universitätsreform plädierte. Für die Theologen stellte er auch das Hebräische als unerlässlich dar; für sie sei trotz aller Wissenschaft die Führung durch den Heiligen Geist wesentlich: „Duce Spiritu, comite artium nostrarum cultu, ad sacra venire licet“ (MSA 3, 40,5 – 6). Das Publikum, darunter auch Luther, war beeindruckt und spendete dem jungen Professor anhaltenden Beifall. Melanchthons Konzept passte gut nach Wittenberg, wo sich mit Luther, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Nikolaus von Amsdorf und anderen bereits eine Gruppe reformwilliger Theologen zusammengefunden hatte, die den aristotelisch-scholastischen Studienbetrieb in Frage stellten und einen an der Heiligen Schrift orientierten Unterricht propagierten (sola scriptura). Dieser ursprünglich auf die Universität beschränkte Prozess hatte 1517 durch Luthers Ablassthesen und seinen 1518 publizierten Sermon von dem Ablass und Gnade eine breite Öffentlichkeit erreicht und zur „Heidelberger Disputation“ im April 1518 geführt, durch die Luthers Lehre, dass der Mensch nicht durch eigene Werke gerechtfertigt werde, sondern vollkommen von der göttlichen Gnade abhängig sei (sola gratia), auch im südwestdeutschen Raum verbreitet wurde und Anhänger fand. Melanchthons Anfänge in Wittenberg fielen also in die frühe Phase der Reformation; welche Rolle ihm in deren weiterem Verlauf zufallen sollte, konnte er aber noch nicht ahnen. In seinen Vorlesungen behandelte Melanchthon, den Luther wegen seiner kleinen und schlanken Statur als „Graeculus“ („kleiner Grieche“) bezeichnete, nicht nur die griechischen Klassiker, sondern von Anfang an auch das Neue Testament im Urtext. Anfangs mussten die Studenten die von Melanchthon erstellten Textvorlagen selbst abschreiben; erst von 1520 an konnten Texte mit griechischen Lettern auch in Wittenberg gedruckt werden. 1518/19 behandelte Melanchthon Homers Ilias und den Titusbrief, 1519 Plutarch und Pindar, 1520 Thukydides. Weil für die Hebräischprofessur zunächst kein geeigneter Kandidat zur Verfügung stand, unterrichtete er auch hebräische Grammatik und las über den hebräischen Psalter. An der „Leipziger Disputation“ zwischen Luther und Johannes Eck im Juni/Juli 1519 nahm Melanchthon als Zuhörer teil, steckte Luther aber Zettelchen mit Argumenten zu. Anschließend verfasste er für Johannes Oekolampad einen Bericht über die Disputation, in dem er den berühmten Theologieprofessor Eck als altmodischen Scholastiker, Luther dagegen als Verfechter der biblischen Wahrheit darstellte (MBW
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59). Mit der Feststellung, dass ein Konzil keine neuen Glaubensartikel aufstellen dürfe, machte er sich Luthers Position zu eigen. Als Magister studierte Melanchthon an der theologischen Fakultät weiter und erhielt am 19. September 1519 mit dem Titel Baccalaureus biblicus den niedrigsten theologischen Grad zuerkannt; die Thesen, über die er zuvor am 9. September disputiert hatte, hoben die alleinige Geltung der Bibel für die Lehre der Kirche hervor und leiteten daraus Kritik an zentralen kirchlichen Lehren und Traditionen wie zum Beispiel der Transsubstantiationslehre ab (MSA 1, 23 – 25). Luther nannte die Thesen, die Melanchthon eindeutig als reformatorischen Theologen auswiesen, „kühn, aber wahr“ (WA Br 1, 514). Als Baccalaureus biblicus war Melanchthon zu Vorlesungen über biblische Bücher nach der Vulgata verpflichtet. Besonders intensiv befasste er sich mit dem Römerbrief, den er 1520/21 in einer Vorlesung behandelte und dessen griechischen Text er mit lateinischen Randglossen 1521 drucken ließ (VD 16 B 5016). Gleichzeitig setzte er sich mit den Sententiae des Scholastikers Petrus Lombardus, dem wichtigsten Lehrbuch mittelalterlicher Theologie, auseinander, erwarb jedoch den nächsthöheren theologischen Grad, den des Sententiarius, nicht. Die Arbeiten an diesen Texten waren wichtige Schritte auf dem Weg zu seinen Loci communes, der ersten systematischen Darstellung der reformatorischen Theologie, deren erste Ausgabe er 1521 publizierte (überarbeitete Fassungen erschienen 1535 und 1543). Mit diesem Werk sah sich Melanchthon in der Tradition des Lombardus; während er jedoch der Ansicht war, dass dieser von der Heiligen Schrift wegführte (MBW 94a), sollte sein eigenes Buch als Wegweiser zur Bibel dienen und ihr Studium erleichtern. Die Loci communes wurden begeistert aufgenommen und etablierten Melanchthon als theologische Autorität neben Luther. Von Anfang an war das Arbeitspensum, das der junge Professor bewältigte, immens; später meinte er, er sei für die Last der Aufgaben nicht ausreichend vorbereitet gewesen (MBW 348). Um ihn vor Überarbeitung zu schützen und ihn versorgt zu wissen, rieten Luther und andere Freunde Melanchthon, zu heiraten. Nur widerwillig gab er dem Drängen der Freunde nach, denn er fürchtete, seine Arbeitskraft würde durch die Vermählung leiden. Am 26./27. November 1520 heiratete er die ebenfalls 23jährige Katharina Krapp, deren bereits 1515 verstorbener Vater Tuchhändler und Ratsherr in Wittenberg gewesen war. Sie bezogen ein bescheidenes Häuschen, das vielleicht Katharina als Mitgift bekommen hatte. Allmählich schwand Melanchthons anfängliche Skepsis, und es entwickelte sich eine enge Verbundenheit und tiefe Zuneigung zwischen den Ehepartnern. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor: Anna (1522 – 1547, verh. mit Georg Sabinus), Philipp d.J. (1525 – 1605), Georg (1527– 1529), dessen frühen Tod Melanchthon über die Maßen betrauerte, und Magdalena (1531– 1576, verh. mit Caspar Peucer). Mit zum Haushalt gehörte Johannes Koch, Melanchthons Famulus und enger Vertrauter, der sich um die verschiedensten Belange im Haus kümmerte und mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet war. Im humanistischen Bemühen um die Wiederbelebung der antiken Sprachen Griechisch und Hebräisch und in der Hinwendung zu den ursprünglichen Schriften fühlte sich Melanchthon nicht nur mit seinem Mentor Reuchlin verbunden, sondern
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auch mit dem bedeutenden Humanisten Erasmus von Rotterdam, dessen 1516 erschienene griechische Ausgabe des Neuen Testaments ihm die Basis für seine neutestamentlichen Vorlesungen bot. Erasmus hatte bereits 1516 dem jungen Tübinger Magister höchste Anerkennung gezollt, und seit 1519 schrieben sie einander Briefe. Methodische Übereinstimmung bestand zwischen beiden – Erasmus hatte die LociMethode auch für das Bibelstudium empfohlen, und Melanchthon entwickelte sie in seinen Loci communes weiter. Aber über theologische Lehrmeinungen traten Differenzen zutage, besonders über die Rechtfertigung und die Willenslehre. Auf Erasmus’ Streitschrift De libero arbitrio (1524) antwortete Luther mit De servo arbitrio (1525); es kam zum Bruch zwischen den beiden Gelehrten. Melanchthon wirkte mäßigend auf beide ein, stellte sich in der Sache aber eindeutig auf Luthers Seite. In dieser Zeit fand Melanchthon mit der Unterscheidung zwischen „Gesetz“ und „Evangelium“ seinen eigenen philosophisch-theologischen Standpunkt. Ungeachtet der inhaltlichen Differenzen blieben die gegenseitige persönliche Zuneigung und Wertschätzung zwischen Erasmus und Melanchthon bis zum Tod des Erasmus bestehen. Auch Reuchlin sah Melanchthons Hinwendung zu Luther kritisch. Noch 1519 hatte er versprochen, Melanchthon seine mit seltenen und kostbaren Büchern bestückte Bibliothek zu vererben (MBW 67.2). Aber nur wenige Monate später versuchte er, Melanchthon nach Ingolstadt zu holen und ihn auf diese Weise Luthers Einfluss zu entziehen. Melanchthon lehnte ab; als letzten Grund führte er an, er werde sich nicht von seinen Freunden, mit denen er ganz bewusst Umgang pflege, fortreißen lassen (MBW 77.2). Diese Absage verstimmte Reuchlin offenbar nachhaltig, denn als er 1522 starb, vermachte er den kostbarsten Teil seiner Bibliothek dem Michaelisstift in Pforzheim.
3 Unruhige Zeiten (1521 – 1525) Im Januar 1521 wurde Luther samt seinen Anhängern von Papst Leo X. exkommuniziert. Bevor Kaiser Karl V. im Mai im Wormser Edikt die Reichsacht gegen ihn verhängte, hatte Friedrich der Weise ihn bereits der Öffentlichkeit entzogen, indem er ihn auf der Wartburg versteckte. Während der zehn Monate, die er dort blieb, fehlte er in Wittenberg. In einem Brief bestimmte er Melanchthon zu seinem Stellvertreter. Diese Rolle konnte Melanchthon jedoch nur an der Universität ausfüllen, wo er Luthers Vorlesungen übernahm. Luthers Predigerstelle an der Stadtkirche konnte er nicht vertreten. Obwohl der Rat der Stadt im Oktober 1521 beantragte, Melanchthon das Predigtamt zu übertragen, wagte der Propst Justus Jonas nicht, die Stelle mit einem verheirateten Laien zu besetzen. Melanchthon dürfte das recht gewesen sein, denn er selbst hielt sich wegen seines Sprachfehlers für ungeeignet zum Predigen (MBW 3577 und 1796.6). Während Luther eine behutsame Umsetzung der reformatorischen Lehren befürwortete, konnte es einigen seiner Anhänger nicht schnell genug gehen. Besonders Andreas Bodenstein von Karlstadt und der Augustinermönch Gabriel Zwilling nutzten Luthers Abwesenheit, um dessen Forderungen in der Praxis durchzusetzen und schnell Re-
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formen durchzuführen. Melanchthons Mahnungen zur Mäßigung fanden bei ihnen kein Gehör. Am 29. September 1521 empfing Melanchthon mit einigen Schülern bei der ersten evangelischen Abendmahlsfeier in Wittenberg das vollständige Abendmahl. Er wirkte auch an der ersten Wittenberger Kirchenordnung mit, in der unter anderem die neue Form des Gottesdienstes geregelt wurde; sie war am 24. Januar 1522 vollendet (Sehling 1902, 697– 698). Die evangelischen Reformen veränderten nicht nur den kirchlichen Alltag spürbar, sondern auch den Universitätsbetrieb. Scholastische Vorlesungen, die im Lehrplan vorgesehen waren, wurden kaum noch besucht, ebenso grundlegende Veranstaltungen zu Grammatik, Logik und Rhetorik; stattdessen strömten die Studenten zu den neu angebotenen Auslegungen biblischer Schriften. Dies hatte zur Folge, dass den Studenten die Voraussetzungen fehlten, um nach der bestehenden Ordnung die Abschlussprüfungen abzulegen. Die notwendige Reform des Studiums leitete Melanchthon im März 1523 mit seiner programmatischen Rede Necessarias esse ad omne studiorum genus artes dicendi, auch Encomion eloquentiae genannt (CR 11, 50 – 66; MSA 3, 43 – 62), ein, worin er den Nutzen einer soliden Ausbildung in den (alten) Sprachen deutlich machte: Weil Sprache und Denken untrennbar miteinander verbunden sind, bewirken gute Sprachkenntnisse die Schärfung und Ausbildung des Verstandes, denn „die Klugheit schließt sich genauso eng an die Eloquenz an, wie der Schatten dem Körper folgt“. Als Melanchthon im Wintersemester 1523/24 zum Rektor der Universität gewählt wurde, erließ er eine neue Studienordnung (UUW 1, 128 – 130,131), in der die Studenten zu Redeübungen, declamationes, verpflichtet wurden. Außerdem wurde jeder Student einem Pädagogen zugewiesen, der sein Studium strukturieren und betreuen sollte. Melanchthon selbst hat zeitlebens Studenten in sein Haus aufgenommen und ihr Studium überwacht; mit einigen, insbesondere Franz Burchard, entwickelte sich eine enge Freundschaft. Nach fast sechs Jahren aufreibender Arbeit war Melanchthon erschöpft, und der Kurfürst gewährte ihm sechs Wochen Urlaub, um sich in seiner Heimat zu erholen. Am 19. April 1524 brach Melanchthon zusammen mit seinem engen Freund Joachim Camerarius und drei weiteren Begleitern in Richtung Bretten auf, wo er am 3. Mai eintraf. Camerarius ritt mit seinen Begleitern weiter nach Basel zu Erasmus, um ihm Briefe von Luther und Melanchthon zu überbringen und die Streitigkeiten mit Erasmus beizulegen. Er hatte jedoch keinen Erfolg. In Bretten bekam Melanchthon Besuch von Friedrich Nausea. Der päpstliche Legat Lorenzo Campeggi, der vom Nürnberger Reichstag nach Stuttgart gekommen war, hatte ihn geschickt, um zu sondieren, ob der inzwischen berühmte Gelehrte von Wittenberg und von Luther weggelockt werden könne. Melanchthon lehnte ab. Auf der Rückreise fand zufällig die erste Begegnung mit dem jungen Landgrafen Philipp von Hessen statt, der sogleich sein Interesse an den aktuellen religiösen Fragen bekundete. Nachdem Melanchthon am 7. Juni wieder in Wittenberg eingetroffen war, verfasste er die Epitome renovatae ecclesiasticae doctrinae (CR 1, 703 – 712,313; MSA 1, 179 – 189). Darin legte er dem hessischen Landgrafen vor allem seine Auffassung über die christliche Gerechtigkeit und die menschlichen Traditionen dar und forderte die Fürsten dazu auf, die Unruhe, der ein
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falsches Verständnis der evangelischen Lehre Vorschub leistete, einzudämmen und die unverfälschte Predigt des Evangeliums, das den Frieden lehrt, zu ermöglichen. Als die Schrift im Druck veröffentlicht wurde (VD 16 M 3232), hatte der Landgraf sich bereits der evangelischen Lehre zugewandt. Zwischen ihm und Melanchthon entstand ein langjähriges Vertrauensverhältnis, das manchen Belastungsproben standhielt. Im Bauernkrieg, der nicht nur in Thüringen, sondern vor allem in seiner süddeutschen Heimat wütete, war Melanchthon entsetzt über die angerichteten Verwüstungen, sprach sich aber wie Luther für die strenge Durchsetzung der Ordnung gegen die Aufrührer aus. Mit Unverständnis und harscher Kritik reagierte Melanchthon darauf, dass Luther ausgerechnet in dieser Situation am 13. Juni 1525 Katharina von Bora heiratete (MBW 408; siehe auch den Abschnitt 4 im Kapitel C.I. Briefe).
4 Reformen im Bildungs- und Kirchenwesen (1525 – 1528) Die Forderungen nach einer Reform des Bildungswesens richteten sich nicht nur an die Universitäten, sondern auch an die Schulen. Melanchthon propagierte die Differenzierung der Schüler; sie sollten nicht alle gemeinsam unterrichtet, sondern ihrem Kenntnisstand entsprechend in drei „Haufen“ eingeteilt werden (CR 26, 90 – 96; MSA 1, 265 – 271). Dadurch, dass seine Anregungen in den Unterricht der Visitatoren aufgenommen wurden, den er im Auftrag des Kurfürsten schrieb, erhielten sie Gesetzeskraft. Melanchthon beteiligte sich auch aktiv an Schulgründungen, entwarf Lehrpläne und vermittelte Lehrkräfte. Besonders intensiv wirkte er bei der Gründung der Nürnberger Lateinschule mit: Im November 1525 hielt er sich mehrere Wochen in Nürnberg auf, um an der Schulordnung mitzuarbeiten und die Besetzung der Stellen zu erörtern. Die Hoffnungen des Nürnberger Rates, Melanchthon selbst könnte für die Leitung der Schule gewonnen werden, erfüllten sich nicht; aber er vermittelte seinen engen Freund Joachim Camerarius und andere Lehrkräfte. Während seines Aufenthalts in Nürnberg traf Melanchthon auch Caritas Pirckheimer, die sich als Äbtissin des Nürnberger Klarissenklosters gegen die Zwangseinführung der Reformation wehrte; Melanchthon setzte sich beim Nürnberger Rat für den Erhalt des Klosters ein. Als am 23. Mai 1526 die neue Schule feierlich eröffnet wurde, hielt er die Festrede (CR 11, 106 – 111). Anlässlich dieses Aufenthalts entstanden sowohl Albrecht Dürers bekannter Kupferstich des jugendlich-kraftvollen Melanchthon als auch seine Vier Apostel, die die Gesichtszüge an der Schulgründung beteiligter Personen tragen: Der Evangelist Johannes ähnelt Melanchthon, Petrus dem Michael Roting, Markus dem Poeten Eobanus Hessus und Paulus dem Rektor Joachim Camerarius (Scheible 1995, 76 – 77 mit Abb. 18, 1, 2, 15). Am 5. Mai 1525 starb Friedrich der Weise. Sein Bruder Johann der Beständige reformierte als Kurfürst noch im selben Jahr die Bezahlung der Universitätslehrer. Dabei bekam Melanchthon – wie Luther – einen Sonderstatus zuerkannt: Er war dem Stellenplan entnommen und durfte sowohl in der Artistenfakultät als auch in der
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theologischen Fakultät Vorlesungen halten; die zu behandelnden Stoffe durfte er sich frei wählen (UUW 1, 133.167; MBW 446). Die Griechischprofessur wurde neu besetzt. Melanchthon lehrte nun zu gleichen Teilen in beiden Fakultäten. Den Doktortitel erwarb er nicht, denn er wollte weiterhin in der Artistenfakultät tätig bleiben; als Doktor wäre ihm das nicht möglich gewesen, weil der höchste Grad dieser Fakultät der Magistertitel war. Seine theologische Kompetenz stand jedoch außer Frage. Er verfasste zahlreiche Gutachten im Namen der „Wittenberger Theologen“; seine Unterschrift steht jedoch stets nach den Doktoren an letzter Stelle. Nach dem Bauernkrieg stand auch die Organisation des Kirchenwesens auf dem Prüfstand. Von 1526 an, verstärkt ab 1527, fanden auf Anordnung des Kurfürsten Visitationen der Pfarreien statt, bei denen nicht nur die Bildung und der Lebenswandel der Pfarrer sowie die Rechtmäßigkeit ihrer Lehre überprüft, sondern auch die finanziellen Belange der Pfarreien neu geordnet wurden. Melanchthon wurde beauftragt, die Visitation in Thüringen durchzuführen. Neben den teilweise verheerenden Zuständen, die er im Juli/August 1527 vorfand, beklagte er vor allem die einseitige Predigt der Rechtfertigung, bei der Reue und Buße als Voraussetzung der Vergebung unerwähnt blieben. Sein theologisches und pädagogisches Konzept und die Eindrücke, die er als Visitator gesammelt hatte, fanden Eingang in den von einer zentralen Visitationskommission diskutierten und 1528 als offizielles Lehrbuch gedruckten Unterricht der Visitatoren (VD 16 M 2600). Über Melanchthons Bußlehre kam es zum Zerwürfnis mit Johannes Agricola, Luther nahm Melanchthon jedoch in Schutz („1. Antinomistischer Streit“). Während Melanchthon auf seiner Visitationsreise war, brach in Wittenberg eine Seuche aus. Die Universität wurde nach Jena verlegt, wo Melanchthon mit seiner Familie bis zum 26. März 1528 blieb. Zu weiteren Visitationen hielt sich Melanchthon vom Oktober 1528 bis Januar 1529 in Weimar, Gotha und Eisenach auf; 1533 visitierte er im August in Bitterfeld, im Dezember in Liebenwerda und Herzberg/Elster.
5 Politik und Religion: Die Reichstage und Religionsgespräche von 1529 und 1530 Als theologischer Berater des Kurfürsten erlebte Melanchthon den Reichstag in Speyer, der vom 15. März bis zum 22. April 1529 dauerte. Wahrscheinlich machte Melanchthon von dort einen Abstecher nach Bretten und besuchte seine Mutter ein letztes Mal. Gegen den Reichstagsabschied, der die Rückgängigmachung aller religiösen und kirchlichen Veränderungen und die Durchsetzung des Wormser Edikts verlangte, reichten am 20. April 1529 mehrere Reichsstände eine Protestation ein, in der sie auf dem Reichstagsbeschluss von 1526 beharrten; der hatte ihnen reformatorische Maßnahmen freigestellt. Dieser Erklärung verdanken die Anhänger der Reformation die Bezeichnung als „protestierende Stände“ beziehungsweise „Protestanten“. Angesichts der Gefahr, die von Seiten der katholischen Mehrheit bestand, verständigten sich Kursachsen, Hessen und die Städte Ulm, Nürnberg und Straßburg über ein Verteidi-
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gungsbündnis. Melanchthon lehnte dieses Bündnis ab. Einerseits hielt er es für unrecht, dem Kaiser militärischen Widerstand zu leisten, andererseits hatte er Vorbehalte vor allem gegen die Straßburger,weil sie der symbolischen Abendmahlsauffassung der Schweizer zuneigten. Damals vertrat Melanchthon noch die lutherische Auffassung von der Realpräsenz Christi im Abendmahl. Durch seinen Briefwechsel mit Johannes Oekolampad, der als maßgeblicher Theologe in Basel wirkte (MBW 775; 812), und durch das intensive Studium der Theologiegeschichte rückte er dann allmählich von der lutherischen Position ab und näherte sich der Auffassung der Schweizer und Ulrich Zwinglis an; allerdings zog sich dieser Prozess über mehrere Jahre hin. Damit das in Speyer geschlossene Bündnis funktionieren konnte, mussten die theologischen Differenzen der Bündnispartner ausgeräumt werden. Doch auf dem Marburger Religionsgespräch (1.–4. Oktober 1529), zu dem Melanchthon gemeinsam mit Luther reiste und auf dem seine einzige persönliche Begegnung mit Zwingli stattfand, gelang es nicht, einen tragfähigen Kompromiss in der Abendmahlslehre zu finden; vielmehr trat die unüberbrückbare Kluft zwischen Lutheranern und Schweizern deutlich zutage. In den folgenden Monaten bemühte Melanchthon sich, Klarheit über seine eigenen Positionen in den aktuellen theologischen und politischen Fragen zu gewinnen. Mit der überarbeiteten Fassung seiner De dialectica libri quatuor (VD 16 M 2997) erarbeitete er sich eine Methode für die wissenschaftliche Legitimierung seiner eigenen Standpunkte. Die in dichter Folge publizierten Kommentare zur Nikomachischen Ethik und zur Politik des Aristoteles (VD 16 ZV 10667; M 2737) sowie zum Römerbrief (VD 16 M 3044) und die Sentenciae veterum aliquot scriptorum de coena domini (VD 16 M 4220 – 4221) dokumentieren seine intensive Auseinandersetzung mit den aktuell brennenden Themen Obrigkeit, Rechtfertigung und Abendmahl. Als Kaiser Karl V. am 21. Januar 1530 zum Reichstag nach Augsburg lud und unvoreingenommene Beratungen über die Religionsfrage in Aussicht stellte, keimte in Melanchthon die Hoffnung auf, dass möglicherweise doch eine friedliche Einigung möglich sei. Unter Mitwirkung von Luther, Justus Jonas und Johannes Bugenhagen verfasste Melanchthon ein Gutachten über die durchgeführten Kirchenreformen, das in Torgau mit den kurfürstlichen Räten abschließend beraten wurde (Torgauer Artikel). Im Gefolge Kurfürst Johanns brach er am 2. April nach Augsburg auf. Luther wurde im südlichsten Zipfel des kursächsischen Territoriums, auf der Veste Coburg, zurückgelassen, und Melanchthon fiel die Rolle des federführenden Theologen der Delegation zu; der Kurfürst setzte Hoffnungen in seine diplomatischen Qualitäten. Am 2. Mai traf man in Augsburg ein. Der kursächsische Plan, die reformatorischen Maßnahmen als Beseitigung von Missständen zu rechtfertigen, ging nicht auf, denn Luthers alter Gegner Eck hatte seine 404 Artikel (VD 16 E 270) – zusammenhanglos aus Schriften Luthers und Melanchthons sowie von Zwinglianern und Täufern exzerpiert, um alle gemeinsam als Ketzer darzustellen – als Thesen angeboten und sich bereit erklärt, sie in einer Disputation vor dem Kaiser zu widerlegen. Um diesem „überaus teuflischen“ (MBW 905.1) Versuch Ecks entgegenzuwirken, reichte es nicht aus, die Reformen zu verteidigen, sondern eine Darlegung aller evangelischen Glaubensartikel und ihrer
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Rechtgläubigkeit war vonnöten. Melanchthon machte sich sofort an die Arbeit. Als Vorlage für seine grundlegenden Ausführungen über Glauben und Lehre dienten ihm von Luther verfasste Artikel (Schwabacher Artikel, Marburger Artikel), die aufgrund der Diskussion mit seinen Kollegen bearbeitet wurden. Diesem ersten Teil, in dem Melanchthon die Gemeinsamkeiten der reformatorischen mit der altgläubigen Lehre formulierte, folgte ein zweiter, auf Grundlage der Torgauer Artikel erarbeiteter Teil, in dem die vollzogenen Änderungen als Beseitigung kirchlicher Missstände dargestellt und verteidigt wurden. Aus der geplanten „Apologia“ wurde eine „Confessio“, die Confessio Augustana (CA: BSELK, 65 – 225). Schon am 11. Mai konnte ein Entwurf an Luther geschickt werden. Mit ihm stand Melanchthon in ständigem Briefkontakt. Dass es zwischenzeitlich zur Verstimmung zwischen beiden kam, ist angesichts der für beide ungewohnten Situation und der hohen nervlichen Belastung verständlich: Luther konnte die Augsburger Vorgänge nur als Zuschauer aus räumlicher und zeitlicher Distanz verfolgen; Melanchthon fühlte die Verantwortung für die evangelische Sache auf seinen schmalen Schultern liegen und musste in den Verhandlungen schnell Kompromisse finden, damit der kursächsische Entwurf zu einer umfassenderen protestantischen Bekenntnisschrift werden konnte. Inhaltlich erklärte Luther sich mit der Schrift einverstanden, und am 25. Juni 1530 verlas der kursächsische Kanzler Christian Beyer vor Kaiser Karl V. und den Reichsständen die deutsche Fassung des Augsburger Bekenntnisses, Gregor von Brück überreichte eine lateinische Ausfertigung. Melanchthon war bei der Verlesung nicht anwesend. Während der Arbeit an der CA hatte Melanchthon auch Sondierungsgespräche mit Vertretern der Gegenseite geführt, ohne dabei die festgelegte Verhandlungslinie Kursachsens zu verlassen. Auch trug er dazu bei, dass Philipp von Hessen zur Unterzeichnung der CA bewogen werden konnte. Am 3. August wurde die Antwort der Gegenseite auf die CA, die Confutatio, verlesen, die in Melanchthons Augen lächerlich und unwissenschaftlich war. Nun wurde in Ausschüssen über einen Kompromiss verhandelt, doch trotz Annäherungen in einzelnen Punkten blieben die Gespräche letztlich erfolglos. Gleichzeitig begann Melanchthon, unterstützt von Justus Jonas, Georg Spalatin und Johannes Brenz, eine Gegenschrift zur Confutatio zu verfassen. Diese Apologie der CA, deren Aufbau der CA glich, aber umfangreicher war, sollte dem Kaiser am 22. September übergeben werden, doch der verweigerte die Annahme. Gleich am nächsten Tag reiste Kurfürst Johann mit dem größten Teil seiner Delegation aus Augsburg ab. Als im November 1530 die Religionsverhandlungen abgebrochen wurden und der Reichsabschied das Wormser Edikt wieder in Kraft setzte, war Melanchthon nach sechsmonatiger Abwesenheit wieder in Wittenberg. Dort unterzog er die Apologie einer grundlegenden Überarbeitung und ließ sie im April 1531 gemeinsam mit der CA drucken; im September 1531 erschien dann die endgültige Ausgabe (BSELK, 229 – 709).
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6 Einigungsbemühungen und Streitpunkte (1531 – 1538) Als Reaktion auf den Augsburger Reichsabschied schlossen sich die evangelischen Reichsstände am 27. Februar 1531 zu einem Verteidigungsbündnis, dem Schmalkaldischen Bund, zusammen. Der wurde schnell zu einer politischen Größe innerhalb Europas, warb im Ausland um Verbündete und wurde selbst umworben. Melanchthon, dessen Einfluss im evangelischen Lager immer größer wurde, war als theologischer Gutachter an den Verhandlungen beteiligt. Für den französischen König Franz I. verfasste er 1534 ein umfangreiches Gutachten über die Beilegung der kirchlichen Streitigkeiten (MBW 1467); eine Einladung nach Paris anzunehmen, wurde ihm aber von Kurfürst Johann Friedrich I., seinem neuen Landesherrn, untersagt. Auch der Versuch, Heinrich VIII. von England für die Reformation zu gewinnen, schlug fehl; dennoch schrieb Melanchthon dem König und widmete ihm die 1535 erschienene Ausgabe seiner Loci communes (MBW 1555), was er später bereute (siehe auch den Abschnitt 8 im Kapitel C.I. Briefe). Der religiös motivierte Schmalkaldische Bund brauchte ein gemeinsames Bekenntnis. Die treibende Kraft unter den Theologen war dabei Martin Bucer. Mit ihm traf Melanchthon sich auf Initiative des hessischen Landgrafen im Dezember 1534 in Kassel. Für das Gespräch hatte Melanchthon klare Instruktionen von Luther erhalten; an diese Richtlinie hielt er sich in der Diskussion über das Abendmahl, obwohl seine eigene Auffassung nicht mehr derjenigen Luthers entsprach. Die gemeinsame Erklärung (MBW 1514) stellte die Weichen für die im Mai 1536 von den lutherischen und oberdeutschen Theologen unterzeichnete Wittenberger Konkordie (MBW 1744), durch die der seit langem schwelende Abendmahlsstreit vorerst beigelegt wurde. Die darin dargelegte Abendmahlslehre mit Melanchthons Formulierung, dass Christus „cum pane“ gegenwärtig sei, übernahm Melanchthon auch in die erweiterte Fassung der CA, die Confessio Augustana Variata, die 1540 gedruckt wurde (CR 26, 343 – 416; MSA 6, 12– 79). Kaum war eine gemeinsame Formulierung für die Abendmahlslehre gefunden, da bahnte sich eine neue Kontroverse an, die Melanchthon später erneut zu schaffen machen sollte. Während er im September/Oktober 1536 an der Reform der Universität Tübingen mitwirkte, warf Conrad Cordatus ihm vor, mit seinen Äußerungen über die Notwendigkeit der guten Werke im Gegensatz zu Luthers Lehre des „sola fide“ zu stehen. Weil Luther einen Interpretationsspielraum akzeptieren konnte, gelang der Schulterschluss zwischen ihm und Melanchthon, auch Justus Jonas als Rektor wies Cordatus ab. Der Streit zog sich jedoch über ein ganzes Jahr hin. 1536 bezog Melanchthon mit seiner Familie ein größeres Haus, das der Kurfürst ihm hatte errichten lassen. Im Wintersemester 1536/37 verwaltete Melanchthon das Dekanat der Artistenfakultät, im Sommersemester 1538 hatte er das Amt des Rektors der Universität inne.
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7 Religionsgespräche (1539 – 1541) Von Februar bis April 1539 hielt Melanchthon sich als theologischer Berater des Kurfürsten beim Fürstentag in Frankfurt a.M. auf, wo mit dem Frankfurter Anstand ein befristeter Religionsfrieden vereinbart und ein Religionsgespräch in Aussicht gestellt wurden. Am Rande kam es zu Begegnungen Melanchthons mit Johannes Calvin und mit Josel von Rosheim, dem Vertreter der Juden in Deutschland. Zur Vorbereitung des Religionsgesprächs trafen sich die Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes im März 1540 in Schmalkalden. Von dort wurde Melanchthon nach Rotenburg an der Fulda gerufen und musste dort unversehens an der Trauung der Nebenehe Philipps von Hessen mit seinem Hoffräulein Margarete von der Saale teilnehmen. Der Landgraf wusste, dass Luther und Melanchthon im Jahr 1531 dem englischen König Heinrich VIII. – aus Rücksicht auf Katharina von Aragon und ihre Tochter – ein Gutachten ausgestellt hatten, dass eine Doppelehe ausnahmsweise zu akzeptieren sei, und beanspruchte dieses Privileg nun auch für sich. Notgedrungen hatten Luther und Melanchthon ihm um seines Gewissens willen eine zweite Ehe gestattet, ihn aber zur Geheimhaltung ermahnt. Natürlich wurde die Sache publik. Auf dem Weg zum Religionsgespräch in Hagenau erfuhr Melanchthon in Weimar täglich Schlimmeres über diesen Skandal und erlitt einen seelischen und körperlichen Zusammenbruch. Luther und andere kamen eigens aus Wittenberg, um Melanchthon Trost zuzusprechen und für ihn zu beten. Allmählich kam er wieder zu Kräften, reiste aber nicht nach Hagenau, sondern über Eisenach zurück nach Wittenberg. Da das Religionsgespräch von Hagenau nach Worms verlegt worden war, brach Melanchthon Mitte Oktober 1540 mit der kurfürstlichen Gesandtschaft dorthin auf. Während die Protestanten darauf drängten, auf der Basis von Melanchthons erweiterter und veränderter CA Variata mit der Gegenseite zu verhandeln, bestand das Hauptinteresse des kaiserlichen Gesandten Nikolaus Granvella und der Altgläubigen darin,Verhandlungen zu verhindern. Bevor die Gespräche auf den nächsten Reichstag nach Regensburg vertagt wurden, durfte Melanchthon vom 14. bis 17. Januar 1541 mit Johannes Eck über die Sündenlehre disputieren; die von Eck verfasste Kompromissformel missfiel ihm. Als er wieder in Wittenberg war, bekamen er und Luther vom brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. vertraulich das Wormser Buch zugesandt, ein Konsenspapier, das im Hintergrund des Wormser Gesprächs von Martin Bucer und Johannes Gropper erarbeitet worden war. Genau wie Luther lehnte Melanchthon den Text ab; er schrieb „Politia Platonis“ auf das Manuskript und verurteilte es damit als Utopie. Nur sechs Wochen nachdem Melanchthon nach Hause gekommen war, musste er schon wieder aufbrechen, um nach Regensburg zu reisen. Er tat es widerwillig, weil er erkannt hatte, wie sehr die Religion zum Spielball der Politik verkommen war und dass keine Aussicht auf wirkliche und erfolgversprechende Verhandlungen bestand. Unterwegs stürzte sein Wagen um; Melanchthons rechte Hand wurde schwer verletzt und bereitete ihm noch lange Probleme beim Schreiben. In Regensburg schickte sogar der
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Kaiser seinen Leibarzt, um die Verletzung – wohl eine schlimme Verstauchung – zu behandeln. Für die Verhandlungen bildete Karl V. eine Kommission: Den Altgläubigen Julius von Pflug, Gropper und Eck standen Melanchthon, Bucer und der hessische Theologe Johannes Pistorius gegenüber; als Eck erkrankte, musste auch Pistorius ausscheiden. Auf Wunsch des Kaisers wurde auf der Basis des Wormser Buchs diskutiert. Obwohl man bei einigen Artikeln Kompromisse zustande brachte, gerieten die Verhandlungen über die Sakramente Abendmahl und Beichte ins Stocken und scheiterten schließlich. Anfang August 1541 reiste Melanchthon nach Hause, frustriert, dass seinen ehrlichen Bemühungen der Erfolg verwehrt blieb, und verbittert über das Verhalten der Politiker, denen er jegliche Geistesgröße absprach. Den Kaiser nahm er aus seiner Kritik aus; ihm hatte er nie den guten Willen abgesprochen und behielt seine positive Einstellung, ja Sympathie ihm gegenüber bei.
8 Neuer Kummer (1543 – 1544) Obwohl Melanchthon Bucer wegen seiner gemeinsamen Arbeit mit Gropper am Wormser Buch misstrauisch beäugte, litt ihr freundschaftliches Verhältnis darunter nicht. Als der Kurfürst und Erzbischof von Köln Hermann von Wied, der sich unter Bucers Einfluss dem Protestantismus zuwandte, in Köln Reformen wagen wollte, lud er erst Bucer, dann auch Melanchthon zu sich ein. Von Mai bis Juli 1543 arbeiteten sie in Bonn Bucers Entwurf einer Kirchenordnung aus (Einfaltigs bedencken, warauff ein Christliche, in dem wort Gottes gegrünte Reformation anzurichten seye: VD 16 K 1734); Melanchthon verfasste dafür die Artikel über Trinität, Schöpfung, Rechtfertigung, Kirche und Buße. Die Durchführung der Reformen scheiterte jedoch am Widerstand des Domkapitels. Ein Jahr später führte das Kölner Bedencken zur einzigen schweren Krise zwischen Melanchthon und Luther. Luther neigte im Alter immer stärker zum Jähzorn, doch Melanchthon verstand es recht gut, Reizthemen von ihm fernzuhalten. Nun aber hatte Nikolaus von Amsdorf Luther gegenüber die Abendmahlslehre des Bedencken kritisiert. Luther reagierte mit einem heftigen Zornesausbruch, der gegen Bucer gerichtet war, doch fühlte sich Melanchthon mit angegriffen. Da Luther gerade an einer Abendmahlsschrift arbeitete, befürchtete Melanchthon, in diesem Werk selbst zur Zielscheibe des Zorns zu werden; er zog es sogar in Betracht, Wittenberg zu verlassen. Dazu kam es jedoch nicht. Nach etwa acht spannungsgeladenen Wochen wurde die Sache in einem Gespräch beigelegt. Auch Melanchthons Familienleben blieb in diesen Jahren nicht von Konflikten verschont: Die unglückliche Ehe ihrer Tochter Anna mit Georg Sabinus bereitete den Eltern große Sorgen, die 1544 durch den Umzug der jungen Familie ins ferne Königsberg noch verstärkt wurden. Dazu verursachte die heimliche Verlobung Philipps d.J. mit Margarethe Kuffner im Dezember 1543 Aufsehen in Wittenberg; während Melanchthon die Beziehung wohl gebilligt hätte, war seine Frau offenbar strikt dagegen und bestand darauf, dass die Verlobung aufgelöst wurde.
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9 Schmalkaldischer Krieg und Interim (1546 – 1548) Das Jahr 1546 brachte einige Veränderungen in Melanchthons Leben. Am 18. Februar starb Luther. Die führende Stellung unter den Wittenberger Reformatoren fiel damit Melanchthon zu. In seiner Leichenrede und der biographischen Vorrede zum zweiten Band von Luthers Werkausgabe (MBW 4277) würdigte er seinen Kollegen, mit dem er mehr als 27 Jahr eng zusammengearbeitet und -gelebt hatte, und stellte ihn in die Reihe der großen Kirchenväter und -lehrer. Nur wenige Monate später begann der Schmalkaldische Krieg. Als Herzog Moritz von Sachsen in das Land seines Onkels, des sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich, einmarschiert war, erklärte Caspar Cruciger als Rektor am 6. November die Universität für geschlossen. Melanchthon, derzeit wieder Dekan der Artistenfakultät, fand mit seiner Familie Zuflucht im anhaltinischen Zerbst, wo er bald wieder Schüler um sich sammelte. Im März 1547 erreichte ihn dort die Nachricht, dass seine Tochter Anna Sabinus am 26. Februar gestorben war; Melanchthon empfand es als tröstlich, dass sie sich noch mit ihrem Mann versöhnt hatte. Nachdem Kurfürst Johann Friedrich am 24. April die Schlacht bei Mühlberg verloren hatte und in Gefangenschaft geraten war, fühlte sich Melanchthon auch in Zerbst nicht mehr sicher. Über Magdeburg floh er mit seiner Familie nach Braunschweig, von dort mit den Familien von Katharina Luther, die nach Dänemark wollte, und Georg Maior bis Gifhorn. Wegen Truppenbewegungen mussten sie dort umkehren, und die Familie Melanchthon zog weiter zur Reichsstadt Nordhausen. Wittenberg und die Kurwürde gingen an Moritz von Sachsen über, Johann Friedrich und seinen Söhnen blieb nur die Grafschaft Thüringen. Um den erlittenen Verlust auszugleichen, plante Johann Friedrich die Gründung einer Universität in Jena und lud Melanchthon zu Gesprächen nach Weimar ein. Der verfasste am 10. Juli ein Gutachten über die Gründung einer Hochschule, die einen Ersatz für die Wittenberger Universität bilden und auf das Wittenberger Lehrpersonal zurückgreifen könne; deutlich sprach er sich darin aber auch für den Fortbestand der Leucorea aus, die ihm sehr am Herzen lag (MBW 4800).Wenige Tage später reiste er nach Leipzig,wo Kurfürst Moritz ihm und einigen Kollegen aus Wittenberg am 20. Juli den Bestand der evangelischen Lehre und den Erhalt der Universitäten Leipzig und Wittenberg zusicherte. In intensiven Verhandlungen ließ sich auch die Finanzierung sichern. Angebote, die Melanchthon bekommen hatte (Rufe nach Heidelberg, Frankfurt an der Oder und Königsberg), lehnte er ab. Im Oktober 1547 signalisierte er Kurfürst Moritz , dass er nach Wittenberg zurückkehren werde, und sicherte dem Kurfürsten seine Dienste zu. Am 24. Oktober begann er mit seinen Vorlesungen. Auch seine Familie – zu der inzwischen die vier Enkeltöchter Sabinus gehörten – holte er nun aus Nordhausen zurück an die Elbe. Bereits am 1. September 1547 war in Augsburg der Reichstag eröffnet worden, bei dem der Kaiser die politischen Verhältnisse im Reich und die Religionsfrage klären wollte: Gemeinsam mit Papst Paul III. und dem 1545 in Trient eröffneten Konzil wollte Karl V. die Einheit der Religion wiederherstellen (sogenannte Rekatholisierung) und
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die Reichsstände den Beschlüssen des Konzils unterwerfen. Weil die evangelischen Fürsten, auch Moritz von Sachsen, das Konzil von Trient nicht anerkennen wollten, ließ Karl V. ein Religionsgesetz erarbeiten, das bis zu einer endgültigen Konzilsentscheidung die kirchlichen Verhältnisse regeln sollte: das Augsburger Interim. Während Melanchthon den noch geheimen Text zu sehen bekam, wurde Kurfürst Moritz in Augsburg vom Kaiser vorgeladen: Melanchthon stachele Moritz zum Ungehorsam gegen den Kaiser an und müsse deshalb ausgeliefert werden. Gegen diese Unterstellung verwahrte Moritz sich und hob Melanchthons große Friedensbereitschaft und Vermittlungsfähigkeit hervor, derentwegen er ihn in Dienst genommen habe. Nach dieser Audienz waren die Vorwürfe gegen Melanchthon ausgeräumt. Dennoch drängte Moritz die Theologen, die ihm ihre Ablehnung des Interims in einem Gutachten mitgeteilt hatten, aufzuzeigen, in welchen Punkten man dem Kaiser entgegenkommen könne. In ihrem neuen Gutachten unterschieden sie zwischen Heilsnotwendigem, das nicht verhandelbar ist, und den sogenannten Adiaphora, bei denen Zugeständnisse möglich sind. Unter dem Strich hielten sie das Interim für unannehmbar; der Hauptkritikpunkt war, dass das Herzstück der evangelischen Lehre, die Rechtfertigung allein aus Glauben, nicht in das Gesetz eingegangen sei. Am 30. Juni 1548 wurde das Interim verabschiedet; weil auch die katholischen Fürsten und die Bischöfe es nicht einführen wollten, galt es – anders als zuvor geplant – nur in den protestantischen Territorien. Kurfürst Moritz stand nun zwischen seinen Untertanen, denen er die Beibehaltung der evangelischen Lehre zugesagt hatte, und dem Kaiser, der zu keinerlei Zugeständnissen bereit war. In intensiven und zeitraubenden Verhandlungen zwischen den Theologen, den kurfürstlichen Räten, den Bischöfen und den Landständen wurde aufgrund von verschiedenen Vorarbeiten eine Vorlage für den Ende Dezember stattfindenden Landtag in Leipzig erarbeitet, um mit einem Kompromiss das Interim abzuwenden (MBW 5387). Sie besaß deutlich reformatorischen Charakter und berücksichtigte nur in den Adiaphora, vor allem in den Riten und Äußerlichkeiten, einige Forderungen des kaiserlichen Interims. Diese bald polemisch als Leipziger Interim bezeichnete Vorlage wurde von den Landständen nicht verabschiedet, erlangte also keine offizielle Gesetzeskraft. Dennoch sorgte sie für viel Unruhe unter den Protestanten.
10 Neue Streitigkeiten und weitere Einigungsversuche (1548 – 1557) Um die rechte evangelische Lehre in Predigt und Abendmahlsfeier zu erhalten, zeigte Melanchthon Kompromissbereitschaft in den Adiaphora. Diese Auffassung wurde nicht von allen Protestanten geteilt: Matthias Flacius Illyricus, Schüler und Kollege Melanchthons, hatte ihn schon vor den Leipziger Verhandlungen vor Kompromissen, auch in den Adiaphora, gewarnt. Flacius fürchtete, dass durch sie einer allmählichen Rekatholisierung Vorschub geleistet würde, und lehnte jegliche Zugeständnisse strikt ab. Der Leipziger Entwurf bedeutete ihm eine Verfälschung der Lehre und die Rückkehr
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zum Papsttum. Im Frühjahr 1549 hatte er Wittenberg in Richtung Magdeburg verlassen; diese Stadt leistete dem Kaiser anhaltenden Widerstand. Dort publizierte er zahlreiche Streitschriften, die auch gegen Melanchthon gerichtet waren, und wurde sein erbitterter Feind („Adiaphoristischer Streit“). Auf Flacius’ Vorwürfe reagierte Melanchthon am 1. Oktober 1549 mit einem offenen Brief, in dem er Veränderungen der Lehre bestritt und sich gegen die Verleumdungen des Flacius verwahrte (MBW 5643). Doch die Auseinandersetzung mit Flacius und seinen Schmähungen verfolgte ihn bis zu seinem Tod. Melanchthon hatte nie Luthers Autorität besessen, der mit einem Machtwort Streitigkeiten beenden konnte. Seine Kompromissbereitschaft im Ringen um das Interim hatte sein Ansehen bei den Anhängern der reinen lutherischen Lehre erschüttert, sodass immer neue Auseinandersetzungen innerhalb der Protestanten entstehen konnten. Mehr noch als der Streit mit Flacius belastete Melanchthon die Auseinandersetzung mit Andreas Osiander, der mit seinen seit 1549 vorgetragenen Thesen über die Rechtfertigungslehre das Herzstück der evangelischen Lehre angriff. In Briefen versuchte Melanchthon auf Osiander einzuwirken. 1552 veröffentlichte Melanchthon schließlich eine Antwort auff das Buch Herren Andreae Osiandri von der rechtfertigung des menschen (VD 16 M 2500 – 2502). Die persönliche Auseinandersetzung mit Osiander wurde durch dessen Tod im Oktober 1552 beendet, der Streit um die Sache ging jedoch weiter. In den „Majoristischen Streit“ um die Notwendigkeit der guten Werke, der 1550 entflammte, war Melanchthon nicht direkt verwickelt. Er versuchte aber durch Ratschläge und Gutachten zu vermitteln und bemühte sich, den Begriff der necessitas eindeutig zu definieren und ihn von der Verdienstlichkeit abzugrenzen. Letztlich ging es in diesen Konflikten darum, festzulegen, was als Luthers Erbe zu bewahren sei und wer als sein Hüter gelten durfte. Erst die Konkordienformel von 1577 und ihre Übernahme ins Konkordienbuch 1580 zogen einen Schlussstrich unter die Streitigkeiten. Weil Karl V. das Augsburger Interim tatsächlich als Zwischenlösung betrachtete, setzte er sich beim Papst für die Fortsetzung des Trienter Konzils ein. Im November 1550 berief Julius III. das Konzil auf den 1. Mai 1551 nach Trient ein. Zur Vorbereitung des Konzils erarbeitete Melanchthon im Auftrag seines Kurfürsten Moritz von Sachsen eine neue Bekenntnisschrift, die Confessio Saxonica (gedruckt 1552: CR 28, 339 – 457; MSA 6, 80 – 166). Dazu zog er sich im Mai 1551 nach Dessau zu Fürst Joachim von Anhalt zurück. Er selbst sah in dieser Schrift eine Wiederholung der CA; sie fand weite Zustimmung und gilt aufgrund ihrer Klarheit als „reifste Bekenntnisschrift aus Melanchthons Feder“ (Scheible 1997a, 208). Als wichtigste Themen für das Konzil erachtete Melanchthon die Rechtfertigungslehre und die Ekklesiologie, die er ausführlich erörterte. Im Januar 1552 musste Melanchthon die Reise zum Konzil antreten. Aber schon in Nürnberg bekam er die Anweisung, vorerst nicht weiterzureisen: Der Fürstenkrieg, von dem Melanchthon seinem Kurfürsten abgeraten hatte (MBW 6250), veränderte die politische Lage zugunsten der Protestanten; der im August 1552 mit König Ferdinand ausgehandelte Passauer Vertrag brachte einen unbefristeten Religionsanstand und bahnte den Weg zum Augsburger Religionsfrieden von 1555. Bis Anfang
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März 1552 blieb Melanchthon in Nürnberg und unterrichtete an dem Gymnasium, bei dessen Gründung er 26 Jahre zuvor mitgeholfen hatte. 1553 publizierte Melanchthon eine eigene deutsche Übersetzung der Loci communes, weil die Übersetzungen von Georg Spalatin und Justus Jonas ihn nicht befriedigten; er widmete sie der Frau seines besten Freundes, Anna Camerarius (MBW 6742). Im Juni desselben Jahres lud König Edward VI. Melanchthon zur Kirchen- und Bildungsreform nach England ein, weil er ihn zu Bucers Nachfolger in Cambridge machen wollte. Die Reise kam nicht zustande; der junge König starb bereits im Juli. Am Augsburger Reichstag 1555, dessen Ergebnis der Religionsfrieden war, nahm Melanchthon nicht teil. Doch 1557 musste er – als alter Mann von 60 Jahren – zum Religionsgespräch nach Worms reisen, auf dem ein Konsens zwischen Katholiken und Protestanten gefunden werden sollte. Von Sorgen geplagt reiste Melanchthon Mitte August aus Wittenberg ab. Das Religionsgespräch scheiterte an der Zerrissenheit der Evangelischen, die sich nicht auf eine gemeinsame Erklärung einigen konnten. Wie nach früheren Religionsgesprächen war Melanchthon zutiefst enttäuscht; schon lange erschien ihm seine Lehrtätigkeit wesentlich sinnvoller als die Teilnahme an derartigen Veranstaltungen. In Worms erhielt Melanchthon eine Einladung von Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz, bei der Reform der Universität Heidelberg mitzuwirken. Am 22. Oktober reiste er in die Stadt, in der er als Knabe studiert hatte, und wurde ehrenvoll empfangen. Am 27. Oktober kam Joachim Camerarius nach Heidelberg und überbrachte Melanchthon die Nachricht, dass seine Frau Katharina gestorben war. Melanchthons Trauer war gewaltig, die Anwesenheit seines Freundes und seines aus Bretten angereisten Bruders Georg Schwartzerdt trösteten ihn nur wenig. Am 31. Oktober reiste Melanchthon zurück nach Worms, wo jedoch nicht weiter verhandelt wurde. Erst am 24. Dezember 1557 war Melanchthon wieder in Wittenberg.
11 Lebensende Noch in den letzten Jahren seines Lebens arbeitete Melanchthon unermüdlich daran, die evangelische Lehre darzustellen und zu erläutern. Er unterzog seine grundlegenden theologischen Schriften immer wieder einer kritischen Prüfung. 1556 publizierte er eine überarbeitete Fassung seines Kommentars zum Römerbrief (VD 16 M 3216/17), der in seinen Augen die christliche Lehre zusammenfasste. 1559 erschien die letzte von ihm durchgesehene Ausgabe seiner Loci praecipui theologici (VD 16 M 3663). Die wichtigsten evangelischen Lehrschriften fasste er im Corpus Doctrinae Christianae zusammen, das 1560 in lateinischer und deutscher Sprache herauskam; die Vorrede zur lateinischen Fassung datiert vom 16. Februar 1560, seinem 63. Geburtstag (MBW 9236). Im März 1560 reiste Melanchthon zu einer Stipendiatenprüfung nach Leipzig. Unterwegs zog er sich eine Erkältung zu. Zurück in Wittenberg bekam er heftiges Fieber. In Todeserwartung formulierte er Gründe, warum man den Tod nicht fürchten muss: „Du wirst von der Sünde erlöst. Du wirst befreit von aller Mühsal und der Wut der Theologen. Du wirst ins Licht kommen, du wirst Gott schauen und seinen
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Sohn. Du wirst die wunderbaren Geheimnisse erkennen, die du in diesem Leben nicht verstehen konntest: Warum wir so erschaffen sind, wie wir sind, und worin die Vereinigung der beiden Naturen in Christus besteht“ (CR 9, 1098; MBW 9299). Am Abend des 19. April 1560 entschlief Melanchthon, umgeben von Freunden und Kollegen. Unter großer Anteilnahme der Universität und der Bevölkerung wurde Melanchthon am 21. April in der Wittenberger Schlosskirche neben Luther beigesetzt.
Quellen Camerarius, Joachim. 2010. Das Leben Philipp Melanchthons, übers. v. Volker Werner, mit einer Einf. v. Heinz Scheible. Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 12. Leipzig. Sehling, Emil, Hg. 1902. Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Bd. 1, Sachsen und Thüringen, nebst angrenzenden Gebieten. Leipzig.
Literatur Fuchs, Franz, Hg. 2011. Der frühe Melanchthon und der Humanismus. Akten des gemeinsam mit dem Melanchthonhaus Bretten am 6./7. November 2009 veranstalteten Symposiums in Bretten. Wiesbaden. Greschat, Martin. 2010. Philipp Melanchthon. Theologe, Pädagoge und Humanist. Gütersloh. Jung, Martin H. 2010b. Philipp Melanchthon und seine Zeit. Göttingen. Kuropka, Nicole. 2010. Melanchthon. Tübingen. Kuropka, Nicole. 2002. Philipp Melanchthon: Wissenschaft und Gesellschaft. Ein Gelehrter im Dienst der Kirche (1526 – 1532). SMHR 21. Tübingen. Scheible, Heinz. 1992. „Melanchthon, Philipp (1497 – 1560).“ TRE 22: 371 – 410. Scheible, Heinz. 1995. Philipp Melanchthon. Eine Gestalt der Reformationszeit. Karlsruhe. Scheible, Heinz. 1997a. Melanchthon. Eine Biographie. München. Scheible, Heinz. 2013. „Alter oder neuer Weg: Melanchthons Tübinger Magisterium.“ Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 72: 473 – 479.
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Melanchthons Verhältnis zu Luther
Heinz Schilling hat in seiner Lutherbiographie das Verhältnis von Luther und Melanchthon treffend charakterisiert als „eine lebenslange Arbeitssymbiose und persönliche Verbundenheit, […] die ein gemeinsames Werk von weltgeschichtlicher Wirkung“ hervorgebracht hat (Schilling 2012, 137). Mit diesem Urteil, das die neuere Forschung zusammenfasst, dürfte die lange Zeit wissenschaftlich übliche Herabsetzung Philipp Melanchthons endgültig überholt sein (grundlegend zur Sekundärliteratur jetzt: Claus 2014, Melanchthon-Bibliographie 1510 – 1560). Es geht stattdessen um die Würdigung zweier großer Persönlichkeiten in ihrer jeweiligen Eigenart. Sie agierten rund dreißig Jahre lang miteinander und nebeneinander auf den verschiedensten wissenschaftlichen und kirchlichen, allgemein politischen, vielfältig praktischen und nicht zuletzt menschlichen Feldern. Naturgemäß wandelten sich ihre Einsichten, Urteile und somit auch ihre Beziehungen im Lauf der Jahre. Das bedeutet jedoch nicht, dass auf Hochstimmung und Begeisterung nachfolgend Ernüchterung und kühle Sachlichkeit im Umgang beider Männer ihr Verhältnis bestimmten – und schließlich sogar Abgrenzungen und Abstand voneinander dominierten. Von einem „Gegensatz“ zwischen Luther und Melanchthon kann nicht wirklich die Rede sein (anders Neuser 1961). Tatsächlich begegnen diese drei Aspekte im Verhältnis beider Persönlichkeiten von Anfang an: Ihr Einvernehmen und Einklang blieben bestehen. Sachlich vertieft bildete das die dauerhafte Grundlage ihres Mit- und Nebeneinanders. Und zusammen erwies sich diese Basis als stabil genug, um allerlei Eigenarten, Unterschiede und nicht zuletzt theologische Abweichungen voneinander auszuhalten. Im Verlauf der Jahre traten allerdings jeweils verschiedene Momente dieser Beziehung in den Vordergrund des Nachdenkens und der Erörterung.
1 Anfänge Am Anfang stand die große Einmütigkeit zwischen Melanchthon und Luther. Dessen Wunschkandidat für die Besetzung der Professur für die griechische Sprache und Literatur war der gerade einundzwanzig Jahre alte Tübinger Humanist nicht gewesen. Doch nach seiner Antrittsrede am 28. August 1518, nur wenige Tage nach seiner Ankunft in Wittenberg, äußerte sich auch Luther begeistert. Melanchthons Ausführungen Über die Notwendigkeit, die Studien der Jugend grundlegend neu zu gestalten (gedruckt in: MSA 3, 29 – 42; vgl. auch Mel.Dt 1, 45 – 67), fügten sich hervorragend ein in die an der Wittenberger Universität bereits angebahnte Studienreform. Sachlich bot Melanchthon wenig Neues (zum Ganzen: Greschat 2010; Scheible 1997a). Das hier vorgetragene Bildungsprogramm basierte auf der Erneuerung der Grammatik, Dialektik und Rhetorik mitsamt der Kenntnis der griechischen Sprache. Dadurch könnten, bis hin zur Theologie, echte Frömmigkeit anstelle menschlicher Satzungen und scholastischer DOI 10.1515/9783110335804-006
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Unbildung gefördert werden. Das Auditorium, zu dem auch Luther gehörte, war beeindruckt und begeistert. Schnell entstand auch eine beglückende Freundschaft Luthers mit dem jungen Gelehrten (WA Br 111, 22.11.1518). Melanchthons Förderer Johannes Reuchlin erfuhr im Dezember dieses ereignisreichen Jahres 1518 von Luther, dass Melanchthon „ein bewundernswerter Mann“ sei und „er nahezu nichts habe, was nicht über menschliches Maß hinausreiche“. Und er, Luther, lebe „höchst vertraut“ und eng befreundet mit ihm (WA Br 120, 14.12.1518). Im Zuge der humanistischen Forderung des Rückgriffs auf die Quellen beschäftigte sich Melanchthon jetzt mit den exegetischen Werken des Erasmus. Gleichzeitig studierte und pries er jedoch auch Luthers Bibelauslegungen und bedachte dessen Operationes in Psalmos mit einem anonymen Vorwort. Am Kommentar zum Galaterbrief wirkte er sprachlich mit und begleitete die Edition mit einem Vor- und Nachwort. Gleichzeitig sah sich Melanchthon in die theologischen und politischen Auseinandersetzungen der Reformation hineingezogen. Vom sächsischen Kurfürsten erhielt er die Erlaubnis, als Gast an der Leipziger Disputation teilzunehmen. Johannes Eck disputierte hier vom 27. Juni bis zum 16. Juli 1519 mit Karlstadt und Luther. Es gelang dem Ingolstädter Professor, seinen Kontrahenten Luther zu dem Eingeständnis zu bringen, dass einzelne Sätze von Jan Hus zu Unrecht verurteilt wurden und dass somit das berühmte Konstanzer Konzil (1414– 1418) geirrt habe. Eck triumphierte, hatte er doch Luther als Hussiten, als Ketzer und Landesfeind entlarvt. Doch die von den Humanisten beherrschte gebildete Öffentlichkeit sah Luther als Sieger. Das lag vor allem an dem Bericht über die Disputation, den Melanchthon am 21. Juli seinem Freund Johannes Oekolampad schickte und den er selbst sogleich drucken ließ (MSA 1, 3 – 11; Zitat 11,9 – 12). Eck erschien hier als Repräsentant der bekämpften Scholastik, der in sinnloser Manier Zitate anhäufte, während Luther gebildet und souverän für die Wahrheit focht. Bereits während der Disputation hatte Melanchthon Luther Zettel mit Argumenten zugeschoben, bis Eck sich die Einmischung des „Grammatikers“ verbat. Jetzt beendete Melanchthon seinen Bericht mit einer knappen Würdigung Ecks, Karlstadts und Luthers. Über ihn hieß es: „An Luther, der mir durch lange Erfahrung vertraut und bekannt ist, bewundere ich seinen frischen Geist, die gelehrte Bildung und die Rednergabe. Seinen aufrichtigen und reinen christlichen Geist muss ich sehr lieben.“ Erstmals trat Melanchthon hier öffentlich an die Seite Luthers. Wenig später teilte Melanchthon Johannes Lang in Erfurt mit, dass er Luthers Studien und Schriften sowie den Mann „leidenschaftlich liebe und in keuschem Geist umarme“ (MBW 62, 11. 8.1519). Um an der Universität Vorlesungen über biblische Bücher zu halten, war die Erlangung des untersten theologischen Grades erforderlich, des Baccalaureus biblicus. Diese Regelung galt auch für Melanchthon. Am 19. September 1519 erfolgte seine Promotion aufgrund einer Disputation über 24 Thesen (MSA 1, 24– 25). Sie handelten vom Gesetz, von der Sündenerkenntnis, der Gnade Christi sowie dem Glauben und mündeten in den Thesen 16 – 18 in die Aussage, dass als Glaubensartikel nur gelten könne, was sich aus der Bibel belegen ließ. Folglich besäßen die Konzile keine bindende Kraft und abzulehnen sei die besondere Stellung des Papstes mitsamt der Lehre
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von der Transsubstantiation, also der Verwandlung der Elemente Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi in der Messe. Bis dahin war uns Melanchthon als treuer und begeisterter Gefolgsmann Luthers begegnet. An diesem Punkt zeigte er sich jedoch auch als eigenständiger systematischer Theologe. Luthers theologische Arbeit konzentrierte sich bekanntlich auf die Auslegung der Bibel. Dabei zielte er vor allem auf die Auslegung des Mysteriums Gottes, das in Jesus Christus offenbar wurde, um sich dem Menschen mitzuteilen und auf ihn einzuwirken.Wahre Exegese der Heiligen Schrift müsse deshalb christologisch ausgerichtet sein (Ebeling 1962, bes. 270 – 271). Bei Luther konzentrierte sich die Auslegung zunächst auf den grammatisch zu erhebenden Wortsinn und überführte diesen dann in die Zuwendung zum Glaubenden. Diese Verbindung des wissenschaftlich erhobenen Sinns einer biblischen Aussage mit der Anrede „pro me“ oder „pro nobis“ kennzeichnete nach Luther wahre Theologie und unterschied sie von falscher. Knapp zusammengefasst: Nicht die nachdrückliche Konzentration der Exegese auf den Wortsinn war das Neue an Luthers Umgang mit der Bibel, auch nicht die persönlichen Anrede an den Menschen, die „Eröffnung der existentiellen Dimension“, sondern „die betonte Kombination von beidem. […] Diese Auslegung führte nicht über die wissenschaftliche Auslegung hinaus, sondern in sie hinein. […] Für Luther war der Schriftausleger immer zugleich Wissenschaftler und Prediger“ (Leppin 2006, 71. Statt von „Predigt“ spricht man wohl besser von „monastischer Theologie“, weil die Scholastik niemals den gesamten Bereich der „wissenschaftlichen Theologie“ abdeckte. Vgl. dazu Köpf 2000, 103 – 127; Köpf 2002, 71– 86). Das bedeutete allerdings auch: Luthers Denken und Schreiben kreiste um zentrale theologische Sachverhalte, wohingegen er kirchliche und politische Konsequenzen aus seiner Exegese lediglich dann zog, wenn „die Logik der sich in der Auseinandersetzung entfaltenden Wahrheit dazu drängte“ (Ebeling 1962, 289). Melanchthon baute auf der exegetisch-theologischen Konzeption Luthers auf, systematisierte sie aber in eigener Weise. Von Erasmus übernahm er die Methode der Loci in dem Sinn, dass sie als ordnende Gesichtspunkte für die Lektüre dienten. Doch Melanchthon veränderte diese Tradition sogleich entscheidend: Zum einen reduzierte er die Zahl der Loci auf drei. Zum andern erhob er sie nicht aus vielfältig Gelesenem, sondern aus der Bibel, genauer: aus dem Römerbrief. Und schließlich verknüpfte er jene drei Loci Gesetz (lex), Sünde (peccatum) und Gnade (gratia) derart miteinander, dass darin die anthropologische und soteriologische Struktur des „pro me“ und „pro nobis“ zusammengefasst war. Daraus folgerte er die Notwendigkeit, in theologischen Fragen allein die Aussagen der Bibel gelten zu lassen. Melanchthons Baccalaureatsthesen vom September 1519 wiesen also deutlich in die Richtung seiner Loci communes von 1521. Jetzt ist lediglich festzuhalten, dass der geniale Griff des jungen Melanchthon in seinen Thesen die Bewunderung Luthers hervorrief. Er nannte sie „kühn, aber sehr wahr“. Und Melanchthons Verteidigung jener Sätze bezeichnete er als „ein Wunder“ (WA Br 202, 3.10.1519). Melanchthon seinerseits erklärte gegenüber Spalatin, dass niemand von allen griechischen und lateinischen Exegeten dem Geist des Paulus näher gekommen sei als Luther (MBW 95,
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an Johannes Heß, 8.6.1520). Und einem anderen Freund teilte Melanchthon mit, dass „Martin noch viel größer, viel bewundernswerter ist, als ich mit Worten anzudeuten vermag“ (MBW 104, an Johannes Schwebel, vor 3. 8.1520). In derselben Zeit verfasste der junge Gelehrte als „Wohlmeinender Zwillingsbruder“ (Didymus Faventinus) eine große Verteidigungsschrift für Luther (MSA 1, 56 – 140. Melanchthon hielt irrtümlich Hieronymus Emser statt des italienischen Dominikaners Tommaso Rhadino für den Verfasser der Schmähschrift, gegen die Melanchthon sich hier wandte). Das glänzend geschriebene Buch lieferte ein flammendes Plädoyer für Luther, dessen Name hier als Synonym für echte Theologie gegenüber der Scholastik erschien, für die evangelische Wahrheit und die Lehre Christi. Luther kann irren, aber die Bibel nicht, schrieb Melanchthon. „Es ist eben der Geist des Herrn und nicht Luthers, der Geist, der Daniel und Elias gegen die Baalspriester entflammte und – wie wir heute sehen – ebenso auch gegen die Pseudotheologen.“ (MSA 1, 92,27– 31) Diese Demonstration für Luther erschien im Februar 1521, also wenige Wochen vor dessen Aufbruch zum Reichstag in Worms. In der Abwesenheit des Reformators veröffentlichte Melanchthon – unter Nennung seines Namens – im Oktober die Apologie für Luther gegen dessen Verurteilung durch die Sorbonne (MSA 1, 141– 162). Deren Theologen begriffen offenkundig nichts von der Bibel und den Kirchenvätern, Augustin voran, während Luther zur Bibel zurückrufe und zu jenen Kirchenvätern, die sich dem Geist und Sinn der Heiligen Schrift am eindringlichsten angenähert hätten. Und in den letzten Tagen des Dezember 1521 erschienen Melanchthons Loci communes rerum Theologicarum seu Hypotyposes Theologicae (MSA 2/1, 1– 163). Sie wollten jungen Menschen, also den Studierenden, den Zugang zur Bibel eröffnen. Melanchthon legte deshalb auch kein geschlossenes System vor, sondern entwarf ein Konzept, das bestrebt war, der Vielfalt der biblischen Aussagen anhand der aus dem Römerbrief erhobenen Leitgedanken von Gesetz, Sünde und Gnade zu entsprechen. Die Zeitgenossen haben diese Loci communes nicht nur mit Zustimmung und Lob bedacht, sondern geradezu mit Begeisterung aufgenommen. Man muss diesen Kontext sehen, um zu begreifen, dass es sich bei Luthers Lobeshymnen auf Melanchthon in diesen Wochen und Monaten nicht nur um überzogene Wunschvorstellungen handelte.Vom fernen Luther hörte Melanchthon am 12. Mai 1521, er solle „fest stehen und die Mauern und Türme Jerusalems befestigen, bis sie auch auf Dich eindringen! […] Wir allein stehen bis jetzt in der Schlacht, Dich werden sie nach mir suchen.“ (MBW 139) Wenig später: „Wenn ich auch untergehe, wird doch das Evangelium nicht untergehen, worin Du mich nun überragst, und Du wirst als Elisa dem Elias mit doppeltem geistigem Vermögen nachfolgen, das Dir der Herr Jesus gnädig verliehen hat, Amen.“ (MBW 141, 26. 5.1521) Im August schrieb Luther, er sehe Melanchthons Geist wachsen und den seinen abnehmen,worüber er sich freue: „damit ich nichts bin und Ihr alles.“ (MBW 158, 3. 8.1521) Und noch im Januar 1522 wunderte sich Luther, dass sich Melanchthon irritiert über das Auftreten der „Zwickauer Propheten“ und die Angriffe auf die Kindertaufe zeigte: „obwohl Ihr doch sowohl geistlich als auch geistig mehr vermögt als ich.“ (MBW 205, 13.1.1522) Offenkundig trat in dieser Zeit niemand so entschieden für Luther ein wie Melanchthon. Für ein Eingreifen in die
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Unruhen in Wittenberg fehlten ihm jedoch das Amt oder ein Auftrag. Es ist denkbar, dass sich Melanchthon durch Luthers hohe Erwartungen überfordert fühlte und auch deshalb gegenüber dem Kurfürsten und Spalatin auf Luther verwies und seine Rückkehr wünschte: war der doch der Mann, der im Mittelpunkt der Streitigkeiten stand (MBW 163, an Spalatin, Anfang September 1521; 192 und 193, an Spalatin und den Kurfürsten, 27.12.1521). Kennzeichnend ist allerdings, dass Melanchthon hier von „unserem Vater Martin“ sprach. Während Luther lobend und bewundernd Melanchthon seinen Freund nannte, sich um dessen Gesundheit sorgte, deswegen auch an Erasmus schrieb (WA Br 163, 28. 3.1519), zollte Melanchthon dem Reformator als seinem geistlichen Vater Hochachtung und Verehrung. Dieser Aspekt ihres Verhältnisses trat jetzt dauerhaft deutlich hervor.
2 Übergänge Auch nach Luthers Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg änderte sich seine Hochschätzung der Gaben Melanchthons nicht. Mehrfach bedrängte er ihn nun, aus der Artistenfakultät in die Theologische zu wechseln (WA Br 723, an den Kurfürsten, 23. 3.1524; zu den Vorstößen Spalatins und Melanchthons Antworten siehe unten). Um diesen Plan zu fördern, veröffentlichte Luther gegen den Willen Melanchthons dessen Anmerkungen zu den Briefen des Paulus an die Römer und Korinther (MBW 230, Vorrede Luthers, 29.7.1522). Melanchthon lehnte diesen Vorschlag wiederholt ab (vgl. seine Schreiben MBW 237, an Spalatin, September 1522; 248, 23.11.1522; 268, 12. 3.1523; 294, 3.10.1523; 342, 13/14.9.1524). Er argumentierte grundsätzlich: Selbstverständlich verachte er die Theologie nicht. Doch die humanistischen Grundwissenschaften seien gegenwärtig ebenso gefährdet wie in den Zeiten der Scholastik. Aber solche Grundkenntnisse gehörten zu den Voraussetzungen für das angemessene Verständnis der biblischen Texte. Theologische Vorlesungen habe er lediglich während der Abwesenheit Luthers gehalten. In Anspielung auf Luthers freundliche Herabsetzung der „kindlichen Aktivitäten“ Luthers in der Artistenfakultät, teilte Melanchthon im Januar 1525 Camerarius mit: „Kindliches schreibe ich, aber ich halte es für frömmer, als alle Disputationen und Spielereien der Pseudotheologen. Ich dagegen bin mir klar bewusst, niemals aus anderen Gründen Theologie getrieben zu haben, als in der Absicht, das Leben zu verbessern.“ (MBW 371, 22.1.1525) Das war bewusst zugespitzt formuliert, um die Bedeutung der Zielsetzungen des Humanismus hervorzuheben. Doch weder hier noch sonst hat Melanchthon einen Zweifel daran gelassen, dass für ihn diese Besserung des Lebens nur denkbar war aufgrund der Rechtfertigung und Erneuerung des Menschen durch die Gnade Gottes. Eine solche Zielsetzung sah er freilich immer wieder von denjenigen kritisiert und angegriffen, die sich als die wahren Schüler Luthers betrachteten und deshalb sämtliche Abweichungen von seinen Aussagen und Formulierungen verurteilten. Doch Melanchthon fand für seine Auffassungen immer wieder die ausdrückliche Zustimmung Luthers. Mehr noch: Dessen im Dezember 1525 erschienene große Streitschrift
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Vom unfreien Willen gegen Erasmus begann mit dem, allerdings polemisch zugespitzten, Lobpreis auf „das unwiderlegte Büchlein Philipp Melanchthons über die Loci Theologici, das nach meinem Urteil nicht allein der Unsterblichkeit, sondern auch kirchlich kanonischen Ansehens würdig ist“ (WA 18, 600 – 787. Zitat 600, 19 – 601, 11). Melanchthon unterstrich seinerseits die Übereinstimmung mit Luther. Einem Kritiker schrieb er im Juli 1524: „Ich wiederhole nur, was sowohl ich als auch Luther gut heißen. Wenn ich es verwerfen würde, müsste ich lügen, weil es sich mir auch in der geistlichen Erfahrung als wahr erwiesen hat.“ (MBW 332, an Johannes Memminger, ca. 8.7.1524) Anstelle der Person hob Melanchthon nun immer stärker den theologischen Sachverhalt hervor, für den Luther stand. Doch gegenüber Camerarius beklagte Melanchthon – freilich betont vertraulich – Luthers Heftigkeit im Buch gegen Erasmus. „Ich hoffte, dass Luther mit dem Alter und der Gewöhnung an so viele Gebrechen einmal milder würde. Ich sehe aber mehrfach, dass er heftiger wird. […] Das quält mich erheblich.“ (MBW 495, 11.4.1526; vgl. auch sein Schreiben an Erasmus, MBW 664, 23. 3. 1538) Auch dieses Problem begleitete Melanchthon in der Folgezeit. Für sein Verständnis der Willensfreiheit verwies Melanchthon Luther auf den ausführlichen Exkurs in den Scholien zum Kolosserbrief (MBW 597, 2.10.1527). Das Buch erschien im September 1527, seit Anfang August des Jahres wirkte Melanchthon als Visitator der kirchlichen Verhältnisse in Thüringen.Was er dort an Unkenntnis und Sittenlosigkeit sah, erschütterte ihn zutiefst. Von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben an Jesus Christus konnte angesichts dieser Realität sinnvoll, also verantwortlich, nur geredet werden, wenn zuvor die Gewissen durch die Predigt der göttlichen Forderung, also des Gesetzes, erschüttert wären. Es ging darum, ein Verantwortungsbewusstsein zu wecken. Folgerichtig räumte Melanchthon in seinem Kommentar dem menschlichen Denken und Tun einen breiten Raum ein. Die christliche Lehre, erklärte er, hebe die ethischen und politischen Normierungen keineswegs auf, sondern bekräftige sie. Der gefährliche Irrtum beginne da, wo man wähne, von diesen Gesetzmäßigkeiten her eine direkte Verbindung zum Evangelium schlagen zu können. Aufgrund dieser Überlegungen rückte Melanchthon die Forderungen des göttlichen Gesetzes in Gestalt der Zehn Gebote an die Spitze des von ihm erstellten Fragenkatalogs für die Visitatoren (Articuli de quibus egerunt per visitatores: CR 26, 7– 28). So beharrlich wie kompromisslos bestand er dauerhaft auf dieser Vorordnung des Gesetzes vor dem Evangelium. An Einwendungen dagegen fehlte es nicht. Insbesondere Johannes Agricola warf Melanchthon vor, von Luther abgewichen zu sein. Der nannte das Ganze einen Streit um Worte: „Denn ohne Furcht vor Strafe existiert in diesem Leben keine Furcht vor Gott, wie auch der Geist nicht ohne das Fleisch ist, wenngleich die Furcht vor Strafe unnütz ist ohne die Furcht vor Gott.“ (MBW 612, Luther an Melanchthon, 27.10.1527) Luther billigte auch Melanchthons Fragenkatalog (MBW 598, ca. 2.10.1527). Wie sehr Luther diese Vorgehensweise grundsätzlich gut hieß, brachte er 1529 im Vorwort der deutschen erweiterten Edition von Melanchthons Kolosserkommentar zum Ausdruck (WA 30/2, 68 – 69): Er ziehe die lateinischen und deutschen Bücher Melanchthons den seinen vor. Luther: Ich bin „dazu geboren, dass
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ich mit den Rotten und Teufeln muss kriegen und zu Felde liegen, darum meine Bücher so stürmisch und kriegerisch sind. Ich muss die Klötze und Stämme ausrotten, Dornen und Hecken weghauen, die Pfützen ausfüllen, und bin der grobe Waldrechter, der die Bahn brechen und zurichten muss“. Luther kannte also seine Heftigkeit und Grobheit. „Aber Magister Philipp fährt säuberlich und stille daher, baut und pflanzet, säet und begießt mit Lust, nach dem Gott ihm hat gegeben seine Gaben reichlich.“ Die Übereinstimmung Luthers und Melanchthons in den zentralen theologischen Fragen war das Eine. Darüber sollte das breite Spektrum ihrer sachlichen Zusammenarbeit nicht aus dem Blick geraten. Gewichtig sind die im Briefwechsel anklingenden Hinweise auf die intensive Gemeinsamkeit beider Männer. Am 22. März 1525 berichtete Melanchthon dem Freund Camerarius, dass er sich mit Luther in einem liebevollen Verhältnis befinde, sie allerdings beide bedrückt seien, wenn sie sich vertrauensvoll miteinander unterredeten (MBW 382). Umso irritierter, erschrocken und auch entsetzt war Melanchthon dann allerdings, als er von Luthers Heirat erfuhr. Sicherheitshalber informierte Melanchthon den Freund darüber in einem griechischen Schreiben (MBW 408, 16.6.1525). Unerwartet und ohne jemanden ins Vertrauen zu ziehen hatte Luther diesen Schritt getan. Was Melanchthon darüber hinaus besonders verstimmte,war der Zeitpunkt der Heirat auf dem Höhepunkt des Bauernkriegs: wovon Luther sich offenbar „nicht in gleicher Weise schmerzlich bewegt“ zeige, „sondern sich um jenes Übel überhaupt nicht zu kümmern scheint“. Melanchthon erklärte sich Luthers Entschluss zur Heirat so, dass „die Nonnen“, also die befreiten Frauen aus dem Kloster, ihn verführt hätten, „in diese unzeitgemäße Veränderung seines Lebensstandes hineingeraten zu sein“. Entschieden wandte er sich gegen das Geschwätz des vorehelichen Geschlechtsverkehrs Luthers mit Katharina von Bora. Ausgesprochen souverän setzte Melanchthon dagegen: „Nun, nachdem es geschehen ist, sollte man sich nicht aufregen oder schimpfen.“ Zu heiraten, entspreche der Natur. Zu hoffen sei freilich, dass Luthers ungezügeltes Gebaren nun gemäßigt werde. Doch selbst wenn Luther verkehrt gehandelt habe, fuhr Melanchthon fort, denke er nicht daran, jenen Schritt „als Irrtum oder Fehltritt zu verdammen“. Ganz in diesem Sinn nahm Melanchthon an Luthers Hochzeitsfeier am 27. Juni 1525 teil. Wie wenig Luthers Heirat das enge persönliche Verhältnis zu Melanchthon zu trüben vermochte, belegt ein Brief an ihn, den „liebsten Bruder und treuen Mitarbeiter am Werk Christi“ vom 26. November 1528, worin Luther Melanchthon darüber informierte, dass ihn heute seine Versuchung „visitiert“ habe. Deshalb wünsche er die Fürbitte des Freundes (MBW 728). Als Mitglied der kursächsischen Delegation nahm Melanchthon an den kirchlich und politisch folgenreichen Reichstagen in Speyer (1529) und Augsburg (1530) teil. Er war für diese kirchenpolitische Aufgabe weder vorbereitet noch besonders begabt. In Speyer schreckte und beunruhigte ihn die offen zutage tretende Feindseligkeit der Altgläubigen, dann natürlich Erzherzog Ferdinands harter Kurs gegen die Anhänger der Reformation. Melanchthon wünschte die Annäherung an den Kaiser – bei gleichzeitig möglichst klarer Abgrenzung von den Schweizern. Dazu verfasste er während des Reichstags einen Offenen Brief an Oekolampad (MSA 1, 296 – 300, auch in
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MBW 775). Bis jetzt habe er, Melanchthon, den Abendmahlsstreit eher als Zuschauer denn als Mitwirkender begleitet. Er sehe allerdings auch keinen zwingenden Grund, von den klaren Einsetzungsworten Jesu abzuweichen.Würde er sich zu diesem Thema äußern, könne jeder nur seine völlige Übereinstimmung mit Luther erkennen. Genauso verhielt sich Melanchthon beim Marburger Religionsgespräch im Oktober 1529. Nachdem er versucht hatte, diese Zusammenkunft dadurch in eine andere Richtung zu lenken, dass er die Hinzuziehung altgläubiger Gesprächspartner wünschte, beharrte er mindestens so entschieden wie Luther auf der Zurückweisung Zwinglis und Oekolampads mitsamt Bucers und den süddeutschen Städten in der Frage des Abendmahls. Bei der Vorbereitung für den Reichstag in Augsburg hatte man in Kursachsen zunächst gemeint, lediglich die kirchlichen Reformen erläutern und begründen zu müssen. Die 404 Thesen Ecks, in denen dieser unterschiedslos die Aussagen von Lutheranern, Zwinglianern und Täufern zusammengestellt und verurteilt hatte, änderten die Situation. Jetzt ging es darum, die eigene Lehre einerseits in ihrer weitreichenden Übereinstimmung mit der apostolischen kirchlichen Tradition darzustellen und andererseits die Distanz zu anderen reformatorischen Gruppierungen hervorzuheben. Das gelang Melanchthon in beeindruckender Weise im Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana, CA). Den verbindenden Grundgedanken der 21 Artikel über die christliche Lehre bildete die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders aufgrund des Glaubens an den Sühnetod Christi. Die letzten sieben Artikel der CA behandelten die Beseitigung kirchlicher Missstände. Als Geächteter konnte Luther auch auf diesem Reichstag nicht erscheinen. Er blieb auf der Festung Coburg zurück, im südlichsten Ausläufer des kursächsischen Territoriums. Der Kontakt nach Augsburg musste brieflich durch Boten aufrechterhalten werden, was zu mancherlei Komplikationen und Misshelligkeiten vor allem auf der Seite Luthers führte. Während Melanchthon sowohl für die Protestanten als auch ihre Gegner zur Schlüsselfigur wurde, sah Luther sich isoliert und von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen. Die sachliche theologische Übereinstimmung blieb davon trotzdem unberührt. Am 15. Mai schrieb Luther dem Kurfürsten über die fast fertiggestellte CA, sie gefalle ihm sehr gut und er wisse nichts daran zu ändern. Luther fuhr fort: Das würde „sich auch nicht schicken, denn ich so sanft und leise nicht treten kann“ (WA Br 1568). Das bedeutete schlicht, dass Melanchthon die größere Fähigkeit besaß, das geforderte Dokument zu verfassen. Diese besondere Gabe hob Luther hier ja auch nichts zum ersten Mal hervor. Knapp zwei Monate später erfuhr Melanchthon von Luther: „Ich habe gestern Deine Apologie noch einmal ganz gelesen, und sie gefällt mir außerordentlich.“ (WA Br 1621, 3.7.1530) Wenige Tage zuvor hatte Luther auf die Frage Melanchthons, an welchen Punkten man in Verhandlungen mit der Gegenseite nachgeben könne, zornig geantwortet: „Für meine Person ist mehr als genug in jener Apologie nachgegeben worden. Wenn sie die ablehnen, sehe ich nichts, was ich noch weiter nachgeben kann, es sei denn, ich sehe bei ihnen klarere Gründe oder Schriftstellen, als ich bis jetzt gesehen habe.“ (WA Br 1609) Doch im gleichen Brief erklärte Luther:Was der Kurfürst nachgeben müsse, wenn ihm Gefahr drohe, sei eine andere Frage, die dieser selbst entscheiden müsse. Im
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Nachtrag desselben Briefes ging Luther schließlich doch auf das von Melanchthon angesprochene konkrete Problem ein: Er habe stets erklärt, der Gegenseite alles zuzugestehen, wenn sie uns das Evangelium lassen. „Was aber mit dem Evangelium im Streit liegt, kann ich nicht zulassen.“ Luther wird gespürt haben, dass dieser Brief keine Antwort auf Melanchthons Fragen bot. Deshalb schickte er am nächsten Tag ein neues Schreiben an Melanchthon, worin er ihm sein Vertrauen und seine tiefe Verbundenheit aussprach (WA Br 1611, 30.6.1530). Hier sprach kein Glaubensheld zu einem Bangenden und Schwachen im Glauben, sondern ein Freund, der die Sorgen, Nöte und Ängste Melanchthons kannte – und ebenso die eigenen Grenzen, Mängel und Fehler. „Ich bin in der privaten Trauer schwächer, du dagegen bist da stärker. […] Du verachtest Dein Leben und fürchtest die öffentlichen Vorgänge. Ich dagegen stehe den öffentlichen Vorgängen ziemlich gelassen gegenüber, weil ich gewiss bin, dass es sich dabei um eine gerechte und wahre Angelegenheit handelt, nämlich Christi und Gottes.“ Luther schloss: „Der Herr Jesus bewahre Dich, dass Dein Glaube nicht ermattet, sondern wächst und siegt, Amen. Ich bete für Dich, wie ich gebetet habe und beten werde und nicht zweifle, dass ich erhört werde. Ich fühle nämlich jenes Amen in meinem Herzen. Wenn nicht geschieht, was wir wollen, so geschieht doch, was besser ist.“ Hier kommt in beeindruckender Weise die tiefe innere Verbundenheit Luthers mit Melanchthon zum Ausdruck. Melanchthon hatte bereits in Augsburg eine erste Verteidigung der Confessio Augustana formuliert. Nach der Rückkehr verfasste er mit der Apologie eine ausführliche Widerlegung der Confutatio, also der Zurückweisung der CA durch die Altgläubigen. Von den Sorgen und Nöten, die Melanchthon in Augsburg umtrieben, ist in der souveränen Verwerfung der gegnerischen Argumente in dieser Schrift nichts zu spüren.
3 Profilierungen Bereits auf dem Reichstag in Augsburg hatten Freund und Feind in Melanchthon die führende theologische Persönlichkeit des Protestantismus gesehen. Diese Rolle füllte er nun seit den dreißiger Jahren zunehmend konkurrenzlos aus. Vielfältige Kontakte bestanden ins Ausland. Seit 1534 warb Heinrich VIII. um Melanchthon, im Frühjahr 1536 hielt sich eine englische Delegation wochenlang in Wittenberg zu theologischen Gesprächen auf. Für eine Disputation mit französischen Theologen lud Franz I. Melanchthon ein. Zu diesem Anlass formulierte er eine Reihe entgegenkommender Thesen (MBW 1469). Doch der sächsische Kurfürst untersagte seinem Professor die Reise, vornehmlich aus politischen Gründen (MBW 1610, 1611). Dass Johann Friedrich ihn auch theologisch tadelte, unter anderem wegen seiner Bereitschaft, auf die Gewährung des Kelchs für Laien im Abendmahl zu verzichten, traf Melanchthon besonders. Er beklagte die Vorherrschaft der Ungebildeten, die in sämtlichen Lagern um Quisquilien stritten, und ihn attackierten, weil er weniger starr und kompromisslos
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dachte und argumentierte (so z. B. an Johannes Sturm, MBW 1613, 28. 8.1535). Diese Überzeugung beherrschte Melanchthon in der folgenden Zeit. Gleichzeitig war er im Urteil und in seinen Entschlüssen offenkundig sicher und selbstbewusst geworden. Anders als noch während des Augsburger Reichtags suchte Melanchthon jetzt nicht mehr besorgt die Zustimmung Luthers. Er sah sich grundsätzlich mit ihm einig, berichtete ihm regelmäßig über die politischen und kirchlichen Vorgänge und seine Mitwirkung daran. Aber um Rat bat er in der Regel nicht. Zu diesem gestärkten Selbstbewusstsein gehörte nicht zuletzt Melanchthons Überzeugung, mit seinem 1532 erschienenen Kommentar zum Römerbrief die Diskussion über die Rechtfertigungslehre erstmals sachlich und methodisch so eindeutig wie zwingend dargelegt zu haben. Dazu gehörte, dass er vor die Textauslegung einen rational argumentierenden und logisch deduzierenden Abschnitt setzte. Die Neufassung der Loci theologici zog 1535 diese Linie eindringlich aus. Aufgrund dieses Selbstbewusstseins setzte Melanchthon deutlich eigene theologische Akzente – die er freilich primär als klärende, näher und besser erläuternde Ausführungen verstanden wissen wollte. Dazu gehörte die nach wie vor heftig umstrittene Frage des richtigen Verständnisses des Abendmahls. Die politisch geforderte Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse im Herzogtum Württemberg war der Anlass für ein Gespräch Melanchthons mit Bucer in den letzten Dezembertagen des Jahres 1534. Luther hatte seinem Kollegen dafür am 17. Dezember eine Instruktion zugestellt, worin er auf die Gegenwart Christi mit und im Brot beziehungsweise dem Wein abhob (MBW 1511). Melanchthon lehnte diese Auffassung nicht direkt ab, vertrat jedoch eine deutlich andere (MBW 1525, an Camerarius, 10.1.1535). Mit Bucer kam er überein, anstelle der physischen Einigung der Elemente mit Christus vom exhibitiven Charakter der Gegenwart Christi im Abendmahl zu sprechen (ausführlich: Bucer DS 6/1, 62– 76). Luthers Überzeugung ließen beide in Kassel nur als eine Grenzaussage gelten. Luther wie auch der Kurfürst reagierten „ziemlich mild“, wollten jedoch vor einer Entscheidung über das weitere Vorgehen die Meinung anderer lutherischer Theologen hören (Melanchthon an Agricola, MBW 1538, 3. 2.1535). Dann werde er, Melanchthon, mit seiner Auffassung auch nicht hinter dem Berg halten.Vor allem aufgrund des Drängens Bucers kam es schließlich im Mai 1536 zu Verhandlungen einer süddeutschen Delegation mit den Wittenbergern, an deren Ende die von Melanchthon formulierte Wittenberger Konkordie stand (Bucer DS 6/1, 114– 134). Man wurde sich nicht in allen Punkten einig, jedoch in dem, worum es Luther vor allem ging, nämlich der realen Gegenwart Christi im Abendmahl. Dieser Hergang belegt eindrücklich die Bereitschaft ebenso wie die Fähigkeit Luthers, Modifikationen nicht nur im Ausdruck, sondern auch in der Sache gelten zu lassen, solange diese sich nicht gegen theologisch zentrale Sachverhalte richteten. Zum Selbstverständnis und Selbstbewusstsein Melanchthons gehörte auch, dass er Luthers Ausführungen über das Papsttum in den Schmalkaldischen Artikeln nicht bedingungslos zustimmte. Dieser Text, der festlegte, an welchen Punkten man bei Verhandlungen auf dem von Papst Paul III. nach Mantua einberufenen Konzil nachgeben könne und worin auf keinen Fall, wurde Ende Dezember 1536 von den Theo-
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logen in Wittenberg (ohne Luther) intensiv diskutiert. Da Melanchthon sich mit seiner Auffassung nicht durchsetzen konnte, fügte er seiner Unterschrift zu den Schmalkaldischen Artikeln die Bemerkung hinzu, er stimme diesen Aussagen zu, meine jedoch, dass man dem Papst, „falls er das Evangelium zulasse, um des Friedens und der allgemeinen Beruhigung willen, auch von unserer Seite die Oberhoheit zugestehen könne, die er über die Bischöfe nach menschlichem Recht bei denjenigen Christen hat, die ihm jetzt unterstehen und in Zukunft unterstehen werden“ (MBW 1833, 2./3.1.1537; zu Luthers Urteil über das Papsttum: BSLK, 427– 433). Luther hatte eine solche Möglichkeit radikal ausgeschlossen. Der Kurfürst war verärgert. Melanchthon hoffte, dass Luther mit seiner Autorität den Fall regeln werde (MBW 1933, an Friedrich Myconius, 25. 8.1537; 1941, an Veit Dietrich, 18.9.1537). Insgesamt fühlte sich Melanchthon jetzt vom kurfürstlichen Hof unfreundlich und rücksichtslos behandelt. Kein Jahr vergehe ohne allerlei Herabsetzungen. Darüber könne er Vieles und Sonderbares berichten, erfuhr Camerarius im Sommer 1535 (MBW 1616, 31.8.1535). Seine Leistungen dagegen würdige man nicht (MBW 1619, an Justus Jonas, August/September 1535). Doch nicht nur von dieser Seite sah sich Melanchthon verfolgt, sondern auch von Theologen im eigenen Lager, alten und jungen, die nicht begreifen konnten oder wollten, dass er Ungebildeten die evangelische Lehre methodisch klar und sachlich deutlich und ohne Zuspitzungen vermitteln wolle (MBW 1678, an Camerarius, 22.12.1535). Die Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf Vorwürfe von Conrad Cordatus, der zunächst nur Melanchthons Schüler Caspar Cruciger vorwarf, die reformatorische Rechtfertigungslehre zu verfälschen. Luther zeigte sich irritiert, weil er ähnliche Vorwürfe von seinem alten Gefährten Nikolaus von Amsdorf gehört hatte. Melanchthon war zu diesem Zeitpunkt unterwegs. Doch auch nach seiner Rückkehr hielten sich in Wittenberg die Gerüchte, dass er die Stadt und Universität verlassen werde, weil er nicht mehr mit Luther übereinstimme (MBW 1815, an Camerarius, 29.11.1536). Der Streit zog sich hin und verband sich mit ähnlichen unerquicklichen Querelen mit Jakob Schenk (MBW 1922, an Veit Dietrich, 23.7.1537; 1933, an Friedrich Myconius, 21. 8.1537; 1952, an Johannes Brenz, 12.10.1537). Melanchthon hoffte, die anstehenden Probleme durch die ausführliche Darlegung seiner theologischen Position aus dem Weg räumen zu können. Dazu verfasste er am 1. November 1536 ein ausführliches Schreiben an die Kollegen Luther, Jonas, Bugenhagen und Cruciger (MBW 1802): Niemals wollte er anders lehren als sie, erklärte Melanchthon. Doch um der gebotenen Klarheit willen habe er die geschenkte Anrechnung der Gerechtigkeit Gottes betont hervorgehoben. Dass dadurch die guten Werke sowie der neue Gehorsam des Gerechtfertigten nicht geschmälert würden, belegten seine Schriften. Im Blick auf sie fürchte er nicht einmal das Urteil Amsdorfs! Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Wittenberg legte Melanchthon im Hause Bugenhagens den Kollegen und insbesondere Luther einen schriftlichen Fragenkatalog vor (gedruckt in WA Br 4259a, entstanden Anfang November 1536). Der zunächst von Melanchthon gewünschten Versicherung, dass Luther und er im Blick auf die Intention und Gestalt der Rechtfertigungslehre übereinstimmten, akzeptierte Luther.
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Doch während sich Melanchthon dann von Augustins Auffassung abgrenzte, wonach die Werke des Gerechtfertigten nicht von der ihm geschenkten Gnade losgelöst werden könnten, wollte Luther dabei bleiben. Die Rechtfertigung allein aus Gnaden konnte nach Melanchthons Überzeugung logisch zwingend nur gelehrt werden, wenn man alles menschliche Tun, also auch die guten Werke des Glaubenden, von der forensischen Gerechterklärung Gottes loslöste. Luther setzte gegen diese Argumentation die Realität und Vielfalt des biblischen Zeugnisses. Einmal mehr wiederholten sich hier die unterschiedlichen Denkweisen, die uns bereits in den Anfängen des Verhältnisses von Luther und Melanchthon begegnet waren. Und einmal mehr ließ Luther diesen Unterschied gelten. Diese grundsätzliche theologische Übereinkunft beendete allerdings nicht den Streit und die fortgesetzten Angriffe auf Melanchthon. „Täglich erstehen mir neue Feinde, so, wie die Erde Giganten hervorbringt“, schrieb er im August 1537 an Myconius. Das geschehe aus Hass gegen ihn oder seine Bemühungen, einen von Radikalisierungen freien, guten Mittelweg zu steuern (MBW 1933, 21. 8.1537). Unverkennbar spielten auch persönliche Verletzungen bei diesen und ähnlichen Äußerungen eine Rolle. Melanchthon war ungeduldig und verärgert, dass er sich ständig mit allerlei kleinen Geistern herumschlagen musste, die ihn zudem bei Luther anschwärzten. Besorgt und verunsichert fragte Melanchthon bisweilen, ob Luther an seiner Seite stand. Die Nachricht, dass der Reformator keine Schuld am Verbot der Reise nach Frankreich trug, erleichterte Melanchthon offensichtlich (MBW 1622, an Camerarius, 2.9.1535). Doch die andauernden Gerüchte über sachliche Differenzen mit Luther irritierten ihn (vgl. etwa MBW 1678, 22.12.1535; und 1815, 29.11.1536; jeweils an Camerarius). Im Streit mit Cordatus sah Melanchthon Luther immerhin nicht auf dessen Seite. Es kam sogar zu einer „sehr liebevollen Unterredung“ mit ihm. Das Problem bestehe darin, meinte Melanchthon, dass die Ungebildeten Luthers grobe Zuspitzungen allzu sehr liebten (MBW 1914, an Veit Dietrich, 22.6.1537). Dieser Gesichtspunkt spielte fortan in Melanchthons Einstellung zu Luther eine wichtige Rolle. Es waren nicht nur die Heftigkeit und Grobheit in dessen Äußerungen, die Melanchthon zu schaffen machten, sondern das Faktum, dass Luthers Formulierungen immer wieder die seines Erachtens gebotenen sachlichen und sprachlichen Differenzierungen zudeckten. Eine zusammenfassende Würdigung des Reformators formulierte Melanchthon am 28. Februar 1537 an Myconius, als dieser ihn über den lebensrettenden Abgang eines Nierensteins Luthers in der vergangenen Nacht informiert hatte. Melanchthon wünschte die baldige Genesung „des Herrn Doktor, den wir alle verdientermaßen wie einen Vater lieben, höchst verdient um die gesamte Kirche, den wir wie den ‚Steuermann und Wagen Israels‘ verehren“. Luther habe Großes vollbracht und den Ruhm Christi verherrlicht. „Und die noch junge Kirche bedarf seiner Stimme, seines Rates und seiner Autorität.“ (MBW 1856) Diese Worte, die wie die Inschrift eines Denkmals klingen, sind bezeichnend für Melanchthons Hochschätzung und Verehrung Luthers. Persönliche Töne klingen hier allerdings kaum an.Wie bewegend ist dagegen der Brief,
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den Luther noch in der Nacht seiner Genesung „Meinem hertzallerliebsten Magister Philipp Melanchthon“ schrieb! (MBW 1854) Luthers Trostbrief an Melanchthon, verfasst aus Anlass von dessen Zusammenbruch am 12. Juni 1540 in Weimar auf der Reise zum Religionsgespräch in Hagenau (WA Br 3501), lässt sich neben dieses Zeugnis inniger Verbundenheit stellen. Dasselbe gilt von verschiedenen Bemerkungen in Luthers Tischreden (vgl. etwa WA TR, 1545 und 5646). Melanchthon dankte Luther und würdigte ihn in seinem Testament als „seinen Vater“: primär, weil er von ihm das Evangelium gelernt habe, dann für das empfangene besondere Wohlwollen. Die besonderen Begabungen des Reformators im Blick auf seine Frömmigkeit und Lehre bewirkten schließlich, dass er, Melanchthon, Luther stets hoch schätze, achte und verehre (MBW 2302, 12.11.1539). Für persönliche Freundschaft blieb da allerdings kaum Raum.
4 Zusammenhalt Doch nichts wäre verfehlter, als aus dieser Beobachtung eine wachsende Distanz oder sogar die Entfremdung beider Männer zu folgern. Daran ist festzuhalten, ohne Melanchthons Schwierigkeiten im Umgang mit Luther – wovon sogleich ausführlicher zu berichten sein wird – zu relativieren. Dies war eine Realität. Zu ihr trugen Luthers Reizbarkeit und seine unbeherrschten Zornausbrüche wesentlich bei. Aber auch Melanchthons Empfindlichkeit und sein dadurch bewirktes Misstrauen gegenüber Luther und dessen Äußerungen spielten, wie erwähnt, eine Rolle. Doch den Kern und die Mitte sämtlicher Auseinandersetzungen jener Jahre bildete Luther. Präzise charakterisiert Heinz Schilling die Situation: „In Luthers beiden letzten Lebensjahrzehnten wechselten sich häufig Momente entspannter Zuversicht und Geselligkeit oder künstlerischem Schaffen abrupt ab mit solchen ungezügelter Aggressivität, ja Vernichtungsphantasien gegenüber allem, was er als seinem Glauben und seinen eigenen Lebensformen feindlich oder auch nur fremd empfand.“ (Schilling 2012, 544) In diesem Kontext stand die Fortsetzung der gemeinsamen theologischen Arbeit beider Männer. Doch im Januar 1544 kam es zu einem hemmungslosen Wutausbruch Luthers gegen die Juristen, den er auch auf die Kanzel brachte (MBW 3436, 3445, 3450; zu Luthers Äußerungen: WA 49, 294– 307). Einigermaßen fassungslos fragte Melanchthon, ob es gegenwärtig nicht gewichtigere Probleme gebe. In solchem unbeherrschten Herumschreien wiederhole sich allerdings nur, urteilte Melanchthon, was man bereits früher an Luthers Schmähungen des Erasmus von Rotterdam oder der Schweizer erlebt habe. Im Wissen um Luthers aufbrausende Reaktionen mühte sich Melanchthon, alle Themen – und womöglich auch Informationen – die das Abendmahl betrafen, von Luther fernzuhalten. Doch das gelang bei der Anfrage italienischer Protestanten an die Wittenberger über verschiedene theologische Themen nicht. Luther antwortete im Juni 1543 und erklärte, „in Zürich und Umgebung existierten Feinde des Sakraments, die profanen Wein und Brot benutzten und dabei den Leib und das Blut Christi aus-
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schließen. Es sind in allen Sprachen gebildete Männer, aber berauscht von einem Geist, der uns völlig fremd ist und deren Ansteckung vermieden werden muss“. Zur Transsubstantiation erklärte Luther – erstaunlich distanziert – dass man „die unnützen und sophistischen Diskussionen darüber ablehne und es wenig interessiere, ob jemand anderswo daran glaube oder nicht“ (WA Br 3885). Melanchthon tadelte Veit Dietrich für die gedankenlose Weitergabe der Anfrage der Italiener an Luther (MBW 3312, 6.9.1543; und 3356, 25.10.1543). Dessen Akzeptanz der Lehre von der Transsubstantiation empörte Melanchthon. Gleichzeitig nannte er hier den für ihn entscheidenden Grund für seine andauernden Bemühungen um Ausgleich und Verständigung, trotz ungerechter Angriffe Luthers und dessen Genossen: Es galt alles zu tun, um den Zusammenhalt im eigenen Lager zu befördern, die Einigkeit der evangelischen Kirchen zu stärken. Das erschien Melanchthon als das Gebot der Stunde. Und in diesem Sinn beschwor Melanchthon im März 1544 Heinrich Bullinger in Zürich, über „abstoßende Briefe aus unseren Gegenden“ hinwegzugehen. Wir sollten „den Konsens sowie die geistige Verwandtschaft untereinander pflegen und nicht zulassen, dass unsere Kirchen weiter auseinander gerissen“ werden (MBW 3487). Bullinger war jedoch nicht bereit, zu Luthers Beschimpfungen zu schweigen. Melanchthon war ratlos. Er fühlte sich nun selbst von Luther angegriffen: Den Artikel über das Abendmahl im Einfältigen Bedenken zur Kölner Reformation hatte zwar Martin Bucer verfasst, aber zusammen mit ihm hatte er diese Kirchenordnung formuliert (Bucer DS 11/1, 147– 432). Angeheizt durch Nikolaus von Amsdorfs bitterböse Stellungnahme gegen dieses Buch tobte Luther, es sei „alles zu lang und großes Gewäsch, bei dem ich das Klappermaul, den Bucer, hier wohl spüre!“ (WA Br 4014) Besonderen Zorn erregte natürlich der Abschnitt über das Abendmahl. Freunden teilte Melanchthon mit, er erwäge Wittenberg zu verlassen (MBW 3646, 3652, 3658: an Veit Dietrich, 8. 8.1544; an Camerarius, 11.8.1544; an Musculus, 12. 8.1544). Denn Luther bringe den Streit auf die Kanzel, verdamme jeden, der nicht wie er denke, und habe bisweilen auch schon ihn, Melanchthon, angegriffen. In Wittenberg herrschte inzwischen eine bleischwere Atmosphäre. Dass Luther an einer Abrechnung mit den Gegnern seiner Auffassung vom Abendmahl schrieb, wurde bekannt (Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament: WA 54, 119 – 167). Gleichzeitig wucherten Gerüchte über den Inhalt des Buches. Melanchthon meinte zu wissen, dass er und Bucer dort beschimpft würden. Camerarius erfuhr, dass Luther wohl Melanchthon und Cruciger bald zu sich zitieren und sie über ihre Auffassung befragen werde (MBW 3668, 28. 8.1544). Vielleicht ließe sich Luther zufriedenstellen. Gelinge das nicht, müsse er sofort aus Wittenberg weggehen. Je unmittelbarer sich Melanchthon vor diese Notwendigkeit gestellt sah, desto mehr belastete ihn allerdings, was ein solcher Schritt in der Öffentlichkeit und für die evangelischen Kirchen bedeutete. In diesem Sinn schrieb er an Bullinger, dass schlimmer als sein persönliches Leid die durch eine solche Trennung bewirkten Nöte „für unsere Kirchen und die Wissenschaft“ wären (MBW 3671, 31.8.1544). Dabei ließ Melanchthon keinen Zweifel daran, dass er Luthers angebliche Preisgabe der Wittenberger Konkordie als eine problematische theologische Verengung ansah und die Verwendung physischer Formulierungen für
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die Beschreibung des Verhältnisses von Brot und Leib Christi beziehungsweise Wein und Blut ihm wissenschaftlich problematisch erschien (MBW 3197, an Veit Dietrich, 16. 3.1543). Im September 1544 erschien Luthers Kurzes Bekenntnis. Melanchthon war, seinen Befürchtungen und allen Gerüchten zum Trotz, darin nicht erwähnt, geschweige denn angegriffen. Dasselbe galt für Bucer. Luther kündigte die Wittenberger Konkordie also nicht auf. Anfang Oktober fand dann eine Unterredung Melanchthons mit Luther statt (MBW 3705, Bericht an Friedrich Myconius, 10.10.1544). Melanchthon berichtete: Er habe ihm gesagt, „dass ich immer die Synekdoche verteidigt habe, dass Christus wahrhaft anwesend ist, wenn Brot und Wein empfangen werden und er uns zu seinen Gliedern macht. Außerhalb des Gebrauchs hat der Ritus allerdings keinen Sinn. Ich glaube, ich habe ihn zufrieden gestellt“. Das war wohl tatsächlich der Fall. Die Beunruhigung des sächsischen Kurfürsten wie auch des hessischen Landgrafen Philipp über Gerüchte, wonach Unstimmigkeiten zwischen Luther und Melanchthon herrschten, wurden von diesem jetzt beseitigt. Melanchthon erklärte den Politikern, dass „er und Martinus durchaus gute Freunde“ seien (MBW 3707, 13.10.1544).Von einer andauernden Belastung der Beziehungen Melanchthons zu Luther kann also kaum die Rede sein. Während die Auseinandersetzung mit den Schweizern weiter ging, sah Melanchthon, nervös und empfindlich, neue Gefahren auf sich zukommen. Luther werde, hörte er, einen Text mit seiner Auffassung vom Abendmahl sowie der Verurteilung aller Gegner verfassen und diese Sätze seinen Wittenberg Kollegen zur Unterschrift vorlegen. Melanchthon erklärte sogleich, dass er solche Artikel nicht unterschreiben werde, sondern stattdessen Wittenberg verlassen (MBW 3883, an Bucer, 17.4.1545; ähnlich 3890, an Brück, 24.4.1545). Auch dazu kam es nicht. Im März 1545 schrieb Luther im Vorwort zum ersten Band seiner lateinischen Werke, Melanchthon sei 1518 nach Wittenberg gekommen, um die griechische Sprache und Literatur zu lehren. Doch zweifellos sei das geschehen, damit er, Luther, einen Mitarbeiter in der Theologie erhielte. „Denn was Gott der Herr durch dieses Werkzeug nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Theologie bewirkt hat, beweisen seine Werke zur Genüge, auch wenn Satan und sein Gefolge zürnten.“ (WA 54, 182, 4– 8) Selbstverständlich war auch Melanchthon tief betroffen, als er die Nachricht vom Tode Luthers erhielt. In seiner akademischen Trauerrede rückte er den „hochgeliebten Vater und Lehrer“ in eine Reihe mit den vielen großen Gestalten, die Gott seiner Kirche immer wieder erweckte, von den Erzvätern an (Mel.Dt 2, 165 – 177. Diese Übersetzung bietet den Text der Rede Melanchthons sowie die Erweiterungen von Camerarius, Zitat 173; vgl. auch die Vorrede Melanchthons zum 2. Band der lateinischen Werke Luthers von 1546: Mel.Dt 2, 178 – 197). Luther war ein solches besonderes Werkzeug Gottes, der wegweisende Bahnbrecher der wahren evangelischen Lehre. Dabei verschwieg Melanchthon nicht Luthers nur schwer zu ertragende Schärfe und seine oft hemmungslosen Angriffe. Bedeutender erschienen dem akademischen Redner dann jedoch Luthers Tugenden mitsamt der „väterlichen Gesinnung, mit der er uns alle umfing“.
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Das Dokument spiegelt die bei Melanchthon durchgängig zu beobachtende Hochschätzung und fraglose Bewunderung Luthers. Lediglich angedeutet und höchstens für enge Freunde erkennbar standen daneben Bemerkungen, die erkennen ließen, dass Luther nach Melanchthons Überzeugung Auffassungen vertrat, insbesondere im Blick auf das Abendmahl, die hinter den gebotenen theologischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zurückblieben. Melanchthons Bemerkung im November 1544, Luther rede jetzt, im Alter, „einfacher und stärker lebensbezogen“, mag man auch als freundliche Umschreibung dieses Sachverhalts ansehen (MBW 3730, an Veit Dietrich, 11.11.1544). In der undurchsichtigen Situation nach dem Sieg des Kaiser über den Schmalkaldischen Bund mitsamt den nun befürchteten Auseinandersetzungen über den Bestand der Reformation richtete Melanchthon am 28. April 1548 ein längeres Schreiben an den kursächsischen Rat Christoph von Carlowitz. Melanchthon versicherte Carlowitz in jenem Schreiben seine Loyalität sowie die Bereitschaft, auch kirchliche Veränderungen hinzunehmen, die er selbst nicht billige, solange diese nicht die Lehre beträfen (MBW 5139: CR 6, 879 – 885, Zitat 800). Um seinen Willen zur Zusammenarbeit zu verdeutlichen, erklärte Melanchthon, er habe bereits früher „eine fast entehrende Knechtschaft“ ertragen, „weil Luther oft mehr seinem Temperament folgte, in welchem eine nicht geringe Streitsucht lag, als auf sein Ansehen und das Gemeinwohl zu achten“. Sachlich sagte Melanchthon damit nichts, was er nicht auch früher schon mehrfach beklagte hatte. Er distanzierte sich mit dieser Aussage natürlich weder von der Person Luthers noch gar von dessen Theologie. Doch nun, nach dem Tod des hoch gelobten und verehrten Reformators sowie dem Sieg und Triumph der Altgläubigen erregte und empörte eine solche Bemerkung zahllose Protestanten und vollends die „echten Lutheraner“ zutiefst. Für sie stand fortan fest, dass Melanchthon von Luther und der Reformation abgefallen war. Warum äußerte sich Melanchthon derart ungeschickt? Wollte er sich dadurch beim Kaiser und dessen politischer Umgebung absichern (so Scheible 1996, 304 – 332)? Theologisch beklagte er mehrfach, allerdings verschlüsselt und griechisch, Luthers zumindest undeutliche Aussagen über das Abendmahl. Diese Äußerungen verhinderten nun den entschiedenen Einspruch der Protestanten gegen die Lehre der Altgläubigen vom Opfercharakter der Messe. Luther wollte dieses Problem nicht entwirren, wodurch er „der Nachwelt einen nicht einfachen Streit hinterlassen hat“ (MBW 5481: CR 7, 351– 352, an Hardenberg, 18. 3.1549; vgl. auch MBW 5246, an Bucer, 4. 8. 1548; MBW 5327: CR 7, 249 – 250, an Veit Dietrich, 16.10.1548; MBW 5342: CR 7, 185 – 186, an Georg von Anhalt, 24.10.1548). Die Reformation in Deutschland erhielt durch Melanchthon ihr Gepräge. Luther leistete dafür die entscheidende und deshalb nie genug zu preisende Voraussetzung. Doch Melanchthon tat „den notwendigen nächsten Schritt, nämlich die ethischen und kirchenorganisatorischen Konsequenzen zu durchdenken und an einer dogmatischen Klärung um der Ausbildung und Vermittlung willen zu arbeiten“ (Strohm 2000b, 356). Darin gründeten die Übereinstimmungen, die Gemeinsamkeiten und auch die Differenzen beider.
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Literatur Ebeling, Gerhard. 21962. Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik. Darmstadt. Greschat, Martin. 2010. Philipp Melanchthon: Theologe, Pädagoge und Humanist. Gütersloh. Köpf, Ulrich. 2000. „Melanchthon als systematischer Theologe neben Luther.“ In Der Theologe Melanchthon. MSB 5, hg. v. Günter Frank, 103 – 127. Stuttgart/Bad Cannstatt. Köpf, Ulrich. 2002. „Martin Luthers Theologischer Lehrstuhl“, In Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. LStRLO 5, hg. v. Irene Dingel und Günther Wartenberg, 71 – 86. Leipzig. Leppin, Volker. 2006. Martin Luther. Darmstadt. Neuser, Wilhelm H. 1961. Luther und Melanchthon: Einheit im Gegensatz. Theologische Existenz Heute, NF 91. München. Scheible, Heinz. 1996b. „Melanchthons Brief an Carlowitz.“ In Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge. VIEG Beiheft 41, hg v. Gerhard May und Rolf Decot, 304 – 332. Mainz. Scheible, Heinz. 1997a. Melanchthon. Eine Biographie. München. Schilling, Heinz. 2012. Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs. München. Strohm, Christoph. 2000b. „Zugänge zum Naturrecht bei Melanchthon.“ In Der Theologe Melanchthon. MSB 5, hg. v. Günter Frank, 339 – 356. Stuttgart/Bad Cannstatt.
Andreas Mühling
Melanchthons Verhältnis zu anderen Reformatoren Calvin, Zwingli, Bullinger, Calvin, Bucer, Bugenhagen und Flacius
Melanchthon unterhielt einen über Jahre hinweg gewachsenen, schriftlichen und persönlichen Austausch zu anderen Reformatoren über alle konfessionellen Grenzen hinweg und korrespondierte mit oberdeutschen wie mit Genfer und Zürcher Theologen gleichermaßen. Insbesondere mit Martin Bucer, aber auch mit Heinrich Bullinger und Johannes Calvin bestand ein solcher über Jahrzehnte, der trotz konfessioneller Konflikte zwischen Zürich, Genf, Straßburg und Wittenberg weiterhin Bestand hatte. Mit den reformierten Theologen stand Melanchthon in einem engen Austausch. Bereits Ulrich Zwingli schätzte Melanchthon trotz dessen Nähe zu Martin Luther sehr. Im April 1527 bat Zwingli Melanchthon, im Abendmahlsstreit mäßigend auf Andreas Osiander einzuwirken (MBW 537), und führte am Rande des Marburger Religionsgespräches mit ihm ein intensives Gespräch über theologische Kontroversthemen (Z 6/2, 491– 509). Melanchthon hingegen gewann keinen sonderlich positiven Eindruck von Zwingli und bezweifelte, ob dieser überhaupt ein Christ sei (Scheible 1997a, 107). So kam es zu keinen weiteren direkten Begegnungen und Briefen zwischen den beiden Reformatoren mehr, doch herrschte in Zürich auch nach dem Zwinglis Tod im Jahr 1531 Melanchthon gegenüber eine freundliche Grundstimmung. Denn Melanchthon galt für Zwinglis Nachfolger als Vorsteher der Zürcher Kirche, Heinrich Bullinger, als große theologische und kirchenpolitische Autorität. Bekannt ist, dass der junge Student Bullinger, als er sich 1521/22 der Reformation zuwandte (Egli 1904, 6.14– 15), stark von Melanchthons Loci communes beeindruckt gewesen war. Nach seiner Rückkehr in die Eidgenossenschaft hielt er zwischen 1523 und 1529 in Kappel Vorlesungen über Werke Melanchthons und verfasste einen – nicht erhaltenen – Kommentar zu zwei seiner Loci (Egli 1904, 8.11.13). Seit dieser Zeit blieb Melanchthon stets im Fokus von Bullinger, dann aber auch von Calvin und den anderen eidgenössischen Theologen. 1535 kam es zu einer ersten schriftlichen Kontaktnahme Bullingers an Philipp Melanchthon (HBBW 5, 636). Der Zürcher griff bei diesem Anlass auf eine von ihm häufig praktizierte Form der Annäherung zurück, die er kirchenpolitisch zu instrumentalisieren wusste. Um einen ersten Kontakt herzustellen, übersandte Bullinger gerne seine neu erschienenen Werke an ihn interessierende Zeitgenossen, die dann die Beschenkten auch meist höflich beantworteten. Auf diese Weise wurde eine erste, oftmals dauerhafte Beziehung mit Bullinger begründet. Der Zürcher also übersandte dem Wittenberger seinen Kommentar zu den paulinischen Briefen, der dann von Melanchthon auch wohlwollend aufgenommen wurde. Diese Annäherung schuf die Basis für einen wenn auch nicht intensiven, doch bemerkenswert offenen Austausch zwischen diesen beiden Theologen in den vierziger und fünfziger Jahren – ein Austausch, der umso erstaunlicher erscheint, da beide um die kirchenpolitische Bedeutung ihres Briefpartners wussten. DOI 10.1515/9783110335804-007
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Denn Bullinger besaß die Angewohnheit, aus politischen Motiven heraus Abschriften von Briefen ihm wichtiger Korrespondenten in der Öffentlichkeit kursieren zu lassen – ein Brauch des Zürchers, über den Melanchthon Klarheit gehabt haben sollte. Doch aus den dreißiger und frühen vierziger Jahren haben sich keine Briefe zwischen Bullinger und Melanchthon erhalten. Es ist auch fraglich, ob überhaupt ein gedanklicher Austausch in jenen Jahren geführt wurde. An der Debatte um die Wittenberger Konkordie beteiligte sich Bullinger, wie die Korrespondenzen eindrücklich belegen, im Wesentlichen über Martin Bucer in Straßburg. Zwischen Zürich und Wittenberg herrschte weitgehend Funkstille: Die deutliche Zürcher Ablehnung der Wittenberger Konkordie trug ebenso wie Luthers negative Meinung über die Zürcher Theologen dazu bei, dass es zwischen diesen beiden Kraftzentren des Protestantismus keinen persönlichen gedanklichen Austausch gab. In einem Schreiben vom 8. März 1539 konstatierte Bullinger, dass er die Verhandlungen zur Annahme der Wittenberger Konkordie für gescheitert betrachte: Sollte es zu den Bedingungen der Konkordie gehören, dass niemand mehr die Wahrheit sagen und gegen Martin Luther den Mund aufmachen dürfe, dann wolle er, Bullinger, nichts damit zu tun haben. Er betrachte Luther als fehlbaren Menschen, der auf seine Irrtümer hingewiesen werden müsse (HBBW 9, 1237). Mit dieser klaren Positionierung schuf sich Bullinger in Wittenberg keine neuen Freunde. Die kirchenpolitischen „Frontlinien“ schienen dauerhaft zementiert worden zu sein. Doch Bullinger beobachtete sehr genau, wie sich durch die von Melanchthon vorangetriebene Veröffentlichung der Confessio Augustana Variata zwischen Luther und Melanchthon in der Abendmahlsfrage ein schwebender Dissens andeutete. Melanchthon lehnte nämlich eine ontische Präsenz Christi stillschweigend ab und vertrat eine personale Gegenwart Christi in der Handlung des Abendmahls – und damit zugunsten der Menschen. Anders als bei Luther trat das Dasein des Leibes und Blutes hinter die Wirksamkeit Christi ganz zurück. Melanchthon setzte sich zwar damit nicht in einen verborgenen Widerspruch zu Luther, doch erlaubte es ihm diese Position theoretisch, den Reformierten inhaltlich deutlich entgegenzukommen. Hingegen unterhielt Melanchthon mit Johannes Calvin in dieser Zeit gute Beziehungen. 1539 und 1540 reiste Calvin auf eigene Initiative zu den Religionsgesprächen nach Frankfurt und Hagenau, um dort Melanchthon persönlich kennenzulernen und sich mit ihm auszutauschen. Die beiden freundeten sich miteinander an, Melanchthon empfand aufrichtige Freundschaft zu Calvin (CO 11, 17– 18) und unterhielt bis 1543 mit dem Franzosen einen vertrauensvollen theologischen Gedankenaustausch, in dem zahlreiche inhaltliche Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen in der Prädestinationslehre festgehalten wurden (CO 11, 594– 595). Wenige Jahre später, 1544, brach der Abendmahlsstreit zwischen Wittenberg und Zürich erneut aus. Nach heftigen, teilweise persönlichen Angriffen Luthers gegen die Zürcher Prediger im August 1543 verschärfte er im September 1544 den Streit nochmals. In diesem Monat erschien Luthers Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament, in dem er sich scharf von den Zürchern distanzierte und die Kirchengemeinschaft mit ihnen einseitig aufhob (WA 54, 141– 167). Für Melanchthon schien Luthers Argumentation völlig überzogen zu sein und er wandte sich daher, nach jahrelangem Schweigen,
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wieder direkt an Bullinger in Zürich. Auch Johannes Calvin intervenierte und suchte mit Melanchthons Unterstützung in diesem Streit zu vermitteln. Trotz seiner eigenen scharfen Kritik der Zürcher Abendmahlsposition bat Calvin Melanchthon am 21. April 1544, mäßigend auf Luther einzuwirken (CO 11, 696 – 698), zugleich suchte Calvin den Ärger der Zürcher zu besänftigen, wie er Melanchthon gegenüber im Januar 1545 schrieb (CO 12, 9 – 12). Bereits am 31. August 1544 informierte der besorgte Melanchthon den Zürcher vertraulich über den Inhalt des zu erwartenden Textes. Melanchthon war zutiefst berührt von der Härte der „furchtbaren Streitschrift“ Luthers. Martin Luther erneuere den Krieg um das Abendmahl, er selbst, Melanchthon, schwebe in keiner kleinen Gefahr (Zürich StA, E II 338, 1400). Tatsächlich war diese Attacke Luthers für die Zürcher bedrohlich. Das Verdammungsurteil Luthers drohte politische Konsequenzen nicht nur im Reich – hier stand das Verbot Zürcher Schriften in den protestantischen Territorien unmittelbar bevor –, sondern auch unübersehbare Folgen im europäischen Raum insgesamt zu haben. Bullinger sah sich also zum Handeln genötigt.War er noch 1543 auf Drängen Bucers bereit, zu den Vorwürfen Luthers zu schweigen, so konnte Bullinger Luthers einseitiger Aufkündigung der Kirchengemeinschaft nicht tatenlos zusehen. Am 3. Dezember 1544 versicherte er Melanchthon gegenüber, dass die Zürcher Luthers Streitschrift erwarten würden und gewillt seien, darauf zu antworten. Nun könnten sie nicht mehr schweigen. Luther hätte immer wieder Zwingli und die Zürcher angegriffen. Doch dem Vorbild seiner maßlosen Angriffe würden die Zürcher Prediger keinesfalls folgen, sondern ihm mit Besonnenheit darauf antworten. Es werde in der Entgegnung sehr deutlich gemacht, dass sie, die Zürcher, mit Sektierern nichts gemeinsam hätten. Dann unterbreitete Bullinger dem Wittenberger ein kirchenpolitisch spektakuläres Angebot: Bullinger schlug Melanchthon vor, dauerhaft nach Zürich überzusiedeln. Wenn denn Melanchthon sich in Wittenberg schon nicht mehr sicher fühlen könne, dann möge er doch nach Zürich ziehen. Der Bürgerschaft, der Kirche wie dem Rat wäre er ein höchst willkommener Gast. Eine gut bezahlte Stellung stände ebenfalls in Aussicht. Es würde ihm und seiner Familie dort sicher an nichts fehlen (Zürich StA, E II 346, 143). Bullinger war sich der europaweiten kirchenpolitischen Signalwirkung durchaus bewusst, die eine Übersiedlung Melanchthons nach Zürich mit sich gebracht hätte. Doch die Zweifel, ob Melanchthon seiner Andeutung Bullinger gegenüber Taten würde folgen lassen, überwogen im persönlichen Umfeld Bullingers. Bullingers Freund Ambrosius Blarer, der ebenfalls auch mit Melanchthon befreundet war, bemerkte zu dem Zürcher treffend, dass er, Blarer, sich zwar ebenfalls wünschte, Melanchthon würde nach Zürich kommen und sich dort niederlassen. Doch sei er angesichts des Zornes, den Melanchthon in diesem Falle in Wittenberg auf sich ziehen würde, äußerst skeptisch (Zürich StA E II 357, 108). Diese Skepsis war durchaus berechtigt. Obwohl Melanchthon möglicherweise dieses Angebot näher erwog, erblickte er doch für sich perspektivisch in Wittenberg nur noch drohendes Exil und weitere Nöte, wie er Calvin gegenüber im April 1545 versicherte (CO 12, 61– 62), näherte sich Melanchthon im weiteren Verlauf des Jahres 1545 inhaltlich doch wieder Luther an und verwarf das freundliche Zürcher Angebot.
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Der Brief Bullingers wurde von ihm nicht mehr beantwortet. Der Zürcher seinerseits verzichtete im Gegenzug darauf, Melanchthon ein Exemplar der eidgenössischen Entgegnung auf Luther, das Zürcher Bekenntnis vom März 1545, zu übersenden (Mühling 2006, 449 – 65). Damit ruhte der Kontakt erneut. Auch mit Calvin brach der Gedankenaustausch bis Anfang der fünfziger Jahre ab. Doch wenn Bullinger das Ziel verfolgt hatte, mit Calvins Unterstützung eine freundliche einvernehmliche Grundstimmung zwischen Melanchthon und ihm herzustellen, war dies dem Zürcher durchaus gelungen. So konnte Bullinger diesen ganzen Streitigkeiten durchaus etwas Positives abgewinnen – gelegentlich ließen die beiden Theologen sich aus der Ferne grüßen und vermieden es ansonsten, publizistisch miteinander in Streit zu geraten. 1552 flammten die Abendmahlsstreitigkeiten als Folge des Consensus Tigurinus erneut auf. Die in diesem Jahr entfachten Auseinandersetzungen Calvins mit Joachim Westphal um die richtige Deutung des Abendmahls breiteten sich wie ein Flächenbrand rasch aus. Melanchthon, der sehr genau bemerkte, dass beide Parteien ihn instrumentalisieren wollten, indem sie ihn auf ihre Seite zu ziehen versuchten, hielt sich bewusst aus diesem Streit zunächst heraus. Dennoch geriet der Wittenberger bald in Bedrängnis. Calvin appellierte an Melanchthon in einem Schreiben vom 27. August 1554 heftig, dieser möge doch endlich in der Abendmahlsfrage klare Stellung beziehen (CO 15, 215 – 217). Melanchthon antwortete darauf am 14. Oktober und teilte Calvin mit, dass er, Melanchthon, seine Hoffnung auf Ausgleichsgespräche setze. Der Streit sei lediglich angezettelt worden, um ihn zu bedrängen. Deshalb erwarte er täglich den Gang ins Exil (CO 15, 268 – 269). Calvin, von Melanchthons Schreiben alarmiert, reichte das Schreiben an Bullinger weiter und bat den Zürcher darum, weiteren Einfluss auf den Wittenberger zu nehmen. Dieser überging jedoch die Bemerkung Philipp Melanchthons kommentarlos. So drängte Calvin weiter. Am 5. März 1555 übersandte Calvin Melanchthon seine erste Erwiderung auf Westphals Angriffe und forderte Melanchthon in einem Begleitschreiben unmissverständlich auf, entschlossen gegen die „Bestien“, die den Abendmahlsstreit entfacht hätten, vorzugehen (CO 15, 488 – 489). In seiner knappen Antwort vom 12. Mai 1555 verweigerte sich Melanchthon diesem Anliegen entschieden. Er kenne seine Gegner und fürchte nicht den Gang ins Exil (CO 15, 615 – 616). Der kirchenpolitisch versierte Heinrich Bullinger kommentierte dieses Schreiben gegenüber Calvin am 28. September 1555 auf gewohnt nüchterne Weise: Von Melanchthon sei nichts mehr zu erhoffen. Jener sei nur auf Frieden aus. Zwar stünde Melanchthon innerlich auf ihrer Seite, man könne aber nur verhindern, dass er sich den Gegnern anschließe (CO 15, 797– 801). Bullinger seinerseits hatte nämlich unterdessen Kontakt zu Melanchthon aufgenommen und von diesem im August 1555 erfahren, dass der Wittenberger dem Streit aus dem Weg zu gehen gedenke und ein Gespräch zwischen frommen und gelehrten Männern ohnehin für sinnvoller halte (CO 15, 734– 735). Indessen weitete sich der Abendmahlsstreit weiter aus. Calvin war daran nicht ganz unschuldig. 1556 machte nämlich der Genfer einen schweren kirchenpolitischen Fehler – Calvin nahm Melanchthon öffentlich für seine Abendmahlslehre in Anspruch. In der Secunda defensio de sacramentis fidei contra Westphali vom 5. Januar 1556 berief
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sich Calvin öffentlich auf die Confessio Variata und ihren Verfasser. Damit war der Wittenberger auch von reformierter Seite als Kronzeuge aufgerufen worden. Diese Konstellation stellte für Melanchthon ein schweres inhaltliches wie kirchenpolitisches Problem dar, da sich Westphal ebenfalls auf Melanchthon, allerdings auf den des ersten Abendmahlsstreites 1529/30, berief, Calvin hingegen den Melanchthon der Jahre nach der Wittenberger Konkordie für sich in Anspruch nahm. Auf diese Situation reagierte Melanchthon mit großer Verärgerung und begegnete von nun an Calvin mit großer persönlicher und inhaltlicher Distanz. Dies hielt Calvin aber nicht davon ab, sich 1557 in seiner Streitschrift Ultima admonitio ad Joachium Westphalum publizistisch noch entschiedener auf Melanchthon zu berufen (CO 9, 137– 252) und erhob Melanchthon gegenüber in einem Schreiben vom August 1557 nur schwach verklausulierte Vorwürfe (CO 16, 556 – 558). Ein weiterer Versuch Calvins, mit Melanchthon in Kontakt zu treten, sollte wenig später, am 7. September 1557, erfolgen (CO 16, 604– 605). Doch Melanchthon antwortete am 8. Oktober 1557 in einem belanglosen Briefchen und stellte die Korrespondenz mit Calvin endgültig ein (CO 16, 659). Während Calvin im Umgang mit Melanchthon bei diesem für allerlei Ärger sorgte, gab Bullinger hingegen bezeichnenderweise seine Bemühungen um Melanchthon noch längst nicht auf. Es zeichnete die Zusammenarbeit zwischen Calvin und Bullinger mehrfach aus, dass der Zürcher dann für Calvin einsprang, wenn dieser an die Grenzen seiner kirchenpolitischen Möglichkeiten gestoßen war (Mühling 2004, 75 – 80). Nützlich für eine erneute Kontaktaufnahme war es auch, dass sein Sohn Heinrich seit Ende 1555 in Wittenberg studierte und Nachrichten aus Zürich überbrachte. Der Zürcher Antistes regte nämlich im Laufe des Sommers an, dass sein Sohn Heinrich in Wittenberg studieren sollte. Am besten bei Melanchthon. Schriftlich bat er Melanchthon darum, seinen Sohn Heinrich gegen Bezahlung in sein Haus aufzunehmen oder nach seiner Empfehlung anderswo unterzubringen (CO 15, 736 – 737). Ruhig, dabei jeden drängenden Unterton vermeidend, führte Bullinger das Gespräch weiter. Im März 1556 hielt Bullinger die Gelegenheit für günstig, Melanchthon für die freundliche Aufnahme seines Sohnes zu danken sowie eine seiner Schriften, nämlich die Summa christlicher Religion, dem Wittenberger durch Heinrich zukommen zu lassen. Damit verband der Zürcher die Bitte, Melanchthon möge seine Autorität einsetzen und die Gegner mäßigen (MBW 7747). Melanchthons Antwort vom 16. September 1556 war ebenso kurz wie ernüchternd: Arbeit und Kummer hinderten ihn daran, ausführlich zu schreiben. Er erwarte, vertrieben zu werden (MBW 7953). Bullinger zeigte sich in seiner Rückantwort vom 1. November 1556 voller Mitgefühl und bekräftigte, dass er, Bullinger, nichts mehr wünsche, als ihn zu sehen und mit ihm ausführlich zu sprechen (MBW 8013). Den Inhalt des Schreibens von Melanchthon hielt der Zürcher keinesfalls geheim und sorgte umgehend dafür, dass das Gerücht, Melanchthon wolle Wittenberg verlassen, im oberdeutschen Raum rasch bekannt wurde. Die herumschwirrenden Meinungen, dass Melanchthon nach Straßburg oder auch nach Zürich gehen werde, verdichteten sich weiter. Doch auch diesmal – es waren bloß Falschmeldungen. Melanchthon verfasste zwar im Mai 1557 ein sehr freundliches Zeugnis für Bullingers Sohn
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(MBW 8212) und informierte darüber hinaus den Zürcher in einigen Schreiben inhaltlich prägnant vom Religionsgespräch zu Worms (MBW 8364. 8380). Doch von einem Weggang aus Wittenberg war allerdings keine Rede mehr. Wenn Bullinger tatsächlich die Hoffnung gehabt haben sollte, Melanchthon könne sich öffentlich im Abendmahlsstreit auf die Seite der Reformierten stellen, so wurde er tief getäuscht. Am 21. Oktober 1557 kam es zum endgültigen Bruch: Melanchthon unterschrieb während des Wormser Kolloquiums eine Verdammung des Zwinglianismus. Es ist bitter, dass der wegen langer Postwege hiervon nichts ahnende Bullinger wenige Tage später, am 27. Oktober, Melanchthon darum bat, dieser möge die Zürcher im Sakramentenstreit verteidigen. Nochmals bekräftigte der Zürcher Antistes seine Einladung nach Zürich (MBW 8380). Als jedoch Bullinger von der Verurteilung der Zürcher Abendmahlslehre durch Melanchthon erfuhr, stellte er seine Bemühungen um Melanchthon ein. Es kam noch zu einigen wenigen Schreiben zwischen Bullinger und Melanchthon, deren Inhalte von Seiten Bullingers eher apologetischen Inhalts waren. Die frühere Vertrautheit und inhaltliche Nähe konnte nicht wieder hergestellt werden. Ende der 1550er Jahre sollte dieser Kontakt für immer abbrechen. Doch weiterhin galt Philipp Melanchthon den Zürcher wie Genfer Theologen als überragende theologische Kapazität von europäischem Rang. Diese Stellung wurde von den Eidgenossen nicht in Frage gestellt – nicht zuletzt auch deshalb, weil nach der festen Überzeugung von Bullinger und Calvin Melanchthon in der umstrittenen Abendmahlsfrage inhaltlich dem reformierten Lager nahestand. Mit Martin Bucer, dem wichtigsten theologischen Vertreter der oberdeutschen Städte, ergaben sich in dieser Frage jedoch zahlreiche inhaltliche Annäherungen. Anfangs gegenüber Bucer reserviert eingestellt, zerstreuten sich Melanchthons Bedenken in den gemeinsamen Diskussionen und Verhandlungen beispielsweise um die Wittenberger Konkordie oder dem gemeinsamen Engagement im Kölner Reformationsversuch. Die Verhandlungen um das Abendmahlsverständnis bilden einen wesentlichen Schwerpunkt ihrer Gespräche. Bucer und Melanchthon, beide im Oktober 1529 Teilnehmer des in der Abendmahlsfrage gescheiterten Marburger Religionsgespräches, nahmen wenig später einen recht intensiven, von gegenseitigem Vertrauen geprägten Briefwechsel miteinander auf, der erst mit Bucers Tod 1551 endete. Noch aus Augsburg berichtete Melanchthon Bucer im Juli und August 1530 über den Augsburger Reichstag, signalisierte ihm gegenüber Gesprächsbereitschaft in der Abendmahlsfrage (CR 2, 221– 222) und setzte sich mit Bucers Abendmahlslehre auseinander (CR 2, 315 – 316). Damit begann ein offener Gedankenaustausch der beiden Theologen über die Frage nach dem Verständnis des Abendmahls, der auch politisch folgenreich sein sollte: Melanchthon galt als jemand, der einen mäßigenden Einfluss auf Luther auszuüben verstand und dessen teilweise schroffen Positionen abzuschwächen vermochte, Bucer hingegen suchte zwischen Wittenberg und den reformierten Kirchen der Eidgenossenschaft kirchenpolitisch zu vermitteln. Denn das Thema „Bündnis und Bekenntnis“ sollte durch den anhaltenden Abendmahlsstreit zwischen Oberdeutschen, Zwinglianern und Lutheranern eskalieren. Denn Bucer und Melanchthon näherten sich in der
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umstrittenen Abendmahlsfrage, insbesondere aber auch in der Frage nach dem Glauben des Abendmahlsempfängers, inhaltlich einander an. Der Durchbruch gelang den beiden während eines persönlichen Gesprächs am 17. Dezember 1534 in Kassel. Auf diese Weise bereiteten Bucer und Melanchthon die offiziell dokumentierte Annäherung vom Mai 1536 zwischen den Oberdeutschen, hier mit Straßburg an der Spitze, und den Lutheranern in der Wittenberger Konkordie vor. Historisch bemerkenswert ist an dieser Wittenberger Konkordie neben der theologischen auch die politische Bedeutungsebene: „Die Wittenberger Artikel schaffen nicht die Voraussetzung zur Gewährung der Kirchengemeinschaft, sondern zum Eintritt in den Schmalkaldischen Bund. Sie haben zuerst politische Bedeutung. Luther und die Seinen bestätigten in ihnen, dass die theologische Voraussetzung für das Bündnis gemäß der Satzung des Schmalkaldischen Bundes vom Dezember 1535 gegeben ist.“ (Neuser 2006, 75) Gegenstand der Konkordie ist also die Aussage, dass die vorgelegte Abendmahlsformel der Confessio Augustana und der Apologie „gemäß und gleich“ sei – also inhaltliche Nähe, ohne Behauptung einer klaren inhaltlichen Übereinstimmung, herrsche. Die politische Perspektive: Der Eintritt der Oberdeutschen in den Schmalkaldischen Bund rücke damit in eine mögliche Nähe. Die reformierten eidgenössischen Stände – an ihrer Spitze Zürich, Bern, auch Basel – reagierten konsterniert, drohten sie doch mit diesem Ergebnis politisch isoliert zu werden. Von nun an begegneten sie Bucers Vermittlungsversuchen mit verstärktem Misstrauen. Denn darauf kam es Bullinger in den Verhandlungen zunächst entscheidend an – nämlich den öffentlichen Nachweis zu erbringen, dass die Abendmahlsposition Zwinglis keinesfalls ketzerisch sei. So stimmten bereits Zürcher Rat und Pfarrerschaft der Confessio Helvetica Prior am 12. Februar 1536 in der Hoffnung zu, dass nun, durch den Nachweis der theologischen Rechtgläubigkeit in der Abendmahlsfrage, auch eine politische Einigung mit dem lutherischen Lager möglich sei. Eine Hoffnung, die zahlreiche andere reformierte eidgenössische Stände teilten – und am 27. März dieses Bekenntnis für sich als verbindlich annahmen. Jedoch lehnten es die Eidgenossen am 1. Mai 1536 entschieden ab, eine Delegation zu weiteren Verhandlungen nach Sachsen zu entsenden. Stattdessen baten diese Bucer und Wolfgang Capito, die Confessio Helvetica Prior Martin Luther vorzulegen. Der historische Gang der Dinge ist bekannt: Die Wittenberger Konkordie wurde, ohne die Eidgenossen einzubeziehen, geschlossen. Eine theologische Annäherung und politische Übereinkunft mit den Wittenbergern kam auch im Sommer und Herbst 1536 nicht mehr zustande. Auch wenn Luther durch die Intervention Bucers seine schroffe Haltung kurzfristig aufzugeben schien und es Gerüchte gab, dass sich Bullinger für die Konkordie einsetzen werde, zerschlugen sich doch diese Hoffnungen. Für dieses, freundlich formuliert, konsequente Beharren auf zwinglische Abendmahlspositionen bei gleichzeitiger Ablehnung der Confessio Augustana und der Wittenberger Artikel – nochmals erneuert im Zürcher Bekenntnis von 1544 – konnten weder Bucer noch Melanchthon hohes Verständnis aufbringen. Sie setzten vielmehr ihre Hoffnungen auf gemeinsame Verhandlungen, das intensive Gespräch und die Suche nach gemeinsam zu vertretenden Lösungen.
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Auch in Fragen der Seelsorge rangen die beiden Theologen um teilweise überraschende, zugleich biblisch gestützte Lösungen. Anfang 1540 mit dem Wunsch Philipp von Hessens konfrontiert, Margarethe von der Saale heiraten zu wollen, ohne sich dabei von seiner ersten Frau Christina von Sachsen zu trennen, erklärten sich Bucer und Melanchthon mit Blick auf die Ehepraxis der biblischen Patriarchen bereit, die Zeremonie – allerdings unter Gebot der Geheimhaltung – zu billigen. Beide nahmen an der Trauung am 5. März 1540 als Trauzeugen teil, reagierten allerdings mit Entsetzen, als der Landgraf diese Eheschließung öffentlich machte (Bucer an Melanchthon vom 22.7.1540, MBW 2465a). Damit galt Philipp als Bigamist, konnte mit dem Tod bestraft werden und schädigte die protestantische Sache auf diese Weise insgesamt schwer. Diese Debatten führten bei Melanchthon zu einem schweren körperlichen und psychischen Zusammenbruch, als er auf dem Weg zum Hagenauer Religionsgespräch war. An den Verhandlungen konnte er persönlich nicht teilnehmen. So nahmen beide Theologen erst in Worms und Regensburg 1540/1541 auf evangelischer Seite an den Religionsgesprächen teil. Doch während Bucer sich in Worms dem altgläubigen Reformtheologen Johannes Gropper annäherte und das Wormser Buch verfasste, lehnte Melanchthon diesen Annäherungskurs Bucers ab und präsentierte dort als Gesprächsgrundlage seine Überarbeitung der Augsburger Bekenntnisschrift von 1530, die Confessio Augustana Variata (Greschat 1990, 185 – 187). Wegen dieser inhaltlichen Differenzen waren die Vorzeichen für das im April 1541 beginnende Regensburger Gespräch, an dem Melanchthon und Bucer erneut teilnahmen, nicht besonders verheißungsvoll. Tatsächlich scheiterte das Regensburger Gespräch trotz vielversprechendem Beginn letztlich an den Differenzen im Verständnis der Ekklesiologie, des kirchlichen Lehramtes und des Schriftverständnisses (Greschat 1990, 188 – 190). Über den gedanklichen Austausch zwischen Melanchthon und Bucer in diesen Regensburger Tagen kann wenig gesagt werden; vermutlich haben sie in Regensburg häufig miteinander gesprochen. Doch die wenigen erhaltenen Briefe dieser Wochen deuten an, dass die Differenzen ausgeräumt wurden und erneut Einverständnis in der Beurteilung politischer Ereignisse und theologischer Überzeugungen zwischen ihnen bestand. Die inhaltliche Annäherung zwischen Bucer und Gropper in Worms sollte auch für Melanchthon Folgen haben. Hermann von Wied, Kurfürst und Erzbischof von Köln, knüpfte am Rand der Religionsgespräche Kontakte mit den Protestanten und entschied sich, das kirchliche Reformwerk in seinem Territorium voranzutreiben. Nachdem im Regensburger Reichstagsabschied 1541 an die Reichsstände appelliert wurde, noch vor Einberufung eines allgemeinen Konzils eine „christliche Ordnung und Reformation“ zu beginnen, holte Hermann von Wied Bucer für die Abfassung einer Kirchenordnung im Dezember 1542 an den Rhein (Greschat 1990, 195). Hier trat Bucer erneut mit dem Domherrn Johannes Gropper zusammen und begann unverzüglich mit evangelischer Lehre und Predigt. Allerdings hatte Bucer die Widerstände nicht nur Groppers, sondern auch des Domkapitels und der Universität unterschätzt und hoffte auf die Unterstützung Melanchthons bei diesem Kölner Reformwerk. Im März 1543 äußerte Bucer Melanchthon gegenüber sein Bedauern, dass dieser noch nicht in Bonn
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eingetroffen sei, und unterrichtete ihn über den Stand des Reformationsversuches (CR 5, 58 – 60). Dieser traf schließlich im Mai 1543 in Bonn ein und erarbeitete gemeinsam mit Bucer eine Kirchenordnung, das Einfältige Bedenken, in der Bucer die Form der kirchlichen Organisation festlegte, und Melanchthon insbesondere für die Lehrtexte verantwortlich war. Eine behutsame Öffnung in Struktur und Liturgie der kirchlichen Praxis bei klarer Ausrichtung auf Schrift und Christus – dies ist die inhaltliche Ausrichtung des Einfältigen Bedenkens, die im Juli 1543 auf dem Landtag angenommen wurde, jedoch weiterhin auf heftige Widerstände des Klerus und Domkapitels stieß. Melanchthon reiste im August 1543 aus Bonn ab und ließ sich von Bucer über die weiteren bedrohlichen Ereignisse dort unterrichten (Bucer an Melanchthon vom 25.8. 1543, MBW 3303). Der Sieg des Kaisers am Niederrhein 1544 beendete den Reformationsversuch Kölner Prägung; nach dem Schmalkaldischen Krieg musste Herman von Wied sein Amt als Erzbischof und Kurfürst niederlegen. Auch in den Wirren des Schmalkaldischen Krieges, nach der protestantischen Niederlage und während des Interims bestand der Kontakt weiterhin fort. Insbesondere über die Folgen der Niederlage und des Interims informierten sich Bucer und Melanchthon untereinander schriftlich. Nachdem Bucer unter massivem Druck stehend am 20. April 1548, zum Missfallen Melanchthons, das Interim unterschrieben hatte (Scheible 1997a, 184; Greschat 1990, 226 – 232), protestierte Bucer öffentlich heftig gegen die Einführung des Interims. Melanchthon äußerte sich in mehreren Briefen aus dem Sommer und Herbst 1548 sehr zufrieden über den Gesinnungswechsel seines Freundes, leistete ihm bereitwillig theologische Schützenhilfe, erörterte mit ihm persönliche Fragen und bot dem von Haft bedrohten Bucer Asyl in Wittenberg an (Greschat 1990, 232). Doch Bucer zog es vor, im April 1549 als Flüchtling nach England überzusiedeln und sich in Cambridge niederzulassen. Auch hier hielt Bucer in der kurzen Zeit, die ihm noch blieb, den Kontakt zu Melanchthon aufrecht. Bucer und Melanchthon – eine Freundschaft, die auch inhaltliche Differenzen aushielt. Beide Theologen prägte inmitten einer Zeit, die sich auch durch ihre konfessionellen Auseinandersetzungen auszeichnete, die gemeinsame Überzeugung, dass Christinnen und Christen aufeinander zu hören und voneinander zu lernen hätten. Denn nur so ließe sich jene Gemeinschaft schaffen, die Verbindendes festhalte, ohne dabei Eigenarten zu verdammen. Im Umfeld der Kollegen und Schüler Luthers hingegen wurde die kirchenpolitische Kompetenz wie auch die theologische Urteilskraft Melanchthons unterschiedlich beurteilt – Johannes Bugenhagen und Matthias Flacius Illyrius sollen für diese ambivalente Sichtweise stellvertretend genannt werden. Der 1485 in Wollin/Pommern geborene Bugenhagen reiste Anfang 1521 nach Wittenberg, wo er innerhalb kürzester Zeit die lebenslange Freundschaft Melanchthons gewann. Melanchthon beherbergte Bugenhagen in seinem Haus und widmete ihm bereits im April 1521 die griechische Textausgabe des Römerbriefes (CR 1, 521– 522). Bugenhagens seelsorgerliche und theologische Kompetenz, gepaart mit hoher organisatorischer Fähigkeit und kirchenleitender Begabung, führte in verantwortungsvolle Ämter: 1523 wurde er Stadtpfarrer in Wittenberg und lehrte an der Wittenberger Universität, ab 1536 war dann sein Pfarramt fest mit der vierten theologi-
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schen Professur verbunden. In der Betonung der Kindertaufe und der Realpräsenz Christi im Abendmahl stand Bugenhagen fest an der Seite Luthers. Zwischen 1527 und 1542 hielt sich Bugenhagen, Martin Luther vertrat ihn dann in Wittenberg, immer wieder für einige Zeit in Norddeutschland und Dänemark auf. Während dieser Jahre schuf er in Braunschweig, Hamburg, Lübeck, Pommern, Dänemark, Holstein, Braunschweig-Wolfenbüttel und Hildesheim Kirchenordnungen, die dort die rechtliche Grundlage für die neugeschaffenen lutherischen Kirchen bilden sollten. Der zwischen Bugenhagen und Melanchthon erhalten gebliebene Briefwechsel ist nicht sonderlich umfangreich. Die Theologen werden sich in Wittenberg mündlich ausgetauscht haben. Die sechs Schreiben Bugenhagens an Melanchthon beinhalten kurze Informationen über den Fortgang seiner Tätigkeit in Norddeutschland sowie kurze Berichte und Stellungnahmen aus den Jahren 1544– 1547. Inhaltlich gewichtiger ist der Brief vom Dezember 1544 (WA Br 10, 716 – 720), in dem Bugenhagen gegenüber Melanchthon und Luther seine Gründe erläutert, das angebotene Bischofsamt in Cammin nicht annehmen zu wollen.Von Melanchthon hingegen blieben über zwanzig Schreiben erhalten – während Melanchthon seinen Freund in den Jahren bis Luthers Tod nur sporadisch über theologische und kirchenpolitische Entwicklungen informierte, nahm mit dem Tod Luthers die Häufigkeit der Briefe zu, veränderte sich auch ihr Inhalt. Nicht nur Kirchenpolitisches hatte Melanchthon seinem Freund in diesen dramatischen Jahren mitzuteilen, auch für persönliche Trauer und Leid hatte Bugenhagen ein offenes Ohr (CR 6, 456– 458), der auf diese Weise auch zu einem Seelsorger Melanchthons wurde. Bald vierzig Jahre, bis zum Tod Bugenhagens im Jahr 1558, hielt diese Freundschaft, getragen von tiefem gegenseitigen Respekt, hoher persönlicher Wertschätzung und großer theologischer Nähe. Dass dies nicht für alle seine Kollegen gilt, belegt Melanchthons Verhältnis zu Matthias Flacius eindrücklich, mit dem er einen heftigen Streit um das Interim und die sogenannten Adiaphora führte. 1520 in Istrien geboren, erwarb er sich in Venedig eine humanistische Schulbildung und studierte ab 1541 in Wittenberg bei Luther und Melanchthon. Auch Melanchthon förderte den begabten Studenten und unterstützte das Vorhaben, dass ihm 1545 in Wittenberg eine Professur für hebräische Sprache übertragen wurde. Aufgrund der albertinischen Religionspolitik verließ er 1549 Wittenberg und siedelte nach Magdeburg über. Unter seiner Führung entwickelte sich Magdeburg zu einem Zentrum polemischer Kampagnen gegen das Augsburger Interim, die kaiserliche Religionspolitik und seine Fassung für Sachsen, das Leipziger Interim. Flacius war zu keinerlei Kompromissen bereit und wertete jedes Entgegenkommen der Protestanten als Verrat am Bekenntnis. Dabei geriet auch Melanchthon in den Mittelpunkt seiner publizistischen Ausfälle, der sich in diesen Monaten ein Nachgeben bei den sogenannten Adiaphora wie Gesängen, Festen und Kleidung durchaus vorstellen konnte (Scheible 1997a, 198). Doch nicht allein stand in dieser Auseinandersetzung „die Freiheit kirchlicher Bräuche zur Debatte, sondern auch die Frage nach Bekenntnis und Kirchenverfassung sowie nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Kirche und Staat“ (Kuropka 2010, 123– 124). In insgesamt vier ausführlichen Schreiben – zwei aus dem Jahr 1549 sowie zwei aus den Jahren 1556 und 1557 – wird Melanchthon nicht nur theologisch, sondern auch
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menschlich angegriffen. Dies zeigt, dass der Streit zunehmend auf der persönlichen Ebene ausgetragen wurde. Melanchthon zog es vor, 1549 in einem offenen Brief (CR 7, 477– 482), 1556 in einem privaten Schreiben (CR 8, 839 – 844) auf diese Vorwürfe in maßvollen Worten einzugehen und ansonsten Flacius soweit möglich zu ignorieren. Flacius’ warnenden Appell vom August 1557 an die evangelischen Teilnehmer des Kolloquiums zu Worms (CR 9, 199 – 213) überging Melanchthon ebenso wie die heftigen Angriffe, die Flacius nach der Übernahme einer Jenaer Professur im Jahr 1557 auf den angeblichen Synergismus philippistischer Prägung umgehend aufnahm. Die persönliche Beziehung zwischen Melanchthon und Flacius markiert exemplarisch die Auseinandersetzung zwischen den sogenannten „Gnesiolutheranern“ mit ihrem Anspruch, den ursprünglichen Luther zu bewahren, und den „Philippisten“, die sich der lutherischen Theologie, aber eben auch dem gemeinsamen Erbe der Reformation verpflichtet fühlten und damit unter dem kirchenpolitischen Verdacht standen, die rechte Lehre zu verwässern. So zeigt sich in den Beziehungen Melanchthons zu anderen Reformatoren eines deutlich: diese waren niemals ausschließlich privater Natur, sondern zugleich Reflex und Impuls auf die theologischen und kirchenpolitischen Entwicklungen seiner Zeit.
Quellen Egli, Emil, Hg. 1904. Heinrich Bullinger Diarium (Annales vitae) der Jahre 1504 – 1574. Basel. Mühling, Andreas. 2006. „Das Zürcher Bekenntnis von 1545.“ In Edition Reformierter Bekenntnisschriften. Bd. 1/2, hg. v. Heiner Faulenbach und Eberhard Busch, 449 – 465. Neukirchen. Neuser, Wilhelm H. 2006. „Die Wittenberger Konkordie.“ In Edition Reformierter Bekenntnisschriften. Bd. 1/2, hg. v. Heiner Faulenbach und Eberhard Busch, 69 – 88. Neukirchen.
Literatur Dingel, Irene und Armin Kohnle, Hg. 2011. Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas. LStRLO 13. Leipzig. Greschat, Martin. 1990. Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit (1491 – 1551). Münster. Kuropka, Nicole. 2010. Melanchthon. Tübingen. Mühling, Andreas. 2004. „Bullingers europäische Ausstrahlung.“ In Der Nachfolger. Heinrich Bullinger (1504 – 1575), hg. v. Hans-Ulrich Bächtold et al., 75 – 80. Zürich. Neuser, Wilhelm H. 1975. „Die Versuche Bullingers, Calvins und der Straßburger, Melanchthon zum Fortgang zu bewegen.“ In Heinrich Bullinger 1504 – 1575. Gesammelte Aufsätze zum 400. Todestag. Bd. 2, hg. v. Ulrich Gäbler und Erland Herkenrath, 35 – 55. Zürich. Scheible, Heinz. 1997a. Melanchthon. Eine Biographie. München.
Maria Lucia Weigel
Melanchthon-Bildnisse in Geschichte und Gegenwart In das Bildnis Philipp Melanchthons gehen zwei Aspekte ein, die in gradueller Abstufung miteinander bildlich verschränkt sein können. In der Rezeption seiner Gestalt in den Bildmedien werden sowohl der Humanist als auch der Reformator thematisiert, nur indirekt über die philosophische Tätigkeit Melanchthons der Wissensstrukturierung und Vermittlung in Form von Topoi auch der Lehrer Deutschlands, der Praeceptor Germaniae. Beide erstgenannten Aspekte sind in Biographie und Wirken verankert und spiegeln sich ebenfalls in der Rezeption Melanchthons in der europäischen Geistesgeschichte. Beide Rezeptionsstränge sind bis in die Gegenwart hinein Gegenstand von Bildschöpfungen. Dabei finden vor allem im Bereich der Druckgraphik entscheidende Neu- und Weiterentwicklungen statt. Die folgende Darstellung beschränkt sich im Wesentlichen auf Einzelbildnisse des Gelehrten.
Das Kupferstichbildnis Melanchthons von Albrecht Dürer, 1526 Das früheste Bildnis, der Kupferstich, den der Nürnberger Künstler Albrecht Dürer von dem Universalgelehrten im Jahr 1526 anfertigte, zeigt diesen als humanistisch Gebildeten, dessen Tätigkeit der Strukturierung von Wissen anhand von Lehren zu Rhetorik, Topik und Dialektik, die aus der Antike überliefert und von Melanchthon selbst neu formuliert wurden, im Bild vergleichbare topische Strukturen einer visuellen Argumentation zur Seite gestellt werden (Abb. 1). Sie charakterisieren Melanchthon damit in erster Linie als Philosophen (Weigel 2012, 210 – 215). Dem Stich liegt eine Silberstiftzeichnung zugrunde, die der Künstler im Rahmen einer Begegnung mit Melanchthon anlässlich der Einweihung des Nürnberger Gymnasiums im selben Jahr angefertigt hatte. Sie befindet sich heute in der Casa Horne in Florenz. Die Druckgraphik zeigt den Gelehrten im Schulterstück, im Dreiviertelprofil nach rechts gewandt. Melanchthon wird unter freiem Himmel hinter einer steinernen Inschriftentafel dargestellt. Die Verbindung dieses für humanistisch geprägte Bildnisse üblichen Versatzstückes, das aus der antiken Sepulkralikonographie übernommen wurde, mit der Darstellung eines Menschen außerhalb eines Innenraumes ist nicht nur innerhalb von Dürers Œuvre außergewöhnlich. Die Inschrift lautet: „1526 / VIVENTIS POTUIT DURERIUS ORA PHILIPPI / MENTEM NON POTUIT PINGERE DOCTA / MANUS / AD“ („1526 / Das Antlitz des lebenden Philipp, nicht seine Geistseele vermochte Dürer mit gelehrter Hand zu malen / AD“) (Preimesberger 1999, 220). Das Bildnis ist wohl entgegen anderslautender Vorschläge als Einzelblatt konzipiert, die Anzahl der Erstabzüge ist nicht bekannt. Von der einzigen Druckplatte, die DOI 10.1515/9783110335804-008
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Maria Lucia Weigel
Abb. 1: Albrecht Dürer, Bildnis Philipp Melanchthon, 1526, Kupferstich, 17,2 × 12,9 cm, Melanchthonhaus Bretten
von Dürers Porträtstichen erhalten ist, wurden bis in die jüngste Zeit Abzüge hergestellt. Im 16. Jahrhundert diente das Blatt in Humanistenzirkeln als Freundschaftsgabe, den Gepflogenheiten des Adressatenkreises entsprechend, für den das Blatt geschaffen wurde (Löcher 1995, 355). In der Forschung wird eine Vielzahl von Deutungsebenen diskutiert. Dies bezieht sich sowohl auf die Erscheinung des Gelehrten als auch auf das Medium. Letzteres wurde in der Frühen Neuzeit als der Skulptur verwandt wahrgenommen, ihm eignete in materialikonographischer Hinsicht die Eigenschaft der Dauer (Slenczka 2011a, 137). In Bezug auf erstere wurde der Hinweis auf den frommen Charakter des Dargestellten in Gestalt eines sich im rechten Auge spiegelnden Fensterkreuzes im Kontext frühneuzeitlicher Bildnisse (Białostocki 1970) ebenso untersucht wie die Wiedergabe der Physiognomie nach Vorgaben der antiken Vier-Temperamenten-Lehre (Fastert 2004, 247– 252). Im nachlässigen Tragen der Kleidung zeigt sich möglicherweise eine Anspielung auf die Adressatengruppe reformatorischer Theologie, den einfachen Mann (Price 2003, 247). Eine Deutung des Blattes erschließt sich erst aus der Zusammenschau dieser zunächst disparat erscheinenden Teile des Bildes. Diese stehen als Elemente einer vom Künstler inszenierten visuellen Topik miteinander in Beziehung und ergänzen einander in ihren
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Aussagen. Dabei rückt die Inschrift als Teil der bildlichen Argumentation in den Mittelpunkt, hier werden die erwähnten Deutungsfelder zusammengeführt. Der Text wurde nach Vorgaben aus humanistischen Kreisen gestaltet und verweist auf unterschiedliche Bezugsfelder (Ludwig 1998, 136, 137). Zum einen wird die Dichotomie zwischen Leib und Geist aufgerufen, die in humanistischen Bildinschriften vielfach zu Geltung gebracht wird, zum anderen bringt der Schöpfer des Bildnisses über das Eingeständnis seines Unvermögens ein verstecktes Künstlerlob ein, das sich wie folgt entfaltet. Der Gegensatz von darstellbarem,vergänglichem Äußeren und nicht darstellbarem Geist stellt einen Kontrast dar, der aus der Ansiedelung beider Aspekte auf unterschiedlichen Deutungsebenen des Personenbegriffs herrührt. Dieser inschriftlich behauptete Kontrast stellt eine bildrhetorisch genutzte Redefigur dar. Die Behauptung der Nicht-Darstellbarkeit wird durch die Evidenz des Bildes selbst widerlegt, setzt es doch in Absehung von der körperlichen Gestalt zugleich der geistigen Tätigkeit des Dargestellten ein Denkmal. Denn die Verwendung des Begriffes mens verweist auf Melanchthons philosophische Auseinandersetzung mit dem menschlichen Geist als Organ theologischer Erkenntnis und ist hier auf die philosophische Tätigkeit des Porträtierten hin auszudeuten, der auch theologische Erkenntnis in die der Philosophie entlehnten topischen Wissensstrukturen fasst und in solchen vermittelt. Dürer setzt das Äußere des Gelehrten in einer Weise um, die bei den Zeitgenossen höchstes Lob hervorrief (Panofsky 1943, 44), schuf er doch unter Verzicht auf Farben, denen ein hohes Illusionierungspotential eignet, ein gestochenes Bildnis mit dem Anschein unmittelbarer Lebendigkeit. Der Künstler thematisiert sich somit selbst in dem Begriff der docta manus, die der mens im Text gegenübergestellt ist, in Anwendung der Strategie bildlicher Überzeugungskunst. Diese stellt sich als Parallele zu dem Tun des Philosophen dar, der Zuhörer und Leser in seiner Lehre von deren Inhalt durch eine Vermittlung in Form von Topoi zu überzeugen sucht. Indem Dürer beider Tätigkeit in Text und Bild als geistige Aktion deutet, eröffnet er sich die Möglichkeit, die memoria des Dargestellten in Gestalt und Tätigkeit wie auch die implizite des Künstlers in der dauerhaft lebendigen Präsenz Melanchthons im Bild mit jedem Akt der Anschauung zu erneuern. Das Schauen des Betrachters setzt die Erinnerung an beider Handeln stets neu in Gang, und mehr noch: da der Akt des Sehens in aristotelischer Tradition Voraussetzung für Erkenntnis ist (Heinrichs 2007, 39), wird der sich das Bild schrittweise erschließende Betrachter in die Dynamik des sich vor seinen Augen entfaltenden bildrhetorischen Prozesses eingebunden, indem er ihn durch sein eigenes Tun nachvollzieht und so an ihm teilhat. Die Präsenz beider Aspekte, des körperlichen wie des geistigen, sichert auch letzterem ein Überleben im Bild, solange Menschen das Bild betrachten, wobei hier sowohl das bildliche Überleben des Gelehrten wie auch des Künstlers selbst in deren geistigen Vollzügen gemeint ist. In zahlreichen Nachschöpfungen dieser zu ihrer Zeit bereits berühmten Bildfindung tritt die Komplexität der Bildaussage hinter dem schieren Zitat der Physiognomie des Gelehrten zurück. Auch die aemulatio, die wetteifernde Nachahmung, die sich auf den Schöpfer, weniger jedoch auf den Dargestellten bezieht, nimmt häufig allein die Züge Melanchthons in den Blick, nicht jedoch den humanistischen Modus der Verbildlichung.
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Dies zeigt sich im Auslassen der Inschrift, die als wesentlicher Bestandteil von Dürers Bildfindung unabdingbar für die Deutung seines Melanchthon-Bildnisses ist.
Das gestochene Melanchthon-Bildnis von Georg Pencz, 1530 Der Monogrammist I. B., wohl identisch mit dem Nürnberger Maler und Kupferstecher Georg Pencz, schuf im Jahr 1530 einen Kupferstich, der das Bildnis des Gelehrten im Brustbildformat im Dreiviertelprofil nach rechts gewandt zeigt (Behrends 1997, 120, 121, Abb.). Melanchthon trägt eine Schaube, deren Kragen offensteht, und einen über das linke Ohr herabgezogenen, breitkrempigen Hut. Eine vorgeblendete Inschriftenkartusche trägt das Motto Melanchthons aus Röm 8,31: „SI DEUS PRO NOBIS QVIS CONTRA NOS“. Das Bildnis, dem höchstwahrscheinlich eine Studie nach dem Leben zugrunde liegt, ist als Pendant zu einem nach links gewandten Luther-Porträt gearbeitet. Dieses Bildpaar stellt die erste Zusammenstellung beider Reformatorenporträts dar, die durch die Bildfindungen aus der Cranach-Werkstatt in Wittenberg wenige Jahre später weite Verbreitung erfuhr. Durch diese Kontextualisierung, unterstützt durch das inschriftlich wiedergegebene Bibelwort, ist Melanchthon nun als Reformator der Kirche und Mitstreiter Luthers charakterisiert. Die Bezugnahme auf den Humanisten Melanchthon tritt zurück. Allerdings stellt sich auch angesichts dieser sparsam instrumentierten Bildfindung die Frage, inwieweit visuelle Topoi in die Personendarstellung eingearbeitet sind, die auf humanistische Bildnis- und Personenkonzepte verweisen. Melanchthons versonnener Blick lässt sich durchaus in Übereinstimmung bringen mit den Attributen des Melancholikers, als der Melanchthon ob der mit dieser Gemütsverfassung einhergehenden Geistestiefe in Anwendung der Vier-Temperamenten-Lehre gilt.
Das gemalte Kapselbildnis Melanchthons von Hans Holbein d.J., 1530er Jahre Das um das Jahr 1535 entstandene Kapselbildnis Melanchthons von der Hand Hans Holbeins d.J., dessen Boden verloren ist, nimmt in der auf dem Deckel angebrachten Inschrift: „QUI CERNIS TANTUM NON, VIVA MELANTHONIS ORA, / HOLBINUS RARA DEXTERITATE DEDIT“ auf den Dürer-Stich im Sinne einer aemulatio Bezug, indem er diesen in der nun gelungenen Darstellung auch des Geistes zu übertreffen behauptet (Dülberg 1990, 41, 272, 273, Abb. Taf.250, Nr. 650, 651). Die komplexe bildliche Argumentationsstruktur der Vorlage ist hier auf den von Dürer im Bild widerlegten Widerspruch der beiden Personenkonzepte reduziert. Doch setzt es, anders als dieses, Farbe ein, um die Behauptung einzulösen und in der durch „seltene Kunstfertigkeit“ hervorgebrachten Unmittelbarkeit der Erscheinung auch die geistige Tätigkeit Melanchthons zu visualisieren und damit zu memorieren. Über die Umstände der Ent-
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stehung ist nichts bekannt, möglicherweise fertigte Holbein das Bildnis während seines zweiten Englandaufenthaltes für einen dortigen Auftraggeber an (Ploeg 2003). Die Autorschaft der Inschrift wird heute dem englischen Hofbibliothekar John Leland zugewiesen. Maler und Dargestellter sind sich persönlich wohl nie begegnet, sowohl der Dürer-Stich als auch Porträts aus der Cranach-Werkstatt konnten Holbein als Vorlagen gedient haben.
Gemalte Melanchthon-Bildnisse aus der Cranach-Werkstatt in Halbfigur- und Brustbildformat Gemalte Bildnisse von Philipp Melanchthon aus der Wittenberger Werkstatt Lucas Cranachs d.Ä. sind nicht vor 1532 nachweisbar (Holste 2004, 190). Das Rundbildnis Melanchthons kleinen Formats, das Cranach d.Ä. auf einem universitären MatrikelSchmuckblatt wiedergibt, orientiert sich am Kupferstich von Pencz unter Auslassung der Inschrift (Behrends 1997, 123, Abb.). Weitere Rundbildnisse, die den Gelehrten im knapp bemessenen Brustbild zeigen, finden sich ab dem Jahr 1540 häufig auf Titelblättern von gedruckten Melanchthon-Schriften. Die Tafelgemälde aus der Werkstatt Lucas Cranachs d.Ä. mit der Darstellung des Gelehrten können verschiedenen Darstellungstypen zugeordnet werden und bilden innerhalb dieser Varianten aus (Kokoska 1995). Gemälde mittleren Formats zeigen den Reformator, weniger den in seiner philosophischen Tätigkeit Begriffenen. Sie geben den Universalgelehrten in schwarzer Schaube wieder, der Tracht der Universitätslehrer, in Halbfigur oder knapper bemessenem Brustbildformat im Dreiviertelprofil nach links gewendet vor grauem oder blauem Grund, wobei in erstgenanntem Fall die Hände sichtbar bleiben. Diese können ineinander verschränkt sein oder eine Schriftrolle halten, die als Confessio Augustana gedeutet wird. In Bildnissen gleichen Typs, die Melanchthon in fortgeschrittenem Alter zeigen, ist diese gegen ein geschlossenes oder aufgeschlagenes Buch ausgetauscht. Die dann zumeist lesbar gestalteten Zeilen stellen in diesem Fall variierende Kompilationen von Kirchenväterzitaten dar. In den 1540er Jahren trägt Melanchthon auf Bildern dieser Art ein ebenfalls zur universitären Kleidung gehörendes Barett, während er zuvor barhäuptig dargestellt wird. Der Spitzbart des Gelehrten ist nun zu einem längeren Vollbart geworden, Altersfalten prägen seine Physiognomie. Diese in Serie in der Cranach-Werkstatt produzierten Bildnisse sind wohl in allen Fällen als Pendants zu Luther-Bildnissen gleichen Typs gearbeitet. In Angleichung an diese trägt Melanchthon in Bildnissen seit 1559 über einem weißen Hemd ein rotes Wams unter der Schaube, die gelegentlich mit einem Pelz verbrämt ist. Diese Bildnisse des Reformators Melanchthon begründen eine reiche Rezeption vor allem in Holzschnitt und Kupferstich, die sich über Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart – dann auch in anderen Bildmedien – entfaltet. Erste Reflexe zeigen sich in kleinformatigen Holzschnitten teilweise nicht namentlich bekannter Künstler. Allerdings kann auch dieser Typus in einer Weise kontextualisiert
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werden, die Melanchthon vornehmlich in humanistische Bezüge einbindet. Dies wird im folgenden Beispiel anschaulich. Ein sehr qualitätvolles Miniaturbildnis Melanchthons von der Hand Lucas Cranachs d.J. findet sich in der zweibändigen, auf Pergament gedruckten Luther-Bibel Sigismunds von Brandenburg, die in Wittenberg bei Hans Lufft im Jahr 1560 erschien (Weigel 2012, 224– 231, 225, Abb.6). Auf einer Doppelseite stehen sich die Bildnisse Luthers und Melanchthons gegenüber. Auf der Rückseite der rechterhand angeordneten Darstellung Melanchthons findet sich ein von diesem eigenhändig eingetragenes Widmungsgedicht mit dem Titel De monarchiis. Beide Reformatoren sind in dem durch die Cranach-Werkstatt verbreiteten Typus des Halbfigurenbildnisses gehalten und einander zugewandt. Melanchthon stützt seine Hände auf eine Brüstung, der eine Inschrifttafel vorgeblendet ist. Er hält dem Betrachter ein aufgeschlagenes Buch entgegen, dessen Schrift für diesen lesbar ist. Sie ist von Melanchthon handschriftlich eingetragen und gibt ein Zitat aus der 37. Rede des Gregor von Nazianz über die Perikope Mt 19,1– 12 wieder. In deutscher Übersetzung lautet sie: „Alles,was richtig ist, ist von Gott. Es wird aber denen gegeben, die berufen sind und dem zustimmen.“ Die in Latein abgefasste Inschrift auf der Tafel gibt ein Lobgedicht des von Melanchthon geförderten Rhetorikers und Poeten Johannes Stigel mit dem Titel De libris Philippi wieder. Der Autor nimmt darin Bezug auf die Tätigkeit Melanchthons. Dessen Tun, das Hervorbringen von Schriften, die ausgewählt und mit wahrem Gutem erfüllt seien, vergleicht der Autor mit der Tätigkeit der Biene, die Blütensaft aus bunten Blumen sauge und aus dem feinen Nektar Honig erzeuge. Stigel nennt den scharfen Geist Melanchthons, der dies vollbringe. Melanchthon verwandte das Gregorzitat im Jahr 1559 in einer akademischen Rede über den Kirchenvater, um die Notwendigkeit kirchengeschichtlicher Studien zu betonen, weil aus ihnen die Auffindung von Belegen für die Wahrheit kirchlicher Lehren resultiere, also von Topoi, die als Argumente dienen können (Hasse 2000, 315, 316). Für den fürstlichen Betrachter stellt das Zitat eine Bestärkung darin dar, selbst zur „Kirche der Berufenen“ zu gehören. Während das Pendant mit der Darstellung Luthers diesen durch den biblischen Text in dessen Buch als Theologen ausweist, ist Melanchthon durch das Zitat des Kirchenvaters in seiner Tätigkeit als Philosoph charakterisiert, der theologische Inhalte topisch strukturiert (Hall 2014, 62– 65). Zugleich schlägt das Zitat eine Brücke zu dem fürstlichen Auftraggeber der Schrift, der als Auserwählter angesprochen wird. Diese Hauptaussage des Bildes wird durch die visuelle Argumentation unterstützt, die sich in der Abfolge von bildlichen Redefiguren entfaltet. Dazu zählt die mit malerischen Mitteln suggerierte körperliche Präsenz des Gelehrten, eine der bereits in der antiken Kunsttheorie geforderten Qualitäten der Bildniskunst. Dem Betrachter wird durch das Kirchenväterzitat der Weg der Texterschließung gewiesen. Dieses ist durch den eigenhändigen Eintrag durch den Gelehrten noch einmal aufgewertet. Die Authentizität des Geschriebenen vergegenwärtigt auf einer weiteren Ebene den im Bild anwesenden Gelehrten und bezeugt zugleich dessen Lehrmethode topischer Wissensstrukturierung. Diese wird durch das Lobgedicht Stigels bekräftigt. Ohne Zweifel ist mit der Tätigkeit der Biene, die aus bunten Blumen
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süßen Nektar saugt und daraus Honig herstellt, der im Bild auf andere Weise demonstrierte Umgang Melanchthons mit der Kirchenväterliteratur gemeint.
Das gestochene Bildnis Melanchthons von Heinrich Aldegrever von 1540 Die vielfach belegten Gemälde aus der Cranach-Werkstatt lieferten auch die Vorlagen für das Kupferstichbildnis Melanchthons von der Hand des in Soest ansässigen Malers und Kupferstechers Heinrich Aldegrever, das dieser im Jahr 1540 schuf (Zschelletzschky 1933, 100 – 103; Luckhardt 1985, 59). Nach humanistischer Darstellungsweise nimmt der Künstler Melanchthon im Brustbildformat in den Blick und platziert ihn hinter einer mit Inschrift versehenen Brüstung (Abb. 2). Möglicherweise ist hierin ein Zitat des Melanchthon-Stiches von Dürer zu sehen. Die Inschrift lautet: „PLVRIMA QUI RELEGIS DOCTI MONVMENTA PHILIPPI / ILLIVS HIC ETIAM QUAE SIT IMAGO VIDES / LVSTRA NOVEM VITAE DEMPTIS TRIBUS EGERAT ANNIS / TALIS VBI VVLTV CONSPICIENDVS ERAT / PHILIPPVS MELANTHON M D XXXX“ („Du, welcher die zahlreichen Werke des Gelehrten Philippus liest, siehst hier auch, wie er aussieht. 42 Jahre war er alt, als er so anzuschauen war. Philippus Melanchthon 1540“, Luckhardt 1985, 58). Sie wird ergänzt von dem oberhalb der Figur genannten Wahlspruch Melanchthons aus dem Römerbrief. Aldegrever zählte im 16. Jahrhundert zu den bedeutendsten Künstlern in Westfalen. Er hatte sich der protestantischen Lehre angeschlossen, war aber wohl weder Luther noch Melanchthon persönlich begegnet (Lorenz 2002, 94). Auch der Kupferstich von Pencz muss als Vorlage in Erwägung gezogen werden. Aldegrever schuf sein Melanchthon-Porträt als Pendant zu einem Luther-Bildnis, zu dem ebenfalls die Bildschöpfungen der zuletzt genannten Künstler als Vorlage dienten. Aldegrevers Stiche wiederum wurden in einer Reihe von Nachschöpfungen bis ins 19. Jahrhundert hinein rezipiert.
Abb. 2: Kopie nach Heinrich Aldegrever, Bildnis Philipp Melanchthon, 1540, Kupferstich, 16,8 × 12,2 cm, Melanchthonhaus Bretten
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Das Altersbildnis Melanchthons in Holzschnitt-Technik von Lucas Cranach d.J. von 1558 Ein großformatiges Altersbildnis Melanchthons von Lucas Cranach d.J. in HolzschnittTechnik entstand 1558. Es zeigt den Gelehrten mit gekräuseltem Hemdkragen unter einem Wams, bekleidet mit einer pelzbesetzten Schaube im Brustbildformat (Behrends 1997, 132, Abb., Oppel 2015). Dieses Bildnis ist als Einzeldarstellung konzipiert und diente vielfach als Vorlage für neue Bildfindungen.
Melanchthon-Bildnisse aus der Cranach-Werkstatt im Ganzfigurenformat Lucas Cranach d.J. ist auch der Schöpfer der Ganzfigurenbildnisse Melanchthons in Holzschnitt-Technik, die nach Luthers Todesjahr 1546 vermehrt auftraten. Dies wird in der Forschung aus deren Zusammenhang mit dem Vorbild des Luther-Epitaphs in der Wittenberger Schlosskirche heraus erklärt (Slenczka, Luther 2011, 101, 102). In der zweiten Fassung war dort anstelle der ursprünglich vorgesehenen Bronzeplatte mit der ganzfigurigen Darstellung Luthers nach 1549 ein in der Cranach-Werkstatt gefertigtes Gemälde mit Luther in Ganzfigur in einer Bogennische aufgestellt (Arnulf 2011, 91– 93). Holzschnitte aus der Cranach-Werkstatt sorgten für eine rasche Verbreitung dieses Figurentypus. Nach dem Tod Melanchthons 1560 wurde dessen Grablege mit einem heute verlorenen Pendant versehen, das diesen in Ganzfigur zeigt. Gemalte Ganzfigurenbildnisse des Gelehrten entstanden erst als Nachahmungen des Epitaphgemäldes in der Wittenberger Schlosskirche. So zeigen die Außenseiten des Altars der Mönchskirche in Salzwedel Kopien der Gemälde von Luthers und Melanchthons Grablege. Auch dieses Bildnis des Gelehrten wurde durch Holzschnittfassungen verbreitet. Das gedruckte Porträt Melanchthons in Ganzfigur konnte als Titelblatt den Schriften Melanchthons vorgebunden sein, überlebte jedoch auch als Einzelblatt (Abb. 3). Es zeigt diesen, in Nachahmung seines Epitaphgemäldes, in universitärer Kleidung, das Barett in der Hand und barhäuptig. Seine Physiognomie ist stark von Altersfalten geprägt. Frühere Darstellungen des stehenden Gelehrten sind auf Altargemälden oder Epitaphen zu finden, doch zeigen sie Melanchthon innerhalb einer Gruppe von Reformatoren und sind daher nicht Gegenstand dieses Überblicks über die Einzelporträts. Bereits im Jahr 1543 jedoch entstand ein gemaltes Ganzfigurenbildnis Melanchthons, das Lucas Cranach d.Ä. anfertigte (Mechel 1814, Abb.). Es war in ein mit Bildnisminiaturen auf Pergament versehenes Stammbuch integriert, das neben einer Christus-Darstellung auch die Porträts der Kurfürsten Friedrichs des Weisen und Johann Friedrichs I. enthielt sowie diejenigen des Herzogs Johann Ernst zu SachsenCoburg und der Reformatoren Martin Luther, Philipp Melanchthon, Justus Jonas, Johannes Bugenhagen, Georg Spalatin und des Malers selbst. Das Werk befand sich in
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Abb. 3: Lucas Cranach d. J., Bildnis Philipp Melanchthon, 1561, Holzschnitt, koloriert, 25 × 15,2 cm, Melanchthonhaus Bretten
Berlin und ist im Zweiten Weltkrieg untergegangen, durch gestochene Reproduktionen aus dem 19. Jahrhundert jedoch bildlich überliefert. Melanchthon wurde auch hier im Verbund der „Wittenberger Gruppe“ gezeigt, sodass es sich eher um ein Gruppenporträt handelte als um ein Einzelbildnis.
Totenbildnisse Melanchthons von Lucas Cranach d.J. Nach seinem Tod am 19. April 1560 wurde Melanchthon ein letztes Mal porträtiert. Lucas Cranach d.J. fertigte am Totenbett ein Bildnis des Gelehrten an,von dem mehrere
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gemalte Fassungen existieren (Behrends 1997, 133). Diese dienten bis ins 19. Jahrhundert hinein als Vorlagen für kleinformatige Druckgraphiken.
Rezeption der Bildnisse Melanchthons von Dürer und aus der Cranach-Werkstatt in Porträtsammelwerken Zusammenstellungen von Biographien berühmter Männer existierten bereits in der Antike. In Italien wurde diese Form der literarischen memoria zu Beginn des 16. Jahrhunderts wiederbelebt, nun unter Hinzufügung von Bildnissen. Im nordalpinen Bereich verbreitete sich diese Gattung gegen Ende des Jahrhunderts rasch. In einige der bekanntesten und künstlerisch qualitätvollsten Sammelwerke ging das Bildnis Melanchthons ein. Sie werden im Folgenden vorgestellt. In Deutschland stellt die von dem Straßburger Verleger und Drucker Bernhard Jobin in Auftrag gegebene Porträtsammlung des Straßburger Juristen und Dichters Nicolaus Reusner, die knapp einhundert Gelehrte aufführt, das erste Werk dieser Gattung dar, das Bildnisse mit Authentizitätsanspruch in Kombination mit elaborierten textlichen Zeugnissen vom Wirken der Dargestellten präsentiert (Wartmann 1985, 48 – 50). Reusner hatte dementsprechend eigene und fremde Lobgedichte zusammengestellt. Jobin beauftragte den ebenfalls in Straßburg ansässigen Künstler Tobias Stimmer mit der Anfertigung von Holzschnittbildnissen. Das Buch im Oktavformat mit dem Titel Icones sive imagines virorum literis illustrium erschien im Jahr 1587, kurz nach Erscheinen der lateinischen Ausgabe erfolgte eine deutsche Edition, deren Texte inhaltlich verändert wurden. Eine zweite, lateinische, erschien im Jahr 1590 mit Erweiterungen. Stimmer war bereits im Jahr 1584 verstorben, sodass vorbereitende Zeichnungen wahrscheinlich auch von anderen Künstlern stammen. Die Holzschnitte bilden eine stilistisch homogene Gruppe. Die Bildnisse der Gelehrten und die darunter platzierten Lobgedichte sind mit unterschiedlich gestalteten Bordüren versehen. Die Porträts selbst sind eingerahmt von den in Drucktypen gesetzten Angaben zu Name und Berufs- oder Ehrenbezeichnung des Dargestellten und einem Distichon auf diesen sowie dessen Sterbejahr. Die Porträts sind in die derart konzipierten Informationen eingefügt, wodurch ihr Authentizitätscharakter hervorgehoben wird. Zwei wesentliche Aspekte werden somit akzentuiert: Das geistige, sich in der gelehrten Tätigkeit niederschlagende Bild sowie dasjenige äußere der körperlichen Erscheinung. Die Dargestellten sind im Brustbild im Dreiviertelprofil wiedergegeben, die jeweils ein geschlossenes Buch haltenden Hände bleiben sichtbar. In diesem Typus ist auch das Porträt Melanchthons gehalten (Abb. 4). Es geht auf die gemalten Altersbildnisse aus der Cranach-Werkstatt zurück beziehungsweise auf das Holzschnittporträt von Lucas Cranach d.J. von 1560. Die Vorlagen sind seitenverkehrt umgesetzt. Die hinzugefügten Inschrifttafeln, nicht Teil des Holzschnittes, sind als einfache Schriftfelder konzipiert. Innerhalb des Bildfeldes ist die Fläche hinter Melanchthon durch Parallelschraffuren als Raum
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Abb. 4: Tobias Stimmer (Vorzeichnung?), anonym, Bildnis Philipp Melanchthon, aus: Nicolaus Reusner, Icones sive imagines virorum literis illustrium quorum fide et doctrina religionis et bonarum literarum studia, nostra patrumque memoria, in Germania praesertim, in integrum sunt restituta, Straßburg 1587, bei Bernhard Jobin, Holzschnitt, 12,6 × 8 cm, Melanchthonhaus Bretten
kenntlich gemacht, der Gelehrte scheint sein Buch aus dem Bild hinausreichen zu wollen – ein einfacher, schon in den Cranach-Werken zu beobachtender Kunstgriff, der die Bildwirklichkeit mit der Realität außerhalb des Werkes zu verbinden sucht. Die vielschichtige Argumentationsstruktur, die dem gemalten Miniaturbildnis Melanchthons von Lucas Cranach d.J. zugrunde liegt, ist hier allein auf den Text verlagert, dessen Abfassung als Lobgedicht Überzeugungspotential einschließt. Jacques Granthomme, der aus den spanischen Niederlanden stammte, war ab 1588 als Kupferstecher und Verleger in Paris für die antiprotestantische Liga tätig, bevor er im Jahr 1596 im calvinistischen Heidelberg nachweisbar ist (Fries 2008). Der reformierte Frankfurter Verleger Theodor de Bry hatte im Jahr 1597 mit der Veröffentlichung eines mit Porträtkupferstichen von fünfzig Gelehrten versehenen Kompendiums begonnen. Ein hervorragender Kupferstecher aus Heidelberg wird als möglicher Mitarbeiter erwähnt, Granthomme jedoch nicht namentlich genannt. Dieser hatte seinerseits, möglicherweise unabhängig vom Frankfurter Projekt, bereits mit der Anfertigung zweier, nicht in Buchform nachweisbarer Porträtfolgen begonnen. In eine der beiden ist Melanchthon neben weiteren lutherischen Reformatoren und solchen reformierter Konfession aufgenommen. Auch hier diente das Altersbildnis aus der Cranach-Werkstatt als Vorlage, die seitenverkehrt rezipiert wird (Abb. 5). Dieser gegenüber ist der Kopf im Verhältnis zum Körper zu groß wiedergegeben, was einer guten Lesbarkeit der durch Stirnfalten und verschattete Wangenknochen gekennzeichneten Physiognomie geschuldet ist. Der Gelehrte trägt die Amtstracht der Professoren und präsentiert ein mit der unteren Schmalseite auf den Tisch aufgesetztes, geschlossenes Buch. Das Konterfei Melanchthons erscheint in ein mit Schriftspiegel versehenes Bildfeld eingetieft – wiederum handelt es sich darum, das Bildnis als authentisch zu kennzeichnen, indem die Wiedergabe der Vorlage selbst auf einer anderen Ebene angesiedelt ist als die textliche Zutat und dadurch als Zitat eines als
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Abb. 5: Jacques Granthomme, Bildnis Philipp Melanchthon, Ende 16. Jahrhundert, Kupferstich, 8,1 × 6,8 cm, Melanchthonhaus Bretten
bekannt vorauszusetzenden Bildes kenntlich gemacht ist. Bei der Textbeigabe handelt es sich zum einen um eine zweizeilige Inschrift mit dem Wortlaut: „PHILIPPVS MELANTHON, LVMEN GERMANIAE“ oberhalb des Bildnisses und zum anderen um ein mehrzeiliges, humanistischem Geist verpflichtetes lateinisches Lobgedicht von Paul Schede Melissus, in dem Melanchthon als Erneuerer von Wissenschaft und Sprachen, Religion und Glauben angesprochen wird. Dabei wird er in seiner Strahlkraft derjenigen der antiken Planetengötter gleichgestellt. Das Lobgedicht führt also den in der Überschrift genannten Ehrentitel weiter aus, ohne dass dies durch bildrhetorische Strategien unterstützt würde. Dem Melanchthon-Porträt von Dürer war ebenfalls eine Aufnahme in umfangreiche Porträtsammelwerke beschieden. Zwischen 1597 und 1599 erschien, herausgegeben von De Bry in Frankfurt a.M., das erwähnte Werk mit Bildnissen von fünfzig Gelehrten unter dem Titel Icones quinquaginta virorum illustrium. Der Autor ist JeanJacques Boissard, der das Konzept, wohl nach dem Vorbild Reusners, erstellte und Prosatexte in lateinischer Sprache verfasste (Wartmann 1995, 50 – 53).Vier Oktavbände enthielten Biographien und Kupferstichbildnisse von Dichtern, Gelehrten und Reformatoren des 16. Jahrhunderts. Zwei Darstellungskonzepte gelangen zur Anwendung. Melanchthons Bildnis gehört der zweiten Gruppe an (Abb. 6). Der Gelehrte ist hinter einer Bogenarchitektur wiedergegeben, auf einer Brüstung mit Inschrift ist Schreibzeug platziert. Die Architektur trägt die Inschrift: „PHILIPPUS MELANNTHON GERMANIAE PHOENIX“, während in das Brüstungsfeld ein lateinischer Text eingetragen ist: „Corpore parvus erat sed maximus arte philippus,/quam bene Germanis sic Philo
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Abb. 6: Robert Boissard, Bildnis Philipp Melanchthon, aus: Jean Jacques Boissard, Icones quinquaginta virorum illustrium, Frankfurt a. M. 1597 – 99, Radierung/Kupferstich , 13,7 × 10,6 cm, Melanchthonhaus Bretten
mela fuit“ („Körperlich klein, aber der Größte in der Wissenschaft war Philippus,/ Welch ein Segen war daher die Nachtigall für die Deutschen“, Schwinge 2000, 46). Die Inschriften spiegeln dasselbe humanistische Bildniskonzept, das den Bildfindungen von Dürer und Holbein zugrunde liegt. An Dürers Interpretation des Gelehrten als Rhetoriker orientiert sich der Vergleich Melanchthons mit der Nachtigall im Wortspiel, wobei die komplexe Bildargumentation des Nürnberger Künstlers nicht übernommen wird, sondern eine Beschränkung auf deren authentifizierenden Charakter vollzogen ist. Nun lautet die Botschaft: So unscheinbar das Äußere des Vogels, so unvergleichlich schön ist sein Gesang, hier übertragen auf die lehrende Rede. Das Bildnis wurde von Robert Boissard, einem Verwandten des Autors, gestochen. Im Jahr 1688 gab ein Neffe des Nürnberger Arztes Paul Freher dessen Sammlung von 2900 Gelehrtenbiographien in lateinischer Sprache unter dem Titel Theatrum Virorum Eruditione Clarorum in Nürnberg heraus. Diese werden ergänzt von insgesamt 1311 Kupferstichen, die auf 82 Tafeln zu je sechzehn den Lebensläufen der im literarischen Porträt vorgestellten Männer beigegeben sind. Das Werk ist nach Berufsgruppen geordnet, die den vier Universitätsfakultäten der Zeit entsprechen. Die Bio-
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graphien sind nach Abfolge der Todesdaten zusammengestellt und werden von bibliographischen Hinweisen beschlossen. Vier Stecher waren an der Erstellung der kleinformatigen Bildnisse beteiligt (Berghaus 1995, 130, 131). Sie nutzten die in den Porträtsammelwerken von Reusner und Boissard enthaltenen Bildnisse von Gelehrten als Vorlage. Das Bildnis Melanchthons findet sich im ersten der vier Teile des Werkes neben demjenigen von Bischöfen, Äbten und Theologen. Der unbekannte Stecher gab das Bildnis des Humanisten im Typus des Kupferstichs von Dürer wieder, der wohl über Boissard vermittelt ist (Abb. 7). Details wie das sich im rechten Auge spiegelnde Fensterkreuz, die in Dürers Bildfindung Teil der komplexen bildlichen Argumentation sind, gingen dabei verloren. In dem knapp bemessenen Brustbildausschnitt ist der offene Hemdkragen noch zu sehen, Melanchthon ist nun aber in einem Innenraum platziert, der durch Schraffuren hinter dem Oberkörper angedeutet ist. Das Feld, das bei Dürer die Inschrift trägt, ist nun kleiner gefasst und weist Name, Berufsbezeichnung und Wirkungsort aus. Melanchthon wird hier als Theologe bezeichnet. Zwar hatte er den Grad eines baccalaureus biblicus erreicht und vertrat zeitweilig Luthers Theologieprofessur, Dürer jedoch hatte ihn zuvor, wie oben dargestellt, als Humanisten, nicht als Theologen charakterisiert. Lediglich die Physiognomie Melanchthons lehnt sich an die bei Boissard bereits veränderte Dürersche Vorlage an, nicht aber die bildliche Botschaft. Die in der Inschrift übermittelte Information nimmt nicht Bezug auf das Epigramm im Dürer-Stich, vielmehr gleicht die Auswahl der Daten derjenigen aller anderen Stiche im Porträtwerk Frehers. Lediglich unter Verzicht auf die Vielschichtigkeit, die Dürers Bildfindung charakterisiert und die bei Boissard ein Echo in der anspielungsreichen Bildunterschrift findet, wird eine Angleichung an den ge-
Abb. 7: Anonym (Stecher B), Bildnis Philipp Melanchthon, aus: Paulus Freher, Theatrum Virorum Eruditione Clarorum, Nürnberg 1688, Kupferstich, 7,2 × 4,4 cm, Melanchthonhaus Bretten
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Abb. 8: Johann Jakob Haid, Bildnis Philipp Melanchthon, aus: Johann Jakob Brucker, Ehren=Tempel der deutschen Gelahrsamkeit, in welchem die Bildnisse gelehrter und um die schönen philologischen Wissenschaften verdienter Männer unter den Deutschen aus dem XV., XVI. und XVII. Jahrhundert, Augsburg 1747, Mezzotinto (Schabkunst), 21,4 × 14,2 cm, Melanchthonhaus Bretten
wünschten Darstellungsmodus erzielt. Allerdings wird diese Verkürzung ausgeglichen durch das umfangreiche, durch den Text vermittelte literarische Porträt Melanchthons. Das Altersbildnis Melanchthons von Lucas Cranach d.J.wiederum, das auch einem Kupferstich von Lucas Kilian als Vorlage diente, liegt dem Bildnis Melanchthons zugrunde, das Eingang in das von Johann Jakob Brucker initiierte Porträtsammelwerk mit dem Titel Ehren=Tempel der deutschen Gelehrsamkeit fand (Abb. 8). Dieses Kompendium, das in mehreren Abschnitten zwischen 1747 und 1749 erschien, ist der Nachfolger des Bildersaals deutscher Gelehrsamkeit, in dem Biographien zeitgenössischer Gelehrter um deren Bildnisse ergänzt sind (Zäh 1998). Diese wurden von dem Augsburger Stecher Johann Jakob Haid angefertigt, der das Werk auch verlegte. Das zweite Sammelwerk gleicher Art führt fünfzig deutsche Gelehrte des 15. bis 17. Jahrhunderts auf. Auswahlkriterium ist eine humanistische Bildung und Gelehrtentätigkeit. Die
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Darstellung Melanchthons im Oval von der Hand Haids zeichnet sich durch besondere bildliche Präsenz aus. Diese ist zum einen der Hinwendung zum Betrachter geschuldet, die durch einen starken Lichteinfall, der Gesicht und Hände hervorhebt, unterstützt ist. Zum anderen gelangt hier eine Technik, die Schabkunst, zum Einsatz, die aufgrund ihrer Nähe zur Malerei im 18. Jahrhundert besondere Popularität erreichte. Mit ihrer Hilfe konnten alle Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß stufenlos erzeugt werden. Durch diesen Kunstgriff gelang es, der bildlichen Erscheinung eines Menschen Unmittelbarkeit und Lebendigkeit in besonders hohem Maße zu verleihen, die seit der Antike zu den Anforderungen an die Porträtkunst zählten. Auch in diesem Fall ist das Bild, dessen Inschrifttafel sparsame Angaben zu Profession und Lebensdaten aufweist, komplementär zu der schriftlich fixierten Biographie Melanchthons zu sehen. In der Betrachtung der vorgestellten Porträtsammelwerke wird deutlich, dass Melanchthon stets mit den Mitteln humanistischer Nobilitierungsstrategien charakterisiert wird, wobei beide Aspekte, derjenige reformatorischer und derjenige humanistischer Tätigkeit, in die Bildschöpfungen Eingang finden. Die Rhetorik der humanistisch ausgerichteten Bildnisauffassung bildet dabei jedoch den Modus, in dem sich die Darstellung des Gelehrten entfaltet.
Graphische Melanchthon-Bildnisse im 19. Jahrhundert Akzentverschiebungen zeigen sich erst im 19. Jahrhundert (Weigel 2003, 175 – 177). Das betrifft nicht so sehr die weiterhin ungebrochene Rezeption der bekannten frühneuzeitlichen Bildnisvorlagen. Die Bildschöpfungen von Dürer und aus der CranachWerkstatt stellen auch in diesem Zeitraum mehrheitlich den Ausgangspunkt zeitgenössischer Porträtgestaltungen dar. Vielmehr wandelt sich die Art, wie jene bildlich inszeniert werden. Nun wird auf Inschrifttafeln vollständig verzichtet, man belässt es zumeist bei schlichter Namensnennung unterhalb der Figur. Der Gelehrte wird stehend, im Kniestück oder im Brustbildformat wiedergegeben, wobei dieses in einen ovalen Ausschnitt eingepasst sein kann. Inwieweit hierin eine Bezugnahme auf das antike Konzept der Bildnisbüste zu sehen ist, kann in diesem Rahmen nicht beantwortet werden. Ist Melanchthon in einem weniger sparsam instrumentierten Interieur dargestellt, so herrscht die szenische Einbindung in eine Handlung vor. Der Gelehrte wendet sich gelegentlich dem Betrachter jäh zu, als sei er eben durch diesen in seinen Studien unterbrochen worden. Dies stellt eine Weiterentwicklung der auf Rhetorizität angelegten Formulierungen des 18. Jahrhunderts dar. Das Buch in der Hand des Universalgelehrten und Reformators wird nun näher gekennzeichnet durch die Beschriftung Confessio Augustana auf dem Buchdeckel. Handelt es sich um eine Schriftrolle, so stellt diese ebenfalls die Bekenntnisschrift dar, nun in Gestalt eines öffentlich zu verlesenden Schriftstücks mit Urkundencharakter. In Parallele zu ver-
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Abb. 9: Wilhelm von Löwenstern, Bildnis Philipp Melanchthon, 1. Hälfte 19. Jahrhundert, Punktierstich/Radierung, 31,8 × 24, cm, Melanchthonhaus Bretten
gleichbaren Luther-Darstellungen, die stets die Bibel in der Hand des Hauptreformators abbilden, spielen diese Bildnisse Melanchthons auf das rechte Bekenntnis an, sind also Ausweis einer Selbstvergewisserung konfessionellen Profils. Die Physiognomie Melanchthons kann gegenüber den Vorlagen dahingehend abgewandelt sein, dass der Bart länger und fülliger ausfällt. In Kombination mit der zum Hausmantel umgedeuteten Gelehrtenschaube zeigt sich hierin eine Stilisierung des Gelehrten zum Kirchenvater neuzeitlich-protestantischer Prägung, dessen Autorität sich in der körperlichen Erscheinung ebenso wie in dem aufgeführten Schriftstück spiegelt. Um die Elemente des umwölkten Berges als Standfläche und der hinter diesem aufgehenden Sonne wird der Bildnistyp bei Wilhelm Baron von Löwenstern im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bereichert (Abb. 9). Nun erscheint Melanchthon als Prophet eines neuen christlichen Zeitalters. Ein kreativer Irrtum liegt der Rezeption einer angeblichen Melanchthon-Bildniszeichnung von Hans Holbein d.J. im 19. Jahrhundert zugrunde. Diese gehört zu dem Konglomerat von Holbein-Zeichnungen, das im 18. Jahrhundert im Londoner Kensington Palace wieder aufgefunden wurde und sich seither in der königlichen
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Abb. 10: Richard Dalton, Bildnis Philipp Melanchthon, 18. Jahrhundert, Radierung, 27,4 × 22,4 cm, Melanchthonhaus Bretten
Sammlung auf Schloss Windsor befindet (Parker 1945). Von fremder Hand wurde das Bildnis eines jugendlichen, bartlosen Mannes mit Barett irrtümlich mit dem Namen des Universalgelehrten versehen. Richard Dalton, Bibliothekar König Georgs III., fertigte von dem Fund unter dieser Prämisse eine Radierung an (Abb. 10), die auf dem Kontinent in verschiedenen druckgraphischen Techniken rezipiert wurde.
Melanchthon auf Münzen und Medaillen seit der frühen Neuzeit Münzen und Medaillen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Funktion. Während erstere dem Zahlungsverkehr dient, sind letztere ausschließlich der memoria einer Person oder eines Ereignisses gewidmet und als doppeltes Rundrelief konzipiert (Müller-Jahncke 1997). In Italien nach antiken Vorbildern entwickelt, erlangte die Bildnismedaille zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch nördlich der Alpen große Popularität. Nach ihrem Auftreten in herrscherlichem Kontext verbreitete sie sich in humanistischen Kreisen und im städtischen Patriziat. Die Präferenz für die Darstellung
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Abb. und : Friedrich Hagenauer, Medaille mit gekordelter Ringfassung mit dem Bildnis Philipp Melanchthons, , Blei, versilbert, Durchmesser , cm, recto und verso, Melanchthonhaus Bretten
von Personen im strengen Profil geht auf das Konzept antiker Münzbildnisse zurück und bewahrt in der frühen Neuzeit einen nobilitierenden Charakter. Zahlreiche, ab 1517 entstandene Medaillen zeigen die Konterfeis der Vertreter der Reformation. Melanchthon wird zum ersten Mal im Jahr 1525 im Doppelprofilbildnis zusammen mit Luther auf einer Medaille abgebildet, die wohl von dem 1526 in Diensten Herzog Albrechts von Preußen in Königsberg nachweisbaren Hans Schenck, genannt Scheusslich, stammt. Weitere Medaillen aus den Jahren bis 1540 zeigen Melanchthon jeweils auf der Rückseite, Luther auf der Vorderseite. Das Modell einer solchen Medaille, im Jahr 1540 im Umkreis des Joachimsthaler Medailleurs Wolf Milticz entstanden, wurde im selben Jahr vermutlich zur Schaffung der ersten eigenständigen Melanchthon-Medaille wiederverwendet. Sie zeigt Melanchthon mit breitkrempigem Hut im Profil, die Rückseite trägt erstmals in diesem Zusammenhang das Bibelzitat aus Ps 37,37: „Subditus Esto Deo Te Ora Eum“ („Sei Gott untertänig und bete ihn an“). Zwei bedeutende, vielfach in Medaillenkunst und Druckgraphik rezipierte Medaillenbildnisse des Gelehrten schuf Friedrich Hagenauer anlässlich eines Besuchs Melanchthons 1543 in Köln. Das Holzmodell befindet sich im Berliner Münzkabinett. Beide Bildnisse zeigen den Gelehrten im Profil nach links im knapp bemessenen Brustbildformat. Sie unterscheiden sich in der Kleidung. Zum einen ist Melanchthon in Schaube und Barett wiedergegeben (Abb. 11 und 12), zum anderen barhäuptig und lediglich mit einem Wams bekleidet. Die Rückseiten weisen jeweils das oben genannte Psalmzitat auf. Die letzte zu Lebzeiten Melanchthons angefertigte Medaille stammt wohl aus Heidelberg. Hergestellt von einem nicht namentlich bekannten Meister, zeigt sie den
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Gelehrten wiederum im Profilbildnis, barhäuptig und mit nun schütterem Haar. Anlass war der 61. Geburtstag des Gelehrten im Jahr 1558. Georg Schweigger, der Mitte des 17. Jahrhunderts in Nürnberg und Wien tätig war, griff für die Darstellung Melanchthons im Rahmen seiner achtteiligen Serie von Humanisten und Reformatoren auf den Dürer-Stich zurück. Ist Melanchthon auf Medaillen zur ersten Säkularfeier der Reformation 1617 sowie zu derjenigen des Augsburger Bekenntnisses 1630 selten dargestellt, so mehren sich im 18. Jahrhundert Medaillenbildnisse des Gelehrten nach Hagenauer (Blum 1997). Auch hier stellen die Jubiläen von Reformation und Augsburger Bekenntnis die Anlässe zu Prägung und Guss von Gedenkmedaillen dar. Die Profilbildnisse auf der Vorderseite werden mit reicher Bildsymbolik auf der Rückseite kombiniert. Jene löst die zuvor ausschließlich durch Text gestalteten Rückseiten ab. Die sich großer Beliebtheit erfreuenden Schraubmedaillen, die auf Papier gedruckte Darstellungen von Szenen der Reformationsgeschichte enthielten, weisen mit einer Ausnahme keine Bildnisse Melanchthons auf. Im 19. Jahrhundert erschien anlässlich des Reformationsjubiläums 1817 Melanchthon mit Luther im Doppelprofil auf Medaillen des preußisch-sächsischen Hoheitsgebietes. In den nach 1830 geschaffenen Medaillen tritt Melanchthon vermehrt in Einzeldarstellungen auf, Anlass der Prägung ist zumeist sein Geburts- oder Todestag. Hier wurden die bekannten frühneuzeitlichen Bildnisse von Dürer, Hagenauer, Holbein und aus der Cranach-Werkstatt als Vorlagen genutzt. In Nürnberg wurde im Jahr 1926 das 400-jährige Jubiläum der Gründung des Melanchthon-Gymnasiums mit einer Medaillenprägung begangen. Als Vorlage für das Konterfei des Gelehrten diente nicht der Dürer-Stich, sondern die Bildschöpfung Hagenauers, die Melanchthon barhäuptig zeigt. Die Umschrift nennt den Reformator und Praeceptor Germaniae. Anders verfährt der römische Medailleur Guido Veroi in seinem Entwurf für eine Medaille anlässlich der 450-Jahr-Feier der Nürnberger Institution. Er kombiniert Details aus dem Dürer-Stich, wie die Haartracht, mit dem längeren Bart der Hagenauer-Medaillen und weist in der Verwendung griechischer Schrift im Namenszug und der Darstellung der Eule der Athena auf den Humanisten Melanchthon hin, der im Kontext des Anlasses auch als Bildungsreformer repräsentiert wird. In der DDR wurde Melanchthon anlässlich seines 400. Todestages durch mehrere Medaillen gewürdigt, wobei sich diejenige des Melanchthonhauses in Wittenberg durch das Material hervorhebt. Es handelt sich um rotbraunes Böttgersteinzeug. Die Errichtung des Melanchthonhauses in Bretten als reformationsgeschichtliche Erinnerungsstätte 1897 löst bis in die Gegenwart Medaillenprägungen aus. Insbesondere der seit 1988 im Abstand von drei Jahren stattfindende Verleihung des Melanchthon-Preises an Wissenschaftler, die sich in ihrem Werk mit dem Gelehrten auseinandersetzen, verdanken sich neue Medaillenschöpfungen, die die bekannten Vorlagen des 16. Jahrhunderts nutzen, darunter auch das Bildnis von der Hand Aldegrevers. Die Medaille auf das Jubiläumsjahr 1997 dagegen rezipiert das Denkmal Melanchthons von Johann Friedrich Drake. Im selben Jahr wurde von der Bundesregierung eine Gedenkmünze auf Melanchthon mit dessen Bildnis nach Dürer herausgegeben. In Wittenberg wird die Erinnerung an den Gelehrten durch Münz- und Me-
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daillenprägungen ebenfalls bis in die Gegenwart wach gehalten, auch diesen liegen die bekannten frühneuzeitlichen Bildfindungen zugrunde.
Melanchthon-Denkmäler Nach vereinzelten Darstellungen Melanchthons im Relief auf Kirchenmobiliar des 17. und 18. Jahrhunderts sind rundplastische Denkmäler des Gelehrten erstmals im Kontext einer sich im 19. Jahrhundert entfaltenden Erinnerungskultur entstanden. Wiederum werden im Folgenden nur Einzelbildnisse in den Blick genommen. Johann Gottfried Schadow schuf zum Reformationsjubiläum 1817 Bronzebüsten von Luther und Melanchthon für die Eislebener Andreaskirche, die mehrfach rezipiert wurden (Eckardt 1990, 212, 213, Abb.). Auch in Bretten entstand aus demselben Anlass ein Melanchthon-Denkmal (Kammer 1997, 32, 33). Es zeigt eine Büste des Gelehrten als oberen Abschluss eines Obelisken. Dessen Inschriften thematisieren den Humanisten und Reformator gleichermaßen. Das Denkmal wurde zunächst in der Brettener Stiftskirche, der Taufkirche Melanchthons, aufgestellt. Heute befindet es sich im dortigen Melanchthonhaus. Im Jahr 1826 widmete die Stadt Nürnberg dem Mitbegründer des Gymnasiums aus Anlass der 300-Jahr-Feier der Gründung ein Denkmal, das von dem dort ansässigen Jakob Daniel Burgschmiet geschaffen wurde (Kammer 1997, 33). Es zeigt Melanchthon im ganzfigurigen Standbild aus Sandstein unter Bezugnahme auf die Bildschöpfungen der Cranach-Werkstatt mit Schaube und Barett. Neben ihm liegende Folianten tragen die Namen antiker Autoren, eine auf jenen aufrecht platzierte Bibel dient dem Gelehrten als Stütze. Die linke Hand vollführt einen Redegestus. Die Thematisierung des Humanisten hält sich mit derjenigen des Reformators die Waage. Wie in Nürnberg wurden in der Nachfolge auch in anderen Städten Melanchthon-Denkmäler in der Umgebung von Schulen aufgestellt. Zum 300. Todestag Melanchthons im Jahr 1860 wurde der Grundstein zu einer von dem Berliner Künstler Johann Friedrich Drake zu schaffenden Bronzestatue des Gelehrten auf dem Wittenberger Marktplatz gelegt, diese jedoch erst fünf Jahre später errichtet (Kammer 1997, 35, 36). Sie stellt das Pendant zu einer zu diesem Zeitpunkt bereits vorhandenen Luther-Statue dar und zeigt die Confessio Augustana in Gestalt einer Schriftrolle in der Hand des barhäuptigen Gelehrten, wie sie auf Graphiken der Zeit zu finden ist. Von diesem Denkmal wurde ein Nachguss in Zink angefertigt und 1864 vor der Brettener Hebelschule aufgestellt. Vor Planungsbeginn hatte man jedoch bei dem Straßburger Bildhauer Andreas Friedrich eine Statue Melanchthons in Sandstein in Auftrag gegeben, die diesen bekränzt und mit der halb entrollten Confessio in der Hand zeigt, den linken Fuß auf einen Stapel Bücher gestützt. Dieses ursprünglich für den Innenraum der Brettener Stiftskirche konzipierte Denkmal fand in den 1930er Jahren seine Aufstellung auf dem davor gelegenen Platz. Unterschiedliche Bildniskonzepte liegen den bronzenen Büsten Melanchthons zugrunde, die der Speyerer Bildhauer Wolf Spitzer im Umfeld des 450. Todestages des Gelehrten schuf. Orientiert sich der Künstler zum einen an dem von Cranach d.Ä.
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geschaffenen Altersbildnis, so reduziert ein radikalerer Entwurf den Humanisten auf die Darstellung seines Gehirns. Damit schließt sich der Kreis zu dem bereits im 16. Jahrhundert künstlerisch vielfach angefochtenen humanistischen Diktum, dass sich im Geist, nicht im Mimetischen das wahre Wesen eines Menschen zeige.
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Reichspolitik und Religionsgespräche
1 Einführung Aus berufenem Mund ist Melanchthon immer wieder als „Politiker“, „Kirchenpolitiker“ oder „politischer Berater“ beziehungsweise „politisch Handelnder“ bezeichnet worden. Im Kontext einer solchen Bezeichnung findet man dann meist gleich eine Problematisierung dieser Bezeichnung, indem entweder der Theologen- und Gelehrtenstatus Melanchthons betont oder die komplexe Vielfalt des politischen Geschehens im 16. Jahrhundert hervorgehoben wird. Melanchthon ist tatsächlich nicht einfach einzuordnen. Als Theologe und Universalgelehrter hat er auch eine Ethik des politischen Handelns entfaltet sowie sich selbst und seine Zeit in einem Koordinatensystem verortet, in dem Politik vor dem Hintergrund eines apokalyptischen Geschichtsverständnisses stattfand. Melanchthons Betätigung in reichs- und religionspolitischen Belangen ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Seine Tätigkeit auf der Ebene der sachlich eng miteinander verzahnten Reichsund Religionspolitik ist in zwei Bereichen besonders gut zu erfassen. Zum einen ist seine persönliche Mitwirkung an den Reichstagen und Religionsgesprächen auf Reichsebene in den Blick zu nehmen, zum anderen seine gutachterliche Tätigkeit zu religionspolitischen Angelegenheiten im Reich. In beiden Fällen agierte er im Auftrag seines jeweiligen Landesherrn beziehungsweise er hatte den Weisungen des kursächsischen Hofes zu folgen. Bei Gutachten erscheint er häufig als ein Mitglied der Wittenberger Theologengruppe, auch wenn er oft maßgeblich mit der Abfassung von Gutachten betraut war (Wolgast 1998, 179), auf Reichstagen und bei Religionsgesprächen war er dagegen gelegentlich als einziger Theologe oder einziger der Wittenberger Gelehrten besonders exponiert. Melanchthons Einfluss auf die Reichsreligionspolitik gestaltete sich in den Abschnitten seines Lebens unterschiedlich, auch wenn die Abgrenzung dieser Phasen im Detail unterschiedlich vorgenommen wird (Wolgast 1998, 182; Wartenberg 2000, 155; Kobler 2014, IX – XVI). Der folgende Beitrag bietet zunächst einen Überblick über Melanchthons persönliche Präsenz auf Reichstagen und Religionsgesprächen (Abschnitt 2). Dann wird auf eine Trias zentraler reichs- und kirchenpolitischer Themen eingegangen (Abschnitt 3): Melanchthons Stellung zum Widerstandsrecht (3.1), seine Haltung zur Konzilfrage (3.2) und sein Kaiserbild (3.3). Mit diesen Themen hatte sich Melanchthon in beachtlicher Kontinuität auseinanderzusetzen, weshalb sie auch in Gutachten, Briefen und sonstigen Schriften ihren Niederschlag gefunden haben. Abschließend werden wichtige Koordinaten der reichs- und religionspolitischen Tätigkeit Melanchthons zusammenfassend gewürdigt (Abschnitt 4). DOI 10.1515/9783110335804-009
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2 Die Präsenz Melanchthons bei Reichstagen und Religionsgesprächen Melanchthon war persönlich anwesend auf den Reichstagen in Speyer 1529, Augsburg 1530 sowie Regensburg 1541. Von reichspolitischer Relevanz war außerdem seine Teilnahme an mehreren Reichsreligionsgesprächen, insbesondere den Verhandlungen zwischen Theologen und Kirchenpolitikern in Worms 1540/41 und Regensburg 1541, die zeitgleich mit dem Reichstag stattfanden. Zum Reichsreligionsgespräch in Regensburg im Jahr 1546 wurde Melanchthon nicht abgesandt; nach den Regensburger Erfahrungen fünf Jahre zuvor war er auch froh darüber, sich nicht an diesen Wortspaltereien beteiligen zu müssen (MBW 4140: „Sed illas conventuum σκιομαχίας non amo.“, MBW.T 15, 79,7– 8). Das letzte Reichsreligionsgespräch, an dem Melanchthon persönlich beteiligt war, fand 1557 in Worms statt. Neben diesen Veranstaltungen, die für die Kirchenpolitik auf Reichsebene als entscheidend gelten dürfen, war Melanchthon an weiteren Religionsgesprächen und politischen Versammlungen beteiligt, die allerdings nur in mittelbarem Bezug zur Reichspolitik standen. Diese Veranstaltungen – vor allem das Marburger Religionsgespräch 1529, die Verhandlungen um die Wittenberger Konkordie 1536, der Schmalkaldische Bundestag 1537, der Frankfurter Fürstentag 1539, der Naumburger Theologenkonvent 1554 sowie die Verhandlungen um den Frankfurter Rezess 1558 (Scheible 1997a, 119 – 124, 217– 219; Janssen 2009, 70 – 73; Dingel 1997, 121– 143) – dienten in erster Linie der Beilegung innerprotestantischer Streitigkeiten. Sie sollten dann erst in zweiter Linie zu einer schärferen Profilierung des religionspolitischen Standpunktes der protestantischen Stände führen. Auch bei dieser zweiten Gruppe von Veranstaltungen, auf die an dieser Stelle hiermit nur pauschal hingewiesen wird, zeigt sich Melanchthons unermüdlicher Einsatz um theologische Fragen, von denen dann in der Folge vielfach auch religionspolitische Entscheidungsprozesse abhängig waren. Mit der Präsenz auf dem Reichstag in Speyer 1529 beginnt Melanchthons Verwendung als kursächsischer Delegierter. Die politische Konstellation auf dem Reichstag, die auf eine Erneuerung des Wormser Edikts hinauslief, hat Melanchthon sehr bald klar erkannt; dies hat ihn im Verlauf der Verhandlungen auch mit wachsender Sorge erfüllt (Kobler 2014, 86 – 87). Jenseits der offiziellen Handlungsebene und auf eine ganz eigene Weise reagierte er als reformatorischer Theologe und Gelehrter auf diese Herausforderung durch die Abfassung von gezielt adressierten Widmungsvorreden an den Kölner Dompropst Hermann von Neuenahr d.Ä. und an König Ferdinand. In beiden warb er für die Einheit der Kirche sowie für ein zukünftig abzuhaltendes Religionsgespräch (MBW 767 und 769; Claus 1529.10, 1529.12, 1529.28, 1529.30, 1529.31, 1529.36, 1529.57.1, 1529.57.2, 1529.68, 1529.79; vgl. Kuropka 2002, 136 – 138, 169 – 170). Die Speyerer Protestation barg für Melanchthon die Gefahr einer Spaltung des Reiches (MBW 772; Kobler 2014, 93). War er in Speyer noch lediglich beratend und im Hintergrund wirksam (Scheible 1997a, 104– 105), so ist er auf dem Reichstag von Augsburg 1530 als wortführender
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Theologe der kursächsischen Delegation in Erscheinung getreten (Scheible 1997a, 106 – 116; Janssen 2009, 19 – 49), was rechtfertigt, dies als „Melanchthons größte[n] Auftritt auf der reichspolitischen Bühne“ (Wartenberg 2000, 159) zu bewerten. „Das Bewußtsein der historischen Stunde [bei der Übergabe der Confessio Augustana, d.Vf.] und die Anspannung der vergangenen Wochen trieb den beiden [Brenz und Melanchthon, die bei der Verlesung nicht anwesend waren, d.Vf.] die Tränen in die Augen.“ (Scheible 1997a, 109; vgl. MBW 937) In den auf die Übergabe des Bekenntnisses folgenden Wochen zeigte Melanchthon sich auf unterschiedlichen Verhandlungsebenen und in diversen Verhandlungsgremien auf der Basis der Confessio Augustana in reformatorischen Zentralfragen unbeirrbar. Andererseits signalisierte er um des Friedens im Reich und der kirchlichen Einheit willen Bereitschaft zum offenen Dialog, der in die Abhaltung eines Religionsgespräches münden sollte (Kuropka 2002, 211– 232); die Ereignisse des Reichstages, die theologische Position der gegnerischen Partei, die Verquickung religionspolitischer Ziele mit machtpolitischen Komponenten verunmöglichten eine solche Zielsetzung. Die von Melanchthon während des Augsburger Reichstages gezeigte Verhandlungsstrategie, sein Kommunikationsverhalten, seine Verhandlungsbereitschaft, seine immer wieder geäußerten Besorgnisse und schließlich die daraus resultierende Belastung, die er persönlich empfand, wurden zum Gegenstand fundamentaler und bleibender Kritik (Kobler 2014, 123 – 283) – ja letztlich zu „eine[r] der wichtigsten Grundlagen für das negative Melanchthonbild“ (Kobler 2014, 123), das klischeehaft über Jahrhunderte weitergetragen wurde und sich in immer wiederkehrenden stereotypen Vorwürfen äußerte. Bereits befreundete Zeitgenossen vermerkten diesen Umstand, wie das Zeugnis des Joachim Camerarius (1500 – 1574) zeigt: Viele aber, denen die Friedensliebe Philipps, sein sanftes Gemüt und seine Abneigung gegenüber Streitigkeiten wohlbekannt war, argwöhnten, dass dies [das heißt die personelle Reduzierung des Verhandlungsausschusses, womit Melanchthon auf evangelischer Seite der einzige Theologe war, d.Vf.] heimtückisch von den Gegnern so eingerichtet worden sei. Man vermutete nämlich, dass sie sich schlau darum bemüht hätten, lediglich Philipp in diesem Gremium zurückzuhalten, damit umso leichter das erhalten werden könne, was sie keinesfalls verlieren wollten. In der Tat dachte Philipp damals, bei einer so großen und gefährlichen Angelegenheit allein gelassen, über alle Dinge nicht nur sorgfältiger nach, sondern untersuchte und diskutierte auch freimütiger und brachte auch Argumente bei, warum dieses oder jenes den heftig darauf drängenden Gegnern zugestanden werden müsse, damit durch intensive Erörterung die Wahrheit umso mehr hervorleuchte und gefestigt werde. Dies ist später durch die Auslegung der Böswilligen dahingehend verdreht worden, dass man über Philipp Melanchthon die Meinung fasste und das Gerücht ausstreute, welches ich vorhin schon genannt habe, obwohl er, wie der Ausgang bewies, völlig unschuldig war. Als man durch keinerlei Kunstgriffe eine Beilegung der Streitfragen erreichen konnte, ging man schließlich so auseinander,wie man es eben konnte, nicht aber,wie es eigentlich beabsichtigt war. Und dies waren also ungefähr die Ereignisse und Angelegenheiten dieses Jahres [1530, d.Vf.], an denen Philipp Melanchthon in leitender Stellung teilnahm. (Camerarius 2010, 118 – 119, § 42)
Das auch für die nachfolgenden Verhandlungen – insbesondere die Reichsreligionsgespräche von 1540/41 – bestehende Dilemma lag dabei in dem Umstand, dass „Melanchthon […] die Begrenzung seiner vordringlich theologisch-inhaltlich orientierten
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Arbeit durch die politischen Interessen der Fürsten [erfuhr]. Er war mehrfach nicht einverstanden mit deren Bevorzugung machtpolitischer Aspekte vor theologischen Entscheidungen.“ (Janssen 2009, 89) Melanchthon ist sich in dieser Hinsicht in allen reichs- und religionspolitischen Debatten immer treu geblieben. Die Gespräche in Hagenau 1540 fanden ohne Melanchthon statt, der krankheitsbedingt ausfiel und nur aus räumlicher Distanz die Verhandlungen verfolgte (Scheible 1997a, 126 – 128; Janssen 2009, 93 – 103). Bei den Fortsetzungsgesprächen in Worms war er aktiv beteiligt (Scheible 1997a, 128 – 131; Janssen 2009, 103 – 196), hielt die Veranstaltung jedoch von vorneherein für einen Hinterhalt (MBW 2540: „Numquam artificiosius nobis structae sunt insidiae quam praetextu huius congressus, in quo simularunt adversarii agendum esse de concordia, de sanandis ecclesiis.“ MBW.T 9, 442,4– 5). Dieser hatte seiner Ansicht nach zum Ziel, die evangelischen Stände zu spalten. In den theologischen Debatten in Worms kam Melanchthon eine Führungsrolle unter den evangelischen Theologen zu. Mit sehr gedämpften Erwartungen reiste Melanchthon dann nach Regensburg (MBW 2638, 2640). Im Zentrum der mühsamen Beratungen (MBW 2701– 2705) stand das Regensburger Buch, über das letztlich weder auf theologischer noch auf politischer Ebene eine Einigung erzielt werden konnte (Scheible 1997a, 132– 134; Janssen 2009, 196 – 280). Das Ergebnis der Reichsreligionsgespräche von 1540/41 verarbeitete Melanchthon in mehreren Veröffentlichungen, in denen er eine Auswahl von Dokumenten der Verhandlungen herausgab (Claus 1541.97, 1541.106; vgl. Augustijn 2001, 25 – 39; Janssen 2009, 281– 288). Auch beim letzten reichsweiten Versuch eines konfessionellen Ausgleichs, dem 1557 veranstalteten Wormser Religionsgespräch, kam Melanchthon – nun allerdings als Repräsentant nur eines reformatorischen Flügels – nochmals eine zentrale Rolle zu (Bundschuh 1988; Scheible 1997a, 226 – 240). Auf der Basis der CA plädierte er im inner- wie interkonfessionellen Parteienstreit vehement für eine Fortführung der Debatten im Dienste der kirchlichen Einheit (MBW 8328, 8332– 8334, 8336 – 8337, 8341– 8342., 8345, 8348 – 8352, 8358, 8360, 8362, 8382, 8393, 8403, 8425, 8441– 8442; Claus 1557.133; vgl. Kobler 2014, 396 – 397).
3 Zentrale reichs- und kirchenpolitische Themen Als repräsentative religionspolitische Themen auf Reichsebene, wie sie in Gutachten, Briefen und sonstigen Schriften Melanchthons begegnen, können gelten: die Stellung zum Widerstandsrecht, seine Haltung zur Konzilsfrage und sein Kaiserbild. In unterschiedlichen Phasen – besonders der gutachterlichen Tätigkeit – stand dabei je eines dieser Themen mehr im Vordergrund als die anderen. Doch liegt die sachliche Schnittmenge aller drei Themen auf der Hand. Häufig – bei allen Verhandlungen Melanchthons auf Reichstagen und bei Religionsgesprächen sowie in gutachterlichen Stellungnahmen – waren diese Themen auch mit theologischen Erwägungen verknüpft, die hier allerdings ausgeblendet werden müssen.
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3.1 Das Widerstandsrecht Im 1523 wurden die Wittenberger Theologen erstmals in einer für Kursachsen bedrohlichen Situation um Gutachten zur Frage ersucht, ob Widerstand gegen den Kaiser zulässig ist (Scheible 1997a, 100 – 101; Wartenberg 2000, 157). Melanchthon lehnte dies unter Verweis auf die Vertragstheorie kategorisch ab: Fürsten seien unter den gegebenen Bedingungen nicht befugt einen Krieg zu führen, um die Religion zu verteidigen; für Christen bestehe eine Leidenspflicht (MBW 263 – 264). Im Zusammenhang mit den Packschen Händeln wurde die Problematik 1528 wieder brennend aktuell. Auch hier schloss Melanchthon einen Präventivkrieg aus, selbst wenn sich der Verdacht einer militärischen Aggression des Kaisers (beziehungsweise seiner Verbündeten) erhärten sollte (MBW 671– 672, 675a, 696; vgl. Scheible 1997a, 102; Kuropka 2002, 134– 136). Die Argumentation basierte dabei vor allem auf dem Untertanenstatus der Fürsten gegenüber dem Kaiser (MBW 680). Einer juristischen Begründung des Rechtes auf Widerstand erteilte Melanchthon angesichts der im Nachgang des Speyerer Reichstages aufgekommenen Bündnispläne eine deutliche Absage (MBW 872). Die Sorge um die Aufrechterhaltung der von Gott gesetzten Ordnung ist das Leitmotiv für diese Position. Eine Wende in der Widerstandsfrage wurde nach dem Ende des Augsburger Reichstages 1530 vollzogen (Scheible 1997a, 117– 118). Zugleich trat die theologische Interpretation der Widerstandsproblematik hinter der juristischen in den Hintergrund (MBW 1091, 1111, 1125; vgl. Kuropka 2002, 232– 234). Die kursächsischen Juristen leiteten das Recht auf Widerstand nun aus dem – auch im Verhältnis zum Kaiser geltenden – Obrigkeitsstatus der Reichsfürsten ab. In den 1530er und 1540er Jahren ist die Widerstandsproblematik eng mit der Haltung der Protestanten zum mehrfach ausgeschriebenen Konzil verbunden. Daraus wiederum resultierte die Frage, ob gegen Beschlüsse eines von den evangelischen Ständen nicht anerkannten Konzils, die der Kaiser durchsetzen wollte, Widerstand erlaubt sei. Hierzu bemühten sich die Wittenberger Theologen in Gutachten um eine sowohl naturrechtliche als auch auf der Zwei-Reiche-Lehre fußende theologische Begründung des Rechtes auf Widerstand. Diese Position wurde in der Abfolge gutachterlicher Stellungnahmen aus Melanchthons Feder im Laufe der Jahre immer weiter vertieft (MBW 1818, 1831, 2121, 2352, 2377; vgl. Scheible 1997a, 126 – 127). Seit Anfang der 1530er Jahre spielt in die Widerstandsproblematik zusätzlich die Frage der Zulässigkeit eines Verteidigungsbündnisses, dann – im weiteren Verlauf des Jahrzehnts – auch die Frage einer Ausweitung des Schmalkaldischen Bundes hinein (MBW 1111, 1626, 2178, 2182). Im unmittelbaren Vorfeld des Schmalkaldischen Krieges knüpfte Melanchthon an frühere Äußerungen zum Widerstandsrecht an, akzeptierte nun einen Verteidigungskrieg gegen den Kaiser, jedoch keinen voreiligen Präventivschlag, solange die Absichten der Gegenseite nicht eindeutig identifizierbar seien (MBW 4276). Nach der Niederlage der protestantischen Bundesfürsten wurde der Schmalkaldische Krieg von Melanchthon als gerechter Verteidigungskrieg eingestuft (MBW 7134: iusta defensio
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[CR 9, 662]). Im Zusammenhang mit dem kaiserlichen Interim von 1548 riet er vom Gebrauch des Widerstandsrechtes angesichts der momentanen Macht Karls V. ab, ohne jedoch von seiner grundsätzlichen Haltung abzuweichen (MBW 5238 = Mel.Dt 2, 246 – 249). Trotz der Ablehnung durch Melanchthon (MBW 5105) wurde das Augsburger Interim durch eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren zum Synonym für das Unvermögen Melanchthons, diverse macht- und religionspolitische Interessen mit der theologischen Prämisse, die reine evangelische Lehre zu erhalten, in Einklang zu bringen. Aus diesem Unvermögen resultierte dann eine weitgehend unberechtigte Kritik an Melanchthon, die tiefe Spuren in der Beurteilung seines politischen Wirkens und seiner Persönlichkeit durch Zeitgenossen und die Nachwelt hinterlassen hat (Wartenberg 1988, 60 – 61; Wartenberg 1999, 182– 185; Kobler 2014, 332– 342, 485 – 512, 520 – 531).
3.2 Die Konzilsfrage Schon frühzeitig setzte sich Melanchthon 1521 mit seiner Schutzrede gegen das Lehrurteil der Pariser Fakultät auch mit Martin Luthers Haltung zum Konzil auseinander (VD 16 M 2432, P 767 u. a., dazu: Spehr 2010, 333 – 338). Im Kontext des Widerspruchs gegen den Speyerer Reichstagsabschied von 1529 begegnet der Gedanke an eine Berufung auf ein zukünftiges Konzil dann gehäuft in gutachterlichen Stellungnahmen Melanchthons und der Wittenberger Theologen (MBW 852, 1020 u. a.). Konkrete Vorstellungen (bezüglich der Unabhängigkeit des Konzils und seiner ausschließlichen Orientierung am Wort Gottes) artikulierten die Wittenberger in Gutachten des Jahres 1533 (MBW 1333 – 1335, 1341). Erneuert wurden die Argumente dann 1535/36 im Zusammenhang mit der Frage nach den Teilnahmebedingungen für das päpstlich ausgeschriebene Konzil. In diesem Zusammenhang wurde die Forderung nach einem freien – das heißt von päpstlicher Jurisdiktion unabhängigen – und von allen Ständen besuchten Konzil auf deutschem Boden besonders betont (MBW 1626, 1677, 1818, 1847, 1877; vgl. Janssen 2009, 61– 67). Auch nach dem Schmalkaldischen Krieg votierte Melanchthon skeptisch über die zu erwartenden Ergebnisse des bereits begonnenen (Trienter) Konzils und präferierte eine Fortsetzung der Religionsgespräche auf Reichsebene (MBW 4920; vgl.Wartenberg 1988, 66). 1552 mahnte er in einem für Moritz von Sachsen verfassten Schreiben die Verpflichtung des Trienter Konzils zu wahrer Lehre und Einheit an (MBW 6308). Auch die bis 1556 gereiften Pläne zu einem Nationalkonzil – über das auf einem Reichstag verhandelt werden sollte – fanden in der gegebenen Gestalt (päpstlicher Vorsitz, bischöfliches Stimmrecht, Majorisierung der Protestanten, Exekutionspflicht des Kaisers etc.) nicht Melanchthons Zustimmung (MBW 7856).
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3.3 Das Kaiserbild In die Lebenszeit Melanchthons fallen die Regierungsjahre dreier Habsburger Kaiser. Am Beginn von Melanchthons Wirksamkeit in Wittenberg hatte das letzte Jahr der Herrschaft Kaiser Maximilians I. schon begonnen. Bei den von Kurfürst Friedrich dem Weisen angeordneten Trauerfeierlichkeiten (MBW 41) nach des Kaisers Tod rezitierte Melanchthon eine selbst verfasste Rede (CR 11, 26 – 34; vgl. Claus 1519.5, 1519.29). Ganz dem humanistischen Herrscherlob verpflichtet, rühmte er den Verstorbenen als siegreichen Helden und weisen Förderer der Musen. Sein Nachfolger Karl V. trat erst 1530 verstärkt in den Blickwinkel Melanchthons, als beide auf dem reichspolitischen Forum des Augsburger Reichstages in Aktion traten. Der Wittenberger Theologe bemerkte damals die Zurückhaltung des Kaisers, der von den romtreuen Theologen zur Parteinahme zu ihren Gunsten beeinflusst wurde (MBW 989), und hoffte auf eine sachliche Auseinandersetzung. In den ab Anfang 1540 laufenden Vorbereitungen für das vom Kaiser vorgeschlagene Religionsgespräch wies Melanchthon mehrfach auf die an dieser Initiative ablesbare Friedfertigkeit Karls V. hin (MBW 2400, 2415, 2425). In dieser Zeit vermerkt er aber auch das häufige Zaudern des Kaisers (MBW 2426) und qualifiziert ihn – nach Luthers Aussage – aufgrund seiner zweifelhaften politisch-militärischen Erfolge als einen geblendeten Polyphem („Philippus dixit, esse exoculatum Poliphemum“,WA TR 4, 631,5042). Dennoch setzte Melanchthon auf die Gesprächsbereitschaft des Kaisers auch in Regensburg 1541 zunächst noch große Hoffnungen (MBW 2649, 2679; Augustijn 2000, 218; Mundhenk 2011a, 57). Dieser Optimismus zerschlug sich jedoch, als er Kenntnis erhielt von Vorverhandlungen (über das sogenannte Wormser Buch) sowie Geheimgesprächen, bei denen er nicht beteiligt war (Augustijn 2000, 218 – 220). Da sich Melanchthon auf dieser Basis nicht zu Kompromissen zwingen lassen wollte, kam es zu einer Beschwerde des Kaisers über seine Unnachgiebigkeit (Janssen 2009, 242– 244; Mundhenk 2011a, 59 – 61). In seinem Rechtfertigungsschreiben an Karl V. bat Melanchthon folglich um Entbindung von seinen Aufgaben (MBW 2700 = Mel.Dt 3, 32– 37), die ihm aber nicht gewährt wurde. Der Kaiser blieb von den kritischen Äußerungen Melanchthons während der Regensburger Gespräche und in ihrem Nachgang ausgenommen (Augustijn 2000, 225 – 226). Ihn und seinen scheinbar auf Frieden gerichteten Verhandlungswillen (MBW 2773) lobte Melanchthon ebenso wie die Gewährleistung einer freien Diskussion durch das Reichsoberhaupt (MBW 2816 – 2817; 2865; vgl. Janssen 2009, 282– 283; Mundhenk 2011a, 62). Noch im Verlauf des Schmalkaldischen Krieges beklagte Melanchthon Karls Hass auf die Protestanten (MBW 4601). Der Wittenberger Theologe hatte sich mit seinem Verhalten während des Krieges und danach vorübergehend die Ungnade des Kaisers zugezogen (MBW 5121; vgl. Kobler 2014, 335 – 336). Im Vorfeld des Fürstenaufstandes hatte sich Melanchthon aus eigener Initiative mit einer Stellungnahme geäußert, in der er einen Krieg gegen den Kaiser für unverantwortbar hielt (MBW 6250). Dies war eines der wenigen politischen Gutachten für Moritz von Sachsen und es blieb ungehört.
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Nach der Abdankung Karls V. befürchtete Melanchthon negative Auswirkungen (MBW 8522). Karls Nachfolger auf dem Kaiserthron, Ferdinand I., war bereits 1529 Adressat einer Widmungsvorrede zu einem (damals nicht erschienenen) DanielKommentar (MBW 769; vgl. Scheible 1997a, 103; Kuropka 2002, 158 – 169; Kobler 2014, 90 – 91). Diese Widmungsvorrede war mit der ausdrücklichen Hoffnung verknüpft, Ferdinand möge als Statthalter des Kaisers für ein Religionsgespräch, für Kirchenreform und Eintracht sorgen. In Briefen des Jahres 1531 – also in der Zeit nach der Königswahl des jüngeren Bruders von Karl V. – äußerte Melanchthon jedoch auch Vorbehalte gegenüber dem Friedenswillen Ferdinands (MBW 1116, 1120). Eine derartige Skepsis gegenüber Ferdinand fand sich bei Melanchthon noch im Verlauf der Reichsreligionsgespräche 1540/41 (MBW 2465a). Kritisch vermerkte er damals auch dessen Herrschaft in den Habsburgischen Erblanden, die er für evangeliumsfeindlich hielt (MBW 2742). In späteren Jahren – so etwa 1548 – schien Ferdinand verschiedentlich seinem Unmut über Melanchthon Ausdruck verliehen zu haben (MBW 5118; 5294, 5318). Dagegen registrierte Melanchthon positiv die Beharrlichkeit Ferdinands zur Fortsetzung des in Worms 1557 auch aufgrund innerprotestantischer Gegensätze gescheiterten Religionsgesprächs (MBW 8433, 8468, 8473 – 8474). Im Nachgang des Herrschaftsantritts von Ferdinand als Kaiser formulierte Melanchthon im Auftrag von August von Sachsen eine Stellungnahme zur Frage nach den päpstlichen Rechten bei der Kaiserwahl. Das vom Papst beanspruchte Recht auf Bestätigung des Herrschaftsübergangs negierte Melanchthon dabei sowohl nach göttlichem als auch nach menschlichem Recht (MBW 9000). In seinen politischen Voten zur Person des Kaisers und zum Kaiseramt argumentiert Melanchthon vielfach unter Heranziehung historischer Beispiele. Das Kaisertum besitzt für ihn eine geistig-religiöse Autorität, die kirchliche Einheit und friedliche Eintracht im Reich verbürgt. Entsprechend dieser Prämisse gab sich Melanchthon lange der trügerischen Hoffnung hin, der Kaiser würde als neutrale Instanz den Anliegen der evangelischen Stände Gehör schenken und in ihrem Sinne für die Einheit der Kirche im Reich Sorge tragen. Die Institution des Kaisertums und die Person Karls V. standen für ihn jenseits aller Kritik (Wartenberg 2000, 155. 168). Sogar noch in der Zeit nach dem Tod Karls V. und bis zu seinem eigenen Lebensende hatte er deshalb – in Verkennung der tatsächlichen religionspolitischen Absichten und Möglichkeiten des verstorbenen Kaisers – dessen Konzilspläne und positive Absichten in der Religionsfrage in der Rückschau gewürdigt (Oratio de congressu Bononiensi von 1559, vgl. CR 12, 307– 315 und Mel.Dt 3, 255 – 268; Claus 1559.79; Kobler 2014, 489 – 490). Ihren Nährboden fand diese weitestgehend positive Wahrnehmung des Kaisers durch Melanchthon in historischen Vorbildern (MBW 9000). Im Kontext von Melanchthons Bild des Kaisers beziehungsweise Kaisertums ist auch die Ablehnung der päpstlich-kurialen Translationstheorie zu sehen (Goez 1958, 286 – 292). In CA 28 führte er die Vermischung der beiden Gewalten durch die Bischöfe als Grund für Kriege an (BSELK, 186 – 193) und wies dann im Tractatus de potestate et primatu papae den Widerspruch der päpstlichen Ansprüche zum Evangelium nach (BSELK, 810/11– 814/15). Neben solchen grundlegenden Aussagen (vgl. auch die nicht
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eingereichte Denkschrift von 1540 MBW 2720a) mit ausgesprochenem Bekenntnischarakter begegnet das Thema des Verhältnisses zwischen Papst und Kaiser bei Melanchthon häufig situationsbedingt. So wusste Melanchthon etwa im Vorfeld der Kaiserkrönung beim Zusammentreffen zwischen Clemens VII. und Karl V. in Bologna von dem Gerücht zu berichten, der Kaiser habe dem Papst einen Fußkuss gegeben (MBW 841: „Nonnulli hic ferunt Caesarem iam de more Pontificis pedes adorasse“; MBW.T 3, 637, 11– 12). Im zeitlichen Umfeld der Resignation Karls V. und der Kaiserwahl Ferdinands I. thematisierte Melanchthon in einer Quaestio academica (An Romanus Pontifex ius habeat transferendae dignitatis Romani Imperatoris ut Principum Electorum?) kritisch das päpstlich-kuriale Translationsrecht (CR 10, 874– 877). Außerdem quittierte er die Anerkennung des Kaiserwürde Ferdinands durch Pius IV. mit Beifall, der somit klüger gehandelt habe als sein Vorgänger Paul IV. (MBW 9233). Im Einzelnen bedarf Melanchthons Wahrnehmung der zeitgenössischen Kaiserpersönlichkeiten und des Kaisertums als Institution noch der wissenschaftlichen Bearbeitung.
4 Zusammenfassung: Dialogbereitschaft und Friedenssicherung als politische Handlungsmaxime Die Bemühungen Melanchthons bei seinen Tätigkeiten als Gutachter in reichs- und religionspolitischen Fragen sowie als Delegierter auf Reichstagen und Religionsgesprächen waren stets auf Gesprächsbereitschaft ausgelegt (Janssen 2009). Dabei stand er der Lauheit „erasmisch“ geprägter Ausgleichspolitik gegenüber (vgl. dazu die zahlreichen Ausgaben und Übersetzungen der Schrift De officio principum [CR 16, 85 – 105 = Mel.Dt 2, 199 – 225 – in erster Ausgabe 1539 erschienen; vgl. Claus 1539.80]), die ihm vor allem in den 1530er Jahren verschiedentlich begegnet war und die er letztlich als Versäumnis der entsprechenden Obrigkeit hinsichtlich ihrer cura religionis einstufte (Estes 2001, 83 – 87). „Philipp Melanchthon war kein Politiker und dachte auch nicht in Kategorien der Politik. Sein Interesse an politischen Vorgängen und Ereignissen stand immer im Kontext des Strebens nach Bewahrung der reinen Lehre, Erhaltung der christlichen Gemeinde und Förderung der humanistischen Studien sowie Sicherung der äußeren Ordnung als Erhaltungsordnung Gottes.“ (Wolgast 1998, 179) Aufgrund dieser Prämissen seiner politischen Wirksamkeit wurde Melanchthon in wachsendem Maße in seinen Zielvorstellungen pragmatisch (Wolgast 1998, 202– 203, 207). Er hielt auch bei zunehmendem Verlust seiner politischen Einflussmöglichkeiten und wachsender Kritik an seinem kirchenpolitischen Handeln an seiner Bereitschaft zum Dialog fest, in welchem er das einzige Mittel sah, den Frieden und die Einheit der Kirche zu wahren.
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Innerprotestantische Streitigkeiten
Die Freunde und Anhänger Philipp Melanchthons haben das Bild des Praeceptor Germaniae als eines sanften und konfliktscheuen Menschen sorgfältig kultiviert (Wengert 1995, 115 – 131). Melanchthon wusste jedoch genau, wann er in Bezug auf die Wahrheit keine Kompromisse schließen durfte. So kritisierte er zum Beispiel sehr scharf seinen ehemaligen Studenten Theobald Thamer, als dieser zur römischen Kirche zurückkehren wollte (zu Thamer MBW 6775, 49 – 50, 6778; Briefe an: Johann Förster, 27. 3.1553, CR 8, 56, MBW 6776; Hieronymus Schwolle, 29. 3.1553, CR 8, 58, MBW 6781; Andreas Musculus, 12.4.1553, CR 8, 68, MBW 6798). Sein Schüler und Kollege Veit Winsheim berichtete in seiner Trauerrede für Melanchthon, dass dieser sich 1530 in Augsburg wie unter „Löwen, Wölfen und Bären“ gefühlt habe, als er an der Wittenberger Bekenntnisschrift gearbeitet habe. Er habe jedoch seinen Gegnern mutig standgehalten, auch den massiven Drohungen des päpstlichen Legaten Lorenzo Campeggi (Winsheim 1560, C1a – C1b; Wengert 2012d, 79 – 122). Besonders am Herzen lag Melanchthon die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Jesus Christus. Hier bezog er sowohl in der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche als auch mit Kontrahenten im protestantischen Lager deutlich Position (Dingel 2012a, 397– 408; Dingel 2007, 95 – 111). Besonders hart und kompromisslos formulierte er seine Kritik, wenn er den Eindruck gewann, dass die Rechtfertigungslehre durch Rituale und Gebräuche entstellt wurde, die er nur als abergläubisch bezeichnen konnte (Melanchthon 1558a, MSA 6, 335 – 364; Kolb 2012a). Melanchthon war indes auch fähig, um des Friedens willen Kompromisse zu schließen und Zugeständnisse zu machen – aber nur in Fragen, in denen es seiner Einschätzung nach nicht um die Wahrheit des Evangeliums ging (Melanchthon 1534, CR 2, 743 – 776; Mentz 1905; Dingel 1998, 105 – 122; Arand 2006, 211– 227). In einer späteren Phase seines Lebens versuchte er für längere Zeit, sich aus dem Theologenstreit über die Anwesenheit Christi im Abendmahl herauszuhalten. Nach zehn Jahren voller Streit, Verdächtigungen und Verratsvorwürfen sah er sich allerdings in den 1550er Jahren genötigt, seine eigenen Überzeugungen zu diesem Thema zu publizieren – in der Hoffnung, die Debatte damit zum Ende bringen zu können (Wengert 2012b, 208 – 235). Die Kritik an einer seiner Meinung nach abergläubischen Interpretation des Abendmahlsakraments fiel dann sehr scharf aus. Der Streit um die Anwesenheit Christi im Abendmahl begann im evangelischen Lager mit der Auseinandersetzung zwischen Martin Luther und seinem Wittenberger Kollegen Andreas Bodenstein genannt Karlstadt. Hier zeigte sich, dass Luther und Karlstadt einen vollkommen verschiedenen Begriff von Kirchenreform hatten. In dem Streit zwischen den beiden Wittenberger Professoren wurde deutlich, dass Karlstadt von einem biblisch-moralistischen und antiklerikalen, von einem ebenso antisakramentalen wie chiliastischen Idealbild der Kirche her argumentierte – ein Idealbild, vor dessen Hintergrund in gut mittelalterlicher Tradition „Häresien“ diagnostiziert wurDOI 10.1515/9783110335804-010
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den. Melanchthon ergriff in diesem Streit für Luther Partei, indem er zunächst Stellungnahmen gegen Karlstadt und dann auch gegen das Abendmahlsverständnis von Ulrich Zwingli und Johannes Oecolampadius publizierte. In seinem eigenen Verständnis des Abendmahls werden allerdings auch Unterschiede zu Luther erkennbar (Hund 2006, 66 – 87). Melanchthon setzt für die Frage der Anwesenheit Christi im Abendmahl in der Auslegung der Christologie andere Schwerpunkte als Luther.Wegen seiner Christologie lehnte er in den 1520er Jahren eine Trennung der beiden Naturen in Christus ab, wie er Zwinglis Verständnis von der Notwendigkeit kritisierte, dass die menschliche Natur an einem Ort, nämlich zur Rechten des Vaters im Himmel, bleiben müsse. Er verstand die Erhöhung Christi zur Rechten Gottes als Teilhabe an der göttlichen Kraft, wie Luther. Diese Position vertrat er öffentlich 1529 in Marburg im Gespräch mit Zwingli und Oecolampadius und auch danach. Aber schon in den späten 1520er Jahren teilte er Joachim Camerarius mit, dass er Luthers manducatio oralis nicht akzeptieren könne (MBW.T 610,48 – 52). Er würde die communicatio idiomatum, die Teilung der Eigenschaften der beiden Naturen Christi, anders verstehen als Luther. Melanchthon war zu dieser Meinung durch eine intensive Beschäftigung mit den Schriften der Kirchenväter gelangt, unter denen er auch keine allgemeine Zustimmung zu einer Interpretation der Einsetzungsworte fand (Hoffmann 2011, 182– 245). Nach dem Tod von Zwingli und Oecolampadius im Jahr 1531 versuchte Melanchthon, über seine Kontakte zum Straßburger Martin Bucer mit den Nachfolgern der beiden Theologen eine Einigung in der Abendmahlsfrage zu erzielen. Er hoffte, diesen Streit mit der Wittenberger Konkordie von 1536 wenigstens teilweise geklärt zu haben (Jensen 2013, 167– 187). Über Bucer nahm Melanchthon auch Kontakt zu Johannes Calvin auf – eine spannungsreiche Beziehung. Melanchthon unterbrach mehrmals den Briefkontakt für mehrere Monate, als Meinungsunterschiede zwischen den beiden Reformatoren auftauchten. Der Wittenberger wollte offensichtlich den Streit nicht auf die Spitze treiben und zog es vor, die Feder für eine gewisse Zeit ruhen zu lassen. Die Konfliktpunkte in der Auseinandersetzung mit Calvin waren die Frage des freien beziehungsweise gebundenen Willens (zwischen 1542 und 1552) und Melanchthons Mitarbeit an dem Leipziger Landtagsentwurf von 1548. Weitere Spannungen traten auf, als Calvin (erfolglos) versuchte, Melanchthons öffentliche Unterstützung für seine Abendmahlslehre zu bekommen (Wengert 1999b, 19 – 44). Um das Jahr 1549/1550 brachen Streitigkeiten mit ehemaligen Studenten auf, die Melanchthon in seinem letzten Lebensjahrzehnt stark belastet und verbittert haben. Sie begannen im Umfeld des Augsburger Interims. Melanchthon hatte zwar zu dem kaiserlichen Edikt schon frühzeitig seine ablehnende Haltung bekräftigt (Dingel 2005, 292– 311). Ehemalige Studenten kritisierten allerdings scharf seine Zusammenarbeit mit dem neuen sächsischen Kurfürsten Moritz. Sie warfen ihm vor, den ehemaligen Kurfürsten Johann Friedrich I., der jetzt in kaiserlicher Gefangenschaft saß, im Stich gelassen und das theologische Erbe Luthers verraten zu haben. Die Kritik verschärfte sich nach dem Leipziger Landtagsentwurf von 1548, an dem Melanchthon mit einigen Wittenberger Kollegen federführend mitgewirkt hatte. Der Landtagsentwurf war der
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Versuch der neuen kursächsischen Regierung, mit theologischen Zugeständnissen den Einmarsch kaiserlicher Truppen zu verhindern – also ein Instrument kurfürstlicher Religionspolitik. Melanchthon wiederholte in seinen Beratungen mit der kursächsischen Regierung seine Überzeugungen, die er im Prinzip auch schon 1530 in dem Augsburgischen Bekenntnis niedergelegt hatte: Man dürfe nicht Gebräuche, die in der Heiligen Schrift weder befohlen noch verboten seien, die sogenannten Mitteldinge (Adiaphora), für den Glauben als heilsnotwendig erklären. Aber man sollte die Ordnungen, die den Unterricht im Evangelium und den Frieden in der Kirche befördern, beibehalten (BSELK, 110/111; Arand 2006). Religionspolitisch wurden diese Aussagen zur Grundlage für die Strategie, mit der Rückkehr zu einigen mittelalterlichen Gebräuchen die Existenz der evangelischen Kirche in Sachsen zu sichern. Zu den nach dem Leipziger Landtagsentwurf wieder einzuführenden Gebräuchen zählten die Verwendung von Glöckchen, Kerzen und Messgewändern, das kanonische Stundengebet und Seelenmessen; ebenso die Einhaltung der Fastentage und der zuvor abgeschafften Feiertage, wie zum Beispiel der Marienfeste und der Corpus-ChristiFeiern. Die Adligen sollten das Patronat für ihre Kirchen behalten, die Pfarrer jedoch von dem zuständigen altgläubigen Bischof ordiniert werden (Herrmann und Wartenberg 1992, 254– 260). Die kurfürstliche Regierung legte Ende Dezember 1548 im Landtag den Entwurf zur Abstimmung vor, der von den kursächsischen Ständen abgelehnt wurde. Die Zusammenarbeit mit dem Hof von Kurfürst Moritz hatte für Melanchthon dennoch gravierende Folgen. Sein ehemaliger Student und jetziger Kollege als HebräischLehrer, Matthias Flacius Illyricus, und dessen Studienfreund, der aus Regensburg ins Wittenberger Exil geflüchtete Nikolaus Gallus, besorgten sich eine Kopie des Landtagsentwurfs und veröffentlichten diesen mit einem polemischen Kommentar. Ihr Vorwurf: Melanchthon hätte nicht nur das theologische Erbe der Reformation verraten, sondern auch eine Unterwerfung der Evangelischen unter das Papsttum gebilligt (Flacius 1549). Die Publikation rief in der Wittenberger Öffentlichkeit sofort einen Sturm der Entrüstung hervor. Melanchthon erfüllte es mit besonderer Bitterkeit, dass der Angriff gegen seine Person von einigen seiner besten Studenten, mit denen er sogar befreundet war, geführt wurde. Es war für ihn nur schwer verständlich, dass sie seine Absicht, mit Kompromissen gegenüber Kaiser und katholischer Kirche einen Krieg gegen Kursachsen zu verhindern, als Verrat an der Sache Luthers brandmarkten. Seine Kritiker hatten in der Tat kein Verständnis für Melanchthons Argumentation in Bezug auf die theologischen Adiaphora, die Mitteldinge. In ihrem ersten Kommentar zum Landtagsentwurf, den Flacius und Gallus unter dem Titel Leipziger Interim veröffentlichten (Flacius 1549; zur Kritik am Leipziger Interim beziehungsweise Landtagsentwurf, Dingel 2012b), betonten die Kritiker Melanchthons die Notwendigkeit eines eindeutigen Glaubensbekenntnisses zur Wahrung der christlichen Freiheit und der Integrität der Kirche gegenüber der weltlichen Obrigkeit (Hase 1940). Melanchthon selbst griff in den anschließenden Flugschriftenkrieg nicht ein. Dafür verteidigten
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seine Schüler die kurfürstliche Position, zum Beispiel Johannes Pfeffinger aus Leipzig (Pfeffinger 1550) und der Wittenberger Kollege Georg Major (Major 1550; Wengert 1997a, 136 – 139). Die Debatten der Jahre von 1549 bis 1557 hatten für die Einschätzung der Adiaphora in Bezug auf die Integrität von Bekenntnis und evangelischer Kirche keine neuen Erkenntnisse gebracht. Vertreter der Wittenberger theologischen Fakultät starteten dann 1558 einen neuen Angriff auf die Kritiker des Leipziger Landtagsentwurfs, nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 – also zu einer Zeit, in der die erwogenen Konzessionen an Kaiser und katholische Kirche eigentlich gegenstandslos geworden waren (Kolb 2006, 191– 209). Melanchthons Name findet sich auf keiner Titelseite der Streitschriften dieser Zeit. Da allerdings seit den frühen 1520er Jahren viele Stellungnahmen der Fakultät intern abgestimmt wurden, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass diese Veröffentlichungen ohne Melanchthons Einwilligung und Beteiligung erschienen sind. Im Jahr 1558 war es leichter, die dem Landtagsentwurf eigentlich zugrunde liegenden Streitfragen anzusprechen: das Verhältnis von Kirche und Obrigkeit und die Frage des richtigen politischen Verhaltens der Kirche in einer Zeit der Verfolgung. Justus Menius, der zunächst im Dienst der sächsischen Herzöge Johann Friedrich II., des Mittleren, und Johann Wilhelm gegen die adiaphoristischen Zugeständnisse gewirkt hatte, dann aber 1557 an die Seite Melanchthons wechselte, rechtfertigte nun die kurfürstliche Politik. Man habe Kompromisse schließen müssen, weil man zuuorn offt vnd vielmals sich mit den Widersachern in gespreche vnd handlung eingelassen hett/ so solt man jm dismal auch thun/ vnd versuchen/ Ob man vielleicht die heuptstu[e]ck Christlicher Religion/ als nemlich die lere des heiligen Euangelij/ den gebrauch der heiligen Sacramenta/ nach der einsatzung des HErrn Christi/ sampt andern Go[e]ttlichen ordnungen/ wie die in Gottes wort vnd der heiligen Schrifft gegru[e]ndet sind/ rein vnd frey erhalten ko[e]nte/ das man also dann in etliche eusserliche menschliche ordnung/ die der heiligen Schrifft nicht entgegen/ vnd den glaubigen gewissen nicht verletzlich weren/ willigete. (Menius 1557, B4b – C1a)
Für die Wittenberger Kollegen war der Landtagsentwurf von 1548 der damals einzige Weg, eine „verwu[e]stung des Lands/ plnu[e]derung[!] der Sted/ leib vnd leben/ hon vnd schmach der Frawen vnd Jungfrawen/ schlachtung der Bu[e]rger/ zerstrewung vnd veriagung der Kirchendiener/ verwu[e]stung der Kirchen vnd Schulen/ zerru[e]ttung der Regiment/ zersto[e]rung aller Disciplin vnd zucht/ vnd was mehr grewlichs aus solchen Kriegen zuerfolgen pflegt“ zu vermeiden (Wittenberger Professoren 1559b, 317– b, 331a – 333b, Wittenberger Studentenschaft 1559a, Qqq2b – Qqq3b). Die Angriffe des Flacius auf Melanchthon, der den Studenten aus Illyrien großzügig empfangen und unterrichtet habe, erschienen den Wittenberger Professoren fast als ein Versuch des Vatermords. Abschätzig wiesen sie auch auf dessen slawische Herkunft hin (Wittenberger Studentenschaft 1558b, A2b – A3a, B4b – C4b). Flacius habe einen „verschmitzt/ list/ tu[e]ckisch vnd durchtrieben kopff […] den er vnter dem Phariseischen Schaffsbeltz verbirgt […]. Im anfang lobte er seines Preceptoris
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schrifften/ als ein listiger durtriebener Fuchs/ denn hette er seine schrifften sampt der person bald im anfang angegriefen […]. Da hebt er nu an vnd su[e]lt vnd wu[e]lt in den Schrifften Philippi/ wie ein Saw im Ru[e]backer […].“ (Wittenberger Professoren 1559b, A3b – B1b, Wittenberger Studentenschaft 1558a, D2b – E4a). In direkter Ansprache warfen die Wittenberger Theologen dem Flacius vor: Du bist hieher komen ein Frembdling/ weit aus Illyria/ vngelert vnd arm/ da hat er Pilippus[!] dich auffgenomen/ vnd hat dir alle sein heimligkeit vertrawet/ vnd dich vber das gefo[e]rdert vnd erhoben/ das man dir die Hebreische Sprach zu lesen befolen vnd vertrawet hat/ dauon du auch ein ehrliche besoldung gehabt. Er hat dir fu[e]rgeschrieben was du deine Zuho[e]rern lesen solltest/ vnd wiewol er das auch andern gethan/ so wird es doch hie angezogen/ auff das man verstehe/ wie er alle trew an dir/ so wol als etwan an seiner besten freund einem bewiesen/ vnd keine wolthaten an dir gespart hat. Er hat dir auch sonst so viel freundschafft vnd gutes erzeigt/ was wir es ku[e]rtz halben nicht alles erzelen wo[e]allen. (Wittenberger Professoren 1559b, 334a, Wittenberger Professoren 1559a, Rrr2a – Rrr3b; Menius 1557, G3a – G4a)
Wäre der ebenso undankbare wie intrigante Flacius doch in seine Heimat zurückgekehrt, bevor er sein Feuer der Verleumdung angefacht habe, wünschten die Studenten (Wittenberger Studentenschaft 1558a, F2a). Es könne nur der Teufel gewesen sein, der ihn zu Betrug, Doppelzüngigkeit, unwahren Beschuldigungen und zu falscher Lehre verführt habe (Wittenberger und Leipziger Universitäten 1558, A2a – A4b, vgl. Wittenberger Studenten 1558b, A2a – B2a). Die Auseinandersetzungen gingen dennoch weiter. Flacius kritisierte Melanchthons Begriff von „Evangelium“, den dieser schon seit Jahren auch als Ruf zur Buße verstanden hatte. Und Melanchthon ließ die Wittenberger Studentenschaft eine Erwiderung darauf veröffentlichen (Wittenberger Studentenschaft 1559b, eine Antwort auf Flacius 1559; Wittenberger Studentenschaft 1558a, F2a). Melanchthon wiederum nahm einen Brief des Pastors Georg Werner aus Barby vom Dezember 1556 zum Anlass, Flacius in seiner Auslegung von Joh 1,1– 14 die Leugnung der Gottheit Christi vorzuwerfen. Auch nachdem Flacius sich gegen die Auslegung seiner Theologie durch den Pfarrer Werner verwahrt hatte, erneuerten die Wittenberger mehrfach ihren Vorwurf (Melanchthon 1558b; Wittenberger Studentenschaft 1558b, A3b – C3a,G4a – G4b; Wittenberger Studentenschaft 1559a, H3b – H4b; Flacius 1558b und 1558a, G1b – G2a, H2b – H3a). Melanchthon hielt sich in der Folgezeit weitestgehend aus den Streitigkeiten um seine Person und Theologie heraus. Einige seiner Schriften, mehr noch Briefe und persönliche Reaktionen haben jedoch gezeigt, wie sehr er von den Angriffen ehemaliger Studenten, die er zum Teil sehr gefördert hatte und gut kannte, enttäuscht und verletzt worden war. Die theologischen Streitigkeiten gingen dennoch weiter. Am Anfang des Jahres 1557 versuchte eine Gruppe von acht ehemaligen Melanchthon-Schülern, die in norddeutschen Hansestädten tätig waren, unter der Führung von Superintendent Joachim Mörlin aus Braunschweig den Streit zwischen Melanchthon und seinen Kritikern,vor allem Flacius und Gallus, zu schlichten. Sie schlugen vor, über acht Themen
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zu disputieren: über die Lehre des Augsburger Bekenntnisses; die Verwerfung der Irrtümer „der Papisten, Interimisten, Anabaptisten, und Sakramentarier“; die Rechtfertigungslehre; die Adiaphora und die Notwendigkeit, in einer Zeit der Verfolgung Kompromisse einzugehen; und über die Notwendigkeit von guten Werken zur Erlangung des Seelenheils. Wenn es notwendig sein sollte, könnte man auch über Differenzen in weiteren theologischen Lehrfragen diskutieren (CR 9, 35 – 37). Melanchthon reagierte zögerlich auf die Bitte der Pfarrer um ein klärendes Gespräch mit dem theologischen Lager um Flacius und Gallus. Er argwöhnte, dass Flacius mit seinem Wunsch, über das gesamte Corpus Doctrinae zu sprechen, mit ihm und seinen Professoren im kursächsischen Wittenberg nur einen weiteren, von boshaften Unterstellungen vergifteten theologischen Streit beginnen wolle. Er habe seine Positionen zu den genannten Themen schon in vielen Schriften veröffentlicht, stellte Melanchthon unmissverständlich klar (CR 9, 38 – 41). Die Wittenberger Professoren um Melanchthon haben sich dann doch bereit erklärt, die Gruppe der Vermittler um Superintendent Mörlin und seinen Braunschweiger Pfarrerskollegen Martin Chemnitz zu empfangen. Die Kritiker Melanchthons unter Führung von Flacius blieben in der etwa 25 km von Wittenberg entfernten Stadt Coswig (Narrationes, CR 9, 44– 51, 52– 60). Ende August 1557 traf Melanchthon dann selbst einige seiner Kritiker aus dem Lager der Gnesio-Lutheraner auf einem Colloquium in Worms, das Kaiser Ferdinand einberufen hatte, um auch die nach dem Augsburger Religionsfrieden (1555) weiterschwelenden theologischen Konflikte in Deutschland klären zu lassen. Aus dem Herzogtum Sachsen, der Hochburg der Melanchthon-Kritiker, traf der Wittenberger Professor auf Gegner wie Erhard Schnepf und den Juristen Basilius Monner. Letzterer hatte sich jahrelang in Wittenberg im Kreis um Melanchthon und Luther bewegt, dann aber im Streit um die Adiaphora Positionen zu Melanchthon vertreten, die dieser nur als „Lügen“ begreifen konnte (Briefe: CR 9, 24, MBW 8323; CR 9, 311, MBW 8373; CR 9, 320, MBW 8375; Bericht über das Colloquium: CR 9, 451, MBW 8539; CR 9, 456 – 457, MBW 8540). Melanchthon habe ihn „ziemlich eisig“ angesprochen, ihm nur schlaff die Hand gegeben und sei dann schnell weitergegangen, berichtete Monner (CR 9, 246). Drei weitere Streitfälle sollten in den 1550er Jahren auch den Wittenberger Theologenkreis spalten und entzweien. In diesen Disputen ist ebenfalls erkennbar, dass Melanchthon zunächst versucht hatte, sich aus den öffentlichen Streitigkeiten herauszuhalten. Der erste Streit entstand bei Georg Majors Versuch, den Landtagsentwurf von 1548 erneut zu rechtfertigen. Er verteidigte dabei auch die Formulierung, dass „gute Werke notwendig zur Seligkeit“ seien, eine Aussage, die sofort den erbitterten Widerspruch des Nikolaus von Amsdorf hervorrief. Amsdorf hatte zusammen mit Major in den 1520er Jahren in Magdeburg die Reformation eingeführt. Die Feinde der Reformation der Stadt, hauptsächlich die altgläubigen Mitglieder des Domkapitels, hatten zu der Zeit Amsdorf, Major, und andere Evangelischen mit der Todesstrafe für Ketzerei bedroht. Melanchthon erkannte von Anfang an, dass dieser Streit nichts Gutes hervorbringen würde und hielt sich zurück (z. B. CR 9, 39, MBW 8101; Dingel 2014). Der Disput belastete ihn aber auch, da Major sein Wittenberger Kollege war. Der Disput erinnerte Melanchthon an den Streit, der in den 1530er Jahren über seinen Satz „die
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Reue (contritio) ist notwendig zur Seligkeit“ geführt wurde. Mit dem Ausgang dieser Streitsache war er damals zufrieden gewesen (Wengert 1989, 417– 441). In einem Gutachten vom 13. Januar 1555 bezog er schließlich auch gegen die theologischen Aussagen Majors über die „guten Werke, die zur Seligkeit notwendig seien“, Stellung (CR 8, 411– 412, MBW 7385), auch in seiner weiteren Korrespondenz aus dieser Zeit (an Flacius, 5.9.1556, CR 8, 842, MBW 7945; an Kurfürst August, Mitte Januar 1558, CR 9, 405 – 408, MBW 8495; in einem Gutachten für Kurfürst August, 4. 3.1558, CR 9, 474– 475, MBW 8543). Weiteren Streitigkeiten ging er aus dem Weg. Im Rahmen dieser theologischen Auseinandersetzungen war es nicht überraschend, dass nun auch die alte Streitfrage über die Rolle des menschlichen Willens in der Bekehrung wieder aufbrach, und dass Melanchthon auch hier kein Interesse hatte, diese Auseinandersetzung neu aufleben zu lassen. Luther und Melanchthon hatten zusammen seit den 1520er Jahren die Position vertreten, dass die Vergebung der Sünden und das Heil der Sünder ganz auf Gottes Gnade ruhen. Gleichzeitig hatten sie die sittliche Verantwortung der Menschen unter dem Gesetz Gottes unterstrichen. Melanchthon hatte bis in die 1530er Jahre Luthers Lehre vom gebundenen Willen im Verhältnis zu Gott verteidigt, auch gegen Erasmus (Wengert 1998), und auch danach immer wieder betont, dass die Gnade Gottes den Gläubigen ermögliche und befähige, an Christus zu glauben und den neuen Glaubensgehorsam zu leisten (Kolb 2005). Bevor nun 1558 ein öffentlicher Streit zwischen Nikolaus von Amsdorf und Johann Pfeffinger über diese Fragen ausbrach (Kolb 2005, 109 – 110), hatte Nikolaus Gallus an Melanchthon geschrieben und ihm seine Sorgen über dessen Äußerungen in Bezug auf die Fähigkeiten des menschlichen Willens mitgeteilt (Kolb 2000, 87– 110). Melanchthon hegte den Verdacht, dass Gallus als Fortsetzung der Fehde über den Leipziger Landtagsentwurf eine neue Hetzkampagne gegen ihn beginnen wollte und maß dessen theologischen Bedenken zunächst keine große Bedeutung zu (Briefe: an Albert Hardenberg, 23.4.1556, CR 8, 736, MBW 7793; an Johannes Mathesius, 1. 5.1556, CR 8, 747, MBW 7807; an Mathesius, 30.6.1556, CR 8, 789, MBW 7873). In seinem Brief an Gallus vom 1. Dezember 1556 äußerte er seine Enttäuschung darüber, dass dieser das Vertrauen, das zwischen ihnen beiden im Verhältnis von Lehrer und Student geherrscht habe, zerstört hätte. In eine tiefere theologische Debatte trat er nicht ein. Er stellte stattdessen eine einfache Frage: Wenn Gallus den menschlichen Willen als einen Stein oder Holzklotz betrachte, wolle er dann diese Position wie eine stoische Notwendigkeit vertreten? Er, Melanchthon selbst, halte sich in dieser Frage hier lieber an die Lehre der alten Kirche. Zum Schluss des Briefes beklagte sich Melanchthon über Flacius und die „Brotanbeter in Bremen“ und ermahnte Gallus, den Frieden zu suchen (Brief vom 1.12.1556, CR 8, 915, MBW 8042). In seiner Antwort vom 12. Januar 1557 betonte Gallus, dass er wie Melanchthon in der Betrachtung des menschlichen Willens eine „stoische Notwendigkeit“ (necessitas) ablehne. Er hätte nur deutlich machen wollen, dass der Wille des Sünders nichts zur Bekehrung beitragen könne. Der noch in der Sünde verhaftete Wille sei kein Holzklotz, sondern in der Gegnerschaft zu Gott gefangen. Erst nach der Wiedergeburt im Glauben könnte auch der menschliche Wille in Glaubensdingen Entscheidungen treffen (MBW
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8089; Brief an Melanchthon, 25.12.1556, CR 8, 933 – 934). In einem weiteren Schreiben vom 19. April 1557 versuchte Gallus, eine theologische Übereinkunft in dieser Frage zu erzielen (CR 9, 142– 143, MBW 8199). Melanchthon aber blieb unversöhnlich. Sein Verdacht, Gallus wolle ihn nur weiter befehden, war zu groß (Briefe an Hieronymus Baumgartner, 16.6. und 30.7.1556, MBW 8259, CR 9, 290). Die beiden Kontrahenten erkannten nicht, dass sie in ihrer Auseinandersetzung letztlich nur verschiedene Schwerpunkte betonten: Gallus wollte die totale Abhängigkeit des Sünders von Gottes Gnade betonen, während Melanchthon die menschliche Verantwortlichkeit vor Gottes Gesetz klarstellen wollte. Melanchthon formulierte im Herbst 1558 in seinem „letzten Testament“ die Responsiones ad articulos Bavaricae inquisitionis, zugleich eine Streitschrift gegen die Position, die er Gallus und Flacius in Bezug auf den gebundenen beziehungsweise freien Willen zuschrieb. Melanchthon kritisierte in dieser Schrift hauptsächlich die Visitationsartikel des bayerischen Herzogs Albrechts V. und die darin vorgeschriebenen katholischen Lehren und Gebräuche. Seinen altgläubigen Gegnern wie seinen Kontrahenten im evangelischen Lager wollte er mit dieser Schrift darlegen, dass nicht Gott das Böse verursache, sondern dass der Mensch in vollem Umfang für seine Sünden verantwortlich sei (seine Absicht, gegen Flacius‘ Willenslehre in den Responsiones zu schreiben, formulierte er in einem Brief an Joachim Möller vom 21.12. 1558 [CR 9, 669 – 670, MBW 8806]). Der Wille enthalte, so Melanchthon, auch in dem von der Sünde verdorbenen Menschen eine gewisse Freiheit, um Ordnung ins Leben zu bringen. Wenn aber Satan ins Herz eintrete, könne er schreckliche Schäden anrichten. Die Erlösung des Menschen könne nur durch Jesus Christus geschehen. Wie in seiner Korrespondenz mit Gallus grenzte sich Melanchthon zugleich energisch gegen „die wütenden Stoischen und Manichäischen“ ab, „die behaupten, dass alles notwendigerweise geschieht, gute und böse Taten“. Energisch warnte er vor allem die Jugend vor den fatalistischen Konsequenzen dieser Anschauungen. Es bleibe notwendig zu versuchen, eigenverantwortlich zu denken und auf sein Handeln aufzupassen. Eine Botschaft, die er mit einem Zitat des Apostels Paulus aus Eph 5,15 unterstrich: „Wandelt vorsichtig, und nicht als Narren“ (MSA 6, 312; Kolb 2012a, 152– 156). Sein Verständnis von der Freiheit des Willens begründete Melanchthon auch mit Zitaten von antiken Autoren wie Thukydides und Platon (MSA 6, 310 – 313) – und mit einer Bemerkung seines Tübinger Lehrers Franz Stadian aus seiner Studienzeit vor mehr als 40 Jahren, dass „es eine göttliche Bestimmung und Kontingenz gebe, und dass man die Widersprüche nicht auflösen könne“ (MSA 6, 313). Gallus antwortete auf Melanchthon in der von ihm geschriebenen Vorrede zu einer neuen Ausgabe von Luthers De servo arbitrio und in einer Reihe von kleineren Flugschriften, die 1559 und 1560 erschienen sind (Gallus 1559a; Gallus 1559b, A2b – B1b; Gallus s.a., A3a – A4a; Gallus 1559c,Gallus 1559d; Gallus 1560b). Im Zentrum seiner Kritik stand eine Formulierung aus dem Leipziger Landtagsentwurf, die auch in das Augsburger Interim aufgenommen wurde: „Gleichwol wircket der barmhertzige Got nicht also mit dem Menschen wie mit einem block, sondern zeucht jn also, das sein
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wille auch mit wircket, so er in vorstendigen Jaren ist.“ (Herrman und Wartenberg 1992, 116; Mehlhausen 1970, 48/49) Der Satz gebe dem menschlichen Willen, so Gallus, eine Rolle in der Bekehrung (Gallus 1559d, C1b). Er kritisierte zugleich Melanchthons Definition des menschlichen Willens als „facultas applicandi se ad gratiam“ aus den Loci von 1543 – eine Formulierung, die auch Erasmus in seinen Schriften gebraucht habe. Gallus nannte diese Definition „ein erasmisches Dogma“ (MSA 2/1, 273; Gallus 1559c, C2b – C3a.) Dagegen stellte Gallus sein Verständnis von Bekehrung als passivem Ereignis. Die Wiedergeburt im Glauben erfahre der Mensch aus Gnade genauso passiv wie ein Kind, das sein Leben aus dem Leib der Mutter geschenkt bekomme. So habe er es von Luther und Melanchthon selbst gelernt (Gallus 1559d, A3b – B1a). Auf die Zitate antiker Autoren durch Melanchthon antwortete er ebenfalls mit einem Zitat, dass er von seinem Wittenberger Lehrer selbst gehört habe: „Platon ist mein Freund. Sokrates ist mein Freund. Aber die Wahrheit ist umso mehr mein Freund.“ (Gallus 1559d, D3b) Von den „rabies theologorum“ durch seinen Tod am 19. April 1560 erlöst, ist Melanchthon selbst nicht mehr auf die einzelnen Punkte der Kritik von Gallus eingegangen. Noch am 18. April 1560 schrieb er in seinem Testament, dass die Responsiones sein letztgültiges Bekenntnis „gegen die Papisten, die Anabaptisten und die Flacianer“ seien (CR 9, 1099; MBW 9300). In den 1550er Jahren flammte auch noch einmal der Streit um die Präsenz Christi im Abendmahl auf, eine weitere große Auseinandersetzung mit seinen „gnesio-lutherischen“ Studenten, die Melanchthon in seinen letzten Lebensjahren verbittert und belastet hat. Wie schon bemerkt, hatte Melanchthon ein eigenes, differenziertes Verständnis von der wahren Gegenwart Christi im Sakrament entwickelt. Es liegt nun die Beobachtung nahe, dass Melanchthon in den 1550er Jahren seine Abendmahlslehre im Austausch mit seinem Schwiegersohn Caspar Peucer nochmals modifiziert hat. Zeitgenossen wie auch moderne Wissenschaftler haben jedenfalls seine Äußerungen in einer Vorlesung aus dem Jahr 1557 über Kol 3,1– 2 so verstanden, dass er die „Zwinglische“ Interpretation von der Gebundenheit der menschlichen Natur Christi an einen himmlischen Ort, zur rechten Hand Gottes, angenommen habe. Nach Timothy Wengert hatte Melanchthon demnach versucht, seinen Weg zwischen den Polen Luther und Calvin neu zu bestimmen. Er bewegte sich also in der Spannung von Luthers Lehre von der wahren Anwesenheit des Leibs und Bluts Christi – mit der christologischen Argumentation, wie sie auch von Joachim Westphal und Johannes Brenz mit seinen schwäbischen Kollegen vertreten wurde (Mahlmann 1969, 37– 61, 126 – 137, 198 – 204) – und Calvins Sicht von der spiritualen Präsenz Christi im Abendmahl (Wengert 2012b, 209 – 235). Aus den diesbezüglichen Quellen ist indes nicht ersichtlich, inwieweit Peucer, der als Mediziner nur in aristotelischen Kategorien von Präsenz denken und somit kein Verständnis für die Lehre von der wahren Anwesenheit des Leibs und Bluts Christi entwickeln konnte, die Gedanken seines Schwiegervaters über das Thema beeinflusst hatte (Kolb 2004, 11– 134). Eine ausführliche Darstellung der Wittenberger Streitigkeiten um das rechte Verständnis des Abendmahls und die Stellungnahmen Peucers findet sich bei Irene Dingel (2008).
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Timothy Wengert (1997, 57– 76) hat sich zudem mit der Bedeutung von Caspar Peucers veröffentlichtem Briefwechsel für die Überlieferung des Bildes von Melanchthon für spätere Generationen beschäftigt. Johannes Calvin und Heinrich Bullinger hatten 1549 zusammen mit Theologen aus Zürich und Genf im Consensus Tigurinus eine gemeinsame Abendmahlslehre formuliert, die sich fundamental von Luthers Verständnis der Anwesenheit des Leibs und Bluts Christi unterschied. 1553 griff nun ein ehemaliger Student Melanchthons, der Hamburger Pfarrer Joachim Westphal, der sich schon durch seine Kritik an dem Leipziger Landtagsentwurf den Ärger des Wittenberger Professors zugezogen hatte, Calvins Lehre von der Präsenz Christi im Abendmahl fundamental an. In seinem Zorn über Westphal und im Bewusstsein seiner Freundschaft mit dem Bremer Pfarrer und Westphal-Gegner Albert Hardenberg, der die Abendmahlslehre Martin Bucers vertrat (Janse 1994; zum Verhältnis von Hardenberg und Melanchthon, Kolb 2012b, 244– 246), begann Melanchthon nun seinerseits, Westphal ab 1554 in polemischer Form als „Brotanbeter“ (er praktiziere άρτολατρεία) zu denunzieren. Melanchthon formulierte zunächst eine allgemeine theologische Kritik, nannte dann aber später den Hamburger Pfarrer direkt beim Namen (Briefe an Hardenberg: 14.10.1554, CR 8, 362, MBW 7306; 21. 8.1555, CR 8, 524– 525, MBW 7559; 14.9.1556, CR 8, 577– 579, MBW 7950; 18.4.1557, CR 9, 137– 138, MBW 8195; 9. 5.1557, CR 9, 154, MBW 8219; 20.6.1557, CR 9, 167, MBW 8254). Im Jahr 1557, der Streit zwischen Calvin und Westphal lief in der Zwischenzeit weiter, veröffentlichte der Hamburger Pfarrer daraufhin eine Sammlung von Zitaten aus Melanchthons früheren Schriften zur Abendmahlslehre, in denen dieser ähnliche Formulierungen wie Luther gebraucht hatte. Die Publikation erschien offiziell als Antwort auf eine anonyme Anfrage zu Melanchthons Abendmahlslehre (Westphal 1557; Kolb 2012b, 238 – 146). Das Motiv Westphals für die Publikation der Zitatensammlung ist nicht klar erkennbar.Wollte er in seinem Streit mit Calvin den Praeceptor Germaniae als Kronzeugen für seine theologischen Argumente bemühen? Oder wollte er seinen ehemaligen Lehrer indirekt dazu auffordern, zu seinen früheren Positionen in der Abendmahlslehre zurückzukehren? Fest steht auf jeden Fall, dass Melanchthon über die Publikation nicht besonders begeistert war. Dies hatte zum einen seinen Grund darin, dass Melanchthon mittlerweile zu der Überzeugung gelangt war, dass die christologische Argumentation, mit der schon Luther, dann aber auch Johannes Brenz und Westphal ihre Abendmahlslehre untermauern wollten, nicht der Lehre der alten Kirche über die zwei Naturen Christi und die communicatio idiomatum entsprechen würde. Melanchthons Ärger über Westphal hatte aber auch in diesem Fall wieder persönliche Motive. Er konnte nicht vergessen, dass ihn ein ehemaliger Schüler, den er gefördert und unterstützt hatte, als dieser eine Anstellung suchte – es ging um eine Stelle als Lehrer in Hamburg (14.1.1532, CR 2, 565, MBW.T 1211) und um eine Berufung zum Professor in Rostock (Sillem 1903, 29) – später so scharf für seine Mitarbeit an dem Leipziger Landtagsentwurf kritisiert hatte (Westphal 1549, Westphal 1550, Westphal 1551). Eine weitere Auseinandersetzung zwischen Melanchthon und seinen ehemaligen Studenten begann, nachdem der Wittenberger Professor seinen Schüler Tilemann
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Heshusius im Sommer 1558 für eine Stelle als Professor und Kirchensuperintendent in Heidelberg empfohlen hatte. Kurz nachdem Heshusius seine Stelle in der Kurpfalz angetreten hatte, starb Kurfürst Ottheinrich. Nach seiner Thronbesteigung im Februar 1559 begann der neue Kurfürst Friedrich III. schon bald, die calvinistischen und zwinglischen Strömungen in seinem Land zu begünstigen. Heshusius protestierte sofort gegen die neue konfessionelle Ausrichtung des Kurfürstentums und wurde am 16. September 1559 von seinen Ämtern abgesetzt. Melanchthon äußerte sich in einem Brief und Gutachten an Kurfürst Friedrich vom 1. November 1559 ähnlich wie im Fall Westphal: Heshusius habe sich der άρτολατρεία schuldig gemacht (Briefe an: Jakob Runge, 18.10.1559, CR 9, 946 – 947, MBW 9103; Jacob Bording, 26.10.1559, CR 9, 952– 953, MBW 9112; Albert Hardenberg, 14.11.1559, CR 9, 971– 972, MBW 9131). Der Wittenberger Professor hatte sich in seiner Korrespondenz relativ offen geäußert, da er davon ausging, dass der Kurfürst seine Stellungnahme vertraulich und privat behandeln würde. Brief und Gutachten Melanchthons wurden jedoch veröffentlicht, und somit auch seine Einschätzung, dass Kurfürst Friedrich sein konfessionspolitisches Mandat richtig verwendet habe, um die theologische Wahrheit zu erhalten und religiöse Streitigkeiten zu beenden. In seinem Gutachten hatte Melanchthon den Vers aus 1 Kor 10, 16 dahingehend interpretiert, dass die κοινωνία im Abendmahl nicht durch ein besonderes Verständnis von dem Verhältnis zwischen Brot und Leib sowie von Wein und Blut entstehe, sondern zwischen den Menschen, die durch das Abendmahl miteinander verbunden seien. Die Meinung des Heshusius, dass das Brot der wahre Leib Christ sei, kritisierte er ebenso wie die Stellungnahme der Bremer Lutheraner gegen Hardenberg, in der das Brot als der substantielle Leib Christi bezeichnet wurde. Schon 1557 spottete Melanchthon in Worms über die Bitte Joachim Mörlins, er möge doch sagen, was der Priester während der Feier des Sakraments in den Händen halte. Er hatte ebenfalls kein Verständnis für die Frage eines Erasmus Sarcerius, ob der Leib Christi durch den Magen gehe. Für ihn standen die beiden Theologen mit ihrem Verständnis des Abendmahls eindeutig noch im altgläubigen Lager. Mehr noch: Melanchthon verstand es sogar als Verrat, dass diese beiden, seine ehemaligen Schüler, sich in Worms auf die Seite der Theologen aus dem ernestinischen Sachsen stellten (CR 9, 960 – 961, MBW 9118 [Brief]; CR 9, 961– 963, MBW 9119 [Gutachten]). Das früher gute Verhältnis zwischen Mörlin und seinem Lehrer war seit dem Jahr 1557 durch die Coswiger Verhandlungen und das kaiserliche Religionsgespräch in Worms nachhaltig beschädigt. Als Antwort auf das Gutachten an Kurfürst Friedrich warf Mörlin Melanchthon dann vor, dass er sich von Luther entfernt habe. Die manducatio oralis und die manducatio impiorum, Schlüsselbegriffe aus Luthers Abendmahlslehre, würden von Melanchthon ständig vermieden (Mörlin 1560; Kolb 2012b, 249 – 251). Nikolaus Gallus kritisierte an seinem ehemaligen Wittenberger Lehrer nicht nur eine seiner Ansicht nach spiritualisierende Interpretation der Anwesenheit Christi im Abendmahl. Er warf Melanchthon auch in harscher Form vor, dass dieser um des äußeren Friedens willen sogar theologische Irrtümer dulden würde (Gallus 1560a; Kolb 2012b, 251– 153).
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Tilemann Heshusius war von seinem Wittenberger Praeceptor, der ihn doch für seinen Posten in Heidelberg empfohlen hatte, tief enttäuscht. Vorwurfsvoll berichtete er Melanchthon, dass der Kurfürst in seinem Herrschaftsgebiet auch andere Lutheraner abgesetzt habe. Gegen das Gutachten an Friedrich III. zitierte er Melanchthon selbst aus seinen früheren Schriften – mit dem Vorwurf, sein Lehrer habe seine eigenen Positionen verraten. Mit Zitaten von Theophylactus, Chrysostomos, Gregor von Nazianz, Augustin, Theodoret und Basilius konterte er den Vorwurf, sein Abendmahlsverständnis stehe im Widerspruch zur Lehre der alten Kirche (Heshusius 1560d, Heshusius 1560a, Heshusius 1560b, Heshusius 1560c; Kolb 2012b, 253 – 257). Auf all diese Vorwürfe konnte der schon kranke Melanchthon vor seinem Tod am 19. April 1560 nicht mehr reagieren. Melanchthon hatte am Ende seines Lebens in Wittenberg einen Kreis von Freunden, die ihn über die Jahre hinweg vorbehaltlos unterstützt hatten. Er starb 1560 aber auch mit der Last einer Bitterkeit, die seit der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes in den dunklen Tagen des Jahres 1547 immer stärker geworden war. Melanchthon war schwer enttäuscht, dass einige seiner Studenten so wenig Verständnis für seine kirchenpolitischen Bemühungen aufbrachten, die Wittenberger Reformation in schwerer Zeit zu retten. Schwer getroffen hatten ihn auch die Vorwürfe seiner ehemaligen Schüler, er hätte Luther und das Evangelium verraten. Melanchthon ist in diesen Jahren durch die Auseinandersetzung mit ehemals befreundeten Studenten in einen Strudel aus Misstrauen, gegenseitigen Verdächtigungen und teilweise gehässigen Unterstellungen geraten, aus dem sich weder der Praeceptor Germaniae noch seine Kontrahenten wieder befreien konnten und wollten.
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fuerunt, in deliberationibus Prouincialibus & alioquin extra has, de rebus ad Religionem pertinentibus, monuerint, suaserint, docuerint, responderint, concesserint, illo tempore, quo & de his ipsis, & de Libro Augustano, qui nominatur Interim, qualis esset, quaesitum fuit & tractatum. Wittenberg. Wittenberger Professoren. 1559b. Gru[e]ndlicher vnd warhafftiger Bericht aller Rathschleg vnd anwort/ so die Theologen zu Wittemberg/ vnd andere darzu erforderte/ auff den Landtegen/ vnd andern Versamlungen/ nach dem Krieg/ wider die dazumal newen Reformation des Augspurgischen Buchs Interim genant/ zur widerlegung desselbigen/ gestelt […]. Wittenberg. (VD 16 W3727) Wittenberger Studentenschaft. 1558a. Epistolae dvae, tertia et Quarta. Wittenberg. (VD 16: S3805– S3806). Wittenberger Studentenschaft. 1558b. Vera, gravis et constans Refvtatio frivolae, stolidae, falsae et vere Flaccidae responsionis Flaccij Illyrici. Wittenberg. (VD 16 S3804) Wittenberger Studentenschaft. 1559a. Ad toties cvm fastidio et navsea repetitas virvlentissimas et falsissimas criminationes Flacij uera responsio, decerpta summatim ex tota rerum gestarum Historia. Qva et veritas cavsae totivs atqve innocentia ecclesiarvm in his terris & Praeceptorum demonstratur, & ostenditur uanitas, futilitas, uirulentia ac malicia Flacij, ut hac cognita, pij cogitent tandem de remedijs adhibendis Ecclesiae furiosis istius Profugi clamoribus sine modo / sine laceratae, ut finis tandem imponatur contentionibus. Scripta epistolae forma a scholasticis Academiae VVitebergensis. Wittenberg. Wittenberger Studentenschaft. 1559b. Wieder die verfelschung der Definition oder beschreibung des Euangelij/ so Flacius Illyricus newlichen in einer Schrifft one gru[e]nde vnd wider sein gewissen vnter das Volck ausgespringt. Stvdiosi VVitebergenses. (VD 16 W2467) Wittenberger und Leipziger Universitäten. 1558. Ausschreiben vnd Ermanung der beider Vniuersiteten Zu Wittemberg vnd Leiptzig an alle Christliche Stende ausgangen. Wittenberg. (VD 16 L1034)
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Natalie Krentz
Kirchenreform und -visitation Melanchthon war bereits an den ersten Kirchenreformen der Reformationszeit beteiligt, in seinem Umfeld als Professor der Universität Wittenberg, aber auch in weiter entfernten Städten und Territorien als Ratgeber mit Gutachten und Briefen. Mit den ersten Kirchenreformen ergaben sich jedoch bald zahlreiche Probleme: Die Bischöfe waren entmachtet, doch fehlte eine neue Instanz zur Ordnung der Kirche und zur Überprüfung der Lehre der Pfarrer und der Gemeinden. In den Pfarreien zeigten sich teilweise gravierende Missstände: Die Pfarrer predigten das Evangelium auf sehr unterschiedliche Weise und es war unklar, wer die Pfarrstellen finanzierte und was mit den Gütern der aufgelösten Klöster geschehen sollte. All dies machte erste Kirchenvisitationen notwendig, an denen Melanchthon ebenfalls von Anfang an als Vertreter der Wittenberger Theologen beteiligt war. Durch diese Tätigkeit prägte er das Instrument der Visitation und die neue Ordnung der Kirche maßgeblich und arbeitete auch in späteren Jahren noch an mehreren Kirchenordnungen mit. Die praktischen Aufgaben von Kirchenreform und Visitation machten Entscheidungen in mehreren grundsätzlichen theologischen und kirchenpolitischen Fragen notwendig, zu denen Melanchthon in dieser Zeit in zahlreichen Schriften Positionen entwickelte – teilweise gemeinsam mit anderen Reformatoren, teilweise in Auseinandersetzung mit diesen. Der Verlauf der Ereignisse zeigt, wie seine Haltung dabei von praktischen Erfahrungen geprägt wurde. So stellte sich besonders zu Anfang die Frage, ob Reformunwillige oder Dissidenten zu Reformen gezwungen werden durften. Während Melanchthon die Reformen zunächst energisch vorantrieb, sprach er sich bald für ein gemäßigteres Tempo aus und mahnte zur Rücksichtnahme auf die noch Schwachen im Glauben. Eine langfristige Lösung sah er in einem Bildungsprogramm, dessen Umsetzung ein zentraler Bestandteil seiner Kirchenreformen und seiner Tätigkeit als Visitator wurde. Als weitere grundlegende Frage erwies sich im Laufe der ersten Visitation das Verhältnis von christlicher Freiheit und Buße: Melanchthon empfand ein falsches Verständnis der christlichen Freiheit als schwerwiegendes Problem der visitierten Pfarreien, wogegen er mit einer stärkeren Betonung von Buße und Gesetz vorging. Dies führte zu gravierenden Auseinandersetzungen der Reformatoren untereinander. Weiterhin wurden auch wichtige finanzielle Fragen der Kirchenordnung hier erstmals relevant, denn nur mit einer soliden Pfarrerbesoldung und geordneten Sozialfürsorge konnte eine gute Lehre und Predigt gewährleistet werden. Und schließlich galt es für die Durchführung einer Visitation insgesamt zu klären, ob ein solcher Eingriff der weltlichen Obrigkeit in geistliche Belange gerechtfertigt war. Denn die Visitation, die auf Befehl des Landesherrn und mit Beteiligung seiner Räte durchgeführt wurde, wurde praktisch zu einem wichtigen Schritt auf dem Weg zum „landesherrlichen Kirchenregiment“, auch wenn Melanchthon selbst, ebenso wie Martin Luther, zunächst noch andere Positionen vertrat. DOI 10.1515/9783110335804-011
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Natalie Krentz
1 Frühe Kirchenreformen bis zur ersten Visitation Die ersten Kirchenreformen der Reformationszeit trieb Melanchthon während Luthers Abwesenheit auf der Wartburg zusammen mit anderen Universitätsprofessoren zunächst energisch, später langsamer voran. Gemeinsam mit Luther arbeitete er nach dessen Rückkehr bald Reformen für ganz Sachsen aus und wurde noch vor den ersten Visitationen auch von auswärtigen Obrigkeiten, etwa vom Pfälzischen und Hessischen Kurfürsten oder der Reichsstadt Nürnberg, um Vorschläge zur Neuordnung des Kirchenwesens gebeten.
1.1 Erste Kirchenreformen in Wittenberg 1521/22 Im Herbst 1521 war Melanchthon der Meinung, dass nun die Zeit gekommen war, die Reform der Kirche in die Tat umzusetzen. Es war Melanchthon, der am 29. September 1521 das vermutlich erste Abendmahl unter beiderlei Gestalt der Reformationszeit feierte. Davon berichtete der Student Sebastian Helman: „Philippus Melanchton cum omnibus suis discipulis in parochia in die Michaelis sub Vutraque specie communicauit, et iam fiet in omnibus.“ (Müller 1911, 17). Diese erste, vermutlich private Abendmahlsfeier in der Pfarrkirche bildete den Auftakt zu umfassenden Reformen in der Stadt (Kruse 2002, 318; Neuser 1968a, 254– 256). Zuvor hatten die Wittenberger Theologen im Sommer 1521 intensiv über die Messe diskutiert. Besonders Melanchthon, Andreas Karlstadt und Nikolaus Amsdorf hatten in verschiedenen Thesenreihen das traditionelle Verständnis der Messe als Opfer kritisiert. Dabei war auch die Forderung nach dem Abendmahl unter beiderlei Gestalt immer stärker geworden, die zentral für die reformatorische Bewegung werden sollte. Nicht mehr nur die Priester, sondern alle Gläubigen sollten in einer gemeinsamen Mahlfeier Brot und Wein erhalten (Neuser 1968a, 57– 113; Kruse 2002, 301– 305). In den folgenden Monaten kam es in Zusammenarbeit zwischen Wittenberger Bürgern, dem Rat, der Universität und dem kurfürstlichen Hof zu den ersten praktischen Kirchenreformen der Reformationszeit (Krentz 2014, 141– 169). Die traditionellen Messen wurden abgeschafft und durch Predigtgottesdienste und Psalmenlesungen ersetzt, Mönche verließen die Klöster und Weihnachten 1521 wurde das Abendmahl unter beiderlei Gestalt durch Andreas Karlstadt schließlich auch öffentlich gefeiert. Melanchthon war dabei nicht nur an der theologischen Diskussion an der Universität beteiligt, sondern er wirkte auch aktiv an der Umsetzung der Reformen in Verhandlungen mit dem Rat der Stadt und dem kurfürstlichen Hof mit. So erstellte er bereits im Oktober 1521 zusammen mit anderen Universitätsprofessoren im Auftrag des Kurfürsten ein Gutachten, das schnelle Reformen der Messe im ganzen Kurfürstentum forderte (Müller 1911, 50 – 53). Als der Rat im Januar 1522 eine neue, reformatorische Stadtordnung verabschiedete, wurde Melanchthon gemeinsam mit anderen Universitätsprofessoren als Berater hinzugezogen. Sein Einfluss ist dabei besonders in den
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Maßnahmen zur Gottesdienstreform erkennbar, die mit der Auslassung des canonis missae der theologischen Kritik am Messopfer entsprach, insgesamt aber die Messe zunächst nur maßvoll reformierte (Neuser 1968a, 166 – 170). Gleichzeitig wurde die Entfernung der Bilder in den Kirchen und zahlreiche Maßnahmen zur Armenversorgung beschlossen, insbesondere die Gründung eines „gemeinen Kastens“, dem die Zinsen und Einkünfte der ehemaligen Messpriester zufließen sollten. Ehemalige Mönche wurden beim Erlernen eines Handwerks unterstützt und die Prostitution verboten (Oehmig 1995, 112– 117). Als im Februar 1522 die altgläubigen Stiftsherrn der Wittenberger Allerheiligenkirche gegen diese Ordnung protestierten, handelte Melanchthon im Auftrag des Kurfürsten als Vertreter der Universität einen Kompromiss zur Messreform aus. Der Kurfürst vertraute dem Urteil Melanchthons vollständig und wies seine Räte am 13. Februar 1522 eigens an, besonders dessen Meinung einzuholen: „Es ist auch gut, Phillipus [sic] zuuorn auff diese sach wird gefragt, wie es jm doch allenthalb gefall.“ (Müller 1902, 190 – 193). Anhand der gut dokumentierten Diskussionen dieser Zeit lässt sich die Entwicklung der Position Melanchthons zur Kirchenreform nachvollziehen: Im Herbst 1521 war er unter den ersten Reformbefürwortern und drängte ungeduldig auf eine schnelle Umsetzung. Gegenüber seinen Studenten äußerte er sich mehrfach verärgert über jene, „qui bene docent, bene scribunt et hoc querunt, ut et boni sint ipsi, et alios emendent, sed odiosa nolunt attingere“ (Kruse 2002, 327). Diese Haltung änderte sich jedoch im Laufe des Verlaufs der Reformen. Zweifel kamen ihm Ende Dezember 1521, als die sogenannten „Zwickauer Propheten“ nach Wittenberg kamen, die Melanchthon mit der Ablehnung der Kindertaufe und ihrem Anspruch auf unmittelbare spirituelle Berufung stark verunsicherten (Kruse 2002, 360). Die Zwickauer blieben jedoch nur wenige Tage und predigten vermutlich nicht öffentlich, sodass sie auf die praktischen Kirchenreformen wohl keinen Einfluss hatten. Als es Anfang des Jahres 1522 zu Beschwerden über einzelne Aufruhr stiftende Prediger kam, namentlich gegen Andreas Karlstadt, Gabriel Zwilling und Justus Jonas, wurde Melanchthon vom Kurfürsten beauftragt, hier mäßigend zu wirken. Melanchthon sah sich dazu nicht im Stande, distanzierte sich jedoch: „Ich khan aber das wasser nicht halden, were von nodten, das man zu solchen sachen, so der seelen heyl betreffen, ernstlicher thette.“ (Müller 1911, 178 – 82; Kruse 2002, 370) Er mahnte nun, nicht zu hastig mit Reformen voranzuschreiten, während besonders der anfangs eher zögerliche Andreas Karlstadt die Reformen in der Stadt weiter vorantrieb. Karlstadt und Melanchthon hatten damit ihre Positionen sozusagen „getauscht“ (Kruse 2002, 383), was dazu führte, dass Melanchthon nun bei Luthers Rückkehr im März 1522 für gemäßigte Reformen stand, während Karlstadt scharf kritisiert wurde und sich schließlich aus Wittenberg auf seine Pfarre in Orlamünde zurückziehen musste (Krentz 2014, 99).
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1.2 Weitere Kirchenreformen innerhalb und außerhalb Wittenbergs Gemeinsam mit Luther und dem neuen Stadtpfarrer Johannes Bugenhagen führte Melanchthon die Kirchenreformen auch in den folgenden Jahren weiter. In der Auseinandersetzung mit dem altgläubig gebliebenen Allerheiligenstift und mit reformunwilligen Stadtbewohnern stellte sich dabei immer wieder die Frage, inwieweit ein Zwang zu Reformen gerechtfertigt war. Melanchthon blieb hier, etwa im Vergleich zu Bugenhagen, eher zurückhaltend und betonte stets die christliche Freiheit (Krentz 2014, 243 – 368). Die Gruppe der reformatorisch gesinnten Wittenberger Universitätsprofessoren um Luther und Melanchthon wurde für die Ausarbeitung neuer Reformvorschläge auch über die Stadt hinaus immer wichtiger. Als 1525 Kurfürst Friedrich der Weise verstarb, beauftragte der neue Kurfürst Johann Luther, Melanchthon und den Torgauer Pfarrer Gabriel Zwilling, einen neuen evangelischen Begräbnisritus zu schaffen. Melanchthon gehörte auch der vom kurfürstlichen Hof eingesetzten Kommission an, die an der ersten verbindlichen Gottesdienstordnung arbeitete und damit Luthers Deutsche Messe von 1526 vorbereitete. Auch außerhalb Wittenbergs wurde Melanchthon nun mehrfach von Fürsten und Städten in Fragen der Kirchenordnung um Rat gefragt. Im Bauernkrieg wurde er im Mai 1525 gemeinsam mit dem Reformator von Schwäbisch-Hall, Johannes Brenz, vom Pfälzischen Kurfürsten als Vermittler berufen. Melanchthon reiste zwar nicht selbst in die Pfalz, verfasste aber ein Gutachten, das kurz darauf unter dem Titel Wider die Artikel der Bauernschaft gedruckt wurde (MSA 2, 194– 202; Maurer 1969, 457– 462). Darin verurteilte er die Gewalt der Bauern und betonte die Pflicht des Christen zum Gehorsam sowie die Strafgewalt der weltlichen Obrigkeit bei Aufruhr. Begründet wurde dies aus einem Verständnis des Glaubens, welches in den folgenden Jahren für seine Tätigkeit als Visitator prägend werden sollte: Nicht nur das Vertrauen auf die göttliche Gnade, sondern auch Buße und Furcht vor dem göttlichen Gesetz machten den christlichen Glauben aus. Zugleich versuchte er jedoch, auf ein friedliches Eingreifen des Kurfürsten hinzuwirken und empfahl Maßnahmen zur Kirchenreform, die den Bauern entgegenkommen sollten. Da Melanchthon in dieser Schrift schon praktische Vorschläge zum landesherrlichen Kirchenregiment machte, etwa mit Überlegungen zu einem Aufsichtsrecht der Landesherren über die Pfarreien, zur Verwendung des säkularisierten Kirchengutes für die Armenfürsorge und zur Gründung von Gelehrtenschulen für die Pfarrerbildung, wurde sie in der Forschung auch als ein erster „Grundriss des evangelischen Kirchenwesens“ bezeichnet (Maurer 1969, 462). Ähnliche Fragen stellten sich im Zusammenhang mit der Nürnberger Kirchenreform, zu der Melanchthon ebenfalls 1525 um Rat gefragt wurde. Seine Gutachten bestärkten den Nürnberger Rat einerseits darin, der reformatorischen Kirche mit der Verwendung ehemaliger Messstiftungen eine wirtschaftliche Basis zu schaffen, hatte aber zugleich auch wieder die schwachen Gewissen im Blick, indem er empfahl, dies nicht gegen den Willen noch lebender Stifter zu tun und bei weiteren Gottesdienstreformen bestehende Gebräuche zunächst beizubehalten (MBW.T 2, 439,387). Dass die
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Veränderung der kirchlichen Zeremonien in Melanchthons Sicht mit Unordnung verbunden war, wird in einem Gutachten für Landgraf Philipp von Hessen von 1526 noch deutlicher. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr nach dem ersten Speyerer Reichstag empfahl er diesem, „erträgliche“ Zeremonien wie lateinische Gesänge oder Kirchengewänder so weit wie möglich beizubehalten, um den Frieden nicht zu gefährden (MBW.T 3, 491,472). Auch diese Zurückhaltung gegenüber schnellen kultischen Veränderungen setzte sich in den folgenden ersten Visitationen fort.
2 Melanchthon als Visitator in Thüringen 1527 Den Wunsch nach einer Visitation hatte es schon seit 1524 gegeben, besonders von dem Zwickauer Pfarrer Nikolaus Hausmann. Luther trug dem Kurfürsten im November 1526 den Vorschlag vor, die Güter der aufgelösten Klöster für die oft schlecht finanzierten Pfarreien zu verwenden (WA Br 4, 133 – 135). Der Kurfürst beschloss daraufhin eine Visitation mit dem doppelten Ziel der Klärung von Finanz- und Lehrfragen. Für erstere Aufgabe bestimmte der Hof die Ritter Hans von der Planitz und Asmus von Haubitz, für letztere wählte die Wittenberger Universität Melanchthon und den Juristen Hieronymus Schurff (Jadatz 2004, 70 – 79; Herrmann 1928, 24– 26; Hammann 1952, 57)
2.1 Die ersten Visitationserfahrungen: Weidaer Artikel und Articuli Visitationis Die Gruppe begann vermutlich am 8. oder 9. Juli 1527 in Weida ihre Arbeit. Als problematisch erwies sich dabei von Anfang an, dass den Visitatoren genauere Richtlinien fehlten. Die schriftliche Instruktion des Kurfürsten, welche sie erst am 12. Juli erhielten, bot eine rechtliche Grundlage und allgemeine Anhaltspunkte für das Vorgehen (MBW.T 3, 558,80 – 94).Viele entscheidende Fragen stellten sich jedoch erst bei der praktischen Arbeit, sodass Melanchthon mit seinen Kollegen während dieser ersten Visitationsreisen selbst mehrere Schriften verfasste, die auch für spätere Kirchenordnungen und Visitationen grundlegend wurden und zugleich Einblick in seine ersten Visitationserfahrungen geben. Die ersten Dokumente dieser Art waren die sogenannten Weidaer Artikel (Sehling 1902, 148 – 149), die bereits Anfang Juli 1527 im ersten visitierten Ort Weida entstanden, und die ausführlicheren Articuli de quibus egerunt visitatores in regione Saxoniae (CR 26, 9 – 28), die Melanchthon einige Wochen später verfasste (Kobler 2014, 41– 42; Hammann 1952, 57– 59, 61– 71; Neuser 1968a, 269 – 277; Maurer 1969, 476 – 478). Die Weidaer Artikel umfassen neben zwölf vermutlich gemeinsam verfassten Artikeln zu Lehre und Kirchenorganisation auch einen Fragen- und Themenkatalog für die Befragungen vor Ort, der eindeutig Melanchthon zugeordnet werden kann. Die deutsche Übersetzung der zunächst lateinischen Fragen wurde allerdings von anderen vorgenommen, so Kobler (2014, 41), Neuser (1968, 176) und Sehling (1902, 36), kritisch
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dagegen Maurer (1969, 476). Die zweite Schrift, die Articuli, verfasste Melanchthon vermutlich Ende Juli 1527, indem er die Weidaer Artikel weiter ausformulierte und dabei seine Belehrungen der Pfarrer aus den ersten Wochen der Visitation zusammenfasste. Auch diese besteht aus einem Themenkatalog für die Befragung der Pfarrer und einem weiteren Teil, der sich in siebzehn Artikeln mit Fragen der Lehre und Kirchenorganisation beschäftigt. Die Articuli wurden aus zwei Gründen bekannt: Sie gelten als unmittelbare Vorform des Unterrichts der Visitationen an die Pfarrherren im Kurfürstentum Sachsen und wurden zum Anlass des sogenannten „ersten Antinomistischen Streites“. Die Fragenkataloge dieser Schriften geben Einblick in die Themen, die bei der Visitation eine Rolle spielten. Die Pfarrer sollten, so die Weidaer Artikel, nach ihrem Verständnis und ihrer Lehre der zehn Gebote befragt werden, nach Glauben und Rechtfertigungslehre, nach Buße, Altarsakrament, Taufe und „Wiedertaufe“, Gehorsam gegenüber Obrigkeit und Gesetz, Ehe und Strafe für Ehebrecher, der Feier der Messe und nach der Lehre von den Toten (Sehling 1902, 148). Die letzten Artikel widmen sich eher praktischen Fragen der Kirchenorganisation wie der Einrichtung von Schulen und Gemeinen Kästen und dem Umgang mit Stiftungen. Wie diese ersten Reihen von Visitationsartikeln, aber auch Melanchthons Briefe dieser Zeit zeigen, waren seine Erfahrungen ernüchternd. Gegenüber seinem Freund Joachim Camerarius klagte er, er sehe nicht, was bei dieser Visitation Fruchtbares herauskommen sollte (MBW.T 3, 571,125 – 127; Kobler 2014, 43). Besonders beklagte er die Unwissenheit und mangelnde Bildung der Pfarrer (Kobler 2014, 44– 48). Darin sah er die Ursache dafür, dass das Evangelium zu einseitig mit Blick auf die christliche Freiheit verkündet werde (MBW.T 3, 131). So kritisierte er, dass die Pfarrer zu stark die Vergebung der Sünden predigten und dabei Reue und Maßnahmen zur Buße vernachlässigten (CR 26, 9 – 10,17). Angesichts dieser falsch verstandenen Heilsgewissheit kämen die Menschen zur Überzeugung, Bräuche und Gesetze aller Art seinen abzuschaffen und verhielten sich entsprechend schlecht. Stattdessen würden Äußerlichkeiten, wie die das Fleischessen an Fastentagen oder Abschaffung der altgläubigen Zeremonien in den Mittelpunkt gerückt (CR 26, 10,23 – 25). Auch insgesamt ist erkennbar, dass die Visitatoren eher gegen einen zu starken Zwang zur Reformation vorgingen. Sie zeigten sich erschrocken über den Umgang mit den Altgläubigen (MBW.T 3, 567,112) und mahnten, Mönche, „pfaffen“ und Nonnen nicht zu schmähen oder zu verhöhnen (Sehling 1902, 148). Im Gegenteil sollten die kirchlichen „Cerimonien“ gehalten werden wie von alters her, sofern diese dem „evangelio geleichmessig“ seien (Sehling 1902, 148; CR 26, 18). Entsprechend stellten die Visitatoren vieles frei, wie das Abendmahl unter einer oder beider Gestalt und die lateinische oder deutsche Sprache bei der Messe. Dies sollte jeweils geregelt werden, „wie die Andacht erfordert“ (Sehling 1902, 148), ohne dass jedoch ein Zwang die Gewissen beschwere (CR 26, 19). Entscheidender war hingegen, dass das Evangelium „helle und claer geprediget“ wurde (Sehling 1902, 148). Konkret wird dies auch im Umgang der Visitatoren mit den Klöstern (Kobler 2014, 47). Hatte der Kurfürst in seiner Instruktion angeordnet, man solle die Mönche und Nonnen dazu bringen, die Klöster zu verlassen (MBW.T 3,
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558,84), so gestanden die Visitatoren ihnen zu, ihre Gebräuche wie Stundengebete, Tonsur und Kutten und besonders das Abendmahl unter einer Gestalt noch eine Weile fortzuführen, um sie nicht in Gewissensnöte zu bringen (MBW.T 3, 567,110). Während der Visitationstätigkeit stellte sich neben dem Umgang mit Altgläubigen auch die Frage, wie mit Dissidenten umzugehen war. Dieses Problem bestand für Melanchthon besonders bei der Visitation der Gemeinde von Orlamünde, wo Andreas Bodenstein von Karlstadt bis 1524 als Pfarrer tätig gewesen war und die Gemeinde nach eigenen,von den übrigen Wittenberger Theologen abweichenden Prinzipien reformiert hatte. Im August 1527 berichtete Melanchthon von Karlstadts verheerendem Einfluss in der Region, besonders von dessen Abendmahlslehre (MBW.T 3, 568,121). Ebenfalls hatte er Erfahrungen mit Täufern und anderen „Schwarmgeistern“ gemacht, die seiner Meinung nach Aufruhr stifteten (MBW.T 3, 609,148). Problematisch waren aus seiner Sicht diejenigen Prediger und Theologen, die sich auf andere Arten der Wahrheitsfindung als die Schriftexegese beriefen, wie etwa spirituelle Offenbarungen, oder die den eigenen Verstand über die Schrift setzten. Das erstere Übel sah er bei dem Bauernkriegsprediger Thomas Müntzer gegeben, das zweite bei dem ehemaligen Orlamünder Pfarrer Andreas Bodenstein von Karlstadt. Konflikte aufgrund so erlangter abweichender Meinungen waren nicht mit Bildung oder Schriftexegese zu lösen und für Melanchthon daher ein Ausdruck von Ketzerei (Kuropka 2001, 110). Während Melanchthon in Fällen wie denen der aufständischen Bauern, der Täufer oder Thomas Müntzers bereits vor der Visitation die Hinrichtung aufrührerischer Prediger befürwortet hatte, so ging man in der Visitation mit Lehren, die man zwar für irrtümlich, aber nicht für gefährlich hielt, zunächst milder vor und hoffte auf die Wirkung von Bildung und Erziehung (Kuropka 2001, 113 – 114). In diesem Sinne wurden in den Weidaer Artikeln und den Articuli auch Melanchthons Überlegungen zu den noch immer ungelösten finanziellen Fragen der Kirchenreform weiter konkretisiert. Besonders die Gründung von Schulen zur Verbesserung der Allgemeinbildung, aber auch die Bildung der Pfarrer stand dabei im Vordergrund, denn nur so konnten kirchliche Lehre und Predigt reformiert werden. Aber auch eine bessere Bezahlung der Pfarrer erschien notwendig, damit diese sich ganz ihrem Amt widmen konnten (CR 26, 18). Die Pfarrer sollten jedoch kein Geld mehr für Vigilien, Seelmessen, oder das Spenden der Sakramente nehmen, stattdessen wurde eine einheitliche Abgabe bestimmt.Weiterhin wurde die Besoldung der Kapläne festgelegt, ebenso die Bezahlung von Predigern, Küstern und Schulmeistern (Sehling 1902, 148). Besonders bei diesen Teilen der Artikelreihen ist von einem starken Einfluss der kurfürstlichen Räte auszugehen (Michel 2014, 153). Insgesamt entwickelte Melanchthon damit die schon in seinen ersten Kirchenreformen erkennbaren Grundsätze in den Visitationen weiter. Charakteristisch für seine Position der folgenden Zeit wurde dabei zum einen die Freiheit der kirchlichen Riten mit dem einstweiligen Beibehalten altgläubiger Traditionen und zum anderen seine starke Betonung der Buße, die er hier ausdrücklich als Sakrament bezeichnete (Sehling 1902, 148) und nach dem dreiteiligen Bußschema Contritio – Confessio –
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Satisfactio ausführlich erläuterte (CR 26, 20 – 21). Diese beiden Punkte sollten bald darauf zu Konflikten führen. Melanchthon übersetzte die Articuli im Laufe des Sommers 1527 ins Deutsche, überarbeitete sie und fügte in Zusammenarbeit mit den anderen Visitatoren weitere Artikel zur kirchlichen Gerichtsbarkeit und zum Schulwesen hinzu. In dieser deutschen Fassung schickten die Visitatoren die Articuli zusammen mit einem weiteren Bericht über ihre Arbeit im Ende Juli 1527 an den kurfürstlichen Hof. Melanchthon hatte die Articuli zunächst nicht als allgemeingültige Schrift für den Druck verfasst, wie er später betonte (MBW.T 3, 610,185 – 188; MBW.T 3, 622,211– 212). Dennoch wurden die zunächst als Arbeitshilfe für die eigene Visitationstätigkeit gedachten Artikel im September 1527 in der ursprünglichen lateinischen Fassung gedruckt und verbreiteten sich schnell. Dies geschah entweder über den kurfürstlichen Hof (Neuser 1968a, 278) oder aber durch den Saalfelder Pfarrer Caspar Aquila, dessen Pfarrei zur Zeit der Entstehung der Articuli visitiert wurde (Kobler 2014, 49).
2.2 Beratungen und Konflikte nach der Visitation: Die Torgauer Konferenzen Mit der Übersendung der Artikel und ihres Berichtes an den Kurfürsten baten die Visitatoren darum, die Visitation vorerst beenden zu dürfen, da ihnen eine ausführliche und obrigkeitlich gebilligte Ordnung fehlte. Kurfürst Johann stimmte zu, sodass Melanchthon am 9. August 1527 nach Jena zurückkehren konnte, wohin die Wittenberger Universität wegen der Pest verlegt worden war. Der Kurfürst hatte die Articuli inzwischen zur Durchsicht an Luther und den Wittenberger Stadtpfarrer Johannes Bugenhagen weitergeleitet (MBW.T 3, 567,104– 120), um möglichst bald eine allgemeine Visitationsordnung veröffentlichen und die Visitation fortsetzen zu können (MBW.T 3, 570,124). Doch inzwischen waren die Articuli gedruckt worden und erfuhren von mehreren Seiten scharfe Kritik, sodass es tatsächlich mehr als ein Jahr zäher Verhandlungen brauchte, bis mit dem Unterricht der Visitatoren in einem Diskussionsprozess zwischen den Wittenberger Theologen und dem kursächsischen Hof ein „Konsensusdokument“ (Wartenberg 1983, 403) fertiggestellt und die Visitation schließlich 1528 fortgesetzt werden konnte (Michel 2014, 153 – 167). Zu diesen Verhandlungen kamen Luther und Johannes Bugenhagen mit den Visitatoren zu drei Konferenzen in der kurfürstlichen Residenz in Torgau zusammen.
2.2.1 Die erste Torgauer Konferenz Bei der ersten Torgauer Konferenz am 26. und 27. September 1527 ging es zunächst darum, die Meinung Luthers und Bugenhagens zu den theologischen, und die der Räte zu den finanzpolitischen Artikeln zu hören. Besonders gespannt hatte Melanchthon offenbar auf Luthers Meinung zur Behandlung der Abendmahlsfrage gewartet. So
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schrieb er gleich nach der Konferenz, er habe diese Fragen furchtsam angesprochen und sei erleichtert, dass Luther seine Meinung zum Abendmahl nicht geändert habe (Neuser 1968a, 279). Dabei bezog er sich vermutlich darauf, dass Luther, anders als etwa Karlstadt und andere Pfarrer, deren Gemeinden Melanchthon während seiner Visitationsreise besucht hatte, an der Realpräsenz festhielt. Dennoch wurde Melanchthons Formulierung aus den Articuli, der Leib Christi sei mit dem Brot und Wein „cum pane ac vino“ präsent, für den Unterricht durch „ym brot […] und ym weyn“ ersetzt, was eher Luthers Konsubstantiationslehre entsprach (Neuser 1968a, 284– 285). Ebenfalls bei diesem ersten Treffen in Torgau wurde ein Gutachten der kurfürstlichen Räte zu Finanzfragen diskutiert (Sehling 1902, 37– 38; Maurer 1969, 476). Die Räte gingen dabei auf von den Visitatoren geschilderte Probleme, aber auch auf Beschwerden aus der Bevölkerung ein, sodass dieses Gutachten das Bild der Probleme vor Ort vervollständigt. Adelige, die sich Reformen widersetzten, etwa indem sie Pfarrern die Heirat verboten, sollten wie bisher von den Visitatoren ermahnt werden, wenn nötig auch vom Kurfürsten selbst (Art. 2, Sehling 1902, 37). Geistliche Stiftungen sollten ebenso wie große Teile des Kirchenbesitzes trotz Beschwerden weiterhin dem „gemeinen Kasten“ zugeschlagen werden, nur bei Armut wurden die Stifter entschädigt (Art. 3, Sehling 1902, 37). Die Versorgung der Pfarrer sollte aus Klostergütern und ehemalige Präbenden geschehen, alte Pfarrer sollten versorgt werden, junge, untüchtige eine Abfindung erhalten. Zur Einheit des Gottesdienstes hatten die Räte Luther befragt, der sich ganz im Sinne von Melanchthons Visitationspolitik gegen weitere Änderungen ausgesprochen hatte, da in der letzten Zeit schon zu viel verändert worden sei. Er kündigte aber eine neue Gottesdienstordnung an (Sehling 1902, 38). Die finanzpolitischen Vorschläge der Räte flossen in den Unterricht der Visitatoren ein, ebenso wie Luthers Empfehlungen, die im Artikel Von täglicher Übung der Kirche übernommen wurden (Sehling 1902, 168 – 170).
2.2.2 Kritik an Melanchthons Visitationsartikeln und die zweite Torgauer Konferenz Nach diesem ersten Treffen in Torgau schien es zunächst, als hätte man sich schnell auf eine in dieser Weise ergänzte und überarbeitete Form der Visitationsartikel einigen können. Noch im Oktober 1527 erwähnte Melanchthon in Briefen an Johann Agricola (MBW.T 3, 598,173) und an Joachim Camerarius (MBW.T 3, 610,186), der Kurfürst wolle den Unterricht der Visitatoren bald drucken lassen. Auch Luther äußerte sich noch im November 1527 zuversichtlich, dass die Visitation bald fortgesetzt werden könne (WA Br 4, 277). Doch schon wenige Tage nach der Konferenz hatte der Kurfürst Bedenken gezeigt, dass „dy Bapisten etwas frolockung haben“. Daher bat er Luther, in einer erläuternden Vorrede, den Unterricht von altgläubigen Positionen zu distanzieren (30.9.1527, WA Br 4, 259; Kobler 2014, 49). Tatsächlich hatte Melanchthons starke Betonung von Buße
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und Beichte, sowie die einstweilige Duldung vieler altgläubiger Gebräuche zu Gerüchten geführt, die Lutherischen kehrten teilweise zu altgläubigen Positionen zurück. Melanchthon sah sich in dieser Zeit, wie er 1528 schrieb, als „haereticus, ut fanaticus traducor“ behandelt (MBW.T 3, 689,329,14). Besonders der damalige Eislebener Pfarrer Johann Agricola, der mit Luther und Melanchthon seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Wittenberger Universität befreundet war, wurde zu seinem schärfsten Kritiker (Kobler 2014, 51– 61; Hamman 1952, 72 – 80). In dieser Auseinandersetzung, die als „erster Antinomistischer Streit“ bekannt wurde, kritisierte Agricola, dass Melanchthon zu stark das Gesetz, die Buße und die Tradition in den Mittelpunkt stellte, anstatt die christliche Freiheit zu betonen. Besonders Melanchthons bei der Visitation vertretene und in den Articuli ausgeführte Bußlehre führte zu Kritik. Auch andere trugen Melanchthon ähnliche Bedenken vor, so der Saalfelder Prediger Caspar Aquila und der Eislebener Lehrer Veit Amerbach. Beide zeigten sich aber nach weiteren Erläuterungen Melanchthons zufrieden (MBW.T 3, 584a,150 – 151; MBW.T 3,629,225). Agricola ließ sich hingegen nicht überzeugen. Als er nach der ersten Torgauer Konferenz hörte, dass der Unterricht gedruckt und die Visitation fortgesetzt werden sollte, verfasste er eine Gegenschrift und beschwerte sich zunächst bei Luther, Ende Oktober auch bei Melanchthon selbst (Hammann 1952, 80; Kobler 2014, 56). Melanchthon befürchtete ernsthafte Probleme für seinen Ruf beim Kurfürsten, während Luther der Angelegenheit eher geringe Bedeutung beimaß (WA Br 4, 295; MBW.T 3, 623,212). Unmittelbare Folge war zunächst, dass Melanchthon und Agricola vom Kurfürsten erneut nach Torgau bestellt wurden, um Luther und Bugenhagen über die Streitfragen entscheiden zu lassen. Zu dieser zweiten Torgauer Konferenz am 29. November 1527 erschienen außerdem der Jurist Hieronymus Schurff sowie die höfischen Räte Georg Spalatin, Asmus von Haugwitz und Caspar Güttel (Kobler 2014, 58; Hammann 1952, 89 – 109). Über den Verlauf des Gespräches berichtete Melanchthon später an Justus Jonas (20.12. 1527, MBW.T 3, 634,233 – 235). Die Diskussion konzentrierte sich auf die Bußlehre in der Visitationsschrift, an der Agricola kritisierte, dass sie die Gottesfurcht anstatt der Liebe zur göttlichen Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellte. Einen weiteren, allerdings nur informell besprochenen Streitpunkt bildete die zentrale Stellung der Predigt des Dekalogs in den Visitationsartikeln, von dessen Befolgung Agricola die Christen befreit sah (MBW.T 3, 634,235). Insgesamt sah Agricola in vielen Punkten Melanchthons die christliche Freiheit eingeschränkt. Luther verteidigte die Maßnahmen Melanchthons, ging jedoch bei einer erneuten Überarbeitung des Unterrichts auch auf Kritik ein. So betonte er, die evangelische Freiheit dürfe zugunsten der Schwachen zwar eingeschränkt werden, sie sei aber gegenüber den Tyrannen unbedingt zu verteidigen (WA Br 4, 241). In diesem Sinne wurde in den Unterricht die Formulierung aufgenommen, anstatt sich mit „fleischessen und der gleichen geringen stuecken“ zu beschäftigen, sei es besser, „umb der tyrannen willen, zuverteydigen die Christliche freyheit“ (CR 26, 51). Auch für die Streitfrage zum Verhältnis von Glauben und Buße fand Luther eine schlichtende Formulierung, die in der Forschung als Torgauer Einigungsformel bekannt wurde. Melanchthon fasste sie später folgendermaßen zusammen: „Sibi placere, ut fidem
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nomen tribuatur iustificanti fidei ac consolanti nos in his terroribus, fidem generalem sub nomine poenitentiae recte comprehendi.“ (MBW.T 3, 634,235) Dieser „Schiedsspruch“ Luthers wurde in den ersten Artikel des Unterrichts der Visitatoren übernommen, wo es heißt, obgleich die Buße aus dem rechtfertigenden Glauben folge und diesem nicht vorangehe, so sei es doch besser für den „gemeinen Mann“, man lasse diesen Teil des Glaubens „unter dem namen busse, gesetz, forcht etc.“ bestehen (CR 26, 51– 52). Damit hatte man eine Einigung gefunden, mit der alle Beteiligten zufrieden waren. Melanchthon konnte bald nach der zweiten Torgauer Konferenz an Veit Amerbach schreiben, dass Luther die Kontoverse mit Agricola geschlichtet habe (28./ 29.11.1527, MBW.T 3, 629,224– 225).
2.2.3 Die dritte Torgauer Konferenz und die Entstehung des Unterrichts der Visitatoren Vom 26. bis zum 29. Januar 1528 kam die Gruppe erneut in Torgau zusammen und konnte dort schließlich den Unterricht der Visitatoren fertigstellen. Nachdem die Schrift bei dem zweiten Treffen überarbeitet worden war, hatte der Hof zunächst eine noch deutlichere Abgrenzung von den kritisierten Punkten der Bußlehre und der altgläubigen Gebräuche gefordert. Kurfürst Johann sandte den Wittenbergern Anfang Januar 1528 eine von Spalatin verfasste Liste mit Änderungswünschen. Diese betrafen besonders die verschiedenen Elemente der Bußlehre „contritio, poenitentia, cognitio peccati, mortificatio“,von denen gezeigt werden sollte, dass sie ein und dieselbe Sache bezeichneten (WA Br 4, 339; Hammann 1952, 114). Luther lehnte dies mit der Begründung ab, man wolle den Unterricht als Anleitung für die Praxis und nicht als theologische Disputation gestalten (WA Br 4, 337). Ebenso wollte der Kurfürst die Abendmahlspraxis stärker vereinheitlichen und daher den im Unterricht vorgesehenen Rat, das Abendmahl glaubensschwachen Gemeindemitgliedern noch eine Zeit lang unter einer Gestalt zu geben, den Pfarrern nur mündlich geben (3.1.1528,WA Br 4, 326). Auch dies wurde jedoch bei der Überarbeitung des Unterrichts nicht mehr berücksichtigt. Mit dem Unterricht der Visitatoren war ein wichtiges Dokument entstanden, das einen ersten Konsens der Reformatoren und der landesherrlichen Gewalt über Ordnung und Lehre der Kirche der Reformation beinhaltete. Dabei galt es zugleich, eine innerreformatorische Einigkeit zu schaffen und keine Angriffsfläche nach außen zu bieten. Der Einfluss Melanchthons auf diese Schrift, die im März 1528 gedruckt wurde, war zweifellos groß. Seine Articuli bildeten die Grundlage der Diskussion bei den drei Konferenzen und wurden in großen Teilen übernommen, wie inhaltliche und stilistische Übereinstimmungen zeigen (Neuser 1968a, 475). Wesentliche Änderungen an der Schrift nahmen neben Melanchthon selbst Bugenhagen und Luther vor, letzterer verfasste auch die Vorrede. Einen wesentlichen Einfluss hatten gerade in finanzpolitischen Fragen die Vorschläge der kurfürstlichen Räte, sodass der Unterricht der Vi-
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sitatoren als einer der frühesten von weltlicher und geistlicher Gewalt gemeinsam verhandelten Ordnungsentwürfe gesehen werden kann. Die Vorrede, die Luther auf Bitten des Kurfürsten verfasst hatte, betonte im Sinne der christlichen Freiheit erneut, dass diese Ordnung kein verbindliches Gebot darstellen solle, „sondern eine historien oder geschicht, dazu ein zeugnis und bekenntnis unsers glaubens“. Luther drückte aber seine Hoffnung aus, dass die Pfarrer sich bei künftigen Visitationen dieser Ordnung „on zanck, nach der liebe art“ freiwillig unterwerfen würden (Sehling 1902, 151). Für Melanchthon war nach den öffentlichen Angriffen durch Agricola wichtig, dass Luther hier die Visitatoren namentlich lobte (Sehling 1902, 151). Als einen ersten Schritt hin zum „landesherrlichen Kirchenregiment“ wollte Luther die Visitation jedoch nicht verstanden wissen, denn er betonte, der Landesfürst habe die Visitatoren „aus christlicher liebe“ in Ermangelung der bischöflichen Gewalt eingesetzt (Sehling 1902, 150). Der Fürst handelte demnach als Christ und nicht aus obrigkeitlicher Machtvollkommenheit. Luther gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass diesem Exempel viele Fürsten folgen würden (Kuropka 2002, 120; Krumwiede 1967, 13 – 47). Die 18 Kapitel des Unterrichts behandelten zunächst die Hauptstücke der christlichen Lehre wie das Vaterunser, Gebete, die Bußpredigt und die Zehn Gebote, anschließend die Sakramente Taufe, Abendmahl und ausführlich das Bußsakrament in seinen drei Teilen. Den Abschluss bildeten Fragen der Ordnung von Kirche und Leben, die sich etwa mit der Gottesdienstordnung, der Ehe, aber auch dem freien Willen, dem Kirchenbann oder dem Türkenkrieg befassten. In dem Kapitel Von menschlichen Kirchenordnungen wurde wiederum die grundsätzliche Freiheit der äußeren Form menschlicher Ordnungen betont und die Pfarrer ermahnt, nicht „unbescheiden“ von menschlichen Kirchenordnungen zu predigen (Sehling 1902, 163). Umgekehrt warnte der Artikel Von christlicher Freiheit vor dem Missverständnis der christlichen Freiheit, die als Freiheit von der Gewalt des Teufels, nicht aber als Freiheit von allen äußeren Formen wie Zeremonien, Fasten und Feiertagen verstanden werden sollte (Sehling 1902, 167). Die Einhaltung menschlicher Kirchenordnungen sei hingegen aus dem Gebot des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit abzuleiten. Insgesamt lässt der Unterricht der Visitatoren damit trotz der in den Torgauer Konferenzen beschlossenen Änderungen in der ausführlichen Darstellung des Bußsakramentes und auch in der Mahnung zur Einhaltung menschlicher Ordnungen erkennen, dass Melanchthons Erfahrungen aus der ersten Visitation hier großen Einfluss hatten. Für die weitere Entwicklung der Kirchenordnung und das Amtsverständnis der evangelischen Pfarrer ist das hier erstmals erwähnte Amt eines Superintendenten bedeutsam, welches den Erfolg der Visitation auf Dauer sichern sollte. Im Gegensatz zum Bischof sollte dieser zwar noch keine eigenen Befugnisse haben, doch die Pfarrer zwischen den Visitationen beaufsichtigen, aufrührerische Predigten dem Amtmann melden und für die Auswahl geeigneter neuer Pfarrer zuständig sein (Sehling 1902, 171). Die Einrichtung dieses Amtes zwischen obrigkeitlichen und kirchlichen Befugnissen bedeutete einen weiteren Schritt hin zum landesherrlichen Kirchenregiment.
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Der letzte Teil des „Unterrichts“ enthält schließlich eine ausführliche Schulordnung, die auf Melanchthons schon früher verfassten Schulordnungen aufbaute (Sehling 1902, 171– 174). Die Schaffung eines Schul- und Bildungsprogramms sowie einer besseren Ausbildung der Pfarrer war für Melanchthon ein zentrales Anliegen. Hier präzisierte und erweiterte er auch sein Verständnis der Rolle des Landesfürsten für die neue Kirche, die er vor allem in der Pflicht sah, theologische Wissenschaft und Bildung zu fördern und so die Verkündigung von Gesetz und Evangelium zu ermöglichen.
3 Wirkungen und Ende der Tätigkeit als Visitator Mit dem nun fertigen Unterricht der Visitatoren konnte im Oktober 1528 die erste landesweite Visitation in Kursachsen beginnen. Melanchthon selbst reiste gleich nach der Leipziger Herbstmesse im November 1528 wieder nach Thüringen und visitierte bis Januar 1529 das Gebiet um Weimar, Gotha und Eisenach. Beteiligt waren diesmal der höfische Rat Christoph von der Planitz und die Pfarrer Justus Menius und Friedrich Myconius. Die Briefe der Visitatoren aus dieser Zeit zeigen, dass besonders die Neuregelung der Pfarrerbesoldung und der Umgang mit Kirchengütern und Stiftungen in der Praxis zu Problemen und Streitigkeiten führten. Melanchthon zeigte sich erneut resigniert und konnte wenig Begeisterung für seine Aufgaben als Visitator aufbringen. Aus Weimar schrieb er Mitte November an seinen Freund Camerarius, er sei nur widerwillig wegen dieser mühseligen und ärgerlichen Geschäfte von zu Hause entfernt, die er als wenig erfolgversprechend einschätzte (MBW.T 3, 724,398). Anfang 1529 wurde er schließlich von den Visitationsgeschäften entbunden, da er den Kurfürsten zum zweiten Speyerer Reichstag begleitete. Seinen Platz bei der anstehenden Visitation des Kurkreises nahm der Wittenberger Doktor beider Rechte Justus Jonas ein. Melanchthon nahm danach nur noch jeweils sehr kurz an Visitationen teil, so etwa bei der zweiten kursächsischen Visitation 1533, bei der er im August Justus Jonas in Bitterfeld vertrat und im Dezember in Liebenwerda und Herzberg tätig war (MBW.T 5, 1388,525). Der Unterricht der Visitatoren erschien Ende März 1528 im Druck und wurde schnell über Kursachsen hinaus zur zentralen Referenz für Visitationen und Kirchenordnungen. So verwies etwa der Prediger Andreas Osiander schon bei der Visitation des Territoriums um Nürnberg und Ansbach 1528/29 auf den Unterricht als ausführliche Erläuterung seiner eigenen Visitationsartikel (Seebaß 1997, 15). Die in seiner Entstehungsgeschichte zentrale Spannung von Freiheit und Gesetz blieb auch in der Rezeption des Unterrichts bestehen: Als der Nürnberger Ratsherr Lazarus Spengler den Kirchenordnungsentwurf Osianders ablehnte, forderte er eine stärkere Betonung des Gesetzes nach dem Vorbild des Unterrichts, während Osianders Entwurf die christliche Freiheit stark betonte (Seebaß 1997, 15). Einfluss auf viele lutherische Kirchenordnungen hatte der Unterricht, da er Johannes Bugenhagen 1528 als eine der Grundlagen für die Braunschweiger Kirchenordnung diente, die wiederum ihrerseits grundlegend für viele weitere Kirchenordnungen Bugenhagens war (Sprengler-
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Ruppenthal 1989, 680). Auch Melanchthon selbst griff wenig später bei der Redaktion der Confessio Augustana auf den Unterricht zurück (Hoffmann 1938). Mit seiner Tätigkeit als Visitator hatte Melanchthon sich einen Namen als Experte der Kirchenorganisation gemacht; er wurde in der folgenden Zeit mehrmals von anderen Städten und Fürsten in praktischen Fragen der Kirchenordnung um Rat gefragt. So reiste er beim sogenannten „Kölner Reformationsversuch“ des Hermann von Wied 1543 nach Bonn und arbeitete bei der Verfassung der Kölner Kirchenordnung eng mit dem Straßburger Reformator Martin Bucer zusammen. Für den Wormser Reichstag 1545 verfasste er die Wittenbergische Reformation als Stellungnahme der Wittenberger Theologen zur Kirchenreformation, die dem Religionsvergleich im Reich dienen sollte (Sehling 1902, 209 – 222; Wischmeyer 2013, 48 – 50). Auch diese Schrift wurde wiederum zur Grundlage weiterer Kirchenordnungen in verschiedenen Territorien, insbesondere der Mecklenburger Kirchenordnung von 1552, die Melanchthon auch selbst überarbeitete und mit dem Kapitel Examen der Ordinanden zur kirchlichen Lehre ergänzte. Auf diese Weise ist der Name Melanchthons eng mit diesen Kirchenordnungen verbunden.
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1 Bildung – Unterricht – Wissenskultur Zur Verständigung sind einige grundlegende terminologische Klärungen erforderlich: Melanchthon kennt den modernen Begriff der Bildung nicht. Er verwendet diesen Terminus eher selten und dann in einem pädagogisch-technischen Kontext im Sinne von Erasmus, nach dessen Diktum der Mensch nicht geboren, sondern gebildet werde. Bildung beschreibt den Prozess des Herausarbeitens von natürlich angelegten Fähigkeiten des Menschen zur Ausbildung seines gottebenbildlichen Charakters. Insofern ist Bildung untrennbar mit der Würde des Menschen verbunden und darf ihm – um Gottes Willen – nicht vorbehalten werden. Weitere zentrale Begriffe im Kontext des Bildungsbegriffs betreffen die Sammlung, Systematisierung und Vermittlung von Wissen. Im Medium der Sprachen und der diese reproduzierenden Medien des 16. Jahrhunderts (Bücher, Flugschriften, Plakate etc.) wird Wissen gesammelt, aufbereitet, auf bestimmte Fragen und Themen hin fokussiert und sodann weiter vermittelt. Die im modernen Verständnis ausgearbeiteten komplexen Zusammenhänge der Kommunikationstheorie, der Rezeptionsgeschichte und der Vermittlungsmöglichkeiten sind nicht als Maßstab an die theoretischen Erörterungen des Praeceptor Germaniae anzulegen. Allerdings erstaunt immer wieder die frappierende Anschlussfähigkeit seiner Aussagen zu gegenwärtigen Bildungsreformdiskursen und den darin – teilweise – vergessenen älteren Vorüberlegungen. Bildung wird von Melanchthon in der klassischen Trias von eruditio (Grunderwerb von Wissen), scientia (Wissen, Wissenschaft, vor allem handlungspragmatisch oder technisch anwendbares Wissen) und sapientia (Weisheit) behandelt. Diese Einteilung entspricht dem humanistisch-spätantiken Sprachgebrauch und geht nicht auf Melanchthon zurück. Für den Erwerb notwendigen Wissens ist auf der einen Seite eine sprachliche Kompetenz zu erlangen, welche über das Frühneuhochdeutsche vor allem das Lateinische, nach Melanchthons Vorstellungen aber im Bereich der höheren Bildung unbedingt auch das Griechische und – falls möglich – in elementarer Form auch das Hebräische betrifft. Das Hebräische als die Ursprache der göttlichen Offenbarung ist vorzugsweise den Theologen zu empfehlen. Das Griechische und Lateinische hingegen auch Menschen, deren Ausbildung eine Karriere jenseits von Kirche und Universität vorsieht. Melanchthon persönlich schätzt das Griechische höher als das Lateinische. Dies gleichermaßen aus sprachästhetischen wie inhaltlichen Gründen: Die Römer haben aus den Bächen der Griechen getrunken, werden also mehr oder minder als Plagiatoren und Kopisten als nachrangig eingeschätzt. Den anderen Pol, zwischen dem sich die Bildung der Menschen zu entfalten hat, wird durch Frömmigkeit markiert. Sie ist als handlungspragmatische Manifestation des Glaubens ein wichtiger Referenzwert, um den Sinn und Zweck, den Inhalt und die DOI 10.1515/9783110335804-012
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Form erworbenen beziehungsweise zu erwerbenden Wissens bestimmen zu können. So schreibt Melanchthon in einem Anhang zu dem 1533 veröffentlichten Katechismus des Ambrosius Moibanus, dass Bildung und Frömmigkeit gleichsam zwei Säulen sind, auf denen das christliche Leben ruht. Insofern der Gehorsam gegen Gottes Gebot allererst den Blick auf Gott zulässt, vermittelt die Gesetzestreue des Frommen Freude an der Gotteserkenntnis und ein Weiterschreiten im Glauben. So wie aber die pietas den Blick nach innen beziehungsweise über die Dinge der äußeren Wirklichkeit hinweg lenkt, so vermittelt die Gelehrsamkeit die notwendige Kenntnis der Um- und Mitwelt des Menschen. Der Ungelehrte muss alles ins Unrecht verkehren, weil ihm der Maßstab zur Beurteilung der Dinge fehlt. Bildung und Wissen auf der einen und Frömmigkeit und Glaube auf der anderen Seite treten für Melanchthon nicht in Konkurrenz oder Widerspruch zueinander.Weder verlangt eine fromme Lebensführung das sacrificium intellectus, noch zwingt die Übernahme eines politischen Amtes zur Aufgabe christlicher Überzeugungen. So soll die Kirche die Bildung als eine unter mancherlei Gaben Gottes nutzen. Umgekehrt steht es auch politischen Amtsträgern und gesellschaftlichen Funktionären gut an, über eine ausreichende theologische Bildung zu verfügen. Für Melanchthon ist die Verbindung von Glauben und Wissen vom Beginn seines Wirkens an von großer Bedeutung. Die beiden Sphären treten nach Melanchthon in ein höchst fruchtbares Wechselverhältnis, das zwar zu keiner Zeit zur Identität drängt, gleichwohl tiefer miteinander verbunden ist, als es die nachaufklärerische Scheidung vermuten lässt. Für Melanchthon besteht das Ziel christlicher Bildung darin, den Willen Gottes zu erkennen und ihm gemäß zu handeln. Diesem Ziel hat sich aller Wissenserwerb unterzuordnen. Zugleich trennt diese Bestimmung Melanchthon von zweckfreien Bildungskonzepten. Melanchthons Denken kann nicht nach dem Maßstab eines modernen, rein utilitaristischen Bildungsverständnisses interpretiert werden, auf der anderen Seite ist für den Wittenberger Theologen eine zweckfreie, rein ästhetische Bildung nicht vorstellbar. So wie alles Sein seinen Sinn als Gottes Schöpfung hat, ist auch die Bildung als Teil dieses göttlichen Schöpfungswerkes zu sehen und in den Gesamtzusammenhang von Gottes Schöpfungsordnung einzuordnen.
2 Melanchthon – der Lehrer Deutschlands Infolge des ersten reformatorischen Aufbruchs seit 1521 war es in Wittenberg und auch anderen Städten Kursachsens und benachbarter Territorien zu umfangreichen Maßnahmen gekommen, die auch das Bildungswesen betrafen. Luthers 1524 ausgesandter und mit einem Vorwort Melanchthons versehener Appell An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (WA 15, 27– 53) nahm sich dieser Problematik an. Er wurde nicht nur oftmals nachgedruckt, sondern auch befolgt. Etliche der darin angeregten Schulgründungen wurden von Melanchthon persönlich betreut. Seine Wittenberger Kollegen oder Studenten übernahmen das Rektorat: Magdeburg 1524 (Nikolaus von Amsdorf, Georg Major), Eisleben
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1525 (Johann Agricola), Nürnberg 1525 (Joachim Camerarius). Melanchthons schulreformerische Ansichten fließen in den 1527 von ihm mit verantworteten Unterricht der Visitatoren zusammen. Melanchthon bemühte sich vielerorts um Schulen und deren Ordnungen. Neben der inhaltlichen Ausrichtung einiger Trivial- und Grammatikschulen machte Melanchthon auch Vorschläge zur Gestaltung des Unterrichts und entwarf für die drei Altersklassen (Haufen) der Trivialschule einen Stundenplan. Ungleich stärker richtete sich Melanchthons Interesse und Reformanliegen jedoch auf die höhere Bildung. Für Nürnberg entwarf er den Plan einer Oberen Schule, der 1526 in die Tat umgesetzt wurde. Trotz hervorragender personeller Ausstattung war der Aegidienschule zunächst kein größerer Erfolg beschieden. Der Nutzen einer höheren Bildung, die sich kaum von dem Lehrangebot der Artistischen Fakultät einer Universität unterschied, war offenbar dem utilitaristisch ökonomisch-zweckrational handelnden Stadtbürgertum nur schwer zu vermitteln. Der Universität und dem höheren Schulwesen, vor allem aber den Studienanfängern, galt auch weiterhin Melanchthons größte Sorge. Schola heißt für ihn in erster Linie die Hohe Schule, die Universität. Nicht von ungefähr kam Melanchthon mit einem nahezu fertigen Programm einer Studienreform nach Wittenberg, das er am 28. August 1518, also drei Tage nach seiner Ankunft, in einer feierlichen Antrittsrede vortrug. Der Schwerpunkt des universitätsreformerischen Engagements von Melanchthon galt den akademischen Grundlagen, den artes liberales, und hierbei besonders den artes dicendi im Trivium. Alle Studenten hatten die Philosophische Fakultät vorbereitend zu besuchen, bevor sie sich für ein Fachstudium (Jura, Medizin, Theologie) in den höheren Fakultäten einschreiben konnten. Vielen Studenten genügte freilich der Abschluss des artistischen Studiums für eine weltliche Karriere in der Verwaltung der Städte oder bei Hofe. Nach langen Verhandlungen gelang es Melanchthon, die Sprachstudien im Curriculum zu verankern. Die Akzentuierung des studium trilingue verdrängte die vorherige Betonung der Erkenntnislehre und des damit verbundenen Wegestreits zwischen via antiqua und via moderna. Hierin sah auch Melanchthon ein wesentliches Ziel seiner Bemühungen. Die mehrmalige Reform der anderen Fakultäten war sicherlich nicht Melanchthons Werk allein, wurde aber durch sein Engagement in der artes-Fakultät vorbereitet und getragen. Schon vor Melanchthons Eintritt in die Theologische Fakultät war dort das „scholastische“ Studium zugunsten einer stärker auf die Bibel und die altkirchlichen Autoritäten ausgerichteten Lehre zurückgedrängt worden. Vier exegetische Dozenten behandelten die Bücher des Alten und Neuen Testamentes und ergänzten ihre Vorlesungen durch Kollegs über ausgewählte altkirchliche Texte, wie etwa Augustins Schrift De spiritu et littera oder das Nizänische Glaubensbekenntnis. Der systematische Lehrstoff wurde im Rahmen des exegetischen Unterrichts behandelt. Dennoch verstand sich Melanchthon nicht ausschließlich als Philologe und Theologe, sondern wandte seine wissenschaftlichen Interessen allen Fächern der Philosophischen Fakultät zu. Auch naturwissenschaftliche Studien fanden immer wieder seine Aufmerksamkeit. Melanchthons übergreifende Tätigkeit in zwei Fakul-
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täten wurde in einem institutionellen Rahmen legitimiert, als 1525 der Kurfürst Johann der Beständige eine Stellen- und Besoldungsreform der Universität durchführte. Wie Luther wurde nun auch Melanchthon von allen Fesseln einer bestimmten Professur befreit und erhielt die Erlaubnis zu lesen, was er wollte. Der Lehrstuhl für Griechisch, auf den er sieben Jahre zuvor berufen worden war, wurde neu besetzt. Im Wintersemester 1523/24 wurde Melanchthon zum Rektor der Universität Wittenberg gewählt. Er nutzte sein Rektorat, um die zwei Hauptanliegen seiner Pädagogik in einer neuen Studienordnung zu verankern: die Ausbildung der sprachlichen Fähigkeiten durch Deklamationen und die Durchsetzung eines geordneten Studienganges, der auf die individuellen Bedürfnisse der Studenten abgestimmt war und von Präzeptoren überwacht werden sollte. Besonderen Wert sollte der Universitätslehrer dabei auf das Einüben und Erproben rhetorischer Fähigkeiten legen. Sie sollen durch Deklamationen regelmäßig eingeübt werden. Zwei Mal im Monat sind von nun an von Professoren für Rhetorik und Grammatik oder aber von Studenten unter Anleitung dieser Lehrer Reden zu halten. Melanchthon selbst hat in seinem Leben zahlreiche declamationes und orationes gehalten beziehungsweise für andere Vortragende verfasst, die eben diesem Zweck dienten. Zugleich sind sie ein wirksames Instrument der Universitäts- und Ordnungspolitik im semi-öffentlichen Raum der Akademie. Entsprechend liegt auch das Gewicht der Abschlussprüfungen auf dieser Fähigkeit: Melanchthon erneuert die mittelalterliche Prüfungsform der Disputationen, in denen die Kandidaten ihre Eloquenz und ihr Wissen gleichermaßen zu beweisen haben. Unter Melanchthon wird das Disputationswesen in Wittenberg zu einer neuen, freilich nur kurzen Blüte geführt. Eine andere Maßnahme, die Einrichtung von Tutorien und kontinuierlichen, sprachlich ausgerichteten Betreuungsverhältnissen scheitert, weil weder Professoren noch Studierende sich diesem Zwang unterwerfen wollen. Außerdem erlässt Melanchthon eine Ordnung der Studien, die auf die individuellen Bedürfnisse der Studenten Rücksicht nimmt. Ein ungeordnetes Studium ist für Melanchthon der Beginn von Chaos und Verfall. 1526 ergänzt Melanchthon angesichts der theologischen Streitigkeiten um das Verständnis der Gegenwart Christi im Abendmahl und der anstehenden kursächsischen Schul- und Kirchenvisitationen diese Maßnahmen durch eine Ordnung für die philosophische Fakultät. Der Akzent liegt zunächst auf dem Sprachenerwerb. Dabei geht die Ordnung so weit, Anfängern den Besuch von Überblicksvorlesungen so lange zu verbieten, bis diese einen überzeugenden Nachweis ihrer Sprachkenntnisse geliefert hätten. Die Ausbildung in Grammatik erfolgt unter Anleitung eines erfahrenen Lehrers anhand klassischer Vorbilder wie Terenz, Cicero oder Vergil. Für den Unterricht in Dialektik und Rhetorik hatte Melanchthon eigene Lehrbücher geschrieben und mehrfach überarbeitet. Sie wurden in den höheren Studien nach dem Baccalaureat durch die Lektüre Quintilians ergänzt. Für den Ethikunterricht diente Ciceros De officiis als Lehrbuch. Das Hauptproblem der Universitätsreform lag freilich weniger bei der inhaltlichen Gestaltung von Studienordnungen als in der finanziellen Absicherung der territorialen Lehranstalten. Pfründe mussten umgewidmet werden, kirchliche Einkünfte ihren
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ursprünglichen Zwecken entfremdet und über die obrigkeitliche Finanzverwaltung der Universität zur Verfügung gestellt werden. So kam es, dass für Wittenberg nach zahlreichen Ansätzen erst 1536 eine durchgreifende Reform durchgesetzt werden konnte, die in den Statuten von 1546 ihren vorläufigen Abschluss fand. Freilich wurde die kursächsische Landesuniversität auch schon während ihres Ringens um Reform zahlreichen anderen Fürsten und Universitäten zum Vorbild für eigene Reformen oder auch Neugründungen von akademischen Lehranstalten. Stets wurde dabei auch Melanchthons Rat gehört: Marburg 1527, Tübingen 1536, Frankfurt an der Oder 1540, Leipzig 1541/42, Königsberg 1544, Jena 1548/58, Rostock 1552 beziehungsweise 1563, Heidelberg 1557.
3 Melanchthons bildungstheoretische, pädagogische und unterrichtspraktische Schriften So wenig es eine eigenständige akademische Disziplin der Pädagogik oder Didaktik gab, so wenig sind dezidiert pädagogische oder explizit fach-didaktische Schriften im Werk Melanchthons auszumachen. Vielmehr sind in zahlreichen seiner Werke pädagogische Hinweise zu finden, sowohl in methodischer und didaktischer als auch in materialer Hinsicht. Mithin lässt sich auch kein exklusiv den pädagogischen Reflexionen vorbehaltenes literarisches Genre feststellen. Vielmehr werden nahezu alle in seiner Zeit gebräuchlichen Genres zur Vermittlung seines Bildungsanliegens herangezogen. Am bekanntesten ist dabei seine Anwendung der humanistischen Methode der Stichwortsammlung zur Gliederung und Systematisierung notwendigen Wissens in den Loci communes. Unter Berufung auf Rudolf Agricola und Erasmus hat Melanchthon diese Methode bereits in seiner frühen Rhetorik von 1519 erwähnt. Im Blick auf die systematische Erschließung der Bibel findet sich der Hinweis auf die Loci-Methode schon 1516 im Methodus des Erasmus: Anhand wichtig erscheinender Schlagworte sollen biblische Zitate zusammengestellt, vor allem aber abgeschrieben und memoriert werden. Im Unterschied zu Erasmus und dessen humanistischen Vorgängern will Melanchthon jedoch die Schlagworte nicht von außen an den Text herantragen, sondern aus ihm gewinnen. Er geht von einer inneren Gliederung etwa des Römerbriefes von Paulus aus und sucht diese in signifikanten Begriffen abzubilden. An diese, das lässt sich an Melanchthons Bemerkungen in Briefen und weiteren Entwürfen gut ablesen, hat sich der Schriftausleger langsam heranzutasten und sie danach einer steten Revision zu unterziehen. Das erste Ergebnis dieser Versuche erschien als gegliederte Auslegung des Römerbriefes zunächst für Melanchthons Hausschüler in lateinischer Sprache. Später veröffentlichte Melanchthon auch eine deutsche Ausgabe (1524) und fügte zahlreiche Ergänzungen und Präzisierungen seinem ursprünglichen Entwurf hinzu. Die letzte Ausgabe von seiner Hand erschien 1559, dürfte aber in wesentlichen Teilen schon
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vorher vorgelegen haben. Melanchthon gliedert den Römerbrief des Paulus nach einschlägigen Schlagworten, die später zu loci classici der konfessionellen Orthodoxie mutierten. Dieser Vorgang der Wissenssystematisierung hat Melanchthon den Vorwurf der Rückkehr zum scholastischen Schulsystem eingetragen. Das mag für spätere Nachahmer gelten, sicherlich aber nicht auf Melanchthon selbst zutreffen. Er hat in seinem Bemühen um erinnerungsfähige, didaktisch aufbereitete Lehre wiederholt auf aktuelle Vorkommnisse reagiert und Lehrinhalte ergänzt und umgestellt, sodass von einem statischen System scholastischer Provenienz nicht die Rede sein kann. Darüber hinaus hat Melanchthon gemeinsam mit seinen Schülern ein genus didascalicum entwickelt, das die bisher gebräuchlichen Genera der späthumanistischen Rhetorik ergänzt. Es bezeichnet das Genus der lehrhaften, belehrenden Rede im Unterschied zum genus demonstrativum (Beweisführung oder Kasualrede), genus deliberativum (Handlungsorientierung oder Verhaltensänderung) und genus iudiciale (Beurteilung und Bewertung von Streitfällen). Mit ihm sollen Sachverhalte und Zusammenhänge plausibel gemacht werden. Allfällige Bewertungen oder Aufforderungen zu konkretem Handeln stehen ganz am Rande und können zuweilen auch einmal fehlen. Im genus didascalicum verbinden sich Elemente der Dialektik und Logik mit denen der Rhetorik. Das führt zu einer signifikanten Verschiebung des locus classicus dieser Innovation aus der Dialektik. Das genus didascalicum behandelt Melanchthon nämlich im Rahmen der Rhetorik. Sie wird bei ihm insofern erweitert verstanden, als dass sie eben nicht nur eine Kunst des guten Redens, sondern eine hermeneutische Disziplin im Sinne des Textverständnisses darstellt. Insofern gehört dieses Genus in besonderer Weise zu den Techniken, die ein guter Prediger beherrschen sollte. Auch wenn Melanchthon wohl nicht selbst gepredigt hat – jedenfalls hielt er sich in dieser Hinsicht für ungeeignet – hat er Predigten für andere geschrieben. Besonders zu erwähnen sind die sogenannten „Sonntagsvorlesungen“, die zunächst in einzelnen Faszikeln in der Postilla Melanchthoniana (CR 24 und 25) gesammelt vorliegen. Sie dienten als Modell für angehende Prediger zur Schulung der homiletischen Kompetenz. Ursprünglich entstanden sie aus lateinischen Auslegungen, die Melanchthon für die jeweiligen Prediger in lateinischer Sprache verfasste. Sie dienten jenen Studierenden, die dem deutschen Gottesdienst nicht zu folgen vermochten, als Handreichung. Melanchthon transformiert im Weiteren die klassischen Bestandteile der dialektischen Tradition. Der Redner oder Prediger habe auszugehen von einer einfachen Frage nach einem Begriff oder Tatbestand. Dieser sei zunächst zu definieren, sodann sei nach seinen Gründen, seinen Wirkungen und seinen möglichen Bestandteilen und Verbindungen zu fragen; außerdem wären Streitfragen oder Kritik zu diesem Begriff oder Tatbestand zu behandeln. Es ist noch nicht ausgemacht, inwieweit diese Transformation späthumanistischer Rhetorik und Dialektik dem methodischen Konzept Luthers des modus loquendi theologicus entspricht oder dieses in didaktischer Hinsicht ergänzt. Davon zu unterscheiden ist freilich das genus didacticum als dialektische Weise, methodisch dunkle Wissensbestände zu erschließen. Es wird von Melanchthon auf-
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gegliedert in die interpretatio und den methodus. In der christlichen Wissenschaft sei im Gegensatz zu anderen akademischen Disziplinen nicht nach Grund und Anfang zu suchen. Dieser sei bereits in der Heiligen Schrift gegeben. Darum könne die klassische inventio zugunsten der interpretatio vernachlässigt werden. Hierbei habe der Prediger gleichermaßen auf ein breites Wissen der biblischen Texte zurückzugreifen, wie auch auf gute Kenntnisse der biblischen Sprachen, der Dialektik und Rhetorik. Es geht für Melanchthon im genus didacticum darum, die auszulegende Schriftstelle mit einfachen, klaren Worten zu paraphrasieren und sich auf eine präzise und gleichermaßen profunde Terminologie zu beschränken, die von Spitzfindigkeiten und Streitigkeiten Abstand nimmt. Trotz der oben gemachten Einschränkung lassen sich einige weitere Literaturgruppen markieren, die von Melanchthon bevorzugt zur Erörterung bildungsrelevanter Themen herangezogen werden. Briefe: Die nachfolgende Übersicht bezieht sich auf die Regesten des Melanchthon-Briefwechsels (MBW). Über einhundert Regesten der knapp 10.000 Stücke umfassenden Briefsammlung verweisen auf einen Zusammenhang mit Bildung (64), Erziehung (21) oder Unterricht (47) beziehungsweise der katechetischen Ausbildung (8), letztere nahezu ausschließlich an säkulare Obrigkeiten. Sie thematisieren, quantitativ in bemerkenswert geringer Menge, Melanchthons Anliegen gegenüber Privatpersonen, Kollegen, aber auch Institutionen sowie Vertretern von Kirche und säkularer Obrigkeit. Einige erteilen Auskunft oder geben Rat auf konkrete Anfragen hin. Andere wenden sich aus eigener Initiative an die jeweiligen Adressaten. Ein nicht unerheblicher Teil der knapp einhundert Empfehlungs- und Bittschriften für Schüler und Studierende enthalten auch pädagogische Grundüberzeugungen und Aussagen. Die meisten von Melanchthon verfassten Briefe sind in einem eleganten, der späthumanistischen Standeskultur angemessenen Stil verfasst. Freilich geht die Formgebung nicht so weit, dass sie die inhaltlichen Aussagen überdeckt. Melanchthon vermeidet manieristische und breit ausgestaltende Passagen ebenso, wie er die Tropen klassischer Redekunst durchaus zum Nachweis seiner eigenen Bildung beziehungsweise zur Illustration seines Bildungsziels heranziehen kann. Die meisten Briefe sind in Latein verfasst. Allerdings kann er, wenn er sich mit gleichgesinnten, gebildeten Gesprächspartnern austauscht, auch das Griechische verwenden. Dies beherrscht er auf einem hohen Niveau, was er seinen Korrespondenzpartnern auch demonstrierte. Zur Durchsetzung seines bildungsreformerischen Anliegens ist ihm jede Bildung, in besonderer Weise freilich die Kenntnis spätantiker und altkirchlicher Schriften, ein wichtiges Stilmittel. Gutachterliche Äußerungen finden sich immer wieder auch in den oben erwähnten Briefen. In ihnen nimmt Melanchthon zwar im Blick auf konkrete Anfragen und Probleme Stellung, formuliert diese aber nicht selten so, dass sie für eine spätere Veröffentlichung beziehungsweise als Vorlage in weiteren Verhandlungen verwendet werden können.
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Die Zahl der sich explizit auf bildungstheoretische oder -praktische Fragen beziehenden Gutachten geht nicht über zwanzig Einzelstücke hinaus. Der größte Teil (14) ist Fragen der Universitätsorganisation gewidmet und wendet sich an den Kurfürsten beziehungsweise seine mit diesen Aufgaben betrauten Räte. In finanziellen Fragen kann Melanchthon sich auch gegenüber dem Bürgermeister Wittenbergs oder auch anderer Städte äußern. Diese Fragen um die finanzielle Ausstattung sowie die theologisch-bildungsreformerische Begründung der Forderung weiterer Mittel stehen fraglos im Zentrum der Gutachten. Das liegt nicht zuletzt auch an der guten Amtsteilung zwischen Melanchthon und anderen Vertretern der Universität, die je nach Ausbildungsgang und Fakultätszugehörigkeit rechtliche Fragen oder anderes behandeln. Ein weiteres Genre, in dem Melanchthon sein genus didascalicum entfaltet, sind seine Declamationes und Orationes. Melanchthon hat knapp 200 Reden geschrieben. Ein großer Teil ist im Druck überliefert. Diese Reden, zumeist Kasual-Ansprachen, sind freilich nicht alle von ihm selbst gehalten, sondern zuweilen auch durch seine Schüler und Kollegen vorgetragen worden. In ihnen breitet Melanchthon seine stupende späthumanistische Gelehrsamkeit auf nahezu allen bekannten damaligen Wissensgebieten aus. Schwerpunkte sind bei biographischen Reden über historische und zeitgenössische Personen sowie bei historischen Themen erkennbar. Trotz aller humanistischen Rhetorik zeichnen sie sich dennoch durch die Tugenden der Kürze (brevitas), Klarheit (perspicutias), eine nachvollziehbare Gliederung und einen kunstvollen Aufbau, der die Erinnerung der Rede (memoria) erleichtert, aus – Tugenden, die Melanchthon auch seinen Schülern vermittelt. Er bemüht sich generell um eine an der Sache orientierte, knappe Ausdrucksweise. An Luther kritisiert er dessen „verbositas“, die er aber immer noch deutlich von der „loquatitas“ seiner Gegner absetzt – einem lateinischen Begriff für Geschwätzigkeit, der onomatopoetisch dem Quaken der Frösche nachgebildet ist. Diese rhetorischen Grundanliegen und Stilmittel berücksichtigt Melanchthon auch in Gedichten und Theaterstücken, die er vorzugsweise für seine Hausschüler verfasste. Seine Meisterschaft als Autor zeigt sich auch in seinen Katechismen und Lehrtexten, Traktaten, Einführungen und Vorreden sowie Lehrbüchern; ebenso in den biblischen Kommentaren oder Auseinandersetzungen mit vorliegenden Quellen, insbesondere mit durch Humanisten neu edierten beziehungsweise freigelegten Quellen aus Antike und Spätantike. Melanchthon verwendet auch Vorbilder aus der klassischen Antike oder der Geschichte der Alten Kirche, um bestimmte Tugenden im Bildungserwerb oder bei der Vermittlung von Bildungsinhalten herauszustellen.
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4 Die theologische Begründung der Bildungsreformvorschläge Melanchthon kam mit einem nahezu fertigen Konzept zur Bildungsreform nach Wittenberg. Er hatte sich zuvor im humanistischen Kreis um Reuchlin durch eigene Übersetzungen und Dichtungen in lateinischer, vor allem aber in griechischer Sprache einen Namen gemacht und trat sein Amt am 28. August 1518 mit einer fulminanten Rede De corrigendis adulescentiae studiis an. Wie bereits in seiner vielbeachteten Festrede De artibus liberalibus von 1517 unterstrich er hier die Bedeutung der klassischen Fächer für die humanistischen Studien, unterteilt in das Trivium von Grammatik, Dialektik und Rhetorik sowie das Quadrivium von Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Bereits in Tübingen hatte Melanchthon den Anschluss an die Klassik gesucht und die Siebenzahl der freien Künste unter Hinweis auf die sieben Saiten der Lyra begründet. Zugleich wurden die Fächer auch mit den klassischen Musen in Verbindung gebracht. Insofern diese aber nicht mit sieben, sondern neun angegeben wurden, erweiterte er das klassische Repertorium der Fächer um Geschichte und Poesie. Für Melanchthon ist die Bildungsreform theologisch begründet, bedient sich freilich humanistischer Methoden und Techniken zur Literatur- wie Wissenserschließung: 1. Für Melanchthon hat die konkrete Reform ihren festen Ort innerhalb der reformatorischen Theologie. Das lehrende und lernende Handeln der Christen in der Kirche gehört systematisch-theologisch in die Lehre vom usus legis civilis, näherhin in dessen Ausprägung als usus legis politics seu paedagogicus. Im Blick auf das reformatorische Verständnis der allein und ausschließlich gnadengewirkten Rechtfertigung ist zu sagen, dass durch pädagogisches Bemühen das Heil des Menschen zwar nicht verfügbar wird – die reformatorischen particula exclusiva bleiben inhaltlich voll erhalten –, aber das Wirken des Heiligen Geistes vorbereitet und unterstützt wird. Dabei verdankt sich das pädagogische Bemühen selbst schon dem Wirken des Gottesgeistes und seiner Gnade. Dazu entwickelt Melanchthon in seiner Anthropologie die Lehre von der Verantwortung des Menschen, seiner Schuldfähigkeit und der sie begründenden Fähigkeit des freien Willens, der Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse. Das pädagogische Handeln lässt sich im Rahmen einer schroffen Dialektik von Sünde und Gnade nur schwer begründen. Melanchthon sucht darum einen denkerischen Weg, der zwar systematischtheologische Brüche oder Spannungen aufweist, faktisch aber die reformatorische Theologie in eine praktikable Theorie kirchlichen Handelns wandelt. 2. Bildung heißt für Melanchthon, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, einen Maßstab zur kritischen Beurteilung aller lebenspraktischen Fragen zu entwickeln und in je konkreter Situation zu bewähren. In starker Verkürzung auf diese Handlungsorientierung wäre von einem „ethischen Bildungsideal“ zu sprechen. Melanchthon vertritt den Gedanken einer allgemeinen Bildung, welche die Lektüre der Heiligen Schrift ermöglicht und von dieser Grundlage ausgehend die gesamte Lebenspraxis des Menschen in den Blick nimmt. Diese ethische Konzentration beruht auf dem
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evangelischen, philologisch fundierten Lehrkonsens, der seinerseits wiederum mit der altkirchlichen Lehre übereinstimmt. Für Melanchthons Bildungskonzept spielt die regelmäßige Überprüfung der konkreten kirchenpolitischen Maßnahmen am consesus verae doctrinae evangelii eine entscheidende Rolle. Die akademische Theologie hat die Aufgabe, die Lehre des Evangeliums zu formulieren und die so gewonnenen Aussagen je neu an der wahren christlichen Tradition zu überprüfen und zu bewähren. Das Wechselverhältnis von wissenschaftlicher Theologie (doctrina) und deren lebenspraktischer Umsetzung (fides et caritas – pietas) stellt ein besonderes Charakteristikum der wissenschaftstheoretischen Begründung des theologischen Studiums bei Melanchthon dar. Melanchthon versteht die theologische Wissenschaft als Dreiheit von Lektüre, Lehre und Trost. Zunächst geht es darum, die Grundlagen des Glaubens zu erschließen. Dazu ist die Lektüre der Heiligen Schrift schlicht unabdingbar. Für jeden Christen ist es grundlegend, die Schrift regelmäßig zu lesen und zu meditieren. Sodann ist die Erklärung der Schrift und die Einordnung einzelner Sätze in das Ganze der Offenbarung Gottes Aufgabe der kirchlichen Lehre. Sie hilft zur Wahrnehmung des Gelesenen in der wünschenswerten Klarheit und zur Einbindung in den ökumenischen – das heißt katholischen – Horizont der christlichen Kirche. Einem lebendigen Glied der Kirche genügt nicht die unverbindliche Zustimmung zu einzelnen Sätzen des Bekenntnisses oder der Verkündigung, sondern es bedarf des lebendigen Glaubens, der in seiner Fülle durch die Lehraussagen gefasst wird. Gleichwohl ist dieser Glaube immer wieder vom Zweifel angefochten. Darum gehört es schließlich zur Aufgabe der theologischen Wissenschaft, den Zweifel auszuräumen und den davon Angefochtenen zu trösten. Der Trost ist nach Melanchthon das äußerste Ziel, das größte Werk und die umfassende Bestimmung der Theologie. Es gehört nach Melanchthon zum Schöpfungsauftrag an die Menschen, zu lernen und sich weiterzubilden. Er geht dementsprechend davon aus, dass die Universitäten – und Schulen – durch Gottes Gebot eingerichtet wurden. Gott selbst ist es, der das Studium leitet und beschützt. Maßstab des Gehorsams gegen Gottes Gebot ist es zu prüfen, inwieweit die Ausbildung zu seinem Dienst geschieht. Dazu bedarf es der Lehre. Sie ist Teil der kirchlichen Verkündigung. Auch wenn Melanchthons Verständnis kirchlicher Verkündigung nicht auf die Lehre beschränkt ist, bleibt diese ein ganz wesentlicher Teil des ministerium verbi divini. Folgerichtig versteht Melanchthon die Kirche insgesamt als Schule und den Glauben als einen lebenslangen Lernprozess. Im Mittelpunkt der inhaltlichen Analogie zwischen Schule und Kirche steht die Vermittlung des Glaubens und seiner lebenspraktischen Konsequenzen von Generation zu Generation. Berühmt ist in diesem Zusammenhang Melanchthons Wort von der Kirche als coetus scholasticus (MSA 2/2, 480,31 und 481,6), das er erstmalig in der Überarbeitung seiner Loci von 1543 verwendet. In einer allein der gemeinsamen Suche nach Wahrheit verpflichteten Gemeinschaft wie einer Schule gilt nämlich weder eine formale Autorität, noch können Mehrheitsverhältnisse ausschlaggebend sein. Allein die Schrift, das le-
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bendige Wort Gottes, kann Richter über die Wahrheitsfrage sein. Freilich klingt auch ein evangelisches Traditionsprinzip neben dem Schriftprinzip an, wenn es heißt, dass nur die Stimme in der Kirche Gültigkeit beanspruchen kann, die mit dem Wort Gottes und dem Bekenntnis der Frommen übereinstimmt. Damit wendet sich Melanchthon nicht allein gegen den römischen Lehrprimat, sondern auch gegen die Beschlüsse des Konzils von Trient. Ekklesiologisch hat die Gleichsetzung von Schule und Kirche bei Melanchthon drei Konsequenzen: Erstens ist die Kirche Gottes nur dort sichtbar, wo der wahre Glaube gelehrt und weitergegeben wird. Wesentlich ist für Melanchthon die Kirche als lehrende Kirche. Die zentralen Aussagen der Ekklesiologie betreffen darum immer wieder die Fragen der Lehre und der Verkündigung. Diese ecclesia doctrix (MSA 2/2, 483,18.21) hat nicht allein die Vollmacht, das Evangelium recht auszulegen und die Macht der Gewohnheit zu brechen, sondern auch Verwirrung und Irrlehre zu verhindern. Die lehrende Kirche ist dort zu finden, wo der Heilige Geist die Gabe der Schriftauslegung (donum interpretationis) gegeben hat. Dieses Gnadengeschenk unterscheidet sich grundlegend von jener Vollmacht, die im politischen oder gesellschaftlichen Bereich mit einem Stand oder einem Titel verbunden ist. Die Autorität, das Evangelium vollmächtig auszulegen, gründet in der Autorität Gottes, die dieser als Vater dem Sohn, und jener wiederum den Aposteln weitergegeben hat. Das Festhalten an der doctrina per Apostolos tradita begründet die lebendige Kontinuität der Kirche und verhindert das Eindringen von Heterodoxie und Irrlehre, insofern der weiterzugebenden Lehre nichts hinzugefügt werden darf. Ebenso verbieten sich Auslegungen, die im Widerspruch zur apostolischen Lehre stehen. Entscheidend für Melanchthons Verständnis der lehramtlichen Vollmacht der Kirche ist nun freilich, dass die Gabe der Schriftauslegung grundsätzlich unverfügbar ist. Sie erweist sich als Gnade Gottes und frei geschenktes Wirken des Heiligen Geistes. Zweitens gründet die Kontinuität der wahren, sichtbaren beziehungsweise hörbaren Kirche Gottes auf der Tatsache, dass der Glaube in wörtlicher Übereinstimmung mit der biblischen Formulierung und den auf sie fußenden altkirchlichen Bekenntnissen weitergegeben wird.Weder in der Schule durch den Katechismusuntericht oder bei der Vermittlung von Grundlagen akademischer Bildung noch beim theologischen Studium selbst geht es um die möglichst differenzierte Kenntnis unterschiedlicher Positionen. Vielmehr liegt es Melanchthon an einem mehr oder minder ausgestalteten Lehrkonsens, wie er in den Zehn Geboten, der Bergpredigt sowie den sakramentsbegründenden Passagen der Heiligen Schrift, den altkirchlichen Symbolen und schließlich erneut in der Confessio Augustana formuliert worden ist. So sehr Melanchthon in der späteren pädagogischen und politischen Praxis vor allem die Ausbildung eines geeigneten kirchlichen Nachwuchses im Auge hat, so sehr ist sein allgemeines Bildungsanliegen davon bestimmt, eine möglichst breitgestreute, umfassende Kenntnis der lebenspraktischen Aussagen der Heiligen Schrift in der Bevölkerung der evangelischen Territorien zu verankern.
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Drittens verweist die Analogie zwischen Kirche und Schule auf die Übereinstimmung ihrer institutionellen Strukturen und der gegenseitigen Verflechtung der sie bestimmenden Gesetzmäßigkeiten. Für die erste feierliche Promotion der Doktoren der Theologie an der reformatorisch umgestalteten Universität Leipzig am 10. Oktober 1543 verfasste Melanchthon eine Rede Über die notwendige Verbindung zwischen den Schulen und dem Predigtamt (CR 11, 606 – 618), die von dem Hebraisten Bernhard Ziegler vorgetragen wurde. Melanchthon erhebt hier die Forderung, dass eine auf humanistische Bildung gegründete akademische Theologie im Kontext des Gemeinwesens und für das Allgemeinwohl wirken solle. Schulen, Universitäten und Kirchen seien nur aufeinander bezogen denkbar. Humanistisch sind diese Reformen im Blick auf das gewählte Methodeninstrumentarium. Evangelisch ist der Ansatz im Blick auf seine letztinstanzliche Begründung und Verortung im wirklichkeitsinterpretierenden Gesamtzusammenhang der exklusiven Schriftauslegung. Reformatorisch ist dieser Ansatz seiner bildungspraktischen Umsetzung im höheren Schul- und Ausbildungswesen des 16. Jahrhunderts. Die Fülle an humanistischer Bildungsliteratur bietet ein kaum zu erfassendes Reservoir an pädagogischen Maßnahmen, Methoden und Diskursverfahren an, welche sich Melanchthon und zahlreiche weitere Reformatoren zu eigen machen und in den Dienst ihrer evangeliumsgemäßen Reformation stellen. Weniger Melanchthon als vielmehr Luther ist freilich ein gutes Beispiel dafür, dass diese Konvergenz von humanistischem Bildungsbemühen und theologischer Lehre ihre Grenzen hat. Es gibt offensichtlich Diskursverfahren, die miteinander inkompatibel sind. Während Melanchthon diese tunlichst zu vermeiden sucht, ist Luther von seinem Anliegen so beherrscht, dass die Wahl der Mittel allein seinem theologischen Interesse, aber nicht dem einer kommunikativen Vermittlung – oder dies erst in zweiter Linie – geschuldet ist. Melanchthon teilt den Ansatz Luthers, die dogmatisch-lehramtlich nicht präzis fixierte, gleichwohl aber auf einen gewissen common sense der verschiedenen spätmittelalterlichen Konzepte abzielende kirchliche Lehre auf ihren evangelischen Grundgehalt hin zu reduzieren und von ergänzenden und aus Sicht der Reformatoren überflüssigen, ja sogar irreführenden Zusätzen zu befreien. Darüber hinaus hat Bildung für ihn aber auch zahlreiche weitere Aufgaben, die sich allerdings im konkreten Zusammenhang der Zeit der kirchenreformerischen Aufgabe unterzuordnen haben. Kirche – nicht der im Spätmittelalter und auch in modernen Texten häufig als Ersatz verwendete Begriff der Religion – als vinculum societatis darf diese Funktion nicht verlieren. Umgekehrt nützten allerdings auch beste Theologie und vorzügliche Kirchenleitung nichts, wenn das Gemeinwesen an seinem Bildungsverfall Schaden nehme und im Chaos versinke. Melanchthons Bildungsreform befindet sich in der Spannung zwischen einer konservativen Reform, die faktisch zu einer Innovation wird, weil die Begründungszusammenhänge und der historische Zusammenhang in den zurückliegenden 1500 Jahren einem starken Wandel unterworfen waren. Das konservative Beharren wird zur Erneuerung.
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5 Kritische Abgrenzung und Würdigung Als im ersten Jahr nach den Wittenberger Unruhen nicht nur die Inskriptionsfrequenzen in Wittenberg, sondern im gesamten Alten Reich stark sinken,wendet sich der Erfurter Humanist Helius Eobanus Hessus mit einer besorgten Anfrage an die Wittenberger, ob es ihr reformatorisches Wirken sei, das zu dieser um sich greifenden Bildungskritik und -feindschaft beitrüge. Luther und Melanchthon antworten am 29. März 1523 mit einem Traktat Dass die humanistischen Studien, die für zukünftige Theologen höchst notwendig sind, nicht vernachlässigt werden dürfen (MBW.T 2, 272; WA Br 3, 596,48 – 51). Ihm liegt eine kurz zuvor von Melanchthon gehaltene programmatische Rede Dass für jede Art von Studium die sprachlichen Fächer unerlässlich sind unter dem lateinischen Titel Encomion eloquentiae (CR 11, 50 – 66; vgl. MSA 3, 43 – 62; vgl. auch MBW.T 2, 277) zugrunde. Dabei weiß Melanchthon durchaus zwischen einer allgemeinen Bildungsunlust und den durchaus reputierlichen Beschäftigungen mit den Inhalten der höheren Fakultäten zu differenzieren. Nicht die Bildung insgesamt werde vernachlässigt, sondern die intensive und gründliche Beschäftigung mit ihren Grundlagen. War es schon seit der Antike eine gängige Überzeugung, dass sich der Mensch in seiner Gottebenbildlichkeit vom Tier durch die Gabe der Sprache unterscheidet, wendet Melanchthon diese auch von Humanisten gern verwandte Aussage konkret an: Mit dem Verfall der Sprachfähigkeit geht auch der Bildungsinhalt, der nur in korrekter Sprache gehalten werden kann, verloren. Mit dem Verlust der Sprachfähigkeit stumpft der Student ab. Dazu ist leider auch ein übermäßiger Literaturkonsum angelegt. Darum plädiert der Wittenberger Professor so energisch für eine intensive Beschäftigung mit den artes dicendi, weil sie zum einen den klaren Ausdruck schulen, zum anderen aber auch den menschlichen Geist. Nur mittels klarer und präziser Sprache lassen sich komplexe Gehalte durchdringen und angemessene Lösungen für Probleme finden. Ohne es ausdrücklich zu zitieren, reproduziert Melanchthon hier das klassisch-antike Ideal,welches zwischen Wahrheit und Schönheit nicht unterscheidet. Nur eine wahre Rede ist wirklich schön. Nur eine schöne Rede – damit sind freilich nicht die Manierismen und Dekadenzen scholastischen Lateins gemeint – kann auch wahrhaftig und wahr sein. Die Kritik an der spätmittelalterlichen Scholastik geht bei Melanchthon allerdings noch weiter: Es ist nicht nur ein grässliches Latein, welches in den letzten Jahrhunderten gepflegt worden sei. Die Wahrheit des Evangeliums werde durch mannigfaltigen scholastischen Unsinn verdunkelt. Für Melanchthon ist das Auftreten Luthers und seiner Mitstreiter ein zweites Pfingstwunder, durch welches der Heilige Geist das Licht des Evangeliums wieder erstrahlen lässt. Deutlicher noch als 1518 wird hier sichtbar, dass die Sprachenschule nicht nur einen propädeutischen Zweck innerhalb schöngeistiger Studien, sondern eine elementare Funktion innerhalb der Reformation von Kirche, Frömmigkeit und Bildung übernimmt. Vor diesem Hintergrund ist die reformatorische Bildungsinitiative zu keiner Zeit ganz frei davon gewesen, humanistische Anliegen zu übernehmen aber auch in ge-
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eigneter Weise zu transformieren. Daran sollten sich spätestens seit der Mitte der 1520er Jahre die Geister scheiden. Umgekehrt muss ebenso konstatiert werden, dass die Verwendung humanistischer Elemente, insbesondere im bildungsreformerischen Bereich, ein Element der Kontinuität im Werden der konfessionellen Kultur darstellt.
Literatur Fuchs, Thorsten. 2008. Philipp Melanchthon als neulateinischer Dichter in der Zeit der Reformation. NeoLatina 14. Tübingen. Hartfelder, Karl. 1889. Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae. Monumenta Germaniae paedagogica 7. Berlin. Knape, Joachim. 1999. „Melanchthon als Begründer der neueren Hermeneutik und theologischen Topik.“ In Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert, hg. v. Günther Wartenberg, 123 – 131. Leipzig. Leiner, Martin. 2013a. „Genus didascalicum.“ HWR 10: 329 – 333. Berlin/ Boston. Mahlmann, Theodor. 1999. „Die Bezeichnung Melanchthons als Praeceptor Germaniae auf ihre Herkunft geprüft.“ In Melanchthonbild und Melanchthonrezeption in der Lutherischen Orthodoxie und im Pietismus, hg. v. Udo Sträter, 135 – 226. Wittenberg. Mundhenk, Christine. 2011b. „Rhetorik und Poesie im Bildungssystem Philipp Melanchthons.“ LuJ 78: 251 – 275. Scheible, Heinz. 1986. „Melanchthons Bildungsprogramm.“ Ebernburg Hefte 20:21 – 35, 181 – 195. – 1996 wieder abgedruckt in Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge. VIEG Beiheft 41, hg. v. Gerhard May und Rolf Decot, 99 – 114. Mainz. Scheible, Heinz. 1999. „Die Reform von Schule und Universität in der Reformationszeit.“ LuJ 66: 237 – 262. – 2010 wiederabgedruckt in: ders. Aufsätze zu Melanchthon, 152 – 172. Tübingen. Seidel, Robert. 1999. „Praeceptor comoedorum: Philipp Melanchthons Schultheaterpädagogik im Spiegel seiner Prologgedichte zur Aufführung antiker Dramen.“ In Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert, hg. v. Günther Wartenberg, 99 – 122. Leipzig. Wriedt, Markus. 2001. „Pietas et Eruditio. Zur theologischen Begründung der bildungsreformerischen Ansätze bei Philipp Melanchthon unter besonderer Berücksichtigung seiner Ekklesiologie.“ In Dona Melanchthoniana. Festgabe für Heinz Scheible zum 70. Geburtstag, hg. v. Johanna Loehr, 501 – 520. Stuttgart/Bad Cannstatt. Wriedt, Markus. 2008. „Säkularisierung wider Willen. Der säkularisierende Modernisierungsschub infolge der reformatorischen Schul- und Universitätsreform.“ In Säkularisierung vor der Aufklärung? Bildung, Kirche und Religion 1500 – 1750, hg. v. Hans-Ulrich Musolff, Juliane Jacobi und Jean-Luc Le Cam, 57 – 75. Weimar/Wien. Wriedt, Markus. 2015. „Humanistische Reform – evangelische Reformation. Melanchthons Beiträge zu den Reformen der Wittenberger Universität zwischen 1518 und 1536 und deren theologische Begründung. In Die Leucorea zur Zeit des späten Melanchthon. Institutionen und Formen gelehrter Bildung um 1550, hg. v. Matthias Asche et al., 117 – 148. Leipzig.
Melanchthon und die Bekenntnisbildung Hendrik Stössel
1 Luthertum 1.1 Persönlicher Bekenntnisakt – bekenntnisaffiner Text – normative Bekenntnisschrift Am Beginn der Reformation steht der Bekenntnisakt normativer Persönlichkeiten, allen voran Philipp Melanchthon und Martin Luther. Dessen Auftritt 1521 in Worms vor Kaiser und Reich 1521 hat ihn zum Prototyp des Christen gemacht, der – gebunden an sein Gewissen – seine Glaubensüberzeugung bekennt, das heißt mit allen Konsequenzen persönlich für sie einsteht. Vorangegangen waren durchaus keine bekenntnisaffinen Texte, sondern Beiträge zur zunächst wissenschaftlich-theologischen beziehungsweise ekklesiologischen, später kontroverstheologischen Debatte: Vier Jahre vor Worms die 95 Thesen, dann – auf ihrer Grundlage 1518 verfasst – der Sermon von dem Ablass und der Gnade. Vorangegangen war ebenso die Veröffentlichung der drei sogenannten reformatorischen Hauptschriften über die Freiheit eines Christenmenschen, die Babylonische Gefangenschaft der Kirche und An den Christlichen Adel deutscher Nation. Insbesondere in der Freiheitsschrift mit ihrer Doppelthese „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“ und „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“ entfaltet Luther das Freiheitsthema dialektisch als ein zentrales Thema der Reformation. Zugleich tritt darin ein Selbstbewusstsein zutage, das – jedenfalls im 16. Jahrhundert – mindestens verdächtig erscheinen sein musste. Diese Gemengelage führte dazu, dass sich Luther aufgrund der römischen Anklage wegen notorischer Ketzerei mit der kaiserlichen Forderung konfrontiert sah, seine Äußerungen zu widerrufen. Es ist eine noch immer beeindruckende Mischung aus Demut und Selbstbewusstsein, die der Reformator in Worms vorstellt. Man hat den Eindruck, angesichts höchst bedrohlicher Perspektiven spreche hier jemand vollständig angstfrei und aufrecht mit Widersachern, denen andere nur gebückt begegnen: Er sei ein Mensch und nicht Gott. Daher könne er Fehleinschätzungen nicht ausschließen und sei bereit, jeden Irrtum zu widerrufen, den man ihm nachweise. Dann werde er selbst der Erste sein, der seine Schriften ins Feuer werfe. Aber nun bitte er doch die allergnädigste Majestät und durchlauchtigste fürstliche Gnaden – oder wer es sonst vermöge – um Argumente aus der Schrift, die ihn widerlegen. Berühmt geworden ist dann der Schluss seiner Rede: „[…] wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe besiegt werde, so bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, in meinem Gewissen überwunden und in Gottes Wort gefangen. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, da es feststeht, dass sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Daher kann DOI 10.1515/9783110335804-013
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und will ich nichts widerrufen, weil es weder sicher noch heilsam ist, etwas wider das Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen.“ (Oberman 2004, 61) Strukturell ähnlich Philipp Melanchthon. Er erklärt 1521 in den Loci communes von 1521, es gehe ihm um „nichts anderes, als [darum,] die Studien derer, die sich in der Schrift umtun wollen, so gut wie irgend möglich [zu] unterstützen. Wenn es so aussieht, dass das Büchlein dies nicht leisten kann, mag es meinetwegen zugrunde gehen. Denn ich denke, mir liegt nichts daran, was von dem veröffentlichten Werk in der Öffentlichkeit gehalten wird“ (LC 21997, 17,12). Dem können wir entnehmen: Nicht die Erstellung bekenntnisaffiner Texte und schon gar nicht die Abfassung von Bekenntnisschriften mit normativem Gültigkeitsanspruch sind das Ziel des Reformators, sondern die Stärkung des Glaubens durch biblisch-theologische Bildung und Unterweisung. Damit hängt zusammen, dass er sein Leben lang nicht nur an den Loci, sondern auch viele Jahre an der Confessio Augustana (CA) gearbeitet hat (BSELK QuM1, 108). Daher befassen wir uns im Folgenden zunächst mit dem Bekenntnis als Bekenntnisakt beziehungsweise der persönlichen Glaubensaussage bei Philipp Melanchthon (Ziff. 1.2). In einem weiteren Abschnitt (Ziff. 1.3) geht es um die CA und die Apologia Confessionis Augustanae (ApolCA) als den bei weitem wichtigsten bekenntnisaffinen Texten der Reformation. Wir nennen sie so, weil sie erst lange nach ihrer Entstehung zu den Bekenntnissen beziehungsweise Bekenntnisschriften geworden sind, als die sie heute vor uns stehen. Und schließlich (Ziff. 1.4) skizzieren wir das Corpus Doctrinae Christianae (CDC) von 1560 als unmittelbare Vorform der normativen, kirchendefinierenden Bekenntnisschrift.
1.2 Philipp Melanchthon und der Bekenntnisakt Melanchthon sieht das Bekenntnis nicht in erster Linie als theoretisch-dogmatische Aussage. Vielmehr ist es ihm Aufgabe und Weg, in der je konkreten Situation des eigenen Lebens Jesus Christus als Wahrheit zu bezeugen, als Teil seiner persönlichen praxis pietatis. Martin H. Jung hat darauf hingewiesen, dass der Reformator für den hier bezeichneten Sachverhalt vor allem die Begriffe pius und bonus verwendet (Jung 1998, 7). Während pius mit „fromm“ beziehungsweise „gottesfürchtig“ zu übersetzen ist, klingen in bonus religiöse und ethische Aspekte gemeinsam an. Einschlägig für das Frömmigkeitsverständnis Melanchthons ist seine Schrift Unterschidt zwischen weltlicher und Christlicher Fromkeyt aus den Jahren 1521 oder 1522 (MSA 1, 171– 175). Danach besteht weltliche Frömmigkeit in „ausserlicher zucht, erberkeyt, geberden, sitten und breuchen, und die Vernunft mag diese begreifen. Ja, sie ist der vernunft yngepflanzt von Gott […]“ (MSA 1, 171,4– 6). Das determiniert sie durch die natürliche Vernunft und weist ihr den Bedeutungshof von „Tüchtigkeit“, „Tapferkeit“, „Rechtschaffenheit“ oder auch „Vortrefflichkeit“ im Sinne von bonitas zu (Jung 1998, 8). Zur Erkenntnis Gottes allerdings als dem Entscheidenden ist die natürliche Vernunft nicht in der Lage. Deshalb „hat gott seyn son yns fleisch geworffen, das er uns
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des vatters willen fur hielt und unser blyndheyt und erlogne meynung von Gott sampt allen sunden […] weg neme und den heylgen geyst außgposse, damit wir ynn ware erkenntnis Gottis khemen. Dazu helfen kheyne unser werck oder verdienst.“ (MSA 1, 172,31– 36). Daraus folgt, dass die weltliche Frömmigkeit eindeutig hinter der christlichen beziehungsweise göttlichen Frömmigkeit zurücktritt: „Diß ist nu gotliche Fromkeyt in uns, die Christus in uns wirckt mit dem heylgen geyst, das ist, wenn unser hertz vom heylgen geyst bewegt wurt, das es erschrickt vor dem grossen zorn Gotis von unser sunden wegen und ergreift die gnad und verzeyhung der sund durch Christum und emphaet also trost und gewint eyn sichere frolich hertzhafftige zuversicht zu Gott, das es sich mutiglich Gott ergibt ynn allen anstossen […].“ (MSA 1, 173,1– 7)
1.2.1 Der Bekenntnisakt als Lobpreis der Wohltaten Christi Im Akt des individuellen Bekennens betätigt sich „christliche Fromkeyt“ als persönlicher Glaube. Er bringt Dankbarkeit und Freude angesichts der „Wohltaten Christi“ (LC 21997, 21,10; 133,114; 283,213) zum Ausdruck. Darin ist er die von Gott geforderte und ihm angemessene Antwort auf die Barmherzigkeit, die er in und durch Jesus Christus dem Menschen bezeugt. Dabei legt Melanchthon Wert auf die Feststellung, dass der zum Bekenntnisakt hindrängende Glaube seinen Ursprung allein in der Sphäre Gottes hat. Unter den Bedingungen seiner natürlichen Verfasstheit und Vernunft hält er den Mensch weder für fähig, sich Gott zuzuwenden, noch das gerade ihm geltende Erlösungshandeln Christi zu erkennen und als pro me dankbar anzunehmen. Solange der natürliche nicht als geistlicher Mensch neu geschaffen, das heißt durch Gottes Wort gleichsam geöffnet ist, liegen die „Wohltaten Christi“ außerhalb seiner Wahrnehmung und der darauf sich beziehende Glaube samt dem ihm folgenden Akt des persönlichen Bekennens außerhalb seiner Möglichkeiten. Erst unter der Voraussetzung von Gottes schöpferischem Handeln durch den Heiligen Geist hört der Glaube auf, kalte Verstandesmeinung beziehungsweise rein intellektuelles Fürwahr-Halten und Zustimmen zu sein (LC 21997, 211,9 – 11). Dieser Glaubensbegriff begleitet Melanchthon durch seine ganze theologische Existenz. Er begegnet uns unter anderem in der Apologie der Confessio Augustana (ApolCA), die den Glauben als ein Phänomen versteht, das nicht nur den Verstand, sondern den ganzen Menschen betrifft und umfasst (Pöhlmann 1980, 167– 168). Entsprechend finden wir in den Perikopen-Auslegungen der Jahre nach 1544 eine Befassung mit Apg 2, wo es zu Vers 1 heißt: „Der ewige Vater und der Sohn hauchen den Heiligen Geist in Dein Herz, verbinden sich Dir, erwecken dich zum Leben und bewirken eine Bewegung, die ihnen selbst ähnlich ist. [Und so] strahlt durch das Evangelium die Erkenntnis Gottes [in] uns auf. Der Heilige Geist aber fügt [die] Bewegung [nach außen] hinzu. […] So betrachten wir den Heiligen Geist als den Lenker. Er wird ausgegossen in die Herzen der Menschen und wird vermischt mit Deinen Gliedern und Sinnen. Nach dem Fall können wir darin kein Werk der Schöpfung sehen. Dennoch aber empfinden wir Wiederherstellung und Tröstung dadurch, dass wir le-
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bendig gemacht werden durch den Heiligen Geist. […] Nun überlegt, ob ihr die Wohnung des Heiligen Geistes und von diesem Lebendigmacher beherrscht sein wollt […].“ (CR 24, 921– 922) Offenkundig ist – mindestens zur Zeit der Niederschrift dieser Gedanken Mitte der 1540er Jahre – Melanchthons Interesse am bekenntnisaffinen Text oder der normativen Bekenntnisschrift deutlich geringer als am Bekenntnisakt, welcher jenen, wie überhaupt aller akademischen beziehungsweise politisch-theologischen Auseinandersetzung vorausgeht. In diesem Sinne wird der Reformator noch in der Confessio Doctrinae Saxonicarum Ecclesiarum ut Synodo Tridentinae exhiberetur von 1551 (Confessio Saxonica), einem Bestandteil des Corpus Doctrinae Christianae von 1560, formulieren. Dabei handelt es sich um eine frühe Form schriftlich fixierter, zum Teil als autoritativ angesehener evangelisch-reformatorischer Lehraussagen am Anfang des Prozesses, der schließlich mit der Konkordienformel beziehungsweise dem Konkordienbuch zur Normierung eines förmlichen Bekenntnisstandes im Protestantismus geführt hat. Wir werden später darauf noch eingehen. An dieser Stelle interessiert uns der Sachverhalt zunächst nur als Beleg für die Kontinuität von Melanchthons Anschauung hinsichtlich der persönlichen Prävalenz des Bekenntnisses, wenn er von der Vergebung der Sünden handelt als Grund des Glaubens, der zum persönlichen Bekennen führt, und schreibt: „Es ist daher notwendig in der Lehre über die Bekehrung oder die Buße den Glauben zu erwähnen. Dazu genügt nicht was die Gegner sagen auch über den Glauben sagen, dass er nämlich der Buße vorangehe. Denn sie sprechen [vom Glauben nur im Sinne] von der Kenntnis der Lehre [beziehungsweise] vom Glauben, dass die Vergebung der Sünden anderen zuteil wird. Darauf reduzieren auch die Teufel das Bekenntnis [symbolum]. Demgegenüber fordert das Evangelium jenen wahren Glauben, der ein Vertrauen ist auf die um des Sohnes Gottes willen verheißene Barmherzigkeit. [Eines,] das Frieden findet in Gottes Sohn [und] spricht: Ich glaube, dass [auch] mir die Vergebung der Sünden zuteil wird, und zwar geschenkweise, nicht wegen meiner Zerknirschung oder irgendwelcher anderer meiner Verdienste, sondern wegen Gottes Sohn, welcher in großer göttlicher Güte und Weisheit eingesetzt ist als Mittler.“ (MSA 6, 138,3 – 16)
1.2.2 Der Bekenntnisakt in seiner Bezogenheit auf die Soteriologie Bezugspunkt und sachlicher Inhalt des im Bekenntnisakt nach außen drängenden Glaubens ist für Philipp Melanchthon das Kreuz Christi als Ort der Erlösung durch die Vergebung der Sünden. Was das für ihn konkret meint, erläutert er am 14. September 1522 Ambrosius Blarer von Giersberg. Die beiden waren seit ihren Tübinger Studientagen befreundet und nun hatte der Benediktinermönch Blarer unter dem Einfluss der Reformation im Juli 1522 sein Kloster in Alpirsbach verlassen, dessen zeitweiliger Prior er zuvor gewesen war. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt Konstanz sieht er sich dort alsbald – nicht zuletzt durch Teile seiner eigenen Familie – erheblichem Druck ausgesetzt, den Klosteraustritt wieder rückgängig zu machen. In dieser Lage wendet er
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sich am 6. August 1522 mit der Bitte um Rat an Melanchthon. Dieser fordert den Freund auf, standhaft bei dem zu bleiben, was er in der Klosterfrage einmal als richtig erkannt habe. Im Übrigen möge er, um seine Widersacher nicht zu provozieren, seinen Mönchshabit zunächst weitertragen (MSA 6, 176) und sich ansonsten in seiner aktuell bedrängten persönlichen Situation daran zu erinnern, dass „Du Christus bekennst, soweit Du das Kreuz trägst […]. Ich glaube nicht, dass Du in den christlichen Dingen so sehr unerfahren bist, dass Du mich als Mahner bräuchtest oder dass Du nicht wüsstest, auf welche Weise Christus sich zu uns erkennen gibt, nämlich durch jenes geringe und verachtete Bild des Kreuzes, das uns überlassen ist.“ (MSA 6, 177,30 – 36) Die Verknüpfung des persönlichen Bekenntnisses mit der persönlichen Kreuzesnachfolge hat Melanchthon in verschiedenen Situationen mit seiner eigenen Existenz beglaubigen müssen. Das verdeutlicht ein Blick in seine Biographie. Sieben Jahre nach den Worten an Blarer stirbt am 15. August 1529 sein damals zweijähriger Sohn Georg (Melanchthon). „Nichts war mir im Leben jemals lieber als dieses Kind. […] Wie großer Schmerz mir widerfahren ist durch diesen Verlust, kann ich mit keinen Worten zum Ausdruck bringen“ (CR 4, 970), schreibt der Vater eine Woche später an einen Freund, und in der Tat hat er ein Leben an diesem Schicksalsschlag getragen (Jung 1998, 57, Fn. 74). Zwanzig Jahre später schreibt er dann dem Hamburger Freund Johannes Aepinus, dem die Ehefrau gestorben war. Er versichert ihn seiner Anteilnahme und Fürbitte und bringt die Hoffnung zum Ausdruck, Jesus Christus, „die Quelle und der Erneuerer des Lebens“, möge ihn durch seinen Heiligen Geist trösten. Auf den ersten Blick mag dies wie fromme Konvention wirken. Dann jedoch erzählt er verdeckt in der dritten Person – man hat den Eindruck, als wolle er Aepinus nicht auch noch mit dem eigenen Kummer zuzuschütten – von seinem Trauma. Es wirkt wie der Versuch, den Trost, den er für den Freund hat, gleichsam zu verobjektivieren, um ihn zur Allgemeingültigkeit zu erheben und dadurch noch wirksamer beziehungsweise glaubhafter machen, wenn man liest: „Wir erinnern uns eines Freundes. Dem starb sein Kind, und er war in großem Schmerz. Unterdessen stieß er mitten in nicht nachlassender Trauer auf eine Stelle in den Psalmen, wo es heißt: ‚Er hat uns gemacht und nicht wir selbst!‘ (Ps 100,3). Diese Erinnerung an die Fürsorge [Gottes] drang so in seine Seele hinein, dass er versicherte, als er das las, sei plötzlich in seinem Herzen geradezu ein göttliches Licht angezündet worden und hinterher fand er ein wenig Frieden.“ (CR 7, 429) Es ist bewegend zu sehen, wie Melanchthon den Tod seines Kindes im Koordinatensystem von Kreuzesnachfolge und individuellem Bekennen zu Christus als Element der eigenen praxis pietatis theologisch „durchbuchstabiert“ und darüber offenkundig einen gewissen Frieden in der Tat erlangt: Die Treue Gottes, die sich – für ihn erkennbar – auch in den Nöten und Finsternissen des persönlichen Lebens bewährt hat, deutet er als direkte Folge des Erlösungswerkes Christi in der Vergebung der Sünden. Sachlich jedoch hat ihm dies die Lippen geöffnet zum ὁμολογεῖν, das nach biblischem Verständnis (Mt 11,25; Röm 15,9; Hebr 13,15) integraler Bestandteil des persönlichen Bekenntnisaktes ist. Wie eine Konkretisierung erscheint auf diesem Hintergrund die Vorrede zu: Warnunge D. Martini Luther, an seine lieben Deudschen, vor etlichen Jaren geschrieben
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auff diesen fall, so die Feinde Christlicher Wahrheit diese Kirchen und Land, darinne reine Lehr des Evangelii geprediget wird, mit Krieg uberziehen und zerstören wolten. Mit einer Vorrede Philippi Melanchthon. Witteberg, Gedruckt durch Hans Lufft. 1546 (CR 6, 190 – 197). In der ersten Auflage der Warnung an seine lieben Deutschen setzt sich Martin Luther 1531 unter dem Eindruck des für die wittenbergische Seite enttäuschenden Verlaufs des Augsburgischen Reichstags im Jahr zuvor unter anderem mit der Frage eines Widerstandsrechts gegen den Kaiser auseinander. Im Ergebnis lehnt er zwar Gewaltanwendung ab, plädiert aber auf der Grundlage des Notwehrgedankens leidenschaftlich für das Recht, ja die Pflicht, jedenfalls dann den „Papisten“ den Gehorsam zu verweigern, wenn sie einen Krieg gegen die Evangelischen zu entfesseln versuchen sollten. Der Umstand, dass Mitte der 1540er Jahre die Widerstandsthematik nicht nur nicht erledigt war, sondern zum Ausbruch des Schmalkaldischen Kriegs geführt hat, erklärt die Neuauflage der Warnung D. Luthers an seine lieben Deutschen von 1546. Im Vorwort dazu schreibt Philipp Melanchthon: „Was nu […] ein jeder ehrlicher Mann zu thun schuldig ist, können sich alle Gottesfürchtige leichtlich erinnern, nemlich, daß […] ein jeder, so er nicht Gott verachtet, seiner Meinung von Gott bekannt sein wolle; denn dazu ist das menschlich Geschlecht fürnemlich geschaffen, daß wir Gott erkennen, preisen und von ihm zeugen sollen. Und unser Heiland Christus spricht: Wer mich verleugnen wird für den Menschen, den will auch ich verleugnen für meinem himmlischen Vater. Und soll dieses Bekenntnis [k.d.Vf.] geschehen nach eines jeden Beruf und Vermögen.“ (CR 6, 190,191)
1.2.3 Das Gebet als Bekenntnisakt Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt bis zur Zwiesprache mit Gott im persönlichen Gebet: Der persönliche Bekenntnisakt konkretisiert sich für den Reformator in Dank (Jung 1988, 284, 286) und Fürbitte (Jung 1988, 243). Darüber hinaus legt er seinen Schülern ans Herz, täglich auch das Apostolische Glaubensbekenntnis zu beten (sic!), um es sich auf diese Weise als persönliches Bekenntnis anzueignen. Er sieht es als Vorbereitung „auf jene letzte Prüfung im Zeitpunkt des Todes“ (CR 24, 395), das heißt als Einübung in die ars moriendi (Jung 1988, 66) und zugleich als Mittel der persönlichen Aneignung des Heilshandelns Christi. In den bereits erwähnten PerikopenAuslegungen – hier mit Bezug auf das Gleichnisses vom Sämann in Lk 8 (Postilla Melanchthoniana, CR 24, 391– 414) – setzt er sich unter der Überschrift Vom Gebet des Bekenntnisses (Postilla Melanchthoniana, CR 24, 394) zunächst mit dem Bekenntnisbegriff auseinander, um dann fortzufahren: „Es gibt viele gewichtige Gründe, aus denen wir uns an das tägliche Gebet des Bekenntnisses gewöhnen sollen, die ich jungen Menschen empfehle […]. Rechtschaffene und gottesfürchtige Männer sprechen das Glaubensbekenntnis mindestens dreimal täglich. Welchen Nutzen das hat? Zunächst ruft das Gebet des Glaubensbekenntnisses [uns] die Struktur und die ganze Summe der Lehre der Kirche ins Gedächtnis zurück. Sodann ist es eine Erinnerung an
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die besonderen Werke Gottes, [das heißt] die Schöpfung, die Erlösung, die Rechtfertigung und die ewig – währende Lehren der Kirche. Außerdem geschieht – wenn der Geist gottesfürchtig ist – durch eben dieses Gebet die Anwendung der Wohltaten Gottes. Wenn du sprichst: Ich glaube an Gott, dann sollst du denken dass du auch willst, dass es Gott [für dich] gibt. Wenn du sprichst: ich glaube an Jesus Christus, ich glaube die Vergebung der Sünden, dann sollst du [auch] glauben, dass der Erlöser dir diese schenkt und dir um seinetwillen die Vergebung der Sünden auch zuteil wird.“ (CR 24, 394) Und ähnlich wie schon bei Johannes Aepinus lesen wir dann wieder: „Ich denke [dabei] an jemanden, der vor vielen Jahren gesagt hat, dass er durch diesen besonderen Trost in großen Schmerzen gestärkt worden ist.“ (CR 24, 394)
1.3 Vom Bekenntnisakt zum bekenntnisaffinen Text Die Anfangsbedeutung der CA liegt darin, den evangelischen Standpunkt in einer politisch konnotierten kontrovers-theologischen Debatte vertreten, plausibel gemacht und mit einer Verbindlichkeit ausgestattet zu haben, die auf beträchtlichen politischen Druck gegründet war. Das belegt die Reihe der prominenten Erstunterzeichner: Herzog Johann von Sachsen, Markgraf Georg von Brandenburg, der Karl V. erklärte, sich lieber den Kopf abschlagen zu lassen als seinen Überzeugungen abzuschwören. Ferner: Herzog Ernst von Braunschweig-Lüneburg, Landgraf Philipp von Hessen, Herzog Johann Friedrich I. von Sachsen, Fürst Wolfgang von Anhalt-Köthen sowie die Magistrate der Freien Reichsstädte Nürnberg und Reutlingen. Deshalb nennen wir sie – wie auch die ApolCA – einen bekenntnisaffinen Text und unterscheiden sie damit einerseits vom (persönlichen) Bekenntnisakt und andererseits von der identitätsstiftenden, normativen Bekenntnisschrift späterer evangelischer Kirchenkörper: Dazu werden sie und die ApolCA erst später (Seebaß 1980, 9 – 11). Zu ihrer Zeit war die CA daher ein konfessionspolitischer Text unter mehreren wie etwa der Confessio Tetrapolitana von Straßburg, Konstanz, Lindau und Memmingen, die in Augsburg „die gemeinsame Front nicht zu teilen vermochten“ (BSELK, 69). Außerdem fehlte ihr die normative Kraft, die ihr in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zugewachsen ist. Das zeigt sich an ihren Varianten, etwa an der ersten von 1533, für die ein unmittelbarer kirchen- beziehungsweise konfessionspolitischer Anlass nicht erkennbar ist (BSELK QuM1, 108).Vielleicht war sie motiviert durch das Bemühen um die Zustimmung der Straßburger um Martin Bucer (BSELK, 71– 72). Die Variata Secunda (1540) steht dann im Zusammenhang mit den Regensburger Religionsgesprächen, die Kaiser Karl V. 1541 anberaumt hatte. Dies war für Melanchthon der Anlass, die CA auf der Grundlage der Wittenberger Konkordie vom 28. Mai 1536 einer vollständigen Überarbeitung zu unterziehen (BSELK QuM1, 119), in deren Verlauf der Abendmahlsartikel der CA eine der Konkordie entsprechende Form erhalten hat (Dingel 2000, 198). Die Variata Tertia schließlich hat der Reformator bereits 1542 kurz nach dem Scheitern auch des Regensburger Reichstags vorgelegt (BSELK QuM1, 168). Offenkundig hat also der Reformator selbst diesen Texten normatives, kirchengrün-
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dendes Gewicht nicht beigemessen und sich folglich für berechtigt, ja gezwungen gehalten, sie weiter zu entwickeln. Sie tragen die Signatur gerade seines spezifischen Willens zum Konsens nach innen wie nach außen in Richtung Rom. Ein Abgrenzungsaffekt gegenüber dem Katholizismus ist in den protestantischen Bekenntnisbegriff jedenfalls erst später eingetragen worden. Das heißt freilich nicht, dass die CA anfangs lediglich ein privater Texte Melanchthons gewesen sei (Seebaß 2001, 411). Immerhin hat sie nach ihrer Ablehnung durch den Augsburger Reichstag als „Referenztext“ des Schmalkaldischen Bundes (BSELK, 71) erhebliche politische Relevanz erlangt. Allein hinter ihr versammelte politische Macht musste ihr eine Dignität verleihen, welche sie über den Rang einer rein privaten Äußerung – bei aller Prägung durch Melanchthon – deutlich hinaushebt (Peters 2000, 179). Spätestens ab 1531, dem Gründungsjahr des Schmalkaldischen Bundes, war sie ein relevantes strategisches Instrument im politischen Machtkampf, an dem – so die Nürnberger Gesandten am 28. Mai 1530 an ihren Bürgermeister und den Magistrat – „man nit wohl vorüberkomme, man muß dennoch den Handel hören“ (BSELK, 67). Und schließlich sind auch nicht nur die persönlichen Gedanken und theologischen Erkenntnisse Philipp Melanchthons, sondern durchaus verschiedene Quellen in der CA zusammengeflossen und haben sie zu dem konfessionspolitischen, bekenntnisaffinen Dokument gemacht, als das sie auf dem Augsburger Reichstag eingebracht wurde.
1.3.1 Das Entstehungsumfeld der Confessio Augustana Nach dem Wormser Reichstag von 1521 zeigte sich alsbald die Unzufriedenheit der Päpste – zunächst Leos X., dann Hadrians VI. und schließlich Clemens VII. – über die aus ihrer Sicht mangelhafte Konsequenz, mit welcher der Kaiser .die Umsetzung des Wormser Edikts verfolgte. Dieser war jedoch zum einen durch allerlei kriegerische Auseinandersetzungen außerhalb des Reichs gebunden und hat sich währenddessen von seinem Bruder Ferdinand I. vertreten lassen. Außerdem sah er sich politisch durch die deutschen Landesfürsten zunehmend geschwächt, weil von deren Seite die reformatorische Bewegung erhebliche Unterstützung erfuhr. Neben Landgraf Philipp von Hessen (seit 1524) sind hier vor allem zu nennen die sächsischen Kurfürsten Johann und sein Bruder Friedrich III., welcher die Gültigkeit des Wormser Edikts bestritt: Es sei in Abwesenheit der Reichsstände beschlossen worden und habe daher folglich die Billigung durch die Mehrheit des Reichstags nicht erreicht. In dieser Gemengelage konnte sich die Reformation mehr und mehr ausbreiten, was naturgemäß die politisch-konfessionellen Gegensätze verschärft hat. Schließlich standen sich 1526 mit dem katholischen Dessauer und dem evangelischen Torgauer Bund zwei konfessionell geprägte Militärallianzen gegenüber, die bereit waren, ihre jeweiligen Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Auf dem ersten Reichstag von Speyer im Sommer 1526 gelang es zunächst, den Konflikt durch die Entscheidung zu deeskalieren. Es sollte bis zum einem allgemeinen Konzil, das in 18 Monaten stattfinden
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sollte, jeder Reichsstand mit dem Wormser Edikt nach Ermessen verfahren mögen. In der Praxis führte diese abermalige – für die reformatorische Bewegung vorteilhafte – Relativierung schnell zu neuen Konflikten. Unter dem Eindruck der politischen Erfolge des Kaisers einigten sich die katholischen Stände des Reichs unter der Führung Ferdinand I. mit ihrer Mehrheit auf dem zweiten Reichstag zu Speyer 1529 auf die vollumfängliche Wiedereinsetzung des Wormser Edikts und die kategorische Bekämpfung der Reformation. Die Evangelischen konnten dem nur eine „Protestation“ entgegensetzen, die im Ergebnis freilich ebenso hilflos wie wirkungslos gewesen ist. In der zugespitzten konfessions- beziehungsweise machtpolitischen Situation am Ende der 1520er Jahre und unter der Einsicht in die Notwendigkeit, in die sich abzeichnenden Konflikte möglichst geschlossen hineinzugehen, markieren die durch Luther und Melanchthon verfassten 17 Schwabacher Artikel vom September 1529 eine erste nennenswerte gemeinsame Position auf reformatorischer Seite, gefasst zunächst zwischen dem Kurfürstentum Sachsen, der Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach und der Reichsstadt Nürnberg (BSELK QuM1, 37). Sie bilden die Grundlage des Marburger Religionsgesprächs, das einen Monat später auf Initiative Philipps von Hessen stattfand. Die Verständigung zwischen Wittenbergern und Zürchern beziehungsweise dem oberdeutschen Zweig der Reformation sollte einen größeren Konsens herbeiführen, ebenfalls mit dem Ziel, eine machtvolle politische Kraft gegenüber dem Kaiser beziehungsweise Rom zu etablieren. Dies scheiterte jedoch bekanntlich am unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Luther und Ulrich Zwingli in der Frage der Realpräsenz, bei der – als einzigem der 15 Marburger Artikel – keine Übereinstimmung erzielt werden konnte (BSELK QuM1, 43). Daneben sind es vorrangig Gutachten und entsprechende Texte mit weniger konfessorischer als apologetischer Zielrichtung, welche der CA zu Grunde liegen und sie geprägt haben. Wir können etwa an die sogenannten Torgauer Artikel vom 27. März 1530 denken oder an Luthers Schrift Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528), die man als „Urform des Bekenntnisses der lutherischen Kirchen“ bezeichnet hat (Bayer 1982, 252). Dies beschreibt jedoch nur den abgrenzenden, polemischen Aspekt des lutherischen Bekenntnisbegriffs. In ihn wird jedoch durch Melanchthon ein Element Differenzierung eingetragen, dass eben auch zur „Urform des Bekenntnisses der lutherischen Kirchen“ gezählt werden muss.Was die Torgauer Artikel betrifft, so liegt die Schwierigkeit darin, dass ihr Textbestand umstritten ist. Im Auftrag des kurfürstlichen Torgauer Hofs durch Luther, Justus Jonas, Johannes Bugenhagen und Melanchthon ausgearbeitet, bestand ihr Ziel darin, dem Kurfürsten Anhaltspunkte über seinen Verhandlungsspielraum dem Kaiser zu gegenüber zu geben. In ihr Umfeld gehört ein Gutachten Melanchthons für Kurfürst Johann, das sich mit der Frage beschäftigt, wie die Reformation in Sachsen gesichert werden könne (Peters 2000, 174). Ähnliches gilt für die Stellungnahme, mit der Luther durch seinen Landesherrn unmittelbar nach Erhalt der Reichstagsausschreibung am 11. März 1529 beauftragt wurde, um die reformatorisch-kirchliche Praxis in Kursachsen zu rechtfertigen beziehungsweise zu verteidigen. Der interne Sprachgebrauch bezeichnete sie nicht als „Bekenntnis“, sondern als das, was sie war, nämlich eine rechtfertigende Darstellung reformatori-
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scher Glaubenspositionen, das heißt: eine Apologie (BSELK, 65). So steht die CA vor uns als theologischer Text mit dem Ziel, eine spezifische, machtpolitisch geprägte Konfliktsituation zu gestalten. Nach dem Scheitern der innerreformatorischen Einigungsbemühungen vertiefen sich bei Melanchthon zunächst die Befürchtungen, das Eintreffen Karls V. in Deutschland könne das Ende der evangelischen Sache besiegeln. Umso euphorischer macht ihn dann aber die Ankündigung Kaisers vom 21. Januar 1530, auf dem Reichstag solle jede Seite ihre theologischen Positionen nach „gutbeduncken, opinion und maynung“ (BSELK, 65) darlegen. Dabei wird – mindestens so wichtig wie die Ankündigung selbst – für den Reformator ihr konzilianter Ton insgesamt gewesen sein (Peters 2000, 175). Dieser dürfte allerdings hauptsächlich taktisch begründet gewesen sein. Das zeigt die Forderung an die evangelischen Stände – am Fronleichnamstag, dem Tag nach seiner Ankunft am 15. Juni – an einer Prozession teilzunehmen und das Verbot evangelischer Predigt in Augsburg für die Dauer des Reichstags, beides erhebliche Provokationen (BSELK, 68). Das politische Hauptinteresse des Kaisers lag darin, seinen Herrschaftsbereich im Innern zu konsolidieren: In der gegebenen politisch-militärischen Situation war jede Art Spaltung des Reiches – auch eine konfessionelle – hochgefährlich. Zweifellos dürfte dabei die Bedrohung durch Süleyman I. eine zentrale Rolle gespielt haben. Er gilt als einer der bedeutendsten Herrscher des osmanischen Reichs, das unter seiner Herrschaft zur Hochblüte aufstieg. 1529 standen seine Heere zum ersten Mal vor Wien. Trotz massiver militärischer Anstrengungen konnte er sich gegen die Verteidiger nicht durchsetzen. Gleichwohl markiert dieses Ereignis eine katastrophale Erfahrung: Noch nie zuvor hatte man sich durch eine fremde Kultur so unmittelbar und machtvoll bedroht gesehen. In dieser Lage war die mögliche Spaltung der Kirche eine enorme innere Gefahr für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (BSELK, 65). Erstaunlicherweise hat dies alles die großen inhaltlichen Erwartungen kaum gedämpft, die Melanchthon mit der Reichstagsausschreibung verband. Offenbar erkannte er nun doch eine gute Perspektive zur Bewahrung der kirchlichen Einheit (Peters 2000, 175). Diese vitale Hoffnung auf Verständigung (Peters 2000, 176) mag ebenso das große Engagement erklären und die – unter Berücksichtigung seiner Persönlichkeitsstruktur einigermaßen erstaunliche – Risikobereitschaft, mit der er im Vorfeld des Reichstags entsprechende, auch durchaus radikale Möglichkeiten sondiert hat. Dazu wird man unter anderem den Versuch zählen müssen, eine Allianz zwischen Wittenberg und Rom zu Lasten des oberdeutschen Zweiges der Reformation zu etablieren. In diesem Zusammenhang kam es zu Kontakten mit Erzbischof Albrecht von Mainz, dem Kardinallegaten Lorenzo Campeggi und zahlreichen anderen Repräsentanten Roms (Scheible 1993b, 84). Dabei hat ihm das Angebot zur Wiederherstellung der bischöflichen Kirchengewalt, wenn im Gegenzug Zugeständnisse beim Laienkelch, der Priesterehe und der evangelischen Messe zu erwarten seien, heftige Kritik eingebracht, in Teilen des evangelischen Lagers sogar den Vorwurf des Verrats, insbesondere seitens der Reichsstädte, die schon vor der Reformation häufig mit „ihren“ Bischöfen im Streit um die Kirchenhoheit innerhalb des Stadtgebiets gelegen hatten.
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Zugeständnisse in diesem Punkt hätten die Mühen, Kämpfe und kleinen Erfolge, die bis dahin errungen worden waren, zunichte gemacht. Auf diesem Hintergrund ist vom Nürnberger Bürgermeister Hieronymus Baumgartner das böse Wort überliefert, Melanchthon habe in Augsburg wie ein vom Papst Bestochener gehandelt und dem Evangelium mehr Schaden zugefügt als irgendein anderer (Peters 2000, 169). Wenn ihn auch vermutlich dieser Vorwurf tief getroffen haben wird, so bleibt festzuhalten: Am Ende ist es ihm stets darum gegangen, die drohende kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen und damit die weitere Spaltung des Leibes Christi zu vermeiden. Was etwa die Frage der Priesterehe betrifft, so verknüpfte er in ausgesprochen weitsichtiger Weise die Anliegen der Reformation mit dem Schutz ihrer Prediger (Scheible 1993b, 84): Nach wie vor in der Regel römische Priester, konnten sie allein wegen der „Predigt des Evangeliums“ disziplinarisch kaum belangt werden. Das war nur möglich bei flagranten Verstößen gegen den Codex Juris Canonici, also etwa dann, wenn der Zölibat offen gebrochen oder die Liturgie – zum Beispiel durch die Feier des Abendmahls in beiderlei Gestalt – verändert wurde. Von daher wären Zugeständnisse katholischerseits bei der Priesterehe und dem Laienkelch in der Tat der Durchbruch der Reformation gewesen. Sie wäre dann als Reformbewegung innerhalb der katholischen Kirche an ihr Ziel gelangt. Die Aussicht, dies womöglich erreichen zu können, muss Melanchthon nachgerade elektrisiert haben. Seine Tragik bestand jedoch darin, dass sein Umfeld blind für diese Chance gewesen ist.Wir können es auch „melanchthonischer“ sagen: Seine Tätigkeit im Vorfeld des Reichstags zielte darauf, der Kirche die Möglichkeit offen zu halten, die „Wohltaten Christi“ zu verkündigen, auf die sein eigener, persönlicher Bekenntnisakt stets sich bezogen hat. Dies wäre glaubhaft jedoch nur möglich gewesen, wenn beide Seiten die vorhandenen Chancen genutzt und zurückgefunden hätten zur Einheit der Kirche, anstatt sich im Kampf um partikulare Macht- und Bestandssicherung zu verausgaben. Prägnant findet dies seinen theologisch reflektierten Ausdruck in seiner Vorlesung über das Nizänische Glaubensbekenntnis (1550). Dort erklärt er seinen Studenten, Jesus wolle, dass sein Wort „von der Kirche in treuem Glauben unverfälscht erhalten wird und dass es zu allen Zeiten unter den Menschen zur Sprache kommt.“ (Melanchthon 2011, 44) Dabei dürfe von der Norm aus 1 Kor 3,11 unter keinen Umständen abgewichen werden (Melanchthon 2011, 47), woraus folge, dass wir voller Ehrfurcht die überlieferten Bekenntnisse, die sich durch hohe Autorität auszeichnen,verehren und verteidigen, und dass wir an ihrem ursprünglichen Sinn festhalten […]. Ich bemühe mich jedenfalls, die allgemeine Lehre getreu vorzutragen, die in der Kirche gelehrt wird, und die, wie ich meine, bei sorgfältiger Betrachtung der gesamten Alten Kirche, wahrhaftig den Konsens der katholischen Kirche Gottes darstellt und mit der Augsburgischen Konfession von 1530 übereinstimmt. Keinesfalls möchte ich eine fremde Art der Lehre oder fremde Meinungen in die Kirche hineintragen. Und ich wünsche, dass die Eintracht der Kirche ewig währt. Ich meine, dass ich über viele Jahre hin genügend Eifer bewiesen habe beim Aufzeigen der Wahrheit und bei der Förderung der Eintracht unter uns. (Melanchthon 2011, 48)
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Diese Äußerungen erhellen die Auffassung des Reformators von der Beziehung zwischen den altkirchlichen Bekenntnissen und ihrer nachgeordneten Auslegung durch CA und ApolCA. Erkennbar ist ebenso, welchen Ort dabei der persönliche Bekenntnisakt einnimmt. Erst von hieraus wird sein Handeln in Augsburg plausibel, einschließlich der erheblichen Risiken, die er mit seinem Verständigungskurs gegenüber Rom eingegangen ist. Die Folgen, die er in diesem Zuge auf sich genommen hat, erinnern uns an sein Wort für Ambrosius Blarer: Christus bekennen bestehe darin, sein Kreuz zu tragen. Angesichts der Schwierigkeiten und Nöte, in die er durch Augsburg geraten ist (Peters 2000, 180), wie auch im Blick auf sein letztendliches Scheitern, verstehen wir seine Arbeit an der CA deshalb als seine persönliche Weise, in der ihm gegebenen Situation das Kreuz Christi zu tragen. Es handelt sich um eben jenen Bekenntnisakt, den er stets als Grundvoraussetzung aller Theologie stark gemacht und nun auch im politischen Kontext erneut für sich selbst vollzogen hat.
1.3.2 Die Confessio Augustana als bekenntnisaffiner Text Einen präzisen Eindruck vom Selbstverständnis der CA vermitteln ihre Vorreden, Einleitungen und Schlussabschnitte, das sogenannte „Rahmenwerk“ (Seebaß 1980, 10). Wir konzentrieren uns auf die Einleitung zum zweiten Teil mit den „Dissens-“ beziehungsweise „Missbrauchsartikeln“ 22– 28 (BSELK, 133), den Schlussabschnitt des ersten Teils, der die „Lehrartikel“ 1– 21 enthält, sowie auf Melanchthons Vorbemerkung ganz zu Beginn, mit der er sich „An die Leser“ (BSELK, 85) wendet und bittet „alle, die guten Willens sind, ihr Urteil sich über uns nicht so sehr aus der Menge der Schriften unserer Gegner oder ihrem Geschrei zu bilden, die mit sonderbaren Kunstgriffen und Verdrehungen die Wahrheit zu verbergen trachten, sondern dass sie […] uns ebenso hören und die ganze Angelegenheit erkennen, welche um Gottes Ehre, der Gottesfurcht und des Heils der Seelen willen von niemandem übergangen werden darf.“ (BSELK, 85,35 – 86,2) Die Voranstellung gerade dieses Appells verdient Beachtung, denn sie nimmt die Theologie – anders als bis dahin damals üblich – aus ihren geschlossenen Zirkeln heraus und entspricht der Grundhermeneutik der Reformation: Ihr Ziel ist nicht die kircheninterne theoretische Debatte, sondern die transparente Auseinandersetzung über die grundlegenden Fragen des Heils, welche nicht anders als öffentlich geführt werden kann. Im Kern handelt es sich dabei um die Abwendung von der Theologie als arkandisziplinärem Herrschaftwissen von Eliten. Stattdessen wird die Hinwendung zu einer Theologie vollzogen, die durchaus im Sinne von Melanchthons Bildungsverständnis unter Einbeziehung der „Welt“ betrieben wird. Allerdings braucht es nicht viel Phantasie, um sich die Provokation bewusst zu machen, die dieser Perspektivenwechsel für die Herrschenden darstellen musste. Denn es konnte dem Kaiser, den Reichsständen und der ganzen christlichen Welt kaum verborgen bleiben, dass mit diesem „Vorwort an die Leser“ vor – genau genommen heißt das: über – die politischkirchlichen Autoritäten der Zeit eine weitere, durchaus andere Berufungs- bezie-
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hungsweise Beurteilungsinstanz in den Streit eingeführt wird, nämlich die christliche Gemeinde, die „Recht und Macht [hat], alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift“ (Elze 1982, 7). Hier handelt Luther auf Veranlassung durch den Rat der Stadt Leisnig von der Neuordnung des Gottesdienstes, der Regelung kirchlicher Vermögensverhältnisse und der Ein- beziehungsweise Absetzung von Pfarrer durch die Gemeinde und bestätigt ihre theologische Verantwortlichkeit beziehungsweise Mündigkeit hinsichtlich der Beurteilung biblisch-theologischer Zusammenhänge. Was nun Luther sieben Jahre zuvor aus Anlass einer konkreten Einzelfallanfrage formuliert hat, wendet Philipp Melanchthon 1530 mit seiner exponierten Anrede an die Leser der CA auf den politisch-theologischen Kontext des Augsburger Reichstags an. Unter dieser Voraussetzung stellt er gleich zu Beginn und taktisch durchaus geschickt die reformatorische Bewegung als Opfer des fehlenden Verständigungs- beziehungsweise Versöhnungswillens ihrer Gegner dar, um dann nicht etwa zunächst an den Kaiser zu appellieren, sondern eben an die mündige Gemeinde und die Hoffnung zum Ausdruck zu bringen, „dass die redlich und klug gesonnenen Menschen in aller Welt nach der Lektüre dieses kleinen Büchleins erkennen werden, dass wir keine Lehre verkünden, die nicht im Einklang mit der Autorität der Heiligen Schrift und der katholischen Kirche steht“ (BSELK, 85,15 – 17). In dieser Bemerkung liegt ein Generalschlüssel zum Selbstverständnis der CA. Es geht ihr – mit den Worten ihres Verfassers – nicht darum, „das Kirchenwesen aufzulösen sondern die Ehre Christi zu verherrlichen [!], das Evangelium in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherzustellen und den gottesfürchtigen Gewissen Rat angedeihen zu lassen“ (BSELK, 85,29 – 31). Vielmehr möchte sie Klarheit zu bringen „in die wichtigsten Punkte der christlichen Lehre, welche gegenwärtig durch die verderblichen Meinungen verdunkelt worden sind“ (BSELK, 85,18 – 19). Sodann benennt Melanchthon die Topoi, auf welche diese Einschätzung aus seiner Sicht hauptsächlich zutrifft: Über die Gerechtigkeit des Glaubens [k.d.Vf.] wurde bis vor kurzem in den Kirchen, Klöstern und Schulen und auch in den ganzen theologischen Büchern geschwiegen. In der Lehre von der Buße [k.d.Vf.] wurde nirgends sicherer und fester Gewissenstrost weitergegeben. Niemand lehrte die Vergebung der Sünden durch den Glauben an Jesus Christus [k.d.Vf.]. Die Unterweisung in der Rechtfertigung war eine Qual für die Gewissen. Die Sakramente sind auf gottlose Weise entheiligt worden, da man die Meinung gewonnen hat, dass sie gerecht machen allein durch die Handlung selbst, unabhängig von der Einstellung dessen, an dem beziehungsweise für den sie vollzogen wird [ex opere operato]. Dies hat die Unterweisung im Glauben völlig erstickt und vielfältigen Götzendienst hervorgebracht. (BSELK, 85,19 – 26)
Angesichts der Tatsache, dass dadurch der Glaube sich im Irrgarten menschlicher Traditionen verstrickt habe, „können wir nicht aufhören, für die Wahrheit einzutreten, da Christus sagt: ‚Wer mich bekennt vor den Menschen, den werde auch ich bekennen vor meinem himmlischen Vater. Der mich verleugnet vor den Menschen den werde auch ich Verleugnen vor meinem himmlischen Vater‘ (Mt 10,32– 33)“ (BSELK, 85,31–
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34). Dies verweist uns einmal mehr auf Melanchthons durch den humanistischen Wahrheit- und Erkenntnisbegriff geprägte Auffassung von der „Anciennität“ theologischer Aussagen als Hauptindiz ihrer Gültigkeit. Daher rührt die überall zu spürende Dringlichkeit, mit der er betont, nichts Neues in die theologische Debatte einbringen (BSELK, 131,12– 15), sondern dem alten, ursprünglichen Sinn der Heiligen Schrift zur Geltung verhelfen und ihm gemäß handeln zu wollen. Von daher teile man mit der Gegenseite eine klare theologische Schnittmenge (BSELK, 130,14– 18). Formal zeigt sich dies daran, dass die „Lehrartikel“, in denen die Gemeinsamkeit mit Rom hervorgehoben werden, sehr viel breiteren Raum einnehmen als die sogenannten „Missbrauchsartikel“ (Art. 22– 28). Die Reformation habe sie fallen lassen, weil sie „neu und gegen den Willen [des kirchlichen] Rechts im Laufe der Zeit eingeführt worden sind […]“ (BSELK, 133,2– 4). Aber der Reformator beschränkt sich keineswegs darauf, die Übereinstimmungen hervorzuheben. Vielmehr präsentiert er die reformatorische Bewegung als den „besseren Teil“ der katholischen Kirche und erklärt die Gegner für die eigentlichen Verursacher der Spaltung. Sie würden die Herzen der Redlichen verwirren, Anlass zum Zwiespalt schaffen und versuchen, Uneinigkeit zu säen. Deshalb unterstreicht er, „die kaiserliche Majestät [möge] keinen Zweifel haben, dass bei uns die Eigenart von Lehre und Gottesdienst mehr geachtet wird, als feindselige und böswillige Menschen behaupten. Im Übrigen dienen der Wahrheitsfindung nicht gemeine Gerüchte oder Verleumdungen der Gegner […]“, um mit dem Hinweis zu schließen, „dass nichts dienlicher ist, die Würde des Gottesdienstes zu bewahren und förderlicher der Ehrfurcht und dem Glauben im Volk, als wenn in den Gemeinden die Gottesdienste ordnungsgemäß stattfinden“ (BSELK, 133,14– 16).
1.3.3 Die Apologie als Instrument der politischen Auseinandersetzung Zu den ersten katholischen Reaktionen auf die CA gehörte die Widerlegung (Confutatio), die auf Initiative Kaiser Karls V. .zustande kam. Mit der Abfassung beauftragte er unter anderem den Konstanzer Generalvikar Johann Faber, den Meißner Domherrn Johannes Cochläus und Johannes Eck, Luthers Kontrahenten in der Kontroverse über die Frage der Freiheit des menschlichen Willens. Gegen diese Confutatio richtet sich die Apologie, die Melanchthon noch während des Reichstags verfasste, ohne allerdings den Kaiser beeinflussen zu können: Der betrachtete die Sache mit der Confutatio als erledigt und verweigerte bereits die Annahme. Die ApolCA versteht sich demgegenüber als Wiederholung, Verstärkung und „authentischer Kommentar“ (Pöhlmann 1980, 164– 173), der die Kernpunkte der CA interpretiert und profiliert. Abgesehen davon ist sie jedoch auch eine Kampfschrift, in der die bisherige Konzilianz zurücktritt (Pfnür 1970, 385) und durch eine Textur der Konfrontation beziehungsweise Polemik ersetzt wird. Am Beginn steht zunächst wiederum eine Vorrede, die nicht an den Kaiser, sondern den (außenstehenden) Leser gerichtet ist (BSELK, 237,2). Auf die darin ent-
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haltenen Implikationen haben wir im Zusammenhang mit der CA bereits hingewiesen. Sie lassen sich ohne weiteres auf die ApolCA übertragen. Die Provokation für das politisch-religiöse Establishment trägt dieses Mal freilich einen andern Akzent. Er liegt darin, dass nunmehr die hinter der offiziellen Reichstagsbühne verborgenen taktischen Ränke entlarvt werden. Über weite Strecken entsteht der Eindruck geradezu einer Anklage gegen „die kaiserliche Majestät“. Implizit wird ihr vorgeworfen, sie sei von Beginn an parteiisch auf die römischen Positionen festgelegt gewesen. Sodann werden – ein weiterer Affront – die Schwierigkeiten des reformatorischen Lagers öffentlich gemacht, überhaupt ein schriftlich ausgefertigtes Exemplar der Confutatio in die Hände zu bekommen. Obwohl man angesichts der Streitfragen eigentlich erwartet habe, dies werde unverzüglich geschehen, konnten die Unseren […] dies nur unter gefährlichsten Bedingungen erreichen, die sie nicht annehmen konnten, wenn sie sich nicht in Gefahr begeben wollten. Zwar hat es am Ende [dann doch noch] eine Klärung gegeben […]. Aber die Gegenseite forderte hartnäckig, dass wir gewisse offenkundige Missbräuche und Irrtümer anerkennen sollten,was – da wir dies nicht tun konnten – [dazu geführt hat, dass] der Kaiser ein zweites Mal unsere Fürsten aufgefordert hat, der Confutatio zuzustimmen. […] Später wurde dann ein gewisses Dekret herausgegeben, in dem die Gegner sich rühmten, unser [Augsburgisches] Bekenntnis aus der Schrift widerlegt zu haben. […] Aber an der Art, in welcher die Gegner die Sache betreiben, merkt man, dass sie weder Wahrheit noch Eintracht suchen, sondern unser Blut aussaugen. […] Ich habe nämlich eben erst die Confutatio gesehen und festgestellt, dass sie hinterhältig und böswillig geschrieben ist und die, die in bestimmten Punkten vorsichtig sind, auch täuschen kann. […] Uns erfreut Uneinigkeit nicht. Aber ebenso wenig werden wir bewegt durch die Gefahr, in der wir schweben aufgrund der Bitterkeit der Hassgefühle, in denen – wie wir sehen – unser Gegner brennen. (BSELK, 237,11– 13.14; 239, Rdn.1– 4.15 – 16; 241, 10 – 11.15 – 16.19 – 22).
1.3.4 Die Apologie als bekenntnisaffiner Text Wesentlich umfangreicher als die CA, übernimmt die ApolCA von ihr Gliederung und Einteilungsschema. Wo Konsens mit der Confutatio besteht, also in Art. 1 und 3 (Gotteslehre und Christologie), Art. 9 (Tauflehre), Art. 17 (Eschatologie) sowie Art. 19 (Hamartiologie), sind ihre Ausführungen kurz und bündig, ansonsten breit und ausführlich entworfen, zum Beispiel in Art. 12 (Bußlehre), Art. 24 (Messe), Art. 27 (Mönchsund Klosterwesen). Beherrschend in den Vordergrund rückt die Rechtfertigungslehre. Gleichzeitig liegt – trotz aller Polemik noch exponierter als in der CA und sie in diesem Punkt fortführend – wiederum ein Akzent auf der Kontinuität zur Alten Kirche als einer Gemeinsamkeit (Pöhlmann 1980, 164, 173), die die Reformation mit der römischen Kirche teilt, deren freilich „besseren Teil“ auch die ApolCA für sich Anspruch nimmt. Zur Begründung bedient sie sich des Theologoumenons von der „Ehre Christi“ (GloriaChristi-Motiv): Diese werde beschädigt, wenn man – wie in der Confutatio geschehen – die Erlösung nicht ausschließlich an Christus binde, sondern an menschliches Verdienst oder (Mit)Wirken. Auf diese Weise beraube man sie ihres Charakters als eines Geschenks allein aus Gnade (Pöhlmann 1980, 172).
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Anders als in der CA und vielleicht aus Enttäuschung über den Verlauf des Reichstags greift Melanchthon nun zu starken Worten: „Nicht zu ertragen ist daher die Gotteslästerung, die Ehre Christi unseren Werken zuzuschreiben. Es beschämt jene Theologen nicht einmal, wenn sie es wagen, einen solchen Satz in die Kirche hineinzutragen. Und wir haben keinen Zweifel, dass der gütigste Kaiser und die meisten Fürsten diesen Punkt keinesfalls in der Confutatio hätten stehen lassen, wenn sie gewarnt worden wären. Zahllose Belege aus der Schrift und den Kirchenvätern können wir dazu zitieren. Aber das haben wir schon [in Art 4 über die Rechtfertigung] ausführlich dargelegt.“ (BSELK, 555,17– 21) Da es „in diesem Streit [über die Rechtfertigung] um den wichtigsten Punkt der christlichen Lehre geht, der – recht verstanden – die Ehre Christi verherrlicht und vermehrt und den gottesfürchtigen Gewissen notwendigen und wirksamen Trost bringt […]“ (BSELK, 269,3 – 5), sieht die ApolCA den Kaiser in der Pflicht, sich auf die Seite der Reformation stellen und „um der Ehre Christi willen, welche du – daran zweifeln wir nicht – zu verherrlichen und zu vermehren trachtest, nicht den gewalttätigen Plänen unserer Gegner zu[zu]stimmen, sondern andere ehrliche Wege suchen, um die Eintracht so zu erhalten, dass nicht die gottesfürchtigen Gewissen belastet werden, noch – wie wir es bereits erleben mussten – Grausamkeit gegen unschuldige Menschen geübt und die gesunde Lehren der Kirche unterdrückt werde.“ (BSELK, 579,19 – 581,2) Für die ökumenische Relevanz der ApolCA ist das Gloria-Christi-Motiv in doppelter Hinsicht beachtenswert. Zunächst hat es Eingang gefunden in die Rechtfertigungslehre des Tridentinischen Konzils, das Papst Paul III. auf den 1. Dezember 1542 nach Trient einberufen hatte. Verschiedene Gründe führten dazu, dass es erst am 13. Dezember 1545 eröffnet wurde und sich über drei Perioden bis zum 4. Dezember 1563 hingezogen hat, von denen die erste (1545 bis 1547, ab da bis 1549 in Bologna) die für den Protestantismus wohl die wichtigste gewesen ist. Bis 1549 fanden acht Sitzungen (Sessiones) statt, die sich mit den biblischen Grundlagen der Kirche befasst haben: Sessio IV erklärt die Apokryphen für kanonisch. Schrift und Tradition werden als Offenbarungsquellen nebeneinander gestellt, die Vulgata wird als authentische Übersetzung akkreditiert und dem kirchlichen Amt das Auslegungsmonopol zugewiesen. Die Sessiones V – VII befassen sich mit den Zentralpunkten römisch-wittenbergischen Auseinandersetzungen: mit der Erbsünden-, der Rechtfertigungs- und der Sakramentenlehre. Es ist hier nicht der Ort, die Tridentinische Lehre von der Rechtfertigung im Einzelnen darzustellen. Man kann aber sagen, dass der enthaltene Kompromiss ein mit viel Bedacht und Kunst gewobenes komplexes Gebilde ist. Trotz mancher bleibenden Unterschiede im Einzelnen hat jedoch mit der spezifischen Akzentuierung des Solus Christus eine Kernaussage der Rechtfertigungslehre – zumindest im Sinne der ApolCA – in den tridentinischen Katholizismus Eingang gefunden. Berührungspunkte bestehen insoweit vor allem hinsichtlich der starken Akzentuierung Jesu Christi als articulus statis et cadentis ecclesiae (solus Christus) und der Betonung des Glaubens als Quelle der Rechtfertigung (sola fide) (Pöhlmann 1980, 166). Ähnliches gilt für den Zusammenhang zwischen Glaube und Werk, den Melanchthon im Kontext des Gloria-Christi-Motivs ansiedelt. Im Rahmen eines großen
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exegetischen Exkurses zu Jak 2,14– 18 argumentiert er im Rechtfertigungsartikel der ApolCA (BSELK, 359, 15 – 362), dass der Glauben ohne Liebe – das heißt ohne Werke – die Rechtfertigung vor Gott durch Jesus Christus nicht begründen könne und daher der Vorwurf unzutreffend sei, die Wittenberger würden die guten Werke depotenzieren (BSELK, 359, 15 – 361, 18.) Insgesamt handelt es sich um einen komplexen Gedankengang, an den das Tridentinum später ebenfalls angeknüpft hat:Wie es den Glauben als „Wurzel der ganzen Rechtfertigung“ anerkennt, so beschreibt es zugleich die guten Werke als ihre „Frucht“ (Pöhlmann 1980, 168). In der Frage des Heiligenkultes (BSELK, 561– 581) gelingt es der ApolCA schließlich trotz grundsätzlicher Kritik, das Gespräch mit Rom mindestens offenzuhalten, indem sie eine anschlussfähige reformatorische Position anbietet (Pöhlmann 1980, 167). Sie sieht die Heiligen in der Rolle von Beispielgebern für Gottes Barmherzigkeit und von „Lehrern der Kirche“, welche diese unterweisen in der Dankbarkeit gegen ihn und in der Erkenntnis seines Willens (BSELK, 563,4– 6). Zudem werde der persönliche Glaube gestärkt, wenn er sich Heilige wie den Apostel Petrus in dessen Versuchungssituationen vor Augen führe (BSELK, 563,8 – 10) und schließlich ermutige das Beispiel der Heiligen, dem individuell-eigenen Weg der Christusnachfolge treu zu bleiben (BSELK, 563,13 – 15). Zusammenfassend halten wir fest: CA und ApolCA erreichen zur Zeit ihrer Entstehung die normative Kraft von Bekenntnissen nicht. Sie sind Versuche, konfessionspolitische Konflikte zu beeinflussen beziehungsweise zu gestalten und in diesem Sinne bekenntnisaffine Texte. Dabei steht die ApolCA – erstmals erschienen Ende April/Anfang Mai 1531 als editio princeps, gemeinsam mit der CA in einer lateinischen Doppelausgabe (BSELK, 232) – vor uns als das zweifellos „ökumenischste“ aller konfessionstheologischen Kontroversdokumente des 16. Jahrhunderts (Pöhlmann 1980, 165), ziemlich weit von einem normativen Anspruch entfernt. In Augsburg 1530 war dies freilich auf keiner Seite im Bewusstsein (Pfnür 1970, 390 – 391).
1.4 Der Weg zum Corpus Doctrinae Christinae (CDC) Die Bekenntnisentwicklung des Protestantismus war zwar ein komplizierter Prozess, auf den viele, höchst unterschiedliche politisch-theologische Faktoren eingewirkt haben. Trotzdem blieb er maßgeblich geprägt durch Martin Luther und Philipp Melanchthon als den normierenden Persönlichkeiten (Dingel 2001, 61– 62). Noch heute spricht davon die besondere Form reformatorischer Hagio- beziehungsweise Ikonographie, die nicht selten die beiden mit Gloriolen, Strahlenkränzen, Geistsymbolen und anderen Attributen theologisch-geistlicher Autorität darstellt (Dingel 2000, 197). Diese einseitige personale Ausrichtung hat dazu geführt, dass die sächsische Reformation nach Luthers Tod 1546 über die Frage: „Was gilt?“ in existenzgefährdende Krisen geraten ist. Gemeinsam war ihnen, dass es nun (auch) darum ging, das „Erbe des Meisters“ zu verwalten, das heißt um die Deutungshoheit lutherischer Theologie. Im Hintergrund stand der heillos unproduktive Streit der Nachgeborenen um die
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Frage, wer „recht habe“ und damit letztendlich die Frage der Macht. Deshalb vermitteln die Streitigkeiten dieser Phase bisweilen den Eindruck von kleinteilig-unproduktivem theologischem Schulgezänk. Dabei liegt aus heutiger Sicht das Unbefriedigende weniger darin, dass überhaupt gestritten wurde. Was den modernen Betrachter peinlich berührt, ist der oft aggressive, persönlich diffamierende Stil, der nicht auf Verständigung ausgerichtet war und stets in Gefahr stand, über dem Kampf ums Einzelne im Vollzug den Blick zu verlieren für das „Solus Christus“ als dem inneren Zentrum reformatorischer Theologie (Iwand 1991, 129). Auf der Suche nach verlässlicher Orientierung wurde dabei immer öfter auf die CA beziehungsweise die ApolCA Bezug genommen. Das mag angesichts ihrer ursprünglichen Bestimmung überraschen, hängt aber mit der politischen Bedeutung zusammen, die – wie wir gesehen haben – diesen beiden bekenntnisaffinen Texten als Entstehungsgrundlage für den Schmalkaldischen Bund zugewachsen ist, jenem Schutzbündnis, das sich 1531 – von beiden Reformatoren zunächst zögerlich, aber dann in vollem Umfang bejaht – als politisch-militärischer Arm der Wittenberger Bewegung gegen den Kaiser und Rom zusammengefunden hat (Wartenberg 2000, 160 – 161). Für die Anerkennung von CA (und ApolCA) ist es in den Schmalkaldischen Krieg (1546 – 1547) gezogen, mit dem Ergebnis, dass unter anderem Johann Friedrich I. zugunsten seines ebenfalls protestantischen Vetters Herzog Moritz von Sachsen auf die Kurwürde sowie Teile seiner Ländereien in Thüringen verzichten musste, was zu erheblichen Spannungen zwischen den sächsischen Häusern der ernestinischen (Johann Friedrich) und albertinischen Wettiner (Moritz) führte. Nicht zuletzt sahen sich im Zuge dieser Auseinandersetzungen viele reformatorisch gesinnte Pfarrer gezwungen, ins Exil zu fliehen (Dingel 2001, 75). Darüber hat sich der Bekenntnisbegriff der reformatorischen Bewegung verändert und mit ihm – zumindest in Teilen – auch der von Philipp Melanchthon. Bekennen meinte nun nicht mehr ausschließlich beziehungsweise in erster Linie den „Lobpreis der Wohltaten Christi“, die „persönliche Kreuzesnachfolge“ oder das „Beten des Apostolicums“, all das, was der Reformator etwa in seinen Predigtstudien seinen Schülern so sehr ans Herz gelegt hatte. Mehr und mehr wurde es ersetzt durch die Definition normativ-theoretischer Lehrinhalte, verbunden mit dem Appell an die jeweilige Bezugsgruppe, sich diese zu eigen zu machen (Dingel 2001, 62). Nicht mehr der Konsens mit den jeweils „anderen“ wurde gesucht, noch das theologische „Sich-Zusammensetzen“, das die „Auseinandersetzung“ beendet, sondern die Mobilisierung von Abgrenzungsaffekten. War das Bekenntnis zuvor – wie es sich anhand von Melanchthons eigener Bekenntnispraxis darstellt – ein Gespräch zwischen dem Jünger und seinem Herrn, bei dem Dritte allenfalls zugehört haben, so wird es nun – umgekehrt und im besten Falle – zum Gespräch unter Jüngern, bei dem es gleichsam Christus ist, der zuhört. Das Reden zu ihm vor den Menschen wird ersetzt durch das Reden über ihn unter Menschen. Waren CA und ApolCA ursprünglich Konsensangebote an den theologischen Gegner, so werden sie nun zu normativen Zusammenfassungen der reformatorischen Lehre mit konsolidierender Absicht nach innen und Abgrenzungsimpuls nach außen:
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Nicht mehr bekenntnisaffine Texte, die dogmatische Positionen miteinander ins Gespräch bringen möchten. Sondern: Normae normatae, autoritative Auslegungen der Heiligen Schrift und der altkirchlichen Symbole mit kirchengründendem Anspruch – und darin das, was sie bis zur Stunde sind: (Teile von) Bekenntnisschriften der evangelischen Kirche (Dingel 2001, 81). Als „Mann der ersten Stunde“, der die Reformation gemeinsam mit Martin Luther in einer Art „Doppelpassspiel“ vorangetrieben hatte und von daher in Fragen der Lehre eine selbstverständliche Ursprungsautorität besaß, sah sich Philipp Melanchthon nun – freilich allein, unter gänzlichen anderen Bedingungen als etwa 1530 und auch eher widerwillig – erneut in der Funktion des Sprechers, Gutachters (Dingel 2000, 197) und zum Teil persönlich hart angegriffenen Beteiligten. Wie wenig ihm diese Schiedsrichterrolle zugesagt hat, erhellt sein Brief vom 10. Mai 1546 an Anton Lauterbach, der als Superintendent in Pirna an den Verhandlungen über das Augsburger Interim teilgenommen hatte und seit seiner Studienzeit in Wittenberg mit Melanchthon und Luther befreundet war. Dort zum Beispiel lesen wir die von Überdruss erfüllten Sätze: „Ich aber werde mit Gottes Hilfe, solange ich leben werde treu meiner wissenschaftlichen Arbeit nachgehen und mich trösten mit diesem Wort: Eure Arbeit im Herrn wird nicht vergeblich sein (1 Kor 15, 58). Die Beratungen der Könige und Fürsten werde ich fliehen. Aber ich bete, dass Gott sie regieren möge.“ (CR 6, 132) Man hat zwar geltend gemacht, diese Äußerungen seien nicht als „ein Bekenntnis zu politischer Abstinenz“ beziehungsweise generelle Absage an die Politik zu bewerten. Vielmehr stehe dahinter eher die „Verzweiflung über die Situation vor Ausbruch des Schmalkaldischen Krieges und das mangelnde Verantwortungsbewusstsein der Regierenden“ (Wartenberg 2000, 154). Dennoch wird man Melanchthons innere Distanz zur politischen Ausrichtung des Protestantismus kaum übersehen können. Sie steht offenkundig mindestens gleichrangig neben dem Wunsch nach Konzentration auf die wissenschaftliche Arbeit.
1.4.1 Markante Wegmarken Ein erster wichtiger Meilenstein auf dem Weg der Bekenntniswerdung im deutschen Protestantismus ist das sogenannte Leipziger Interim vom Dezember 1548, reformatorischerseits ein Versuch, die Folgen des verlorenen Schmalkaldischen Krieges zu mildern. Von ihm mitverfasst war es durch Philipp Melanchthon erkennbar geprägt hinsichtlich der Rechtfertigungslehre, der Beteiligung des menschlichen Willens an der Bekehrung (und damit zugleich an der Erlösung) sowie der Frage nach dem Stellenwert der Werke (Dingel 2001, 75). Das Leipziger Interim markiert den Beginn der Entstehung normativ-kirchlicher Bekenntnisaussagen, bildet es doch die Ouvertüre zu den innerreformatorischen Auseinandersetzungen der folgenden Jahre, dem Osiandrischen (1549 – 1566), Majoristischen (1552– 1558) und Synergistischen Streit (1556 – 1560). Sie alle wurden mit einem hohen Maß an Erbitterung ausgetragen zwischen den sogenannten „Gnesiolutheranern“, die sich als legitime Nachfolger beziehungsweise theologische Nach-
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lassverwalter Luthers verstanden, und den sogenannten „Philippisten“, den Anhängern Melanchthons (zur Mühlen 2005, 463 – 465). Am Leipziger Interim entzündete sich über die Frage, was unaufgebbarer Bestandteil des reformatorischen Bekenntnisses sei, der in den Jahren nach 1548 als sogenannter Adiaphoristischer beziehungsweise Interimistischer Streit (zur Mühlen 2005, 463) geführt wurde. Auslösende Protagonisten waren Nikolaus von Amsdorf und Matthias Flacius Illyricus. Ihr Vorwurf an die Adresse von Philipp Melanchthon und Johannes Bugenhagen lautete, diese hätten in Leipzig die Wiederherstellung des katholischen Jurisdiktionsprimats befürwortet und damit reformatorische Fundamentalprinzipien verraten. In der Tat hatte Melanchthon bei den Verhandlungen etwa die Gestalt des Messritus oder auch die Anzahl der Sakramente als für den Glauben „unwesentlich“ (ἀδιάφορον) bezeichnet, nicht zuletzt, um auf die gegebenen politischen beziehungsweise gesellschaftlichen Bedürfnisse und Bedingungen besser eingehen zu können. Dagegen vertrat Flacius die Auffassung, im Hinblick auf die nach der militärischen Niederlage des Schmalkaldischen Bundes nun beginnenden gewaltsamen Rekatholisierung – also in einer Verfolgungssituation – sei nichts unwesentlich. Vielmehr gehöre alles zum Kern des Evangeliums und fordere zum Bekenntnis der evangelischen Wahrheit heraus (casus confessionis). Im Übrigen könne die Rückkehr zu katholischen Gebräuchen (liturgische Kleidervorschriften, Fastengebote) von den Gemeindegliedern nur als Rückkehr zum Papsttum (casus scandali) gedeutet werden (Dingel 2001, 76). Befriedende Wirkungen hatte zunächst noch die Confessio Saxonica (1551), ebenfalls aus der Feder Melanchthons, die neben der CA und der ApolCA Eingang in das Corpus Doctrinae Christianae (CDC) fand. Mit ihr ist es dem Reformator wenigstens vorübergehend gelungen, das seit dem Interim schwer beschädigte Vertrauen der Gnesiolutheraner teilweise zurückzugewinnen. In Auftrag gegeben durch Kurfürst Moritz von Sachsen und gedacht als Vorlage für die zweite Sitzungsperiode des Trienter Konzils 1551 – zu den Teilnehmern gehörten unter anderem protestantische Gesandte aus Brandenburg, Württemberg, Straßburg und Kursachsen –, verstand sich die Confessio Saxonica dezidiert als „Repetitio Confessionis Augustanae“ (Dingel 2001, 77). Und auch in den Vorreden des Corpus Doctrinae Christianae macht der Reformator deutlich, dass er die enthaltenen, von ihm verfassten Lehrdokumente nicht als neue Bekenntnisaussagen verstanden wissen möchte, sondern als Wiederholung des bereits in der CA Gesagten: „repetitio eiusdem confessionis“ (Dingel 2000, 197). Entsprechend bietet sie inhaltlich nichts, was über die CA hinausginge oder sich von ihr unterscheiden würde, was den kanonisch-symbolischen Rang kennzeichnet, den sie und ihre Apologie Mitte 16. Jahrhunderts bereits innehatten. Ähnlich wie bereits in Art. 20 CA (lat. Fassung) formuliert sie zum Beispiel die wahre und wesenhafte (substantialiter) Anwesenheit der ganzen Person Christi im Abendmahl, ohne auf den Modus oder auf die Elemente einzugehen (MSA 6, 130,7– 15). Beachtenswert ist allerdings die grundsätzliche Zielrichtung der Confessio Saxonica: Auch mit ihr will Melanchthon vor allem anderen die Übereinstimmung der reformatorischen Lehre mit der alten Kirche erweisen. Zu diesem Zweck führt er die CA erneut in die Sukzession der kirchlichen
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Wahrheitszeugen ein und erklärt sie zum Bestandteil des „catholicus consensus Ecclesiae“ (Dingel 2001, 78). Eine weitere politisch bedeutsame Wendemarke und auf dem Weg der Bekenntnisentwicklung im deutschen Protestantismus ein fundamentaler Einschnitt ist der Augsburger Reichs- und Religionsfriede vom 25. September 1555. Entgegen seiner Selbstbezeichnung war er freilich weniger ein Friedens-, sondern eher ein vorläufiges Waffenstillstandsabkommen zwischen den mit Wittenberg beziehungsweise Rom assoziierten politisch-militärischen Machtblöcken. An dieser Stelle mag der allgemeine Hinweis genügen, dass dieser Waffenstillstand spätestens mit Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1618 wirkungslos wurde und erst 1648 durch den Westfälischen Frieden ersetzt werden konnte. Er garantierte nun auch den oberdeutschen CA-Konfessionsverwandten reichsrechtliche Duldung und stellte sie gleichberechtigt in Augenhöhe mit den Wittenbergern. Den Grund für diese Anerkennung legte Melanchthon schon 1540 insbesondere mit der zweiten Variata, in welcher die Abendmahlslehre auf die Wittenberger Konkordie abgestimmt und somit wenigstens eine Verständigung mit Straßburg möglich wurde (Dingel 2000, 198). Keinen Schutz fanden dagegen jene Strömungen, die nicht zu den Augsburger „Konfessionsverwandten“ zählten, wie zum Beispiel die täuferischen Gruppierungen oder die Reformierten in der Tradition Ulrich Zwinglis und Johannes Calvins. Deren Anerkennung erfolgte erst im Westfälischen Frieden und dort auch nur gegen römischen und wittenbergischen Widerstand. Außerdem besiegelte der Augsburger Religionsfriede die konfessionelle Spaltung im Reich, indem er die CA und die ApolCA mit reichsrechtlicher Autorität ausstattete und zugleich den Bestand der römischen Kirche garantierte. Das geschah im Wesentlichen, indem er den Landesherrn das Recht zugestand, sich für eine der beiden Konfessionen zu entscheiden (ius reformandi), während seine Untertanen ihrerseits ein solches Recht nicht hatten. Sie mussten sich dem landesherrlichen Bekenntnis anschließen oder auswandern („cuius regio eius religio“). Dies hat im Ergebnis zu konfessionell geschlossenen Territorien geführt, welche sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts erhalten haben. Vor allem aber stützte nun das weltliche Reichsrecht das kirchenrechtliche Handeln der evangelischen Landesherren, indem es die Jurisdiktion der Bischöfe in den evangelischen Gebieten – zumindest vorläufig – aussetzte. Das änderte die theologischen Frontstellungen freilich grundlegend, denn es eröffnete den Landesherrn der evangelischen Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation die faktische und rechtliche (!) Möglichkeit, evangelische Lehrbestände förmlich zu definieren und schriftlich zu fixieren beziehungsweise fixieren zu lassen.
1.4.2 Das Corpus Doctrinae Christianae Unter dieser Voraussetzung gewann Melanchthons Gedanke einer summa oder forma doctrinae erneut Gewicht. Er hatte ihn bereits in den 1530er Jahren in kleinerem Rahmen ins Gespräch gebracht und dafür gesorgt, dass in den Wittenberger Univer-
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sitätsstatuten der Römerbrief und Teile des Johannesevangeliums in den Rang zentraler Lehraussagen erhoben wurden (Dingel 2000, 200). Seine letzten Lebensjahre standen nun verstärkt im Zeichen der Suche nach einer summa theologica, welche der werdenden evangelischen Kirche eine möglichst breit anerkannte und sichere Bekenntnisgrundlage verschaffen sollte. In den 1550er Jahren finden wir zahlreiche Beispiele für den Gebrauch des Corpus-Doctrinae-Begriffs im Sinne einer normativen Gesamtdarstellung beziehungsweise Zusammenfassung der evangelischen Lehre (Dingel 2000, 201) mit Symbolcharakter (Dingel 2000, 211). Unter dieser Voraussetzung ist das CDC, in Melanchthons Todesjahr 1560 von der Werkstatt des Leipziger Buchdruckers Ernst Vögelin gedruckt, gleichermaßen zu verstehen als aktualisierende Auslegung der Confessio Augustana und „Identitätsaussage des Philippismus“ (Dingel 2000, 203). Es enthält neben den drei altkirchlichen Bekenntnissen ausschließlich von Melanchthon verfasste Texte: CA und ApolCA, die Confessio Saxonica und die Loci von 1556 in deutscher Fassung sowie das Examen Ordinandorum von 1552. Als Gutachter für die Erstellung einer Kirchenordnung für das Herzogtum Mecklenburg entwickelte der Reformator die Prüfungsrichtlinien, wie „sie in der Kirche von Wittenberg gebräuchlich waren“ (MSA 6, 168). Das Examen sollte dem Zweck dienen, die Kandidaten auf die Treue zum lutherischen Bekenntnis im Sinne einer normativen Lehraussage zu prüfen und zu verpflichten. Dabei wird noch einmal schlaglichtartig deutlich, in welcher Weise sich für ihn am Ende seines Lebens der Inhalt seines Lehr- und Bekenntnisbegriffs verschoben oder doch erweitert hatte: Er betont die Notwendigkeit einer einheitlichen Lehre und hält es von daher für grundlegend „dass die Lehre der Kirchen in äußerst klaren und deutlichen Worten vorgetragen wird“ (MSA 6, 168). Damit ist der hymnische Aspekt seines frühen Bekenntnisbegriffs zurückgetreten hinter einen identitätsstiftenden und nach innen konsolidierenden Gehalt. Von daher erklärt sich der Hinweis, das Examen Ordinandorum repräsentiere diejenige Gestalt lutherischer Lehre, die „in den Kirchen der sächsischen Lande als zu Lübeck, Hamburg, Lüneburg und anderen dgl. gepredigt“ (MSA 6, 168) und in der Tat von vielen weiteren Kirchenordnung jener Zeit als Grundlagenbestandteil übernommen worden ist (MSA 6, 168 – 169). Ferner enthält das CDC von 1560 Melanchthons Antwort auf den Streitfall des Stancarus (1553) sowie seine Antwort auf die Artikel der bayrischen Inquisition (1558), die in einer zweiten Auflage gemeinsam mit seiner Widerlegung der Irrtümer Servets, veröffentlicht wurden. Die Gemeinsamkeit dieser drei Schriften besteht darin, dass sie ebenfalls den normsetzenden, konfessionell-identitätsstiftenden Akzent des CDC mit Melanchthons Bemühen um Lehrkontinuität verknüpfen, und zwar in einem jeweils unterschiedlichen dogmatischen Zusammenhang: Hinsichtlich der Rechtfertigungslehre gegenüber den in Bayern auftretenden Bestrebungen der jesuitischen Gegenreformation beziehungsweise Inquisition sowie gegenüber den antitrinitarischen Bestrebungen, mit denen sich Calvin in Genf auseinanderzusetzen hatte. Die Relevanz, die der späte Melanchthon bei alledem der Auseinandersetzung mit Rom zugemessen hat, wird nun dadurch unterstrichen, dass er am noch Tage vor seinem Tod die Antwort
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auf die Artikel der bayrischen Inquisition zu seinem persönlichen Bekenntnis erhoben hat (MSA 6, 278 – 279). „In dieser doppelten Ausrichtung einerseits auf die Normierung des Bekenntnisses und andererseits auf die apologetische Abgrenzung, Präzisierung und Einordnung der melanchthonischen Lehre in die Bekenntniskontinuität, gewann das Corpus Doctrinae Philippicum an manchen Orten und für viele symbolisches Ansehen.“ (Dingel 2000, 211) Es muss daher als maßgeblicher Schritt im Prozess der evangelisch-protestantischen Bekenntnisbildung gesehen werden. Im Hinblick auf seinen Bestand bürgerte sich – ausgehend von Kursachsen – für diese Zusammenstellung lutherischer Lehre aus der Perspektive Melanchthons, die er zugleich in der deutschen wie in der lateinischen Ausgabe mit einem eigenen Vorwort versehen hat, der Begriff Corpus Doctrinae Misnicum beziehungsweise Corpus Philippicum ein. Es fand schnell Verbreitung, freilich in unterschiedlichem Maße verändert, abhängig jeweils davon, in welchen Territorien es veröffentlicht wurde. So hat man zum Teil Texte Martin Luthers hinzugefügt, wie etwa in Pommern (Dingel 2000, 195), andernorts verschwand Melanchthons Name vom Titelblatt, je nach Verlauf und Stand der Auseinandersetzungen zwischen Gnesiolutheranern und Philippisten (Koehn 1991, 9). Als Philipp Melanchthon stirbt, bezeichnet der Begriff des CDC sowohl die summarische Darstellung wie auch die inhaltlich-normative Feststellung der evangelischen Lehre (Dingel 2000, 201). Und wenn Johannes Bugenhagen 1557 in einem Gutachten an die Stadt Bremen davon spricht, man habe mit der CA, der Apologie, der Confessio Saxonica und den Loci von Philipp Melanchthon jene Grundlagen, auf denen die Kirche ruhe (Dingel 2000, 202), dann wird klar, dass sich in Anlehnung an das Corpus Doctrinae Philippicum in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein normgebender Grundbestand herauskristallisiert hat, der entscheidend durch die Schriften Melanchthons bestimmt war. Dies hat freilich den Widerstand der orthodoxen Lutheraner, der seit dem Leipziger Interim nur oberflächlich befriedet war, stets von neuem befeuert. Sie befürchteten mit der Verbreitung des CDC beziehungsweise des Corpus Philippicum ein Vordringen des Calvinismus und haben dahingehend auch politischen Einfluss genommen (Koehn 1991, 9). Zu einem vorläufigen Ausgleich des Bekenntnisstreits unter den Augsburger Konfessionsverwandten kommt es – lange nach Melanchthons Tod – mit der ersten eigentlichen Bekenntnisschrift des Protestantismus, der Konkordienformel (1577) beziehungsweise dem Konkordienbuch (1580).
Quellen Bayer, Oswald, Hg. 1982. „Bekenntnis. 1528.“ In Martin Luther. Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm et al., Bd. 2, 251 – 264. Frankfurt. Elze, Martin, Hg. 1982. „Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde, Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift (1523). In Martin Luther. Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm et al. Bd. 5, 7 – 18. Frankfurt.
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Melanchthon, Philipp. 2011. „Vorrede zur Vorlesung über das nizänische Glaubensbekenntnis“ (Enarratio Symboli Nicaen: Praefatio, 1550). Mel.Dt 2: 43 – 50.
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2 Reformiertentum Die Rezeption Melanchthons innerhalb des Reformiertentums umfasst Phasen, die von einer außerordentlichen Wertschätzung bestimmt waren, aber auch Epochen, in denen der Wittenberger unbeachtet blieb und weitgehend dem Luthertum zugerechnet wurde. Noch zu Melanchthons Lebzeiten und bald danach griffen bei ihm ausgebildete und von ihm geprägte Theologen auf ihn zurück und ließen seine auf Vermittlung ausgerichtete Position in ihre Theologie einfließen. Auf diese Weise erhielt in deutschen Territorien die reformierte Konfession nicht nur eine von Johannes Calvin und der Schweizer Reformation, sondern auch eine von Melanchthon bestimmte Prägung.
2.1 Johannes Calvin und der Calvinismus Melanchthon stand mit Calvin in einem intensiven Kontakt, der von gegenseitiger Sympathie und theologischen Konvergenzen bestimmt war. Diese wurden nicht zuletzt durch ihre gemeinsame geistige Herkunft aus dem Humanismus begünstigt. Angesichts der großen Entfernung zwischen beiden äußerte Calvin 1543 sogar die Hoffnung, seinen Freund Melanchthon einst im Himmel wiederzutreffen, um sich mit ihm weiter auszutauschen (CO 11, 515). Dabei darf nicht übersehen werden, dass es zwischen beiden auch unterschiedliche theologische Einschätzungen – etwa zur Abendmahlslehre, zur Frage der Zeremonien und Adiaphora und zur Prädestination – gab. Gelegentlich beklagte sich Calvin über die mangelnde Entschlossenheit und Klarheit Melanchthons (CO 12, 99; 15, 388). Dennoch bildete er eine vermittelnde Brücke zwischen der lutherischen Theologie und dem reformierten Zweig der Reformation. Mehrfach brachte Calvin ihn dazu, auf Luther mäßigend einzuwirken. Auch im frühen Calvinismus erfreute sich Melanchthon einer positiven Resonanz unter reformierten Theologen, was sich bereits in Theodor Bezas Lobeshymnen auf ihn ablesen lässt. Im Unterschied zu den gegen Melanchthon gerichteten Angriffen aus dem Luthertum haben sich calvinistische Theologen zu seinen wahren Erben gezählt, weil sie – nicht zuletzt bedingt durch ihre humanistische Prägung – Übereinstimmungen mit ihm in dogmatischen und ethischen Fragen entdeckten. Letzteres gilt vor allem für die Ethices Christianae libri tres (1577) von Lambert Daneau, die neben Calvin deutlich von Melanchthon geprägt sind und die biblische Gebotsauslegung mit der antiken Tugendlehre verbunden haben. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass der frühe Calvinismus in der Zuordnung von Gesetz und Evangelium, der Konsequenz der Ehre Gottes, der Skepsis gegenüber dem freien Willen und der pneumatologischen Begründung der Ethik noch andere Akzente als Melanchthon gesetzt hat (Strohm 2001, 433 – 455; Strohm 2005, 135 – 157). Dass Melanchthon einen signifikanten Einfluss auf das sich in Deutschland herausbildende Reformiertentum des 16. Jahrhunderts hatte, lässt sich am deut-
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lichsten am Heidelberger Katechismus (1563) ablesen (Bierma 2005b, 29 – 43). Dieser drei Jahre nach Melanchthons Tod veröffentlichte Text geht im Wesentlichen auf die Vorarbeiten der Catechesis maior und der Catechesis minor des seit 1561 in Heidelberg wirkenden Zacharias Ursinus zurück, der in Wittenberg bei Melanchthon studierte und von diesem große Anerkennung erfuhr. Der Einfluss Melanchthons – vor allem durch seinen dogmatischen Leitfaden Examen ordinandorum (1552) – förderte Ursinus‘ Drängen auf die Schlichtung theologischer Streitigkeiten, zu denen in erster Linie die Auseinandersetzungen über die Abendmahlslehre gehörten. Als ausdrücklicher Philippist griff Ursinus die gegenüber den Loci communes (1521) erneuerte Abendmahlstheologie Melanchthons auf, die sich in der Wittenberger Konkordie (1536) und in der Confessio Augustana Variata (1540) niederschlug; in deren Artikel X war nicht mehr von einer absolut gegebenen Realpräsenz mit der Gleichsetzung von Brot und Leib Christi die Rede, sondern von einer Präsenz „cum pane et vino“ („mit Wein und Brot“). Auf diese Weise war von Melanchthon aus ein Weg hin zu den Reformierten gebahnt, den Ursinus bereitwillig auch betrat. 1557/58 ergänzte Ursinus durch Reisen nach Zürich, Frankreich und Genf seine melanchthonischen Überzeugungen mit Einflüssen durch Calvin und Heinrich Bullinger. Diese wirkten sich direkt auf den Heidelberger Katechismus aus. Dessen Dreiteilung in Elend, Erlösung und Dankbarkeit findet sich bereits in Melanchthons Examen ordinandorum. Im Begriff „Trost“ (Frage 1) lässt sich ein wesentliches Anliegen Melanchthons entdecken, das unter anderem bereits im Examen ordinandorum begegnet (Ehmann 2012, 33 – 42). Die Erläuterung des Glaubens als Erkenntnis und Vertrauen und dessen soteriologische Orientierung (Frage 21) haben ebenfalls einen Hintergrund in Melanchthons Examen ordinandorum. Die als Teilhabe an Christi Wohltaten entfaltete Teilhabe an Christus (Frage 53) geht auf die Loci zurück. Auch in der Prädestinationslehre stand Ursinus an der Seite Melanchthons, da er diese nicht ausdrücklich lehrte, sondern ihr allenfalls unter dem Stichwort „Erwählung“ eine christologisch begründete und auf die Kirche bezogene Bedeutung zugewiesen hat (Frage 54). Die imputative Rechtfertigung als Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, die zugleich effektiv ist (Frage 60), lehrte schon Melanchthon. Das Verständnis des Abendmahls als Teilhabe an Christus und seiner wirksamen Kraft und Gegenwart (Frage 75 – 76) liegt im Gefälle von Melanchthons Abendmahlstheologie in ihrer Neufassung seit der Wittenberger Konkordie. Schließlich finden sich Spuren von Melanchthons Begründung der Ethik als Gehorsam im dritten Teil des Katechismus, der mit „Von der Dankbarkeit“ überschrieben ist. Und an der Kirchenordnung, innerhalb derer 1563 der Heidelberger Katechismus erschien, waren auf Initiative von Kurfürst Friedrich III. Theologen wie Ursinus beteiligt, die anderswo polemisch als Kryptocalvinisten oder als Philippisten gebrandmarkt waren. Auch wenn der Katechismus die Abendmahlsstreitigkeiten nicht überwinden konnte, sondern im Gegenteil Anlass zu neuen Auseinandersetzungen bot, ist in ihm doch das Bemühen von Ursinus erkennbar, die Kontroversen der Vergangenheit mit Hilfe von biblischen Argumenten zu überwinden. Insgesamt ist der Katechismus ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass das deutsche Reformiertentum nicht einfach mit dem Calvinismus oder Zwinglianismus zu identifizieren ist, sondern sich vielmehr als eine
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Synthese erweist, innerhalb derer Melanchthons Theologie eine signifikante Rolle spielt. Überhaupt wurde die Universität Heidelberg nach der erneuten Rückkehr zur reformierten Konfession 1583 unter Johann Casimir zu einem Ort, an dem Schüler Melanchthons dessen reformatorische Gedanken mit denen Calvins zu verbinden suchten (Selderhuis 2005, 45 – 59). Aufgrund der Irenik und des Ökumenismus bildete sich eine Theologie heraus, die sich bewusst nicht in die Alternativen lutherisch oder calvinistisch einordnen ließ. In dieser Perspektive wurde Calvin als derjenige wahrgenommen, der an Luther angeknüpft und diesen weitergeführt hat. Bedeutende Vermittler von Melanchthons Theologie in den Calvinismus hinein waren unter anderem die Ursinus-Schüler Quirin Reuter und David Pareus – erwähnt sei dessen auf konfessionellen Ausgleich zielendes Werk Irenicum (1614/15) – sowie Franciscus Junius, der in Neustadt an der Haardt lehrende Hieronymus Zanchius, Abraham Scultetus, Georg Sohn, Bartholomäus Keckermann und Heinrich Alting. Weiter suchte Daniel Tossanus nachzuweisen, dass Melanchthon im Prinzip dieselbe Prädestinationslehre wie Calvin vertreten habe, und nahm damit Melanchthon für den Calvinismus in Anspruch.
2.2 Friedrich Schleiermachers Affinität zu Melanchthon Das Reformiertentum der nachfolgenden Jahrhunderte hat sich indes äußerst spärlich auf Melanchthon berufen und ihn als eine ihrer inspirierenden Quellen nahezu vergessen. Ein Grund dafür mag darin gelegen haben, dass die Signale eher auf die Konsolidierung der eigenen Lehre und die polemische Abgrenzung gegen andere statt auf die Vermittlung oder gar Überwindung von Lehrunterschieden gestanden haben. Dem Zeitalter der Orthodoxie blieb – von seiner Loci-Methode abgesehen – Melanchthon letztlich fremd; Ähnliches gilt für den Pietismus. Das änderte sich grundlegend erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Auch wenn jenem Jahrhundert Luther als der eigentliche Antreiber der reformatorischen Bewegung vor Augen stand, wurden zumindest Melanchthons organisatorische und diplomatische Stärke sowie seine Charakteristik als Pädagoge und Ethiker als vorbildlich gewürdigt. Insbesondere den Theologen, die sich als Vermittlungs- und Unionstheologen verstanden und nach Synthesen innerhalb des Protestantismus und zwischen Religion und Aufklärung Ausschau hielten, galt Melanchthon als notwendige und für die Neuzeit kompatible Ergänzung Luthers. Vielfach galt Melanchthon als Begründer einer sich vom Korsett der Scholastik emanzipierenden protestantischen Kultur und Bildung, an die es anzuknüpfen galt. Sein mit besonderem Nachdruck beim Menschen und dessen Religion und Ethik ansetzendes Theologieverständnis konnte die Theologie des Reformierten Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher vorbereiten helfen, die am Glauben, seinen praktischen Wirkungen und Darstellungsformen und an der Union interessiert war (Gestrich 1999, 29 – 53).
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Anerkennend erwähnt Schleiermacher in seiner Geschichte der christlichen Kirche (Sämtliche Werke I/11, 578 – 579) den im Unterschied zu Huldrych Zwingli vermittelnden Charakter von Melanchthons Loci. Im Hintergrund dürften neben Schleiermachers eigenem Interesse an der Union, das er bei Melanchthon begründet finden konnte, auch eine sachliche Nähe zum humanistischen Philologen aus Wittenberg stehen – schließlich lehrte Schleiermacher in der Philosophischen Fakultät selbst Dialektik, Ethik, Hermeneutik, Psychologie und Pädagogik. Außerdem betätigten sich beide als Übersetzer griechischer Klassiker und traten für die Reform des Schulwesens und der Universität ein.Weiter begegnen in der anthropologischen Konzentration ihrer Soteriologie deutliche – wenn auch in der Regel unausgesprochene – Affinitäten zwischen Melanchthon und Schleiermacher (Preul 1998, 117– 123). In seinen Loci kennzeichnet Melanchthon mit seiner Affektenlehre – erwähnt werden die Affekte Liebe, Hass, Hoffnung, Furcht, Trauer, Zorn, Neid und Ehrgeiz – als Ausgangspunkt der Dogmatik den anthropologischen Ort, an dem die Rede von Gott einzusetzen hat. Der von seinen Affekten bestimmte Mensch ermangelt des freien Willens, durch den er sich selbst in ein Verhältnis zu Gott setzen kann. Entsprechend ist der der Sünde verfallene Mensch auf Erlösung in Form der befreienden Gnade angewiesen. Schleiermacher griff diesen Zugang zum Ganzen der Theologie in seiner Glaubenslehre (1821/22; 1830/31) auf, indem er mit dem Begriff des „Gefühls“ eine anthropologische Ortsbestimmung der Theologie an den Anfang stellte. Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit ist freilich bei Schleiermacher ausdrücklich positiv bestimmt – im Unterschied zur problematischen Wirkung der Affekte bei Melanchthon. Allerdings liegt eine Übereinstimmung von Affekt (Melanchthon) und Gefühl (Schleiermacher) darin, dass beide Begriffe zunächst die Empfänglichkeit und Passivität des Menschen hervorheben. Die Antwort auf diese anthropologischen Grundbestimmungen des Menschen lag für Melanchthon und Schleiermacher in dessen Angewiesensein auf Erlösung und Befreiung – ein Bedürfnis, das in Gottes Offenbarung seiner Wohltaten beziehungsweise seiner Gnade eingelöst wird. Im weiteren Vergleich der Loci mit der Glaubenslehre tritt die Konvergenz beider in der soteriologischen Fokussierung ihrer Werke vor Augen, in der durchaus vom Handeln Gottes die Rede ist. Melanchthons bekannter Satz „hoc est Christum cognoscere beneficia eius cognoscere“ („Christus erkennen heißt seine Wohltaten erkennen“) (CR 21, 85) wurde nachgerade zu einer inhaltlichen Matrix von Schleiermachers Glaubenslehre. Noch in einem weiteren Textzusammenhang hat sich Schleiermacher einem Melanchthontext – ohne übrigens Melanchthon namentlich zu erwähnen – zugewandt: in seinen Festpredigten und Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession aus dem Jubiläumsjahr 1830. Er äußerte sich zu diesem Bekenntnis positiv und lobte bei aller zeit- und situationsbedingten Unvollkommenheit der Schrift ihre große „Trefflichkeit“, mit der sie gegen die „Mißbräuche im öffentlichen Gottesdienst und in der Lehre“ vorging und „den einen großen Hauptpunkt des Glaubens aufgefaßt und dargelegt“ hat (Sämtliche Werke II/2, 629). Schleiermacher meinte mit diesem Hauptpunkt, „daß die Gerechtigkeit vor Gott dadurch erlangt wird, wenn wir im herzlichen Glauben den in uns aufnehmen, den Gott gesandt hat, auf daß
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wir in Gemeinschaft mit ihm das Leben mögen haben“ (629). Unschwer ist zu erkennen, wie Schleiermacher Grundgedanken der Confessio Augustana sich zu Eigen gemacht hat. Dabei ging er noch einen Schritt über Melanchthon hinaus, indem er Christus soteriologisch als „Erlöser“ bezeichnete, wo Melanchthon in Artikel IV von der Genugtuung Christi für unsere Sünden sprach. Eine Weiterentwicklung von Melanchthons Argumentation begegnet ferner darin, dass Schleiermacher die Gerechtigkeit aus dem Glauben als andauerndes Aufnehmen des Lebens Christi in uns beschreibt (aaO. 653 – 665). Gerechtigkeit umfasst über die Sündenvergebung und seinen forensischen Charakter hinaus ein positives und zustimmendes Verhalten des Menschen, das sich im Glauben ereignet. Dieser Glaube, so Schleiermacher in Anlehnung an Calvin, ist „das Leben Christi in uns“ (659). Insgesamt bezog sich Schleiermacher in innovativer Weise auf Melanchthon, indem er mit dessen Grundlegungen sein eigenes Verständnis des Glaubens und seiner religiösen Lebendigkeit verbunden hat. Das korreliert mit Schleiermachers grundsätzlichem Zugang zur Reformation, dass diese in der jeweiligen Gegenwart zum Ziel gebracht werden muss (Ohst 1989, 107).
2.3 Reformierte Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts Wenn man nach einer expliziten Rezeption Melanchthons im 19. Jahrhundert Ausschau hält, stößt man bei herausragenden reformierten Theologen wie Alexander Schweizer, Adolf Zahn und Eduard Böhl nur auf wenige Spuren. So zählt Melanchthon in Schweizers dogmengeschichtlichen Werken keineswegs zu den Referenzgrößen, von denen aus er die Lehre der reformierten Kirche meinte begründen zu können. Schon bei Schweizer zeichnet sich ein im 20. Jahrhundert noch deutlicher hervortretender Grundzug ab, Calvin vor Zwingli zum theologischen Gewährsmann der reformierten Konfession zu erklären. Für Melanchthon, der nun ganz an die Seite Luthers gerückt ist, blieb in Schweizers Glaubenslehre der Evangelisch-reformirten Kirche (1844) nur wenig Raum, am ehesten noch in seiner Darstellung der Centraldogmen der reformirten Kirche (1854) mit einigen Verweisen auf ihn. Zumindest über die Confessio Augustana fand der zur Erweckungsbewegung zählende reformierte Erlanger Pfarrer und Professor Christian Krafft (1784– 1845) einen Zugang zu Melanchthon. Im Jubiläumsjahr 1830 vertrat er die Überzeugung, dass Melanchthons Confessio Augustana erstens als gemeinsames christliches Glaubensbekenntnis angesehen werden und zweitens einen Beitrag zur Überwindung der innerprotestantischen konfessionellen Trennungen leisten könnte. Eineinhalb Jahrzehnte nach Krafft meldete sich mit Johann Heinrich August Ebrard erneut ein Erlanger reformierter Theologe zu Melanchthon zu Wort. In seiner zweibändigen Darstellung Das Dogma vom heiligen Abendmahl und seine Geschichte (1846) hob er die Konvergenzen zwischen Melanchthon und Calvin in der Abendmahlsfrage – hier vor allem in der nicht substanzhaft-leiblichen Bestimmung der Gegenwart Christi in der Feier – hervor. Auch in seinem Handbuch der christlichen Kirchen- und Dogmengeschichte (1866) trat Melanchthon als eine eigenständige reformatorische Persönlichkeit mit
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dem Interesse an der Einigung im protestantischen Lager hervor. Schließlich unterstrich Ebrard in seinem Werk Christliche Dogmatik (1851/52) Melanchthons Ausgangspunkt „von einem praktisch-kirchlichen Bedürfniß“ sowie seine faktische Zugehörigkeit – jedenfalls der Lehre nach – zur reformierten Kirche. Wendet man den Blick über Deutschland hinaus, muss der in der Schweiz geborene deutsch-amerikanische Theologe Philip Schaff erwähnt werden. Im Rahmen seines Programms der Erneuerung des Protestantismus, das er in der Mercersburger Schrift The Principle of Protestantism (1845) vertrat, forderte er eine Rückbesinnung auf das reformatorische Fundament und knüpfte zumindest der Sache nach an Melanchthon an. In seiner History of the Christian Church (1882– 1892) schenkte er Melanchthon und seiner Theologie eine überaus anerkennende Beachtung. Als zweite Führungsfigur der lutherischen Reformation sei dieser ein Mittler zwischen den Theologien Luthers und Calvins gewesen (Schaff 1916, 185 – 186). Schon früh habe er folgende äußeren und inneren Eigenschaften gezeigt: „[…] his high and noble forehead, his fine blue eyes, full of fire, the intellectual expression of his countenance, the courtesy and modesty of his behavior, revealed the beauty and strength of his inner man.“ (aaO. 189) Nicht nur mit Luther, mit dem er sich ideal ergänzte, sondern auch mit Theologen des reformierten Zweiges der Reformation wie Zwingli, Johannes Oekolampad, Wilhelm Farel, Pierre Viret, Calvin, Beza und John Knox habe Melanchthon zusammengewirkt, und zwar „together with different gifts, but in the same spirit and for the same end“ (aaO. 192); an anderer Stelle heißt es: „The two Wittenberg Reformers were brought together by the hand of Providence, to supply and complete each other […].“ (aaO. 195) Ebenso wie in seinem Buch Saint Augustine, Melanchthon, Neander (1886) hat Schaff das Luther gegenüber eigenständige Profil des Irenikers Melanchthon aufgezeigt: „Luther was a man of war, Melanchthon a man of peace. […] Melanchthon was always ready for compromise and peace, as far as his honest convictions would allow, and sincerely labored to restore the broken unity of the Church.“ (aaO. 194) Melanchthons größte Leistung erkannte Schaff in der Entwicklung des ersten Systems einer protestantischen Theologie in Gestalt der Loci: „This book marks an epoch in the history of theology. […] It is clear, fresh, thoroughly biblical, and practical. […] It presents the living soul of divinity.“ (aaO. 369). Inhaltlich wandte sich Schaff insbesondere Melanchthons Entfaltung der Lehre vom menschlichen Willen, vom Abendmahl und von der Rechtfertigung unter Betonung der Werke des Glaubens zu (aaO. 371– 374). Konsequent lautet sein abschließendes Urteil über die Loci: „The theological manual of Melanchthon proved a great help to the Reformation.“ (aaO. 374) Auf diese Weise gelang es Schaff, Melanchthons Impulse für die ganze Reformation – und nicht nur für deren lutherische Gestalt – aufzuzeigen, von denen er sich Früchte für sein Konzept einer evangelischen Katholizität erwartete. Unter den reformierten Kirchenhistorikern des 19. Jahrhunderts ist der Bezug auf Melanchthon wenig markant. Symptomatisch ist die distanzierte Wahrnehmung Melanchthons durch den Basler Vermittlungstheologen Karl Rudolf Hagenbach, bei dem Melanchthon deutlich im Schatten Luthers steht. In seinen Vorlesungen über Wesen und Geschichte der Reformation in Deutschland und der Schweiz (1834) kennzeichnete
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er ihn als einen lebensfremden Gelehrten, der sich in aristokratischer Manier dem gemeinen Volk entzogen habe und der Lebenssituation der Menschen entrückt gewesen sei. Dem Gelehrten wird sodann der lebenserfahrene und volksnahe Luther gegenübergestellt. Eine Würdigung von Melanchthons Beitrag zum reformierten Protestantismus unterblieb bei Hagenbach.
2.4 Heinrich Heppes unionstheologische Melanchthonrezeption Anders liegen die Dinge bei den theologischen Verfechtern der Union, die ihrem Selbstverständnis nach in der Regel Vermittlungstheologen waren. Unionsanhänger haben die Melanchthonforschung befördert, und umgekehrt haben die Ergebnisse der Melanchthonforschung der Union gewichtige theologische Argumente geliefert. Auf reformierter Seite ist der vielseitig begabte Heinrich Heppe zu nennen, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Rezeption und Würdigung Melanchthons entscheidend beigetragen hat. Als reformiertes Pendant zum Lutheraner August Vilmar verfolgte er das Ziel, die Vielgestaltigkeit der Reformation in Erinnerung zu rufen und die reformierte Prägung seiner kurhessischen Kirche hervorzuheben. An der Pluralität des Protestantismus hatte nach Heppes Sicht Melanchthon einen erheblichen Anteil. Aufgrund seiner Einsichten in den inklusiven und andere dogmatische Traditionen integrierenden Charakter von Melanchthons Theologie begründete er die These von der durch Melanchthon geprägten deutsch-reformierten Kirche als eigenem Konfessionstyp neben dem Calvinismus und dem Luthertum. In seiner Schrift Der Charakter der deutsch-reformirten Kirche (1850) entfaltete Heppe die Charakteristik der deutschreformierten Kirche am Beispiel von Melanchthons Einfluss auf die Bekenntnisbildung in der Pfalz, Hessen und Brandenburg. Den Kern von dessen Theologie erkannte Heppe in seinem „in strengster Consequenz durchgeführte[n] biblisch-soteriologische[n] Prinzip“, „die Heilsthätigkeit Gottes“ zur „Heilsempfänglichkeit und zu dem in der Erfahrung des Lebens wirklich hervortretenden Heilsbedürfniß“ des Menschen in Beziehung zu sehen (Heppe 1830, 678). In dieser Korrespondenz von göttlichem Heil und seiner menschlichen Annahme schlage das Herz der melanchthonischen Heilslehre. Diese bringe zugleich die Relationalität von Gott und Mensch zum Ausdruck und interessiere sich für das gläubige Bewusstsein und den Zweck der Heilswirkung. Gerade die Pfälzer Kirchenreform von 1563 dokumentiere, dass der irenische melanchthonische Lehrtypus – freilich „unter calvinischen Formen“ (692) – nach zwei Seiten hin Grenzlinien markieren konnte: einerseits zum Calvinismus und andererseits zum Luthertum in Gestalt der Dogmatisierung durch die Gnesiolutheraner. Heppes Suggestion lässt sich zugespitzt so lesen: Melanchthon ist für die deutsche evangelische Kirche und ihr melanchthonisches „alt-evangelische[s] Glaubensbewußtseyn“ (aaO. 692) die ideale Erscheinungsform Calvins. Die Brücke, die Calvin und Melanchthon miteinander verbindet, ist nicht die Heilslehre, sondern die Abendmahlslehre: „So kam es, daß sich Calvin und Melanchthon über den Sacramentsstreitigkeiten ihrer Zeit die Hand reichten.“ (aaO. 679) Am Beispiel seiner eigenen Kirche zeigte Heppe, dass
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die „modern-lutherische Glaubensrichtung“ Oberhessens das melanchthonische Niederhessen gegen das Luthertum aufbrachte und die Reformierung der Liturgie „in calvinischer Weise“ beförderte (aaO. 697). Heppe zufolge gibt es, wenn man die Kirchenordnungen und Lehrentwicklungen der Pfalz, Hessens und Brandenburgs betrachtet, eine deutsch-reformierte Kirche, die weder im Calvinismus noch im zeitgenössischen Luthertum ihre Wurzeln habe, sondern vor allem auf Melanchthons Confessio Augustana zurückgehe. Wesentliche Anregungen erhielt diese deutsch-reformierte Kirche durch die „irenische(n) Beziehung des deutschen zum ausländischen (calvinischen) Protestantismus“ (aaO. 704). Letztlich sind die calvinischen Einflüsse auf die deutsche Kirche der Irenik Melanchthons zu verdanken, in Fragen der Lehre nicht exklusiv, sondern inklusiv zu denken. Genau diese melanchthonische inklusive Gestaltung von Lehre, Ordnung und Liturgie erhoffte sich Heppe für den gesamten deutschen Protestantismus seiner Zeit im Sinne der „Einigung der Confessionen“: „Die lutherische Kirche wird daher dahin zurückzukehren haben, wo sie einst mit der deutsch-reformirten Kirche geeinigt war […].“ (aaO. 706) In diesem Konzept rückte Melanchthon von einer unselbstständigen Figur hinter Luther zum Begründer eines eigenen Konfessionstyps auf. In der deutsch-reformierten Kirche sei Dank Melanchthon die wahre reformatorische Lehre zutage getreten. In seiner Geschichte des deutschen Protestantismus in den Jahren 1555 – 1581 erklärte Heppe: „[D]ogmatisch und theoretisch hat erst Melanchthon den Sieg des Protestantismus vollendet, indem er das gläubige Leben in allen seinen Beziehungen mit strengster Consequenz als persönliches, lediglich zwischen dem Herzen Gottes und dem Herzen der Gläubigen sich bewegendes Verhältnis darlegte […]. [Deshalb] war es Melanchthon, der den deutschen Protestantismus fast bis zur erschöpfenden Darstellung seiner Idee und zur allseitigen Lösung seiner Aufgabe führte.“ (Heppe 1852, 56) Melanchthon galt nun sogar als Vollender des Sieges des Protestantismus. Dass Heppe damit nicht nur eine historische Behauptung aufstellte, zeigt sich daran, dass er seine These auch sachlich in Melanchthons Theologie zu begründen suchte: Dieser habe deutlich gemacht, dass die offenbarten Heilstatsachen aufgrund des in ihnen manifestierten erbarmenden Willens Gottes ihre Heilswirkung im gläubigen Christen wirklich entfalten und dessen Leben bestimmen. Es sei also die auf das Leben im Glauben zielende Gewissheit des in Freiheit ergriffenen Heils, die Melanchthon dem deutschen Protestantismus prägend eingepflanzt habe. Mit der Freiheit des Gläubigen im Ergreifen des Heils machte Heppe zugleich eine Melanchthon von Calvin unterscheidende Differenz ausfindig, deren Hintergrund in ihrer unterschiedlichen Prädestinationslehre gelegen habe. Heppe widmete Melanchthon, dem „Anwalt des seligmachenden Evangeliums“ (Heppe 1860, V), eine leicht pathetische Lebensdarstellung, in der er das bisherige Melanchthonbild korrigiert und diesen als ausgezeichneten Theologen, Philosophen und Pädagogen hervorgehoben hat: „Die Unmittelbarkeit des Charakters und des Lebens, das Luther hatte, fehlte ihm, und darum fehlte ihm die schöpferische, urreformatorische Riesenkraft Luthers; aber darum war er auch von den Schwächen Luthers frei. Es war nichts in Melanchthon und kam nichts aus Melanchthon, was nicht
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durchdacht, was nicht von einem klaren Gedanken getragen war. […]. Daher […] die Freundlichkeit und Holdseligkeit, die er nach Außen zeigte.“ (Heppe 1860, 223) Auch wenn man Heppes These und seinen Begriff „deutsch-reformierte Kirche“ kritisch hinterfragen muss, ist seine innovative Schlussfolgerung von einer erheblichen kirchlichen Lenkungs- und Orientierungskraft gewesen. Denn in Melanchthons konfessionsübergreifendem und zugleich die Konfessionen verbindenden evangelischem Protestantismus entdeckte Heppe einen gangbaren und verheißungsvollen Weg, um zu einer theologischen Union zwischen Lutheranern und Reformierten in Deutschland zu gelangen.
2.5 Karl Barths eklektische Wahrnehmung Melanchthons In einem gänzlich anderen Licht erscheint Melanchthon beim bedeutendsten reformierten Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Barth. Dieser bezeichnete in seiner Göttinger Calvin-Vorlesung (1922) Melanchthons Loci gar als einen „Trümmerhaufen“ (aaO. 53). Im selben Jahr stellte er im Vortrag Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie Melanchthon und Schleiermacher in dieselbe Ahnenreihe, an die er jedenfalls nicht anzuknüpfen gedachte (aaO. 158); umgekehrt erklärte er Kierkegaard, Luther, Calvin, Paulus und Jeremia zu Gewährsmännern für seine Theologie. Im Blick auf Schleiermacher geäußert, aber damit auch auf dessen vermeintlichen Vorgänger Melanchthon gemünzt, warf Barth diesem vor, die Notlage des Menschen zu verschleiern, und erklärte, dass von Gott reden etwas Anderes heiße als in etwas erhöhtem Ton vom Menschen zu reden. Bezeichnenderweise übte Barth im Geleitwort zur Neuauflage von Heppes Kompendium evangelisch-reformierter Dogmatik (1935) an dessen historischer Sicht Kritik, im späten Melanchthon und nicht in Calvin den Ausgangspunkt der reformierten Lehre des 17. Jahrhunderts zu erkennen. Eine eigene Melanchthon-Rezeption hat es in der Dialektischen Theologie weder bei Barth noch bei Emil Brunner, Rudolf Bultmann oder Friedrich Gogarten gegeben. Im Fall des Reformierten Brunner überrascht das insofern, weil dieser sich im Streit mit Barth der dogmatischen Subjektivität geöffnet hat und bei Melanchthon Linien in diese Richtung hätte entdecken können. Indes urteilte Brunner in seiner Ethik Das Gebot und die Ordnungen (1932) kritisch, dass Melanchthon die Rechtfertigungslehre Luthers individualistisch und gesetzlich missverstanden habe. Bei ihm dringe die philosophische aristotelische Moral in die christliche Ethik ein (aaO. 87). Zurück zu Barth. In der Kirchlichen Dogmatik (1932 ff.) sind Bezugnahmen auf Melanchthon selten. Genannt seien folgende Kontexte: a) Trinitätslehre: Barth warf Melanchthons Loci eine „tritheistische(n) Schwäche des Personbegriffs“ vor, indem er den Gedanken der innertrinitarischen Beziehungen der Personen nicht hinreichend profiliert habe (KD I/1, 385). b) Gotteslehre und Heilslehre: Barth bemängelte, dass der frühe Melanchthon der Loci von 1521 auf eine explizite Gotteslehre verzichtet und sich sogleich den „beneficia Christi“ zugewandt habe. In der Theologie, so Barth, können „die beneficia Christi nicht recht erforscht werden […], wenn an ihrem Ort nicht auch
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eine Besinnung über die mysteria divinitatis als solche stattgefunden hat“ (KD II/1, 290). Noch gewichtiger sei aber die spätere Entscheidung Melanchthons, zwar die Gotteslehre wieder in die Loci zu integrieren, aber diese auf der Grundlage einer natürlichen Gotteserkenntnis und eines allgemeinen Gottesbegriffs zu entfalten. So habe Melanchthon den unlösbaren Zusammenhang der natürlich erkannten „mysteria divinitatis“ und der offenbarten „beneficia Christi“ aufgelöst. Zugleich betonte Barth die Wahrung der Freiheit Gottes, der gerade nicht in seiner heilenden und erlösenden Beziehung zur Welt aufgehe (aaO. 292). An anderer Stelle heißt es gegenüber Melanchthons „Überbetonung der ‚beneficia Christi‘“: „Die von Melanchthon in einer weniger glücklichen Stunde gewagte, von manchen Richtungen neuerer protestantischer Theologie um so eifriger gepriesene Überbetonung der ‚beneficia Christi‘ zuungunsten seiner Würdigung als des ewigen Vaters Fleisch gewordener Logos hat dazu geführt, daß eben der Lobpreis des göttlichen benefactor im Protestantismus zu einer etwas blassen, höchstens in der Poesie relevanten Sache geworden ist.“ (KD IV/4, 141). c) Ethik: Im Unterschied zur Ethik Luthers und Calvins entdeckte Barth bei Melanchthon eine Tendenz, die Ethik nicht der Lehre vom Glauben ein- und unterzuordnen, sondern unter Bezug auf Aristoteles eine selbstständige Ethik beziehungsweise Moralphilosophie zu entwickeln. In diesem letztlich naturrechtlich ausgerichteten und von der Dogmatik abgelösten Unternehmen sah er ein vorbereitendes Stadium der späteren Aufklärungstheologie. Auch im reformierten Umfeld Barths stand Melanchthon in der Kritik. Otto Weber konzedierte in seinen Grundlagen der Dogmatik (1955), dass Melanchthons Werk nicht nur auf die lutherische, sondern auch auf die reformierte Dogmatik ausgestrahlt habe. Doch diese Wirkung auf die Orthodoxie sah Weber unter einem negativen Vorzeichen und sprach von „Schattenseiten“ (Weber 1955, 122). Zu diesen zählte er – darin Barths Argument aufnehmend – „die Reduktion der theologischen Grundfrage auf das ‚Heil‘“ beziehungsweise auf die „beneficia Christi“ (aaO. 122). Dieser Soziozentrismus bringe einen anthropologischen Ansatz mit sich, von dem die Gotteslehre und die Trinitätslehre überdeckt und die Christologie auf die Lehre von den „beneficia“ reduziert werde. In dieser Perspektive vermochte Weber in Melanchthon keinen reformatorischen Impulsgeber, sondern in seiner Reproduktion der „alte[n] Ontologie“ allenfalls den Vorbereiter der Orthodoxie zu sehen. Melanchthon habe durch seinen anthropologischen Zugang zur Theologie die reformatorischen Erkenntnisse wieder erlahmen lassen, indem er erstens die Ethik als selbstständiges Thema in die Theologie eingebracht, indem er zweitens die Dialektik von Gesetz und Evangelium ganz auf den Menschen statt auf Gott ausgerichtet und indem er drittens den Glauben rationalisiert und zu einem Kenntnis- und Zustimmungsakt der menschlichen Vernunft erklärt habe. Fast erleichtert räumte er ein, dass die deutsch-reformierte Schule einschließlich des Heidelberger Katechismus „wesentliche Elemente des ursprünglichen Erbes Calvins aufgenommen und damit im Grunde die Ansätze Melanchthons dann doch wieder eher in die Richtung Luthers abgebogen“ habe (aaO. 123 – 124). Weber nahm in Melanchthon kaum mehr als den Vermittler der klassischen Ontologie beziehungsweise des Rationalismus in die Orthodoxie hinein wahr. Als reformatorische Größe hingegen
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falle er aus, und wenn die deutsch-reformierte Theologie dogmatisches Niveau aufzuweisen habe, so sei dies allein Calvin zu verdanken.
2.6 Leuenberger Konkordie Neben diesen kritischen Wahrnehmungen Melanchthons in der Theologie des 20. Jahrhunderts begegnet indes eine bedeutende Wirkung seiner auf Vermittlung von Lehrdifferenzen angelegten Theologie: die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie, 1973). In diesem Dokument einer Verständigung von Reformierten, Lutheranern und Unierten in umstrittenen Lehrfragen und der Erklärung von Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft tritt ein gerade vom Reformiertentum begrüßtes indirektes Anliegen Melanchthons zum Vorschein, zu einem differenzierten Konsens und einer Kirchengemeinschaft in versöhnter Verschiedenheit zu gelangen. Die Formulierung der Konkordie, dass sich im Abendmahl der auferstandene Jesus Christus „in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein“ schenkt (Art. 15), knüpft bewusst an die Confessio Augustana Variata an („cum pane et vino“) und stellt das Geschehen der Abendmahlsfeier in den Mittelpunkt. Auf diese Weise stand Melanchthon bei der innerprotestantischen Ökumene des 20. Jahrhunderts Pate. Insgesamt lässt sich sagen, dass das Reformiertentum nur partiell einen Zugang zu Melanchthon als einen die reformierte Theologie inspirierenden Theologen gefunden hat. Dabei ragen die Anfänge in Gestalt der stark philippistisch geprägten reformierten Theologie in deutschen Territorien des 16. Jahrhunderts, dann Schleiermachers Verständnis von Glaubensbewusstsein und Kirche, Heppes Neuinterpretation der reformierten Konfessionalität und schließlich das auf Verständigung und Gemeinschaft angelegte Interesse der Leuenberger Konkordie und die von ihr ausgehende „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa“ (GEKE) hervor. Man wird nicht fehlgehen, die Wurzeln und Ausprägungen des Reformiertentums weit über Calvin, Zwingli und Bullinger hinaus auch bei Melanchthon zu suchen und dabei von produktiven Synthesen unterschiedlicher Spielarten ihrer Theologie auszugehen.
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Melanchthon und die Täufer/Spiritualisten Melanchthon charakterisierte sich 1548 selbst als „amantem disciplinae et ordinis“ (MBW 5139; CR 6, 883). Diese Voraussetzung prägte seine Stellungnahmen zu Täufern und Spiritualisten sowie zum Verhalten der Obrigkeiten gegenüber diesen Gruppen. Neben prinzipiellen theologischen Vorbehalten war für Melanchthon wie für die evangelische Religionspartei im Reich insgesamt ein praktisch-politisches Argument – wenn auch zumeist unausgesprochen – wichtig: Da die altkirchliche Seite das Täufertum argumentativ als Weiterführung der evangelischen Lehre beurteilte und beide Spielarten von Abweichungen gleicherweise diskriminierte, war es für die Evangelischen wichtig, die Distanz zu den Täufern möglichst deutlich zu markieren und darüber hinaus die konfessionelle Gegenseite einer Förderung der täuferischen Abirrung zu bezichtigen, da sie die Verkündigung des reinen Wortes Gottes in ihrem Herrschaftsbereich unterdrückte. Konsequent verweigerte Melanchthon Täufern und Spiritualisten Kommunikation und Dialog. Mit prinzipieller Devianz innerhalb des sich formierenden evangelischen Lagers sah sich Melanchthon erstmals Ende 1521 konfrontiert, als ihn während der sogenannten Wittenberger Bewegung sein ehemaliger Schüler Markus Thomae, genannt Stübner, aus Zwickau aufsuchte, begleitet von den zwei Tuchknappen Nikolaus Storch und Thomas Drechsel. Die theologische Belanglosigkeit ihres Selbstbewusstseins als Apostel und Propheten, die mit Gott unmittelbar kommunizierten, durchschaute Melanchthon zwar rasch, wurde aber von den „Zwickauer Propheten“ in der Frage nach der biblischen Legitimierung der Kindertaufe verunsichert. Fast ein Jahrzehnt später bescheinigte er sich, damals „stulte clemens“ gewesen zu sein, indem er seine Besucher vor der Bestrafung durch die staatlichen Instanzen schützte: „Nunc me eius clemenciae non parum poenitet.“ (MBW.T 4.1, 60,12– 13) Storch identifizierte er seit Ende der 1520er Jahre als Urheber der Täuferbewegung. Mit spiritualistischen Dissidenten, für ihn personifiziert in Sebastian Franck, Kaspar von Schwenckfeld und Johannes Campanus, setzte Melanchthon sich in zahlreichen Äußerungen auseinander. Über Schwenckfeld hat er 1557 sogar ein im Druck erschienenes Votum veröffentlicht, nachdem sich jener durch Vermittlung Philipps von Hessen um eine Annäherung an die Evangelischen bemüht hatte. Der kurze Text gab sich als Kollektivvotum der in Worms zum Religionsgespräch versammelten lutherischen Theologen: Antwort auf Schwenckfelds Suchung (MBW 8379; CR 9, 324– 326). Von den „groben, greiflichen Irrthum und Sophisterei“, die er bei Schwenckfeld beobachtete, konzentrierte sich Melanchthon auf drei Punkte: Herabwürdigung des geistlichen Amtes; Zurücksetzung des äußerlichen Wortes Gottes zugunsten innerlicher Erleuchtungen: „Deus se communicat immediate“ – was nur zu falscher Glaubenssicherheit führen könne; falsche Lehre von der menschlichen Natur Christi. Seine Wirkung erzielte Schwenckfeld Melanchthon zufolge vor allem durch Phrasen, „hohe, prächtige Worte“, wie den Begriff „Vergöttung“, mit denen er die DOI 10.1515/9783110335804-015
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christliche Lehre verunkläre. Das Endurteil Melanchthons fiel daher unzweideutig negativ aus: „Dieweil nun in Schwenckfelds Büchern etliche öffentliche Irrthum sind und dabei viel verwirrter Reden und kein ganz corpus christlicher Lehre darin gefasset ist […], können wir seine Bücher, Zerrüttung des christlichen Ministerii und Schmachschriften nicht billigen.“ Verbunden mit dieser Verwerfung erging der Appell an die christlichen Regenten, dass sie „das rechte Ministerium in ihren Kirchen durch Schwenckfelds hohe und prächtige Worte nicht lassen zerrütten“. Im Vergleich von Schwenckfeld mit Sebastian Franck hielt er ersteren für „stultus magis quam improbus“, während Franck „veneni et virulentiae plenus est“ (MBW.T 6, 482,14; 483,19 – 20). Insbesondere warf er ihm vor, den Bibelglauben zu erschüttern, indem er vermeintliche Widersprüche der Heiligen Schrift aufdecke und lehre, dass die Offenbarungen Gottes nicht an das geschriebene Wort gebunden seien, sondern sich zu allen Zeiten und an allen Orten ereignen könnten. Francks historische Arbeiten waren Melanchthon zufolge ohne jeden Wert und vielmehr Schmähschriften, die Irrtümer verbreiteten. Bei allen Lehrunterschieden im Einzelnen sah Melanchthon eine prinzipielle Übereinstimmung der Spiritualisten und ihrer Anhänger in ihrem religiös-theologischen Individualismus, der sich in der Verachtung der Institution Kirche, des geistlichen Amtes und der kirchlichen Ordnungen manifestierte, ferner in einem Eklektizismus ohne nachvollziehbare Konsistenz der theologischen Aussagen, in gravierenden Abweichungen bei Christologie und Trinität sowie in der Geringschätzung des geschriebenen Wortes Gottes. Sie sonderten sich bewusst von der christlichen Gemeinschaft ab, um sich „suis quibusdam paradoxis in doctrina et in moribus“ hinzugeben (MBW.T 14, 271,94 – 95). Das abweichende Urteil wurde für Melanchthon dadurch verschärft, dass die Spiritualisten wie alle Devianten mit ihrer Institutionenkritik auch die Legitimität der zivilen Autoritäten untergruben und damit den Aufruhr förderten – für Melanchthon seit 1525 das ultimative Delikt aller Nonkonformisten. Anders als die Spiritualisten stellte die Täuferbewegung Melanchthon unmittelbar vor konkrete Aufgaben. Keiner der reformatorischen Theologen der ersten Generation hat sich seit 1527 derart umfangreich und vielfältig mit den Täufern auseinandergesetzt wie Melanchthon. Dabei ist in seinen Auffassungen eigentlich keine Entwicklung festzustellen – Melanchthon entschied sich von vornherein und undifferenziert für eine Bekämpfung der täuferischen Bewegung unter Zuhilfenahme des brachium saeculare – sein biblisches Referenzzitat war Lev 24,16: „Wer den Namen des Herrn lästert, soll des Todes sterben.“ Seine Kenntnisse der Theologie und der Zivillehren der Täufer waren lediglich abgeleiteter Herkunft; es gibt keinen Hinweis, dass er jemals täuferische Texte gelesen hat. Die Frage der Täufer nach einem strikt biblizistisch ausgerichteten Leben in dieser Welt wies er bereits 1527 unter Berufung auf die Unterscheidung der zwei Regimente Gottes und die daraus resultierende Differenzierung von Reich Christi und ziviler Herrschaft in dieser Welt zurück. Auch die täuferische Methode des Umgangs mit der Heiligen Schrift beklagte Melanchthon. In seiner Rhetorik von 1531 „ereilt die Täufer Melanchthons Kritik, weil sie sich gerade auf schwer
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verständliche Bibelzitate stützen und deren Auslegung in den wörtlichen Sinn pressen, ohne dabei den Unterschied von Aussage und Intention […] zu beachten“ (Kuropka 2002, 46), die bei dunklen Schriftallegaten die Interpretation durch eindeutigere Stellen erfordern. Die Konsequenzen, die die Täufer für ein unmittelbar an biblischen Vorschriften orientiertes Leben in der Welt zogen, diskreditierte Melanchthon 1528 als „simpliciter impium“ (MSA 1, 291,19 – 20). Nicht lediglich durch die Kindertaufe definierten sich in Melanchthons Sicht die Täufer, sondern ihre Lehren und Lebenspraktiken insgesamt führten in seiner Beurteilung unweigerlich zu Aufruhr. In dieser Sicht schlug sich nicht zuletzt die traumatische Erfahrung des Bauernkriegs nieder – seit 1525 setzten die Wittenberger Reformatoren falsche Predigt gemeinhin mit Aufruhr gleich. Im bürgerlichen Bereich des täuferischen Verhaltens und Handelns verurteilte Melanchthon zunächst insbesondere zwei Normen als gemeinschaftssprengend und damit sozial schädlich: die Ablehnung, weltliche Ämter zu übernehmen, und das Postulat der Gütergemeinschaft. Der zeitliche Schwerpunkt der antitäuferischen Stellungnahmen, Gutachten und Publikationen Melanchthons liegt in den 1520er und 1530er Jahren. Bei den Visitationen im ernestinischen Thüringen begegnete er der Problematisierung der Kindertaufe in der Realität und unterstützte in der zweiten Hälfte 1527 die staatliche Anweisung an die Visitatoren, die Pfarrer über Kinder- und Wiedertaufe zu befragen, mit einer handschriftlich verbreiteten kurzen Orientierungs- und Argumentationshilfe für die Geistlichen: Argumentum, quod parvulis sit adhibendus baptismus (MBW.T 3, 640,243 – 246). Zu diesem Zweck parallelisierte er die Beschneidung des Alten Bundes (Gen 17,4) der Taufe des Neuen Bundes (Mk 10,16) – beide verstanden als Zeichen der Gnade und des ewigen Lebens. Dass Christus die Kinder gesegnet habe, „certe aliter non potest accipi, nisi quod receperit eos in gratiam et commendarit eos patri sanctificandos et servandos“ (244,12– 14). Täuferische Einwände gegen die Kindertaufe bemühte er sich zurückzuweisen, sodass jedes argumentum auf die Feststellung hinauslief: „Ergo infantes sunt baptisandi.“ (245,23 – 24) Im Herbst 1528 publizierte Melanchthon das Adversus anabaptistas iudicium (MSA 1, 272– 295) (in der Übersetzung von Justus Jonas: Unterricht wider die Lehre der Widertäufer), „the most theological of Melanchthon’s pamphlets against the Anabaptists and by far the most dispassionate and calmly reasoned piece of work that he ever wrote on the subject“ (Oyer 1964, 144). Den größten Teil der Schrift widmete Melanchthon der Begründung der Kindertaufe und baute dabei auf den Thesen des Argumentum auf.Wie 1527 parallelisierte er Beschneidung und Kindertaufe, wenn er auch einräumte, dass es kein Gebot (praeceptum) im Neuen Testament gebe, berief sich aber auf das Beispiel Christi (exemplum). Daneben beschäftigte er sich mit der Gütergemeinschaft. Er brandmarkte sie als „una inter seditionum faces, quas fanatici isti spargunt in vulgus“ (291,27– 28). Mit biblischen Allegaten verteidigte er die Legitimität des Besitzes: „Christianos recte facere, si iuxta legitimas civitatum ordinationes maneant in possessionibus“ (295,10 – 13), damit sie die Bedürftigen freigiebig – „pro facultatibus“ – unterstützen könnten. Wie gegen die Täufer praktisch vorzugehen war, erörterte Melanchthon 1528 nicht, nachdem er im Vorjahr pauschal festgestellt hatte, dass derje-
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nige getötet werden könne („posse interfici“), der Verachtung der Obrigkeit, Gütergemeinschaft oder Eheauflösung und Verlassen der Kinder wegen abweichender Glaubensüberzeugung lehre (MBW.T 3, 593,165 – 166). Mit der innerlutherischen Kritik an der blutigen Verfolgung der Täufer im Kurfürstentum Sachsen setzte sich Melanchthon Ende Februar 1530 in einem Brief an den Gothaer Superintendenten Friedrich Myconius auseinander (MBW.T 4.1, 868,58 – 62). Er verteidigte das Vorgehen der Obrigkeit mit dem Prinzip, den Anfängen wehren zu müssen. Alle Täufer, auch wenn sie nur „minimum habent vicii“, verwarfen irgendeinen Teil der bürgerlichen Pflichten („aliquam partem civilium officiorum“) (60,23 – 24), machten sich damit des Aufruhrs schuldig und provozierten Strafe. Legitimer Verfolgungsgrund war jedoch nicht nur die Negierung bürgerlicher Pflichten, sondern auch die Verbreitung gotteslästerlicher Lehren. Neben dem mosaischen Gesetz (Lev 24,16) zog Melanchthon auch das römische Recht (Cod. Iust. 1,6,2) und die altchristlichen Kaiser heran, die die Arianer mit dem Tode bestraft hatten; ebenso berief er sich auf Augustins Kampf gegen die Donatisten. Die gemäßigtere Haltung von Johannes Brenz, auf die Myconius offenbar hingewiesen hatte, lehnte Melanchthon als „nimis clemens“ ab und erklärte sie mit dem Hinweis, dass jener noch keine praktische Erfahrung mit Täufern gemacht habe. Anfang 1531 beschäftigte sich Melanchthon erstmals mit den strafrechtlichen Konsequenzen des Täufertums, und zwar in einem von ihm abgefassten Kollektivgutachten der Wittenberger Theologen für Kurfürst Johann von Sachsen (MBW.T 5, 1119,39 – 43). Zuvor hatte er 1530 in der Confessio Augustana die theologische Bewertung der täuferischen Lehren durch die lutherische Religionspartei fixiert. In apologetischer Absicht versuchte er dort den Nachweis zu führen, dass die Lehren der Täufer schon vor Martin Luther im Umlauf gewesen seien, und stellte das Verdienst der evangelischen Predigt heraus: Täufer sind vor allem dort anzutreffen, wo es an der Predigt des wahren Evangeliums fehlt. In sechs Artikeln der CA grenzte er die evangelische Theologie ausdrücklich von täuferischen Anschauungen ab: Art. 5 über das Predigtamt (Verwerfung der Lehre, dass man ohne das äußere Wort den Heiligen Geist erlangen könne); Art. 8 über die Kirche und die Gültigkeit der Sakramente auch bei Spendung durch Unwürdige; Art. 9 über die Kindertaufe (Verwerfung der Lehre, dass die Kindertaufe unrecht sei); Art. 12 über die Buße (Verwerfung der Lehre, dass die einmal Gerechtfertigten den Heiligen Geist nicht wieder verlieren können); Art. 16 über die weltliche Obrigkeit, die als christlich zu respektieren ist (Verwerfung der gegenteiligen Lehren der Täufer); Art. 17 über das Jüngste Gericht (Verwerfung der täuferischen Bestreitung der ewigen Dauer der Höllenstrafe und Verwerfung der Vorstellung, dass der Wiederkunft Christi ein weltliches Reich der Frommen vorangehen wird, in dem die Gottlosen vernichtet werden). Das Gutachten von 1531 wurde durch einen Beschluss des Schmalkaldischen Bundestages veranlasst, der die Bundesstände aufgefordert hatte, ihre Theologen und Juristen über ein einheitliches strafrechtliches Vorgehen gegen die Täufer beraten zu lassen. Melanchthon unterschied nach Überzeugungsfestigkeit und -treue drei Gruppen von Täufern: „Anfänger oder receptatores“, das heißt Täufermissionare und
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-prediger sowie Personen, die als Anlaufstellen für Wanderprediger dienten oder Räumlichkeiten für Versammlungen zur Verfügung stellten (receptator = Herbergsvater); hartnäckige (pertinaces) Anhänger; Belehrungs- und Besserungswillige. Die Inhalte der täuferischen Lehre ordnete er sowohl dem zivil-sozialen als auch dem religiös-ekklesialen Lebensbereich zu: einerseits Unchristlichkeit des obrigkeitlichen Amtes, Gütergemeinschaft, Eidverweigerung, Umgestaltung der Kirche mit Tötung der Gottlosen,Verwerfung des Zinsgebens; andererseits Verwerfung und Herabsetzung des Predigtamtes (stattdessen Selbstheiligung ohne Predigt und kirchliches Amt) sowie Zerstörung der Kirche. Die Absagen an die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens identifizierte Melanchthon mit Aufruhrpredigt; ihre Vertreter mussten mit dem Tode bestraft werden. Die Absage an die traditionelle Kirchenorganisation galt ihm in der bezeichnenden Zusammenstellung von blasphemia und seditio gleichfalls als Delikt, das von der Obrigkeit zu ahnden war, da der Staat verpflichtet war, den ecclesiasticus ordo, das geistliche Amt, das allein zur Verkündigung und zur Sakramentsverwaltung eingesetzt war, zu schützen. Wie schon bisher, verglich er den Rigorismus der Täufer mit den frühchristlichen Donatisten, die gleichfalls die realexistierende Kirche durch das Postulat einer Kirche der Reinen und durch Gewaltanwendung gegen Andersgläubige zerstören wollten. Für die konkrete Bestrafung der Täufer schlug Melanchthon ein gestuftes Verfahren vor. Die erste Gruppe der aktiv die Täuferlehren ausbreitenden oder unterstützenden Personen kann gemäß dem römischen Recht „mit gutem gewißen“ mit dem Tode bestraft werden. Dasselbe gilt für die zweite Gruppe der Anhänger und Verführten, die öffentlich aufrührerische Artikel verbreiten und trotz Belehrung darauf beharren, die evangelische Taufe und Lehre nicht für christlich und die vorfindliche Kirche nicht für Christi Kirche zu halten. Die dritte Gruppe der aus Einfalt Verführten soll, wenn sie nach Belehrung zum Widerruf bereit ist, nach kirchlicher Bußleistung begnadigt und wieder in die christliche Gemeinschaft aufgenommen werden; für einen etwaigen Rückfall sollen die Verführten mit Strafe bedroht werden. Beharren sie jedoch auf ihrer Meinung, ohne aber aufrührerische Artikel zu vertreten – was nach Melanchthons Ausführungen allerdings kaum möglich war –, sollen sie des Landes verwiesen oder „mit einer andern gnedigen straff, die yhnen zu beßerung und andern zu eynem schew dienen moge“, bestraft werden (42,70 – 71). Letztlich stellte Melanchthon jedoch den Umfang der Deliktahndung in das staatliche Ermessen und empfahl das Prinzip der Epikie, das die Umstände berücksichtigte und der Billigkeit Raum ließ: „Das alles soll man nach gelegenheit lindern oder scherffen“ (42,71– 72). Gleichwohl bestand er darauf, dass der Fürst vor Gott verpflichtet war, Blasphemie und Aufruhr zu bekämpfen. Die Würdigung des Einzelfalls hatte notfalls hinter dieser Pflicht zurückzutreten: „Ob er [sc. „der potestat“] schon ettwa mit einer person zu geschwind fuhre, thut er dennoch recht, das er der secten wert. Denn es ist genug, das gesetz und straff an yhr selb und in genere in gottes bevelch gehe und recht gemeinet werde und in plurimum recht geubet werde.“ (43,86 – 90) Die Argumentation von 1531 nahm Melanchthon 1534 gegenüber Martin Bucer auf, der ihm eine disputatio über den Umgang mit Täufern hatte zukommen lassen (MBW.T
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6, 1420,64 – 68); er bezog sich auch ausdrücklich auf das frühere Votum, wenngleich er den Text nicht mehr vorliegen hatte. Wiederum unterschied er zwischen seditiosae doctrinae und blasphemae doctrinae, wobei er den Irrlehrenkatalog von 1531 weiter ausbaute. Als aufrührerische Lehren, die den öffentlichen Frieden störten und den Zusammenhalt der Sozialgemeinschaft auflösten, nannte er jetzt Gütergemeinschaft, Eidverweigerung, Ablehnung irdischen Besitzes (= Gütergemeinschaft), Verweigerung der Vollstreckung von Urteilen und Verweigerung der Übernahme öffentlicher Funktionen sowie Verweigerung der Ehe mit einem nichttäuferischen Partner. Unstreitig hatte der Staat die Aufgabe, gegen die Praktizierung solcher Lebensformen vorzugehen. Dasselbe galt aber auch für gotteslästerliche Lehren wie die Absage an die Kindertaufe und für abweichende Vorstellungen von der Göttlichkeit Christi, denn der Obrigkeit ist der Schutz des ganzen Gesetzes übertragen, soweit es sich auf äußere Disziplin und äußeres Handeln bezieht. Ausdrücklich verwahrte sich Melanchthon in diesem Zusammenhang gegen den Vorwurf des Gewissenszwangs und stellte klar: „Fides debet esse libera […]. Nec fides cuiusquam nec tacita in animis opinio pertinet ad iudicium magistratus.“ Jedoch beschädigt das externum exemplum, das der falsche Glaube evoziert, die Ehre Gottes und verletzt die Schwachgläubigen. Der Staat urteilt dann nicht „de arcanis animi cogitationibus, sed de dicto, facto, quod prolatum est.“ (67,58 – 63) Gleichwohl verfügte die Staatsgewalt nicht über die alleinige Entscheidungskompetenz; die Normsetzung und die aus ihr folgende Feststellung, ob gefährliche Devianz vorlag, war nicht allein ihre Sache, sondern bedurfte auch der „cognitio […] doctorum“ (67,70 – 71). Mit dieser Berufung auf die Fachleute glaubte Melanchthon sich gegen den Einwand abzusichern, dass der Kaiser unter Verweis auf seine obrigkeitliche Pflicht, Irrlehren zu verhindern und Gotteslästerung zu verfolgen, gegen die Evangelischen im Reich vorgehen könne. Sachverständige mit „recta cognitio“ könnten die evangelische Predigt niemals als Abweichung von der christlichen Lehre definieren. Die Täufer waren dagegen nach dem Urteil Luthers, das Melanchthon Bucer übermittelte, zweifellos eine „secta […] diabolica“ (68,82). Über die Bestrafung äußerte sich Melanchthon 1534 nur sehr allgemein mit der Bemerkung, dass „autores opinionum malarum“ (67,76) anders zu behandeln seien als bloß Verführte, die von ihrem Irrtum durch Belehrung abgebracht werden könnten. Gegen eine programmatische Schrift von Bernd Rothmann, einem führenden Täufer in Münster, stellte Melanchthon 1535 22 Thesen auf: De deliriis et furoribus anabaptistarum, die zuerst in deutscher Übersetzung erschienen: Etliche Propositiones wider die Lehre der Wiedertäufer (Laube 1992, 1434– 1442). Melanchthon ging vor allem auf die politisch-sozialen Vorstellungen Rothmanns ein: das Tausendjährige Reich der Herrschaft der Heiligen vor der Wiederkunft Christi, der Widerstand gegen die ordentliche Obrigkeit und ihre Beseitigung, der Sturz der gottlosen Obrigkeit durch Gewalt ausübende Prediger und Lehrer, die neue Kirche der Reinen und Heiligen, Gütergemeinschaft und Polygamie. Mit dieser Programmatik waren die Täufer für Melanchthon „offentlich auffrürer“, die von der Obrigkeit „als die offentlich mörder und reuber gestrafft werden“ müssen.
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Unmittelbar wurde Melanchthon um die Jahreswende 1535/36 mit täuferischen Anschauungen konfrontiert, als er gefangene Täufer in Jena und auf der Leuchtenburg verhörte (vgl. MBW.T 6, 1671,519 – 524; 1674,528 – 530; MBW.T 7, 1687,33 – 36; 1689,37– 40). Er bemühte sich, die Überzeugungen der einfachen und theologisch nicht gebildeten Männer und Frauen mit Schriftallegaten zu erschüttern und sie dadurch von ihren Lehren abzubringen, stieß aber auf völlige Ablehnung. Einer der Gefangenen erklärte gegen die Schriftbeweise Melanchthons: „Er halts darfur, waß auß dem geist geschrieben sei, daß sei gottes worth“ (523,122), und warf ihm vor, er töte „mit seiner toden schrifft mehr leutte dann alle hencker“ (523,112). In seinem Bericht an Kurfürst Johann Friedrich zog Melanchthon das Fazit: Sie „sind iemerlich verirret, schelden und toben seer, steken voll zorn und hass“ (529,46 – 47) und zeigen sich gegen Belehrung resistent. Dennoch hoffte Melanchthon auf Ergebnisse bei weiterer Überzeugungsarbeit, seine drei Hauptgesprächspartner wurden jedoch hingerichtet. Die Erfahrung der unmittelbaren Begegnung mit Täufern stimulierte Melanchthon zu weiteren öffentlichen Auseinandersetzungen mit täuferischen Lehrmeinungen. Er regte bei Johann Friedrich von Sachsen ein neues Antitäufermandat an und verfasste selber den Text, zu dessen Erläuterung er 1536 die Verlegung etlicher unchristlicher Artikel, welche die Widertäufer vorgeben, schrieb (MSA 1, 301– 322; Laube 1992, 1461– 1486). Die volkspädagogisch angelegte Schrift war ausdrücklich „zu unterricht und erinnerung der einfeltigen“ bestimmt, auf kurfürstliche Anordnung sollte sie alle drei Wochen von den Kanzeln verlesen werden. Fünf Kernpunkte der täuferischen Lehren zu Sozial- und Politikverhalten hob Melanchthon hervor, die er mit zahlreichen Bibelzitaten als falsch beweisen wollte:Verbot der Übernahme obrigkeitlicher Ämter und Aufgaben; nur Diener des Wortes Gottes als Obrigkeit anzuerkennen; Verbot der Eidesleistung; Gütergemeinschaft und Eigentumsverzicht; Erlaubnis zur Auflösung der Ehe wegen Andersgläubigkeit des Partners. Als weiteren Punkt schloss er einen Artikel über die Kindertaufe und die Sündlosigkeit der Kinder an, den er besonders ausführlich behandelte. Neue Argumente trug Melanchthon nicht vor, wenn er sich auch bisher noch nicht in solcher Nachdrücklichkeit auf Luthers Konzept von den zwei Reichen Gottes berufen hatte wie in dieser Schrift. Zur Gütergemeinschaft bemerkte er sarkastisch: „Dieser artickel locket den losen hauffen, der nicht gern erbeit und mehr verbrasst, denn er weis ehrlich zu erwerben.“ (312,9 – 10) Auch den ein größeres Publikum beeindruckenden vorbildlichen Lebenswandel der Täufer und ihre Bereitschaft zum Martyrium versuchte Melanchthon moralisch zu diskreditieren, indem er die Täufer mit Wölfen im Schafspelz verglich, die die Einfältigen mit selbst ausgedachten Werken, gespielter Demut und anderer Heuchelei betrügen wollten. Die staatlichen Instanzen hatten die Pflicht, gegen die Täufer vorzugehen, da anderenfalls das gesamte politische, soziale und kirchliche Ordnungsgefüge durch die vom Teufel inspirierte Sekte zum Einsturz gebracht werde. Im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit den Täufern und auch sonst vielfach – genannt sei als Beispiel der Traktat De officio principum, quod mandatum praecipiat eis tollere abusus Ecclesiasticos von 1539 (MSA 1, 387– 410) – hat Melanchthon immer erneut die Kompetenz des Staates in Religions- und Kirchenfragen erörtert und die
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Aufgabe der weltlichen Obrigkeit, gegen die Täufer vorzugehen, verteidigt. Anscheinend bestand in der Öffentlichkeit weithin und fortdauernd Unsicherheit, ob überhaupt und, wenn ja, wieweit die weltliche Obrigkeit sich in diesem sensiblen Bereich betätigen und verantwortlich handeln durfte. Gemeinhin behalf sich Melanchthon – so 1530, 1534 und 1559 – mit der Konstruktion, dass der Staat nicht Glauben und religiöse Anschauung seiner Untertanen zu bewerten hatte, wohl aber deren äußere Praktizierung. Dass dies im 16. Jahrhundert angesichts der untrennbaren Verflochtenheit von Religion, Politik und Sozialleben eine artifizielle Unterscheidung war, die sich in der Realität nicht abbildete, wurde von ihm nicht berücksichtigt. 1536 widmete Melanchthon im Kontext der Täuferbekämpfung dem Problem der staatlichen Kompetenz in kirchlichen Angelegenheiten erstmals eine eigene Schrift: Daß weltliche Obrigkeit den Widertäufern mit leiblicher Strafe zu wehren schuldig sei (MBW.T 7, 1748,150 – 157; Laube 1992, 1487– 1498). Es handelte sich dabei um ein Kollektivgutachten der Wittenberger Theologen für Landgraf Philipp vom 4./5. Juni 1536, das auch durch den Druck verbreitet wurde. Philipp von Hessen hatte von den Wittenbergern und von verschiedenen Fürsten und Reichsstädten sowie von der Universität Marburg Rat erbeten, wie er mit Täufern verfahren solle, die trotz Ausweisung heimlich in sein Territorium zurückgekehrt waren. Der Text „is by itself the clearest single declaration of Melanchthon’s views on the subject“ (Oyer 1964, 173). Melanchthon stellte in seinem Votum, das auch von Luther, Johannes Bugenhagen und Caspar Cruciger unterzeichnet war, den schon mehrfach verwendeten Doppelkatalog politisch-sozialer und religiös-kirchlicher Irrlehren der Täufer zusammen und bemühte sich, zwei Einwände der Gegenseite zu widerlegen: Die täuferische Lehre schadet dem weltlichen Regiment und seiner Autorität nicht; die politischen Instanzen sind nicht in der Lage, über Glaubensfragen zu entscheiden – ein Bedenken, das Philipp von Hessen offenkundig teilte. Zur Widerlegung derartiger Einwände machte Melanchthon auf die unterschiedlichen Aufgaben von Predigtamt und obrigkeitlichem Amt in dieser Sache aufmerksam. Die Prediger haben mit richtiger Lehre Abweichungen zu bekämpfen und für Aufklärung und Belehrung zu sorgen; die weltliche Obrigkeit ist verpflichtet einzuschreiten, Aufruhr mit dem Schwert zu bestrafen und die weltliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Als primäres Amt der Fürsten definierte Melanchthon die Förderung von Gottes Ehre und die Abwehr von „eusserlich ergerniß“ (155,122). Nicht die Gesinnung „im hertzen“ durften sie bestrafen, wie Melanchthon erneut einschärfte, sondern die Bestrafung erfolgte „von wegen der eusserlichen unrechten rede und lahr, dadurch andere auch verfurt werden“ (152,47– 49). Das scheinbar vorbildliche Leben der Täufer sollte niemanden täuschen; ebenso wenig durfte Mt 13,30 (Wachsenlassen des Unkrauts im Weizen bis zur Zeit der Ernte) zur Duldung der täuferischen Devianz herangezogen werden – Mt 13,30 galt nur für die Prediger, die keine physische Gewalt anwenden durften, nicht für die weltliche Obrigkeit. Vor einer Verurteilung musste versucht werden, die Schuldigen zu bekehren; Urteilsnorm durften – darauf hatte Melanchthon schon früher bestanden – lediglich Gottes Wort und die Lehre der alten Kirche sein. Ausdrücklich warnte er davor, nach
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vorgefassten Meinungen zu urteilen. Die Obrigkeit musste sich vielmehr von Gelehrten genau unterrichten lassen, „da mit sie gewiß sei und nieman unrecht thue“ (154,90). Gegenüber seinen sonst eher rigorosen und undifferenzierten Ratschlägen für das praktische Vorgehen gegen die Täufer äußerte sich Melanchthon 1536 zurückhaltend und riet, die jeweiligen Umstände zu berücksichtigen (Epikie). Er teilte die Täufer jetzt nur noch in zwei Gruppen ein: Anfänger und Halsstarrige einerseits, einfältig Verführte andererseits. Als Prüfstein der Zugehörigkeit zu einer der Gruppen diente hartnäckige Verteidigung falscher Artikel gegen das klare Wort Gottes. Wer sich dessen schuldig machte, musste mit dem Tode bestraft werden. Mit Verführten war dagegen nachsichtig zu verfahren. Gleichwohl beanspruchten die Wittenberger nicht die endgültige Entscheidung, sondern gaben der weltlichen Gewalt einen breiten Ermessensspielraum: Die Hinrichtung „ist die gemeine regel. Doch mag unser gnediger herr allezeit gnade neben die straffe gehen lassen, nach gelegenheit der zufelle“ (157,182– 183; der Satz fehlt im Druck!). Entsprechend hieß es im Begleitbrief zu dem Votum (MBW.T 7, 1749,157– 158): Wir sind überzeugt, dass die weltliche Gewalt unrechter Lehre wehren und die Halsstarrigen bestrafen muss. „Wie aber die straffen nach gelegenhayt der umbstende zu messigen oder zu scherpfen sind, stellen wir zu denen, so zu solchem Examen gezogen werden.“ (158,10 – 13) Nach zwanzigjähriger Unterbrechung wandte sich Melanchthon im Oktober 1557 erneut dem Täuferproblem zu, als er anlässlich seines Aufenthalts in Worms zum Religionsgespräch auf Bitten des Pfälzer Kurfürsten Ottheinrich ein Gutachten anfertigte, das mit der Unterschrift von Johannes Brenz und anderer zum Religionsgespräch versammelten lutherischen Theologen im Druck erschien: Prozess, wie es soll gehalten werden mit den Wiedertäufern (MBW 8396; Bossert 1930, 161– 168; vgl. auch MBW 8583). Melanchthons Bewertung hatte sich nicht geändert – der Irrlehrenkatalog umfasste die bekannten Artikel zur politisch-sozialen Devianz; als theologisch-ekklesiale, nicht unmittelbar aufrührerische Lehren waren gleichfalls die bereits bisher genannten aufgeführt; nur die ausführliche Verwerfung der Trinität und die Auffassung vom Sakrament als bloß äußerem Zeichen sowie die Rechtfertigung durch die Wiedertaufe, durch Leiden, Werke und besondere Inspirationen statt durch Gottes Gnade wurde jetzt deutlicher als früher definiert. Um der offenkundig aktiven und attraktiven Propaganda der Täufer zu begegnen, schlug Melanchthon vor, die Geistlichen sollten das Volk darüber belehren, dass es keinen Grund gebe, sich von einer Kirche zu trennen, in der die alten Irrtümer und Missbräuche beseitigt seien. An die weltliche Obrigkeit altkirchlicher Territorien appellierte Melanchthon, die evangelische Predigt zuzulassen, da sie anderenfalls zur Verbreitung der täuferischen Irrlehren beitrüge. Für die Schuldfeststellung entwarf Melanchthon 1557 erstmals ein genaues institutionelles Procedere. Über die Lehre durfte nur ein Kirchengericht auf der Basis der Heiligen Schrift und der altkirchlichen Bekenntnisse urteilen. Mitglieder des Kirchengerichts sollten Vertreter der christlichen Obrigkeit, gelehrte Pfarrer und auch Laien sein. Personen, die sich von der Gemeinde absonderten, waren vom Ortspfarrer anzusprechen und bei Erfolglosigkeit dem Superintendenten anzuzeigen; ebenso war
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mit solchen zu verfahren, die wegen Wiedertaufe denunziert worden waren. Falls sich der Vorwurf der Abweichung von der Kirchenlehre erhärtete, waren die Verdächtigen zu inhaftieren und vom Superintendenten zu verhören. Melanchthon warnte, wie er es bereits bei früheren Gelegenheiten getan hatte, vor zu großer Eile und veranschlagte für den Belehrungsprozess mehrere Wochen. Täufer, die sich bekehrten, sollten freigelassen werden. Sie hatten einen öffentlichen Widerruf zu leisten und sollten danach wieder in die kirchliche Gemeinschaft aufgenommen werden.Wer an seinen Irrtümern festhielt, wurde wegen Irrlehre und Aufruhr vom Kirchengericht exkommuniziert und der weltlichen Obrigkeit überstellt. Täuferführer und -prediger sollten in öffentlichem Gerichtsverfahren nach Reichsrecht wegen Aufruhr und Gotteslästerung zum Tode verurteilt und, wenn sie nicht widerriefen, hingerichtet werden. Verführte, also einfache Gläubige, die nicht zum Widerruf bereit waren, bei denen aber dennoch Hoffnung auf Gesinnungsänderung bestand, sollten in Haft gehalten werden, um sie belehren zu können. Täuferversammlungen durften nicht geduldet werden. Zum wiederholten Male setzte sich Melanchthon 1557 auch mit dem Postulat auseinander, dass niemand nur wegen seines Glaubens bestraft und sogar getötet werden dürfe. Er reagierte auf diese Forderung nach seinem bisherigen Argumentationsmuster, zwischen innerer Überzeugung und äußerer Manifestation der Überzeugung zu differenzieren. Nicht der falsche Glaube wurde vom Staat geahndet, sondern Aufruhr und Gotteslästerung als Expression dieses Glaubens. Die gegen die weltliche Ordnung gerichtete Lehre der Täufer verlangte gemäß Röm 13,2 Bestrafung durch die Obrigkeit. Die Vorschrift von Lev 24,16 erklärte Melanchthon zum Bestandteil des natürlichen Rechts. Im Gutachten De officiis magistratus (MBW 9178; CR 9, 1002 – 1004) fasste Melanchthon 1559 seine bisherige Position zum Thema Strafgewalt der weltlichen Obrigkeit nochmals zusammen. Er ging wiederum von der Prämisse aus: „Magistratus est custos legis, videlicet utriusque tabulae Decalogi in externa disciplina.“ Zu neuen Einsichten kam Melanchthon nicht, auch neue Argumente trug er nicht vor. Allerdings fasste er jetzt Täufer und Spiritualisten zusammen. Täufer, die die politische Obrigkeit ablehnen und bei denen Belehrung nichts hilft, sind als Aufrührer zu bestrafen; Ketzer, die sich nicht „de politicis rebus“ äußern, sondern wie Servet und Campanus Gotteslästerung verüben, sind vor ein Kirchengericht – in der Zusammensetzung wie 1557 – zu laden und nach Verurteilung wegen Gotteslästerung von der staatlichen Gewalt zu bestrafen. Damit hielt Melanchthon bis zu seinem Lebensende an den durch seine Obrigkeitsauffassung und seine Ordnungsvorstellungen bestimmten Prämissen und Postulaten hinsichtlich der Täufer fest: Die Täufer sind eine teuflische Sekte, in die Welt getreten, um die kirchliche, politische und gesellschaftliche Ordnung zu destruieren. Dies zu verhindern, gehört zu den genuinen Aufgaben der weltlichen Obrigkeit. Nachsicht kann es nur für Revokanten geben. Das Kernstück der doktrinellen Kontroverse, die Kindertaufe, erörterte Melanchthon in der dritten Fassung der Loci theologici von 1559 (in der Version von 1543) ausführlich und für sich abschließend (MSA 2/2, 512– 519) – mit scharfer Polemik gegen die Irrlehre der Täufer, deren „furores
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non possunt non oriri a Diabolo et sunt faces seditionum“ (513,12– 13). An dieser Überzeugung hat Melanchthon in seiner Auseinandersetzung mit den Täufern zeitlebens festgehalten.
Quellen Bossert, Gustav. Hg. 1930. Quellen zur Geschichte der Wiedertäufer. Leipzig. Laube, Adolf, Hg. 1992. Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526 – 1535). Bd. 2. Berlin.
Literatur Deflers, Isabelle. 2005a. Lex und Ordo. Eine rechtshistorische Untersuchung der Rechtsauffassung Melanchthons. Schriften zur Rechtsgeschichte 121. Berlin. Kuropka, Nicole. 2002. Philipp Melanchthon: Wissenschaft und Gesellschaft. Ein Gelehrter im Dienst der Kirche (1526 – 1532). SMHR 21. Tübingen. Neff, Christian. 1957. „Melanchthon, Philip.“ The Mennonite Encyclopedia 3: 562 – 564. Scottdale, Penn. Neff, Christian. 1958. „Melanchthon, Philipp.“ Mennonitisches Lexikon 3: 66 – 69. Karlsruhe. Oyer, John S. 1952. „The Writings of Melanchthon against the Anabaptists.“ The Mennonite Quarterly Review 26: 259 – 279. Oyer, John S. 1964. Lutheran Reformers against Anabaptists. Luther, Melanchthon and Menius and the Anabaptists of Central Germany, (bes. 140 – 178). Den Haag. Stupperich, Robert. 1957. „Melanchthon und die Täufer.“ KuD 3: 150 – 170. Wolgast, Eike. 1997. „Melanchthon und die Täufer.“ Mennonitische Geschichtsblätter 54: 31 – 51.
Michael Plathow
Melanchthon und die Türken
Melanchthon zeigt in seinen Äußerungen zu „den Türken“ eine Seite, die zunächst nicht zu dem gebildeten Humanisten und Praeceptor Germaniae et Europae zu passen scheint. Seine Polemik steht auch im Kontrast zu der Wertschätzung, die der Reformator und Verwandte Reuchlins den Juden, der hebräischen Sprache und Kultur entgegengebracht hat. Was also sind die Gründe und Motive für Melanchthons insgesamt unversöhnlich harte Haltung zu „den Türken“ seiner Zeit? Es werden im Folgenden (1.) zunächst Melanchthons Polemik gegen die Türken in verschiedenen Schriften behandelt, danach (2.) Äußerungen des Respekts und der Wertschätzung, die Melanchthon auch der türkisch-islamischen Kultur entgegenbringt. Abschließend (3.) werden die Gründe und Motive für Melanchthons Türkenkritik erörtert.
1 Polemik gegen die Türken Polemische Diffamierungen der Türken und Verunglimpfungen der „Muhammetisten“ ziehen sich durch die verschiedenen Textgattungen des gesamten Schrifttums Melanchthons. Das gilt für Briefe, Deklamationen, Historien, Postillen, Homilien, dogmatische Loci. Schon Melanchthons Deutung des Namens „Turca“ weise auf vastator (CR 25, 13) und verstärkt das Schimpfwort Turci latrones (CR 14, 722; CR 25, 877). Aus Zentralasien hinter dem Kaspischen Meer kämen die Türken; sie hätten sich mit den aus Arabien stammenden muslimischen Sarazenen vermischt (CR 25, 504; CR 13, 860). Melanchthon zeigt ihre genealogische Verbindung zur Abrahamsfrau Sarah, während die Agarener die Nachkommen Hagars seien (Gen 16; 21). Mohammed – sein Name deute auf furor (CR 25, 502) – entstamme der letzteren; auf Grund der „materfamilias“ zähle er sich aber zur Sarah-Nachkommenschaft (CR 25, 503; CR 12, 1082), mit dem ehrgeizigen Versprechen, alle Völker mit Waffen zu unterwerfen (CR 12, 1075). Die muslimischen Türken, die „muhammetistische Sekte“ (CR 706; CR 16, 425), kennzeichne somit schrankenlose Aggression und brutale Eroberung in der Nachfolge Mohammeds. Mit Etiketten wie „Dieb und Straßenräuber“ (CR 14, 265) versehen, werden die Türken in den Texten Melanchthons als „Teufelsdiener“ (CR 13, 961) und „Antichrist“ (CR 13, 954) perhorresziert. Der Koran sei im Geiste des Arius vom Mönch Sergius zusammen mit Mohammed und anderen Häretikern abgefasst worden (CR 12, 1075; CR 22, 623). Im Koran lehre das „muhammetistische Gesetz“ der Türken wohl einen Schöpfergott; er sei aber nicht der Vater Jesu Christi, der sich als gnädiger Versöhner offenbart habe (CR 12, 343,584). So werde die christliche Zwei-Naturen-Lehre geleugnet (CR 10, 866), die Gottessohnschaft Jesu Christi (CR 25, 503) und sein Erlösung schenkender Kreuzestod (CR 24, 674; CR 5, 10); desgleichen werde die Göttlichkeit des Heiligen Geistes verneint (CR 14, 279). Dazu komme die Befürwortung der Polygamie DOI 10.1515/9783110335804-016
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(CR 25, 503) und folglich die Auflösung der Ehe. Schließlich werde das Gesetz des Krieges zur Eroberung und Auflösung anderer Staatsgebilde proklamiert (CR 16, 108) mit dem Ziel, eine islamische politia zu errichten (CR 25, 502). Die polemische Schärfe der Äußerungen Melanchthons macht deutlich, dass er hier nicht als humanistischer Gelehrter agiert, der seine Kritik an den Türken auf ein gründliches Studium des Korans und anderer Zeugnisse der islamischen Kultur stützt. Es liegt vielmehr der Eindruck nahe, dass er in seinen Schriften viele Briefe, Besucherberichte und Flugschriften aus dem Osmanischen Reich und dem Südosten Europas berücksichtigt hat, die im frühen 16. Jahrhundert auch in Wittenberg zirkulierten. Melanchthon wie Luther haben eben auch als Universitätsprofessoren gegen eine islamische Großmacht Stellung beziehen wollen, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, militärisch in das Zentrum Europas vorzustoßen. Ihre Polemik ist eine aggressive Antwort auf eine sehr reale „Türkengefahr“. In einer besonders schwierigen Lage befanden sich im frühen 16. Jahrhundert die deutschen Fürstentümer. Auch Kursachsen hatte zum einen nach innen den konfessionellen Streit zwischen Altgläubigen und Protestanten auszufechten und musste sich in der Gemengelage kleinstaatlicher Eigeninteressen behaupten. Zur Herausforderung durch die kaiserliche Macht der Habsburger, deren Reich sich über Spanien bis in die „neue Welt“ erstreckte, kam nach der Expansion der Osmanen auf den Balkan für die deutschen Fürstentümer zudem die Aufgabe, in einem „Türkenkrieg“ das Gesamtreich nach außen zu verteidigen (Schulze 1978, 21). Eine besondere Rolle bei der Einschätzung der „Türkengefahr“ spielte in diesen Jahren die Erinnerung an den Fall Konstantinopels im Jahr 1453. Melanchthon selbst hat in der Deklamation De capta Constantinopolis (1556) eindringlich die Schrecken beschworen, die mit dem Fall dieser berühmten Stadt verbunden gewesen waren. In der Postille zu Joh 3 schrieb er: Zerstört wurden Kirchen und Bibliotheken, vernichtet wurde die Aristokratie; nur „muhammetistische“ Blasphemie und ein stabulum Turcicorum latronum blieben zurück (CR 12, 159). Der Sieg Sultan Süleymans I. in der Schlacht bei Mohacs mit dem Tod des Ungarnkönigs Ludwig II. im Jahr 1526, sodann das Vordringen der Türken bis vor Wien 1529 und die Besetzung Ofens am 2. September 1541 – diese Ereignisse brachten eine Wende in Melanchthons Stellung zu den Türken, die auch Luther schon 1529 mit seiner Schrift Vom Krieg wider die Türken (WA 30/2, 107– 148) vollzogen hatte. Hatte der junge Melanchthon im Gefolge des Erasmus von Rotterdam und Reuchlins noch einen Krieg gegen die Türken verworfen (WA 1, 535,35 – 39) und hatte er im Februar 1521, Luther gegen anders lautende Vorwürfe des Thomas Rhadimus verteidigend, angezeigt, dass es christlicher sei, die Türken durch die Verkündigung des Evangeliums zum christlichen Glauben zu rufen als durch einen Krieg zu bezwingen (CR 1, 354– 355), hatte er im Anschluss an Luther die siegreichen Angriffe der Türken als „Zuchtrute“ des Zornes Gottes, die zur Buße und Umkehr rufen, verstanden (WA 1, 535,35 – 39), so befürwortete er nun nachdrücklich die „Heersteuer“ (Schulze 1978, 155 – 156, 244– 245, 178 – 179) und den „Türkenkrieg“. Im Schreiben vom 4. August 1527 setzt Melanchthon sich beim Erzbischof Albrecht von Mainz dafür ein, in concordia, durch Heilung konfessionell-kirchlicher Unstimmigkeiten, gemeinsam
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militärisch gegen das latrocinium Turcicum vorzugehen (CR 1, 874– 879, hier 876; MBW 546). Zugleich wendet er sich im Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn (1528) dagegen, dass einige den Türken, denen er „ein schendlich wesen“ zuschreibt, nicht militärisch widerstehen wollen, sondern bereit sind zu leiden „wie Christus“. Wohl können die Christen, die nicht ein obrigkeitliches Amt inne haben, „für sich“ leiden, wie Christus sich nicht gewehrt habe, „die obrigckeit aber sol die yhren widder ungerechte gewalt schützen“ (MSA 1, 256,30). „[…] Darumb sollen die Prediger die leute vermanen, Gott zu bitten, das er uns für solchen wütenden leuten behüte, Und sollen die leute unterrichten, wie es ein rechter Gottes dienst sey, widder solche streiten aus befelh der obrickeit.“ (MSA 1, 257,25 – 29) An die Obrigkeit richtet er den Aufruf zum kriegerischen Widerstand im Brief von Oktober 1537 zu Händen von Johann Ernst von Sachsen. Theologische Argumente ausweitend, wird im Schreiben an Johann Ernst auf die Gefahren für Glaube und Sitte der Christen hingewiesen (CR 3, 440 – 446, hier 445; MBW 1960); und in der Oratio de divo Ambrosia (1542) die tyrannis Turcica zudem als furor diaboli bezeichnet, „quo acerrime exerit odium suum adversus nomen Christi et adversus humanum genus“ (CR 11, 566 – 598, hier 568). Melanchthons Präfation zur berühmten Koranausgabe von Theodor Bibliander vom März 1543 (CR 5, 10 – 13, hier 12) ist – wie die Vorrede zu der von Bartholomäus Georgiević 1560 (CR 9, 1026 – 1027) publizierten Ausgabe des Korans –von apologetischer Abgrenzung und feindseligen Invektiven bestimmt. Ohne auf den Koran selbst einzugehen, zitiert Melanchthon hier Daniels Vision von den vier Weltreichen (Dan 2). In seinem Daniel-Kommentar von 1543 (CR 13, 831– 836, 858 – 874) führt er klarer aus, wie er die militärische Bedrohung durch die Türken in einem größeren apokalyptischen Rahmen interpretiert. Sie werden bei ihm zur Verkörperung des „Antichristen“ (CR 13, 871).
2 Kulturelle Wertschätzung Für Manfred Köhler (1938, 152) sind Melanchthons polemische Kritik an den Türken und die dogmatische Verurteilung des Islams aus religionswissenschaftlicher Sicht ein klares Beispiel für religiöse Intoleranz. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass der humanistische Gelehrte Melanchthon sich in seinen Schriften auch respektvoll zu den Leistungen der islamischen Kultur und – in Rückgriff auf die Lehre vom Naturrecht – zur natürlichen Ethik der Türken geäußert hat. Schon in den Annotationes et conciones in Evang. Matthaei, Cap. VII (1523) stellt Melanchthon für das Frömmigkeitsleben fest: „Die Heiden, Muhametisten oder Türken vermögen auch durch ehrenwerte Disziplin äußere Sitten hervorzubringen, in legitimer Ehe Keuschheit zu Gewähr leisten, Almosen zu geben, anständig und sittsam zu leben, […] (Ethnici, et Muhametistae, seu Turcae, possunt etiam regere mores externos honesta disciplina, in coniugio legitimo praestare castitatem, dare eleemosynas, sobrie et temperanter vivere, […]).“ (CR14, 18) Freilich wird sogleich ein Aber, „sed“, angeschlossen im Blick auf die wahre Gottesverehrung der Christen. Die „muham-
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metistischen Türken“ kennen wohl das 1. und 2. Gebot und natürliche Tugenden (CR 12, 1076; CR 24, 188). Auch zeigen sie duldendes Verhalten gegenüber Christen und gegenüber der Predigt des Evangeliums in von ihnen unterworfenen Gebieten, wie Melanchthon respektvoll feststellt (CR 3, 629; CR 5, 405, 771; CR 7, 689; CR 8, 261). Als gentes haben sie natürliche Kenntnis von Sitte und Moral, vom Unterscheiden zwischen „gut und böse“, zwischen Ehrenhaftem und Schädlichem, honesta et turpia, wie Melanchthon im 2. Commentatum in Epist. Pauli ad Romanos, Cap. I (1532) schreibt (CR 15, 545 – 574, hier 577). In De studiis vet. Philosoph. (1557) erinnert Melanchthon an die kulturelle Blüte Alexandriens und an die Bedeutung der arabischen Philosophen, die die griechischen Texte übersetzt und aufbewahrt hätten: „Rhasis, Hali, Serapion, Averroes, Avicenna, Alfraganes, Albategnius et alii“ (CR 12, 240 – 264, hier 257); die medizinischen, mathematischen und astronomischen Kenntnisse durch sie finden hohes Lob. Fast überschwänglich preist Melanchthon in der Oratio de vita Avicenna um 1549: „Nicht einer von allen arabischen Schriftstellern hat die Kunst genauer tradiert wie Avicenna. Darum empfehle ich den Studenten Avicenna; sein Lebenswerk zu rezitieren, habe ich beschlossen (Nemo ex omnibus Arabicis scriptoribus artem purius ipso Avicenna tradidit. Ut itaque studiosis Avicennam commendam, recitare eius vitam et studia decrevi).“ (CR 11, 826 – 832, hier 827) Schriften zur empirischen Medizin, empirica Medicina, und zur Naturheilkunde habe Avicenna im Ruckbezug ad fontes aus den arabischen Übersetzungen der alexandrinischen Griechen Hippocratis, Galeni et Ptolemaei wieder ans Licht gebracht (CR 11, 830). Alle Menschen und alle Nationen, „alle müssen die Wohltaten seiner Kunst anerkennen und Gott, dem Schöpfer Dank sagen, wie geschrieben steht: Ehre den Arzt; denn Gott hat ihn wegen der Krankheitsnöte geschaffen (omnes debemus agnoscere beneficia huius artis, et Deo conditori gratias agere, sicut scriptum est: Honora Medicum, Deum enim creavit eum propter necessitatem)“ (CR 11, 832). Im weiteren Zusammenhang seiner Bildungstheorie spricht Melanchthon von humanitas (MSA 4, 14) die in der Form natürlicher Tugenden, virtutes naturales, das soziale Zusammenleben der Menschen prägt. Auch kennt der christliche Humanist die Tugend der tolerantia, das heißt der Geduld und des Duldens in den persönlichen Beziehungen; tolerantia der Christen meint dabei die vom heiligen Geist entzündete Geduld in Leidenszeiten um Christi willen (CR 21, 931, 950, 970, 1022, 1024), aber auch die Tugend des Duldens und Erduldens – für die auf dem Feld der Politik nach der militärischen Expansion der Osmanen, mit der die Türken 1529 bis vor die Tore Wiens gelangten, nach der festen Überzeugung Melanchthons kein Raum mehr war.
3 Gründe und Motive für Melanchthons Türkenkritik 3.1 Türkengefahr und naturrechtliche Ordnung Das Denken des universal gebildeten Gelehrten und Praeceptor Germaniae et Europae war – auch durch die intensive Auseinandersetzung mit Humanisten wie Marsilio
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Ficino, Giovanni Pico della Mirandola und Erasmus von Rotterdam – von der Philosophie des Naturrechts fundamental geprägt, das er selbst schon bei Aristoteles zu finden glaubte. Das allen Menschen geltende Naturrecht „ist das Wissen des göttlichen Gesetzes, das der Natur des Menschen eingepflanzt ist“ (Strohm 2000b, 354), das heißt dem Gewissen und der Vernunft. Für Melanchthon verbindet es sich mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen, eben mit seiner allgemein und unbedingt geltenden Würde (CR 15, 303 – 304, 565 – 566; CR 11, 909,919). Indem eine Wesensverwandtschaft von göttlichem und menschlichem Geist durch das Licht der Vernunft, dem lumen naturale, von der Schöpfung her besteht und zugleich das Naturrecht mit den Naturgesetzen, den leges naturales, dem alttestamentlichen Dekalog entspricht (CR 21, 713 – 714), vermag jeder Mensch – nach dem Sündenfall verdunkelt, als Rest in der Vernunft des Menschen angelegt – in Wahrheit zu unterscheiden zwischen „gut und böse“, Recht und Unrecht, honesta et turpia (CR 11, 362; CR 15, 577, 563; CR 16, 71,384), um sittlich und tugendhaft zu handeln. „Als Strahlen der göttlichen Weisheit heißt Naturrecht die ursprünglich vollkommene Präsenz des göttlichen Gesetzes, die Gott in der Schöpfung dem Geist des Menschen eingegeben hat.“ (Frank 1995, 148) Sie erweist sich als Fundament natürlicher Gotteserkenntnis und sittlicher Prinzipien des Zusammenlebens und obrigkeitlicher Ordnung. Auch nach dem Sündenfall gilt dies unabhängig davon, zu welcher Religion oder Weltanschauung sich die einzelnen Menschen bekennen, also auch für die „muhammetistischen Türken“. Melanchthon konnte, wie Christoph Strohm einleuchtend ausführt, „so wie kein anderer im frühen lutherischen Protestantismus den Naturrechtsgedanken für die Begründung des durch das römische Recht bestimmten positiven Rechts fruchtbar machen.“ (Strohm 2000b, 349) Die Türken aber, worauf Melanchthon immer wieder – etwa in der Präfation zur Koranausgabe Theodor Biblianders (CR 5, 10 – 12) – polemisch und unversöhnlich unter dogmatischen Gesichtspunkten verweist, sind es, die sich außerhalb des universal geltenden Dekalogs stellen durch Leugnung oder Verkehrung des 1. und 3. Gebotes mit der Verneinung der Gottheit Jesu Christi und des Heiligen Geistes, die weiter gegen das 6. Gebot durch die Polygamie und die daraus folgende Auflösung der Ehe verstoßen, und schließlich gegen das 5. Gebot durch die mit Schrecken und Zerstörung verbundenen Expansionskriege. So setzen sie das vernünftige, von Gottes Geist gegebene Naturrecht in seiner begründenden Funktion für die drei göttlichen Institutionen ecclesia, oeconomia, politia, für das Recht und für Sitte und Moral selbstherrlich außer Kraft. Sie stellen sich selbst außerhalb des göttlich-humanen Naturrechts mit seinen Ordnungen. Ihre Selbstausgrenzung aus der allzeit geltenden Naturrechtsgemeinschaft führt zur Deregulierung des Rechts und zur widergöttlichen Aufhebung naturrechtlich geordneten Zusammenlebens der Menschheit. Dem ist Einhalt zu gebieten durch den Verteidigungskrieg der weltlichen Obrigkeit und des gemeinen Mannes gegen die Türken, um so die naturrechtliche Ordnung wiederherzustellen. Zeugnisse für Melanchthons durchaus realpolitisches Denken sind in diesem Zusammenhang nicht nur die schon zitierten Schreiben an Erzbischof Albrecht von
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Mainz im August 1527 und an Johann Ernst von Sachsen vom Oktober 1537. Der Fürsten Krieg gegen die Türken wird im Zusammenhang mit der Lehre von den zwei Regimenten Gottes und der Pflicht der Obrigkeit zur cura religionis in CA 16 als „gerechter Krieg“ bezeichnet. Allgemein lässt sich beobachten, dass Melanchthon – der nach dem Tod Luthers faktisch auch zum kirchenpolitischen Sprecher der Evangelischen wurde – in seinen Stellungnahmen zum Türkenkrieg stärker rein politische Argumente vertrat als der in diesen Dingen mehr religiös-existentiell argumentierende Theologe Luther.
3.2 Apokalyptische Geschichtsschau Melanchthon erhob seine politischen Forderungen zum Türkenkrieg im Rahmen einer biblisch-apokalyptischen Deutung der Weltgeschichte, die in dem Chronicon Carionis (1532 und 1558/60) ihren deutlichsten Ausdruck fand. Der humanistische Universalgelehrte ergänzte die Chronik Carions durch eigene historische Arbeiten, seine heilsgeschichtliche Deutung der Welthistorie entwickelte er unter Berücksichtigung des Daniel-Kommentars von 1543 (CR 13, 831– 836: Kap. 2; 858 – 865: Kap. 7; 865 – 874: Kap. 8). Melanchthons Einteilung der Geschichte in drei Phasen von je 2000 Jahren geht zunächst auf das Vaticinium Eliae (CR 12, 711; Scheible 2007, 314) zurück. Die Darstellung „Mohammeds Sekte und das Reich“ (CR 12, 1073 – 1081), das heißt eine Interpretation des Islams und des türkischen Reichs, im letzten Teil des Chronicon Carionis folgt dann der Auslegung des Propheten Daniel. Im Anschluss an Daniels Vision von den vier Monarchien (Dan 2,31– 35; CR 12, 718; CR 13, 862) und der Vision des Propheten Hesekiel vom endzeitlichen „Gog und Magog“-Kampf (CR 12, 1075; CR 13, 861) bezog er die Daniel-Apokalypse vom „kleinen Horn“ (Dan 7, 8; CR 12, 1079; CR 13, 859) – ähnlich wie Luther – auf die „muhammetistischen Türken“, die in einem apokalyptischen Endkampf als „Antichrist“ (CR 12, 1079; CR 13, 871) auftreten würden, das heißt als eine alle Fundamente des Lebens und rechtlich gesicherten Zusammenlebens zerstörende Macht. Als göttliche Zuchtrute für die Sünden der Christen – etwa auch für die falsche Transsubstantiationslehre Roms vom IV. Laterankonzil 1215 – rufe die „Türkengefahr“ zu Buße, Gebet und Gottesfurcht (CR 13, 866). Zugleich dient die apokalyptische Schau wie gezeigt der Legitimation von Gewalt und Krieg, sie liefert die religiöse Begründung für den Aufruf an die Obrigkeit wie den gemeinen Mann, den Kampf gegen die Türken zu unterstützen.
3.3 Der Schutz der Wahrheit Entscheidend freilich für die Haltung zu den „muhammetistischen Türken“ sind für den Reformator Melanchthon die theologischen Gründe und Motive, das heißt die Frage nach der Wahrheit und Wahrheitsgewissheit. Die christliche Wahrheit, wie sie
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als Wort Gottes in der Heiligen Schrift verkündigt und im altkirchlichen Credo des dreieinen Gottes bekannt und in der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade um Christi willen durch den Glauben vergewissert werden, bestimmen letztlich seine Stellung zum Koran und zu den Türken. In einer dem Daniel-Kommentar entlehnten apokalyptischen Deutung der Weltgeschichte schließt er seine Loci Theologici Germanice, C. Tertia eorum aetas von 1559 unter Bezug auf Dan 7,24– 26 in der Gewissheit, dass die Türken letztendlich im Gericht des gerechten Gottes entmachtet würden: „Aber das Reich und die Macht und die Gewalt über die Königreiche unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden, dessen Reich ewig ist, und alle Mächte werden ihm dienen und gehorchen.“ (Dan 7, 27) Und wenn Melanchthon in 2. Commentarii in Epist. Ad Romanos, Cap. I von 1532 von den mit der Gottebenbildlichkeit den Menschen gegebenen naturales notitiae und den leges naturae im Gewissen zum Unterscheiden zwischen honesta et turpia spricht, so fügt er überbietend-abgrenzend an: „Aber das Evangelium verheißt unverdiente Vergebung und Versöhnung um des Sohnes Gottes willen. Dieses Wissen erwächst nicht mit uns; es ist vielmehr göttliche Offenbarung, wie Johannes sagt: Der Sohn, im Schoß des Vaters, selbst hat es uns kundgetan (Sed Evangelium promittit gratuitam condonationem et reconciliationem propter filium Dei. Haec notitia non nascitur nobiscum, sed est revelata divinitus, ut Iohannes inquit: Filius qui est in sinu patris, ipse enarrat nobis).“ (CR 15, 563) Die wahre Gotteserkenntnis und Wahrheitsgewissheit kommt aus der Verkündigung des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium. Es wird „die auf Naturgesetze begründete Moralphilosophie als Teil des göttlichen Gesetzes soteriologisch begrenzt“ (Frank 1995, 153). In den Schriften Melanchthons findet sich kein Bezug auf Gelehrte wie Peter Abaelard (Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum, 1141), Ricoldus de Montecrucis (Confutatio Alcorani, 1300), Raimundus Lullus (Libre del gentil e dels tres savis, 1274/76), Nikolaus von Kues (Cribatio Alcorani, 1441; De pace fidei, 1453) oder Guillaume Postel (De orbis terrarum concordia, 1544), die sich auf einer philosophischen Grundlage intensiv mit dem Islam auseinandergesetzt haben. Melanchthon setzt stattdessen auf die Unterscheidung zwischen religio vera und religio falsa, vera invocatio et falsa, vera ecclesia et falsa (CR 15, 343 – 344), wie sie seit dem Mittelalter etwa von Petrus Venerabilis (1094 – 1156), Thomas von Aquin oder Girolamo Savonarola vertreten wurde. In der Gewissheit, im Besitz der theologischen Wahrheit zu sein, lautet sein Urteil über die Religion der Türken deshalb: Die muslimischen Türken leugnen in Abhängigkeit von der Arianischen Häresie das Bekenntnis zur Gottheit Jesu Christi und die Zwei-Naturen-Lehre, mit der Verneinung der Göttlichkeit des heiligen Geistes auch den Glauben an den dreieinen Gott (CR 23, 230). Die Ablehnung des Erlösungstodes Jesu am Kreuz für die Sünden der Menschen (CR 24, 583) schließt die soteriologische Heilsmittlerschaft Jesu (CR 13, 953,966) aus, was zur Eliminierung der Rechtfertigung allein aus Gnade durch den Glauben führt und damit zu Gesetzlichkeit und Werkgerechtigkeit. Diese der pura doctrina evangelii – wobei doctrina Lehre und Verkündigung verbindet – widersprechenden Ansichten stehen somit im Gegensatz zu der disjunktiven Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, nach der der Sünder in
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der Verkündigung des Evangeliums allein aus Gnade gerechtfertigt und dem Glaubenden Heil und Erlösung geschenkt werden. Die theologischen Urteilskriterien sind nach dem Examen ordinandorum von 1552 (MSA 6, 198) die vier Exklusivartikel, die Sola, nach denen eben die Wahrheit, veritas, der pura doctrina evangelii, begleitet von Wahrheitsgewissheit, die Heilsgewissheit der Glaubenden begründet. Melanchthons Bild der Türken bewegt sich insgesamt betrachtet zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite stehen differenzierte Einschätzungen auf der Basis des Naturrechts und der Grundlage historischer Studien, auf der anderen Seite strikte theologische Urteile. Seine Wertschätzung der natürlichen Ethik der Türken und der Leistungen der islamischen Kultur wurde überlagert durch die Erfahrung der militärischen Expansion des Osmanischen Reichs im frühen 16. Jahrhundert, durch die sich – so der humanistisch gebildete Gelehrte – die muslimischen Türken selbst aus der naturrechtlich begründeten Rechtsordnung der Völker ausgeschlossen hätten. In einer apokalyptischen Schau der Geschichte rief Melanchthon deshalb zum Kampf gegen die militärische Bedrohung durch die Türken auf. Hier wird deutlich, dass es dem Theologen Melanchthon dabei auch um ein eminent politisches Motiv ging: um den Schutz der Wahrheit des reformatorischen Glaubens, der pura doctrina evangelii, durch die weltliche Obrigkeit.
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Johanna Rahner
Melanchthon und der römische Katholizismus Der Titel umfasst im Prinzip zwei Themenbereiche: zum einen das Verhältnis des römischen Katholizismus, und hier darf man genauer sagen: der römisch-katholischen Theologie zu Philipp Melanchthon, und zum anderen das Verhältnis Philipp Melanchthons zur römisch-katholischen Kirche. Letzteres mutet eher wie eine anachronistische Fragestellung an, da ja gerade der Streit um die Katholizität der Kirche, beziehungsweise darum, ob und wieweit dieses Kirchenprädikat von den Vertretern der Papstkirche zu Recht in Anspruch genommen und den Parteigängern der Reformation damit abgesprochen werden kann et vice versa, einen zentralen Platz in den ekklesiologischen Auseinandersetzungen der Reformationszeit einnimmt; ja Melanchthon selbst – so Jörg Haustein – gar als „Vordenker“ der katholischen Kirche im 16. Jahrhundert gelten kann (Haustein 1997, 79). Eine konstruktive Analyse des Begriffs der „Katholizität“ bei Melanchthon wird daher einiges zum Verhältnis Melanchthons zur Papstkirche seiner Zeit, aber auch zum Prinzip des Katholischen als Strukturprinzip seiner theologischen Grundpositionen, ja der reformatorischen Ekklesiologie selbst erheben können. Ein Abriss der römisch-katholischen Einschätzung und Bewertung Melanchthons stellt indes so etwas wie ein Spiegelbild der Geschichte katholischen Reformationsforschung als Ganzer dar, denn in ihr treten das Arsenal von Vorurteilen, Apologetik und Polemik ebenso zu Tage wie der grundlegende Perspektivenwechsel auf das epochale Ereignis „Reformation“, wie er nicht nur die katholische Melanchthonforschung insbesondere seit den 1960er Jahren prägt. Im Folgenden soll es daher um beides gehen.
1 Melanchthonbilder: Die römisch-katholische Theologie und Melanchthon 1.1 Zwischen Psychologisierung und Apologetik Die katholische Melanchthonforschung fristet wohl bis zu den Melanchthonjubiläen 1997 und 2010 ein eher stiefmütterliches Dasein und bleibt auch heute noch hinter den Forschungsgebieten katholischer Reformationsforschung zurück, die sich zumeist auf ihre beiden großen Repräsentanten, Luther und Calvin, konzentriert. So dominiert in der deutschen Reformationsforschung natürlich die omnipräsente Gestalt Martin Luthers. Melanchthon kennt man aber nicht nur als „Mann neben Luther“; er ist einer der bedeutendsten deutschen Humanisten und der Praeceptor Germaniae, der dem deutschen Bildungswesen mit der Reformation seinen Stempel aufgedrückt hat. Man weiß um seine tragende Rolle bei der Etablierung der Systematik evangelischer Theologie und beim Aufbau des evangelischen Kirchenwesens. Dennoch bleibt es lang Zeit bei einer „er-
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staunlichen Nichtbeachtung“ (Wiedenhofer 1997, 67) innerhalb der katholischen Theologie. Indes ist diese Vernachlässigung auch eine historisch bedingte. Persönlichkeiten wie Philipp Melanchthon hatten und haben es immer schwer, ihr ganz eigenes Profil deutlich werden zu lassen. Sie werden einer falschen Irenik verdächtigt und als unbelehrbare Konsensfanatiker verunglimpft. Ein verständigungsbereiter Melanchthon erweist sich als „dysfunktional“(ebd.) für eine an konfessioneller Apologetik und Polemik orientierte Epoche, in der katholische Augen die Reformation nur als „Revolution“, als Aufruhr gegen eine gottgegebene Ordnung der Autorität, als Abfall vom wahren Glauben und als Spaltung der Einheit der abendländischen Kirche wahrnehmen. „In der Logik solcher konfessionalistischer Polemik wird jede Differenzierung, jede Verständigungsbereitschaft leicht als sittliche Schwäche, als Haltungslosigkeit oder als schwanke der Charakter diffamierbar.“ (ebd.) Melanchthons Fähigkeit zur Konzilianz hatte ihm schon von Seiten seiner zeitgenössischen katholischen Kontrahenten, wie Johannes Cochläus, nicht etwa ökumenische Hochschätzung eingebracht, sondern den Verdacht der Hinterlist und Verlogenheit geschürt: Er [Melanchthon] ist nämlich im Vergleich zu jenem [Luther] angenehmer in seinen Worten, ehrbarer in seinem Leben, von schärferer Geistesgabe, gefälliger in seinem Stil, friedlicher in seiner Miene, hinterlistiger in seiner Verschlagenheit, besser ausgerüstet in der Redekunst und sprachgewandter, kurzum durch alle Gaben des Geistes und der Natur ansehnlicher, gefälliger und liebenswürdiger. Er ist kein Apostat wie jener, kein verruchter Nonnenschänder wie jener, nicht öffentlich und namentlich verdammt wie jener und nicht vom Kaiser geächtet wie jener. Daher kommt es, dass es weit gefährlicher und widerwärtiger ist für uns, mit ihm als mit Luther zu kämpfen. (Velitatio Johannis Cochlaei in Apologiam Philippi Melanchthonis, Lipsiae 1534, A 4v; zitiert in: Wiedenhofer 1997, 67)
Die konfessionalistische Polemik des 19. Jahrhunderts verstärkt hier nur die bereits angeklungenen Register: Zu einem kirchlichen Reformator fehlte es ihm durchaus an Charakterstärke und an jenem reinen, klaren und offenen Sinn für die objective Wahrheit. Melanchthon ist so recht zum Typus geworden für alle jene auf protestantischem Gebiet so häufigen Transactions- und Unions-Theologen, bei denen Ja und Nein gleiche Berechtigung haben, und die es verstehen, die verschiedensten und entgegengesetztesten Standpunkte in einer höheren Einheit und zugleich höheren Unwahrheit miteinander zu vereinen. (Ludwig Joseph Hundhausen, zitiert nach Wiedenhofer 1997, 62)
Dieses nicht gerade schmeichelhafte Zitat fasst prägnant die über die Jahrhunderte gewachsenen und in der Apologetik des 19. Jahrhunderts zur letzten Blüte kommenden katholischen Vorurteile gegenüber der Person Melanchthons zusammen, die sich letztlich bis in die 1960er Jahre hinein halten. Sie sind neben den allgemeinen, konfessionalistischen Stereotypen eines gegenreformatorisch orientierten katholischen Geschichtsentwurfs vor allem durch zwei spezifische Interpretationsmuster geprägt: „1. Durch eine psychologisch-politische Deutung, die von einem angeblich schwachen und unselbständigen Charakter und einer taktischen Gesamteinstellung Melan-
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chthons ausging und daher sowohl sein Verhältnis zu Luther als auch die Veränderungen in seiner Theologie wie auch seine Einigungsbemühungen erklärte; 2. durch eine kulturgeschichtliche Deutung, die von einem bestimmten Humanismusverständnis ausging (Humanismus als adogmatischer Liberalismus) und von dorther Melanchthons Theologie wie seine Ausgleichversuche diskreditierte.“ (Wiedenhofer 1980, 453 – 454) So konzentrierten sich die katholischen Melanchthondarstellungen des 19. Jahrhunderts in ihren klassischen Topoi – „eine Kurzcharakteristik (zumeist zugleich eine Schilderung seines Verhältnisses zu Luther), seine Loci von 1521 als erste systematische Zusammenfassung des lutherischen Denkens (erste protestantische Dogmatik), die Confessio Augustana als Milderung und Abschwächung der Lutherischen Lehre (meist verbunden mit der Behauptung eines unehrlichen Verhaltens), seine Rolle in den späteren Lehrstreitigkeiten“ (ebd. 427– 428) –, auf die Stereotypen von Wankelmut, Haltungslosigkeit, Taktik und Unehrlichkeit und bringen auch in Reaktion auf protestantische Geschichtsentwürfe wie den Klassiker zur Reformationsgeschichte aus der Feder Leopold von Rankes wenig Neues hervor. Sie mögen zwar „durch das intensivere Quellenstudium […] das Melanchthonbild insgesamt etwas plastischer und differenzierter“ erscheinen lassen, aber sie fixieren aufgrund der „starren apologetischen Voraussetzungen […] den Blick […] weiterhin sehr stark auf die psychologische Erklärung“ und machen so eine „ernsthafte theologische Auseinandersetzung mit dem Melanchthonischen Werk“ unmöglich (ebd. 438). Man beginnt zwar mitunter den Systematiker der Loci, der das „eigentliche Lehrsystem“ der Reformation hervorbringt, zu schätzen, verdächtigt aber weiterhin den Ireniker, der insbesondere in der CA täuschend und heuchlerisch die eigentlichen Lehrdifferenzen verschleiert, und verunglimpft den politischen Taktiker, der den eigentlich revolutionär-anarchischen Charakter der Reformation Luthers, der sich insbesondere an seiner autoritätskritischen Dynamik festmacht, herunterspielt und so mit List und Tücke, ja in betrügerischer Absicht seine Gegner in die Irre führt. Selten erreichen die Melanchthondarstellungen dieser Zeit das Niveau einer historisch angemessenen, kritischen Darstellung, denn sie bleiben eng an das apologetisch orientierte Gesamtpanorama der katholischen Geschichtsentwürfe gebunden. Im katholischen Melanchthonbild des 19. Jahrhunderts erscheint Melanchthon vor allem als der wichtige Anhänger Luthers, der seine humanistische Bildung und Gelehrsamkeit in den Dienst der Reformation stellt. Als einer der Wortführer der deutschen Reformation bleibt er zwar im ganzen der Lehre Luthers treu, geht aber z.T. auch seinen eigenen Weg. Diese Abweichungen von Luther werden teilweise durch den zu Milde und Mäßigung neigenden Charakter erklärt, teilweise auch durch taktische Überlegungen bedingt gesehen, teilweise aber auch in der Kritik an innerreformatorischen Entwicklungen begründet. Dadurch wird der schwankende Charakter nicht nur zur Signatur der Person, sondern häufig auch zur Signatur der Theologie Melanchthons. (ebd. 440 – 441)
Das 20. Jahrhundert bringt erste Veränderungen an verschiedenen Punkten. Nach der Öffnung des Archivs der Trienter Konzilsakten durch Leo XIII. im Jahr 1883 gewinnt die
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katholische Reformationsforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Dynamik. Sie entdeckt zunehmend das eigene theologische Profil Melanchthons (Wiedenhofer 1997, 70). Im Gefolge der Forschungen Heinrich Denifles wird nun der Humanismus zum entscheidenden Deuteschlüssel auch des Melanchthonischen Werkes, freilich – zeitgenössisch bedingt –, mit dem Etikett der grundlegenden Kirchenfeindlichkeit versehen, das indes der eigenen antiaufklärerisch und antimodernistisch imprägnierten Skepsis entspringt. Freigeistigkeit, ein gewisses theologisches Dilletantentum und die Tendenz zu einer aufklärerischen Nivellierung des Glaubens dienen nun als neue Stereotypen des Melanchthonbildes: „Es ist der seichte verflachende Geist, der durch seine Theologie und Philosophie geht, jenes humanistische Nivellieren, das nicht etwa bloß im sprachlichen Ausdruck die Offenbarungslehren mit dem Gewande des natürlich Klassischen umkleidet […], sondern auch in Bezug auf den Inhalt des Glaubens bedenkliche Schritte tut um des Vernünftelns oder der Konvivienz oder des Friedensstrebens willen.“ (Hartmann Grisar, zitiert nach: Wiedenhofer 1980, 444) Wie stark und wie nachhaltig die Einschätzung Melanchthons gerade auch von der, die innerkatholischen Streitigkeiten im Gefolge der Modernismuskrise prägenden, systematischen Abwehrhaltung gegen den Humanismus als geistesgeschichtlicher Strömung abhängt, belegt die Charakterisierung Melanchthons bei Joseph Lortz, einem der Nestoren der katholischen Reformationsforschung des 20. Jahrhunderts und Hermann Tüchle, dem (Mit‐)Verfasser eines der renommiertesten Lehrbücher zur Kirchengeschichte in dieser Zeit. So hält Lortz fest, dass das „Eindringen humanistischer Vermittlungstheologie in das Luthertum“ in einer Linie bis zur Aufklärung durchgezogen, nicht nur das Christentum schwächt, sondern auch – entgegen ihrem eigentlichen Anliegen – die Wiedervereinigung erschwert (vgl.Wiedenhofer 1980, 445, mit Rekurs auf Lortz 41962, 53), weil „die neue Religion ihrer tieferen Werte beraubt, das Dogmatische bagatellisiert und damit das Christliche relativiert, die Offenbarung zerstört wurde“ (ebd.). Tüchle sekundiert: „ Vom Humanismus her kommt die Tendenz, die dogmatischen Gegensätze und Unterschiede leicht zu nehmen, zu bagatellisieren und zu relativieren, wie es in der Confessio Augustana geschieht.“ (Tüchle 1965, 89, zitiert in Wiedenhofer 1980, 447)
1.2 Die (Wieder‐)Entdeckung Melanchthons als (ökumenischen) Theologen Erst Erwin Iserloh stellt diese veränderten, aber immer noch apologetisch orientierten Stereotypen grundlegend in Frage. Mit seiner Darstellung im von Hubert Jedin herausgegebenen Handbuch der Kirchengeschichte (Iserloh/Jedin 1975) wird ein neues Stadium katholischer Melanchthondarstellungen erreicht, nicht nur was Ausführlichkeit und positiven Grundduktus angeht: „Auf eine psychologische Erklärung wird hier verzichtet. Auch der Humanismus ist nicht mehr das hervorstechendste Deuteprinzip. Melanchthon wird vielmehr als Theologe ernst genommen.“ (Wiedenhofer 1980, 448) Flankiert wird dies durch die ökumenische Wende des II. Vatikanischen
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Konzils. In der Folge kommt eine sich durchsetzende, an der Reform interessierte Theologie zum Zuge, mit der „nicht nur die konfessionalistische apologetische Luther-, sondern auch die Melanchthon-Kritik ihre wichtigste Voraussetzung [verliert; d.Verf.]. In der so ermöglichten Öffnung der historischen Perspektive gewinnt nicht nur das katholische Lutherbild, sondern auch das Melanchthonbild eine völlig neue Gestalt.“ (Wiedenhofer 1997, 71) Mit damit immer wieder verbundenen Vorurteilen und apologetischen Abgrenzungen räumt aber erst die Dissertation Vinzenz Pfnürs endgültig auf (Pfnür 1970). Sie kann mit Siegfried Wiedenhofer als der „eigentlich zukunftsträchtige Neuanfang katholischer Auseinandersetzung mit Melanchthon“ bezeichnet werden (Wiedenhofer 1980, 450). Eigentlich auf die geschichtliche Bewertung der Rechtfertigungslehre Confessio Augustana im Blick auf die katholische Kontroverstheologie 1530 – 1535 konzentriert, erarbeitet Pfnür jenseits der klassischen, aber auch der durch zeitgenössische Auseinandersetzungen in Anschlag gebrachten Vorurteile ein erstes „differenziertes Sachurteil über die theologische Position Melanchthons um 1530“ (ebd.). Indem er historisch exakt die Gegner Melanchthons eruiert und das theologische Profil Melanchthons herausarbeitet, wird Melanchthon „nicht nur als Theologe ernstgenommen, er wird auch – ohne von der reformatorischen Gesamtbewegung und speziell auch ohne von der Theologie Luthers isoliert zu werden – zu einem wichtigen Gesprächspartner katholischer Theologie“ (ebd. 451). Wie Pfnürs Arbeit gleichfalls dem Schülerkreis Joseph Ratzingers entspringend erteilt Siegfried Wiedenhofer in seiner Arbeit zu den humanistischen Wurzeln Melanchthons der vorurteilsbehafteten Analyse des Humanismus den Abschied (Wiedenhofer 1976). Nicht nur wird die humanistische Theologie in den breiten Traditionsstrom biblischer, patristischer, monastischer Theologie wie praktisch-affektive Mystik eingeordnet und daher in Kontinuität und nicht im Bruch zur katholisch-theologischen Tradition interpretiert (Wiedenhofer 1980, 453), zugleich wird die bei Melanchthon vorfindliche, nun aber als historisch bedingt identifizierbare Antithetik von reformatorisch-humanistischer und scholastischer Methode in ihren Grundstrukturen analysiert und historisch legitimiert. Wiedenhofer gelingt es, im weiteren Gang der Melanchthonischen Theologie eine Theologie zu entdecken, „die in der Zuwendung zu neuen Problemstellungen und Aufgaben, in der Loslösung von der polemischen Fixierung auf die Spätscholastik und in vertiefter exegetischer und systematischer Einsicht auf eine humanistisch-reformatorische Gesamtkonzeption von Theologie zusteuert, die sich in ihren grundlegenden formaltheologischen Intentionen […] mit allen wesentlichen Punkten katholischer Tradition vermitteln läßt“ (ebd.) und der daher „eine kaum zu überschätzende ökumenische Bedeutung“ zukommt (ebd. 454). Die gleiche Spur verfolgt die Dissertation von Günter Frank. Am kontroverstheologischen Streitpunkt um eine philosophische oder „natürliche“ Theologie wird der Neuansatz Melanchthons zu einer schöpfungstheologisch verorteten und damit theologisch verankerten Philosophie herausgearbeitet, die jenseits mittelalterlicher Wesensmetaphysik Brücken zum patristischen Erbe schlägt und zugleich Anstöße für eine neuzeitliche Subjektivitätstheorie wie den Dialog von Glaubens- und Vernunft-
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wahrheit enthält. „Auf diese Weise wird der strukturelle Vermittlungscharakter der Theologie und Philosophie Melanchthons sowohl in ökumenischer Hinsicht (Katholizismus-Protestantismus) wie auch in geistesgeschichtlicher Hinsicht (MittelalterNeuzeit) sichtbar.“ (Wiedenhofer 1997, 75) Damit sind innerhalb der katholischen Melanchthonforschung die Eierschalen des negativ-apologetischen Melanchthonbildes der Gegenreformation wie der Apologetik des 19. Jahrhunderts endgültig abgeworfen und die Wege zu einer ökumenischen Beurteilung geebnet. Dabei entdeckt in der Folge nicht nur die katholische Melanchthonforschung das ökumenische Potential der Theologie Melanchthons wieder und mit ihr auch die Tatsache, „daß das ‚Reformatorische‘ in seinen geschichtlichen Ursprüngen und in seiner grundlegenden Intention ökumenisch gesehen erheblich offener ist, als es von seiner bisherigen protestantischen und katholischen Rezeptionsgeschichte erscheint“ (ebd. 78). Darin scheint gar das originäre Spezifikum des theologischen Profils Melanchthons jenseits des „Duographs Luther und Melanchthon“ zu liegen: „Nötigem Streit nicht auszuweichen, wenn es um die Wahrheit des Evangeliums geht, unnützes Gezänk aber zu vermeiden, weil es verstört und nicht aufbaut, das könnte in der Tat das Leitmotiv seines [Melanchthons, d.Verf.] Handelns gewesen sein.“ (Thönissen 2011, 74) Drum nimmt es nicht Wunder, dass gerade im Sog der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre 1999 auch jener Mann in den Mittelpunkt des Interesses tritt, „der diese Verständigung bereits zu seiner Zeit ins Auge gefasst hat. Ordnet man die CA und die Apologie der Konfession in diesen größeren theologiegeschichtlichen Zusammenhang ein, so rücken damit zwangsläufig auch die Bemühungen des Mannes in den Vordergrund, der maßgeblich mit zur Ausformung und Bildung einer reformatorischen Rechtfertigungslehre beigetragen hat.“ (ebd. 75) Damit aber wird zugleich Melanchthons jene ureigene Intention einer, von Anfang an als universal, katholisch und damit ökumenisch konzipierten Grundorientierung reformatorischer Theologie besonders relevant, die ihn zum „größten Ökumeniker“ seiner Zeit hat werden lassen (Kasper 1982, 43). Dass daraus aber keine „Ökumene auf Kosten Luthers“ wird (so der Vorwurf Manns 1977), lässt sich nicht nur dadurch vermeiden, dass man den „zögerlichen und leisetretenden“ Melanchthon, der den lutherischen Ansatz nur verwässert und gar am Ende verrät, endgültig in das Reich der konfessionalistischen Phantasien verabschiedet und die Erarbeitung des eigenen theologisch-ökumenischen Profils Melanchthons samt der Klärung seiner Rolle in der Frage der Einheit der Kirche weiter vorantreibt. Schlüssel dazu ist sicher das Verhältnis Melanchthon zur römisch-katholischen Kirche seiner Zeit und zur Frage von Einheit und vor allem Katholizität der Kirche.
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2 Melanchthon und die römisch-katholische Kirche 2.1 Zwischen Irenik und Apologetik: Die Confessio Augustana (CA) (1530) und ihre Apologie (1531) Gerade der Reichstag zu Augsburg 1530 zeigt, wie sehr Melanchthon um die Einheit der Kirche gerungen hat. Sein diplomatischer Umgang mit den Streitfragen wie seine Kompromissbereitschaft brachten ihm von Luther bekanntlich den konfessionalistisch weidlich ausgemünzten Vorwurf der Leisetreterei ein – „An Philipps Apologia weiß ich nichts zu bessern noch zu endern, Wurde sich auch nicht schicken, Denn ich so sanfft und leise nicht treten kann.“ (WA Br 5, 319,6 – 8) – im Vergleich zu den anderweitig gestreuten Gerüchten, dass Melanchthon vor den Altgläubigen kapituliert habe, eben keine abwertende, sondern eine wertschätzende Replik. So zeichnet sich die CA in ihren Grundprinzipien denn auch durch das aus, was Melanchthon in den ersten Jahren der Reformation stets gekennzeichnet hatte: eine fundierte Kenntnis der Position des Gegenübers; eine eher auf das Gemeinsame und nicht auf die Differenzen abhebende Darstellung des Eigenen; ein gutes Gespür für die eigentlichen Streitpunkte, wobei er dabei stets den Unterschied zwischen kirchenpolitischer und theologischer Tragweite der Differenzen im Auge behielt; und seine Fähigkeit, stets heuristisch auf den entscheidenden Kern der Auseinandersetzung hinzuführen. Die CA kann daher als erste – in Ton und Inhalt durchaus moderate – systematische Standortbestimmung des konfessionellen Streites verstanden werden. Melanchthon verwehrt sich zunächst dagegen, die reformatorischen Anfragen als einen Streit um Zeremonien, also um Äußerlichkeiten verstehen zu wollen. Ebenso will er die Beibehaltung dieser „Äußerlichkeiten“ nicht zum Maßstab der Rechtgläubigkeit machen und so die eigentliche Sache aus dem Blick verlieren. Bewusst macht sich Melanchthon hier auch jene Methodik der Religionsgespräche, Disputationen und verschiedenster auch innerevangelischer Verhandlungsgespräche nutzbar, durch die er sehr wohl zwischen Formulierungen und eigentlichem Gehalt einer Sache zu unterscheiden versteht und zugleich der Formel der anderen zunächst den Wahrheitsgehalt zuspricht und nicht von vornherein ablehnt. Daher kann CA 1– 21 einen magnus consensus der eigenen Glaubensüberzeugung mit dem Glauben der Altgläubigen festhalten. So dürfte das berühmte Diktum Melanchthons, dass man sich hinsichtlich des Verständnisses der Rechtfertigungslehre im letzten eigentlich einig sei, nicht als politischer Schachzug, sondern als eigene innere Überzeugung betrachtet werden können. Von diesen Dingen, in denen der consensus wichtig und auch feststellbar ist, unterscheidet nun Melanchthon die „traditiones humanae seu ritus aut ceremoniae ab hominibus institutae“, die als legitime Differenz in Gestalt und Gestaltung und in CA 22– 28 sowohl als bleibende Unterschiede als auch als Konsequenzen aus einem abusus bezeichnet werden. Dabei erweist sich der im magnus consensus formulierte gemeinsame Glaubensgehalt als nun anzuwendende kriteriologische Größe. Freilich ist auch Melanchthon bewusst, dass die ursprüngliche Mitte der theologischen Dif-
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ferenzen sich schon längst auf andere Streitfelder verlagert hat und erst mit diesen die eigentlichen Probleme anfangen. Hier drängt sich die Notwendigkeit der Grenzziehung um der Sache willen viel deutlicher in den Vordergrund. Die CA war und ist daher auch eine Verteidigungsschrift, die angesichts des drohenden politischen Konflikts Schlimmeres verhüten wollte. Weder ist sie ein ausgefeiltes Konvergenzpapier, noch letzten Endes ein dogmatisches Gesamtkonzept reformatorischer Lehre, obgleich sie in der Folge genau dazu geworden ist. Sie mag das Proprium reformatorischer Erkenntnis festhalten, weil sie als gemeinsames Bekenntnis „nach innen“ konzipiert und „nach außen“ vertreten wurde. Dabei ist auch und vor allem ihre gattungsgemäße Zielrichtung zu beachten. Sie dient dem Nachweis der Rechtgläubigkeit gerade in dem Sinne, dass die Evangelischen nicht als Neuerer gelten wollen, sondern als die eigentlichen Bewahrer des Wahren. Und sie steht auf der festen Überzeugung, dass die Protestanten nicht nur auf dem Boden der katholischen und römischen Kirche stehen, sondern dass beide Parteien immer noch einer Kirche angehören; man versteht sich als Angehöriger einer bestimmten theologischen Richtung innerhalb der einen Kirche. „Haec fere summa est doctrinae apud nos, in qua cerni potest nihil inesse, quod discrepet a scripturis vel ab eccesia catholica vel ab eccclesia Romana, quatenus ex scriptoribus nobis nota est. Quod cum ita sit, inclementer iudicant isti, qui nostros pro haereticis haberi postulant.“ (CA, Beschluss des 1. Teils; BSELK, 131,4– 7: „Das ist fast die Summe der Lehre bei uns; daran ist zu sehen, dass es nichts gibt, was von der Hl. Schrift oder der römischen Kirche, soweit dies aus den Schriften der Väter bekannt ist, abweicht. Und wenn dies der Fall ist, richten jene hart, die fordern, die unseren als Ketzer anzusehen.“) So unterliegt die CA der leitenden Hermeneutik, dass nicht die „Protestanten“, sondern vielmehr die Altgläubigen es sind, die von der wahren Lehre und damit von der wahren ecclesia abgewichen sind. Zum Nachweis rekurriert daher Melanchthon auf den Minimalbestand dessen, was als notwendig erachtet werden muss, und lässt dabei auch Umstrittenes weg. Der Legitimationsnachweis kann und darf, ja muss an mancher Stelle auf das Notwendigste reduziert sein. Eine vertiefende Auseinandersetzung, die auch die Untiefen des eigenen Ansatzes ausleuchtet und daher auch stärker auf die Position der anderen einzugehen bereit ist, ist weder angemessen noch zum Zeitpunkt der Abfassung der CA opportun, die die Katholizität der Reformatoren belegen sollte: „Wir haben keine einzige Lehre, die von der Römischen Kirche abweicht.“ (MSA 7/2, 175,21) Doch nach dem Augsburger Reichstag 1530, der in seiner kirchen- und reichpolitischen Dimension als gescheitert betrachtet werden kann, wird Melanchthon klar (und nicht nur diesem, wenn man die zunehmend apokalyptisch geprägte Bilderwelt der Spätschriften Luthers ebenfalls zu Kenntnis nimmt und die dort immer deutlicher werdende Überzeugung, dass in Rom der Antichrist am Werk ist), dass die Sache der Reformation einer notwendigen Konstituierung, Institutionalisierung und damit auch der Profilierung gegen die „alte“ Kirche bedarf. Mit dem in der CA und noch in der ApolCA vertretenen Anspruch, eine Reformbewegung innerhalb der alten Kirche und keine neue Kirche zu sein, und damit den Nachweis einer „evangelischen Katholizität“ (Lehmann 1998, 164) zu führen, ist es auf Dauer nicht getan. Eine Entscheidung um der
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Wahrheit willen ist nun an der Zeit. Deutlich zeigt sich dies bereits in der Abfassung der ApolCA. Die CA kann, ja muss jetzt auf das Eigentliche zugespitzt werden, um die eigene theologische Position nochmals vertieft zu begründen. Dabei bleibt die Argumentationsstrategie zwar zunächst die gleiche wie die der CA selbst. Es geht um den Legitimationsnachweis der evangelischen Position. Freilich nimmt die Apologie dabei in Kauf, das Gemeinsame zugunsten des evangelischen Profils deutlicher in den Hintergrund treten zu lassen. Daher wird der Ton schärfer. Die Gegner werden beim Namen genannt – „Adversii“ – und ihre theologische Arbeit mehr als kritisch beurteilt, wenngleich Melanchthon noch immer den Anspruch erhebt, „Nu hab ich diesmal auch noch aufs gelindest geschrieben“, und betont: „Wir haben warlich nicht lust odder freud an uneinigkeit. Auch sind wir nicht so gar stockodder steinhart, das wir unser fahr [Gefahr, d.Verf.] nicht bedencken. […] Aber wir wissen die öffentlichen, Göttlichen warheit, ohne wilche die kirche Christi nicht kan sein odder bleiben, und das ewig heilig wort des Evangelii nicht zu verleugnen odder zu verwerffen.“ (ApolCA, BSELK, 240,29 – 36) Die Legitimationskriterien sind hier bereits auf dem Weg zum Unterscheidungskriterium. Die Topoi der schärferen Abgrenzung nehmen zu; die Liste der unverglichenen theologischen Themen wird lang; der Stil der Auseinandersetzung verschärft sich. Indes der Rekurs auf die eigene eigentliche Katholizität bleibt. Die eigene Position ist die katholische; darum kann die Gegenpartei, die zunehmend zum „Widersacher der Sache des Evangeliums“ wird, mit der katholischen Kirche nicht (mehr) identisch sein.
2.2 Differenz um der Wahrheit willen „Damit sie sich beweisen, dass sie des Teufels Diener sind, der ein Lügner und Mörder ist“ – Verfasser dieses Satzes ist Philipp Melanchthon und gemeint sind der Papst und seine Anhänger. Der Satz ist der 1539 erschienenen Schrift Melanchthons über Die hervorragenden Unterschiede zwischen der reinen christlichen Lehre des Evangeliums und der heidnischen papistischen Lehre entnommen. Hier ist nicht mehr allzu viel zu spüren von jenem „leisetretenden“ Ireniker, der allenfalls durch seine Sanftmut sündige, wie ihn Luther noch wenige Jahre zuvor selbstironisch beschreibt. Der Ton ist kompromisslos, eindeutig; die lange eingeübte Konzilianz ist ihm ebenso abhanden gekommen wie jedes Bemühen um Verständnis und Ausgleich, das ihn, der sich selbst als „zum Gespräch geboren“ verstand, doch zeitlebens von Luther unterschied. So kommen bei näherem Hinsehen bei Melanchthon tatsächlich zwei Dinge zusammen, die uns auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen: der harte Konfessionalist und der bis zur Erschöpfung sich für den Ausgleich der Religionsparteien Bemühende, der kompromiss-und mitunter verständnislos angreifende Polemiker und der, der einmal resümierend und vielleicht auch ein bisschen resignierend von sich selbst bekennt: „Ich wollte herzlich gerne zu Friede und Einigkeit rathen, habe auch etliche schwere Artikel in der Lehre vor vielen Jahren zur Einigkeit gebracht, wie viele Verständige wissen, und hab nie Gefallen gehabt von wegen unnötiger und geringer Sachen zu
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streiten. So bin ich nun so alt, daß ich wohl weiß, daß große Zertrennung und Zerstörung aus unnützen Gezänken folgen, zudem auch, daß sie Gott verboten hat […].“ (CR 6, 842; MBW 5110). Indes sind es nicht einfach zwei Seelen, die in Melanchthons Brust schlagen, sondern man kann die Beurteilung Heribert Smolinskys durchaus teilen: „Melanchthon war nur und insofern ein Ökumeniker, als er immer um die rechte christliche Lehre rang, die es zu finden und zu erhalten galt. Seine Konzentration richtete sich auf diese doctrina vera. Sie setzte seinem Bemühen um die Ökumene einmal die Grenze und bewirkte die Härte der Polemik, wenn die wahre Lehre ihm in zentralen Fragen bedroht erschien. Zweitens erlaubte ihm das Suchen nach der ‚wahren Lehre‘ die Möglichkeit, ökumenisch-ausgleichend tätig zu werden, da er der Meinung war, dass die Lehre Abstufung besitze und immer wieder verdunkelt sein könne. So wollte er mit anderen gemeinsam suchen, konnte in manchem nachgeben und auf diese Weise an der Einheit arbeiten.“ (Smolinsky 1997, 130) Melanchthons Wahrnehmung der anderen ist nicht einfach nur durch eine empathische Zurkenntnisnahme geprägt, sondern auch durch jene Sympathie, die die Wahrheitsvermutung auf Seiten der anderen für das Gespräch von vornherein eben nicht automatisch ausschließt. Daher versteht er die Suche nach der Wahrheit wie ihre angemessene Beschreibung auch als ein gemeinsames Ringen um diese Wahrheit. Das hebt die Frage nach der Wahrheit nicht auf, sondern stellt sich hartnäckig der Nachfrage, worin sie sich eigentlich gründet. Seine Unterscheidung von Lehre und Adiaphora ist mehr als die konziliante Offenheit für die Wahrheit des Anderen, sie ist eine notwendige Konsequenz aus jenem Ringen um die Wahrheit, die es zu finden und zu erhalten gilt. Gerade diese Wahrheit, die vera doctrina, ist es, die ihn zum einen zu schroffen, apologetischen Abgrenzungen zwingt. Zugleich lässt sie ihn aber auch zu einem ausgleichenden Element im Streit der Konfessionen werden. Er ist für die Position der anderen darum offen, weil er selbst weiß, dass diese Lehre auch Abstufungen in ihrer Bedeutung für den authentischen Glauben kennt. Wie tief reichen die Gemeinsamkeiten, um die Differenzen als tolerierbar beziehungsweise das gemeinsam Bekannte als dadurch nicht beeinträchtigt zu bewerten? Melanchthon konzentriert sich dabei auf das Wesentliche. Freilich ist eines für ihn unaufgebbar: Um diesen Grundkonsens beziehungsweise die gemeinsame Ableitung aus einem fundamentum in re muss zunächst gerungen werden; dieser muss explizit festgestellt werden, um bleibende Unterschiede als legitim anzuerkennen. Die eigene Perspektive wandert dabei immer ein in die Bewertung des anderen; davon abstrahieren zu wollen, ist eine Illusion. Und dennoch gilt es, hinter dem Eigenen auch und gerade das Gemeinsame zu suchen. Der für sein Entgegenkommen und Vermitteln bekannte Reformator kann also, wenn es darauf ankommt, auch anders; und das „Leisetreten“ ist nicht wirklich ein überzeugendes, ökumenisches Programm Melanchthons, insbesondere nicht in Sachen Kirche. Melanchthons systematisches Nachdenken über Kirche beginnt verstärkt zu dem Zeitpunkt, an dem die Trennung der Kirchen reale Tatsache zu werden beginnt, um zum einen die Trennung theologisch zu legitimieren und zugleich zum anderen deutlich werden zu lassen, wie trotz des realen Zerbrechens dennoch von einer Einheit der Kirche gesprochen
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werden kann. Gerade die 1530er und frühen 1540er Jahre stellen daher so etwas wie eine Wasserscheide dar. In der Schrift De ecclesia et de auctoritate verbi Dei von 1539 lässt daher Melanchthon keinen Zweifel daran, wer im nun notwendig werdenden Disput um die wahre Kirche auf der richtigen Seite steht: „Nachdem ich gesagt habe, was die wahre Kirche ist, und feststeht, dass wir die in den prophetischen und apostolischen Schriften und in den Glaubensbekenntnissen überlieferte Lehre der katholischen Kirche Christi treu bewahren und beachten, ist klar, dass wir mit der katholischen Kirche Christi denken.“ (MSA 1, 377,5,34– 38) Wer indes auf ein zukünftiges Konzil vertraut, das Reformen bringen soll, der wird enttäuscht werden: „Denn die Bischöfe und die, die sich mit ihnen verschworen haben und deren Spießgesellen,werden niemals ablassen, Krieg gegen Christus zu führen.“ (ebd. 382,37– 383,7) Jetzt ist das Bekenntnis zur wahren Kirche und damit die Abgrenzung erforderlich: „Daher ist es für einen frommen und an sein Heil, an die Ehre Christi denkenden Verstand Pflicht, zu fragen, was die wahre Kirche sei, wie er sich dieser anschließe, wie er Teil dieser Zusammenkunft und Herde Christi sei, sowie Christus sagt: ‚Wer nicht für mich ist, ist gegen mich‘. […] Diesbezüglich wollen wir an der felsenfesten Regel des Paulus festhalten: ‚Wenn einer ein anderes Evangelium lehren sollte, so sei er verflucht‘.“ (ebd. 383,25 – 34) Die Identität des Eigenen hat die Abwertung der anderen zur Folge, denn sie spalten die Kirche und säen Zwietracht: „Sie sind nicht Bischöfe, sie sind nicht Glieder der Kirche, sondern Feinde Christi, die ja von den Furien angetrieben werden, sie denken nicht an die Eintracht und den Frieden der Kirche, sondern an die Festigung ihrer Gewaltherrschaft, sie trachten nicht die Kirchen zu heilen, sondern erregen Bürgerkriege, die Verwüstung der Kirchen, die Abschlachtung frommer Priester und frommer Frauen.“ (ebd. 384,10 – 15) Doch was macht nun das eigene Verständnis von Kirche im Innersten aus? Wir wollen aber auch nicht denken, die Kirche sei nur Platons Staat. Diese Versammlung ist die wahre Kirche, in der die reine Lehre des Evangeliums leuchtet, in der auf rechte Weise die von Gott übergebenen Sakramente gespendet werden. In einer solchen Vereinigung ist es notwendig, dass es einige lebendige Kirchenglieder gibt, die den wahren Gottesdiensten vorstehen, Buße tun, in wahrem Glauben Gott anrufen, Eifer und Mühe verwenden auf die Verbreitung des Evangelium, ihr Bekenntnis zeigen, der Berufung dienen, schließlich die frommen von Gott übertragenen Pflichten erfüllen, sich aussetzen Gefahren aller Art, in denen sie die Anrufung und andere gute Werke einüben: Ich behaupte, dass dies die wahre Kirche sei, mit in Überzeugung, Willen und Bekenntnis die Frommen überall auf Erden vereint sein müssen. Und so, meine ich, sind durch Gottes Wohltat unsere Kirchen, die die reine Lehre des Evangeliums bekennen, die zweifelsohne mit der Meinung der katholischen Kirche Christi übereinstimmt. (ebd. 384,37– 385,15)
Die polemische Zuspitzung des Jahres 1539 muss wohl auch vor dem Hintergrund verstanden werden, dass im Blick auf ein Reformkonzil der katholischen Kirche – das über Jahrzehnte versprochen nun endlich Wirklichkeit werden sollte – nun auch all jene Punkte zur Sprache explizit gebracht werden müssen, hinter die es, aus reformatorischer Sicht, kein „Zurück“ geben kann.Wenn dies nicht auf einem Konzil geschehen kann, dann doch auf einer Reichssynode. Zu lange hätten die Verantwortlichen, so Melanchthon, gezögert
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und so Irrtum und Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Die Einberufung des Konzils nach Trient sollte sich indes noch einmal sieben Jahre verzögern und wird dann von Melanchthon und den anderen Anhängern der Reformation auch mit zunehmender Skepsis betrachtet. So zweifelt er in seinem Gutachten aus dem Jahre 1547 an der Möglichkeit der freien Diskussion, die die Anliegen der Reformation wahrnimmt. Die bereits erreichten Ergebnisse des durch den Schmalkaldischen Krieg unterbrochen Konzils lassen für Melanchthon nichts Gutes erhoffen. Dass die Skeptiker zum Teil Recht behielten, dürfen wir heute im Abstand von 450 Jahren offen eingestehen. Nur in wenigen Punkten hat dieses Konzil hinter den Abgrenzungsversuchen und verkürzenden Polemiken wie einseitigen Bewertungen dieser Zeit die Anliegen der Reformatoren so wahrgenommen, wie sie gemeint waren und konnte diesen Anliegen daher allenfalls in Ansätzen gerecht werden. Zugleich hat es aber in der Folge einen Reformprozess der katholischen Kirche in Gang gesetzt, der jenseits der Klippen und Untiefen einer gegenreformatorischen Profilierung im II. Vatikanischen Konzil zur Vollendung kam und dort auch die notwendigen ökumenischen Früchte getragen hat. Doch zurück zu Melanchthons Schrift aus dem Jahr 1539 und der darin deutlich werdenden Skepsis gegenüber den katholischen Reformversuchen seiner Zeit. Deutlich setzt hier Melanchthon die Vorzeichen für jede weitere Diskussion und benennt die ekklesialen Strukturfragen als Fokus der zukünftigen Fragestellungen, die die Frage der irenischen und auf Aussöhnung der Differenzen zielenden Konsensverhandlungen von vornherein zum Scheitern zu verurteilen scheinen. Denn die Gegensätze treffen hier geradezu unversöhnt aufeinander. Die ekklesiale Strukturfrage wird zum Lackmustest für die Bewahrung und Verteidigung des rechten Evangeliums. Warum ist das so? Weil es gilt, für die erkannte Wahrheit auch praktische Verantwortung zu tragen (Lehmann 1998, 159); es gilt „die reformatorische Lehre praktisch anwendbar“ (ebd. 160) zu machen. Die Konsolidierungsphase der evangelischen Kirchentümer hat bereits eingesetzt und so drängt aus dem innersten Anliegen der Reformation selbst heraus alles darauf, auch die Strukturfragen „dem Evangeliums gemäß“ zu beantworten. Die Konfrontation mit den Strukturvorgaben der römischen Kirche ist in dieser Perspektive aus theologischen Gründen vorprogrammiert. Daneben tritt aber auch das zunehmende Bewusstwerden der bisher ausgesparten Streitthemen der Reformation, die von sich aus nun auf eine Lösung oder zumindest eine Diskussion drängen. Auf Dauer kann kein Konsens in Kernpunkten der theologischen Streitfragen festgestellt werden – und Melanchthon und seine Kontrahenten hatten dies bezüglich der Rechtfertigungsthematik in Augsburg zu Recht festgehalten –, ohne dass auch dessen strukturelle-ekklesiale Konsequenzen in den Blick kommen. Das zu erkennen und dann auch in die Tat umzusetzen, ist die epochale Leistung Philipp Melanchthons für eine Institutionalisierung der Reformation. Zu der Skepsis gegenüber der Veränderungsbereitschaft der römischen Kirche tritt die zunehmende Profilierung zu Gunsten einer eigenständigen, weil politisch notwendig gewordenen Verteidigung des Evangeliums auch durch äußere Strukturen. Gerade weil er sich keine katholische Papstkirche neben seiner eigenen vorstellen konnte, ringt Melanchthon um der Einheit willen um die nun fällige Grenzziehung
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zwischen der wahren und der falschen Kirche. Und so werden die ekklesialen Strukturfragen zum Prüfstein der theologischen Wahrheitsfrage. Hier verweigert Melanchthon eine Konsenssuche „um jeden Preis“, denn diese erscheint ihm in einer Phase, in der es um die politische Stabilisierung und Legitimierung der entstandenen evangelischen Kirchentümer geht, zu riskant. Später wird er darüber hinaus betonen: „Vernebelnde Verständigungsversuche werden der Wahrheit schaden, Zwietracht und Wut schüren sowie endlose Zersplitterung und Sekten hervorbringen“; in „der Kirche kann ohne die Wahrheit keine dauerhafte Ruhe geschaffen werden.“ (De odio sophistices [1541], CR 11, 544– 550, 548) Das Verständnis von „katholischer Kirche“ verschiebt sich vom Status des Legitimationskriteriums, als das es noch zu Zeiten der CA fungierte, zum Identitätskriterium, das um des Evangeliums willen zu bestimmten Strukturen nötigt, die Melanchthon nun auch nachdrücklich einfordert. Am Ende wird das positive Identitätsmerkmal dann doch zum negativen Unterscheidungsmerkmal. Die wahre Kirche Christi, die katholische Kirche, ist identisch mit den evangelischen Kirchentümern. Abgrenzung und Ausgrenzung statt Eingrenzung bilden von nun an die Leitgedanken aller weiteren ekklesiologischen Überlegungen. Hier zeichnet sich bereits ein konfessionalistisch profiliertes Kirchenverständnis der reformatorischen Kirchen auf Zukunft hin ab. An der ganz eigenen Dynamik dieser Realitäten kommt selbst Melanchthon nicht vorbei. Zugleich begibt sich Melanchthon mit dieser auch kirchenpolitisch relevanten Positionierung auf einen schmalen Grat zwischen notwendiger politischer Absicherung auf der einen und der Gefahr einer politischen Instrumentalisierung des Evangeliums auf der anderen Seite; kurz: Er wagt sich auf das glatte Eis der Politik und – nach den anfänglichen Erfolgen in den Religionsgesprächen 1540/41, wo Melanchthon sich in seiner Rolle als gesprächsbereiter Erläuterer und Verteidiger der evangelischen Lehre erfolgreich erweist – scheitert er am Ende damit.
2.3 Nihil est adiaphoron in statu confessionis et scandali? Das Ende des Schmalkaldischen Kriegs 1546/47 bedeutet für die evangelischen Reichstände nicht nur eine militärische Niederlage; sie führt in der Folge auch die ökumenische Hermeneutik Melanchthons gerade in Sachen Kirchenverständnis und Kirchenpolitik in die Aporie. In der Frage des Umgangs mit dem vom Kaiser aufgezwungenen Augsburger Interim zeigt sich die offene Flanke der von Melanchthon stets nachhaltig eingeforderten Unterscheidung zwischen Substanz des Glaubens und Adiaphora. Wenn es darauf ankommt, kann es keine Adiaphora geben, so der unversöhnliche Standpunkt des Matthias Flacius Illyricus, der nach dem Tod Luthers um die „authentische lutherische Lehre“ fürchtend, Melanchthons hermeneutisches Programm grundsätzlich in Frage stellt. Melanchthon kann hier nur noch ad hominem argumentieren: Wenn die Obrigkeiten die Pastoren ersuchen, adiaphorische Riten einzuführen, um damit weitergehenden politischen Forderungen zu entgehen und den Gemeinden politische Wirren zu ersparen, dann solle man nachgeben. Denn die
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Wahrheit des Evangeliums bestehe nicht in Speisen, Kleidung und anderen Äußerlichkeiten, sondern im wahren Glauben, in Gebet und Liebe; diese ginge nicht verloren, wenn richtig gelehrt würde. Darum mache er den Unterschied „zwischen nötigen und unnötigen Dingen“. Ein fortgesetzter Streit um die unnötigen Dinge, die Adiaphora, lenke nur vom eigentlichen Kern der Auseinandersetzungen ab. Der aber sei mit dem beginnenden Konzil zu Trient nun im ursprünglichen Zentrum des Streits um Rechtfertigung und Buße und nicht in seinen Peripherien zu suchen, also im Kern des reformatorischen Bekenntnisses und seiner soteriologischen Dimensionen. Eindringlich versucht Melanchthon die Auseinandersetzungen nochmals auf das Eigentliche zu konzentrieren. Zugleich versucht er, noch einmal den in der CA vorausgesetzten, grundlegenden doktrinären Konsens der Alten Kirche als Fundament des eigenen Theologietreibens in Erinnerung zu rufen; so schreibt er im Vorwort zur Enarratio Symboli Nicaeni von 1550 (CR 7, 575 – 579, Beyer et al. 2011, 36 – 41): „Ich bemühe mich jedenfalls, die allgemeine Lehre getreu vorzutragen, die in der Kirche gelehrt wird, und die, wie ich meine, bei sorgfältiger Betrachtung der gesamten Alten Kirche, wahrhaftig den Konsens der katholischen Kirche Gottes darstellt und mit dem Augsburger Bekenntnis von 1530 übereinstimmt. Keinesfalls möchte ich eine fremde Art der Lehre oder fremde Meinungen in die Kirche hineintragen. Und ich wünsche, dass die Eintracht der Kirche ewig währt.“ Wie schon in den Religionsgesprächen 1540/41 bleibt auch hier Melanchthon der „Verteidiger“ der CA und des dort ausgesprochenen Grundkonsenses, freilich kommt auch er trotz dieses Bemühens nicht mehr an der Realität einer gespaltenen Kirche vorbei. In den Antworten, von Philipp Melanchthon auf die unfrommen Artikel der Bayrischen Inquisition verfasst (1558) verfestigt sich am Ende jene bereits in den 1540er Jahren ablesbare Tendenz zur Abgrenzung, die die sich abzeichnende konfessionelle Spaltung ekklesiologisch auf eine dogmatisch-doktrinelle Basis stellen will. Die drei notwendigen Zeichen der Kirche – das reine Bekenntnis der Lehre des Evangeliums, der ordnungsgemäße Gebrauch der Sakramente und der Gehorsam dem Amt der Evangelienverkündigung gegenüber – werden zu Abgrenzungs- und Unterscheidungskriterien. Denn die Gegner benennen demgegenüber falsche Zeichen, die nur der menschlichen Ordnung entspringen und daher im Konfliktfall abgelehnt werden müssen. Die Verehrung der falschen Götzen, ja die Götzenbilder selbst sind offenzulegen, und weil sie die wahre Lehre vernichten wollen, muss man tatsächlich von ihnen abweichen. Betont wird daher die Kontinuität zur „Katholischen Kirche“ der altkirchlichen Symbola und der Kirchenväter (MSA 6, 209). Zurückzuweisen aber ist der Anspruch einer „Vermischung“ von „Römischer“ und „Katholischer Kirche“, ja eine Monopolisierung des „Katholischen“: „Denn die päpstliche Schar ist nicht die Katholische Kirche, und es ist die Römische Kirche weder die Kirche des ganzen Erdkreises, noch sind die Bestimmungen der Römischen Kirche die Bestimmungen der universalen Kirche.“ (MSA 6, 290) Die radikale Infragestellung der anderen geht noch einen Schritt weiter: „Ganz sicher ist, dass Verteidiger des Götzendienstes und von Irrtümern, die göttlichen Geboten und Glaubensartikeln widerstreiten […] nicht Glieder der katholischen Kirche sind. Das sind heute die Päpste und ihre Sa-
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telliten, die die offenkundige Wahrheit bekämpfen und unter frommen Leuten ihre Wut ausüben.“ (MSA 6, 292) Sollte der zeitlebens als Ireniker, ja „Leisetreter“ geltende Melanchthon am Ende vor den Realitäten kapitulieren und unversöhnlich auf die Sache der Ökumene und damit der Einheit zurückblicken? Schon die Grenzziehung im Kirchenbegriff im Jahr 1539 kann bereits als Hinweis auf die veränderte Situierung der Wahrheitsfrage in Sachen Ekklesiologie und damit die Positionierung zur Frage der „wahren Katholizität“ gelten. Je länger desto deutlicher erweisen sich die ekklesialen Strukturfragen auch als Prüfstein der Wahrheitsfrage: Geht es nur um die Lehre, egal in welchen Strukturen? Oder gibt es Strukturen, die der Wahrheit des Evangeliums widersprechen? Um der Wahrheit willen sind die neuen Strukturen notwendig; aber sind sie absolut? Sind diese Einseitigkeiten historisch bedingt oder sind sie von prinzipieller Natur? Melanchthon beantwortet diese Frage in der Phase, in der es um die politische Stabilisierung und Legitimierung der entstandenen evangelischen Kirchentümer geht, schon in abgrenzender Weise. Am Ende verweigert er um der Wahrheit der Lehre willen das Prädikat des „Katholischen“ für die Gegner des Evangeliums. Dabei scheint gerade die Verfolgung Andersdenkender ein entscheidendes Kriterium: Nicht die Kirche der Verfolger ist die katholische Kirche, sondern die der Verfolgten: „Eine Kirche, die Christen verfolgt, gibt es nicht!“ (Haustein 1997, 94) Die „katholische Kirche“ wird zu einer Größe, die sich nun nicht mehr formal sondern qualitativ bestimmt. „‚Katholisch‘ ist nicht identisch mit der Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche. Katholizität ist an den Konsens aller Christen und Kirchen aller Zeiten gebunden“ (ebd. 96). Es wird 400 Jahre dauern, bis auch die römischkatholische Kirche Melanchthons qualitatives Kriterium von Katholizität selbstdifferenzierend und selbstkritisch akzeptieren und dabei den von Melanchthon eingeforderten Dialektik von Macht und Ohnmacht als notae Ecclesiae folgen wird: Wie aber Christus das Werk der Erlösung in Armut und Verfolgung vollbrachte, so ist auch die Kirche berufen, den gleichen Weg einzuschlagen, um die Heilsfrucht den Menschen mitzuteilen. Christus Jesus hat, „obwohl er doch in Gottesgestalt war, sich selbst entäußert und Knechtsgestalt angenommen“ (Phil 2,6); um unseretwillen „ist er arm geworden, obgleich er doch reich war“ (2 Kor 8,9). So ist die Kirche, auch wenn sie zur Erfüllung ihrer Sendung menschlicher Mittel bedarf, nicht gegründet, um irdische Herrlichkeit zu suchen, sondern um Demut und Selbstverleugnung auch durch ihr Beispiel auszubreiten. Christus wurde vom Vater gesandt, „den Armen frohe Botschaft zu bringen, zu heilen, die bedrückten Herzens sind“ (Lk 4,18), „zu suchen und zu retten, was verloren war“ (Lk 19,10). In ähnlicher Weise umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen.Während aber Christus heilig, schuldlos, unbefleckt war (Hebr 7,26) und Sünde nicht kannte (2 Kor 5,21), sondern allein die Sünden des Volkes zu sühnen gekommen ist (Hebr 2,17), umfasst die Kirche Sünder in ihrem eigenen Schoße. Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und
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Erneuerung (II.Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche, Lumen gentium, Art. 8).
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C Werk
I Gattungen Melanchthon hat ein umfangreiches, nahezu universales Œuvre literarischer Schriften hinterlassen. Für die Lebenszeit Melanchthons bietet die 2014 erschienene Melanchthon-Bibliographie von Helmut Claus die umfangreichste Übersicht über dessen literarisches Schaffen. Seine Schriften umfassen die um Geschichte und Literatur ergänzte Artistenfakultät, Theologie, Philosophie (entsprechend seines universalistischen Philosophieverständnisses), Schriften zur Geographie, zur kirchlichen Lehre und Praxis sowie zur Universität. Im Folgenden werden einzelne Gattungen vorgestellt, Theologie und Philosophie ausführlich diskutiert. Ausgeschlossen aus Melanchthons literarischem Œuvre bleibt zeit seines Lebens ausschließlich die Metaphysik des Aristoteles.
Timothy J. Wengert*
Biblische Übersetzungen und Kommentare Gottfried Arnold unterstellte in seiner Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-Historie Philipp Melanchthon, dass er von der biblischen Wahrheit abgewichen sei und damit die lutherische Kirche in die Irre geführt habe (Arnold 1699, z. B. 93 – 102; vgl. dazu auch Wengert 1997c, dessen Arbeit teilweise auf Barton [1963] beruht). Ins Visier der Kritik kam dabei Melanchthons Methode und seine Begeisterung für die aristotelische Philosophie, welche verursacht habe, dass die Wittenberger Theologen gänzlich von menschlichen Denkmustern verwirrt worden seien: Daher kamen folgende bedenckliche recommendationes desselben [Loci communes von Melanchthon, d.Vf.] auch bey lebzeiten Philippi an die Studenten: ‚Es werde darinnen [in den Loci communes] alles das warhafftig begriffen/ was der fleiß eines gottseligen menschen in Lesung der heiligen Schrifft nach Anleitung des H. Geistes finde oder finden könne/ und sey dieses Buch gleichsam ein Licht/ welches von jener (der Schrifft) abscheine.‘ […] Sogar war ihnen [Melanchthons Studenten] alles richtig/ was nur Melanchthon gesetzt hatte/ die H. Schrifft und der H. Geist selber mochten noch solche richtige regeln gegeben haben. (Arnorld 1699, 95 – 96)
Um seine Vorurteile gegen solche „orthodoxen“ Lutheraner zu unterstreichen, verwies Arnold auf die Magdeburger Centurien, welche er der Wittenberger Schriftauslegung als „wahre biblische Exegese“ gegenüberstellte: „ […] also haben jetziger zeit die Wittenberger keinen andern grund ihrer Theologie/ denn Praeceptor, Praeceptor, Praeceptor! […] Da höre man überall diese worte: Der Praeceptor hats gesagt/ also hat er geschriben und statuirt: Ergo ists wahr.“ (Arnold 1699, 96, der dort folgendes Vorwort * Übersetzung Nicole Kuropka. DOI 10.1515/9783110335804-018
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zitiert: Nona Centuria Ecclesiasticae Historiae [Basel 1565, a 5v], unterschrieben von Matthias Flacius, Johannes Wigand und Matthäus Judex.) Anders urteilte Johann Franz Buddeus (1727, 1675), aber selbst sein positives Urteil über Melanchthons exegetische Arbeit beinhaltet die Klage, dass nur wenige Exegeten seiner Zeit Melanchthons Arbeit kennen würden, und dafür machte er Richard Simon, den römisch-katholischen Wissenschaftler der biblischen Auslegungsgeschichte, verantwortlich, der Melanchthons Arbeit als zu stark von der Rhetorik geprägt verurteilt (Simon 1695, 693 – 699). Der erste ernste Melanchthonforscher, Georg Theodor Strobel, wurde durch dieses Urteil dazu gedrängt, gegen die Missbilligung von Simon jene Wissenschaftler aufzuzählen, welche die exegetische Arbeit des Präzeptors würdigten (Strobel 1773). Strobels Rekonstruktion von Melanchthons biblischer Arbeit macht dabei deutlich, wie schwierig es bis heute ist, Melanchthons biblische Exegese zu erfassen. Selbst moderne Ausleger sind den alten Vorurteilen erlegen. Kurt Aland (1960, 326 – 327) behauptete, dass Melanchthon nur selten theologische Vorlesungen gehalten habe. Wilhelm Maurer (1969, 421– 423) unterstellte Melanchthon eine „Berufskrise“ im Jahre 1523, als der Magister biblische Vorlesungen zurückgewiesen und stattdessen den (erasmischen) Humanismus bevorzugt habe (widerlegt durch Scheible 1990). All diese Theorien decken sich jedoch nicht mit den historischen Fakten, die Melanchthons ungebrochene Hingabe für und Beiträge zur biblischen Auslegung belegen.
1 Das Ziel von Melanchthons biblischer Auslegungsarbeit Als Melanchthon 1518 in Wittenberg ankam, fehlte ihm noch die Lehrerlaubnis zur Schriftauslegung. Um diese zu erreichen bedurfte er den Grad das baccalaureus biblicus. Diesen erlangte er 1519, als er seine Thesen unter der Prüfungshoheit Martin Luthers verteidigte (MSA 1, 23 – 25). Schon vorher hatte er in seiner Antrittsvorlesung am 28. August 1518 eine Vorlesung über den Titusbrief angekündigt (MSA 3, 29 – 42, hier 41,34– 42,1). Allerdings handelte es sich hierbei um eine Vorlesung über den griechischen Originaltext des biblischen Buches, wie er sie als Griechischprofessor und magister artium problemlos halten konnte. Gleichzeitig unterrichtete Melanchthon auch die Anfänge der hebräischen Sprache, weil die Wittenberger Fakultät zumindest bis zur Berufung des Matthäus Aurogallus auf der Suche nach einer dauerhaften Lehrstuhlbesetzung war. Am 19. September 1519 erlangte Melanchthon den Grad des baccalaureus biblicus, nachdem er zehn Tage vorher erfolgreich seine Thesen verteidigt hatte (MSA 1, 23 – 25; darin enthalten sind Thesen über die Autorität der Heiligen Schrift [25, 1– 2]; zur Reihenfolge vgl. MBW 10, 271). Damit erhielt er die Erlaubnis, Vorlesungen über den Inhalt der lateinischen biblischen Texte zu halten, wobei es jedoch Anzeichen gibt,
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dass er im Hörsaal weiter anhand der griechischen Originaltexte arbeitete (vgl. für die Rapsodiai en Paulou ad Romanos Bizer 1966, 39 – 85). Er begann mit einer Vorlesung zum Matthäusevangelium (1519 – 1520, MSA 4, 133 – 208), danach über den Römerbrief (1520 – 1521), den 1. und 2. Korintherbrief (1521– 1522, MSA 4, 15 – 132) und schließlich über das Johannesevangelium (1522 – 1523, CR 15, 1043 – 1220). Martin Luther veranlasste die Veröffentlichung der paulinischen Auslegungen im Jahr 1522, im darauffolgenden Jahr veröffentlichte er Melanchthons Annotationes über das Johannesevangelium. Im selben Jahr erschien durch einen geschäftstüchtiger Baseler Drucker auch die Vorlesung über das Matthäusevangelium. Diese Annotationes waren Teil der Wittenberger Bemühungen, über das gesamte Neue Testament Kommentare zu veröffentlichen (vgl. Wengert 1987, 31– 42 und 255 – 258). Es fehlten Kommentare zum Markusevangelium, Jakobus-, 2. und 3. Johannes-, Hebräerbrief und zur Offenbarung. Das überrascht jedoch nicht angesichts der Tatsache, dass die Kommentatoren das Markusevangelium für eine Zusammenfassung des Matthäusevangelium hielten und die Urheberschaft des Jakobus- und Hebräerbriefes sowie der Offenbarung im Vorwort des Septembertestaments (1522) in Frage gestellt wurden (WA DB 6, 10). In den frühen 1520er Jahren sind auch Melanchthons kurze Anmerkungen zu einigen Kapiteln des ersten und zweiten Buches Mose veröffentlicht worden (veröffentlicht durch Johann Setzer in Hagenau, vgl. Wengert 1997c, 117– 118. Zur alttestamentlichen Schriftauslegung bei Melanchthon vgl. Sick 1959). In den Jahren 1523/24 gab es sehr viele theologische Vorlesungen, während dieser Zeit pausierte Melanchthon mit seinen biblischen Veranstaltungen, wohl auch weil er Rektor der Universität war (vom 18. Oktober 1523 bis April 1524). Melanchthon nahm seine exegetische Arbeit mit der Proverbienauslegung wieder auf (1524– 1525, veröffentlicht 1525 in Hagenau bei Setzer: Solomonis sententiae versae ad Hebraicam Veritatem a Phil. Melan. [Übersetzung mit Randbemerkungen]. Zum Vorwort vom April/ Mai 1525 vgl. MBW.T 2, 394,294 – 302). Siehe auch den Kommentar ΠΑΡΟΙΜΙΑΙ sive Proverbia Solomonis filii Davidis, cum Adnotationibus Philippi Melanchthonis [Hagenau 1525]). Die Einleitung seines Proverbienkommentars beginnt: „Die gesamte Schrift lehrt entweder Gesetz oder Evangelium.“ Auch die Proverbien, so legt Melanchthon dar, enthalten beides und richten sich auf die Gottesfurcht und den Glauben an Gott. 1526 widmete Melanchthon sich dem Kolosserbrief, zu dem 1527 die Scholia als erster von Melanchthon selbst veröffentlichter Kommentar entstand und grundlegend überarbeitet erneut 1528 und 1534 erschien (ausführlicher Wengert 1997b und 1998; zur Fassung von 1527 vgl. MSA 4, 209 – 303 und zum Vorwort an Alexander Drachstedt, geschrieben vor dem 20. Mai 1527, MBW.T 3, 547,64 – 65). Die folgenden Auflagen enthielten kein Vorwort). Zu dieser Zeit hatte der Kurfürst Johann der Beständige sowohl Melanchthon als auch Luther einen Sonderstatus als Lehrer gewährt, der den beiden ermöglichte, Vorlesungsthemen gänzlich frei zu wählen (Scheible 1997a, 40 – 43.). Für Melanchthon folgte daraus, dass er sowohl für das Grundstudium als auch in der theologischen Fakultät Vorlesungen anbot. Sein exegetischer Schaffensreichtum erstreckte sich in dieser Zeit auf die Auslegung des Buches Daniel (nur das Vorwort an König Ferdinand, datiert vor dem 11. April 1529, ist veröffentlicht worden, vgl. MBW.T 3,
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769,474– 480), der Psalmen (Ps 1– 4 und 110 – 133, In Psalmos aliquot Davidicos […] Enarrationes doctissimae, Hagenau 1528) und einen zweiten Kommentar zu den Proverbien (veröffentlicht 1529, MSA 4, 305 – 464. Zum Vorwort an Magnus von Mecklenburg, geschrieben im Januar/Februar 1529, siehe MBW.T 3, 750,439 – 444). Danach konzentrierte er sich auf den Römerbrief, zu dem er eine erste rhetorische Analyse (unvollständig veröffentlicht 1529, und dann vollendet 1530) erstellte und darauf aufbauend einen ausführlichen Kommentar verfasste (veröffentlicht 1532; die rhetorischen Analyse Dispositio Orationis findet sich in CR 15, 443 – 492. Das Vorwort ist abgedruckt bei MBW.T 3, 767,470 – 473). Die Commentarii in Epistolam Pauli ad Romanos von 1532 finden sich in MSA 5. Zum Vorwort an Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Mainz, vgl. MBW.T 5, 1276,336 – 340). In den 1530er Jahren erschienen zahlreiche andere Kommentare. Der Kolosserkommentar von 1534 stellt dabei die erste theologische Schrift Melanchthons dar, in der er auf den dreifachen Gebrauch des Gesetzes hinweist (Wengert 1997b, 177– 210). Über die universitären Verpflichtungen hinaus fing Melanchthon in diesen Jahren auch an, regelmäßig Sonntagsvorlesungen in Latein über den vorgegebenen Predigttext beziehungsweise Lesungstext oder die vorgegebene Schriftlesung für die ausländischen Studenten anzubieten, die keine deutsche Predigt verstehen konnten. Diese Arbeit setzte er bis zu seinem Tod fort, wobei über die eigentliche Zielgruppe hinaus auch viele andere an diesen Veranstaltungen teilnahmen. Ein Teil dieser Predigten wurde 1544 in der Postille veröffentlicht. Darüber hinaus gibt es jedoch noch zahlreiche weitere Mitschriften, von denen einige durch Christoph Pezel 1594/95 veröffentlicht wurden (Buchwald 1924. Die Auflage von 1544 findet sich in CR 14, 161– 528; zum Widmungsbrief vgl. MBW 3546; Pezels Ausgabe liegt vor in CR 24– 25. Zu Melanchthons biblischen Reden für Georg von Anhalt vgl. Koehn 1984, bes. Nr. 282 [1415 – 1416]). Melanchthon verfasste für die Neuordnung der theologischen Fakultät Statuten, die 1533 in Kraft traten und zusätzliche theologische Vorlesungen unter anderem durch Caspar Cruciger d.Ä., Johannes Bugenhagen (der dies schon vorher angeboten hatte), und später durch Georg Major vorsahen (Wengert 1997a). Ende 1535 hielt Cruciger eine Vorlesung über den 1. Timotheusbrief. Als Konrad Cordatus ihm vorwarf, er würde lehren, dass ohne gute Werke (sine qua non) keine Erlösung möglich sei, berief sich Cruciger darauf, dass er seine Vorlesung auf Notizen von Melanchthon aufgebaut habe. Wenn auch nicht eindeutig geklärt ist, inwieweit dieser Kommentar (veröffentlicht 1540) von Melanchthon beeinflusst oder sogar geschrieben wurde, so bleibt unbestritten, dass er in Bezug auf die biblische Auslegung deutlich den Geist der „Wittenberger Schule“ atmet und eindeutig von Melanchthons Methode geprägt war (vgl. Wengert 1989 und 1992. 1538 übersetzte Georg Spalatin Teile des Kommentars zum 1. Timotheusbrief). Als 1540 der Prediger der Wittenberger Marienkirche, Sebastian Fröschel, Melanchthon für die Mittwochabendpredigten über das Matthäusevangelium um Hilfe bat, stellte Melanchthon in den folgenden Jahren regelmäßig Kommentierungen zur Verfügung, die dann von Fröschel 1558 veröffentlicht wurden (CR 14, 535 – 1042). Bereits 1540 erschien eine komplett überarbeitete Fassung von Melan-
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chthons Römerbriefkommentar, die vermutlich auf Vorlesungen in den späten 1530er Jahren basierte (CR 15, 493 – 796; zur Widmung an den Landgrafen Philipp von Hessen vom 1. Januar 1540 vgl. MBW.T 9, 2336,27– 32). Ebenfalls auf Grundlage seiner Vorlesungstätigkeit erschein 1543 ein Danielkommentar von Melanchthon (CR 13, 823 – 980; das Vorwort vom 1. Januar 1543 richtete sich an Herzog Moritz von Sachsen, MBW.T 10, 3131,31– 34). Als Melanchthon 1547 nach Wittenberg an die wiedereröffnete Universität zurückkehrte, übernahm er wieder zahlreiche Lehrveranstaltungen zu biblischen Büchern. Dazu zählten – die Psalmen (gehalten 1547– 1548, veröffentlicht durch Caspar Peucer in Melanchthons Opera, CR 13, 1017– 1472), – die Proverbien (auch 1547– 1548 gehalten, aber 1550 veröffentlicht und 1552 sowie 1555 überarbeitet: Explicatio Proverbiorum Salomonis [Frankfurt 1550], CR 14, 3 – 88; mit einem Vorwort an Herzog Albrecht von Mecklenburg, geschrieben vor dem 15. April 1550, MBW 5771 [CR 7, 705 – 710]), – Kohelet (gehalten 1548 – 1549, 1550 veröffentlicht und 1551 mit einigen Überarbeitungen versehen: Enarratio brevis concionum libri Salomonis [Wittenberg 1550], CR 14, 89 – 160; mit einem Vorwort an Joachim Moller vom 1. Oktober 1550, MBW 5912 [CR 7, 669 – 673]), – der Römerbrief (gehalten 1552– 1553 und 1556 veröffentlicht inklusive einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Andreas Osianders Verständnis der Rechtfertigungslehre: Enarratio epistolae Pauli ad Romanos [Wittenberg 1556], CR 15, 797– 1052; mit einem Vorwort an Ulrich Mordeisen, geschrieben in der ersten Aprilmonatshälfte 1556, MBW 7785 [CR 8, 737– 741]). Zu seinem Angriff gegen Andreas Osiander vgl. Wengert 2012a, 330 – 351), – der Kolosserbrief (gehalten 1556, veröffentlicht 1559: Enarratio epistolae Pauli ad Colossenses, CR 15, 1221– 1182; mit einem Widmungsbrief an Herluf Trolle vom 16. Februar 1559, MBW 8862 [CR 9, 745 – 747]) sowie der – 1. und 2.Timotheusbrief (Vorlesungen von 1550 – 1551, posthum veröffentlicht 1561: Enarratio Epist. 1. ad Timotheum et duorum capitum secundae [Wittenberg 1561], CR 15, 1295 – 1396; mit einem Widmungsbrief von Paul Crell an die Herzöge Heinrich und Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg vom 19. April 1561, ein Jahr nach Melanchthons Tod). Darüber hinaus schrieb er für Paul Eber Vorlesungen zum 1. und 2. Korintherbrief, welche dieser 1561 veröffentlichte (Brevis et utilis Commentarius in priorem epistolam Pauli ad Corinthios et aliquot capita secondae [Wittenberg 1561], CR 15, 1053 – 1220; mit einem Widmungsbrief an den Pfalzgrafen Wolfgang, datiert vom 1. Januar 1561). Aus dieser Zeit stammen ebenfalls kleinere exegetische Arbeiten zu den alttestamentlichen Propheten (Peucer veröffentlichte diese erstmals in Melanchthons Opera, CR 13, 989 – 1004, vgl. Wengert 1997c, 124– 129). Zweifelsohne wird Melanchthon noch weitere Vorlesungen gehalten haben, die entweder niemals veröffentlicht wurden oder einfach überarbeitete Fassungen älterer, bereits veröffentlichter Kommentare waren. Mit Si-
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cherheit gilt dies für den Römerbrief, der eine Pflichtveranstaltung im überarbeiteten theologischen Curriculum gewesen ist.
2 Melanchthons exegetische Methode Um biblische Texte auszulegen, nutzte Melanchthon seine sprachlichen Kenntnisse der artes liberales und stellte diese in den Dienst lutherischer Hermeneutik. Das Ergebnis war eine einzigartige Verbindung von humanistischen Fertigkeiten mit dem reformatorischen Anliegen. Von dieser exegetischen Methode sind alle seine biblischen Kommentare geprägt.
2.1 Die Grammatik Seine erstklassigen Kenntnisse der klassischen griechischen Literatur, der Grammatik und Syntax ermöglichten Melanchthon, die sprachlichen und stilistischen Eigenarten des Neuen Testaments in einer neuartigen Weise wahrzunehmen. Neben vielen anderen Dingen ermöglichte ihm dies – wie bei vielen anderen biblischen Humanisten (eingeschlossen Erasmus und Martin Luther) – eine besondere Achtsamkeit den neutestamentlichen Hebraismen gegenüber. Dies schließt den paulinischen Gebrauch von dikaiosune (Gerechtigkeit) mit ein, auf den Melanchthon erstmals in seinem Römerbriefkommentar von 1532 eingeht (MSA 5, 39. In seiner Dispositio von 1529 unterscheidet er zwischen menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit, vgl. z. B. CR 15, 451). Darüber hinaus setzte Melanchthon die Grammatik dafür ein, den vierfachen Schriftsinn (quadrigia), der im Mittelalter als exegetische Methode so beliebt war, zu widerlegen. In seinem Vorwort zur Proverbienauslegung von 1529 schrieb er: „Einige, die nicht vertraut sind mit einer einzigen Auslegung von einzelnen Sätzen [sententiis], verweben gleichsam Spinnen vier oder sogar mehrere Bedeutungsmöglichkeiten [sententias], den wörtlichen, den allegorischen, den tropologischen und ich weiß nicht was noch darüber hinaus – obwohl die Bedeutung [sententia] der Heiligen Schrift eindeutig und einfach ist, wie das grammatikalische Verfahren ganz offensichtlich zeigt.“ (MBW.T 3, 750,441,27– 31) Melanchthon nutzte immer die sprachlichen Werkzeuge der Grammatik, Syntax, Rhetorik und Dialektik, um den einfachen und klaren Sinn der biblischen Texte zu entschlüsseln. Dabei erkannte er jedoch die Allegorie (vor allem bei Parabeln und Wundern) an, die er jedoch als rhetorisches Stilmittel ansah, durch die der biblische Text auf den allumfassenden Sinn der Schrift, nämlich den Glauben an Gottes Verheißung, hinwies (ausführlich erörtert bei Wengert 1987, 194– 198).
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2.2 Rhetorik Über sein grammatikalisches Repertoire hinaus nutzte Melanchthon ebenfalls das rhetorische Handwerkszeug, um biblische Texte auszulegen. Der bei weitem wichtigste Beitrag auf diesem Gebiet war Melanchthons Erkenntnis, dass die paulinischen Briefe, allen voran der Römerbrief, von einem Autor verfasst worden waren, der sich rhetorischer Prinzipien beim Abfassen der Briefe bediente. Um also die paulinischen Argumente sachgerecht aufzuschlüsseln, muss man sich ebenfalls einer rhetorischen Analyse bedienen (Melanchthon verwendete auch die Rhetorik des Cicero. Rudolf Bultmann stellte bereits fest, dass Paulus eine besondere hellenistische Form der Rhetorik verwendete, die Diatribe. Ohne es anzuerkennen, arbeitete Bultmann [1910] damit auf einem Gebiet, das bereits Melanchthon ausgiebig behandelt hatte. Er erwähnt in seiner Studie nur Joachim Camerarius und Matthias Flacius, vgl. dazu Wengert 1996). Bereits die Annotationes zum Römerbrief (veröffentlicht 1522) arbeiteten nach dieser Methode. Um es deutlich zu machen: Viele waren davon überzeugt, dass Paulus als menschlicher Autor seine Briefe sprachlich gestaltet habe. Dennoch betonte vor Melanchthon kaum jemand die Rolle des Autors als Verfasser. Vielmehr bevorzugten die mittelalterlichen Scholastiker die Aufteilung der paulinischen Briefe unter Zuhilfenahme der dialektischen Kategorienlehre und missachteten darüber hinaus Paulus als rhetorischen Briefeschreiber. So argumentierte Erasmus – in Nachfolge von Hieronymus –, dass die Kapitel Röm 1– 11 für Christen überholt seien, weil Paulus nur das Ende der Zeremonialgesetze behandelt. Nur die Kapitel 12– 15 beinhalteten zahlreiche moralische Aufforderungen, die auch für die Christen relevant seien. Im Gegensatz dazu bestand Melanchthon in seinem Kommentar von 1522 darauf, dass der gesamte Brief als Ganzes gelesen werden müsse, weil Paulus den Römerbrief insgesamt stilvoll nach dialektischen und rhetorischen Regeln verfasst habe, um das Herz des christlichen Evangeliums (Rechtfertigung) in den Kapiteln 1– 8, ein weiteres Thema in den Kapiteln 9 – 11 und die Anwendung der Rechtfertigungslehre in den letzten Kapiteln zu behandeln. Die Eingangskapitel behandeln also nicht einen bereits abgehandelten theologischen Streit über das Zeremonialgesetz, sondern stellen eine sorgfältig rhetorisch ausgearbeitete Abhandlung über das Herz der christlichen Theologie dar. Melanchthon war derart von dieser Komposition der paulinischen Rhetorik überzeugt, dass er darüber eigene Kommentare verfasste: Die Dispositio orationis in epistola Pauli ad Romanos (Hagenau 1529, vollständige Ausgabe: Wittenberg 1530). Während Melanchthon auf dem Reichstag in Speyer war, verfasste er das Vorwort zu diesem Kommentar im März oder April 1529 und schickte dieses seinem früheren Studenten Setzer. Wer dieses Vorwort liest, erkennt sofort den einzigartigen Zugang zu diesem paulinischen Brief – eine Art der literarischen Gattungskritik, die erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt wurde (MBW.T 3, 767,470 – 473), verfasst zwischen dem 13. März und 25. April 1529 und dem Graf Hermann von Neuenahr gewidmet, einem Kölner Humanisten mit guten Kontakten zu Johannes Reuchlin und Erasmus). Melanchthon kritisierte damit indirekt „einige“ (gemeint war Erasmus), die einfach nur
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ein paar einzelne wichtige Ideen aus dem Brief herauspickten und dabei die Grundaussage verfehlten. Ein derartiges Vorgehen missachtete in Melanchthons Augen den Argumentationszusammenhang und führte zu einer Interpretation gegen die ursprüngliche Aussage des Verfassers. Außerdem zeigte er das grundlegende Wittenberger Verständnis des Römerbriefs als das zentrale biblische Buch auf, das das Herz der christlichen Lehre behandelte und einen „methodus“ der gesamten Heiligen Schrift darstelle (auch dies ist ein weiterer Seitenhieb auf Erasmus und dessen Vorrede zum Neuen Testament, Ratio seu Methodus, die nicht nur den griechischen und lateinischen Ausgaben des Neuen Testaments [ab 1519] beigefügt war, sondern auch als Einzelausgabe erschien. Darin wird jedoch ein anderer, moralisierender Kerngedanke der Schrift betont. „Methode“ meint dabei einen klassischen humanistischen Begriff, um die Gesamtstruktur beziehungsweise den grundlegenden Zugang zu seinem Thema zu beschreiben. Die unterschiedlichen Zugangsweisen beschreibt Manfred Hoffmann [1997]). Der Römerbrief müsse daher als Ganzes gelesen und bedacht werden, wie die einzelnen Teile zusammenhängen. Wer den Aufbau der Rede (ordo orationis) beachte, verstehe den Inhalt. Sowohl gegenwärtige wie vergangene Exegeten haben diesen Aufbau des paulinischen Briefes nicht beachtet und sind daher von der eigentlichen Aussage abgekommen. 1529 wusste Melanchthon bereits, dass einige seinen Ansatz belächelten, weil „ich die paulinische Prosa in die allgemeinen Regeln der Sprache zwinge“ (vgl. dazu Glossar und Inhaltsangabe in MSA 5, 373 – 392, sowie Schäfer 1963 und 1997). Diese Kritik war jedoch absurd, weil jeder Redner versucht, seine Gedankengänge zu ordnen. Gerade weil selbst Melanchthons Gegner glaubten, Paulus habe einen Hauptgedanken, machte es Sinn, die Regeln der Sprache zur Analyse und zum Verständnis nutzen. Deshalb würden einige, die zwar den paulinischen Gebrauch der griechischen Sprachfiguren anerkannten, hingegen aber die Struktur der Argumentation nicht beachteten, bei der Auslegung in die Irre laufen. Melanchthon behielt dieses Grundverständnis stets bei, dass biblische Autoren die allgemein bekannten Regeln der Sprache nutzten, um ihre Gedanken zu sortieren und sie den Lesern mitzuteilen. In seinem Römerbriefkommentar von 1532 zeigte Melanchthon die rhetorische Struktur des Briefes auf: Angefangen mit dem exordium (Röm. 1,1– 15), der propositio (1,16 – 3,20), dem status des gesamten Briefes (3,21– 31), gefolgt von der confirmatio (4,1– 5,11), der digressio (5,12– 8,39), in der Paulus einen Argumentationsgang nach den Regeln der Logik verfolgt, einer neuen Frage (9 – 11) und schließlich Vorschriften (12 – 15), um mit Grüßen (16) zu schließen. Ungeachtet all der Änderungen in der Ausgabe von 1540 blieb Melanchthon dieser grundlegenden rhetorischen Analyse treu. Erst in der Enarratio von 1556 betonte er diese Struktur nicht mehr so ausführlich. Dieses exegetische Anliegen beschränkte sich nicht nur auf den Römerbrief. Melanchthon arbeitete ähnlich in seinen frühen Vorlesungen zu den Korintherbriefen, dem Johannesevangelium und im Kolosserkommentar (zu den beiden zuletzt genannten Kommentaren vgl. Wengert 1987, 170 – 182 und 1998, 48 – 64). Darüber hinaus begann Melanchthon in seiner Psalmenauslegung (Enarrationes von 1528) jeden Psalm
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mit Erläuterungen zur Gattung. Psalm 1 war eine Beschreibung, die Psalmen 3, 119, 120 – 123, 130 und 132 waren Gebete, Psalm 110 gehörte zum genus demonstrativum, Psalm 111 und 112 zum genus suasorium, die Psalmen 115, 116, 124 und 126 waren Danksagungen, und Psalm 133 ein Loblied (encomium).Wenn Melanchthon auch nicht das christologische Herz einzelner Psalmen (vor allem Pss 2, 110 und 118) leugnete, verstand er den Psalter als die Niederschrift von Gläubigen, die eine große Bandbreite von Gattungen nutzten, um verschiedene Aspekte des Lebens im Glauben zu thematisieren (Sick 1959; einer vergleichbaren Methode folgte Melanchthon in seinen späteren Vorlesungen zu den Psalmen, vgl. CR 13, 1017– 1472). Melanchthons rhetorischer Zugang zu den Psalmen befreite diese dabei von einer rein christologischen Interpretation und betonte ihren gefühlsbezogenen Charakter, so wie Luther es in seinem Vorwort zu den Psalmen in der deutschen Bibel 1528 betont hatte. Melanchthon war überzeugt, dass die rhetorische Aufschlüsselung der biblischen Bücher die biblische Exegese vom scholastischen Würgegriff befreien würde. Die Bedeutung eines Textes entsprang der Begegnung des menschlichen Verfassers mit Gottes Wort, und durch dieses Wort werden der Glaube, das Gebet und das Lob hervorgerufen. Darüber hinaus fokussiere jegliche Interpretation auf den Hauptgedanken eines Autors. Das erlaubte Melanchthon in seinem Römerbriefkommentar und auch an anderen Stellen das Überspringen einzelner Verse – eine Vorgehensweise, die Johannes Calvin aufregte, weil er selbst – juristisch durch Andreas Alciati geschult – gelernt hatte, biblische Texte Zeile für Zeile auszulegen (Walchenbach 1974 und Wengert 1999b, vgl. bes. 42– 43). Melanchthon hingegen sah die Gefahr dieser Vorgehensweise darin, dass sie zu einem Missverständnis des Gesamttextes führen könne: Die versweise Auslegung lasse jeden Satz und jedes Kapitel gleichwichtig erscheinen, obwohl das Gegenteil der Fall sein könne. Denn die summa oder der scopus eines Buches oder der Bibel (wie im Fall des Römerbriefes) war für Melanchthon das unumstößliche Prinzip der Auslegung. Außerdem biete die Rhetorik einen tiefen Einblick in die vielfältigen sprachlichen Redewendungen, die ein Autor einsetzt. Melanchthons Auslegungen verweisen – wie die Texte seiner Zeitgenossen, unten ihnen Faber Stapulensis, Erasmus und Reuchlin – häufig auf die sprachlichen Stilmittel der Tropen (tropus) und auf die Argumentationsfindung (inventio). In seinem Glossar zu Melanchthons Römerbriefkommentar von 1532 verweist Rolf Schäfer (1963) auf über 90 rhetorische und dialektische Stilmittel, die allein in dieser Auslegung verwendet werden. Melanchthon wusste, dass seine Leser mit diesen Stilmitteln vertraut waren, aber darüber hinaus stellte er mit seinen zahlreichen Handbüchern der Rhetorik Hilfsmittel bereit, in denen er sowohl griechische wie lateinische Begrifflichkeiten erläuterte und – vor allem in den späteren Editionen – diese mit biblischen und theologischen Beispielen erklärte (zu den beiden Frühfassungen vgl. De rhetorica libri tres [1519] und Institutiones rhetoricae [1521] und Kuropka 2002). Die Paraphrase war eine typische Kommentierungsart der Renaissance. In De rhetorica libri tres (Drei Bücher über die Rhetorik) von 1519 lobte Melanchthon Erasmus für diese Art der Auslegung, wie sie sich in den Paraphrasen zum Neuen Testament
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finden. Selbst wenn Melanchthon niemals eine Paraphrase zu irgendeinem biblischen Buch veröffentlichte, zeigen seine Bemühungen um die Herausgabe der altkirchlichen Paraphrase zum Johannesevangelium des Nonnos von Panopolis sowie seine eigene Paraphrasensammlung zu einigen Psalmen, dass er dieser Technik zugewandt war (Wengert 1987, 64– 65. Melanchthons Vorwort, verfasst vor dem 20. Mai 1527, findet sich in MBW.T 3, 548,66 – 67. Hier weist er auch darauf hin, wie rigide Nonnos sich an die Regeln der Paraphrase gehalten habe). Darüber hinaus paraphrasierte Melanchthon einzelne Verse, ähnlich wie Luther das in seinen Predigten und Kommentaren tat, und leitete das normalerweise mit der Redensart „quasi dicat“ („so als ob der [Autor] sagen würde“) ein (zur Bedeutung der Paraphrasen für Luthers Schriftauslegung vgl. Wengert 2013, 108 – 110). Dieser Auslegungsansatz zielte dabei auf die Gefühlswelt der Leser und sollte diesen mitreißen, so als ob der Leser den Autor beziehungsweise Redner hören könne, wie er ihn persönlich anspreche.
2.3 Dialektik Zusätzlich zur Rhetorik nutzte Melanchthon einzelne Lehrstücke der Dialektik, um seine Texte auszulegen. 1528 bekannte sich Melanchthon dazu, dass er Aristoteles zweites Buch zur Analytik verwende, und er führte Standardfragen zur Analyse ein (vgl. seine De dialectica libri quatuor, die erstmals 1528 erschienen. Hier wird die Ausgabe von 1539 zitiert, die von Krafft Müller in Straßburg veröffentlicht wurde, 71– 78 [https://epub.ub.uni-muenchen.de/11167/1/8Philos.356_2.pdf; abgerufen am 27.4. 2016]. Dort werden auch die Fragen bezüglich der Ursachen und Teile einer Sache erörtert. In seiner Erotemata dialectices [CR 13, 573 – 574] von 1547 führt Melanchthon dann zehn Fragen auf). Während Melanchthon die Frage „Ob Dinge existieren?“ (an sit?) vermied, konzentrierte er sich vor allem auf zwei Fragen: Was ist (quid sit?) und welche Wirkungen gibt es (quid effectus?). Melanchthon verwendete darüber hinaus auch weitere Teile der Dialektik in seinen biblischen Auslegungen. Das aristotelische Interesse an der Gattung (genus) und den Arten (species) diente Melanchthon in der Exegese als logische Grundlage für die Arbeit mit den Loci communes (Hauptartikel). In seiner Ratio seu Methodus hatte Erasmus dargelegt, dass der Leser der Bibel sich Textpassagen in geeignete „Nester“ (nidulae) zurechtlegen sollte. Der niederländische Humanist stellte dafür selbst ein Sammelsurium von vornehmlich ethisch orientierten loci zur Verfügung. Im Gegensatz zu dieser willkürlichen Begriffsanhäufung verfolgte Melanchthon den Ansatz der De inventione dialectica (1497) des Rudolf Agricola und verstand die loci als Hauptthemen beziehungsweise grundlegende Aspekte eines Textes (vgl.vor allem Wiedenhofer 1976, Bd. 1, 373 – 379, der darlegt, dass Melanchthon in seinen exegetica die Loci communes in doppelter Weise verwende: zum einen als Hauptpunkte einer Rede oder eines Textes, zum anderen aber auch als Grundgedanken, die hinter der Rede oder dem Text stehen. Zur Frage, wie Melanchthon dieses Stilmittel in seiner Schriftauslegung einsetzte, vgl. Wengert 1987, 182– 191. Rudolf Agricola war ein Pionier in dem Versuch, die
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Dialektik eng mit der Rhetorik zu verbinden. Diesen Ansatz entwickelte Melanchthon weiter, in dem er eine vierte Redegattung, das genus didaskalion, 1521 entwickelte): Ein biblischer Autor formuliere in den einzelnen Kapiteln oder Versen die species eines bestimmten Konzeptes, das der Exeget dann mit dem entsprechenden genus oder den entsprechenden loci communes verbinden könne. Melanchthons rhetorische Methode wollte also, dass nicht nur der gesamte Argumentationszusammenhang eines biblischen Autors entschlüsselt wird, sondern zugleich die entsprechenden Loci communes, die der Aussage des Autors entsprachen, aufgefunden werden. Dabei lief er Gefahr, dass der biblische Kommentar durch ausufernde Exkurse über die allgemeinen theologischen Gedanken auseinanderfiel. Anders als Johannes Calvin, der größtenteils die theologischen Erörterungen (die sich in der Institutio finden) von der biblischen Auslegung trennte, werden Melanchthons biblische Arbeiten häufig durch längere theologische Erörterungen unterbrochen (so geht z. B. in der Scholia über den Kolosserbrief von 1528 die Erörterung von Kol 2,23 über 50 Seiten [Wengert 1998, 110 – 136]. In der Enarratio über den Römerbrief von 1556 widerlegte er Osiander [Wengert 2010]). Melanchthon bestand jedoch darauf, dass solche Exkurse ein wesentlicher Bestandteil des biblischen Buches seien, weil jede Textpassage immer auch im Verhältnis zum allgemeinen Thema stehe, das behandelt werde. Dieses Ineinander von Dialektik und Rhetorik bedeutete, dass Melanchthons biblische Auslegungen sowohl inhaltlich die Argumente wie auch den Stil des Verfassers respektierten, aber gleichzeitig das einzelne Buch in den Gesamtzusammenhang des biblischen Kanons stellten. Wie in der Rhetorik, so fand Melanchthon auch besondere Einflüsse der dialektischen Methode bei biblischen Verfassern. Neben den Verweisen auf die Verwendung von Syllogismen stellt Röm 5,12– 8,39 das prominenteste Beispiel dar. Bereits in den Annotationes von 1522 verwies Melanchthon auf diesen Wechsel von stärker rhetorischer zu eher dialektischer Argumentation. In seinen Commentarii (1532) leitete er den Abschnitt mit folgender Überschrift ein: „Finis disputationis sequitur analysis.“ („Ende des Streitgesprächs, gefolgt von einer Analyse“, MSA 5, 169; zur Struktur des Commentarii von 1532 vgl. MSA 5, 373 – 378). Dabei war analysis für ihn das Auflösen eines Argumentationsganges (die im vorherigen Teil des Römerbriefs vorlag), sodass die Hauptbestandteile erklärt werden, indem die einzelne Begriffe – Sünde, Gesetz und Gnade – und ihre Wirkungen dargelegt werden. Während er also in Röm 1,1– 5,11 die Hauptteile der paulinischen Rede (mit seinem exordium, propositio, confirmatio und epilogus) darlegt, erklärt er in Röm 5,12– 8,39 die wichtigsten Begriffe entsprechend des dem Römerbrief inneliegenden methodus.
2.4 Theologische Folgerungen Die melanchthonische Methode, sich auf Definition und Wirkungen zu konzentrieren, diente den Grundsätzen der lutherischen Bibelauslegung, nämlich der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Aber sie lag für Melanchthon auch im Römerbrief
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selbst begründet, denn der Apostel Paulus definiere zuerst die Gerechtigkeit durch Glauben (3,21– 31) und erörtere dann in Röm 5,1 die Folgen des Glaubens (MSA 5, 155 – 158; vgl. Fraenkel 1959; Sick 1959, 52; Wiedenhofer 1976, 195 – 196, 215 – 233, 370 – 371; außerdem die Confessio Augustana, Art. XX, die sich auf Röm 5,1 beruft). Dieselbe Entwicklung von der Definition hin zu den Folgen lässt sich durchgängig in den Loci communes von 1521 finden (MSA 2/1, 31 [„Quid peccatum“], 35 [„Vis peccati et fructus“], 55 [„De lege“], 83 [„Quid evangelium“], 90 [„De vi legis“], 100 [„De vi evangelii“], 106 [„De iustificatione et fide“], 131 [„De fidei efficacia“]). Dass die Themen Sünde, Gesetz, Evangelium und Glaube nicht nur von ihrer Definition her verstanden werden können, sondern nur in Verbindung von Definition und Wirkung, also auch von der Kraft und den Früchte des Glaubens her, spiegelt sich in der sogenannten Hermeneutik von Gesetz und Evangelium. Melanchthon, Luther und andere Wittenberger Schriftausleger reduzierten die biblische Auslegung nicht auf eine Suche nach Gesetz und Verheißung (oder in heutiger Sprache nach Anspruch und Zuspruch), noch setzten sie das „Gesetz“ mit der „Tora“ beziehungsweise das Evangelium mit dem Ende des Alten Testaments gleich. Sie legten vielmehr die Schrift mit Blick auf das aus, was die biblischen Texte sagen und für den Hörer bedeuten: dass sie eben den Sünder erschrecken und den Gläubigen in Gottes Gnade trösten (vgl. dazu auch die Apologie der CA, Art. XII, Abs. 28 – 58). Als Luther und Melanchthon ihre Theologie weiter entwickelten, entdeckten sie selbstverständlich weitere Funktionen (oder usus) des Gesetzes. Luther sprach als erster über den bürgerlichen oder ersten Gebrauch des Gesetzes in einer Predigt für den Neujahrstag (Gal 3,23 – 29) in seiner Weihnachtspostille, veröffentlicht 1522. Melanchthon nahm auch in den folgenden Jahren diesen Faden auf, sodass man zum Beispiel in seinem Kolosserkommentar von 1527 die Erörterung von zwei Gebräuchen des Gesetzes finden kann (zu Luther vgl. Wengert 2006, 78 – 79; zur Predigt über Gal 3, WA 10/1/1: 460 – 461. Siehe auch CA XXI, wo Karl V. als König David dargestellt wird). 1534, als er die dritte Auflage seines Kolosserkommentars vorbereitete, traf Melanchthon auf reformerisch gesinnte Mitglieder der römischen Partei in Leipzig, die darauf bestanden, dass das Evangelium selbst das Gesetz enthalte, wie Jesus über das neue Gesetz in Joh 13 selbst gesagt habe (dazu ausführlich Wengert 1997b, 177– 210). Um diese Position zu widerlegen (und um weiterhin sein Gesetzesverständnis von dem des Johann Agricola zu unterscheiden, der meinte, dass Gläubige vom Gesetz befreit seien), erläuterte Melanchthon in diesem Kommentar zum ersten Mal den dreifachen Gebrauch des Gesetzes. Das floss auch in seine Loci communes von 1535 ein, wo er den dreifachen Gebrauch des Gesetzes ausführlich erklärt. Es solle: 1) die Ordnung bewahren und der Sünde Einhalt gebieten, 2) die Sünde verurteilen und zu Christus führen, 3) die Gläubigen über die wahren guten Werke (im Gegensatz zu menschlichen Erfindungen) belehren, sie dabei von der Sünde abhalten und zu Christus bringen. In allen seinen Werken betonte Melanchthon jedoch, dass die Hauptfunktion des Gesetzes der zweite, der theologische Gebrauch sei – anders als Calvin, der dem dritten das Vorrecht einräumte. Außerdem versuchte Melanchthon gerade nicht das „Gesetz“ in das „Evangelium“ hineinzutragen, wie er das von seinen römischen Gegnern glaubte.
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Melanchthons Interesse an den Wirkungen (effectus) der biblischen Texte bei Gesetz und Evangelium beruht nicht allein auf seiner dialektischen Methodenlehre, die ihn von der finitio zum effectus brachte, sondern entsprangen einem viel tieferem Interesse, das er mit Luther teilte, nämlich ihre gefühlsbetonte Akzentuierung der Theologie (zu Luther vgl. Stolt 2012, 13 – 142). Bereits in seiner Erstausgabe der Loci communes von 1521 verwarf er die scholastischen Spekulationen, um die Wirkungen des Evangelium auf den Theologen zu betonen: „Christus zu kennen, heißt seine Wohltaten zu kennen.“ (MSA 2/1, 20,26 – 29) Mit genau demselben Satz beginnen die Annotationes zum Römerbriefkommentar von 1521: „Niemand kennt Christus, der nicht seine Wohltaten kennt.“ (Annotationes […] in Epistolam Pauli ad Romanos unam, et ad Corinthios duas, Nachdruck Straßburg: 1523, 3r.) Dieses zentrale Anliegen der Rhetorik – der Blick auf das, was die Herzen bewegt – kennzeichnet alle seine biblischen Auslegungen. Zum Beispiel schrieb er in seiner Einleitung zum Römerbriefkommentar von 1540: Diese exklusive Partikel „allein um Christi Gnade willen“ schafft den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium. Allerdings sind die Buße und andere Tugenden – wie ich gesagt habe – nicht ausgenommen, sondern die Voraussetzung der Würdigkeit oder des Verdienstes ist ausgenommen, sodass das erschrockene Gewissen einen sicheren Trost habe. Die Verheißungen werden für die Seelen nicht süß, solange sie nicht immer das kleine Wort „Gnade“ voransetzen. (CR 15, 513; für ein Beispiel aus der Enarratio zum Römerbrief vgl. CR 15, 808)
Selbstverständlich gab es auch Bereiche, in denen Luther und Melanchthon unterschiedliche Wege gingen. Größtenteils stellte dies für beide Theologen kein Problem dar. Allerdings anerkannte Melanchthon 1527, als er mit Johann Agricola über Gal 3 im Gespräch war, dass es Unterschiede gäbe, die aber keine Bedeutung hätten (Wengert 1997b, 121; MBW.T 3, 615,198 – 202, geschrieben an Johann Agricola und verfasst gegen Ende Oktober 1527). Bezüglich des Abendmahls brachten diese Unterschiede Melanchthon jedoch nach Luthers Tod Schwierigkeiten ein. Einerseits übertrug Melanchthon sein Verständnis von Wirkung und Wohltat einer Sache auch auf das Abendmahl selbst, wo für ihn die Anwesenheit Christi nur in Bezug auf die Wirkung des Trostes wichtig war (Fraenkel 1961a). Andererseits schien Melanchthon bei Luthers einseitigem Gebrauch der Einsetzungsworte („Das ist mein Leib“) Vorbehalte zu haben, und betonte, dass stattdessen die Rede von der koinonia in 1. Kor 10,16 die Einsetzungsworte richtig glossiere, indem er diesen Text mit der Verheißung Christi, mit den Glaubenden verbunden zu bleiben, verband. Ähnlich betonte er 1559 in seinen Enarrationes zum Kolosserbrief, dass Christus körperlich aufgefahren sei, während er zugleich das Argument beibehielt, dass die rechte Hand Gottes keine räumliche Angabe sei. Damit gab sich jedoch später in der Debatte über das Abendmahl keine der beiden Seiten zufrieden (Wengert 2012b). Einen letzten Aspekt von Melanchthons Schriftauslegung betrifft seinen Rückgriff auf die exegetische Tradition (Fraenkel 1961b, 15 – 24 et passim). Bereits 1519 erlangte Melanchthon einen ausgezeichneten Ruf als Kenner der Kirchenväter, als er Luther während der Leipziger Disputation Zitate herüberreichte (Scheible 1997a, 58). Im
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selben Jahr kritisierte ihn allerdings Erasmus, dass er die Kirchenväter nicht gut genug kennen würde. Das ist jedoch ein Vorwurf, der inhaltlich nicht haltbar ist und wohl eher Erasmus‘ verletzte Gefühle wegen Melanchthons Kritik an ihm widerspiegelt (Wengert 1999a). Anders als Erasmus und andere römische Exegeten vertrat Melanchthon nicht die Position, dass die wahre Exegese immer im Einklang mit der exegetischen Tradition stehen müsse. Außerdem ließ er auch nicht die verschiedenen exegetischen Meinungen als gleichwertig nebeneinander stehen, selbst wenn sich einige vergleichende Übersichten zu verschiedenen Auslegungstraditionen bei ihm finden. Melanchthon nutzte vielmehr auch das Evangelium selbst als Maßstab zur Beurteilung der Kirchenväter. Er verwendete also die Kirchenväter nicht nur zur Bekräftigung seiner theologischen Argumente (wie z. B. in CA 20), sondern widersprach auch ihren Auffassungen, wenn sie seiner Meinung nach vom Evangelium abwichen. Das läuft aber nicht auf einen exegetischen Eklektizismus hinaus, wie manchmal gewertet wird, sondern zeigt vielmehr, dass Melanchthon das Erbe der Kirchenväter konsequent nach dem Maßstab von Gesetz und Evangelium geprüft hat (dagegen Meijering 1983, 108; zur Sicht der Kappadozier bei Melanchthon vgl. Hall 2014). Die vermutlich wichtigste Widerlegung der altkirchlichen Schriftauslegung erfolgte in den frühen 1530er Jahren, als Melanchthon (gegen Johannes Brenz) sein Verständnis von der forensischen beziehungsweise imputativen Rechtfertigungslehre gegen die augustinische Lehrmeinung aufzeigte (MSA 5, 100 – 102). Für Melanchthon war die Rechtfertigung immer extra nos (außerhalb unserer selbst) und daher nicht einfach ein Empfangen der zukünftigen Gerechtigkeit des Gläubigen.Vielmehr handelt es sich nach seinem Verständnis eher um das Zusprechen einer fremden, also Christi Gerechtigkeit, als um die wahre Gerechtigkeit des menschlichen Herzens. Letztere entspringt immer dem Glauben und kann daher niemals die Ursache der Rechtfertigung sein, weil die Folge eines zweifelnden Herzens immer die Verzweiflung ist. Das einzige, das in dem Leben des Gläubigen wirklich sicher ist, ist Christi Gerechtigkeit, aber niemals die eigene. In diesem Fall war der grundlegende Ansatz Melanchthons, die Kirchenväter zu verwenden oder sie zu widerlegen, das Anliegen, die Zweifelnden zu trösten.
3 Übersetzungen Für die Wittenberger Theologen bestand die Arbeit an der Bibelübersetzung aus drei verschiedenen Aufgaben. Sie wollten erstens auf der Grundlage des biblischen Urtextes eine deutsche Übersetzung verfassen, zweitens Einführungen in die verschiedenen Teile und unterschiedlichen biblischen Bücher anfertigen, und drittens den Text mit Marginalglossen erklären. Die Vorstellung, eine Übersetzung ohne die letzten zwei Aspekte zu verfassen, war ihnen und ihrem Verständnis von Schriftübersetzung gänzlich fremd. In der Renaissance wurden immer häufiger antike Texte übersetzt. Mit dem Ruf „zurück zu den Quellen“ und mit den Fortschritten im Bereich der Drucktechnik wuchs
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das Interesse der Wissenschaftler an den originalen Quellen. Die Wittenberger haben sich von Anfang an bemüht, mit dem Studium der biblischen Urtexte zu einem vertieften Verständnis der Heiligen Schrift zu gelangen. Martin Luther kehrte 1522 mit einer vollständigen Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen von der Wartburg zurück. Die ursprüngliche Fassung der Übersetzung ist nicht überliefert, es kann jedoch als sicher gelten, dass Philipp Melanchthon diese Fassung für den Druck überarbeitete und mit anderen Wissenschaftlern die Bedeutung griechischer Terminologien in der Bibel diskutierte (Wengert 1997c, 112). Seltener wahrgenommen wird hingegen die Tatsache, wie sehr die Annotationes zum Römerbrief von 1521, die von Luther 1522 veröffentlicht wurden, Luthers Vorwort zu demselben Buch im Septembertestament beeinflusst haben (vgl. den Seminarbericht vom Neunten internationalen Lutherkongress in Heidelberg, Wabel/Wengert 1999). Ein Vergleich der beiden Texte offenbart eine Vielzahl an verblüffenden Parallelen zu Melanchthons Methode der Bibelauslegung: Die Definition von paulinischen Begriffen, die rhetorische Analyse des biblischen Buches und die herausragende Bedeutung der ersten Kapitel für die Auslegung des gesamten Briefes (vgl. die Annotationes Philippi Melanchthonis in Epistolam Pauli ad Romanos unam, Et ad Corinthios duas [Straßburg 1523, 3v]): „Zweitens handelt der erste Teil des Briefes in acht Kapiteln von Gnade, Gesetz und Sünde, und zwar in einer zutreffenden Ordnung und mit einer klaren rhetorischen Methode. Zur Frage nach der Ursache [status causae]: Wir sind durch den Glauben gerechtfertigt, diese Aussage wird durch viele Argumente bewiesen.“ Unabhängig davon, wie Melanchthons Beitrag zum Septembertestament beurteilt wird, war er von diesem Zeitpunkt an ein wichtiges Mitglied des Wittenberger „Teams“, das weitere Übersetzungen veröffentlichte und – nach 1534 – weiter an der Überarbeitung des Textes, der Glossen und der Einleitung arbeitete. Bedenkt man, dass Melanchthons Vorwort zum Danielbuch von 1527 drei Jahre vor Luthers Arbeit erschien, müsste auch hier der Einfluss auf Luther überprüft werden (Vorwort zu Daniel, WA DB 11/2: 2– 131; vgl. außerdem das Vorwort zur Offenbarung, WA DB 7, 406 – 421). Durch die späteren Berichte von Johannes Mathesius und durch die Protokolle von Georg Rörer ist jedoch sicher die Intensität belegt, mit der die Wittenberger bei der Übersetzung und Glossierung der Bibel zusammen gearbeitet haben (Stolt 2012, 251– 273). Melanchthon erwähnt zum Beispiel in einem Brief an Joachim Camerarius vom 15. Juni 1528, dass er an Jesaja arbeite (MBW.T 3, 693,335,13 – 14, zitiert in WA DB 2: xi – xii. Zu Hiob vgl. WA 30/2: 636, 15 – 20, wo Luther auch Aurogallus erwähnt). Da überrascht es wenig, dass Luther, als er 1540 nach Weimar an Melanchthons Krankenlager eilte, er den Kranken als sein organon, sein Werkzeug zum Wissenserwerb, bezeichnete (CR 28 (Teil 2): 69 – 70). Georg Theodor Strobel erwähnte in seiner Historisch-Litterarischen Nachricht von Philipp Melanchthons Verdiensten um die heilige Schrift von 1773, dass Melanchthon für die deutsche Übersetzung des 1. und 2. Makkabäerbuches verantwortlich war. Dabei berief sich Strobel auf einen Bericht von David Chytraeus, einer von Melanchthons Studenten aus den 1550er Jahren (Strobel 1773, 19 – 20, der dort Gustav Georg Zeltner [1727, 25 – 26, n. „p“] zitiert, der wiederum David Chytraeus [1578, 486] zitiert und seine
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Erörterung der Makkbäerbücher beschließt: „In den deutschen Bibeln aber wurden die zwei Bücher von den Makkabäern von Philipp Melanchthon aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt. Die echte und reine Sprache zeigt, dass der Autor der deutschen Version viel direkter und besser als [der Autor] in den anderen biblischen Büchern war.“ Außerdem verweist Zeltner auf Martin Mylius [1582, B 8r]: „In den deutschen Bibeln ist Philipp der Autor der Übersetzung der zwei Makkabäerbücher.“ Wenn die Urheberschaft dieser Übersetzung auch umstritten ist, zeigt es doch, wie die Schüler Melanchthons seinen Beitrag zum wichtigsten Wittenberger Übersetzungsprojekt sahen (so auch Volz 1954 und Scheible 1997a, 145 – 147; zu Gegenargumenten vgl. Stolt 2001). Angesichts dieser engen Zusammenarbeit unter den Wittenberger Theologen wird Melanchthon auch an der Erstellung der Glossen zum biblischen Text mitgearbeitet haben. Sein konkreter Beitrag dazu wird mit Sicherheit nicht mehr rekonstruierbar sein. Aber es könnte angemessen sein, die sogenannte „Luther-Bibel“ in Zukunft eher „Wittenberger Bibel“ zu nennen, da so viele Theologen intensiv mit dieser Veröffentlichung und ihrer Überarbeitung beschäftigt waren. Betrachtet man darüber hinaus Melanchthons bedeutsame Kommentare zur Heiligen Schrift und die seiner Kollegen und Schüler, dann kann man ohne Zweifel und Zögern von einer „Wittenberger Schule“ der Bibelauslegung reden – einer Schule, die sich verpflichtete, die aktuellsten historischen und sprachlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen (und diese Bibelauslegung dabei nahtlos mit der Wittenberger Theologie und Hermeneutik verschmelzen ließ), und die von zwei gleichermaßen herausragenden Exegeten geleitet wurde: Martin Luther und Philipp Melanchthon.
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Georg Gottfried Gerner-Wolfhard
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Eine evangelische, Evangeliums-gemäße Aufgabe ist es: „Kirche“ – wieder (wie zum Beispiel im zweiten christlichen Jahrhundert) – als „Schule“ zu verstehen, nicht nur, aber auch; als einen weiten Raum, einen Ort, an dem Menschen entwickelt werden, an dem sie herausgewickelt werden aus den Windeln des alten Adam und der alten Eva; als einen Ort, an dem sie gebildet werden nach dem Bilde dessen, von dem die Heilige Schrift sagt: „Er ist das Ebenbild [die Ikone] des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung.“ (Kol 1,15) Evangelische, Evangeliums-entsprechende Formation ist Formung auf die Form des Erst-Geformten, des Erst-„Transformierten“ hin (LC 1993, 14– 15) – „ein Bildungsprozess so lang und eine Lernaufgabe so groß, dass die Ewigkeit nicht ausreichen wird, sie zu lösen“ (mit Bezug auf Melanchthons Auslegung von Kol 1,15 [CR 15, 1241]: Fischer 2009, 59). Es war das Lebens- und Berufsthema von Philipp Melanchthon, die Aufgabe evangelischer Formung in große geistige Weite hinauszuführen: Es „kann kein Zweifel bestehen, daß der Lebensform des Lehrens und Lernens das größte Wohlgefallen Gottes gilt und daß den Schulen im Blick darauf der Vorrang […] gebührt“ (Schmidt 1989, 209). Melanchthon hat sich früh und häufig dieser Aufgabe unterzogen. Durch die von ihm verfassten Schulordnungen und Lehrbücher zu vielen Wissenskomplexen, durch seine Schüler und deren Tradition wirkten Melanchthons pädagogisch-katechetische Gedanken – wie etwa: ohne klare Sprache gibt es kein klares Denken; ohne klares Denken keine deutliche Darstellung, keine sinnvolle Handlung und keine klare Lehre; ohne klare Lehre keine einige Kirche und keinen Frieden – Jahrhunderte lang auf den Unterricht Anderer ein (Cohrs 1915, VII) und hatten Bestand: „Melanchthons Bedeutung für die Katechetik ist eine doppelte: er hat zeitweilig selbst Lehrbücher für den religiösen […] Jugendunterricht verfaßt, und er hat anderen zu solchen Lehrbüchern Material und Gelegenheit geboten.“ (aaO. XXI) Ausgehend vom Paukenschlag, mit dem er 1518 als Inhaber des Lehrstuhls für Griechisch in Wittenberg die akademische Bühne betrat: „Über Studienreform“ (De corrigendis adolescentiae studiis), und von der drei Jahre später publizierten und häufig sogenannten „ersten evangelischen Dogmatik“: Loci communes rerum theologicarum hat Melanchthon konsequent die katechetische Aufgabe vorangetrieben: „Dies […] kann ich wahrhaftig bekräftigen, dass ich […] die Lehre unserer Kirche erklärt habe, damit die Jugend unsere Lehre besser verstehen und für die Nachwelt bewahren kann.“ (Testament 1539, CR 3, 827; Mel.Dt 3, 29) Die 26 aus einer Vorlesung über den paulinischen Römerbrief heraus entwickelten „Grundbegriffe“ (Loci) – von den „Kräften des Menschen“ (vires hominis) bis zum „Ärgernis“ (scandalum) reichend – stellen – eine Prinzipienlehre, – eine theologische Anthropologie, DOI 10.1515/9783110335804-019
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eine Soteriologie und eine theologische Ethik dar.
Diesem Werk von ungeheurer Reichweite für die erst noch im Entstehen begriffene evangelisch-reformatorische Lehre und über deren unmittelbare Verwertung hinaus (die Loci werden nicht von ungefähr im profanen Kindlers Literaturlexikon besprochen) folgten viele weitere Lernmaterialien Melanchthons für „Akademie“ (Universität) und Schule. Aus Vorlesungen, die er über seine eigenen Loci gehalten hat beziehungsweise aus deren Nachschriften, ist das umfangreichste und bekannteste religionsdidaktische Werk, das unter seinem Namen lief, entstanden; zuerst (1540) ohne sein Zutun ediert, später (1543) durch ein Vorwort von ihm autorisiert: die Catechesis puerilis (deutsch: Catechismus, das ist eine Kinderlehre, 1543) – ein Buch, das Jahrzehnte lang dem Religionsunterricht diente (s.u.). Von der ersten Loci-Ausgabe des 24-jährigen Autors gilt: Sie ist eine Einführung ins Theologiestudium, „eine lockere Einführung in die Grundwahrheiten“ (Bornkamm 1961, 58) der biblischen Theologie (besonders des Paulus) an Stelle der philosophischen Theologie (der mittelalterlichen Scholastiker). Insofern gehören die Loci noch zum Programm der Antrittsvorlesung und sind – bezogen auf das Theologiestudium – die Einlösung des damals gegebenen Versprechens.
1 Überblick Was die katechetisch-didaktische Aufgabe im engeren Sinne anbelangt, so hat Melanchthon mehr als ein Dutzend Mal angesetzt – beziehungsweise Andere taten es unter seinem Namen – mit Unterrichts-und-Lernmaterialien ganz unterschiedlicher Art und Länge. In der historisch-kritischen Edition Philipp Melanchthons Schriften zur Praktischen Theologie, Teil I Katechetische Schriften, die der Konsistorialrat und Superintendent der Grafschaft Hohnstein in Ilfeld, Ferdinand Cohrs, im Jahr 1915 in den Supplementa Melanchthoniana herausgebracht hat, nehmen diese Materialien einen Umfang von anderthalb bis zu 124 Seiten ein; das heißt: Vieles blieb Fragment und wurde mehr von Andern „ausgeschlachtet“ als von Melanchthon selbst vollendet: – 1523 In caput Exodi XX Scholia (1525 deutsch: Eine kleine Auslegung über das 20. Kapitel des 2. Buches Mose, Cohrs 1915, 3 – 19); – 1523 das Enchiridion elementorum puerilium und ein Jahr später, 1524, daraus das Handbüchlein (Cohrs 1915, 20 – 56); – (vor) 1526 die Paraphrasis Dominicae Orationis (Cohrs 1915, 57– 60); – 1527 (publiziert 1528), im Unterricht der Visitatoren (MSA 1, 216 – 271; dort: 222– 224 und 226 – 235 und 259) finden sich fragmentarisch – eher homiletisch als katechetisch abgezweckte – nur bis zum vierten Gebot reichende und hauptsächlich Gehorsam gegen die Obrigkeit einschärfende Ausführungen zum Dekalog und ebenso kurze Winke für die Credo-Predigt: „[…] das man von der schöpffung also
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lere, das die leute wissen, das Gott noch schaffet, uns teglich erneret, lesset wachsen etce. […] das wir Gott umb narung, leben, gesundheit, und der gleichen leibliche notturfft bitten. Darnach […] von der Erlösung, wie uns die sunde durch Christum vergeben sind […] von des heiligen geists wirckung […] wie greulich wir fallen, wo uns Gott durch den heiligen geist nicht zeucht und bewaret“; im selben Jahr: 1527: Etliche Sprüche, darin das ganze christliche Leben gefaßt ist (Cohrs 1915, 61– 73); 1527 (?) Kurze Auslegung der Zehn Gebote (Cohrs 1915, 74– 75) mit je einer Illustration zu den drei ersten Geboten; 1527 (?) Kurze Auslegung des Vaterunsers (Cohrs 1915, 76 – 77); 1528: Eine kurze Auslegung der Zehn Gebote, des Vaterunsers und Glaubens (Cohrs 1915, 78 – 88); sie blieb Fragment, gelangte nur bis zur (unvollständigen) Auslegung des dritten Gebots, während im selben Jahr Luther den Großen Katechismus schrieb; 1539 die Loci-Vorlesung, aus der die umfangreiche Catechesis puerilis / Catechismus, das ist eine Kinderlehre entstanden ist (1540/1543; Cohrs 1915, 89 – 336); 1542/1547: Kurze Auslegung des Vaterunsers (Cohrs 1915, 337– 341); 1548: Catechismus, deutsch und lateinisch (Cohrs 1915, 342– 361); 1549: Die Zehn Gebote, der Glaube, das Vaterunser (Cohrs 1915, 362– 369); und schließlich noch einmal: 1552 im Examen Ordinandorum (MSA 6, 169 – 247 [deutsch] und CR 23, 1– 102 [lateinisch]), dem Grundriss des Lern- und Argumentationsstoffs für die Examensvorbereitung von Theologiestudenten.
Einige Ausgaben dieser diversen Materialien zeigen Bilderschmuck (dazu detailliert: Cohrs 1915, CXIII – CXVII).
2 Im Einzelnen 2.1 Enchiridion/Handbüchlein Zwei Jahre nach der ersten Loci-Ausgabe hat sich Melanchthon zum ersten Mal auf das Gebiet der „Kinderlehre“, der religiösen Elementarbildung, begeben und dabei sofort und eindrücklich sein in den Loci communes angelegtes (Bayer 1994, 127– 155 und Korsch 1994, 197– 202) Lebensprogramm elementarisiert: pietas et eruditio – Frömmigkeit und Bildung, die sich gegenseitig bedingen und fördern: „Religiöse Texte [Vaterunser, Glaubensbekenntnis, Gebete etc., d.Vf.] dienen als Grundlage für sprachliche Übungen. Literarische und philosophische Texte […] wirken in religiöser Hinsicht propädeutisch.“ (Schmidt 1989, 16) Melanchthon war inzwischen Vater geworden; seine Tochter Anna kam 1522 zur Welt. Aus dem Jahr 1523 stammt das Enchiridion elementorum puerilium (Cohrs 1915, 20 – 56). Es erschien ein Jahr später,von einem Anonymus übersetzt, auch auf Deutsch:
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Handbüchlein, wie man die Kinder zu der Schrift und Lehre halten soll. Spätere Editoren haben das Büchlein erweitert (Cohrs 1915, LXIII). Vorausgegangen waren In caput Exodi XX Scholia, „für den Jugendunterricht in Lateinschulen dienstbar“ (Cohrs 1915, LIX) gemachte Nachschriften aus Vorlesungen, welche Melanchthon 1522/1523 an Sonnabenden und Sonntagen gehalten hatte; zwei Jahre später (1525) hat wiederum ein Anonymus sie – zum Teil fehlerhaft und „häufig recht unbeholfen“ (Cohrs 1915, LIX) – für den Volksunterricht verdeutscht. Die Scholia (und ihre Verdeutschung) enthalten in der trockenen, wenig durchgearbeiteten Auslegung des Dekalogs schon das Wortpaar: „(Gott) fürchten und vertrauen“, das wir aus Luthers Kleinem Katechismus kennen – aber ohne das „lieben“(!) sowie die Einschärfung des secundus usus legis. In den ähnlichen Zusammenhang gehört die Paraphrasis Dominicae Orationis, vermutlich auch in der schola privata Melanchthons „in freier Weise diktiert“, weiterhin „in Lateinschulen nutzbar gemacht“, aber „im Volksunterricht […] nicht verwertet“ (Cohrs 1915, LX), also auch nicht verdeutscht. Das Enchiridion/Handbüchlein selbst ist ein apartes kleines Werk von „fundamentaler Bedeutung“; in seiner deutschen Fassung (Handbüchlein) ist es „in gewisser Weise der erste evangelische Katechismus“ (Cohrs 1915, VIII). Die beiden Fassungen verfolgen verschieden nuancierte Zwecke. Die lateinische Fassung entstand für die Privatschule (schola domestica), die Melanchthon in seinem Haus abgehalten hat: ein Unterricht ganz in Latein. Deshalb ist das Enchiridion eine Art von Fibel für kleine Gymnasiasten. Die deutsche Fassung hat ein Jahr später (1524) ein Anonymus mit Billigung Melanchthons geschaffen, damit auch diejenigen Kinder, die nicht in die Lateinschule gingen, quasi die „Volksschüler“, einen religiösen Lebenskundeunterricht bekämen, auch für den Hausgebrauch. Fundamental bei Melanchthon ist, dass die Kinder lesen können, denn anders können sie – in ihrem jeweiligen „Heute“ – der Einladung des Jesus Christus: „Lasst die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht“ (Mk 10,14 par.) gar nicht folgen. Ohne Elementarbildung ist nach Melanchthons Meinung eine eigene persönliche Beziehung zum Heiland kaum vorstellbar! Das Auffällige am Enchiridion/Handbüchlein ist, dass es nicht alle „klassischen“ Hauptstücke der christlichen Unterweisung enthält; Taufe und Abendmahl kommen nicht vor. Andererseits enthält es mehr als die Kardinalstücke. Es beginnt so: – Das ABC groß, – das abc klein, – die Vokale, – die Diphthonge, – das Vaterunser, – das Ave Maria, – das Credo, – Psalm 67 (bei Melanchthon: Ps 66 [Vulgata]), – die zehn Gebote, – die Bergpredigt (Mt 5 – 7),
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– Römerbrief, Kap. 12, – Johannesevangelium, Kap. 13; alles ohne Erklärung, nur der reine Text. Nach diesen (zum Teil recht langen) biblischen Passagen, die – wenn sie, wie damals üblich, memoriert werden sollten – heutige Schüler massiv überfordern würden, folgen Ethik und Moral in Form der Dicta sapientium oder Der Sieben Weisen Sprüche, nach der Auslegung des Erasmus von Rotterdam. Melanchthon hat diese antiken Klugheiten aus der Sentenzen-Sammlung Opuscula aliquot (1514) des Niederländers genommen – zum Beispiel: – „Ein unehrlich Gewissen ist ein allerbösest Ding“; – „Was nicht ehrlich ist, das ist auch nichts nütz“; – „Höre viel, rede wenig“; – „Was ist das Werk des Klugen? Nicht schaden, wenn man schaden könnte“; – „Laß die Zunge nicht vor dem Verstand laufen“; – „Treibe den Denunzianten aus dem Haus“ etc. Die Gewährsmänner, die „Sieben Weisen“ in Melanchthons Auswahl, sind: – Periander von Korinth, – Bias von Priene, – Pittakos von Mytilene, – Kleoboulos von Lindos, – Chilon von Lakedaimonien, – Solon von Athen und – Thales von Milet. Schließlich runden eine Sammlung von Kindergebeten zum – Aufwachen („[…] O, mein vater, laß dein liecht mit einem neuen schein und mit dem gestirn der Sunnen in unsere junge gemüt scheinen […].“), – Beginn und Ende der Mahlzeit („[…] Die feinste wolthat ist, das wir weder stain, noch stöck, noch ander verachte ding seind, Das er uns essen, trincken und kleider gibt, Und das wir die schrifft lernen, Das wir auch guts und bös versteen […].“), – Schlafengehen („[…] so laßt uns beide hende in den himel aufheben und Got bitten, Also, O vater, laß unser gemüt dise rue frölich nemen und die ewige rue in deiner schoß […]“) sowie ein Gedicht An die Besonnenheit das Werk ab. Der christliche Humanismus in erasmischer Tradition stellt sich auf diese Weise in den Dienst von Lebensgestaltung, Ethik und Religionskunde – von „L.E.R.“, wie man in einem modernen Kontext formulieren würde. Bei Luther entstand der Katechismus aus dem Predigen und aus der Predigt über die Kardinalstücke der christlichen Tradition, bei Melanchthon aus dem (schulischen) Unterrichten. Bei ihm hat das katechetische Geschäft eine andere Nuance: Es ist nicht in erster Linie auf die Familie abgezweckt (wie bei Luther), sondern auf die Schule.
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2.2 Fragmente und Torsi Ein weiterer Anlass, sich mit den Kardinalstücken zu befassen, ergab sich für Melanchthon ab 1527 aus seiner Mitwirkung bei den kursächsischen Visitationen, durch die er „in die praktisch-kirchliche Tätigkeit hineingezogen“ wurde (Cohrs 1915, XXI). Im Unterricht der Visitatoren (1527/28) hat er aus seinen Erfahrungen, die er visitierend im Kurkreis und in Thüringen gemacht hatte, eine Schulordnung mit Stoffplan und drei – nach Leistung, nicht nach Alter und Jahrgang zusammengestellten – Klassen (drei „Haufen“) entworfen (Von Schulen, MSA 1, 265 – 271; vgl. Hartfelder 1889, 419 – 424): „Es sollen […] die Prediger die leute vermanen, yhre kinder zur schule zu thun, damit man leut aufziehe, geschickt zu leren ynn der kirchen und sonst zu regiren“ (265) – gemäß 1 Tim 3,2 („Ein Bischof muss ohne Tadel sein: […] ein begabter Lehrer […].“). Im „ersten Haufen“, in der Anfängerklasse, sind „die kinder, die lesen lernen“, hauptsächlich mit dem Enchiridion befasst; dazu kommen („leichte“) Lektüre ([Aelius] Donatus und Cato), ein tägliches Vokabelpensum und Musik (267). Wenn die Kinder lesen können, im „zweiten Haufen“, wird Grammatik zum Schwerpunkt, weiterhin Musik, schwerere Lektüre (z. B. Aesop-Fabeln, Colloquia Erasmi, Terenz) – und an einem Tag der Woche (Sonnabend oder Mittwoch) „Christliche Unterweisung“, also Religionsunterricht: „Denn etliche [Schulmeister] lernen [lehren] gar nichts aus der heiligen schrifft. Etliche lernen die kinder gar nichts, denn die heilige schrifft,Welche beide nicht zu leiden sind. Denn es ist von nöten, die kinder zu lernen den anfang eines Christlichen und Gottseligen lebens. […] Es soll der schulmeister den gantzen hauffen hören, Also, das einer nach dem andern auffsage das Vater unser, den Glauben und die Zehen gebot.“ (269) Gelegentlich soll der Schulmeister diese drei Texte auch auslegen, Mal um Mal. Er soll aber „die kinder nicht gewenen, Münche odder andere zu schmehen, wie viel ungeschickter schulmeister pflegen“ (270). Außerdem sollen „etliche leichte Psalmen“ (z. B. 112, 34, 128, 125, 127, 133 „Und etliche der gleichen […] klare Psalmen“), „Inn welchen begriffen ist, eine summa eines Christlichen lebens, Als die von Gottes forcht, von glauben, und von guten werken“ auswendig gelernt, aber auch ausgelegt werden, „damit die kinder wissen, was sie daraus lernen und da suchen sollen“ (270). Zu diesem Religionsunterricht soll ebenfalls eine grammatikalische Erläuterung (Exposition) des Matthäusevangeliums gehören, für aufgeweckte Kinder auch der beiden Timotheusbriefe oder des 1. Johannesbriefs oder der Sprüche Salomonis (270). Ausdrücklich gewarnt wird vor der „ruhmsüchtigen und unfruchtbaren Beladung“ der „iugent mit schweren und hohen büchern […] Als etlich Esaiam, Paulum zun Römern, Sanct Johannes Euangelion, und andere der gleichen“ (270 – 271). Im aufgewecktesten „dritten Haufen“ werden weiterhin Musik und Grammatik betrieben; Lektüre von Vergil, Ovid (Metamorphosen), Cicero (Officia oder Epistolae familiares), Metrik, Dialektik, Rhetorik und eigene poetische Schülerproduktionen kommen dazu (271).
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In diese historische Visitationsfolgen-Aufgabe gehörten – „ohne weiteres in Parallele zu Luthers Katechismen“ (Cohrs 1915, XXXI) – die Kurze Auslegung der Zehn Gebote mit einer „stete[n] Bezugnahme auf die biblische Geschichte“ (ebd.) und die Kurze Auslegung des Vaterunsers als eine „durchgängige Erklärung in Gebetsform“ (ebd.). Beide Texte,vermutlich 1527 entstanden, waren gewissermaßen Fingerübungen für eine größere Catechesis, zu deren Abfassung Melanchthon von Spalatin gedrängt wurde. Sie blieb aber Fragment, und zwar in zwei völlig verschiedenen Versionen: sowohl als Eine kurze Auslegung der Zehn Gebote, des Vaterunsers und Glaubens (1528), als auch in der Weise von Etliche[n] Sprüche[n], darin das ganze christliche Leben gefaßt ist (1527, dazu s.u.). Die Kurze Auslegung der Zehn Gebote, des Vaterunsers und Glaubens (1528) sollte dem klassischen Katechismus-Schema der Kardinalstücke folgen: „Es ist eine gute gewonheit, das man die kinder erstlich die zehen gepot, das Vater unser und den Glauben leret […] darümb sind auch diese stück von vielen fromen leuten gehandelt, und ist gut, das man sie oft handele und verklere.“ (Cohrs 1915, 78) Dieser Text, an dem „bedeutsam [sind] die stete Hinführung auf Christus, modern ausgedrückt: die christozentrische Behandlung“ und die „bemerkenswert ausführliche Behandlung des Gebets als Stück des zweiten Gebots“ (Cohrs 1915, XXXI), ist allerdings über eine „Vorrede“ und die Auslegung der drei ersten Gebote nicht hinaus gediehen, wobei selbst das dritte Gebot nur noch mager angetippt wurde; Cohrs (aaO. XXXII) spricht von einem „Bruchstück“. Das meiste Herzblut des Autors floss erkennbar in die Auslegung des ersten Gebots: […] dis gepot […] leret […] weiter, wie das hertz gegen Gott geschickt sein sol, dis ist ein heimlich ding, das wenig leut verstehen, daran haben wir zu lernen fur und fur in ewickeit“ (aaO. 80); „[…] leret uns dis Erste gepot Gott kennen, wie er gesinnet sei gegen uns, und wie unser hertz gegen ihm geschickt sein sol, und foddert, nemlich zwei stück, Forcht und glauben […]. Damit zeiget er an, so er sich unsern Got nennet, das er will mit uns zu thuen haben, wille sich unser anemen, will Göttliche werck an uns uben, uns helffen, schützen etc. […]. Darüber müssen wir auch lernen, das dis gepot niemand thuen kann, denn der Christum erkennet hat […]. Hie müssen wir zu Christo lauffen, denn der ist die erfüllung des gesetzs […]“ (aaO. 81); „Darümb wie er den kindern Israel ein zeichen furgestellet hat, daran sie seine gnad solten kennen lernen, das er sie aus Egypten gefüret hette, Also ist ihnen und uns Christus furgestellet, daran wir die gnad und vergebung der sunden sollen erkennen lernen, und damit wir nicht andere Götter anbeten, ist uns Christus fürgestelt […].“ (aaO. 82)
Obwohl sie in sich abgeschlossen und in ihrer „Originalgestalt am längsten,wenn auch in bescheidenem Gebrauch geblieben und vielfach verbreitet worden ist“ (Cohrs 1915, XCIV), kann die Kurze Auslegung des Vaterunsers von 1547 (bzw. 1542) hier in den Abschnitt „Fragmente und Torsi“ gerechnet werden. Es handelt sich um eine verdeutschte Passage aus De Oratione der Loci-Version von 1535. Melanchthon hat sie 1542 durchgesehen „und gebessert“, und so erschien sie gedruckt 1547 in einem Andachtsbuch, zusammen mit andern Texten (auch von Luther; Cohrs 1915, XCIV). Darin bedenkenswert ist Melanchthons Auslegung von „Wie wir vergeben unsern Schuldigern“: „[…] unser vergeben ist ein Sacrament und eusserlich Zeichen, dadurch wir
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erinnert und gewis werden, das uns Gott auch vergeben hat und wil vergeben.“ (Cohrs 1915, 339) Ein Torso geblieben ist auch der späte Text von 1548 (Cohrs 1915, 342– 361), der nun wirklich ein Katechismus (im technischen Sinne des Wortes) hätte werden können und der auch so heißt: Catechismus, deutsch und lateinisch. Der in beiden Sprachen nur handschriftlich überlieferte Text – der deutsche ist der ursprüngliche – steht im historischen Zusammenhang mit dem Augsburger Interim (zum Ganzen: Cohrs 1915, XXXIII und besonders XLIV – LI) und mit der (als Konzession an die „Firmelung“ beabsichtigten) Einführung der Konfirmation und eines darauf vorbereitenden Unterrichts: „Gott hat den Menschen darumb geschaffen, das auff erden ein vernunfftige creatur sein solt, in welcher Gottes erkentnis leuchtet […] das man gewislich wüste, wer Gott sei.“ (Cohrs 1915, 342) Mit diesem Beginn – in offensichtlichem Anklang an den Katechismusanfang des Genfer Kollegen Calvin („Welches ist der Hauptzweck des menschlichen Lebens? – Dass die Menschen den erkennen, der sie erschaffen hat“) – zeigte der Wittenberger, worum es gehen sollte – um ein gerüttelt Maß an notitia Dei und doctrina Evangelii, und zwar in Konkurrenz zum seit zwei Jahrzehnten bekannten und gebrauchten Enchiridion – dem Kleinen Katechismus Luthers! Melanchthon verlangte mehr: Was ist Gott? – Sind auch mher Götter, denn einer? – Wie soll man die gottlichen Personen unterscheiden? – Warum muss man gleuben drei person, und nicht mher und nicht weniger? – Warum ist Gottes son genennet des ewigen Vaters wort und Ebenbild? – Von zwo Naturen im son Gottes Jhesu Christo, aus der Jungfrau Maria geborn – Von unterscheid zwisschen Christlicher anruffung Gottes und aller andren anruffung, heidnischer und Turckischer etc. – Von der Schöpfung – Von erhaltung der erschaffnen Wesen – Von schaffung der ersten Menschen Adam und Heva – Was ist das ebenbild Gottes im Menschen? – Von den furnemen kreften menschlicher Natur. (vgl. dazu Cohrs 1915, 342‐361)
Die Liste der Katechismus-Fragen beziehungsweise Abschnitts-Überschriften, auf die meist recht lange „Antworten“ beziehungsweise Darlegungen und Erläuterungen folgen, bricht zwar hier ab, zeigt aber, dass von den Adepten „Schultheologie“ hätte gelernt werden müssen, wenn dieser Catechismus, deutsch und lateinisch in maßgeblichen Gebrauch gelangt wäre und Luthers (Kleinen) Katechismus verdrängt hätte. Doch das war nicht – angesichts der sprachlichen und spirituellen Dominanz des Lutherschen Katechismus: nicht mehr – möglich, und nach der Aufhebung des Augsburger Interims (im Passauer Vertrag von 1552) auch obsolet geworden: Die „Firmelung“/Konfirmation brauchte nicht (flächendeckend) eingeführt zu werden und damit auch nicht ein obligatorischer „Konfirmandenunterricht“. So blieb das Unterfangen „resultatlos“ (Cohrs 1915, XXI und LI). Im Examen Ordinandorum (1552/1554) hat Melanchthon wenige Jahre später grosso modo den gleichen, in den Loci communes von 1521 – im Zuge der damaligen Aristoteles-Geringschätzung in Wittenberg – noch kühn und spöttisch als „unfruchtbar“ und scholastisch abgelehnten, klassisch-metaphysischen Gedankenzug durchgeführt, jetzt aber wesentlich ausführlicher und vor allem vollständig; er kam bis zum Ende des
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dogmatischen und ethischen Pensums: Artikel von „Christlicher Freiheit“, „Ehestand“, „Weltlicher Obrigkeit“ beschließen den Examensstoffplan. Dieser Lere summa vnd alle nötige stück sollen die Pastores selb wissen und lernen vnd dem Volck vngefelscht, ordenlich und verstendlich furtragen. Das das volck ordenlich mercken könne alle nötige stück vnd verstehe vnterscheid rechter Lere und falscher Secten. […] Vnd sind in sonderheit gedachter Catechismus vnd erklerung des Symboli dem volck nützlich, die nötige stück ordenlich zu fassen, darumb sie nach gelegenheit der zeit oft sollen repetirt werden. […] Von diesen nötigen fragen sol man die Ordinanden hören vnd unterrichten vnd sie vermanen, das sie in jren predigten ordentlich diese fragen zur gelegen zeit fassen, Also das die Leut eine klare und gründliche Summa der Christlichen Lere bey sich selbs betrachten vnd gedencken künnen, die jnen zur bekerung, zum glauben, zu rechter anruffung, zu trost in aller trübsal vnd zu vnterricht von jrer selbst seligkeit nötig ist. (MSA 6, 175,8 – 21 und 177,4– 10) Denn Christliche lere ist eine hohe Weisheit, die keine Creatur ergründen kann.Vnd werden wir in ewiger anschawung Gottes daran lernen. Gleich wol will jm Gott also eine Kirche samlen vnd nicht anders, das in diesem elenden, schwachen leben der anfang dieser Weisheit in vns durch Gottes gnade leuchte. Dazu ist hoch nötig, die Lere vleißig zu hören, zu lesen vnd zu betrachten. Dieses ist der einige weg zu Gottes erkentnis, Nemlich, seine Lere recht lernen. (MSA 6, 246,12– 24)
2.3 Catechesis puerilis Melanchthon hat mit allem bisher dargestellten Material viel, aber disparat gearbeitet für die Vermittlung evangelischer doctrina; er hat vor allem in den 1540er Jahren den riesigen, seinen akademischen Kollegs entwachsenen Entwurf der Catechesis puerilis (Catechismus, das ist eine Kinderlehre) vorgelegt beziehungsweise Anderen ermöglicht (gründliche Einleitung von Cohrs 1915, LXVII – XCIII). Die Catechesis puerilis war auf Jahrhunderte hinaus Melanchthons bekanntestes Werk auf religionspädagogischem Gebiet, allerdings nicht eigentlich ein „Katechismus“. Der Inhalt der Catechesis puerilis besteht – nach einem kurzen „Wort an den Leser“ und einem Abschnitt „Was heißt (significat) Catechesis?“ – zu vier Fünfteln aus einer weitläufigen und gründlichen Auslegung und gesellschaftstheoretischen Anwendung des Dekalogs „mit zahlreichen Exkursen über Einzelfragen“ (Cohrs 1915, LXVII). Die weiteren Theologumena – Gesetz und Gebot, – Unterschied von Gesetz und Evangelium, – Rechtfertigung, – Gute Werke, – Sakramente (Melanchthon zählt – wie auch in ApolCA 13,4 – drei): Taufe, Buße und Absolution, Abendmahl des Herrn, nehmen nur das letzte Fünftel ein – alles in allem 248 Seiten (89 – 336) in der lateinisch-deutschen Synopse, die Cohrs (1915) bietet, und da sind Credo und Paternoster noch nicht einmal dabei. Die Catechesis puerilis ist also – mit den Worten von Bernd Schröder (2007, 443) – eher eine „katechetische Theologie“ (theologia catechetica)
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denn ein Katechismus, und dazu noch unvollständig, weil eine Glaubenslehre fehlt. Noch eindeutiger urteilte Ferdinand Cohrs: „So kann die ‚Catechesis puerilis‘ wohl als ein wertvolles Zeugnis aus Melanchthons ‚Loci‘-Vorlesungen gewertet werden, aber ein Zeugnis für Melanchthons Betätigung für den religiösen Jugendunterricht ist die ‚Catechesis‘ nicht […].“ (Cohrs 1915, LXXXIX) Es sind also in kleineren Entwürfen und Fragmenten sowie in den Schriften zur Kirchenordnung und zur theologischen Prüfungsordnung eher Katechismus-Elemente enthalten als in der Catechesis puerilis. Im Grunde ist die Feststellung nicht zu vermeiden, dass der Komplex „Katechismus“ im strengen beziehungsweise technischen Sinne des Wortes im Werk Melanchthons und in der Breitenwirkung eher am Rande anzusiedeln ist. Schon nach Zedler (1733, V, 1461) ist ein Katechismus „eigentlich eine mündliche Unterrichtung […] so durch Frage und Antwort geschiehet, deren man sich in der alten Kirche mit grossem Fleisse zu bedienen pflegte […] dass man auch diejenigen Schrifften, darinnen man kurtz und deutlich die Haupt=Stücke der Religion verfasset, Catechismos genennet hat. […] Wie denn auch, nachdem die neuen Spaltungen der Kirche entstanden eine jede Secte ihren Catechismum hat: die Catholischen, den Catechismum Tridentinum […] die Reformirten, den Heidelbergensem; die Lutheraner, den grossen und kleinen Catechismum Lutheri.“
3 Was bleibt? Nicht geblieben, weil er sich nicht durchgesetzt hat und seltsam schnell vergessen wurde, ist ausgerechnet der einzige Text, der nun tatsächlich als ein „Kleiner Katechismus Melanchthons“ bezeichnet werden könnte; der zwar nicht so heißt, aber wirklich vollständig und dazu noch in schöner Druckausgabe vorliegt, allerdings nur in einem einzigen erhaltenen Exemplar (in London) und außerdem in zwei Abschriften: Die Zehen Gebot. Der Glaube. Das Vaterunser / mit kurtzer erklerung Philippi Melanth. M.D.LIII. Es handelt sich um ein aus Melanchthons häuslich-familiärem Unterricht herausgewachsenes Lehrbüchlein von 62 Seiten Umfang. Auf 21 Doppelseiten befindet sich rechts der Text („Das […] verbietet / ordnet / ist geredet von […]“ oder ähnlich, meist auch einen biblischen Beleg in der Erklärung bietend), links eine Illustration dazu; auf zwei Doppelseiten rechts die Illustration, links der Text; auf sechs Doppelseiten nur Illustrationen; auf einer Doppelseite nur Text. Die in thematischer Hinsicht von Melanchthon selbst ausgewählten beziehungsweise konzipierten Illustrationen (dazu Cohrs 1915, CXIII – CVII) stammen meist aus der Cranach-Werkstatt und eine ganze Reihe davon „finden wir […] bereits in der zweiten Ausgabe von Luthers (Großem) Katechismus“ (Cohrs 1915, CXIV). Melanchthons Text enthält – wahrlich „aufs kürzest“ – die originalen Anliegen und Themen aus den Loci und der Confessio Augustana wie: rechte Gotteserkenntnis und rechte Lehre; rechte „Anrufung“ in der rechten, auf Christi Stimme hörenden „Versammlung“; Predigtamt; generell rechte „Ausrichtung“ der „Ämter“ etc. Dieser
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Text – vollständig, abgerundet und in schöner Edition am ehesten ein „Kleiner Katechismus“ Melanchthons zu nennen – blieb wie bemerkt jedoch wirkungslos. Und schließlich ist zwar auch ein „Torso“ geblieben, aber dennoch sein vielleicht bestes Werk im Genre des Katechismus, das Melanchthon 1527 im Alter von 30 Jahren geschrieben hat. Es wurde freilich wegen der Katechismen des Kollegen Luther ebenso vergessen wie andere Fragmente und Torsi und hatte allerdings auch einen ganz andern Ansatz als dessen Kleiner Katechismus. Es vermittelt: Etliche Sprüche, darin das ganze christliche Leben gefasst ist. Es handelt sich, aber eben nur fragmentarisch, um 22 Bibelsprüche aus dem Alten Testament – mit deutlichem Schwerpunkt bei den Psalmen (6), Sprüchen Salomos (6) und Jesaja (5), und 46 aus dem Neuen Testament – mit deutlichem Schwerpunkt bei Paulus (19) und Matthäus (12), zusammen 68. Sie sind geordnet nach den Lehrstücken: – Von der Buße […] und dem Anfang des Christlichen Lebens, – Vom Glauben, – Von der Übung des Glaubens und vom Gebet, – Von der Übung des Glaubens […] in zeitlichen Anliegen, – Von guten Werken (Gehorsam gegen die Obrigkeit, Nächstenliebe, Keuschheit), – Vom ehelichen Leben. Aus dieser Aufstellung – vor allem daran, welche klassischen Katechismusthemen hier gar nicht vorkommen – lässt sich ermessen, dass Melanchthon etwas ganz anderes versucht, aber leider unter der Dominanz der Katechismen Luthers abgebrochen und nicht mehr aufgenommen hat, nämlich eine religiöse Lebensschule auf ausschließlich biblischer Grundlage, wie überhaupt im Vergleich mit Luthers Kleinem Katechismus auffällt, dass Melanchthon häufig expressis verbis Bibelworte in seine KatechismusTexte hineinschrieb. In diesen Zusammenhang gehört Melanchthons Bevorzugung der Proverbia Salomonis für den Unterricht, weil er Spr 3 – 9 für eine inner-alttestamentliche Auslegung des Dekalogs ansah. Gerade bei den ‚Sprüchen‘ […] ist es sehr bedauerlich und fast unbegreiflich, daß sie so still untergegangen sind. Melanchthon muß auch selbst für seinen Gedanken […] den religiösen Unterricht biblisch zu gestalten, nachher den Sinn verloren haben; sonst hätte er sein Buch nicht so verschwinden lassen. […] Melanchthons ‚Sprüche‘ sind das erste rechte deutsche Spruchbuch der evangelischen Kirche, und es läßt sich nicht ausdenken, welchen Einfluß es auf die Gestaltung des religiösen Jugend- und Volksunterrichts gehabt hätte, wenn es sich durchgesetzt hätte. (Cohrs 1915, XXIX)
Hier wurde ein Faden liegen gelassen, den für die Aufgabe einer christlichen Menschen-Bildung und Menschen-Formung neu zu „zwirnen“ nicht ohne Reiz wäre – nach all den bibelexegetischen Errungenschaften der west-östlichen Theologiegeschichte und den Inspirationen aus der Weite und Vielfalt der Ökumene des 20. und des 21. Jahrhunderts. Und zwar wäre es deshalb nicht ohne Reiz, weil ein Glaubens- und Lebensbuch, das auf Existenz- und Zeitfragen ausschließlich biblische „Antworten“ böte, selbst-
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redend weniger als partikular-kirchlich denn als inter-konfessionell, als universalchristlich, als „ökumenisch“ im wahrsten Sinne des Wortes wahrgenommen und gebraucht (und somit gelernt) werden könnte als ein Lehr- und Lernmaterial, das ein „dogmatisches“ Erläuterungsfundament aufweist. Die Fingerzeige, die Melanchthons vielfältiges katechetisches Werk für einen wahrhaft „evangelischen“, Evangeliumsgemäßen Katechismus bereithält, bleiben bedeutsam und aktuell.
Quellen Cohrs, Ferdinand. 1915. Philipp Melanchthons Schriften zur Praktischen Theologie. Teil I: Katechetische Schriften, mit einer Nachbildung des Kleinen Katechismus von 1549. SupplMel 5/1. Leipzig. Schmidt, Günter R. Hg. 1989. Philipp Melanchthon. Glaube und Bildung. Texte zum christlichen Humanismus. Lateinisch/Deutsch. Stuttgart.
Literatur Bayer, Oswald. 1994. Theologie. HST 1. Gütersloh. Bornkamm, Heinrich. 1961. Das Jahrhundert der Reformation. Göttingen. Fischer, Konrad. 2009. „Wie eine Schar fahrender Scholaren. Eckdaten zum Kirchenverständnis Philipp Melanchthons.“ In Berufen, die eine Kirche zu sein – Beiträge aus Baden, hg. v. Evangelischen Oberkirchenrat, Abt. Mission und Ökumene, 58 – 63. Karlsruhe. Hartfelder, Karl. (1889) 1964. Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae. Monumenta Germaniae paedagogica 7. (Berlin) unv. Nachdr.: Nieuwkoop. Korsch, Dietrich. 1994. „Bildung und Glaube. Ist das Christentum eine Bildungsreligion?“ NZSTh 36: 190 – 214. Schröder, Bernd. 2007. „Katechetik.“ Enzyklopädie der Neuzeit 6: 442 – 444. Zedler, Johann Heinrich. 1733. Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Bd. V: Catechismus, oder Catechesis. Halle a. d.S./Leipzig.
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1 Einleitung: Literatur und andere Werke Ein umfangreiches schriftstellerisches Œuvre ist aus Melanchthons Feder überliefert. Die voranstehenden Kapitel bieten einen Einblick in die unterschiedlichen Gattungen und Themen seiner Publikationen. Melanchthon führte einen regen Briefwechsel, verfasste theologische Schriften exegetischen und dogmatischen Inhalts, er publizierte innerhalb der Artistenfakultät Lehrbücher und Kommentare zu einer großen Anzahl lateinischer und griechischer Autoren, stellte Schülern und Studenten zu den wichtigsten wissenschaftlichen Disziplinen seiner Zeit Basislehrbücher zur Verfügung; Gutachten, Deklamationen, Universitäts- und Schulordnungen wurden von ihm (mit) verfasst, mit beachtlichem Einfluss beteiligte er sich an Martin Luthers Bibelübersetzung. Diese Texte und noch zahlreiche andere wurden von ihm zum Teil oft überarbeitet, vielfach in immer wieder neuen Auflagen gedruckt und gelesen. Angesichts dieses breiten Spektrums schriftstellerischer Tätigkeit nimmt Literatur im engeren Sinn einen bescheidenen Platz in seinem Lebenswerk ein. Melanchthon verstand sich nicht als Schriftsteller, der sich der Muse widmete. Hierzu fehlte ihm naturgemäß die Zeit, aber auch das Interesse. Seine Leidenschaft gehörte den Wissenschaften. Unter seinen Texten findet sich kein literarisches Werk größeren Umfangs: Er verfasste kein Epos, wie viele Humanisten seiner Zeit, kein Lehrgedicht wie beispielsweise Giovanni Pontano, es gibt trotz seiner großen Wertschätzung für die antiken Dramen keine Tragödien oder Komödien Melanchthons, wie sie zum Beispiel der Förderer seiner jungen Jahre, Johannes Reuchlin, schrieb. Umfängliche Gedichtzyklen (wie etwa Conrad Celtis‘ Amores) sucht man vergeblich. Dennoch: Einige schmale Bändchen griechischer und neulateinischer Epigramme sind trotz des erklärten Desinteresses Melanchthons gedruckt worden. Sieht man vom vergleichsweise geringen Umfang der Dichtung Melanchthons ab, kommen ihr doch Qualitäten zu, die von Zeitgenossen vielfach besonders gewürdigt wurden, auch wenn Melanchthon nie in einen poetischen Wettkampf mit neulateinischen Poeten wie Helius Eobanus Hessus, Johannes Stigel oder Adam Siber eingetreten wäre (CR 9, 957; MBW 9120; CR 9, 939 – 940; MBW 9085). Ebenso wurden von Zeitgenossen noch zu Lebzeiten und posthum Sammlungen von Erzählungen und Sprüchen Melanchthons angelegt, die bisher nur teilweise ediert sind. Diese teils mündlich, teils schriftlich geäußerten Geschichten werden im Anschluss an Melanchthons lateinische und griechische Dichtung als literarische Äußerungen des Reformators behandelt.
DOI 10.1515/9783110335804-020
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2 Melanchthon als Dichter 2.1 Epigramme als literarisches Nebenprodukt Melanchthons neulateinische und griechische Gedichte verdienen bei einer Würdigung seiner Person und seines Werkes auch heute Beachtung, gehören sie doch zu den selbstverständlichen sprachlichen Ausdrucksformen, die er von frühster Jugend an bis wenige Tage vor seinem Tod wählte. Aus dieser Zeit stammen ca. 600 lateinische und ca. 50 griechische Epigramme in diversen Gattungen,Versmaßen und zu einer Vielzahl von Themen. Auch wenn Melanchthon keine eigene dichtungstheoretische Schrift verfasste und sich in manchen Äußerungen scheinbar abwertend über seine eigenen Verse äußerte, brachte er ihnen doch ein nicht geringes Interesse entgegen, wie die wiederholte Thematisierung im Briefwechsel, das Versenden einzelner Epigramme und diverse Druckaufträge zeigen. In Übereinstimmung mit seiner eigenen Einordnung der Epigramme lassen sie sich als ein durchaus beachtenswertes Nebenprodukt seines Lebenswerkes qualifizieren. Dabei fand er verschiedene Charakterisierungen seiner Gedichte, die sie als schnell dahingeworfene Scherze und Spielereien (nugae, ineptiae; praeludere), gekennzeichnet von einer gewissen Ungeschliffenheit (rudiores), Traurigkeit (tristes) und Beliebigkeit (qualecunque), beurteilen. Solche Formulierungen sind auf den ersten Blick abwertend und wurden bei der Bewertung Melanchthons als Dichter im 19. und bis zu den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ernst genommen, zumal wenn die summarischen Betrachtungen der Dichtung Melanchthons von Biographen (z. B. Carl Schmidt, Karl Hartfelder) und Literaturhistorikern (z. B. Georg Ellinger) von einem romantischen Dichtungsverständnis, das nach Innerlichkeit und Stimmung suchte, geprägt wurden. Eine angemessene Beurteilung, die beim Selbstverständnis von Dichtung im Humanismus ansetzt, kommt jedoch zu einer anderen Einschätzung. Die scheinbar disqualifizierenden Bemerkungen des Dichters entsprechen zunächst einmal der typisch humanistischen Bescheidenheitstopik, wie sie ähnlich auch von anderen zeitgenössischen Autoren über ihre Werke gerne verwendet wurden. Darüber hinaus handelt es sich um Formulierungen, mit denen antike Autoren wie Catull, Vergil, Horaz, Ovid oder Statius ironisch über ihr Werk gesprochen haben, sie sind demnach Ausweis humanistischer imitatio der antiken Vorbilder. Vor allem zwei Merkmale kommen in Melanchthons an der Antike orientierten Topik zum Ausdruck. Melanchthon inszenierte sich als Autor, der keine anspruchsvollen Großdichtungen (z. B. Epen) beabsichtigte, und er stilisierte sich als Stegreifdichter, der immer wieder sich bietende Gelegenheiten nutzte, um einige Verse zu Papier zu bringen, ob auf der Reise (CR 7, 962; MBW 6383; CR 5, 679; MBW 3452), nachts (CR 7, 956; MBW 6368; CR 7, 959; MBW 6370) oder als Zeitvertreib in zum Teil erzwungenen Ruhestunden inmitten religionspolitischer Kontroversen auf Reichstagen (CR 4, 149 – 150; MBW 2654; CR 4, 566; MBW 2759).
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Die literarisch gebildeten Leser, Melanchthons Freunde, Kollegen, Schüler und die Adressaten der Widmungsbriefe, sollten also innerhalb eines gemeinsamen humanistischen, an der Antike orientierten Deutungshorizonts Melanchthon als Dichter ernst nehmen. Bescheidenheit und Anspruch waren miteinander verbunden. Dem Dichter lag an seinen Versen (sonst hätte er sie nicht wiederholt zum Gegenstand der Reflexion im Briefwechsel gemacht), er kokettierte mit seinen poetischen Fähigkeiten, er inszenierte sich als Autor, der gern freie Stunden zum Dichten nutzte, wies ihnen aber gleichzeitig nicht ohne Selbstironie ihren Platz als Nebenprodukt seines Tagewerks zu. Ein grober Überblick über die thematische Vielfalt und die Gattungen der Melanchthonepigramme bestätigen diese Interpretation der Selbstdarstellung. Da gibt es eine Reihe von „Gebrauchslyrik“, wie Vorlesungsankündigungen, persönliche Widmungen für Studenten in ihren Büchern oder Gebeten für seine schola domestica. Melanchthon dichtete zu verschiedenen akademischen und schulischen Anlässen (z. B. zum Vortrag anlässlich der Verleihung des Doktorgrades in der Medizinischen Fakultät), machte verschiedentlich wissenschaftliche Themen zum Inhalt eines Epigramms (er rühmte die rhetorische und moralische Bedeutung antiker Geschichtsschreibung, widmete sich den Grundlagen der Physik oder Musik; hierzu zählen auch die Gedichte astronomisch-astrologischen Inhalts). Die Beschäftigung mit antiken Autoren regte ihn wiederholt zu eigenen Nachdichtungen ausgewählter Passagen an, Aufführungen antiker Dramen durch seine Schüler begründete er in an Terenz’ Komödienprologen orientierten eigenen Prologgedichten. Inhaltlich und thematisch beschränkte sich Melanchthon nicht auf die dichterische Verarbeitung klassischer antiker Themen und Wissenschaften. Ein ebenso großes Interesse brachte er biblischen Themen und christlich-reformatorischen Inhalten entgegen. Hierzu sind eine beträchtliche Anzahl von Bibelnachdichtungen in Form von Paraphrasen zu rechnen, eine Fülle von Gebeten zu bestimmten Anlässen. Daneben treten gelegenheitsgebundene Dichtungen: zum Tagesgedächtnis, zum Geleit, zur Hochzeit, zu Tod und Begräbnis, als Buchdedikation und Städtelob. Schließlich sind seine Epigramme zu nennen, die den Charakter eines Briefes tragen. Diese inhaltliche Breite präsentiert einen Autor, der nicht nur zur sprachlichen Übung Verse verfasste, sondern sich ganz selbstverständlich und gern in der besonderen humanistischen Ausdrucksform der Epigramme äußerte.
2.2 Dichten bei Gelegenheit Melanchthons Gedichte entstammen nicht einer Idee, einer Inspiration, die ihn zum Schreiben drängte, sondern sie sind nahezu ausnahmslos von bestimmten Anlässen motiviert. Das gilt natürlich für Gedichte zu akademischen Anlässen; auch Vorlesungen über ausgewählte Stellen antiker Autoren wurden – nach Wittenberger Gewohnheit – in Versform am Aushang angekündigt und die zu behandelnden Werke knapp charakterisiert; die intensive Auseinandersetzung mit Passagen griechischer
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Autoren, die im Unterricht interpretiert wurden, führte gleichermaßen zu einer dichterischen Bearbeitung dieser Stellen wie seine aktuellen exegetischen Arbeiten am Bibeltext oder die Behandlung einer Perikope in seiner sonntäglichen Bibelstunde für ausländische Studenten; politische und religionspolitische Ereignisse oder biographische Erlebnisse regten des Öfteren zu poetischen Reflexionen an. Daneben gibt es eine Reihe von Gedichten, die einer engeren Definition von Gelegenheitsdichtung genügen. Hierin ist Melanchthon ein typischer neulateinischer Dichter, denn Kasualpoesie gehörte doch zu den überaus zahlreichen literarischen Produkten der Humanisten, die sie teils aus Verpflichtung gegenüber gesellschaftlichen Normen, teils aus persönlicher Anteilnahme verfassten. Bei Geburtstagen, Hochzeiten, dem Tod, der Abreise, der Verleihung akademischer Grade, bei besonderen Tagen im Jahr, Veröffentlichungen eigener und fremder Werke trat gattungsgemäß auch bei Melanchthon neben die Gelegenheit als unmittelbarer Anlass die besondere Adressatenorientierung. Das Epigramm wurde sichtbarer Ausdruck der persönlichen Beziehung des Verfassers zu der Person, der das Gedicht gewidmet ist. Zudem war es für die Adressaten eine besondere Ehre, durch den gelehrten und weithin bekannten Wittenberger Professor gewürdigt zu werden, gehörten sie doch damit zu einem Kreis von Menschen, die seine besondere Aufmerksamkeit erhielten.
2.3 Dichtung und Öffentlichkeit Damit rückt Melanchthons griechische und lateinische Dichtung in die Öffentlichkeit. Humanistische Dichtung gehörte grundsätzlich zu den Kommunikationsmitteln der Gelehrten, der res publica litteraria. Sie war auch bei Melanchthon trotz seiner gegenteiligen Äußerungen nicht private Dichtung, nicht bloße „Fingerübung“, die achtlos in der eigenen Schublade liegen sollte. Dabei lassen sich verschiedene Aspekte öffentlicher Kommunikation wahrnehmen. Insbesondere die Gelegenheitsdichtung Melanchthons war naturgemäß in typisch humanistischer Manier für die literarische Öffentlichkeit bestimmt. Grabepitaphe sollten gelesen werden, vor allem wenn sie wie zum Beispiel die Würdigung für Friedrich den Weisen in der Wittenberger Schlosskirche neben seinem Bronzeepitaph an prominenter Stelle zu stehen kamen (CR 10, 502– 503). Bildgedichte wurden zusammen mit der porträtierten Person oder der abgebildeten Stadt gedruckt und begleiteten als literarische Würdigung die bildliche Darstellung, ob als Einblattdruck oder später in Sammelbänden. Melanchthon pries etwa Wittenberg als kleine, aber dennoch in ihrer Bedeutung für die Reformation herausragende Stadt (CR 10, 590) oder stellte besondere Charakterzüge Kurfürst Johann Friedrichs in einem Lobgedicht heraus, die ein Bild nicht ausdrücken konnte (CR 10, 608 – 609). Dedikationen eigener und fremder Werke wurden in der Regel als paratextliches Element zu Beginn des Buches mit anderen Widmungen abgedruckt, sodass die poetische Empfehlung, unabhängig von der tatsächlichen Lektüre, doch der Gesamtheit der Leser zugänglich gemacht wurde (z. B. CR 10, 632). Interessanterweise sind es Melanchthons theologisch-reformatorische Werke, wie zum Beispiel
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seine Kommentare des Römer- und des Kolosserbriefs, die er in humanistischer Ausdrucksform begleitete (CR 10, 533; CR 10, 632; CR 20, 767). Angesichts der im reformatorischen Umfeld nicht unumstrittenen Schultheateraufführungen antiker Dramen wandte sich Melanchthon gezielt mit seinen lateinischen, an Terenz orientierten Prologen an die gelehrten Wittenberger Zuschauer und bat sie unter Verweis auf den didaktischen Nutzen des darstellenden Spiels um ihre Aufmerksamkeit (CR 10, 496 – 502; CR 18, 331– 334; 903 – 904; 1141– 1142; CR 19, 655 – 788). Erneut wird deutlich, dass Melanchthon einen guten Teil seiner Gedichte bewusst für die Öffentlichkeit, zum Lesen oder Hören verfasst hat. Aber nicht nur Kasualdichtung im eigentlichen Sinn, sondern auch eine Vielzahl anderer Gedichte verfasste Melanchthon in der Absicht, dass sie gelesen wurden. Sein Briefwechsel enthält wiederholt den Hinweis auf eine literarische Beilage. Dabei sind es nicht nur wenige ausgewählte Adressaten, an die er sich wendete. Alle Empfänger lassen sich einem Kreis von Schülern oder Kollegen Melanchthons zurechnen, die humanistisch gebildet waren, ihn in vielen Fällen während des gemeinsamen Studiums oder als Studenten in Wittenberg kennengelernt haben und auch nach ihrer Ausbildung noch in persönlichem Kontakt zu ihm standen. Auffallend viele literarisch gebildete Theologen (als Dozenten an Universitäten, als Reformatoren oder Pastoren im kirchlichen Dienst) zählen zu seinen Adressaten, daneben stehen Universitätskollegen unterschiedlicher Fakultäten und Städte, Studenten aber auch Bekannte mit politischen Ämtern und Aufgaben. Bei allen konnte Melanchthon wohl aufgrund ihrer Bildung und ihrer Freundschaft und Bekanntschaft ein Interesse an seinen Werken voraussetzen. Dasselbe gilt für „Briefgedichte“, die nicht als literarisches Beiwerk die eigentliche Korrespondenz begleiteten, sondern in denen die Mitteilung selbst in poetische Form gefasst ist. Ein Teil dieser Gedichte trägt spielerisch-scherzhaften Charakter, sie sind humanistische Kleinkunst, zum Teil mit selbstironischer Einordnung des eigenen poetischen Talents, wie zum Beispiel Einladungen zum gemeinsamen Frühstück oder Klagen darüber, dass der Dichter nicht zum Treffen geladen wurde. Ein Teil ist aber auch Brief mit „offiziellem“ Inhalt, in dem Melanchthon auf die artifizielle metrische und sprachliche Ausgestaltung Wert legte. Der Adressat konnte die aufwendige literarische Ausdrucksform als Ausdruck besonderer Wertschätzung und Aufmerksamkeit des Dichters verstehen, zumal es für derartige Briefgedichte in der Regel einen unmittelbaren Anlass gab (etwa ein Treffen auf einem Reichstag). Seine derartige poetische Korrespondenz war freilich auf den Augenblick beschränkt und wurde nicht über einen längeren Zeitraum oder eine größere Distanz hinweg geführt. Exemplarisch lässt sich diese Art des gelehrten poetischen Gesprächs auf dem Wormser Religionsgesprächs 1540/41 fassen, wo – wie auf Reichstagen des 16. Jahrhunderts üblich – die humanistische Elite sich neben den offiziellen Tagungen auch literarisch betätigte, was zwei Sammlungen von Epigrammen Melanchthons und einiger Freunde mit mehr als 40 Gedichten im Anschluss an das Treffen belegen. Auch wenn Melanchthons Desinteresse an einer Publikation seiner Gedichtsammlung ernst zu nehmen ist, macht der beschriebene Grad der Öffentlichkeit seiner
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Gedichte deutlich, dass seine Gedichte sehr wohl von einer mehr oder weniger großen Zahl Gebildeter gelesen werden sollte. Diese Feststellung ist um die Beobachtung zu ergänzen, dass eine kleine Anzahl an Epigrammen eigens für die Publikation vorgesehen war. Hierzu gehören neben den Epitaphien, deren Gravur in Stein oder Bronze selbstverständlich vorausgesetzt wurde, von ihm erteilte Aufträge zu Einblattdrucken für eine Hand von Gedichten. In einem Fall genehmigte er eine Publikation unter seinem Namen (CR 6, 396; MBW 4594). Melanchthons griechische und lateinische Dichtung ist demnach als humanistische Ausdrucksform zu verstehen, in der an der antiken Literatur geschulte Gelehrte miteinander kommunizierten. Das einerseits große und gleichzeitig beschränkte Netzwerk der Adressaten, das zwangsläufig vorhandene, aber doch beschränkte Interesse an einer Publikation der Gedichte präsentiert Melanchthon als selbstbewussten Dichter, dem seine Epigramme wichtig waren, ohne dass er mit den großen Poeten seiner Zeit wetteifern wollte.
2.4 Rhetorik und Poesie Dichtung als Gelegenheitsdichtung besitzt schon aufgrund ihres kommunikativen Grundgedankens, aber auch wegen vorhandener Gattungsmerkmale rhetorische Qualitäten. Hierin berührt sich Gelegenheitsdichtung mit einem einflussreichen, im Anschluss an Cicero, Horaz und Quintilian formulierten humanistischen Dichtungsverständnis, nach dem Poesie als Form der Redekunst verstanden wurde, die nach Regeln und durch Nachahmung von antiken Beispielen erlernt werden kann. Diese Idee korrespondierte auch mit Melanchthons „Dichtungslehre“ in ihrer primären Ausgestaltung, denn ein beträchtlicher Teil seiner programmatischen Äußerungen zum Schreiben von Versen steht im pädagogisch-didaktischen Kontext des Spracherwerbs, den er insbesondere durch Übungen in metrisch gebundener Sprache und die rhetorische Ausgestaltung durch Wörter und Figuren förderte. Durch das Schreiben von Versen in Nachahmung antiker Vorbilder sollten Schüler und Studenten gleichzeitig analytische Urteilsfähigkeit bei der Lektüre von Texten erlernen und schließlich moralische Menschenbildung erhalten (z. B. MSA 3, 54– 56; CR 17, 658). Natürlich geht es in dem Zusammenhang nicht um eine Ausbildung zum Poeten. Echtes Dichten setzt nach Melanchthon vielmehr Talent voraus – eine Schöpfungsgabe Gottes (CR 9, 939; MBW 9085). Melanchthons eigene poetische Tätigkeit folgte dem rhetorischen Grundverständnis von Dichtung. Die in seinen Werken zur Rhetorik formulierten Grundsätze sprachlichen Gestaltens fanden ihren Niederschlag in seiner eigenen Dichtung in poetisch-stilistischer und rhetorischer Ausschmückung. Insofern sind seine Epigramme zum Teil sehr artifiziell: Melanchthon entwickelt seine Gedankenführung gern in einer logischen Komposition, in klarer Gliederung, in wohl gewähltem Vokabular, angedeuteter Bildhaftigkeit auf der Ebene des Vergleichs oder der Metonymie. Dabei gelingen ihm in manchem Epigramm starke Bilder von hoher Aussagekraft (z. B.
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CR 10, 565 – 566 [V.1– 2]: Felsen im Meer trotzen heftigen Stürmen – als Vorbild für die Reformatoren gegen Angriffe der Kontroverstheologen). Sprachliche Mittel, kunstvoll gestaltete Verse, Zitate der antiken Literatur lassen Kunstwerke von hoher Anschaulichkeit und Emotionalität entstehen (z. B. CR 10, 576 über die grauenvolle Belastung der Religionsgespräche; CR 10, 565 – 566 mit Entrüstung über Johannes Eck und andere katholische Theologen). Andererseits hatte die Kürze sehr vieler Melanchthongedichte (es gibt eine ganze Anzahl von Gedichten mit weniger als zehn Versen) natürlich auch Auswirkungen auf den poetischen Gestaltungsreichtum der Gedichte. In nur wenigen Versen lässt sich Anschaulichkeit oft nur bedingt erzeugen und die metaphorische Ausgestaltung eines Gedankens oder eine facettenreiche Entfaltung eines Ereignisses ist so kaum zu verwirklichen. Bilder, Metaphern,Vergleiche beschränken sich sehr oft nur auf zwei Verse. Hinzu kommt als Stilmerkmal Melanchthonscher Dichtung ein starkes Bemühen um Klarheit des Ausdrucks und der Gedankenführung (perspicuitas). Das äußert sich in seinen Gedichten darin, dass metaphorische Sprache gern auf Bereiche beschränkt bleibt, die auch in alltäglicher Prosa vorkommt, wenn er etwa Lichtmetaphorik verwendet. Regelmäßig ist zu beobachten, wie bildliche Ausdrücke sofort durch das eigentlich gemeinte Wort erklärt werden. Auch vom Aufbau der Gedichte her wirken sie zum Teil sehr stereotyp. Hierfür können die Epitaphe mit sehr formelhaften Wendungen angeführt werden. Was sich negativ bewerten lässt, kann gleichzeitig als „Markenzeichen“ des Dichters Melanchthon betrachtet werden, gehörte es sich für ihn einfach, in zum Teil festgefügten Wendungen einem Menschen auf diese Weise die letzte Ehre zu erweisen (CR 9, 939 – 940; MBW 9085). Das Merkmal der Rhetorisierung kennzeichnet natürlich – wie eingangs gesagt – auch okkasionelle Dichtung. So haben sich schon in der Antike bestimmte literarische Konventionen herausgebildet, nach denen beispielsweise ein Hochzeitspaar zu feiern oder ein Toter im Gedicht zu würdigen ist, naturgemäß gibt es bestimmte Inhalte, die bei der Geburt eines Kindes oder der Widmung eines Buches zu berücksichtigen sind. Manche dieser literarischen und durch die Gelegenheit geprägten Muster wurden auch in Lehrbüchern als Regeln festgehalten. Melanchthon kannte die vorgegebenen Topoi – das lässt eine Durchsicht seiner Kasualdichtung erkennen –, arbeitete aber nicht einfach einen festgelegten Katalog relevanter Merkmale ab. Vielmehr setzte er in der dichterischen Praxis eigene inhaltliche und gestalterische Akzente. Da seine christlich-theologischen Überzeugungen – wie im Fall der Hochzeitsgedichte – im Widerspruch zu erotisch aufgeladenen und mythologisch überhöhten Inhalten standen, ließ er diese beiseite und ersetzte sie durch das Lob der reinen Liebe und der christlichen Ehe (z. B. CR 10, 628; CR 10, 649 – 650). Hierin war er (z.T. bis in einzelne Formulierungen hinein) für die Gattung des neulateinischen Hochzeitsgedichts im von Wittenberg geprägten reformatorischen Lager einflussreich.
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2.5 Imitatio antiker Literatur Zu den Grundprinzipien humanistischer Bildung gehört die intensive Auseinandersetzung mit der Antike. Die Rezeption der klassischen Autoren wurde dabei zum Vorbild für die eigene literarische Produktion. Die Nachahmung (imitatio) der antiken Texte fand auf mehreren Ebenen statt. Zunächst ist die sprachliche Ebene zu betrachten. Die zur Gewohnheit gewordene Klassikerlektüre prägte natürlich die lateinische Sprache Melanchthons – in Prosa wie in Dichtung. Auffällig ist diese Selbstverständlichkeit im Fall der Bibelnachdichtungen, wenn besondere Ausdrücke der Vulgata durch „klassisches Latein“ ersetzt werden. Immer wieder fallen wörtliche Zitate der antiken Autoren auf. Dies wird zu einem guten Teil durch die regelmäßige Lektüre bedingt sein. An manchen Stellen zeigt sich aber auch eine bewusste Anleihe bei einem der lateinischen Dichter, durch die gezielt eine Botschaft transportiert werden soll. Ganz exponiert steht zu Beginn des Geleitgedichts zu seinem naturphilosophischen Werk Initia doctrinae physicae ein Vergilvers, mit dem dieser auf Lukrez und sein Lehrgedicht über die epikureische Lehre verwies: „Felix, qui potuit rerum cognoscere causas.“ Natürlich folgte Melanchthon in seinem Buch über die Physik nicht den materialistischen Annahmen Epikurs, weswegen er in dem kleinen Epigramm auch Gott als Schöpfer der Welt pries (CR 10, 539; vgl. Verg. georg. 2, 490). Anspielungen gibt es jedoch nicht nur auf der Wortebene. Mit ihr ist die Verwendung von Motiven aus der paganen antiken Literatur oder der Bibel verknüpft. Vergils Aeneis und Georgica boten für die Charakterisierung der Herrschaftszeit Friedrichs des Weisen programmatische Formulierungen, die sie als Goldenes Zeitalter kennzeichneten (CR 10, 502– 503; vgl. Verg. Aen. 6, 791– 795,45 – 46; 8, 314– 326; georg. 2, 539). Vertraut ist Melanchthon auch mit der antiken Liebesdichtung, wobei er etwa catullische Motivik einer Liebesbeziehung dadurch relativiert, dass er sie auf den konkreten Rahmen der Ehe bezieht (z. B. CR 2, 388; MBW 1083; vgl. Catull. 5, 7– 13; 62, 49 – 58). Bisweilen formulierte der Dichter seine Epigramme im Ganzen oder einzelne Passagen auch im Anschluss an literarische Vorlagen. Verschiedene Methoden standen ihm dafür zur Verfügung. Es gibt Gedichte, die in Thema und Duktus einer Vorlage nachempfunden sind: Sein Epigramm zur Einleitung der eigenen Pindarübersetzungen ahmt Horaz’ Pindarode nach (CR 19, 191– 192; vgl. Hor. carm. 4, 2), Verse über die Lektüre Homers als Briefgedicht schließen sich Horaz’ Lollius-Epistel an (CR 10, 490; vgl. Hor. carm. 1, 2). In dem Zusammenhang sei auch auf die oben dargestellte Übernahme vorgegebener Gattungstraditionen im Rahmen der Gelegenheitsdichtung verwiesen. Eine besondere Form der imitatio sind seine Paraphrasen und metrischen Übersetzungen paganer griechischer und biblischer Texte. Die lateinischen Versübersetzungen stehen im Kontext der akademischen Arbeit und der didaktischen Vermittlung griechischer Autoren, sie sollen in der Regel keine eigenständigen Texte von besonderer poetischer Qualität sein, sondern sie gehören zu den methodischen Schritten seiner Interpretation. Gleichwohl gibt es Gedichte, in denen Melanchthon
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einem bestimmten Gedanken besondere Aufmerksamkeit schenkte, weswegen er ihm eine eigene dichterische Ausgestaltung zukommen ließ. Ähnliches gilt für die Bibeldichtung, in der der Dichter das biblische Thema beziehungsweise den Bibeltext im humanistischen Medium neulateinischer Dichtung verarbeitete. Mythologische und biblische Geschichten hat Melanchthon auch als ausdrückliche Vergleiche, Allegorien oder Analogien in seine Epigramme integriert.
2.6 Verwendung metrischer Formen Humanistische Dichtung weist sich auch durch ihre Form als klassische an der Antike orientierte Dichtung aus. Melanchthon hatte selbst eine Vorrede zu Jakob Micyllus’ wissenschaftlicher Erklärung der Metrik verfasst (CR 3, 756 – 760; CR 20, 243; MBW 2255) sowie in seinen Grammatiken der griechischen und lateinischen Sprache zwei eigene Abhandlungen über die wichtigsten prosodischen Regeln abgedruckt (CR 20, 16 – 28; 375 – 390). In seinen griechischen Gedichten verwendete er nach der Übersicht von Stefan Rhein (1987, 43) überwiegend elegische Distichen oder Einzeldistichen, selten den Hexameter, ebenso den iambischen Di- und Trimeter, wobei er die Iamben offensichtlich in seinen jungen Jahren aufgrund ihrer Variationsmöglichkeiten, durch die das Dichten erleichtert wurde, bevorzugte. Die große Mehrheit der lateinischen Epigramme verfasste er ebenfalls in elegischen Distichen, mit Abstand folgt hexametrische Dichtung. Darüber hinaus gibt es noch eine ganze Reihe von Epigrammen in anderen klassischen Metren: Phaläkeische Elfsilbler, der iambische Senar, Iamben, sapphische Strophen, akatalektischer iambischer Dimeter, katalektischer iambischer Dimeter zeigen einen Humanisten, der offensichtlich Freude daran hatte, zu variieren, vielleicht auch zu experimentieren, der dabei auch formal als Dichter kleiner Dichtungen schrieb. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die Gedichte, in denen Form und Inhalt miteinander korrespondieren. Die Verwendung der von Catull gern benutzten Hendekasyllabi in Versen, die sich inhaltlich an ihn anlehnen (CR 10, 482), ist natürlich überaus passend. Dasselbe gilt für die Theaterprologe im iambischen Senar oder einen poetischen Angriff auf katholische Theologen in Iamben, dem klassischen Metrum der Invektive (CR 10, 565 – 566).
2.7 Funktion der Dichtung Der Vielfalt der Epigramme Melanchthons entsprechen unterschiedliche Funktionen dieser Dichtungen, die sich nicht scharf voneinander trennen lassen, aber doch in unterschiedliche Kategorien gehören. Ein Teil der Gedichte folgt pädagogisch-didaktischen Zielen. Melanchthon dichtete als Praeceptor im unterrichtlichen Kontext seiner Hausschule, hier setzte er sein eigenes Programm um und wollte mit seinen Gedichten den Schülern, die zur Ausbildung ihrer Sprach- und Urteilskompetenz Verse schreiben sollten, mit gutem Beispiel vorangehen. Einige Gedichte dienten als Vorlage für
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Schüler (z. B. MBW.T 3, 808,552– 553,8 – 10; CR 1, 1082; CR 9, 957; MBW 9120), manchmal verschickte er seine Verse mit der Bitte an den Empfänger, doch selbst bessere Variationen zu verfassen (z. B. MBW.T 2, 334,152,5 – 6 mit CR 10, 491). Nicht in jedem Fall ist damit automatisch ein Urteil über die Qualität seiner Epigramme verbunden. Dichten hatte für Melanchthon auch psychologische Bedeutung. So fand er gerne Trost und Ablenkung bei dieser Übung (MBW.T 2, 482,448,9 – 10; CR 1, 809; CR 5, 679; MBW 3452). Zahlreiche Gegenwartsbezüge in seinen Epigrammen oder die in Versen formulierten Gebete um Bewahrung sind ein Beleg hierfür. Doch nicht nur er selbst, sondern auch seine Leser sollten getröstet werden (MBW 7434 zu CR 10, 628 – 629). Damit verbunden ist der Zweck, durch das Schreiben und Lesen von Gedichten für Unterhaltung zu sorgen. Zum einen war Dichten für den Reformator Zeitvertreib in den wenigen freien Minuten, die für ihn zum otium, zu einer Zeit der Muße wurden (CR 4, 149 – 150; MBW 2654). Natürlich stilisierte sich Melanchthon nach antikem Vorbild auf diese Weise auch als Gelehrter, der die wenigen Momente, die nicht mit umfangreichen Pflichten ausgefüllt waren, mit intellektuellem Anspruch zu nutzen wusste. Zum anderen hatte er – trotz aller anderslautender Beteuerungen – durchaus ein Interesse daran, dass seine Leser sich an seinen Versen erfreuten, wie er mehrfach im Briefwechsel anmerkte (z. B. CR 8, 176; MBW 7027; CR 8, 177; MBW 7030). Gelehrte Dichtung mit intertextuellen Bezügen zu bestimmten Stellen der antiken paganen oder biblischen Literatur, die es zu dechiffrieren galt, mythologische und biblische Geschichten, sprachlicher Gestaltungsreichtum – das alles sollte dem gleichermaßen humanistisch gebildeten Leser Vergnügen bereiten. Melanchthon folgte darin dem Diktum Horaz’, wonach die Aufgabe der Dichter darin bestehe, zu nützen und zu erfreuen („aut prodesse volunt aut delectare poetae“; Hor. Ars. 333). An dieser Stelle ist auch die rhetorisch-kommunikative Funktion humanistischer Dichtung zu berücksichtigen. Und Melanchthon dichtete als poeta doctus, der davon ausgehen konnte, dass innerhalb der res publica litteraria ein gemeinsamer Verständnishorizont bestand. Auf diese Weise trat er auch in einen intellektuellen Austausch, wenigstens innerhalb des oben beschriebenen Wittenberger Schüler- und Kollegenkreises. Eine bedeutende Rolle hatte dann auch die religiöse Komponente der Dichtung. Was er als wichtiges Merkmal bei anderen Dichtern hervorhob, setzte er auch in der Praxis des eigenen Dichtens um. Dies zeigt sich zum einen natürlich an der großen Zahl von Gedichten mit biblisch-religiösen Inhalten, an metrischen Psalmenparaphrasen und Bibelauslegungen in Versform, auch daran, dass viele seiner Epigramme Gebetspassagen enthalten. Für Melanchthon war die humanistische Ausdrucksform geeignetes Mittel für die Verarbeitung christlicher und spezifisch reformatorischer Inhalte. Zum anderen prägten seine biblisch-reformatorischen Überzeugungen auch die Inhalte der nicht zu geistlicher Dichtung zu rechnenden Epigramme. Das zeigt sich zum Beispiel, wie oben dargestellt, bei seinen Epithalamien; auch bei den Epigrammen naturkundlichen Inhalts stellte er alles unter Gottes Schöpfungshandeln, und selbst die astrologischen Gedichte heben Gottes Vorsehung angesichts drohender
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Ereignisse hervor. Gleichzeitig ist zu betonen, dass er als Reformator humanistische, an der Antike orientierte metrische Dichtungen verfasste und somit diese gelehrte Ausdrucksform im Umfeld der Reformation förderte. Spätantike, mittelalterliche und christlich-humanistische Einflüsse auf seine Dichtung und ihren Platz im Spannungsfeld von Bildung und Frömmigkeit verdienen eigene Studien.
2.8 Melanchthons Einfluss Abschließend sei auf eine etwas anders geartete Funktion der Dichtung bei Melanchthon verwiesen, und zwar auf den Einfluss, den er auf andere Dichter genommen hat. Die humanistisch-theologische Ausbildung Wittenbergs wurde maßgeblich von Melanchthon als akademischem Lehrer geprägt. Als solcher eröffnete er innerhalb des reformatorischen Lagers den selbstverständlichen Zugang zu humanistischer Bildung, Sprache und Dichtung. Die besondere, von ihm verkörperte Verschmelzung von Humanismus und Reformation fand bei seinen Schülern unter anderem auch ihren Niederschlag in einer neulateinischen Dichtungspraxis, die sich an Melanchthons Vorbild orientierte. Die talentierten unter ihnen förderte Melanchthon als Anreger; er lobte ihre Verse und forderte sie zum Dichten auf. Besondere Anerkennung fanden Helius Eobanus Hessus und Johannes Stigel. In der Vorrede zu seinen von Hildebrand Grathusius edierten Epigrammen zählte er neben dem befreundeten Humanisten Hessus und Stigel seine Schüler Georg Sabinus, Jakob Micyllus, Georg Fabricius und Adam Siber als herausragende Dichter auf, die sogar von der gebildeten Antike anerkannt worden wären. Als gemeinsames Merkmal ihrer Gedichte führte er das Lob des wahren Gottes an (CR 9, 956 – 958; MBW 9120). Dementsprechend finden sich unter ihren poetischen Werken eine große Zahl religiöser Dichtungen. Unabhängig von spezifisch geistlichen Inhalten, wie Psalmendichtung, christlichen Hymnen, Gebeten oder Gelegenheitsgedichten frommer Prägung, gehört zur Signatur der Gedichte im Schülerkreis Melanchthons der Verzicht auf erotische Inhalte. Melanchthons Einfluss christlich-reformatorischer Prägung auf neulateinische Epithalamien seiner Schüler, in denen die protestantische Sicht der Ehe und ihre Reinheit gewürdigt werden, ist offensichtlich. Simon Lemnius stieß mit den frivolen Inhalten seiner vier Bücher Amores im Wittenberger Umfeld auf deutliche Ablehnung. Pietas und eruditio prägte diese Poeten und ihre neulateinischen Werke. Von einer „Dichterschule“ Melanchthons zu sprechen, würde sicher zu weit führen. Hier wären genauere Untersuchungen notwendig.
3 Melanchthon als Erzähler Wie Melanchthons Gedichte als Nebenprodukt seines professionellen Wirkens fester Bestandteil seines Lebens und seiner schriftstellerischen Äußerungen sind, gehören auch seine Erzählungen zu – bisher kaum beachteten – literarischen Äußerungen
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Melanchthons. Sie wurden zum Teil gesammelt ediert (u. a. von Ulrich Vendenhaimer 1557, vgl. CR 20; Hieronymus Cöler d.J. ab 1560; Werner Rolefinck 1550 – 1555), sie sind in vielfältiger Form über sein ganzes Werk verstreut, in Briefe, Reden oder andere Werke eingebettet. Volker Honemann schätzt, dass sich mehr als tausend solcher Stücke finden lassen (Honemann 1998, 96). Als Erzählgut lassen sich verschiedene kleinere Textsorten zusammenfassen: Exempla, Dicta, Sentenzen, Fazetien, Sprichwörter, Rätsel, Fabeln, Anekdoten, bis auf wenige deutsche oder lateinisch-deutsche Stücke nur in lateinischer Sprache. Gemeinsames äußeres Merkmal ist erneut die Kürze. Ihre Entstehungszusammenhänge lassen erkennen, dass Melanchthon sie ursprünglich nicht als Erzählungen eigenen Rechts formulierte; vielmehr waren sie funktional in größere Zusammenhänge eingebunden, um bestimmte Aussagen zu illustrieren oder auf anschauliche Weise bestimmte Lehren zu vermitteln. So führte er beispielsweise in seinen Loci communes eine, wie er sagt, bemerkenswerte Geschichte gegen die Zeremonien der Kirche an: Der Bischof Spiridon dient ihm als exemplum libertatis, um die christliche Freiheit gegen zeremonielle Fastenvorschriften zu verteidigen und die eigentliche Frömmigkeit, die in Dankbarkeit für Gottes Gaben besteht, herauszustellen. Die Grundlage für diese Art der Verwendung von Geschichten liegt in Melanchthons Überzeugung, historische Ereignisse, biblische Geschichten, Erzählungen der antiken Geschichtsschreibung und Dichtung hätten grundsätzlich exemplarischen Charakter. Hierin folgte er der humanistischen Vorstellung, nach der Ereignisse in der Geschichte und Literatur zur moralischen Unterweisung dienten, ob als nachahmenswerte Vorbilder für Tugenden (virtutes) oder als abschreckende Beispiele für schlechte Handlungen (vitia). Insofern dienen seine Erzählungen einem moralischpädagogischen Zweck, der aber selten von ihm explizit kommentiert, vielmehr durch den Gesamtzusammenhang deutlich wurde. Darüber hinaus ging es Melanchthon natürlich auch um Unterhaltung der Leser und Zuhörer, etwa wenn er kleine Beispielgeschichten in seine sonntäglichen biblischen Vorlesungen für ausländische Studenten in Wittenberg integrierte. Es gibt auch satirische Stücke, deren Lektüre einfach erheitert. Die Erzählung ist dabei für Melanchthon auch Ausdruck der gebildeten Unterhaltung. Dies gilt für seine Bemerkungen bei Tisch, wie die Beiträge Melanchthons in der Sammlung der Lutherschen Tischreden belegen, dies gilt auch für freie Erzählungen aus dem Gedächtnis in seinen Vorlesungen, wie sie von seinen Schülern in ihren Mitschriften überliefert wurden. Melanchthon verfügte über einen großen Schatz an kurzen Erzählungen zu den verschiedensten Themen. Dabei überwog sein Interesse an historischen, nicht-fiktiven Stoffen aus Gegenwart und Vergangenheit. Reformatorische Themen kommen scheinbar äußerst selten vor, Schauergeschichten liebte er.Was Melanchthon erzählte, entstammte sehr unterschiedlichen Quellen. Antike, mittelalterliche, neulateinische, aber auch im allgemeinen Volksgut verankerte Stoffe wurden von ihm erzählt, nicht neu erfunden, wobei er selten seine Quellen benannte. Hierzu konnte er einerseits auf vorhandene Sammlungen von Exempla zurückgreifen. Besondere Bedeutung kommt
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sicher auch seiner intensiven Lektüre der antiken, aber auch neulateinischen Literatur zu, die ihm Geschichten zur Verfügung stellten. In dem Zusammenhang ist auch auf die humanistische Methode der Wissensspeicherung zu verweisen. In den Loci-communes-Heften wurden während der Lektüre unter vorher festgelegten Überschriften Beispiele für nachahmenswerte und zu vermeidende Verhaltensweisen gesammelt, sodass sie später für das eigene Leben, aber auch für die literarische Verwendung leicht zur Verfügung standen. Hierzu bedarf es aber eingehender Untersuchungen. Außerdem fehlt eine adäquate, die vorhandenen Sammlungen des 16. Jahrhunderts einbeziehende Edition beziehungsweise eine sorgfältige Sammlung der über das gesamte Werk verstreuten Einzelstücke.
Literatur Fuchs, Thorsten. 2008. Philipp Melanchthon als neulateinischer Dichter in der Zeit der Reformation. NeoLatina 14. Tübingen. Fuchs, Thorsten. 2012. „Krächzender Rabe oder singende Nachtigall? Der Dichter Philipp Melanchthon und sein poetisches Werk.“ In Der Philosoph Melanchthon, hg. v. Günter Frank und Felix Mundt, 95 – 113. Berlin. Glei, Reinhold. 1998. „Multa sit in versu cura laborque meo. Melanchthon als Dichter.“ In Melanchthon. Exemplarische Aspekte seines Humanismus. Bochumer Altertumswissenschaftliches Kolloquium 32, hg. v. Gerhard Binder, 143 – 169. Trier. Glei, Reinhold. 2001. „Sed pudenter et raro? Lateinische Dichtungen Melanchthons.“ In Die Musen im Reformationszeitalter, hg. v. Walther Ludwig, 189 – 208. Leipzig. Ludwig, Walther. 1999. „Musenkult und Gottesdienst – Evangelischer Humanismus der Reformationszeit.“ In Die Musen im Reformationszeitalter, hg. v. Walther Ludwig, 9 – 51. Leipzig. Rhein, Stefan. 1987. Philologie und Dichtung. Melanchthons griechische Gedichte (Edition, Übersetzung und Kommentar). Univ. Diss. Heidelberg. Honemann, Volker. 1998. „Melanchthon als Erzähler.“ In Melanchthon. Zehn Vorträge, hg. v. Hanns Christof Brennecke und Walter Sparn, 95 – 109. Erlangen.
Andreas Gößner
Deklamationen, Reden und Postillen 1 Die verschiedenen Redegattungen
Im Corpus Reformatorum (CR) 10 – 12 (1842– 1844) liegt die materialreichste Sammlung Melanchthonscher Reden im Druck vor. Ihr Herausgeber, Karl Gottlieb Bretschneider (1776 – 1848), gliedert die Reden (orationes) in drei einzelne Untergattungen. Die erste Untergattung (CR 10, 689 – 904) umfasst 79 quaestiones academicae, kurze Redebeiträge zu Fragestellungen, die von Studienanfängern bei akademischen Akten (z. B. bei Promotionen) vorgetragen und von Promovenden oder den Praesiden von Disputationen abgehandelt wurden. Die zweite Untergattung (CR 10, 905 – 1024) umfasst 43 Ansprachen, Danksagungen und Reden (alloquia, gratiarum actiones, breves conciones), die bei feierlichen Hochschulakten, wie der regelmäßigen Verlesung der akademischen Gesetze und Statuten, oft von den Ehrenrektoren – das waren hochadlige Studenten, die ohne administrative Aufgaben an der Leucorea für ein Semester Repräsentationsaufgaben wahrnahmen – vorgetragen wurden. Die dritte Untergattung (CR 11, 5 – 1044; 12, 5 – 392) umfasst 180 öffentliche Übungs- und Lehrreden (declamationes, orationes prolixiores), die ebenfalls bei Universitätsfeiern rezitiert wurden. Die im CR in die Untergattung der declamationes eingestreuten praefationes wurden zunächst wohl als Einleitungsreden zu entsprechenden Vorlesungen gehalten; manche von ihnen sind später als Vorreden zu einer Edition gedruckt worden (z. B. Praefatio in officia Ciceronis, CR 11, 257– 261, zur 1534 gehaltenen Vorlesung). Im Folgenden kann wegen der Vielzahl der einzelnen Schriften innerhalb der gesamten Gattung immer nur ein Beispiel als Beleg für eine Aussage angeführt werden. Ältere Grundlagen- und Spezialliteratur zum Thema findet sich vollständig in der Bibliografie von Wilhelm Hammer (Hammer [4] 1996, 336 – 337), nur in Ausnahmefällen werden darin aufgeführte Titel im vorliegenden Beitrag ausdrücklich zitiert. Die im CR abgedruckten Deklamationen geben nur eine ungefähre Vorstellung von Umfang und Vielfalt der rhetorischen Praxis Melanchthons. Doch ist diese Zusammenstellung der Texte nach heutigem Forschungsstand korrekturbedürftig, denn manche nicht von Melanchthon verfasste Reden haben Aufnahme gefunden (z. B. Hieronymus Schurffs De legum iustitia [CR 11, 1016 – 1020] – schon zu Melanchthons Lebzeiten im 1558 durch Peucer herausgegebenen Bd. 4 der Editio princeps enthalten) und von Melanchthon verfasste Reden fehlen (z. B. Oratio de officio sacerdotali […], Straßburg 1521, VD 16 M 3800; vgl. Clemen 1913, 1– 8 [Clemen, Kl. Schr. 4, 217– 224]; Claus 1521.33).
DOI 10.1515/9783110335804-021
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2 Die Geschichte der Gattung und ihre Besonderheiten Melanchthon hat nicht nur der Rhetorik als wissenschaftlicher Lehre von der richtigen und schönen Redeweise seine Aufmerksamkeit geschenkt, sondern er hat sich auch um ihre praktische Anwendung bemüht. Dies wird besonders deutlich bei den Deklamationen, die unter den klassischen Redegenera dem genus demonstrativum zuzuordnen sind und als feierliche und stilistisch kunstvolle Lehr- und Übungsreden die höchste Stufe des rhetorischen Unterrichts bilden. Flankierend zur Praxis des Disputierens sollten sie damit zur Bildung der Wittenberger Studenten beitragen und zwar durch ihren jeweiligen Gegenstand in ethischer, durch ihre ausgefeilte Form in rhetorischer Hinsicht. Den Brauch des Deklamierens hat Melanchthon selbst schon in Tübingen praktiziert. Als früheste erhaltene Rede ist De artibus liberalibus oratio (CR 11, 5 – 15) überliefert, die 1517/18 entstanden ist. Die Einführung solcher Redeübungen an der Universität Wittenberg gehört zu den großen Verdiensten Melanchthons für das akademische Leben des 16. Jahrhunderts. Zeitgenossen und Schüler haben dies bereits erkannt. So bemerkt Melanchthons Freund Joachim Camerarius in seiner Melanchthon-Biografie: „Und während es in Wittenberg in der Tat lange Zeit fast keine Schreib- und Redeübungen [exercitationes scribendi dicendique] gegeben hatte, wurde damals auf seine Anregung hin damit begonnen, über Themen von allgemeinem Nutzen zu schreiben und auch öffentliche Reden zu halten [scribi et publice declamari], wobei er selbst durch sein Beispiel den übrigen voranging.“ (Camerarius 2010, 80, § 18) Im Zuge der von Melanchthon in Gang gesetzten Studienreform wurden an der Wittenberger Universität neben den Disputationen ab 1523 auch die declamationes eingeführt, um die Studenten rhetorisch zu schulen (Scheible 1993a, 77). Diese Initiative fällt zeitlich in das Vorfeld von Melanchthons erstem Rektorat und wird in einem Reformgutachten vom März 1523 erstmals angesprochen (UUW 1, 124,122). Nach dem Antritt des Rektorates kam Bewegung in die Angelegenheit (UUW 1, 126 – 128,126 – 130). In der für das akademische Leben in Wittenberg so wichtigen Fundationsurkunde von 1536 ist das Deklamieren im Rahmen des Sprachunterrichts bereits fest etabliert (UUW 1, 177– 178,193). Wie sehr die Disputations- und Deklamationspraxis Melanchthon am Herzen lag, wird auch während seiner zweiten Amtszeit als Rektor der Leucorea 1538 deutlich (UUW 1, 193 – 194,209). Im Einzelnen ist der exakte Nachweis über die Umsetzung dieser hochschulpolitischen Vorgaben schwer zu erbringen, da die Quellen dazu unvollständig und unzuverlässig sind. Die wichtigste Adressatengruppe der Reden – alle Untergattungen mit eingeschlossen – ist die akademische Zuhörerschaft in Wittenberg.Von einigen der Reden ist ein abweichender Vortragsort bekannt (z. B. die Rede De utilitate studiorum eloquentiae von 1538 [CR 11, 364– 373], mit der Georg Sabinus seine Vorlesungstätigkeit an der Viadrina in Frankfurt/Oder begann – gelegentlich wurde deshalb auch Sabinus als eigentlicher Verfasser dieser Rede angesehen [Hartfelder 1891, X]). Außer an der Viadrina wurden Reden in Jena – dem Ausweichstandort der Leucorea bei Seuchen-
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gefahr – (z. B. De capta Roma, CR 11, 130 – 139) und an anderen Universitätsstandorten (nachweislich nicht von Melanchthon, sondern von Johannes Regiomontanus stammt die in Padua vorgetragene Rede De Alfragano [CR 11, 531– 544]) oder zu bildungspolitisch herausragenden Anlässen wie der Schulgründung in Nürnberg (In laudem novae scholae, CR 11, 106 – 111) gehalten. Schließlich sind einige der Reden auch als Synodalansprachen (z. B. De dicto Mosis Gen. 35, CR 11, 692– 703) durch Georg von Anhalt in Merseburg vorgetragen worden (Sammeldruck dieser Synodalreden: VD 16 G 1320; Claus 1555.40). Nur einen kleineren Teil der in Wittenberg vorgetragenen Deklamationen rezitierte Melanchthon selbst, einen weitaus größeren überließ er seinen Freunden und Schülern – darunter viele Professorenkollegen an der Leucorea – zum Vortrag (vgl. die Liste der Rezitatoren und der von ihnen gehaltenen Reden bei Koehn 1984, 1461– 1462).
3 Zum Problem der Autorschaft und der Datierung Mit dem Umstand der Rezitation einer Rede durch andere Personen ist immer wieder auch die Frage der Verfasserschaft Melanchthons aufgeworfen worden. Eine sprachlich-stilistische Analyse der Texte, die hier zu einer Klärung führen könnte, fehlt für fast alle Reden. Das Grundproblem liegt in einem zur heutigen Vorstellung von geistigem Eigentum verschiedenen Begriff von Autorenschaft im 16. Jahrhundert. Zur Lösung des Problems der Zuordnung einzelner Reden zu Melanchthon oder dem jeweiligen Rezitator als Verfasser müssen verschiedene Faktoren berücksichtigt werden. Zunächst sind grundsätzliche Äußerungen zu Melanchthons schriftstellerischem Wirken innerhalb des Wittenberger Kollegenkreises zu bedenken (vgl. zur hier untersuchten Gattung die zeitgenössische Bemerkung: „All das aber, was in der öffentlichen Lehre [in Wittenberg, d.Vf.] gesagt wurde, was zufällig bei festlichen Versammlungen oder auch bei anderen Anlässen vorgetragen werden musste, wurde von diesem einen Mann [Melanchthon, d.Vf.] geschrieben. Und man sah bisweilen, dass die restlichen Blätter mit noch feuchten Buchstaben zu denjenigen gebracht wurden, die schon damit begonnen hatten, das Vorangehende, von ihm verfasste, vorzutragen.“ Camerarius 2010, 76, § 17) In der Überlieferung mancher Reden sind die Rezitatoren ausdrücklich als solche ausgewiesen; in solchen Fällen steht oft in Ergänzung zum eigentlichen Titel habita a […] (z. B. De Basilio episcopo, CR 11, 675 – 684), recitata a […] (z. B. De Salinis Saxonicis, CR 12, 119 – 127) oder pronunciata […] (z. B. Querela Lazari, CR 11, 425 – 431). Dagegen scheint die Angabe (scripta) a […] für eine Verfasserschaft desjenigen zu sprechen, der auch als Vortragender überliefert ist (z. B.Veit Örtel für die Rede De Guelfo, CR 11, 466 – 478). Doch können solche Zusätze auch irreführend sein, wie in jenem Fall, in dem der Rezitator Matthäus Irenäus auf dem Erstdruck als Autor ausgewiesen ist (vgl. z. B. beim Encomium Franciae, CR 11, 383 – 397; Koehn 1984, 90, Abb. 4; Claus 1539.68; Gößner 2010). Einige eindeutige Nachweise auf Melanchthons Verfasserschaft lassen sich aus seiner Korrespondenz erbringen. Dies ist etwa der Fall bei brieflicher Ankündigung der
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gemeinsamen Ausgabe einer fremden und einer eigenen Rede (De Ioanne Duce Sax. Elect., CR 11, 954– 962; MBW 5957). Mitunter verschweigt aber auch Melanchthon selbst bei Reden, deren Verfasserschaft ihm in der späteren Überlieferung und Forschung nicht abgesprochen wurde, seine Urheberschaft (MBW 3193: De Polycarpo, CR 11, 560 – 566; und De Paulo Apostolo, CR 11, 618 – 630; – gemeinsamer Erstdruck beider Reden 1543: VD 16 C 5861; Claus 1543.97). Auch die in der Regel bald nach dem Vortrag erschienenen Separatdrucke können für die Klärung der Verfasserschaft aufschlussreich sein. Häufig ist auf diesen Einzeldrucken der Name des Rezitators vermerkt, nicht aber derjenige Melanchthons. Melanchthon stand oft mit den Rezitatoren im Austausch über die Drucklegung (z. B. mit Georg Cracov, dem Rezitator der Rede De Ludovico Bavaro [CR 12, 286 – 295] in MBW 8795; 8798; 8803). Auch verschickte Melanchthon gelegentlich mehrere Druckexemplare zur Weitergabe und Verteilung durch seinen Korrespondenzpartner (MBW 8902). In wenigen Fällen hat Melanchthon eine Rede für die Druckfassung um wesentliche Teile erweitert (z. B. De Ambrosio, CR 11, 566 – 598). Die rhetorische Qualität der Reden Melanchthons rühmten schon die Zeitgenossen. Jedoch ist dies alleine kein Indiz für die Verfasserschaft Melanchthons. Auch Schüler und Kollegen Melanchthons waren gute Stilisten und hatten die Regeln der humanistischen Rhetorik verinnerlicht, weshalb ihnen die Abfassung derartiger Reden durchaus zuzutrauen ist (Ricklefs 1980, 100). Die institutionalisierte Regelmäßigkeit, mit der an der Leucorea Reden zu verschiedenen Anlässen rezitiert worden sind, lässt den Schluss zu, dass Melanchthons Kollegen mehrere dem Thema nach unbekannte und eventuell nicht gedruckte Reden gehalten haben. Nur in Einzelfällen lassen sich Verfasser, Datierung und Titel eindeutig ermitteln (z. B. Veit Amerbachs Rede De laudibus patriae [auch: Encomium patriae] von Okt./Nov. 1538; Erstdruck: Straßburg 1541, VD 16 A 2234). Neben dem Problem der Verfasserschaft ist auch die Frage der Datierung vieler Reden vielfach nur annäherungsweise zu beantworten. Zur chronologischen Einordnung beziehungsweise sicheren Bestimmung des jeweiligen Rezitators – ebenso als Interpretationshilfe (etwa im Hinblick auf die Themenwahl einer Deklamation) – sind flankierend der Briefwechsel Melanchthons sowie die Ausgabe der Wittenberger Scripta publice heranzuziehen. Die chronologische Abfolge, die die Reihenfolge des Abdrucks im CR bestimmt hat, bedarf mancher Korrektur (z. B. Oratio de studiis theologicis, die ins Jahr 1538, nicht aber 1521 gehört, CR 11, 41– 50; vgl. Clemen 1913, 33 – 34 = Clemen, Kl. Schr. 4, 249 – 250).
4 Inhalte und Themen Anregungen und Quellen zu Themen der Deklamationen hat Melanchthon oft seinen eigenen wissenschaftlichen Arbeiten entnommen (so bietet z. B. die Rede De partibus et motibus cordis, CR 11, 947– 954, Teile aus Melanchthons Werk De anima). Zu Vorbildern und Quellen hat die Melanchthonforschung insgesamt noch erheblichen Klärungsbedarf (Scheible 1993a, 74, 89).
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Die Untergattungen der declamationes und quaestiones academicae umfassen ein sehr breit gefächertes Themenspektrum, wobei Überschneidungen bei der geradezu enzyklopädischen Vielfalt der Themen zu beobachten sind. Dies gilt besonders, wenn es um Themen literarischer und rhetorischer Bildung geht, auf die teils im Rahmen biografischer Reden, teils im Kontext von Erörterungen zu einzelnen Disziplinen näher eingegangen wird (Berwald 1994, 36 – 49). Einige Reden sind dem humanistischen Länderlob (z. B. Encomium Sueviae, CR 11, 374– 383) zuzuordnen, andere widmen sich der Bedeutung der Sprachen (z. B. De studio linguarum, CR 11, 231– 239). Unter den theologischen Fragestellungen begegnen sowohl exegetische (z. B. De dicto Pauli Ephes. IV, CR 12, 345 – 350) als auch dogmatische (z. B. De Ecclesia Christi, CR 12, 365 – 371). Auch medizinische (z. B. De anatomia, CR 12, 27– 33) und juristische (z. B. De Irnerio et Bartolo, CR 11, 350 – 356) Themen werden behandelt. Eine weitere Gruppe von Reden beschäftigt sich mit historischen (z. B. De capta Constantinopoli, CR 12, 153 – 161) oder auch zeitgeschichtlichen Ereignissen (z. B. De congressu Bononiensi, CR 12, 307– 317). Bei letzteren erhält man gelegentlich auch Einblicke in Melanchthons Einschätzung kirchenpolitischer Gegebenheiten (vgl. z. B. zum Kaiserbild Melanchthons jüngst: Kobler 2014, 489 – 490). Einen besonders breiten Raum nehmen – mit etwa einem Viertel des Gesamtbestandes – die biografischen Reden ein. Ihr Charakter ist besonders heterogen, manche sind auch zugleich anderen Typen zuzuordnen. Sie widmen sich biblischen Gestalten (z. B. De Ionatha, CR 11, 716 – 721), antiken Gelehrten (z. B. De vita Galeni, CR 11, 495 – 503), Kirchenvätern (z. B. De vita Augustini, CR 11, 446 – 456) sowie historischen Herrschern (z. B. De Matthia Rege Hungariae, CR 11, 976 – 983) und zeitgenössischen Persönlichkeiten (z. B. De Erasmo Roterodamo, CR 12, 264– 271). Gerade die letztere Gruppe umfasst auch Biografien aus dem persönlichen Umfeld Melanchthons (z. B. De Capnione Phorcensis, CR 11, 999 – 1010) oder dem unmittelbaren Erfahrungsraum der Wittenberger Universität (z. B. De vita Bugenhagii, CR 12, 295 – 307). Manche tragen die Merkmale von Gedächtnisreden (z. B. Vita Rudolphi Agricolae, CR 11, 438 – 446) oder gehören zum Typus der oratio funebris (z. B. De Maximiliano Caesare, CR 11, 26 – 34). Nicht selten sind die Deklamationen auch Spiegelbild aktueller Ereignisse im historischen Gewand (z. B. De Imperatore Ottone I. [CR 11, 509 – 530], im unmittelbaren Vorfeld der Reichsreligionsgespräche von 1540/41 entstanden und Melanchthons Erwartungen an Kaiser Karl V. reflektierend). Diese Aktualität erschließt sich häufig erst aus beiläufigen Bemerkungen im Briefwechsel Melanchthons (z. B. Oratio De Gregorio Nazianzeno, CR 12, 277– 285; vgl. dazu MBW 8552). Deutlich wird dies speziell in den biografischen Reden auf Fürsten und Kaiser. In ihnen erinnert Melanchthon vielfach in unruhiger Gegenwartslage an Garanten des Friedens und der Ordnung (z. B. De Sigismundo Imperatore, CR 11, 316– 324). Melanchthon legt in diesem Zusammenhang besonderen Wert auf die Erinnerung an vergangene Zeiten und Regenten. Er verbindet damit die Hoffnung, dass wieder friedlichere Zeiten anbrechen mögen. Die unmittelbaren Adressaten einer Rede – also die Wittenberger Kollegen und Studenten – werden dabei von Melanchthon als Multiplikatoren seiner Vorstellungen und Hoffnungen gesehen, worin er seinem Erziehungs- und Bildungsideal hervorragend Ausdruck verleiht.
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Andreas Gößner
Gemeinsam ist den biografischen Reden die Beispiel- und Vorbildfunktion der gewürdigten Persönlichkeit. Immer wiederkehrend bei ganz unterschiedlichen Personen aus Geschichte und Gegenwart, bei Fürsten und Gelehrten, bei Philosophen und Kirchenvätern beziehungsweise Theologen wird eine Reihe moralischer und wissenschaftlicher Tugenden (Gerechtigkeit, Klugheit, Großherzigkeit, rhetorische Kompetenz etc.) benannt, die sich letztlich im Ideal des vir bonus zusammenfassen lassen (Berwald 1994, 36 – 49; dagegen Scheible 1993a, 83). Im Kontext des humanistischen Herrscherlobs wird neben Fürsten auch auf zeitgenössische Fürstinnen eingegangen (z. B. De Sibylla Principe, CR 12, 61– 68, sowie – mit Zweifeln an Melanchthons Verfasserschaft [Scheible 1993a, 83]: De Dorothea Principe, CR 11, 763 – 775). Manche der Personenkreise, um die sich eine Reihe von biografischen Deklamationen dreht, lassen eine thematische Klammer erkennen (z. B. der Personenzyklus mit Kaiserund Fürstengestalten der deutschen Geschichte; dagegen: Scheible 1993a, 83) oder auch die Reden über Recht, Staat, Rechtswissenschaft und Juristen (Kisch 1967). Diese in Reden immer wieder kehrenden Sachkontexte wurden bereits in den frühen Sammeldrucken (s.u.) durch die Anordnung der betreffenden Texte sichtbar gemacht. Der inhaltliche Aussagewert und die stilistisch-rhetorische Qualität der Reden sind seit jeher unterschiedlich bewertet worden (Hartfelder 1891, XIV – XVI; MSA 3, 15). Schon von Melanchthon selbst sind qualitative Aussagen über einzelne Reden überliefert. So hielt er die Rede De Platone (CR 11, 413 – 425) für weniger gut gelungen als die Rede De Aristotele (MBW 2104 und 2106), jedoch sei letztere (CR 11, 342– 349) wegen anderer Verpflichtungen zu kurz ausgefallen (MBW 1869). Als – zum größten Teil: akademische – Gelegenheitsschriften sind die Reden von Melanchthon oft in sehr kurzer Zeit erarbeitet worden (z. B. De Luthero et aetatibus Ecclesiae, CR 11, 783 – 788). Hieraus resultiert auch Melanchthons eigenes kritisches Urteil (z. B. MBW 2243a). Melanchthons Anliegen, die in den Reden angesprochenen Inhalte zu verbreiten und gleichzeitig rhetorische Vorbildtexte zu streuen, wird auch deutlich aus der von ihm selbst geförderten und sehr gezielten Verbreitung der separat gedruckten Reden, etwa wenn er mit seinem Brief an Albert Hardenberg die Rede De Ludovico Bavaro für Graf Christoph von Oldenburg mitschickt (MBW 8842) oder wenn er aktiv für die Weitergabe der Gedächtnisrede De vita Bugenhagii (CR 12, 295– 307) als Beilage zu seinen Briefen sorgt (MBW 8683, 8704, 8705, 8708, 8709, 8721, 8722, 8902). Jedoch sind deutsche Übersetzungen nur von sehr wenigen Reden noch zu Melanchthons Lebzeiten als Einzelausgaben verbreitet worden (z. B. De capta Constantinopoli / Warhafftige Historia […], Wittenberg 1557,VD 16 M 2623, Claus 1557.97). Einige sind erst nach Melanchthons Tod angefertigt worden. Der fleißigste Übersetzer war der Mansfelder Kanzler Georg Lauterbeck. Er hat acht Reden in den Jahren 1562/63 in sieben Frankfurter Drucken in deutscher Übersetzung herausgegeben (z. B. Ein schöne und gewaltige Oration von Kaiser Otten dem Ersten […], VD 16 S 6811; Ein feine lustige Declamation von dem löblichen Kaiser Sigismundo, VD 16 M 4245). Auch der Jurist Justinus Göbler übersetzte eine Rede Melanchthons, die als Anhang zu einer deutschen Übersetzung des Theuerdank in den Jahren 1566 und 1583 in Frankfurt a.M. mit
Deklamationen, Reden und Postillen
283
abgedruckt wurde (Eine Oratio und Rede über der Leiche weiland Kaiser Maximiliano […], VD 16 G 2292 und M 1655).
5 Druckgeschichte Die Druckgeschichte der beiden kleineren Redegattungen hängt eng mit derjenigen der längeren Reden zusammen. Sie begegnen häufig als Beigaben zu Einzeldrucken von Deklamationen (z. B. den 1549 in Wittenberg erschienenen Druck der drei Texte: Oratio de studiis linguae Graecae. Orationes duae de studiis Linguae Ebraicae. Quaestio de fato Stoico. VD 16 M 3818; Text vgl. CR 11, 855– 867; 867– 877; 10, 785– 790). Vor allem in Separatdrucken von Reden, die anlässlich von Promotionsakten gehalten wurden, sind die entsprechenden kleineren Texte als Beigaben mit abgedruckt (z. B. Claus 1560.133). Manche quaestio hat so auch den Weg in die großen Sammelausgaben der Reden gefunden (z. B. Claus 1541.81). Eine eigene Ausgabe von insgesamt 91 quaestiones academicae und 20 kleinen Reden hat Paul Eber 1557 in Wittenberg besorgt (VD 16 E 49; Claus 1557.113); sie wurde im Folgejahr nachgedruckt (VD 16 E 50; Claus 1558.122). Einschlägige wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Deklamationen Melanchthons und ihrer Druckgeschichte sind im 18. und 19. Jahrhundert mit den Namen Johann Georg Strobel sowie Karl Gottlieb Bretschneider (CR 10, 677– 688) und Karl Hartfelder verbunden. Die Referenzquellen für den Forschungsstand des 19. Jahrhunderts – der auch die Basis für die Edition im CR war – waren fünf Sammelausgaben der Reden Melanchthons (Editio Hagenoensis, Editio Argentoratensis, Editio Princeps, Editio Servestana, Editio Richardiana). Der heutige Kenntnisstand beruht auf den seither geleisteten bibliografischen Arbeiten (vor allem: Clemen 1913; Koehn 1984; Claus und VD 16). Sie alle haben zur weiteren Ausdifferenzierung der Druckgeschichte der Sammeleditionen geführt. Außerdem konnte mit den neuesten bibliografischen Recherchemöglichkeiten inzwischen der Kenntnisstand Bretschneiders hinsichtlich der Erst- und Separatdrucke zahlreicher Reden in wesentlichen Teilen überboten werden. Textkritische Untersuchungen zum Verhältnis der Redetexte in den verschiedenen Druckausgaben des 16. Jahrhunderts sind nur vereinzelt unternommen worden (Hasse/Gößner 2003). Die Geschichte von im Druck vereinigten Sammlungen Melanchthonscher Reden beginnt im Jahr 1525 mit einer bei Johann Setzer in Hagenau gedruckten Zusammenstellung von drei eigenen Reden, der Vorrede zu einer Ausgabe von Aeschines- und Demosthenesreden sowie der Übersetzung einer Xenophonrede (VD 16 M 3835; Claus 1525.20). Im Jahr 1531 stellte der Wittenberger Drucker Josef Klug vier andere Reden sowie eine sekundär verwendete Vorrede Melanchthons (MBW 1176) zusammen (VD 16 M 3847; Claus 1531.46). Derselbe Drucker hat 1533 den Kommentar zu einer Cicerorede und drei weitere Reden auf den Markt gebracht (VD 16 ZV 10673; Claus 1533.55). Diese drei frühen Sammeldrucke bildeten das Textreservoir für ein durch den Hagenauer Drucker Valentin Kobian zusammengestelltes Werk, das im Herbst 1533 erschien (Orationes aliqot […]) und als Editio Hagenoensis bezeichnet wird (VD 16 M 3910; Claus
284
Andreas Gößner
1533.9.1). Mit diesem Druckerzeugnis begann für Bretschneider die Geschichte der Sammeldrucke von Reden Melanchthons. Sie enthält neun Reden sowie die Vorrede aus der Klugschen Ausgabe von 1531 und die Auslegung zu einer Cicerorede. Eine Druckvariante dieser Ausgabe (Orationes aliqvot […]) hat der bibliografische Vergleich zutage gefördert (VD 16 M 3911; Claus 1533.9.2). Die Editio Argentoratensis wurde durch Krafft Müller im Jahr 1541 gedruckt (Liber selectarum declamationum […], VD 16 M 3554; Claus 1541.81). Darin sind bereits 52 Reden und darüber hinaus auch ausgewählte andere Textstücke (24 Vorreden, 5 Briefe und 2 Übersetzungen) aufgenommen. Die Textauswahl dokumentiert bereits eine – sich in den späteren Sammelausgaben fortsetzende – Unschärfe hinsichtlich der aufgenommenen Textgattungen (declamationes, epistolae, praefationes, orationes). Die Ausgabe verdankt sich nach Auskunft der Vorrede von Nikolaus Gerbel der Sammeltätigkeit des Wittenberger Medizinprofessors Jakob Milich. Dieser stellte seine Sammlung Melanchthonscher Reden Gerbel in Straßburg zur Verfügung, der dann als Herausgeber fungierte. Auch die vierte (= erste mehrbändige) Sammelausgabe ist weitgehend in Straßburg erschienen. Sie wird in der Regel als Editio princeps bezeichnet und umfasst insgesamt sieben Bände, von denen der erste in erster Ausgabe 1544, der letzte in einziger Ausgabe 1586 erschienen ist. Auf die sehr unterschiedliche Druckgeschichte der Ausgaben dieser sieben Bände muss hier dataillierter eingegangen werden, denn sie ist ein Spiegelbild der Rezeption und Wirkungsgeschichte der Reden Melanchthons im 16. Jahrhundert (zur Übersicht über Ausgaben und bibliografische Nachweise vgl. den unten beigefügten tabellarischen Überblick). Am Beginn des mehrbändigen Werkes steht die Erweiterung und konzeptionelle Überarbeitung der Editio Argentoratensis von 1541. Gerbel ließ unter Verwendung seines alten Vorwortes (im ersten Band) bei Krafft Müller 1544 zunächst eine zweibändige Neuausgabe besorgen. Dabei wurde die Anzahl der Texte vermehrt, da zusätzliche ältere Reden und Reden der Jahre bis einschließlich ca. 1542 Aufnahme fanden. Außerdem wurden im ersten Band (Selectarum declamationum […] Tomus primus) 51 Reden zu Sachthemen vereint, während im zweiten Band ([…] cum praefationum […], tum orationum […] tomus secundus) – nach einer neuen einleitenden Vorrede – 19 biografische Reden sowie 28 Vorreden, 4 Briefe und 10 Übersetzungen griechischer Reden der Antike abgedruckt wurden. Diese beiden ersten Bände wurden in Umfang und Inhalt nahezu unverändert 1546 in Straßburg bei Krafft Müller (2. Auflage) und 1555 ebenda bei Blasius Fabricius (3. Auflage) nachgedruckt. Geringfügige Änderungen in Umfang und Inhalt weist erst die 4. Auflage von 1558 auf, deren erster Band bei Fabricius und deren zweiter Band bei Samuel Emmel in Straßburg gedruckt wurde. Diese Auflage zeichnet sich besonders durch die Beigabe von Randglossen aus, die inhaltliche Stichworte aus den Texten bieten und so das Nachschlagen der Registereinträge im neu hinzugekommenden Index erleichtern. Von den beiden Bänden dieser 4. Auflage wurde ein nahezu unveränderter Nachdruck (= 5. Auflage) im Folgejahr 1559 bei Emmel besorgt. Mit geringfügigen Änderungen im Satz erfolgte beim selben Drucker 1564 eine weitere (= 6.) und 1569 noch einmal eine (= 7.) Auflage dieser beiden Bände.
Deklamationen, Reden und Postillen
285
Die Erweiterung der Editio princeps um einen dritten Band fällt in das Jahr 1551. Der Basler Drucker Johannes Herwagen druckte darin 54 Reden ab und versah die Ausgabe (Selectarum declamationum […] Tomus III) mit einem Vorwort. Noch im selben Jahr wurde bei Gervasius Stürmer in Erfurt eine andere Ausgabe des dritten Bandes (Selectissimarum orationum […] Tomus tertius) gedruckt, die mit unwesentlich geringerem Umfang 50 Reden bietet und durch eine Vorrede des Johannes Aurifaber an den englischen König Edward VI. eingeleitet wurde. Beide Ausgaben des dritten Bandes unterscheiden sich – trotz mancher Überschneidungen – in der Auswahl der Texte. Unter Rückgriff auf die Basler Ausgabe wurde der dritte Band in redaktioneller Überarbeitung 1555 durch Blasius Fabricius in Straßburg erneut gedruckt (Selectarum declamationum […] Tomus tertius) und somit den dritten Auflagen der ersten beiden Bände zugesellt. Von dieser (dritten) Ausgabe des dritten Bandes existiert eine Druckvariante. Eine weitere redaktionelle Überarbeitung des dritten Bandes erfolgte durch Melanchthons Schwiegersohn Caspar Peucer. Sie erschien bei Samuel Emmel in Straßburg 1559 (Selectarum declamationum […] Tomus tertius) mit einer Vorrede Peucers aus dem Jahr 1557 (!) als dritter Band zusammen mit den fünften Auflagen der ersten beiden Bände. Diese vierte Ausgabe des dritten Bandes erfuhr in den Jahren 1562 und 1567 zwei weitere Auflagen beim selben Drucker. Peucer nahm sich auch eines vierten Bandes der Editio princeps an. Dessen erste Auflage erschien bei Emmel in Straßburg 1558 (Selectarum declamationum […] Tomus quartus), zwei Neuauflagen folgten aus derselben Offizin in den Jahren 1560 und 1566. Der fünfte Band der Editio princeps (Orationes postremae […]) folgte 1565 in der Offizin des Johannes Krafft d.Ä. in Wittenberg. Sein Herausgeber war der Wittenberger Universitätspedell Michael Maius, der auch eine an seine Heimatstadt Nürnberg gerichtete Vorrede an den Anfang des Bandes stellte. Seine Herausgeberinitiative dürfte sich erst im Zusammenhang mit der ebenfalls von ihm mitverantworteten, mehrbändigen Ausgabe der Wittenberger Scripta publice voll erschließen. In dieser Sammlung der Scripta publice wurden Vorlesungsankündigungen, Rektorats- und Dekanatserlasse, Einladungen zu Magister- und Doktorpromotionen, akademische Traueranzeigen etc. zusammengedruckt, womit eine erstklassige Quelle für das universitäre Leben an der Leucorea in den etwa zweieinhalb Jahrzehnten nach Luthers Tod vorliegt. Mit den im fünften Band abgedruckten 49 Reden und 24 quaestiones academicae (gelegentlich auch mit den Beilagen, etwa einer Petitio ad Decanum, die sonst in den Scripta publice zu finden ist) legte Maius eine Sammlung von Reden aus den Jahren 1555 bis 1565 vor. Den späten Reden Melanchthons wurden ohne weitere Kennzeichnung Reden anderer Wittenberger Verfasser aus den Jahren nach Melanchthons Tod beigesellt (z. B. 976– 1009, die von Peucer anlässlich einer medizinischen Doktorpromotion verfasste Oratio continens commonefactionem de peste […], die im selben Jahr bereits als Separatdruck erschienen war, VD 16 P 200). In leicht verändertem Satz und mit verändertem Titel (Orationum […] Tomus quintus) erschien 1572 bei Clemens Schleich und Anton Schöne in Wittenberg die zweite Auflage dieses fünften Bandes. Ihr folgte 1590 durch den Wittenberger Drucker Georg Müller noch eine dritte Auflage.
286
Andreas Gößner
Aus dem Inhalt dieser fünf Bände der Editio princeps schuf der Straßburger Mathematiker Johann Richardius, ein Schüler Peucers, eine eigene dreibändige Ausgabe (Declamationum […] Tomus I – III), die sogenannte Editio Richardiana. Sie wurde komplett im Jahr 1570 beim Straßburger Drucker Theodosius Rihel gedruckt und zeichnet sich durch eine Anordnung der Reden (das heißt aller auch bisher in den Sammelausgaben enthaltener Untergattungen: orationes, epistolae, praefationes, adhortationes, Übersetzungen antiker griechischer Reden etc.) nach Inhaltskriterien aus: Auf die philosophischen Themen (78 Texte) im ersten Band folgen die medizinischen und juristischen (28 bzw. 61 Texte, darunter auch die historischen Themen) im zweiten sowie die theologischen Themen (102 Texte) im dritten Band. Im Unterschied zum fünften Band der Editio princeps beschränkte sich Richardius auf die Aufnahme von Reden (inklusive Untergattungen) bis zum Lebensende Melanchthons, trotzdem enthält auch seine Ausgabe Texte, für die eine Verfasserschaft Melanchthons unwahrscheinlich ist (z. B. Bd. 2, 570 – 576: Hieronymus Schurff: De ordine politico […], CR 11, 1011– 1016; die Rede ist bereits im 1558 erschienenen Bd. 4 der Editio princeps abgedruckt – die Zuordnung zu Schurff als Verfasser unter anderem bei Kisch 1967, 42– 43). Bereits im Jahr 1571 hatten die Drucker Schleich und Schöne die erste Ausgabe eines sechsten Bandes der Editio princeps besorgt, der ebenfalls von einer Vorrede des Michael Maius – diesmal an Kurfürst August von Sachsen – eingeleitet wurde (Orationum […] Tomus sextus) und Texte der Jahre 1565 bis 1571 enthält. Eine zweite Auflage dieses sechsten Bandes wurde 1583 in Frankfurt a.M. in der Offizin des Johannes Wechel gedruckt. In mehrfacher Hinsicht nimmt der siebte Band der Editio princeps eine Sonderrolle ein. Mit recht großem zeitlichen Abstand zu den jüngsten Ausgaben der meisten früheren Bände erschien er bei dem Zerbster Drucker Bonaventura Schmidt (Faber) 1586. Als Herausgeber der 32 Texte, die aus den Jahren 1571 bis 1574 stammen, fungierte der Görlitzer Rektor Martin Mylius. Bei diesem siebten Band taucht – nachdem er beim vorangegangenen sechsten Band nicht mehr als Titelstichwort begegnete – der Name Melanchthons wieder im Titel auf (Orationum Scholae Melanchthonianae […] Tomus septimus). Derselbe Zerbster Drucker, Bonaventura Schmidt, machte sich noch 1586 und im folgenden Jahr 1587 daran, einen Nachdruck der vier ersten Bände der Editio princeps von 1559/60 auf den Markt zu bringen. Diese vierbändige, unveränderte Neuausgabe (sog. Editio Servestana) wurde – wie gehabt – von den Vorreden Gerbels aus den Jahren 1541/43 beziehungsweise Peucers aus den Jahren 1557/58 eingeleitet. Dieser Nachdruck dokumentiert – zusammen mit weiteren Nachdrucken anderer Schriften Melanchthons – wie stark das Anhaltische Zerbst in diesen Jahren ein Zentrum des Philippismus war. Manche Reden wurden im späten 16. und im 17. Jahrhundert als Textbeigaben in umfangreichere Werke anderer Autoren vollständig (z. B. die Rede De misnia in Georg Fabricius’ Rerum Misnicarum Libri VII; vgl. Hasse 2003, 113) oder zu großen Teilen (z. B. die Rede De congressu Bononiensi in Christoph Pezels Ausgabe von Melanchthons Consilia sive iudicia theologica, 346 – 352, VD 16 M 2384) aufgenommen. Auf den Sammelausgaben der Melanchthonschen Reden des 16. Jahrhunderts basiert die vollständigste Edition von Reden in CR 11 und 12. Ebenfalls ab dem
Straßburg (Müller)
Straßburg (Müller)
Straßburg (Müller)
Straßburg (Müller)
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Erfurt (Stürmer)
M
M
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M
M
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Wittenberg (Schleich/Schöne)
M
Wittenberg (Schleich/Schöne)
Tomus VII M
Tomus VI
Wittenberg (Krafft)
Tomus V
Basel (Herwagen)
Tomus IV
Nr.
Nr.
Nr.
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Claus
VD
Tomus III
Tomus I
Tomus II
Bibliografische Nachweise
Bände
Übersicht über die mehrbändigen Sammelausgaben der Reden Melanchthons (sog. „Editio Princeps“, „Editio Servestana“ und „Editio Richardiana“)
Deklamationen, Reden und Postillen
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Straßburg (Emmel)
Straßburg (Fabricius)
Straßburg (Fabricius)
Straßburg (Emmel)
Straßburg (Emmel)
Straßburg (Fabricius)
M
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Claus
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Tomus VII
Straßburg (Fabricius)
Tomus VI
M
Tomus V
Straßburg (Fabricius)
Straßburg (Emmel)
Tomus IV
VD
Tomus III
Tomus I
Tomus II
Bibliografische Nachweise
Bände
Übersicht über die mehrbändigen Sammelausgaben der Reden Melanchthons (sog. „Editio Princeps“, „Editio Servestana“ und „Editio Richardiana“) (Fortsetzung)
288 Andreas Gößner
Straßburg
Straßburg (Emmel/Dietrich)
Straßburg (Emmel)
Straßburg
Straßburg (Emmel)
Straßburg (Emmel)
Straßburg
Straßburg (Emmel)
Straßburg (Emmel)
Straßburg (Emmel)
Straßburg (Emmel)
Straßburg (Emmel)
Tomus IV
Tomus V
Tomus VI
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Claus
VD
Tomus III
Tomus I
Tomus II
Bibliografische Nachweise
Bände
Übersicht über die mehrbändigen Sammelausgaben der Reden Melanchthons (sog. „Editio Princeps“, „Editio Servestana“ und „Editio Richardiana“) (Fortsetzung)
Deklamationen, Reden und Postillen
289
Zerbst (Schmidt)
Zerbst (Schmidt)
Zerbst (Schmidt)
(Rihel)
Zerbst (Schmidt)
Wittenberg (Müller)
Frankfurt/M. (Wechel)
Zerbst (Schmidt)
Tomus VII
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ZV –
M
M
M
M
M
ZV –
Claus
Nr.
Nr.
Nr.
Nr.
Nr.
Nr.
Nr.
Koehn
(Rihel)
Tomus VI
(Rihel)
Tomus V
VD
Tomus IV
Tomus II
Tomus I
Tomus III
Bibliografische Nachweise
Bände
Übersicht über die mehrbändigen Sammelausgaben der Reden Melanchthons (sog. „Editio Princeps“, „Editio Servestana“ und „Editio Richardiana“) (Fortsetzung)
290 Andreas Gößner
Deklamationen, Reden und Postillen
291
19. Jahrhundert sind weitere kleinere Sammlungen von Quellentexten erschienen. In einer kleinen Ausgabe hat der damalige Wittenberger Gymnasialrektor Friedrich Traugott Friedemann zehn Reden – überwiegend pädagogischen und philosophischen Inhalts sowie die Leichenrede auf Luther – in Druck gegeben. Er hat diese Ausgabe mit einer Einführung versehen und durch eine Reihe von Quellenzeugnissen aus dem 16. Jahrhundert über die Wertschätzung von Melanchthons Schrifttum eingeleitet (Friedemann 1822). Eine geplante Fortsetzung in weiteren Bänden unterblieb jedoch. Erst Jahrzehnte später hat der Heidelberger Melanchthonforscher Karl Hartfelder zwei kleine Bände mit Reden Melanchthons zusammengestellt (Hartfelder 1891 und 1894). Diese Ausgabe enthält insgesamt neun, mit Einleitung und Kommentaren versehene Reden zu päpdagogischen Themen. Im 20. Jahrhundert fanden ausgewählte Melanchthonreden Aufnahme in MSA 3 (1961). Der Bandherausgeber, Richard Nürnberger, widmete knapp die Hälfte des Bandes, der humanistische Schriften Melanchthons enthält, den Deklamationen. Mit jeweils kurzen Einführungen wird darin der lateinische Text von zwölf Reden – vornehmlich zu ethischen, pädagogischen und philologischen Themen – abgedruckt. Ferner sind 14 Reden Melanchthons zum Themenkreis Recht, Staat und Rechtswissenschaft mit textkritischen Hinweisen und Zitatnachweisen gesammelt abgedruckt worden (Kisch 1967, 185 – 298). Einzelne Reden sind in jüngerer Zeit separat ediert worden (Hasse/Gößner 2003; Wachinger 1997; Bräuer 1996). Im Kontext des Melanchthonjubiläums von 1997 und seiner Forschungsimpulse entstanden die vier Bände von Melanchthon Deutsch (11997, 22011; 11997, 22011, 2011, 2012). In ihnen sind mit Einleitung und knappen Anmerkungen versehene Texte in erstmaliger deutscher Übersetzung zugänglich. In der Auswahl finden sich auch mehrere Reden, die sich in die inhaltliche Ausrichtung der einzelnen Bände einfügen, also zu Themen der Pädagogik, der Kirchenpolitik, des universitären Fächerkanons und der europäischen Vernetzung Melanchthons gehören. Die Melanchthonforschung hat sich den Deklamationen verschiedentlich gewidmet. Gelegentlich ist eine Gruppe thematisch verwandter Deklamationen bearbeitet worden (Kisch 1967; Huschke 1968; Scheible 1993a; Brecht 1996). Manche Reden sind auch Gegenstand von Einzeluntersuchungen geworden, in denen teils exemplarisch generelle Fragen zu inhaltlichem Wert, Hauptgedanken, Verfasserschaft, Datierung, Anlass für die Themenwahl etc. erörtert wurden (Hammer [4] 1996, 336 – 337 – ferner: Ricklefs 1980; Rhein 1991; Hasse 2003; Gößner 2010). Hinsichtlich einer systematischen Auswertung thematisch verwandter Reden bestehen nach wie vor große Forschungsdesiderate.
6 Die Postillen Zu den lehrmäßigen Redegattungen gehören nach Melanchthon auch Predigten. Insbesondere die sonntäglichen Perikopenauslegungen für Studenten lagen ihm be-
292
Andreas Gößner
sonders am Herzen. In ihnen wurden – ausgehend vom Evangelium – theologische wie sprachliche, geschichtliche und sonstige sachliche Erklärungen gegeben (MBW 3546). Erstmals ab 1544 erschienen unter dem Titel In Evangelia […] annotationes Melanchthons Erklärungen zu den Sonn- und Festtagsevangelien (CR 14, zu seinen Vorbehalten gegenüber der Drucklegung vgl. MBW 3546) – und zwar an verschiedenen Druckorten in teils unterschiedlicher Anordnung und mit unterschiedlichem Textumfang. Die Ausgaben enthalten ausgewählte Stücke aus einzelnen oder wenigen aufeinander folgenden Jahren (handschriftlich – wenn auch lückenhaft – überliefert ab 1533). Ausgaben von In Evangelia […] annotationes zu Melanchthons Lebzeiten Druckort (Drucker)
Bibliografische Nachweise
Frankfurt/Main (Braubach)
Claus .
VD E
Leipzig (Bärwald)
Claus .
VD ZV
Wittenberg (Lufft)
Claus .
VD ZV
Wittenberg (Seitz)
Claus ..
VD E
Wittenberg (Seitz)
Claus ..
VD E
Wittenberg (Seitz)
Claus .
VD E
Basel (Westheimer)
Claus .
VD E
Wittenberg (Lufft)
Claus .
VD E
Wittenberg (Lufft)
Claus .
VD E
Wittenberg (Lufft)
Claus .
VD E
Wittenberg (Lufft)
Claus .
VD E
Leipzig (Bapst)
Claus .
VD E
Basel (Oporinus)
Claus .
VD E
Leipzig (Bapst)
Claus .
VD E
Wittenberg (Lufft)
Claus .
VD E
Leipzig (Bapst Erben)
Claus .
VD E
Wittenberg (Lufft)
Claus .
–
Weitere Ausgaben der Annotationes […] in Evangelia wurden nach Melanchthons Tod von Caspar Cruciger d.J. und Johannes Stigel besorgt und erschienen Leipzig 1561 (VD 16 E 4564), Wittenberg 1561 (VD 16 E 4565) sowie Leipzig 1585 (VD 16 E 4583). Schon 1545 erarbeitete Caspar Bruschius eine deutsche Übersetzung, deren drei Teile in Erfurt gedruckt wurden (Claus 1545.15;VD 16 E 4592). Eine Überarbeitung dieser Übersetzung durch Johannes Pollicarius erschien drei Jahre später in Erfurt (Claus 1548.8; VD 16 ZV 21767– 21769) sowie in einer weiteren Ausgabe 1549 am selben
Deklamationen, Reden und Postillen
293
Druckort (Claus 1549.8; VD 16 E 4593). Umfangreichere Ausgaben der deutschen Übersetzung wurden 1552 und 1555 in Nürnberg herausgebracht (Claus 1552.39;VD 16 E 4595 – Claus 1555.59; VD 16 E 4597). Zu den wichtigsten und umfangreichsten postumen Editionen von Melanchthons Werken durch einen seiner Schüler gehört jedoch die 1594/95 erschienene Postille, die Christoph Pezel herausgegeben hat (Wetzel 1997a, 548 – 558). Die vier Teile von Pezels Edition ist ungarischen Adressaten, Moritz von Oranien sowie Wilhelm Ludwig von Nassau-Dillenburg gewidmet (Pars I: Heidelberg 1594, VD 16 M 3981; Pars II: Hanau 1594, VD 16 M 3979; Pars III: Hanau 1594, VD 16 M 3980; Pars IV: Hanau 1595, VD 16 M 3982 – ein Teil-Nachdruck folgte in Neustadt an der Hardt 1602, VD 17 23:638121R). Unter der Überschrift Postilla Melanchthoniana findet sich der von Pezel herausgebene Text in den von Heinrich Ernst Bindseil herausgegebenen Bänden CR 24 und 25 (1856); sie enthält ausschließlich die späten Evangeliumserklärungen der Jahre 1549 – 60. Auf die Unzulänglichkeit dieser Edition und die auch damit zusammenhängenden Forschungsdesiderate ist verschiedentlich aufmerksam gemacht worden (Jung 2003, 144; Scheible 2008, 83). Melanchthon hielt bei seinen lateinischen Erklärungen des Sonntagsevangeliums einen etwa einstündigen freien Vortrag, von dem manche Hörer Nachschriften herstellten. Um viele dieser Nachschriften bemühte sich Pezel erfolgreich. Er wählte dann aus den Vorlagen entweder eine Predigt aus (und versah sie gegebenenfalls mit Zusätzen) oder erstellte einen Mischtext aus den Predigten zu einem Sonntag aller ihm vorliegenden Jahre (Jung 1998, 33 – 35); das letztere Verfahren bewährte sich allerdings nicht, es zeigt jedoch, wie sehr Pezel den Text der ihm zur Verfügung gestellten Nachschriften modifizierte. Neben den gedruckt vorliegenden Ausgaben sind mehrere zeitgenössische Nachschriften von Teilen (einzelnen Jahrgängen) der Postille überliefert, die bei Pezel und im CR nicht abgedruckt sind (Thüringer 1982, 108).
Quellen Camerarius, Joachim. 2010. Das Leben Philipp Melanchthons, übers. v. Volker Werner, mit einer Einf. v. Heinz Scheible. Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 12. Leipzig. Friedemann, Friedrich Traugott. 1822. Philippi Melanthonis Orationes selectas. Wittenberg. Hartfelder, Karl, Hg. 1891. Melanchthon, Philippus, Declamationes: [Erstes Heft]. Lateinische Litteraturdenkmäler des 15. und 16. Jahrhunderts 4. Berlin. Hartfelder, Karl, Hg. 1894. Melanchthon, Philippus, Declamationes: [Zweites Heft]. Lateinische Litteraturdenkmäler des 15. und 16. Jahrhunderts 9. Berlin. Hasse, Hans-Peter und Andreas Gößner. 2003. „Philipp Melanchthon Oratio in qua Mysorum regio et gens describitur (1553) – Rede über die Meißnische Region und Bevölkerung: Edition des lateinischen Textes mit deutscher Übersetzung.“ In Kirche und Regionalbewußtsein in Sachsen im 16. Jahrhundert: Regionenbezogene Identifikationsprozesse im konfessionellen Raum, hg. v. Michael Beyer, Andreas Gößner und Günther Wartenberg, 151 – 188. Leipziger Studien zur Erforschung von regionenbezogenen Identifikationsprozessen 10. Leipzig.
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Andreas Gößner
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Politische, kirchliche und gesellschaftliche Gutachten 1 Historischer Hintergrund Melanchthon hat in seinem Leben mehrere hundert Gutachten geschrieben. Alleine oder gemeinsam mit anderen hat er in ihnen zu Problemen der politischen und kirchlichen Lage seiner Zeit sowie zur reformatorischen Lehre Stellung bezogen. Gutachtertätigkeiten gehörten seit dem späteren Mittelalter zum Alltag von Universitätsprofessoren. Deren Sachverständigenexpertisen, die zeitgenössisch vor allem (lateinisch) Responsa, Consilia, Judicia sowie (deutsch) Bedenken und Ratschlag heißen, waren prinzipiell jedem zugänglich, vorausgesetzt, man verfügte über ausreichende finanzielle Mittel. Anfragen für Gutachten konnten dabei sowohl an einzelne Gelehrte wie an ganze Fakultäten gerichtet werden, wobei im zweiten Fall die Fakultätsmitglieder zur persönlichen Beratung zusammenkamen oder das Gutachten in einem schriftlichen Umlauf erstellten. Für das akademische Gutachtenwesen war die Verschränkung mit Herrschaftsinstitutionen prägend, vor allem mit der weltlichen und kirchlichen Gerichtsbarkeit. Das betraf natürlich in erster Linie die Juristischen Fakultäten, an denen mit Abstand die meisten Gutachten entstanden. Hier wurden nicht nur anwaltliche Gutachten für Prozessparteien sowohl in weltlichen wie kirchlichen Streitfällen verfasst; der damalige italienische Starjurist Baldus de Ubaldis, der in Pisa, Perugia, Padua und Pavia lehrte, hat im Lauf seiner Karriere über 3.000 solcher Konsilien geschrieben. Darüber hinaus dienten die Fakultäten seit dem 14. Jahrhundert zunehmend als weltliche Spruchkollegien: Es wurden gemeinschaftlich Entscheidungsvorschläge in Rechtsstreitigkeiten ausformuliert, die von den jeweils zuständigen Richtern als Urteil übernommen wurden. In den Zusammenhängen der spätmittelalterlichen Rechtspflege wurde es üblich, die Gutachten berühmter Juristen oder von juristischen Fakultäten zusammenzustellen und zu drucken; allein von Baldus sind dergestalt ca. 2.500 überliefert. Diese Konsiliensammlungen sollten die Rechtsfindung sowohl im weltlichen wie im kirchlichen Rechtskreis erleichtern. Akademische Theologen und theologische Fakultäten waren hingegen vor allem mit Lehrgutachten beschäftigt, die in Häresie- und Zensurverfahren eine Rolle spielten und der kirchlichen Gerichtsbarkeit, meist den Diözesangerichten, zuarbeiteten. Ebenfalls gebräuchlich war die Heranziehung akademischer Gutachten in Streitfällen von Herrschern untereinander. In diesem Kontext dienten die Gutachten vor allem der moralischen Legitimation von politischen Handlungen und stellten eine Form gelehrter Politikberatung dar. Melanchthons Gutachtertätigkeit stand also in einer langen Tradition. Jedoch unterschied sie sich von den akademischen Üblichkeiten, weil sie die eingespielten DOI 10.1515/9783110335804-022
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fachspezifischen Zuständigkeiten im Gutachtenwesen vielfältig überschritt. Hierin zeigt sich ein grundsätzlicher Funktionswandel theologischer Gutachten im 16. Jahrhundert: In den zur Reformation übergehenden Territorien besonders im Alten Reich wurden sie zur Beratung der landesherrlichen Religionspolitik ebenso herangezogen wie zur Ausgestaltung des territorialen Kirchenwesens, der Kirchenordnungen und der kirchlichen Gerichtsbarkeit. In ihren Gutachten behandelten akademische Theologen damit oft Themen, die vormals in den Zuständigkeitsbereich der juristischen Fakultäten fielen. Melanchthon und der Kreis der „Wittenberger Theologen“ (Kohnle 2002) waren mit ihren Gutachten kursächsische Politikberater in den weit verstandenen „geistlichen Dingen“, was 1536 auch in den Universitätsstatuten festgeschrieben wurde.
2 Melanchthons Gutachten 2.1 Probleme Wie viele Gutachten Melanchthon genau verfasste, ist kaum einzuschätzen. Das liegt einmal daran, dass nicht alle Gutachten Melanchthons erhalten sind. Die Überlieferungslage ist der von Melanchthons Briefen vergleichbar (siehe C.I. Briefe). Zum anderen ist die quellenkundliche Kategorie der „Gutachten“ unscharf. Zwar lässt sich allgemein unter einem Gutachten eine Stellungnahme eines Sachverständigen oder mehrerer Sachverständiger zu einem konkreten Sachverhalt verstehen. Doch eine genaue Abgrenzung zu Zeugnissen, freundschaftlichen Ratschlägen, Fürsprachen und Denkschriften lässt sich nicht abstrakt bestimmen, sondern muss am konkreten Einzelfall entschieden werden. Entsprechend variabel sind die literarischen Formen eines Gutachtens: Sie können informell erteilt werden, durch einen Brief etwa oder im Verlauf eines Briefes. Sie können aber auch ganz formal gestaltet sein, beispielsweise als eine gesiegelte Urkunde. Ausführliche Gutachten nähern sich oft dem Lehrtraktat an. Diese Schwierigkeiten der Quellengattung Gutachten spiegeln sich in den neuzeitlichen und modernen Melanchthoneditionen wider: Heinrich Ernst Bindseil folgt in seiner Ausgabe Philippi Melanchthonis Epistolae, Iudicia, Consilia, Testimonia Aliorumque Ad Eum Epistolae Quae in Corpore Reformatorum Desiderantur (1874) einem – wie der Titel schon anzeigt – ganz offenen Zusammenstellungsprinzip. Er verzeichnet dabei 585 Schriftstücke, darunter Briefauszüge. Ähnlich verfuhren schon die frühneuzeitlichen Ausgaben von Melanchthons „Gutachten“ (s.u. 3.). In den Regesten der modernen Edition von Melanchthons Briefwechsels (MBW) werden hingegen die Textsorten „Brief“, „Gutachten“ und „Vorreden“ unterschieden und 291 „Gutachten“ aufgeführt. Die neuere Forschung zu den Kollektivgutachten der Wittenberger Theologen zwischen 1520 und 1559 durch Armin Kohnle hat allerdings von diesem Bestand ausgehend im Einzelfall Neuzuordnungen vorgenommen. Sicher lässt sich deshalb sagen, dass Melanchthon an 146 von insgesamt 176 identifizierten Kollektivgutachten teils federführend beteiligt war. Die Arbeit an den Gemeinschafts-
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gutachten bildete damit auf jeden Fall einen substantiellen Teil von Melanchthons Gutachtertätigkeit, dessen quantitatives Verhältnis zu den von Melanchthon erteilten Einzelgutachten jedoch noch ungeklärt ist. Ähnliches gilt auch für die Frage nach dem Verhältnis der Themen, die Melanchthon in seinen Gutachten behandelte. Deutliche thematische Differenzen zwischen den Einzelgutachten und den Gemeinschaftsgutachten lassen sich insgesamt nicht erfassen. Etwaige Schwerpunktbildungen und damit das spezifische Gutachterprofil Melanchthons werden letztlich auch erst durch den Vergleich mit den Gutachtertätigkeiten der anderen Wittenberger Theologen deutlich werden können. An Forschungen hierzu mangelt es. Dabei ist zu berücksichtigen, dass aufgrund der Eigenarten der eingangs skizzierten Struktur des akademische Gutachtenwesens die Ausbildung solcher individuellen und kollektiven Themenschwerpunkte im hohen Maß von den Gutachtenanfragen abhängig war, die sich thematisch meist an tagespolitisch aktuellen Problemen orientierten. Der quantitative Rhythmus sowie die thematische Fokussierung von Melanchthons Gutachtertätigkeit wurden also wesentlich von außen bestimmt.
2.2 Themenfelder – exemplarische Übersicht Melanchthon trat zunächst als Mitglied des Wittenberger Theologenkollektivs gutachterlich in Erscheinung. Sein allererstes Gutachten – das er zusammen mit Johannes Eisermann, Andreas Karlstadt, Hieronymus Schurff, Stephan Wild, August Schurff, Nikolaus von Amsdorf und Johannes Reuber verfasste – stammt aus dem Jahr 1521 (MBW 185). Es ist an Kurfürst Friedrich von Sachsen gerichtet und betrifft die Reform der Messe; es fällt in den Kontext der sogenannten „Wittenberger Bewegung“. In seiner anhaltenden gutachterlichen Tätigkeit in Bezug auf die Reformation des Kirchenwesens war Melanchthon dann etwa bei der in Nürnberg gutachterlich beteiligt, wobei er sowohl Ratschläge für die Gestaltung von kirchlichen Stiftungen (MBW 439) als auch der kirchlichen Zeremonien (MBW 464) gab. Schon 1523 tat sich mit der Frage nach dem Recht der Fürsten, gegen den Kaiser Widerstand leisten zu können, ein politisch wie theologisch brisantes Problem auf (MBW 163). In Kollektiv- wie Einzelgutachten beschäftigte das von der Forschung eingehend behandelte Themenfeld des Widerstandsrechts Melanchthon sein Leben lang, wobei seine Ablehnung eines Präventivkrieges eine durchgehende Konstante darstellt (vgl. MBW 9168). Im Vergleich zu Martin Luther, der über seine Belastung durch Ehegutachten schon früh klagte (WA 15, 163), war Melanchthon eher selten in Eheangelegenheiten als Gutachter tätig. Das erste hierher gehörende Gutachten, das den Fall einer Ehe mit einer dem Kloster entlaufenen Nonne behandelt, datiert auf das Jahr 1526 (MBW 519). Als politisch besonders heikel und folgenreich erwiesen sich in diesem Sachzusammenhang die Gutachten für Heinrich VIII. von England im Jahr 1531 (MBW 1180) sowie für Philipp von Hessen in den Jahre 1540/41 (MBW 2404 und 2465), in denen die – in der
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Frühen Neuzeit häufig diskutierte – Frage nach der Möglichkeit der Polygamie erörtert wurde. Die 1539 erfolgte Einrichtung des Wittenberger Konsistoriums, das für die Ehegerichtsbarkeit zuständig war, hat keine merkbaren Auswirkungen für Melanchthons Gutachtertätigkeit in Ehesachen gehabt. Mit der kirchlichen Konsolidierung der Wittenberger Bewegung traten Fragen der reformatorischen Lehre in den gutachterlichen Aufgabenkreis Melanchthons. Hierbei stand vor allem das rechte Verständnis des Abendmahls seit 1527 im Vordergrund, sowohl in Auseinandersetzung mit Karlstadt und Ulrich Zwingli (MBW 595) als auch mit den Altgläubigen (MBW 641). Noch eins seiner letzten Gutachten, das nach Ungarn ging, war diesem Problem gewidmet (MBW 9125). Die politische und rechtliche Dimension solcher Gutachten wird in der früh einsetzenden Abgrenzung von den Täufern greifbar (MBW 640,vgl. MBW 1748). Darüber hinaus versuchte Melanchthon durch seine Lehrgutachten wiederholt, unter Zurückstellung der äußerlichen Mitteldinge (Adiaphora) einen übergreifenden theologischen Konsens zwischen humanistischreformerischen gesinnten Bewegungen seiner Zeit auszubilden,wie etwa im Fall seines Gutachtens für den französischen Diplomaten Guillaume du Bellay von 1534 (MBW 1467). Ebenfalls in den Zusammenhang der zunehmenden Verfestigung und Ausbreitung des reformatorischen Kirchentums gehört Melanchthons gutachterliches Engagement in Fragen des Bildungswesens. Für die Mädchenschule in Weida verfasste Melanchthon 1528 gutachterlich eine Schulordnung (MBW 694a). In der Reorganisation als auch Neugründung von Universitäten war Melanchthon mehrfach gefragt, wie etwa im Fall Tübingens (MBW 2039) oder Jenas (MBW 4800). Ab 1529, als er in Speyer das erste Mal an einem Reichstag teilnahm, wurde Melanchthon auf dem Gebiet der Reichsreligionspolitik gutachterlich tätig. In diesem Kontext hat Melanchthon wiederholt über die Frage nach einem Konzil als Mittel der Einigung zwischen den reformatorischen und altgläubigen Ständen gegutachtet (vgl. nur MBW 880) und im Verlauf des Trienter Konzils die kursächsischen Gesandten instruiert (MBW 6185). Für die Religionsgespräche in Hagenau/Worms (MBW 2462) und Regensburg (MBW 4114) gab er teils gemeinsam mit den Wittenbergern Ratschläge. Nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, zu dem sich Melanchthon gemeinsam mit Johannes Bugenhagen nur einmal direkt gutachterlich geäußert hat (MBW 7545), bereitete er das Wormser Kolloquium vor (MBW 7855) und entwarf nach dessen Scheitern für Kurfürst August von Sachsen den Plan einer Synode aller Fürsten und Stände Augsburgischer Konfession (MBW 8543). Die Pläne eines Verteidigungsbündnisses und der Lehreinheit der reformatorischen Fürsten und Stände beschäftigten ihn in Gutachten bis kurz vor seinen Tod (MBW 9168).
2.3 Bedeutung In den Gutachten tritt Melanchthon, alleine und mit den anderen Wittenberger Theologen, als reichsweit und über die Reichgrenzen hinaus gefragte Autorität der
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werdenden reformatorischen Kirchen Wittenberger Prägung hervor. Die mit Abstand meisten Gutachten sind allerdings für die kursächsischen Fürsten verfasst, die ihre universitären theologischen Eliten in alle religionspolitischen und kirchlichen Belange zumindest beratend einbanden. Dadurch übten Melanchthon und die Wittenberger Theologen beträchtlichen Einfluss auf den reformatorischen Kurs Kursachsens aus, wenn auch die unmittelbare Wirkung der von Wittenberg ausgehenden Gutachten sich nicht pauschal charakterisieren lässt. Kontextabhängige Modifikationen der gutachterlichen Ratgebungen gehörten jedenfalls zur Tagesordnung, die wiederum auf die Gutachtenpraxis der Wittenberger Theologen zurückwirkten. Das betrifft besonders reichspolitische Stellungnahmen: Nach 1530 kam es etwa in Bezug auf die Widerstandslehre wie auch der Billigung der Todesstrafe für die Täufer zu Anpassungen an die kursächsischen Bündnisstrategien und das Reichsrecht. Dass Melanchthon und die Wittenberger Theologen als reformatorische Autoritäten wahrgenommen wurden, liegt nicht zuletzt an der bemerkenswerten positionellen Geschlossenheit der Gruppe selbst unter der Bedingung wechselnder personeller Zusammensetzung. Zumindest wurden Dissense nur sehr selten, und wenn, dann nur in Akzentverschiebungen gutachterlich nach außen getragen (MBW 1764). Aufgrund seiner hervorgehobenen Rolle bei der Abfassung der Gemeinschaftsgutachten kann Melanchthon als zentraler Architekt der Positionen des Wittenberger Theologenkollektivs gelten. Welche Folgen der Tod Luthers, der Schmalkaldische Krieg und kursächsische Dynastiewechsel sowie die Interimskrise und der ausbrechende Adiaphorastreit auf das Ansehen Melanchthons und der von ihm geprägten Wittenberger Linie, mithin: auf die „Wittenberger Autorität“ hatten, wird in der Forschung divergent beurteilt. Sicher hat die einsetzende innerlutherische Diversifizierung für die theologische Bewertung von Melanchthons Gutachten und der nun von Wittenberg ausgehenden Kollektivgutachten einen Unterschied gemacht. Doch es bleibt festzuhalten, dass sich mit Blick auf die Gutachtertätigkeit von Melanchthon und den anderen Wittenberger Theologen – Johannes Bugenhagen war für Luther an die Stelle des Seniors der Theologischen Fakultät gerückt – relativ wenig änderte. Die ernestinischen Kurfürsten nahmen „ihre“ Fakultät genauso in Anspruch wie die albertinischen; Anfragen von außerhalb gab es auch. Bei Melanchthon lässt sich von 1546 an bis zu seinem Tod eine durchgängig hohe Frequenz der Gutachtertätigkeiten feststellen: In diesem Zeitraum verfasste er gut 130 Einzel- und Kollektivgutachten. Die Wittenberger theologische Fakultät blieb Melanchthons Leben lang das, was sie seit den frühen 1520er Jahren gewesen war: Ein zentrales und angesehenes theologisches Beratungszentrum.
3 Rezeption Zu seinen Lebzeiten und kurz danach wurden nur wenige Gutachten von Melanchthon gedruckt. Ihre Veröffentlichung im größeren Umfang, welche die Grundlage ihrer frühneuzeitlichen Rezeption darstellte, ist eng an die Editionsgeschichte von Melanchthons Briefen durch Christoph Pezel gekoppelt. Er publizierte im Zusammenhang
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mit seiner Edition der Briefe Melanchthons im Jahr 1600 eine Sammlung der lateinischen Consilia sive Iudicia Theologica sowie eine der deutschen Christliche[n] Berathschlagungen und Bedencken (beide gedruckt in Neustadt/Haardt). Beide Bände beinhalten neben Gutachten Briefe und Briefauszüge sowie akademische Quästionen beziehungsweise wiederum Auszüge aus solchen. Die Absicht Pezels war neben einer apologetischen, die dogmatischen Vorwürfe gegen Melanchthon und die „Philippisten“ entgegnen sollte, die Absicht, Melanchthon als praktischen Kirchenlehrer des stark von ihm beeinflussten Reformiertentums des Alten Reichs greifbar zu machen. Welche Folgen letztgenannte Absicht hatte, ist bislang ebenso unerforscht wie die eigentümliche Rezeptionsblüte der Gutachten Melanchthons, die Pezel mit seiner Sammlung im Konkordienluthertum auslöste: Das werdende Konkordienluthertum hat für seine kirchenpraktischen Orientierungen auf die aus dem Mittelalter schon bekannte Praxis der Zusammenstellung und des Drucks einschlägiger Gutachten zurückgegriffen. Dabei spielte in der ersten großen Konsiliensammlung mit dem Titel Consiliorum Theologicorum Decades (10 Teile, Tübingen 1605 – 1621), die der württembergische Generalsuperintendent Felix Bidembach d.Ä. begonnen hatte, Melanchthon noch keine Rolle. Das änderte sich durch die noch einmal erheblich größere und einflussreiche Sammlung des Hamburger Diakons Georg Dedeken grundsätzlich. In seinem dreiteiligen Thesaurus Consiliorum et Decisionum, der zuerst 1623 in Hamburg gedruckt und im Jahr 1671 zunächst durch Johann Ernst Gerhard d.Ä. und dann Christian Grübel ergänzt wurde, entnimmt Dedeken den Pezelschen Sammlungen – unter Angabe des Fundortes – umfangreich Gutachten und Stücke von Melanchthon. In allen dogmatischen und kirchenpraktischen Fragen tauchen bei Dedeken Gutachten Melanchthons, oder was aus seiner Perspektive dafür gehalten werden kann, auf. Darüber hinaus dokumentiert Dedekens Zusammenstellung die Verwendung von Melanchthons Gutachten in anderen Gutachten lutherischer Provenienz. Melanchthon ist ein zentraler Teil der Gesamtkomposition von Dedekens Entwurf, der zur Beratung der kirchenleitenden Organe im Sinne der lutherischen Theologie dienen sollte. Ähnlich verfährt die 1664 maßgeblich durch Abraham Calov beförderte Sammlung Consilia Theologica Witebergensia, die in Frankfurt a.M. gedruckt wurde. In ihr werden (fast) ausschließlich Gutachten der Wittenberger Fakultät beziehungsweise ihrer Angehörigen seit Luther als Repräsentanten des „Wittenbergischen Zion“ aufgeführt. Unter ihnen wiederum unter Rückgriff auf Pezel als auch Dedeken Melanchthons Gutachten beziehungsweise gutachtenähnliche Stücke.Von einer Distanzierung des Konkordienluthertums von Melanchthon als Kirchenlehrer zeugen die Konsiliensammlungen gerade nicht. Melanchthon erhielt durch sie im Verlauf des 17. Jahrhunderts seinen festen Platz in der Traditionsbildung des Luthertums.
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Quellen Trüdinger, Karl. 1975. Luthers Briefe und Gutachten an weltliche Obrigkeiten zur Durchführung der Reformation. RST 111. Münster.
Literatur Die Forschung und daher auch Literatur zu Melanchthons Gutachten ist insgesamt sehr überschaubar. Deshalb ist hier für weiterführende Perspektiven auch die auf Luthers besser erforschte Gutachtertätigkeit bezogene Literatur genannt: Casagrande, Carla. Hg. 2004. Consilium: teorie e pratiche del consigliare nella cultura medievale. Firenze. Kaufmann, Thomas. 2006. Konfession und Kultur. Tübingen. Kohnle, Armin. 2002. „Wittenberger Autorität. Die Gemeinschaftsgutachten als Typus.“ In Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. LStRLO 5, hg. v. Irene Dingel und Günther Wartenberg, 189 – 200. Leipzig. Kunst, Hermann. 1976. Evangelischer Glaube und politische Verantwortung. Martin Luther als politischer Berater. Stuttgart. Lange, Hermann. 2010. Recht und Macht. Politische Streitigkeiten im Spätmittelalter. Frankfurt a.M. Mayes, Benjamin T.G. 2011. Counsel and conscience: Lutheran casuistry and moral reasoning after the Reformation. Göttingen/Oakville CT. Wartenberg, Günther und Matthias Zentner, Hg. 1998. Philipp Melanchthon als Politiker zwischen Reich, Reichsständen und Konfessionsparteien. Themata Leucoreana. Wittenberg. Wolgast, Eike. 1977. Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen. Gütersloh. Wolgast, Eike. 1998. „Melanchthon als politischer Berater.“ In Melanchthon. Zehn Vorträge. Erlanger Forschungen A 85, hg. v. Hanns Christof Brennecke und Walter Sparn, 179 – 208. Erlangen.
Christine Mundhenk
Briefe
Es mag Zufall sein, dass der früheste von Melanchthon überlieferte Brief ausgerechnet die Vorrede zu einer Briefausgabe ist, nämlich zu den Clarorum virorum epistolae […] ad Ioannem Reuchlin von 1514, aber er lässt sich als programmatische Äußerung zu seinem eigenen Briefwechsel lesen, den Melanchthon sein Leben lang intensiv pflegte. Der gerade 17-jährige Tübinger Magister schreibt dort: „Die wichtigsten Angelegenheiten werden nämlich meistens in Briefen verhandelt“ („Epistolis enim res maximae plaerunque aguntur“, MBW 1.1). Briefe waren für Melanchthon zeitlebens das vorrangige Instrument, um mit entfernt lebenden Freunden im Gespräch zu bleiben, theologische Fragen zu diskutieren und verschiedenste Angelegenheiten zu regeln.
1 Umfang und Überlieferung Melanchthons noch erhaltene Korrespondenz umfasst etwa 9.750 Briefe, von denen er knapp 8.000 selbst verfasste. Darunter sind auch Widmungsbriefe, die in gedruckten Büchern als Vorrede erschienen, offene Briefe, Gutachten sowie Briefe, die Melanchthon mit anderen gemeinsam oder für andere verfasste; nicht berücksichtigt sind Briefe, die Melanchthon als Funktionsträger an der Wittenberger Universität, also als Rektor oder Dekan, schrieb. Die Zahl der verlorenen Briefe lässt sich nur anhand von Erwähnungen in den erhaltenen Briefen schätzen: Es dürften über 500 Briefe Melanchthons sein und 1.500 bis 2.000 an ihn gerichtete Schreiben. Die hohe Zahl fehlender Briefe an Melanchthon ist damit zu erklären, dass er die Briefe, die er bekam, meistens nicht aufbewahrte; er schickte sie weiter, verschenkte sie an Autographensammler – gelegentlich stritten sich sogar Interessenten um schön formulierte Briefe (MBW 5195.1) –, warf sie weg oder fand sie zwischen seinen Papieren nicht wieder. Melanchthons Briefe dagegen erfuhren von Anfang an große Wertschätzung, wurden aufgehoben und gesammelt; die ältesten eigenhändigen Briefe stammen schon aus dem Jahr 1514 (MBW 2 und 4). Die fleißigsten Sammler von Melanchthon-Autographen gehörten zur Familie Camerarius. Joachim, den über Jahrzehnte hinweg eine enge Freundschaft mit Melanchthon verband, sammelte die mehr als 600 Briefe, die er von diesem bekam; sie befinden sich heute in der Biblioteca Vaticana (Cod. Chigi J VIII 293 und 294). Sein Enkel Ludwig Camerarius pflegte den handschriftlichen Nachlass des Großvaters und vermehrte die Sammlung um zahlreiche Autographen aus der Reformationszeit, darunter auch viele Melanchthons. Ludwigs Sohn Joachim sammelte fleißig weiter. Die Collectio Camerariana, einer der wertvollsten Bestände der Bayerischen Staatsbibliothek München, umfasst 81 Bände (clm 10351– 10431). Ihr sechster Band (clm 10356) enthält an die 500 Autographen Melanchthons. Über 300 Autographen, von denen die meisten an Melanchthon gerichtete Schreiben sind, enthalten die beiden aus der Kirchenbibliothek im schlesischen Landeshut stammenden Bände, DOI 10.1515/9783110335804-023
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die nun in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel aufbewahrt werden (Cod. Guelf. 108/109 Noviss. 2o). Außer den erhaltenen Originalen gibt es ungezählte Abschriften von Melanchthonbriefen, vor allem aus dem 16. Jahrhundert. Sie dokumentieren, dass nicht nur das Papier, das der Praeceptor Germaniae mit eigener Hand beschrieben hatte, sondern auch die Inhalte seiner Briefe geschätzt wurden. Die umfangreichste Sammlung stammt von Jakob Monau aus Breslau. Im Jahr 1575 begonnen, füllten die Abschriften von Briefen Melanchthons und anderer ihm nahestehender Männer bald sechs Bände; die heute in der Bibliothèque Sainte-Geneviève in Paris liegenden und Epistolae haereticorum betitelten fünf Bände (Ms. 1454– 1458; der sechste Band ist verloren) enthalten rund 1.400 Briefe Melanchthons, von denen etwa 600 sonst nirgends überliefert sind. Der Naumburger Ratsherr Valentin Bayer (Bavarus) legte schon in den 1540er Jahren zwei dicke Bände an, die er neben Tischreden, Gutachten und Briefen Martin Luthers vor allem mit Briefen Melanchthons füllte (Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 15 und 16). Kleinere Sammlungen und einzelne Abschriften finden sich in über 500 Bibliotheken und Archiven in ganz Europa. Auch die ersten, zwischen 1565 und 1646 erschienenen Druckausgaben von Melanchthonbriefen, um die sich besonders dessen Schwiegersohn Caspar Peucer, Christoph Pezel und Johannes Saubert verdient gemacht haben, stellen für zahlreiche Briefe die einzige Quelle dar und sind damit wichtige Überlieferungsträger von Melanchthons Korrespondenz (zu den Ausgaben siehe Abschnitt 11).
2 Abfassung und Zustellung Melanchthon brachte seine Briefe weitestgehend selbst zu Papier; nur in Ausnahmefällen (z. B. wegen seiner Handverletzung 1541) diktierte er Briefe oder ließ bei Briefen an wichtige Adressaten von dem von ihm selbst sorgfältig vorformulierten Konzept eine Reinschrift herstellen. 1523 schrieb er: „Gewöhnlich schreibe ich nur dann an Freunde, wenn es einen dringenden Grund gibt“, und verwahrte sich dagegen, seine Zuneigung nach der Häufigkeit seines Schreibens zu beurteilen (MBW 267.1). Das Schreiben von Briefen gehörte zu den täglichen Pflichten Melanchthons. Er schrieb zu jeder Tages- und Nachtzeit. Er nutzte die ruhigen Morgenstunden (MBW 349) oder auch Nächte (MBW 3162); er schrieb im Beisein anderer (MBW 3804), am Bett seiner todkranken Frau Katharina (MBW 6844.4) oder mitten im Geschrei seiner kleinen Enkel (MBW 7148). Mehrfach kam es vor, dass er zehn Briefe an einem Tag schrieb und sich kurz fassen musste (MBW 7122.1). Die meisten seiner Briefe sind – im Gegensatz zu denen vieler anderer Humanisten – keine Kunstprodukte, sondern wirkliche Augenblickserzeugnisse, in denen er ohne Umschweife sein Anliegen vorbringt. Sein Stil ist schlicht, was er auch bei seinen Briefpartnern mehr schätzte als allzu mühevoll elaborierte Schreiben (MBW 693a); er selbst bezeichnete seinen Stil in Vers und Prosa als „trocken“ oder „mager“. Mangelnde Sorgfalt aber konnte er sogar an seinem Freund Veit Dietrich kritisieren (MBW 2731.1).
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Die Sprache, in der Melanchthon schrieb, richtete sich nach dem jeweiligen Adressaten. Weil die weitaus meisten Briefe innerhalb der res publica literaria gewechselt wurden, benutzte er überwiegend die Gelehrtensprache Latein. In deutscher Sprache fand vor allem die Kommunikation mit den deutschen Fürstenhäusern und den Städten statt. Ganz selten schrieb Melanchthon griechische Briefe; dieser selbst unter Gelehrten kaum verbreiteten Sprache bediente er sich aber innerhalb lateinischer Briefe gelegentlich, wenn er bestimmte Informationen verschlüsseln und für Außenstehende unverständlich machen wollte. Melanchthon schrieb seine Briefe auf Papier, dessen Größe etwa dem heutigen Format DIN A 4 entspricht. Er benutzte braunschwarze Tinte. Das beschriebene Blatt wurde gefaltet, außen mit der Adresse versehen und dann, mit einem Siegel verschlossen, auf den Weg gebracht. Der Transport der Briefe wurde weitgehend privat organisiert. Studenten, Bürgern oder Kaufleuten, die in eine andere Stadt reisten, wurden Briefe dorthin mitgegeben; dabei erwiesen sich einige Kaufleute nicht unbedingt als zuverlässig (MBW 3304.1). Eine Alternative waren Boten. Diese waren entweder im Auftrag von Städten oder Fürsten unterwegs oder konnten vom Absender beauftragt werden. Damit Boten sich nicht doppelt bezahlen ließen, vermerkte Melanchthon in seinen Briefen gelegentlich, dass er den Boten bereits entlohnt habe (MBW 5415.2). Boten beeinflussten auch das Abfassen von Briefen: Einerseits fühlte sich Melanchthon durch das Vorhandensein eines auswärtigen Boten veranlasst, wenigstens einen schriftlichen Gruß an Bekannte zu schreiben, die am Herkunftsort des Boten wohnten (MBW 1287; 3154); auch bat er gelegentlich um Antwort durch denselben Boten (MBW 3649). Andererseits sorgte das Drängen des reisefertigen Boten mehrfach dafür, dass Melanchthon nur eilig und kurz schreiben konnte, oder es verhinderte sogar, dass Briefe überhaupt geschrieben wurden (MBW 8180.2)! Zusätzlich zum Brief konnten Boten auch mündliche Nachrichten überbringen (MBW 244; 1557). Die Laufzeiten der Boten und damit der Briefe wurden durch die Witterung und andere äußere Umstände beeinflusst. Weil einige Adressaten auf den Briefen das Empfangsdatum vermerkt haben, lässt sich die Übermittlungsdauer angeben: Von Wittenberg nach Nürnberg gelangten Briefe meistens in 10 bis 12 Tagen, nach Marburg brauchten sie ungefähr eine Woche, und ins ferne Königsberg waren Briefe etwa drei Wochen unterwegs.
3 Briefpartner Melanchthons Briefpartner verteilen sich über ganz Europa, von Skandinavien und dem Baltikum bis nach Italien, von Polen und Rumänien bis nach England und Frankreich. Sie kommen aus allen Bereichen der Gesellschaft. Zu den Korrespondenten zählen Kaiser Karl V., die Könige Heinrich VIII. von England, Franz I. von Frankreich, Christian III. von Dänemark und Gustav I. Wasa von Schweden, etliche Fürsten – vor allem die sächsischen Kurfürsten Johann, Johann Friedrich I. und Moritz sowie der hessische Landgraf Philipp I. –, die Kardinäle Lorenzo Campeggi und Jean
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du Bellay sowie andere geistliche Würdenträger, zahlreiche Städte, Gelehrte und Theologen wie Erasmus von Rotterdam und Johannes Calvin. Neben vielen prominenten Adressaten gibt es auch zahlreiche unbekannte Empfänger; bei etlichen Briefen ist sogar der Name des Adressaten verloren. Unter den Adressaten von Melanchthons Briefen sind etwa 20 Frauen. Auch bei ihnen reicht das gesellschaftliche Spektrum von den Königinnen Margarete von Navarra und Elisabeth I. von England über die Kurfürstin Anna von Sachsen, die Ehefrauen seiner Freunde Anna Camerarius und Sibylle Baumgartner bis zur Witwe eines namentlich nicht bekannten Kämmerers in Merseburg (MBW 1583). Den größten Teil der Korrespondenz bilden aber die Briefe, in denen sich Melanchthon mit Freunden und Gleichgesinnten austauschte. Mit seiner Korrespondenz knüpfte Melanchthon ein engmaschiges Beziehungsnetz, das ganz Europa überspannte. Durch die Verbindung mit seinen Freunden, Schülern und Kollegen verfügte er über vielfältige Kontakte, die er bewusst und intensiv pflegte. Er verstand es, seine Studenten nach ihrem Weggang aus Wittenberg durch die briefliche Beziehung weiterhin an die lutherische Lehre zu binden. So trugen seine Briefe und persönlichen Kontakte dazu bei, die evangelische Lehre an vielen Orten zu etablieren und zu sichern. Er selbst profitierte von den Kontakten, weil er stets mit Informationen über aktuelle Ereignisse und Entwicklungen in der Politik, in Religionsangelegenheiten und in anderen Bereichen versorgt wurde. Manche Briefpartner wollten dem vielbeschäftigten Professor möglichst wenig zur Last fallen und schickten ihre Briefe in Melanchthons direktes Umfeld: Johannes Mathesius schrieb nur wenige Briefe direkt an Melanchthon, aber viele Briefe an Paul Eber, dessen enge Beziehung zu Melanchthon er kannte. Die für Melanchthon bestimmten Informationen kamen bei ihm an; in mehreren Briefen reagierte Melanchthon auf Fragen und Wünsche, die Mathesius an Eber gerichtet hatte. Von einer Analyse des Briefnetzes, das um den Reformator herum bestand, sind weitere interessante Aufschlüsse über die Kommunikationsstruktur der protestantischen Theologen zu erwarten.
4 Einzelkorrespondenzen Innerhalb des gesamten Briefcorpus ragt die Korrespondenz mit dem bereits erwähnten Joachim Camerarius in jeglicher Hinsicht heraus. Mit rund 670 erhaltenen Briefe aus den Jahren 1522– 1560 (davon 69 von Camerarius) ist sie mit großem Abstand die umfangreichste Einzelkorrespondenz, darüber hinaus ist sie auch die gehaltvollste. Über Jahrzehnte der räumlichen Trennung hinweg – nach seiner Wittenberger Zeit lebte Camerarius in Bamberg, Nürnberg, Tübingen und schließlich in Leipzig – teilte Melanchthon dem Freund offenherzig mit, was ihn bewegte. Die vertrauensvollen Briefe bezeugen die enge Verbundenheit, ja Geistesverwandtschaft, die zwischen beiden bestand; darüber hinaus geben sie Einblick in Melanchthons Innerstes, seine Gedanken, Gefühle und Erlebnisse, und zeigen unverstellt seine persönliche Einschätzung der politischen und religiösen Vorgänge der Zeit.
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Aus den Briefen an Camerarius wird deutlich, wie sehr er unter der unglücklichen Ehe seiner Tochter Anna Sabinus litt, welche Vorwürfe er seinem Schwiegersohn Georg Sabinus machte und inwieweit er sich selbst mitschuldig fühlte. In mehreren Briefen thematisierte Melanchthon seine Freundschaft mit Camerarius, in der er neben seinen vielfältigen Alltagspflichten Ruhe und Erholung fand: „In den Gesprächen und im Zusammensein mit Dir komme ich, sooft wir zusammen sind, am besten zur Ruhe“ (MBW 3343.1), der er aber über das Private hinaus durch den Zusammenhalt zwischen Gelehrten auch eine gesellschaftliche und politische Bedeutung beimaß: „Mit keinem Menschen habe ich in meinem Leben angenehmeren Umgang gehabt als mit Dir, und ich hoffe, dass unsere Freundschaft vielen guten Leuten als Vorbild gedient hat, aber auch, dass sie in den Wissenschaften die Meinungsbildung einiger beeinflusst hat und in Zukunft noch nützlich sein wird“ (MBW 4498.1). Um sich durch allzu offene Meinungsäußerungen nicht in Misskredit oder gar Gefahr zu bringen, falls Briefe in falsche Hände gerieten, verschlüsselte Melanchthon oft Eigennamen oder Aussagen, indem er Decknamen benutzte oder Partien seiner Briefe auf Griechisch schrieb; diese damals kaum verbreitete Sprache diente ihm als Geheimsprache. Camerarius sammelte die Briefe seines Freundes und publizierte sie 1569 in einem stattlichen Band (VD 16 M 3553 und ZV 21686). Als Karl Gottlieb Bretschneider, der erste Herausgeber des Corpus Reformatorum, an dieser Ausgabe bemängelte, dass Camerarius keinerlei Kommentare und Erklärungen hinzugefügt hätte, um zahlreiche unklare Stellen zu entschlüsseln (CR 1, XLVII), ahnte er nicht, dass Camerarius das Verständnis vieler Stellen bewusst erschwert hatte. Denn für seine Ausgabe veränderte Camerarius den Wortlaut vieler Briefe: Er verschlüsselte Eigennamen in weitaus größerem Maß, als es Melanchthon selbst getan hatte, entschärfte kritische Äußerungen, verschleierte und verallgemeinerte konkrete Aussagen und änderte Formulierungen, sodass manche Briefe stellenweise unverständlich wurden. Erst als die Ausgabe des Camerarius mit den in Rom verwahrten und bis 1875 unzugänglichen Autographen Melanchthons verglichen werden konnte, kam das Ausmaß der redaktionellen Bearbeitung ans Licht. Das eklatanteste und aufsehenerregendste Beispiel ist wohl der griechische Brief, in dem Melanchthon am 16. Juni 1525 (MBW 408) offen seine Missbilligung über Luthers Heirat, die er während der Bauernkriegswirren vollzog, äußerte. In Camerarius’ Ausgabe lauten die entscheidenden Sätze (Übersetzung beider Stellen von H. Scheible [1968] 1996c, 7– 8): „Der Mann ist keineswegs ein Menschenfeind oder ungesellig. Du weißt, was gemeinsames Leben mit sich bringt. Das Weitere denkst Du Dir besser, als daß ich es schreibe: Es ist kein Wunder, daß die edle Natur und Seelengröße des Mannes erweicht wurden, zumal das Geschehene nicht schimpflich oder tadelnswert ist. Wenn aber sonst noch etwas gar Unanständiges geschwätzt wird, so ist das offenkundig Lüge und Verleumdung. Ich glaube, daß er auch unter dem Zwang der Natur geheiratet hat.“ Wurden diese Sätze schon für so offen erachtet, dass man daraus große Zuverlässigkeit der Edition des Camerarius ableitete, stellte sich beim Vergleich mit dem Autograph heraus, dass Melanchthon dem Freund seine Meinung noch viel deutlicher mitgeteilt hatte: „Der Mann ist überaus gutmütig, und die Nonnen haben all ihre Künste darauf verwandt, ihn an sich zu ziehen.Vielleicht hat der häufige Umgang
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mit den Nonnen ihn bei all seiner edlen Natur und Seelengröße weich gemacht und entflammt. Auf diese Weise scheint er in diese unzeitige Veränderung seines Standes hineingeraten zu sein. Das Geschwätz aber, daß er sie schon vorher entjungfert habe, ist bestimmt erlogen. Nun, nachdem es geschehen ist, soll man sich nicht aufregen oder schimpfen. Ich glaube vielmehr, man ist von Natur gezwungen zu heiraten.“ Diese Unverblümtheit aus der Feder des sonst eher zurückhaltenden Melanchthon überraschte viele. Doch sie ist ein Zeichen dafür, dass Melanchthon sich seinem besten Freund ganz offen und rückhaltlos anvertraute. Dass Joachim Camerarius mehrere Jahre in Nürnberg lebte, trägt dazu bei, dass Nürnberg diejenige Stadt ist, in die Melanchthon die meisten Briefe schickte, nämlich fast 750. Wichtigste Briefpartner dort waren der Pfarrer Veit Dietrich und der Patrizier Hieronymus Baumgartner, mit denen Melanchthon seit ihrem Studium in Wittenberg in enger Freundschaft verbunden war. Die kulturell und wirtschaftlich blühende und politisch unabhängige Reichsstadt, in der durch ihre vielfältigen Handelsbeziehungen nicht nur Waren, sondern auch aktuelle Informationen über die politischen Entwicklungen im Ausland ausgetauscht wurden, galt ihm in besonderem Maß als Hort der Bildung und der Wissenschaften: „Ich denke jetzt oft, dass aus göttlichem Ratschluss vor allem in den Städten und Euren Aristokratien das Licht der gottgefälligen Lehre entzündet wurde, weil dort später einmal die Wissenschaften und die Kirchen Aufnahme finden werden; den Staaten der Fürsten drohen verhängnisvolle Veränderungen“, sah er schon 1543 voraus (MBW 3197.1). Durch seine Freundschaften zu Dietrich und besonders zu Baumgartner, der lange Jahre dem Rat der Stadt Nürnberg angehörte, hatte Melanchthon direkte Verbindungen zu den gut informierten Kreisen der Stadt. In den Briefen, die zwischen Wittenberg und Nürnberg hin- und hergingen, wurden neben persönlichen Belangen viele Informationen über politische Ereignisse ausgetauscht. Weil die Pflege der Wissenschaften in Nürnberg, die nicht zuletzt von Baumgartner betrieben wurde, auch zu einem großen Bedarf an qualifizierten Lehrern und Pfarrern führte, nutzte Melanchthon seine Beziehungen auch dazu, der Stadt zahlreiche Studenten und Absolventen für Stipendien und freie Stellen zu empfehlen; die an den Ratsherrn Baumgartner gerichteten Schreiben waren in vielen Fällen erfolgreich. Von größtem Interesse ist natürlich Melanchthons Briefwechsel mit Martin Luther. Da sie in Wittenberg beinahe als Nachbarn lebten und sich als Kollegen ständig begegneten, existieren Briefe zwischen beiden nur aus den Phasen, in denen sie räumlich voneinander getrennt waren. Das war vor allem dann der Fall, wenn Melanchthon zu Reichstagen und Religionsgesprächen reiste, an denen Luther wegen der gegen ihn verhängten Reichsacht nicht teilnehmen konnte. Der Briefwechsel mit Luther nimmt nicht nur durch die Prominenz des Briefpartners eine besondere Stellung in Melanchthons Korrespondenz ein; er ist auch dadurch etwas Besonderes, dass mehr Briefe überliefert sind, die Luther an Melanchthon geschrieben hat als umgekehrt: 61 Briefen Melanchthons stehen 83 Briefe Luthers gegenüber. Die meisten stammen aus der Zeit des Augsburger Reichstags 1530 und der Religionsgespräche in Worms 1540 und Regensburg 1541. Am intensivsten war der briefliche Austausch, als Luther von der
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Coburg aus den Augsburger Reichstag verfolgen musste, auf dem Melanchthon als Wortführer unter den protestantischen Theologen an der CA arbeitete. Beide standen in ihrer jeweils ungewohnten Rolle – Luther als bloßer Zuschauer, Melanchthon auf der großen Bühne – unter enormer Anspannung, die sich in den Briefen (besonders Luthers) gelegentlich entlud und zeitweilig zu Missstimmung zwischen beiden führte. Melanchthon informierte Luther nicht nur über die Ereignisse des Reichstags, schickte Fragen zu einzelnen Punkten der Lehre und verlangte Luthers Urteil über die CA, sondern er schilderte auch unterschiedliche Stimmungslagen bei sich und im protestantischen Lager, die zwischen tiefer Depression und vorsichtigem Optimismus schwankten, bat um Luthers Zuspruch und ärgerte sich darüber, wenn Luther nicht schrieb. Die Coburg-Briefe, denen eine große Dynamik innewohnt, wurden vielfach und mit unterschiedlichen Ergebnissen für die Bewertung des Verhältnisses zwischen Luther und Melanchthon herangezogen. Um dieses Verhältnis geht es auch in Melanchthons berüchtigtstem und am meisten missverstandenen Brief, seinem Schreiben an Christoph von Carlowitz vom [25.] 28. April 1548 (MBW 5139), in dem er zwei Jahre nach Luthers Tod schreibt, er hätte früher eine beinahe schmähliche Knechtschaft ertragen, weil Luther mehr seiner streitlustigen Natur als seinem Ansehen oder dem allgemeinen Nutzen gedient hätte. Vielfach wurde Melanchthon deswegen vorgeworfen, das Andenken Luthers beschädigt und sich zu sehr der Gegenseite angenähert zu haben. Heinz Scheible (1966b, 102– 130) hat in einer kontextbezogenen Betrachtung und Analyse des Briefes nachgewiesen, dass er mit anderen Äußerungen des Reformators über Luther und zum Interim durchaus übereinstimmt, und ihm so seine Brisanz genommen. In der großen Menge von Melanchthons Briefen finden sich nur ganz vereinzelt Briefe, die er an Familienangehörige geschrieben hat. Überliefert sind fünf Briefe an seinen Sohn Philipp d.J., die hauptsächlich Ermahnungen und Anweisungen enthalten, und ebenfalls fünf Briefe an seinen Bruder Georg Schwartzerdt, dem er nach eigenen Angaben zweimal jährlich schrieb (MBW 5838), sowie zwei Briefe an Georgs Sohn Sigismund. Briefe, die zwischen Melanchthon und seiner Frau oder seinen Töchtern gewechselt wurden, fehlen. (Der Grund dafür ist allerdings nicht, dass sie gar nicht schreiben konnten; gelegentlich werden durchaus Briefe der Töchter erwähnt, sie sind aber nicht erhalten.) Dafür stand Melanchthon mit seinen Schwiegersöhnen Georg Sabinus und Caspar Peucer in brieflichem Kontakt. Da beide ebenfalls Professoren waren, gaben wohl oft universitäre Belange den Anlass zum Schreiben und nehmen in den Briefen entsprechend großen Raum ein. Der Wunsch nach sentimentalen Äußerungen Melanchthons gegenüber seinen Angehörigen war so groß, dass Johann Friedrich Wilhelm Tischer als Anhang zu seiner Schrift Philipp Melanchthons Leben (Leipzig 1795) zwei offenbar von ihm selbst erfundene Briefe Melanchthons an seinen Bruder publizierte; der erste, datiert Marburg 1529, drückt Trauer um die kürzlich verstorbene Mutter und Kummer über den Dissens zwischen Luther und Ulrich Zwingli aus, der zweite, angeblich 1530 in Augsburg geschrieben, schildert Melanchthons Gefühlslage während der Abfassung der CA. Nikolaus Müller (1908) entlarvte sie als Fälschungen.
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5 Themen Das Spektrum an Themen, die in Melanchthons Briefwechsel zur Sprache kommen, deckt alle Bereiche seines Leben ab: theologische Belange des Reformators, den Arbeitsalltag des Professors und Bildungsorganisators, private Freuden und Leiden des Familienvaters. In den meisten Briefen werden nicht nur ein einziges, sondern mehrere Themen behandelt; zusätzlich werden Grüße übermittelt und Schriften oder Geschenke übersandt. Melanchthon lässt seine Briefpartner durch die Jahrzehnte hindurch an seiner familiären Entwicklung teilhaben: Er schildert seine anfängliche Ablehnung der Ehe; er teilt freudig die Geburten der Kinder und Enkel mit, an denen er viel Freude hatte, und sieht in der Liebe zu den Kindern den Abglanz der Liebe Gottes: „Zweifellos ist die Liebe zu den Kindern den Menschen von Gott eingepflanzt, um an die Liebe Gottes zu seinem Sohn und zu uns zu erinnern“ (MBW 6301.1). Umso schwerer kann er das Leid ertragen, das ihm der Tod seines Söhnchens Georg, die unglückliche Ehe und der Tod seiner Tochter Anna und die heimliche Verlobung seines Sohnes Philipp verursachten, und den schmerzlichen Verlust, den der Tod seiner Frau für ihn bedeutete. Über Belange der Haushaltung informieren etliche Briefe Melanchthons an seinen Famulus und Vertrauten Johannes Koch. In den Briefen stecken viele Details, durch die Melanchthons Biographie ergänzt werden konnte. Darüber hinaus bieten sie facettenreiche Einblicke in die Alltagskultur des 16. Jahrhunderts, weil viele Themen des täglichen Lebens zur Sprache kommen, zum Beispiel Krankheiten, Geschenke, Buchdruck und -handel, Mobilität. Selbstverständlich finden die wichtigen theologischen und kirchenpolitischen Fragen der Zeit ihr Echo in Melanchthons Briefen. Im Austausch mit anderen Theologen werden die Entstehung und die zeitgenössische Wirkung wichtiger reformatorischer Texte und Bekenntnisschriften illustriert und dokumentiert, vor allem der CA und ihrer Apologie sowie der Wittenberger Konkordie (MBW 1744). Briefe und Gutachten, die Melanchthon für und auf Reichstagen und Religionsgesprächen verfasste, zeigen das zähe Ringen mit den protestantischen Kollegen, viel mehr aber mit den Vertretern der altgläubigen Seite. Deren Texte, besonders das Regensburger Buch und das Augsburger Interim,werden ausgiebig diskutiert. Darüber hinaus legt Melanchthon in vielen Briefen seine eigenen theologischen Positionen dar: die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die Lehre von den Sakramenten, den Umgang mit den Adiaphora, Fragen der Kirchenverfassung. Die verschiedenen Phasen des Abendmahlsstreits und der Abgrenzung von Gegnern wie Matthias Flacius Illyricus und Andreas Osiander erfordern immer wieder eine Bestimmung und Erörterung des eigenen Standpunkts. Etliche Gutachten, die Melanchthon – oft gemeinsam mit den anderen Wittenberger Theologen – vor allem im Auftrag der sächsischen Kurfürsten verfasste, zeigen, wie gefragt seine Meinung in der Religionspolitik war. Auch Belange des kirchlichen Alltags in einzelnen Gemeinden werden vielfach thematisiert, denn viele Amtsträger wandten sich in schwierigen Angelegenheiten Rat suchend nach
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Wittenberg. Dabei geht es um die Abschaffung oder Beibehaltung der Elevation, die Gültigkeit von Taufen, Probleme bei der Handhabung der Sakramente oder komplizierte Fälle des Eherechts. Auch in ganz praktischen Dingen wie der Besetzung kirchlicher Stellen oder bei kollegialen Problemen zwischen den Pfarrern einer Gemeinde leistete Melanchthon mit Empfehlungen Beistand oder versuchte zu vermitteln. Als Professor, zeitweilig auch als Dekan und Rektor, kümmerte sich Melanchthon um die Belange der Universität Wittenberg. Außerdem setzte er sich auf vielfältige Weise für die Förderung und Bewahrung des Schulwesens, der Wissenschaften und Künste ein. In seinen Briefen spiegelt sich sein Universitätsalltag mit Vorlesungen, Disputationen und Promotionen wider, die Arbeit an zahlreichen Schriften und Lehrbüchern, die aus dem Unterricht an der Universität hervorgingen, aber auch die Verbreitung seiner Vorstellung von christlich-humanistischer Bildung und sein Engagement bei der Gründung von Schulen in mehreren Städten (z. B. Nürnberg und Soest). Bekannt ist in diesem Zusammenhang sein von Perikles (bei Aristoteles, Rhetorik 1, 7 1365a 32– 33) entlehnter und auf die Schulen übertragener Satz: „Die Jugend in den Städten zu vernachlässigen, ist, als würde man den Frühling aus dem Jahr herausnehmen“ (MBW 2461.5). Um den Verfall der Schulen und der Bildung zu verhindern, setzte Melanchthon sich bei Städten und Landesherren für den Erhalt und Ausbau des Schulwesens ein, vermittelte Kandidaten zur Besetzung von Lehrer- und Professorenstellen, wirkte bei Schulvisitationen mit und setzte sich für eine angemessene Wertschätzung und Bezahlung der Lehrer ein. Sein Briefwechsel dokumentiert diese vielfältigen Aktivitäten, die Melanchthon den Ehrentitel Praeceptor Germaniae einbrachten.
6 Trostbriefe Angesichts der ständigen Bedrohung durch Krankheiten, Tod, Kriege und anderes Ungemach finden sich in vielen Briefen trostreiche und ermutigende Passagen, in denen Melanchthon seine Anteilnahme am Leid der anderen zeigte. Trost spendete Melanchthon in allgemein bedrohlichen politischen Verhältnissen genauso wie bei häuslichem Kummer oder verzweifelten Situationen. Er spendete ihn nicht nur Freunden und Bekannten, sondern auch Fürsten, mit denen er besser bekannt war; so tröstete er den kranken Georg von Anhalt (MBW 2355.1), ermutigte Philipp von Hessen in der Gefangenschaft (MBW 4844.1) und sprach Johann Friedrich dem Mittleren in dem Unglück, in das seine Familie durch den Schmalkaldischen Krieg geraten war, Mut zu (MBW 4774.1). Er schickte tröstende Worte an viele Freunde und Bekannte, wenn ein nahestehender Mensch gestorben war: die Ehefrau oder der Ehemann (MBW 2766; 5222; 5585), Eltern (MBW 1727), Geschwister (MBW 4063; 9024.1), Kinder (MBW 6636; 8092) oder der verehrte Lehrer (MBW 3849.1). Trostgründe, die Melanchthon häufig anführt, sind: der Wille Gottes, dem man sich fügen muss; das Gebot, nicht allzu sehr zu trauern; die Erlösung des Verstorbenen aus dem irdischen Elend und die
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Aussicht auf ein Wiedersehen im Himmel. Bisweilen verstärkt Melanchthon seinen Trost, indem er Todesfälle aus der eigenen Familie in Erinnerung ruft (MBW 3344; 5222; 6636; 8092; 9274). Besonders ergreifend sind Briefe, in denen Melanchthon Eltern mitteilen muss, dass ihr in Wittenberg studierender Sohn gestorben ist, ihnen die Todesursache schildert (Krankheit: MBW 1583; 8060; Räuber: 7242) und ihnen Trost zuspricht. Auch er selbst war in vielen Situationen für den Trost anderer empfänglich und nahm ihn dankbar an (MBW 3679.2; 5509.1; 7013.1).
7 Empfehlungsschreiben Melanchthon setzte sich sehr für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ein; die Bildung und die christliche Lehre zu erhalten, war ihm ein zentrales Anliegen. „Wenn wir nicht mit allen Kräften dafür kämpfen, dass den Studenten geholfen wird, wird es in Zukunft wohl weder Wissenschaften noch Kirchen geben“, schrieb er (MBW 3075.1). Dementsprechend nutzte er seine Stellung und sein Ansehen dazu, seinen Bitten für andere Nachdruck zu verleihen. Von Studenten darum gebeten oder aus eigenem Antrieb verfasste er zahlreiche Empfehlungsschreiben, in denen er Städte, Fürsten oder Privatleute darum bat, einem tüchtigen Studenten ein Stipendium zu gewähren oder zu verlängern, um das begonnene Studium erfolgreich abschließen zu können. In diesen Schreiben betonte er den gesellschaftlichen und politischen Nutzen gut ausgebildeter Nachwuchskräfte und stellte den empfohlenen Studenten ein Zeugnis über ihre Leistungen aus. Oft hatten seine Bitten Erfolg: Stipendien wurden bewilligt (MBW 4327) oder es gab, weil das Stipendium noch lief, eine Sonderzahlung für das gute Zeugnis (MBW 8949). Auch wenn es um die Besetzung freier Lehrer- oder Pfarrstellen ging, fungierte Melanchthons Schreibtisch geradezu als Jobbörse. Durch seine vielen Kontakte war er über Vakanzen stets gut informiert und bemühte sich, seine Studenten und Absolventen auf passende Stellen zu vermitteln. Dabei betonte er die Fähigkeiten der Empfohlenen, verschwieg ihre Schwächen aber nicht: Einen Kandidaten mit Sprachfehler wollte er lieber an einer Schule sehen als im Predigtamt (MBW 3577). Etliche Städte, denen an einer guten Ausbildung ihrer Jugend oder an der Stärkung der evangelischen Lehre gelegen war, wussten Melanchthons Sorgfalt in diesen Dingen zu schätzen und baten ihn um Empfehlung oder Vermittlung eines geeigneten Kandidaten; Fürsten und Grafen wandten sich auf der Suche nach Hofpredigern, Kanzleischreibern, Professoren oder Hauslehrern an ihn. Und Melanchthon versuchte, allen Wünschen gerecht zu werden: Seine Korrespondenz belegt seine Mitwirkung an der Besetzung zahlreicher Stellen, nicht nur in Sachsen und Thüringen, sondern unter anderem in Breslau, Nürnberg, Frankfurt a.M., Rostock, Königsberg und Straßburg. Nicht immer waren seine Empfehlungen an einen konkreten Adressaten gerichtet oder zielten auf eine bestimmte Stelle ab; manches Schreiben wurde einem Studenten mitgegeben, der Wittenberg verließ, damit er es bei Gelegenheit vorzeigen konnte. Zeitweilig wurden so viele Bitten um Empfehlungsschreiben an den Praeceptor her-
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angetragen, dass es ihm lästig wurde. Als 1546 die Wittenberger Universität aufgelöst wurde, wurde er von Anfragen so überhäuft, dass er stöhnte: „Es ist um einiges leichter, den Stein des Sisyphos zu wälzen, wie es die Dichter darstellen, als so viele Briefe zu schreiben!“ (MBW 4172). Und bevor er 1557 zum Wormser Religionsgespräch aufbrach, ließ er seine Vorlesung ausfallen, um noch die erbetenen Empfehlungsschreiben fertig zu bekommen (MBW 8308). Joachim Camerarius berichtet in seiner Biographie sogar, Melanchthon habe sich regelrecht freigekauft, indem er manchen Geld gegeben habe, damit sie nicht weiter auf Briefen bestanden (Camerarius 2010, § 17). Nicht nur Angehörige der Universität ließen sich von Melanchthon weiterempfehlen; auch der Magd Anna, die lange bei seinem Schwager gedient hatte und eine neue Anstellung in Leipzig suchte, stellte Melanchthon ein Empfehlungsschreiben aus (MBW 5916). Er half aber nicht nur bei der Stellensuche, sondern nutzte seine vielfältigen Kontakte auch dazu, den Überbringern seiner Briefe in einer fremden Stadt eine erste Anlaufstelle zu vermitteln und Türen zu öffnen, die sonst wohl verschlossen geblieben wären. Oft wird der Adressat darum gebeten, den Überbringer bei dem wissenschaftlichen oder touristischen Zweck seiner Reise zu unterstützen: bei der Benutzung einer medizinischen Privatbibliothek (MBW 590); bei der Besichtigung der Tübinger Universität (MBW 1638.6), des Nürnberger Zeughauses (MBW 3188.3), der Bergwerke in St. Joachimsthal (MBW 4226), der Stadt Prag (MBW 6105/6) oder des Speyrer Reichstags samt dem Kurfürsten Hermann von Köln (MBW 3490). Sogar den Wunsch des Fabian Stösser vom September 1546, das kampfbereit in Süddeutschland stehende Heer des Schmalkaldischen Bundes zu besichtigen, unterstützte Melanchthon, „sofern es ohne Gefahr geschehen kann“ (MBW 4374). Zu denjenigen, die mehrfach von Melanchthon empfohlen wurde, gehört der spätere Diplomat Hubert Languet, der in den Jahren 1553 – 1555 von Wittenberg aus mehrere Studienreisen durch Europa unternahm: Auf seinen Reisen nach Krakau und Wien, nach Schweden, Italien und Frankreich hatte er Briefe Melanchthons im Gepäck, die ihm unterwegs oder am Zielort Ansprechpartner vermittelten und deren Unterstützung sicherten. Empfehlungen stellen nicht immer den einzigen Inhalt eines Briefes dar, sondern sind oft nur eins von mehreren im Brief behandelten Themen. Mit derartigen Empfehlungen soll, ohne dass damit ein konkretes Anliegen verbunden wäre, dem Überbringer das Wohlwollen des Empfängers gewonnen werden.
8 Vorreden Einen eigenen Charakter besitzen die rund 270 als Widmungsbriefe gestalteten Vorreden Melanchthons, die in zahlreichen Drucken eigener oder fremder Werke zu finden sind. Sie unterscheiden sich von den anderen Briefen in mehrfacher Hinsicht: Sie sind von vornherein und nur für den Druck bestimmt; dadurch richten sie sich – auch wenn sie oft an einen einzelnen Widmungsnehmer adressiert sind – nicht nur an den Adressaten, sondern an ein größeres Publikum und werden zu offenen Briefen. Sie
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stellen vor den Augen der Öffentlichkeit eine Beziehung zwischen dem Widmenden und dem Widmungsnehmer her; die persönliche Beziehung zwischen beiden spielt innerhalb der Widmungsbriefe jedoch nur bedingt eine Rolle. Anders als die alltäglichen Briefe sind sie nicht spontan aus Melanchthons Feder geflossen, sondern ihr Inhalt ist genau durchdacht und ausgearbeitet, sie sind sorgfältig stilisiert und üppig mit Zitaten antiker und christlicher Schriftsteller geschmückt. In diesen an prominentem Ort, nämlich direkt hinter dem Titelblatt, publizierten Stücken zeigt Melanchthon seine umfassende Gelehrsamkeit. Inhaltlich führen die Vorreden in das publizierte Werk ein und formulieren ein übergeordnetes humanistisches oder reformatorisches Interesse. So fungieren sie als Werbetexte, vergleichbar den heutigen Klappentexten. Mit der Widmung konnten unterschiedlichste Absichten verfolgt werden: Dem jungen Melanchthon dürften Vorreden dazu gedient haben, seinen Namen gemeinsam mit dem eines großen Gelehrten (z. B. Reuchlins, MBW 1) oder bekannten Autors einer weiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen – von den ersten 100 erhaltenen Briefen Melanchthons sind 25 Vorreden –, mit zunehmender Bekanntheit und wachsendem Ansehen Melanchthons wird dieser Aspekt an Bedeutung verloren, sich teilweise sogar umgekehrt haben: Eine auf dem Titelblatt eigens angekündigte Vorrede des berühmten Melanchthon zu einem fremden Werk erhöhte nicht nur das Ansehen des Autors (z. B. MBW 3662), sondern sicher auch die Verkaufszahlen des Buches. Bücher, die für den Schulunterricht bestimmt waren, widmete Melanchthon bisweilen Jugendlichen, den Söhnen von Freunden oder Bekannten (MBW 298; 3850; 4875); damit zeichnete er die Heranwachsenden aus und motivierte sie zur fleißigen Fortsetzung ihrer Studien. Widmungen an hochgestellte Persönlichkeiten dienten nicht nur dazu, dem Buch einen respektablen Patron zu verschaffen; vom Widmungsempfänger wurde auch eine Gegenleistung erwartet. Diese konnte ideeller Art sein: Indem Melanchthon sein Wittenberger Erstlingswerk dem Kurfürsten Friedrich von Sachsen widmete (MBW 23), bezeigte er ihm seine Loyalität und warb gleichzeitig um das Wohlwollen seines neuen Dienstherrn. Üblich war auch eine materielle Gegenleistung, durch die der Widmungsnehmer die Rolle eines Förderers der Künste und Wissenschaften übernahm oder bekräftigte: Für die Widmung der Schrift De ecclesiae autoritate (MBW 2227) schickte Herzog Albrecht von Preußen eine Schale, die Melanchthon jedoch aus Geldmangel verkaufen wollte (MBW 2375.3). Als Dank für die Widmung der Loci communes (MBW 1555) erhielt Melanchthon von Heinrich VIII. von England 200 Kronen (MBW 1668.1). Derartige Zahlungen dienten bei aufwendigen Werken dazu, die hohen Druckkosten zu kompensieren (vgl. MBW 3133.2). Innerhalb der res publica literaria bezeugten Widmungen gegenseitige Wertschätzung und Wohlwollen; deswegen wurden die Widmungsempfänger sorgfältig ausgewählt (MBW 2232.5; 2337.2). Auch auf dieser Ebene waren Gegenleistungen üblich: Für die ihm gewidmete Schrift Defensio sanae et orthodoxae doctrinae (MBW 3157) stellte Melanchthon Johannes Calvin eine Gegengabe in Aussicht (MBW 3245), und dem Hieronymus Baumgartner ließ Melanchthon ausrichten, dass es ihm bei der Widmung von De anima (MBW 2361) nur darum gegangen sei, sein Wohlwollen zu
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erhalten, mehr aber nicht (MBW 2369.2). Widerrufen ließen sich die mit den Druckwerken verbreiteten Vorreden kaum; in einem Fall hätte Melanchthon das wohl gerne getan (vgl. MBW 2474.1): Die 1535 erfolgte Widmung der Neuausgabe seiner Loci communes an Heinrich VIII. (MBW 1555), die in einer Zeit geschehen war, als Hoffnung bestand, den König auf die Seite der Protestanten zu ziehen, bereute Melanchthon spätestens nach der 1540 vollzogenen Hinrichtung Thomas Cromwells. 1541 erschienen zwei Drucke der Loci, in denen Melanchthon den letzten Teil der Vorrede, in dem er den König gelobt hatte, wegließ und das Schreiben an den Leser adressierte. Im selben Jahr erschien eine überarbeitete Ausgabe mit neuer Vorrede und Widmung an die Theologiestudenten (MBW 2799). In ihr spielt Melanchthon auf die dem englischen König entzogene Widmung an, indem er betont, dass sein Buch „sine patrono“ in die Welt hinausgehe.
9 Briefgedichte Gut 20 Briefe verfasste Melanchthon in Gedichtform. Als Versmaß verwendete er dabei meistens daktylische Hexameter oder elegische Distichen. Die Briefgedichte entstanden vielfach als Zeitvertreib auf Reisen; an Johannes Gigas schreibt er: „Du weißt, dass ich einerseits meiner Hausschüler wegen gelegentlich Verse schreibe, so gut es geht; andererseits, wenn ich im Wagen sitze, um mich von der Betrachtung schlimmer Dinge abzulenken, und damit, wie Horaz sagt, durch die Dichtung finstere Sorgen verschwinden“ (MBW 3452.1). Auch lange Phasen der Untätigkeit auf Religionsgesprächen vertrieben sich Melanchthon und seine Kollegen mit dem Verfassen kleinerer Gedichte, mit denen sie Informationen austauschten, sich gegenseitig einluden oder einander mitteilten, wann das nächste Treffen stattfinden sollte. Besonders produktiv waren in dieser Hinsicht die Wormser Religionsgespräche von 1541 und 1557. Den spielerischen und oft scherzhaften Charakter dieser Dichtungen offenbarte Melanchthon, indem er Erasmus Ebner in einem kurzen Briefgedicht fragte, ob er etwa wegen seines mangelnden Dichtertalentes nicht zum Abendessen eingeladen werde (MBW 2603). Nach dem Wormser Religionsgespräch von 1541 erschienen – vermutlich von Melanchthon als ironischer Seitenhieb auf die fehlenden Ergebnisse der Verhandlungen veranlasst – 19 in Worms von Melanchthon und anderen verfasste Gedichte im Druck als Epigrammata aliquot Wormatiensia (VD 16 E 1628).
10 Schriftlichkeit und Mündlichkeit Trotz der Vielzahl an Themen, die er in seinen Briefen behandelte, war sich Melanchthon der Grenzen des Mediums Brief bewusst. Häufig vorkommende Äußerungen wie: „Das Weitere mündlich“ machen deutlich, dass ein Brief das vertraute Gespräch nicht in allen Fällen ersetzen konnte. Meistens war Vorsicht der Grund dafür, dass Melanchthon sich über brisante Themen nicht schriftlich äußerte; das gilt für Hin-
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tergrundinformationen über Reichstage (MBW 793.1; 2725.1) genauso wie für die Gründe, warum ihm Kurfürst Johann Friedrich 1536 die Reise nach Frankreich verboten hatte (MBW 1624.2), oder die Frage nach der Schuld am Schmalkaldischen Krieg (MBW 4308.3). In derartigen Angelegenheiten musste man verhindern, dass vertrauliche Informationen in falsche Hände gelangten. War allerdings ein Treffen zwischen den Briefpartnern geplant, bedeutete es für Melanchthon auch eine Zeitersparnis, nicht alles schriftlich darzulegen, sondern bestimmte Themen auf das bevorstehende Gespräch zu verschieben (MBW 1347.6; 8684).
11 Ausgaben Die ersten gedruckten Ausgaben von Melanchthonbriefen erschienen nur fünf Jahre nach Melanchthons Tod. Johannes Manlius, der von 1548 bis 1559 an der Universität in Wittenberg gewesen war, hatte bereits 1562 und 1563 die Locorum communium collectanea veröffentlicht, eine Sammlung von Anekdoten, Exempeln und Histörchen, die Melanchthon in seine Vorlesungen einfließen ließ. Wegen des großen Erfolgs, den diese Sammlung hatte, ließ Manlius 1565 unter dem Titel Epistolarum D. Philippi Melanchthonis Farrago (VD 16 M 3220) einen Band mit Briefen des Reformators folgen. Er enthält etwa 350 Briefe; etwa 200 dieser Stücke sind nirgends sonst überliefert. Melanchthons Schwiegersohn Caspar Peucer, der in den Jahren 1562 bis 1564 eine vierbändige Ausgabe der Schriften Melanchthons herausgegeben hatte, reagierte empört auf Manlius’ Publikationen. Offenbar ärgerte es ihn, dass Manlius Briefe abgedruckt hatte, die Melanchthons Ansehen beschädigen konnten, wie zum Beispiel den Brief an Christoph von Carlowitz (MBW 5139; siehe Abschnitt 4); vielleicht war er auch neidisch auf den Erfolg der volkstümlichen Loci communes, deren Titel dem von Melanchthons wichtigster dogmatischer Schrift so ähnlich ist. Noch im selben Jahr 1565 stellte er dem „Allerlei“ (farrago) des Manlius einen Band mit 140 besonders ausgewählten Briefen seines Schwiegervaters entgegen: Epistolae selectiores aliquot Philippi Melanthonis (VD 16 M 3222). 1569 erschien der Band, in dem Joachim Camerarius die Briefe, die er von Melanchthon erhalten hatte, veröffentlichte (siehe Abschnitt 4). Caspar Peucer ließ 1570 mit dem veränderten Titel Epistolarum Philippi Melanthonis liber primus (VD 16 M 3223) eine revidierte Neuauflage seines ersten Briefbandes und den Alter libellus epistolarum Philippi Melanthonis (VD 16 M 3223) folgen. Dieser zweite Band erlebte 1574 noch eine Neuauflage (VD 16 M 3224), bevor der „Philippist“ Peucer im selben Jahr des Kryptocalvinismus beschuldigt und eingekerkert wurde. Aus Wittenberg ausgewiesen wurde Christoph Pezel, der führende Theologe der Wittenberger Philippisten. Er fand in Bremen eine neue Wirkungsstätte und publizierte dort 1589 die Briefe Melanchthons an Albert Hardenberg und 1590 einen an Peucers zwei Briefbände angelehnten Libellus tertius (VD 16 M 3225). 1593 und 1594 gab Cyriacus Schneegaß, Pfarrer in Friedrichroda, 66 Briefe Melanchthons an Friedrich Myconius heraus (VD 16 M 2438); er war mit einer Enkelin des Myconius verheiratet,
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sodass er die im Familienbesitz befindlichen Originalbriefe benutzen konnte. Der Nürnberger Pfarrer und Stadtbibliothekar Johannes Saubert knüpfte 1640 an Pezels Libellus tertius an, indem er 220 Briefe Melanchthons an Veit Dietrich als Epistolarum Philippi Melanchthonis liber quartus (VD 17 39:142815U) und 1646 einen mehr als 500 Briefe enthaltenden Liber quintus et ultimus (VD 17 39:142817K) herausgab. Dieser Band blieb allerdings nicht der letzte, denn bereits im folgenden Jahr erschien anonym in Leiden der Ph. Melanchthonis epistolarum liber, der meist als Liber sextus zitiert wird. Als Herausgeber dieser Sammlung konnte Ludwig Camerarius ermittelt werden. Diese Vielzahl an Briefbänden, in denen die Texte ohne Chronologie, oft gekürzt oder geglättet abgedruckt sind, bildete eine unübersichtliche Stoffmasse, die für die Forschung kaum zu nutzen war. 1827 entwickelte der Gothaer Generalsuperintendent Karl Gottlieb Bretschneider den Plan zu einer umfassenden Sammlung sämtlicher Schriften und Briefe Luthers, Melanchthons, Zwinglis, Calvins und kleinerer Reformatoren in einem großen Corpus Reformatorum (CR). Er selbst nahm sich die Werke Melanchthons vor und begann mit den Briefen, die das Fundament der biographischen Forschung bildeten. Ergänzend zu den frühen Briefbänden ermittelte er verstreut publizierte Briefe und Vorreden Melanchthons und bemühte sich, auch die handschriftliche Überlieferung planmäßig zu erfassen. Dadurch wuchs die Materialmenge gewaltig an. Durch gründliche Einarbeitung in die Briefe und die Autographen Melanchthons gewann Bretschneider Kriterien für die oft schwierige Datierung der Briefe – Melanchthon ließ oft das Datum und meistens die Jahreszahl weg – und brachte sie in eine chronologische Ordnung. Dabei mag er oft der Verzweiflung nahe gewesen sein, denn in seiner Autobiographie schreibt er: „Hätte ich die unendlichen Schwierigkeiten dieser Sache vorher gehörig gekannt, so würde ich sie nicht unternommen und, wäre ich nicht in einmal angefangenen Arbeiten so beharrlich, sie nicht vollendet haben“ (Bretschneider 1851, 122). Nach sechsjährigen Vorarbeiten erschienen von 1834 bis 1842 zehn umfangreiche Bände, die mehr als 7.000 Briefe enthalten. Neben den Briefen Melanchthons hat Bretschneider auch etliche an den Reformator gerichtete Schreiben und Beiakten publiziert. Diese Ausgabe, die Bretschneider nebenberuflich erarbeitet hat, bedeutete einen Quantensprung, weil die Briefe erstmals chronologisch sortiert und durch Register (Briefanfänge, Adressaten, Absender u. a.: CR 28, erschienen 1860) erschlossen präsentiert wurden, und durch ihre wesentlich verbesserte Quellengrundlage verlieh sie der Melanchthonforschung gewaltigen Auftrieb. Bibliotheken und Archive förderten zahlreiche weitere Handschriften zutage, sodass Heinrich Ernst Bindseil 1874 einen Ergänzungsband mit teils verstreut gedruckten, teils neu gefundenen Briefen herausbringen konnte. Im Vorfeld von Melanchthons 400. Geburtsjahr entstand der Plan einer Ergänzungsausgabe zum CR, der Supplementa Melanchthoniana. Durch verschiedene widrige Umstände verzögert, erschien der erste (und gleichzeitig letzte) Briefband dieser Reihe erst 1926, herausgegeben von Otto Clemen, der auch den Luther-Briefwechsel in der Weimarer Lutherausgabe verantwortete. Bei seiner Arbeit erkannte er die Notwendigkeit einer vollständigen Neuausgabe der Briefe, denn die Texte im CR weisen
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neben philologischen Mängeln zahlreiche falsche Datierungen auf (für die Jahre 1531 bis 1542 liegt die Fehlerquote bei 18,6 %); dennoch ist die Ausgabe bis heute unentbehrlich. Auch die nach dem Erscheinen des CR aufgefundenen Briefe sollten in einer Edition berücksichtigt werden. Das 400. Todesjahr Melanchthons, 1960, wurde zum Anlass genommen, eine kritische und kommentierte Gesamtausgabe des Briefwechsels zu projektieren. 1963 gründete Heinz Scheible in Heidelberg die MelanchthonForschungsstelle, in der seither an Melanchthons Briefwechsel (MBW) gearbeitet wird. Mit großem Aufwand wurde die gesamte handschriftliche und gedruckte Überlieferung der inzwischen gut 9.700 Briefe erfasst und die Stücke wurden durchnummeriert. Oft war die Datierung eines Briefes nur aufgrund seines Inhalts möglich; deswegen wurden kurze Inhaltsangaben aller Briefe erstellt, in denen sämtliche vorkommenden Personen und Orte erwähnt sind. Mit ihrer Hilfe konnten nicht nur eine Chronologie der Briefe, sondern auch Personen- und Ortsregister erarbeitet werden. Weil die inhaltliche Erschließung von Melanchthons Korrespondenz damit praktisch abgeschlossen war, wurden diese „Vorarbeiten“ von 1977 an als Regesten publiziert (seit 2010 auch im Internet verfügbar) und durch Indexbände (Orte und Personen) ergänzt. Seit 1991 erscheinen die Textbände (MBW.T). Darin werden die gesamte handschriftliche und gedruckte Überlieferung der einzelnen Briefe genau verzeichnet und die Texte kritisch ediert. Dabei werden die Entstehungsphase des Textes in Form von Streichungen und Verbesserungen am Autograph (Apparat E),Varianten verschiedener Abschriften (Apparat T) und die Wirkungsgeschichte anhand der Textgestalt in den frühen Drucken und Ausgaben (Apparat W) dokumentiert. Zusätzlich werden Zitate, vor allem aus der Bibel und antiken Autoren, literarische Anspielungen und Hinweise auf zeitgenössische Schriftstücke in einem Quellenapparat (Q) nachgewiesen. Aus Melanchthons Briefen lässt sich ein facettenreiches Bild seiner Persönlichkeit gewinnen. Sie liefern Hintergrundinformationen zum öffentlichen Wirken des Reformators, dokumentieren den aufreibenden Alltag des Professors, lassen aber auch verschiedenste Gefühlslagen und Befindlichkeiten erkennen. In den vielfältigen, sorgsam gepflegten Beziehungen zu anderen erscheint Melanchthon als ζῷον πολιτικόν, als Gemeinschaftswesen, das den intensiven Austausch, das „wechselseitige Gespräch“ mit Freunden und Kollegen braucht. Die umfangreiche Korrespondenz lässt hinter seinem vielfältigen wissenschaftlichen Œuvre den Menschen Melanchthon durchschimmern und rundet so das umfangreiche Corpus seiner Schriften ab.
Quellen Bretschneider, Karl Gottlieb. 1851. Aus meinem Leben: Selbstbiographie, hg. v. Horst Bretschneider. Gotha. Camerarius, Joachim. 2010. Das Leben Philipp Melanchthons, übers. v. Volker Werner, mit einer Einf. v. Heinz Scheible. Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 12. Leipzig. CR 1 – 10: Philippi Melanthonis epistolae, praefationes, consilia, iudicia, schedae academicae.
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Frank, Günter und Martin Schneider, Hg. 2011. Philipp Melanchthon. Von Wittenberg nach Europa. Mel.Dt 3. Leipzig. MBW 1 – 9. Regesten; 10: Orte A – Z und Itinerar; 11 und 12: Personen A – E und F – K; T1 ff.: Texte. MSA 7/1 – 2: Ausgewählte Briefe.
Literatur Müller, Nikolaus. 1908. Georg Schwartzerdt. Leipzig. Scheible, Heinz. 1966b. „Melanchthons Brief an Carlowitz.“ ARG 57: 102 – 130. Scheible, Heinz. (1968) 1996c. „Überlieferung und Editionen der Briefe Melanchthons.“ Heidelberger Jahrbücher 12 (1968): 135 – 161. – 1996 Wiederabdruck in Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge. VIEG Beiheft 41, hg. v. Gerhard May und Rolf Decot, 1 – 27. Mainz.
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Zum Wissenschaftsverständnis: Melanchthons Topik 1 Die Erneuerung der aristotelisch-ciceronischboethianischen Topik durch die humanistischen Dialektiken Melanchthons Wissenschaftsverständnis hängt eng mit der Erneuerung der als Dialektik bezeichneten Grundlagenwissenschaft namhafter Humanisten zusammen, die aus deren Kritik an der mittelalterlichen Logik hervorgegangen war (Vasoli 1968b, Mack 1993, Mundt 1994, Wels 2000 [zur humanistischen Kritik 37– 45, 82– 90]). Diese Kritik hatte sich an der grammatica speculativa entzündet, die im 13. Jahrhundert als eine autonome und theoretische Wissenschaft mit ihren beiden Lehrstücken von den Redeteilen (partes orationis, später auch als modi significandi bezeichnet) und der Syntax (de constructione) entstanden war und der es wesentlich um das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit ging, wie es Aristoteles in De interpretatione (16 a 3; 16 a 19: Sprache als Zeichen von Vorstellungen der Seele, die Abbilder der Wirklichkeit sind) formuliert hatte. Im Zentrum des Denkens der Humanisten stand nicht die Syllogistik als formale Darstellung und Beurteilung (iudicium) von Argumenten, sondern die Findung (inventio) eines guten Arguments in einer konkreten Konversation. Das Gespräch oder die Unterredung ist der natürliche Ort der Dialektik und ihre erste Frage ist die nach der Herkunft eines Argumentes (inventio). So begann auch Agricolas Dialektik mit einer grundlegenden Bestimmung des Sprechens. Eine vollkommene Rede ist dabei durch einen dreifachen Aspekt gekennzeichnet (Agricola 1992, I, cap. 1, 11– 12): zu unterrichten oder zu informieren (docere), zu unterhalten (delectare) oder auch Affekte zu erregen (movere). Gleichzeitig werden in jeder Rede drei Hinsichten unterschieden (II, cap. 2, 49 – 60): die Erkennbarkeit der Redeabsicht des Sprechers (Gegenstand der Grammatik als Methode fehlerfreien und durchsichtigen Sprechens), die Akzeptanz des Zuhörers (Gegenstand der Rhetorik, die den Redeschmuck bereithält) und die Glaubhaftigkeit des Gesagten (Gegenstand der Dialektik, welche die Glaubhaftigkeit begründet). Die für die Glaubhaftigkeit der Rede erforderliche Begründung einer Argumentation liefern die seit der antiken Rhetorik zusammengestellten topoi oder loci. Die Listen aller möglichen topoi sind damit eine Art universaler Index, Fundstätten für Argumente (sedes argumentorum I, cap. 1, 10, 41), wo die Punkte verzeichnet sind, an denen ein Argument in einem Sachverhalt ansetzen kann. Die DOI 10.1515/9783110335804-024
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Dialektik besteht dann in einem allgemeinen Sinn aus der inventio, das Verfahren, in dem aus dem Index der topoi ein Argument gefunden wird, und dem iudicium, in dem dieses Argument auf seine Glaubwürdigkeit hin überprüft wird. Das Lehrstück der topoi gilt dabei als Kern der humanistischen Reform der Dialektik. Ihnen widmete auch Agricola das gesamte 1. Buch seiner Dialektik.
2 Die aristotelisch-ciceronisch-boethianische Topik Die Humanisten hatten mit der Dialektik eine Tradition des Wissenschaftsverständnisses wieder aufgegriffen und zu erneuern versucht, die seit Bekanntwerden des strengen Wissenschaftsbegriffs der Zweiten Analytik des Aristoteles seit dem 2. Quartal des 13. Jahrhunderts weitgehend in Vergessenheit geraten war. Ihren Ursprung besitzt diese Fragestellung in der Topik des Aristoteles. Dennoch: obwohl die topoi in der aristotelischen Topik und Rhetorik vielfach Verwendung fanden (Primavesi 1988), hat Aristoteles nirgends definiert, was ein topos (locus) nun genau ist (Ars rhetorica A 2, 1358a, 10 – 17; Otte 1998, 17– 26, hier: 25; Flashar 1983, 326 – 329). Cicero meinte ihn so zu verstehen, als habe er topoi als Fundorte (sedes) verstanden, aus denen Argumente gewonnen würden (Topica II, 7: „[…] sic enim appellatae ab Aristotele sunt eae quasi sedes, e quibus argumenta promuntur.“). In diesem Sinn – so Cicero – ist ein topos also ein Ort, an dem man Argumente finden kann. Und in diesem Sinn hatte Cicero bekanntlich seine Topik als eine Kunst der Findung (von Argumenten) bezeichnet (inventio). Hier steht also nicht ein im strengen Sinn wissenschaftliches Beweisverfahren im Vordergrund, sondern die Topik will einem Redner für eine jede beliebige Rede, bei Cicero war es vornehmlich die Gerichtsrede, die treffenden Argumente bereitstellen. Neben dieser ciceronischen Deutung der Topik stellte Boethius, in dessen Bearbeitung die ciceronischen Topiken dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit überliefert wurden, noch eine weitere Deutung vor. Nach ihm sind topoi Urteile von höchster Allgemeinheit, maximae propositiones (in Topica Ciceronis I 1051 CD: „[…] Supremas igitur ac maximas propositiones vocamus, quae et universales sunt, et ita notae atque manifestae, ut probatione non egeant, eaque potius quae in dubitatione sunt probent.“ Vgl. auch: De differentiis topicis II 1186 A). Handelt es sich bei den loci als sedes argumentorum also um Stichworte, Begriffe, Prämissen oder Ähnliches, so sind die loci in der boethianischen Tradition allgemeine Urteile oder Sätze, die bereits eine logische Form topischer Argumentation implizieren, aus der dann spezielle Schlüsse gezogen werden können (Pinborg 1972, 22; zur Interpretation der loci bei Theophrast, Alexander von Aphrodisias, Themistios und unter byzantinischen Gelehrten vgl. ebd. 21– 24). Im Blick auf die aristotelische Perspektive der Topik ist wichtig zu bedenken, was genau Aristoteles als den Ausgangspunkt eines topischen Verfahrens bezeichnete, und zwar das ἔνδοξον, das heißt eine im streng wissenschaftlichen Sinn nicht eigentlich begründbare Überzeugung. Aristoteles hatte in dem einleitenden Kapitel seines ersten Buches der Topik die Unterscheidung getroffen zwischen dem apodeiktischen Syllogismus der Wissenschaft, dem dialektischen der Topik und dem bloßen Wahr-
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scheinlichkeitsschluss (eristischer Syllogismus). Hier unterschied er: „Ein Schluss ist also eine Rede, in der bei bestimmten Annahmen etwas anderes als das Vorausgesetzte auf Grund des Vorausgesetzten mit Notwendigkeit folgt. Es ist nun eine Demonstration (Apodeixis), wenn der Schluss aus wahren und ersten Sätzen gewonnen wird oder aus solchen, deren Erkenntnis aus wahren und ersten Sätzen entspringt. Dagegen ist ein dialektischer Schluss als solcher, der aus wahrscheinlichen Sätzen gezogen wird […]“ – um dann den Grund ihrer Evidenz zu präzisieren: „Wahre und erste Sätze sind solche, die nicht erst durch anderes, sondern durch sich selbst glaubhaft sind. Denn bei den obersten Grundsätzen der Wissenschaften darf man nicht erst nach dem Warum fragen, sondern jeder dieser Sätze muss durch sich selbst glaubhaft sein. Wahrscheinliche Sätze aber sind diejenigen, die allen oder den Meisten oder den Weisen wahr scheinen, und auch von den Weisen wieder entweder Allen oder den Meisten oder den Bekanntesten und Angesehensten.“ (Topik I, 1, 100a – b, 18) Gegenüber dem Eindruck, bei einem dialektischen Syllogismus der Topik könnte es sich um einen defizienten Modus eines wissenschaftlichen Beweisverfahrens handeln, sofern dessen zentraler Begriff das Wahrscheinliche ist (ἔνδοξον), ist darauf hinzuweisen, dass es sich nach Aristoteles bei dem dialektischen Syllogismus um eine universale Methode handelt, die sogar – wie er im zweiten Kapitel der Topik ergänzt – von Bedeutung ist für das eigentliche apodeiktische Verfahren der Wissenschaft, weil deren „Prinzipien das erste von allem sind“ und man „hier vielmehr mit Hilfe der wahrscheinlichen Sätze über den jeweiligen Gegenstand der Sache beikommen [muss, d.Vf.]. Das ist aber die eigentümliche oder doch ihr besonders zukommende Leistung der Dialektik. Sie ist eine Kunst der Findung [von Argumenten, d.Vf.], und darum beherrscht sie den Weg zu den Prinzipien aller Wissenschaften.“ (Topik I, 2, 101 a 1– 101 b 1) Neben ihrer hier von Aristoteles nur skizzenhaft angeführten Bedeutung selbst für die apodeiktischen Wissenschaften muss im Zusammenhang des dialektischen Syllogismus der Topik darauf hingewiesen werden, dass das Wahrscheinliche als Objekt und Ziel des dialektischen Syllogismus nicht den Grad, sondern den Grund für die Geltung einer Aussage angibt: dieser Grund liegt in der Verbürgung durch das, was „Allen oder den Meisten oder den Weisen wahr scheinen“, wie Aristoteles im 1. Kapitel ergänzt hatte. Die Übersetzung des ἔνδοξον als probables (Boethius), das heißt als bloß wahrscheinliches Wissen ist insofern irreführend, als es eher den Grad als den Grund seiner Geltung bezeichnet. Demgegenüber ging es Aristoteles jedoch um Aussagen, deren Anspruch durch die Verbürgung geltend gemacht werden kann, wobei auch hier nicht auszuschließen ist, dass sich bei einer zunehmenden Sacheinsicht eine notwendige Geltung herausstellt. Bei dem wahrscheinlichen Wissen des dialektischen Syllogismus der Topik handelt es sich mithin um ein aufgrund der Verbürgung anerkanntes beziehungsweise glaubhaftes Wissen. Schließlich ist – worauf Bernhard Körner zu Recht hingewiesen hatte – der Ausgangspunkt und das Ziel des dialektischen Verfahrens der aristotelischen Topik zu berücksichtigen (Körner 1994, 116 – 117). Sein Ausgangspunkt besteht in der Diskussionspraxis, in der zu einer gegebenen Auffassung die geeigneten Prämissen gefunden werden müssen, welche die vorgegebene Auffassung glaubhaft machen können, die selbst also in hohem Maße konsensfähig
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sein müssen. Anders als im apodeiktischen Beweis, bei dem es um Einsicht in die ersten Prinzipien geht, ist Ziel des dialektischen Beweises die Überzeugung, die durch Rückgriff auf glaubwürdig anerkannte Prämissen gewonnen wird, das heißt durch einen Verbürgungszusammenhang erreicht werden soll. Gesucht werden mithin glaubwürdige Voraussetzungen, denen der Gesprächspartner in der Diskussion zustimmen kann. Die Perspektive des dialektischen Syllogismus der Topik ist also eine pragmatisch-persuasive. Eine topische Argumentation heißt dann zunächst nichts anderes als ein starkes Argument zu finden und dieses dann in der Argumentation auch anzuwenden (Schmidt-Biggemann 1999; die Bedeutung der Topik als einer universalen Gesprächsmethode wird auch in der gegenwärtigen, von Ernst Robert Curtius angeregten Topikforschung verschiedentlich betont: Curtius 1947, Bubner 1990, Bornscheuer 1976, Wiedemann 1981, Schmidt-Biggemann 1992). In dieser Hinsicht stellen die topoi, die in einer solchen Gesprächssituation gefunden werden müssen, allgemeine Geschichtspunkte für die Diskussion zur Verfügung.Topik und die in ihr behandelten dialektischen Syllogismen sind dann eine „Technik des Argumentations- und Problemdenkens“ (Flashar 1983, 327). Auch Cicero, dem wichtigsten Vermittler der aristotelischen Topik, galt die Herstellung von Glaubwürdigkeit (faciat fidem) als wichtigstes Ziel eines dialektischen Syllogismus (Topica 2, 6 – 7). Deshalb definiert er genau hier, was loci sind: gewissermaßen Fundorte, aus denen Argumente gewonnen werden. Loci sind sedes argumenti oder – wie er in De oratore definiert – „sedes et quasi domicilia omnium argumentorum“ (De oratore II, 39; 162). Dies war dann auch der Ort, wo Cicero von loci communes sprach (De oratore III, 27, 106; vgl. zu dieser ciceronischen Topik auch Schmidt-Biggemann 1998b, 36 – 38). Für die frühmittelalterliche Überlieferung und auch für Melanchthon spielte die boethianische Überlieferung der ciceronischen Topik eine entscheidende Rolle. Auch für Boethius sind loci vorgegebene sedes argumenti (De topicis differentiis II, 1185). Und in dieser boethianischen Überlieferung deutete dann auch Melanchthon den dialektischen Syllogismus der Topik als ein auf bloß wahrscheinliches Wissen angelegtes Verfahren, dessen Sätze im Unterschied etwa zur Geometrie unsicher (incertae) seien (CR 13, 643 – 646). Für die Topik als Modell der Wissenschaft lassen sich mithin folgende Aspekte hervorheben: 1. Ein dialektisches Beweisverfahren der Topik steht immer innerhalb einer pragmatisch-persuasiven Perspektive. Ihr Ort ist die (Gerichts‐) Rede, das Kolloquium oder allgemein die Diskussionspraxis. 2. Im Unterschied zum apodeiktischen Verfahren der strengen Wissenschaft als Einsicht in die obersten und selbstevidenten Prinzipien ist Gegenstand des dialektischen Syllogismus das ἔνδοξον als Grund, nicht als Grad seiner Wahrheit. Dieses wissenschaftliche Verfahren ist aber nicht minder universal als das apodeiktische; es ist auch nicht weniger wahrheitsfähig. Aber es ist anders begründet, sofern es in der allgemein anerkannten Geltung besteht. Hier geht es also um konsensfähige, allgemein anerkannte Wahrheit, die aus einem dialektischen Syllogismus gewonnen werden kann.
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3. Ziel der Topik ist nicht die streng wissenschaftliche Einsicht in oberste selbstevidente Prinzipien, sondern die Glaubhaftigkeit von Aussagen, immer jedoch innerhalb einer pragmatisch-persuasiven Perspektive. Topoi/Loci stellen dann allgemeine, konsensfähige Gesichtspunkte einer Diskussion – im weitesten Sinn – dar. Um die Erneuerung der Topik hatten sich in besonderer Weise die Humanisten an der Schwelle zur Frühen Neuzeit bemüht. Sie nannten diese – nicht verwunderlich vor dem Hintergrund, dass ihr Gegenstand der dialektische Syllogismus ist – Dialektik. Beredtes Zeugnis ist die epochemachende Lehrbuchtradition der Loci communes.
3 Melanchthons Verständnis der Dialektik als einer Fundamentalwissenschaft Melanchthon hatte schon durch den Nachruf Rudolph Agricolas in Heidelberg, dann aber vor allem in seiner Tübinger Studienzeit diese durch die Humanisten erneuerte aristotelische, durch Cicero und Boethius überlieferte Topik kennengelernt (Breen 1947; Joachimsen 1926; Maurer 1960; Mertner 1956; Wiedenhofer 1975, 373 – 376; Mack 1993 [bes. 320 – 333: Erasmus und Melanchthon]; Scheible 1983; Mundt 1994, bes. 83 – 149 [96 – 100: die verschiedenen Fassungen der Dialektik Melanchthons]; Frank 2010). Bereits als 19-jähriger Tübinger Scholar, ein Jahr nach der ersten Publikation 1515, hatte Melanchthon von Oekolampad ein Exemplar von Agricolas De inventione dialectica geschenkt bekommen (Staehelin 1939, 70; Maurer 1960, 24– 25). Im Rückblick auf seine Tübinger Studienzeit bekennt er in einem Brief vom 27. Juli 1541, dass Agricolas Dialektik bereits in seiner Tübinger Studienzeit einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausgeübt habe (MBW 2780 [mit Datierungsfrage]; CR 4, 716). Schon zwei Jahre zuvor, am 28. März 1539, hatte er sich lobend in einem Brief an Alard von Amsterdam über dessen Bemühen um die Edition der Dialektik und anderer Schriften Agricolas geäußert (MBW 2169; vgl. auch seine Rede über Agricola aus dem Jahr 1539: CR 11, 438 – 446). Über den Gebrauch der in der Dialektik behandelten loci selbst äußerte sich Melanchthon dann erstmals in seiner Rhetorik von 1519, die bereits in Tübingen fertiggestellt war. Hier beruft er sich auf Agricolas Epistola de ratione studii, einer „programmatischen Erziehungsschrift des Humanismus“, die Agricola am 26. Mai beziehungsweise 7. Juni 1484 an den Antwerpener Iacobus Barbirianus verfasst hatte (Mack 1991, 597), und auf Erasmus’ Copia (CR 20, 693 – 698, zum Verweis auf Agricola und Erasmus 969, die Definition der Loci communes 695).Von hier aus wurden die loci dann auch ein zentrales Lehrstück in den drei Fassungen der Dialektik, den Compendiaria dialectices ratio von 1520, den Dialectices libri quatuor von 1528 und seiner dialektischen Hauptschrift Erotemata dialectices von 1547, an deren Anfang des vierten Buches De locis argumentorum er die aus der aristotelischen Topik grundgelegte Unterscheidung zwischen dem demonstrativen, dialektischen und sophistischen Syllogismus stellte (CR 13, 641;643 – 644). In der als Buch IV am Schluss des Werkes ste-
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henden Lehre von den loci unterscheidet Melanchthon zwischen den eigentlichen dialektischen loci, die dadurch charakterisiert sind, dass sie auf einer zwingenden Beweisführung (necessariae probationes) basieren, zu ihnen zählen: finitio, genus, species, partes, causae eventa. (CR 20, 750: „Dialecticus paucis locis utitur, finitione, genere, specie, partibus, causis, eventis, nempe a quibus necessariae probationes petuntur.“) In der Rhetorik hingegen würden nur wahrscheinliche Schlüsse behandelt. (Ebd.: „[…] rhetorum est, quam maxime probabilia dicere, quare et probabilium locis utitur.“) Melanchthon nimmt hier also den probabilen Status der dialektischen Schlüsse aus der Dialektik heraus und weist ihn der Rhetorik zu, im Unterschied zu Agricola. Allerdings findet an diesem zentralen Punkt keine Auseinandersetzung mit Agricola statt. Diese Auseinandersetzung erfolgte erst in der zweiten Fassung der Dialektik im Jahr 1528 (Dialectices libri quatuor, 1528 [diese Fassung ist im CR nicht enthalten]). Schon in der Widmung wird ausdrücklich neben Aristoteles Caesarius und Agricola als Autor empfohlen (Bl. A2v – A3r.). Aber auch hier zeigt sich im Gegensatz zu Agricola der Unterschied zwischen dialektischen loci als rerum loci (ebd. Bl. Hr – H5r: definitio, definitum, causae, effectus, totum/partes, similitudo, opposita) und rhetorischen als loci personarum (ebd. Bl. G8v – Hr: patria, parentes, educatio, mores, res gestae etc.). Genau diese Einteilung liegt auch der letzten Fassung Melanchthons, den Erotemata dialectices von 1547 zugrunde. Hier werden die dialektischen loci in loci rerum und loci personarum unterschieden, in der ciceronischen Definition der sedes argumenti (CR 13, 659). Eine ausführliche Auslegung der Loci-Theorie in diesen drei dialektischen Schriften findet sich bei Mundt (1994, bes. 96 – 100; vgl. darüber hinaus Frank 1997). Neben dieser über Agricola und Erasmus bekannten Tradition der loci war Melanchthon jedoch – was in der Forschung weitgehend übersehen wird – unmittelbar vertraut mit der auf Aristoteles zurückgehenden ciceronisch-boethianischen Topik. 1524 erschienen in Wittenberg seine eigenen und wiederholt neu aufgelegten Scholien zur Topik des Cicero mit dem Kommentar des Boethius (CR 16, 805 – 832: Ciceronis ad C. Trebatium Topica […] cum Boetii commentario). Hier erklärte er, dass die Topik jener Teil der Rhetorik sei, in dem das Lehrstück der aufzufindenden Argumente behandelt werde sowie die Weise des Redeschmuckes. Bezeichnenderweise rückte Melanchthon diesen Teil, das heißt die Auffindung von Argumenten, also die inventio, und den Redeschmuck, in die Nähe des zweiten Buches der Copia des Erasmus (CR 16, 807). In der Folge werden die bei Cicero und bei Agricola bekannten loci näherhin definiert: ex definitione, ex causis, ex exemplis, a contrario, ab autoritate, loci intrinseci, loci extrinseci und loci medii. Bei dem locus ab autoritate schreibt Melanchthon kurz und bündig: „Ab autoritate, sicut scriptum est, etc.“ (CR 16, 810) In Folge dieser Erneuerung der Dialektik verbindet Melanchthon den Anspruch einer Fundamentalwissenschaft, die er im Anschluss an Petrus Hispanus und in Entgrenzung des Programms Rudolf Agricolas als Grundlagenwissenschaft versteht. „Dialektik ist die Wissenschaft der Wissenschaften (ars artium, scientia scientiarum) […], weil sich in ihr der Weg zu den Prinzipien aller Methoden befindet.“ (CR 13, 515) Der fundamentalwissenschaftliche Anspruch der Dialektik bezieht sich auf zwei
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Perspektiven: einerseits darauf, dass sie sich mit allen Gegenständen und Fragen beschäftigt, über die Menschen zu unterrichten sind; andererseits bietet sie für alle zu untersuchenden Gegenstände eine allgemeine Methodologie (CR 13, 514– 515). Ihr Ort ist wie in anderen humanistischen Dialektiken das Gespräch (colloquium), die Argumentation, sodass Melanchthon in seiner Übersetzung von διαλέγομαι von der „Unterredkunst“ beziehungsweise der „Unterrichtkunst“ sprechen kann. Diese pragmatisch-argumentative Situierung macht deutlich, dass die Dialektik schon auf natürliche Weise die andere Seite der Rhetorik bildet, und zwar so, „dass die Dialektik sich mit allen Materien beschäftigt und das Höchste der Dinge mit eigentümlichen Worten schmucklos darstellt“, während die „Rhetorik diesen Materien den RedeSchmuck hinzufügt“ (CR 13, 515). Diese klassische Position stellt jedoch nur einen ersten, vordergründigen Aspekt der Verhältnisbestimmung von Rhetorik und Dialektik dar. Denn gleichzeitig versteht Melanchthon die Rhetorik als das Verstehen (von Texten antiker Autoren, der Heiligen Schrift) sichernde Methode und rückt sie damit in die Nähe der Hermeneutik (Knape 1999). Die Dialektik kann dann als Methodik für Lehrtexte in die Rhetorik integriert werden, da, wo immer man sich mit bestimmten Sachfragen in der Dialektik auseinandersetzt, man auf die rhetorischen Lehrgattungen nicht verzichten kann. Neben den klassischen Gattungen von genus demonstrativum, deliberativum, iudiciale führt Melanchthon als bedeutendste Neuerung in sein rhetorisches System das genus διδασκαλικόν (didacticum) ein, dessen Zielsetzung die Wissensvermittlung ist, die also bedenken muss, wie Wissen, das in bestimmten Texten vorliegt, auch den Hörer erreicht. Joachim Knape hat dieses rhetorische Konzept treffend als eine texttheoretische Doppelperspektive beschrieben, in der die traditionell produktionstheoretisch ausgerichtete Rhetorik mit einer von Melanchthon eingeführten rezeptionstheoretisch ausgerichteten Rhetorik zusammenkommt, in Entsprechung zur humanistischen Programmatik, nach der alte Texte nicht aus toter Sprache oder Theorie bestehen, sondern zu neuem Leben gebracht werden müssen. Während Melanchthon in seiner ersten Fassung der Dialektik von 1520 noch weitgehend dem Methodenkonzept der Findungslehre Agricolas, der inventio und dem iudicium, folgte (CR 20, 749), findet sich in der dialektischen Hauptschrift von 1547 eine Umkehrung der Methodenschritte. Hier besitzt die Dialektik als ersten Teil die judikative Analyse und erst als zweiten Schritt die der Topik zuzuordnende Invention, wobei die judikative Analyse der Beurteilung von Begriffen im Syllogismus und in anderen Argumentationsfiguren dient, während die Invention dann zum Auffinden von Sachen gehört und insofern zur Topik als Lehre von den loci (CR 13, 641). Die Umkehrung der Methodenschritte im dialektischen Verfahren verdeutlicht insgesamt eine Neubestimmung der Dialektik. Denn hier ist die topische Invention nicht mehr Findungslehre im eigentlichen Sinn nach Agricola, sondern sie ist als zweiter Schritt in der Beurteilung und Explikation einer jeglichen Sache dem Iudicium als erstem Schritt der Wissensbegründung nachgeordnet. Die Dialektik Melanchthons als allgemeine Wissenschaftslehre kann man als eine topisch erweiterte Analytik bezeichnen, als deren formale Beweismittel dann der demonstrative, dialektische und sophistische
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Syllogismus sowie das Enthymem fungieren, wie dies Aristoteles in den Ersten Analytiken entwickelt hatte. Bildet der erste Teil der Dialektik mithin das analytische Verfahren, Begriffe und Propositionen in Syllogismen und anderen Argumentationsformen zu beurteilen, so bietet der zweite Teil die Lehre von den loci als Index aller zu findenden und auszuwählenden Dinge, wobei auch hier das Postulat gilt (CR 20, 698), dass diese loci nicht willkürlich gefunden, sondern aus den der Natur nächstliegenden Fundorten gebildet würden (ex intimis naturae sedibus). Melanchthons Loci-Begriff weist insgesamt drei unterschiedliche Bedeutungen auf (Mertner 1956; Wiedenhofer 1975, 373 – 376): einerseits die Bedeutung der loci als sedes argumentorum, das heißt als Fundorte für Argumente, daneben die Bedeutung als generelle Überschriften für allgemeine Erwägungen, das heißt als Prinzipien der jeweils betreffenden Wissenschaft, darüber hinaus schließlich – und das ist das Besondere – eine inhaltliche Bedeutung der loci als sachbezogene Grundbegriffe aller Wissenschaften. Insbesondere auf dieser Bedeutungsebene wird deutlich, dass – wie Melanchthon in seiner Rhetorik von 1531 betont (CR 13, 451– 454) – loci nicht beliebige Lehrbegriffe oder Zitate, sondern – modern gesprochen – semantische Substrate darstellen, die auf dem Wege der Abstraktion aus einem Text (etwa aus der Historie oder der Bibel) gewonnen werden. Als Beispiel für ein solches Verfahren der Abstraktion aus einem narrativen Text führt Melanchthon etwa Ciceros Oratio pro Milone an (CR 13, 451), wo dieser berichtet, Clodius sei von Gott wegen seiner Verbrechen gegen die Religion bestraft worden, aus dem dann festgestellt werden könne, dass Gott existiert und dieser die Welt regiert. „Es geht also um ein semantikanalytisches Verfahren, bei dem Propositionen aus Texten gewonnen und kategorial verdichtet werden.“ (Knape 1999, 130) Als solche sind Loci communes dann herausragende Bestandteile (praecipua capita) einer jeden Wissenschaft. Mit Melanchthons Loci-Theorie verbindet sich eine spezifische Programmatik des Wissenschaftsverständnisses.Vor allem mit der dritten Bedeutung der Loci communes, die über eine schon bei Agricola vorfindliche Deutung als sedes argumentorum hinausgeht, vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel des Loci-Begriffs. Danach sind Loci communes nicht durch Invention gefundene Begriffe – und hierin liegt der Vorrang des Iudiciums vor der Inventio –, sondern inhaltliche und sachbezogene Leitbegriffe jeder Wissenschaft (CR 13, 452: „in omni doctrinae genere praecipua capita“; vgl. auch die separate Schrift De locis communibus in CR 20, 695 – 698), die bezeichnenderweise in der Rhetorik und nicht in der Dialektik behandelt werden. Ihre Sachbezogenheit bedingt gleichzeitig die Disziplinenbezogenheit ihrer Aussagemöglichkeiten. Deshalb gelten – wie Melanchthon betont – für die Theologie andere Kern- und Leitbegriffe als für die Philosophie (CR 13, 453 – 454). Die Loci communes verlieren damit zwar die formalen Spuren ihrer Herkunft aus der Topik (Schmidt-Biggemann 1983, 19 – 20; Wels 2000, 209 – 215). Gleichzeitig werden sie aber in der Rhetorik als epistemologische, sachbezogene Leitbegriffe behandelt, welche die Einzelwissenschaften konstituieren und insofern erneut einen tragenden, kategorialen Status erhalten. Ein solches Modell von gleichberechtigten Wissenschaften, das disziplinenspezifisch auf jeweiligen sachbezogenen Leitbegriffen beruht, war in der Frühen Neuzeit besonders in der
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Theologie (Walter 2002) und Jurisprudenz (Mundt 1994, 93 – 94; Viehweg 1953; Schröder 1998; Moss 1996) erfolgreich. Noch vor dem Tode Melanchthons publizierte der badische Gelehrte Johannes Nysaeus im Jahr 1560 seine Tabulae Locorum Communium Theologicorum Philippi Melanchthonis, durch ein Vorwort von Melanchthon selbst autorisiert, in denen dessen gesamte Theologie nach dieser Loci-Methode in Tabellen von definitiones und distributiones dargestellt ist. Die Frage nach dem wissenschaftsgeschichtlichen Status der an der rhetorischen Topik orientierten Auffassung von Wissenschaft rückt seit einiger Zeit in den Blick der Frühneuzeitforschung (Frank 2007). Schon die umfangreiche Studie von Ernst Robert Curtius aus dem Jahr 1948 Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter hatte die Auffassung nahegelegt, die abendländische Kultur als Prozess zu verstehen, in dem die Topik selbst Teil der Wissenschaftsgeschichte, das heißt die rhetorisch-topische Wissensverwaltung als zentrales Kriterium von Wissenschaftlichkeit zu verstehen ist, mit dem der Wissenswandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit beschreibbar ist (SchmidtBiggemann, Hallacker 2007). Dieser Prozess der Rhetorisierung von Wissenschaft, der sich in den Loci-communes-Traktaten der Humanisten mit ihrer These zeigt, dass die Aussagemöglichkeiten in den Einzeldisziplinen von spezifischen Topoi abhingen, die diese als solche erst konstituieren, ist vor dem Hintergrund der aristotelischen Konzeption von Wissenschaft, der es gerade nicht um die Sammlung von Topoi des Wissens, sondern um allgemein analytische Begrifflichkeit geht, nicht unbestritten. Denn neben dieser topischen Tradition des Wissenschaftsverständnisses blieb der Aristotelismus das beherrschende Wissenschaftskonzept an den europäischen Universitäten der Frühen Neuzeit (Schmitt 1984, Frank, Speer 2007, Darge et al. 2010).
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System der Theologie Um das System, das heißt den inneren Zusammenhang der Theologie Philipp Melanchthons zu erkunden, empfiehlt es sich, ihr Werden nachzuvollziehen. Melanchthon hat 1521 mit seinen Loci communes seu Hypotyposes theologicae eine Darstellung der forma christianismi vorgelegt (MSA 2/1, 18,1); seit 1533/35 (angefangen mit der Loci-Vorlesung von 1533, dann dem Druck von 1535: Grosse 2008, 271, Anm. 24) hat er eine neue Darstellung desselben Gegenstandes vorgetragen, die dann bis zu den Loci praecipui theologici nunc denuo cura et diligentia summa recogniti multisque in locis copiose illustrati in der letzten zu seinen Lebzeiten erschienenen Ausgabe von 1559 immer weiter ausgearbeitet wurde. Die Neufassung von 1533 stellt einen Umbau und eine Erweiterung der Loci von 1521 dar, aber weitgehend keinen Bruch in der theologischen Grundposition. Die innere Struktur der Theologie Melanchthons erschließt sich also gerade, wenn man in Rechnung stellt, dass sie imstande war, den Wandel von 1533 zu vollziehen.
1 Die Loci von 1521 In den Loci von 1521 unterteilt Melanchthon die bisherigen, etwa im Sentenzenwerk des Petrus Lombardus überlieferten Lehrstücke (capita oder loci) der Theologie in zwei Hemisphären: die erste umfasst die Lehre von Gott, seiner Einheit, seiner Dreieinigkeit, die Schöpfung, die Art der Inkarnation, die zweite die Kraft der Sünde, das Gesetz und die Gnade. Von der ersten sagte Melanchthon, man solle sie als Geheimnisse der Gottheit eher verehren als erforschen („Mysteria divinitatis rectius adoraverimus quam vestigaverimus“, MSA 2/1, 19,31– 32). Bei der zweiten Hemisphäre hingegen soll Erkenntnis stattfinden. Hier findet Erkenntnis Christi statt, denn Christus wird nur erkannt, wenn seine Wohltaten erkannt werden („hoc est Christum cognoscere beneficia eius cognoscere“, ebd. 20,27– 28). Die Erkenntnis Christi findet statt, wenn die Gnade empfangen wird, also der Mensch gerechtfertigt wird. Dadurch wird das Gewissen des durch die Sünde und das Urteil des Gesetzes angefochtenen Menschen wieder aufgerichtet (ebd. 21,10 – 12. 22 – 25). Zum Vollzug der Rechtfertigung ist es nötig, die Kraft der Sünde zu erkennen, angesichts derer der Mensch der Rechtfertigung bedarf. Damit die Kraft der Sünde richtig eingeschätzt wird, muss der Mensch seine eigenen Kräfte richtig einschätzen, das heißt erkennen, dass sie ihm nicht zu helfen vermögen. Darum ist das erste Lehrstück, das behandelt wird, De hominibus viribus adeoque de libero arbitrio. Auf die Anthropologie, die auf diesen Punkt hin zugespitzt wird, folgt die Sündenlehre und dann die Lehre von Gesetz. Zielpunkt ist hier der usus elenchticus legis: das Gesetz deckt die Sünde auf. Hineingeschoben sind aber bereits Erörterungen über das Naturrecht beziehungsweise Naturgesetz (lex naturae). Melanchthon räumt hier DOI 10.1515/9783110335804-025
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eine bleibende Kenntnis auch des gefallenen Menschen von bestimmten praktischen Grundsätzen ein,wie etwa, dass Gott zu verehren ist (MSA 2/1, 57,5).Wenn Melanchthon in der Lehre von Rechtfertigung und Glauben dann anschließend sagt, „Esse deum […] non possunt igitur a carne cognosci“ (ebd. 107,24– 25), dann meint er ein Anerkennen vom Herzen her, das dem von der Sünde beherrschten Menschen verwehrt ist, der von Gott nur eine kalte Meinung („frigida opinio“, ebd. 107,27) haben kann. Eingeschlossen in die Lehre vom Gesetz ist auch eine Kritik der überlieferten Lehre von den sogenannter evangelischen Räten (consilia) und von den Mönchsgelübden. Im Gegensatz zum Gesetz in seinem usus elenchticus ist das Evangelium die Verheißung der Gnade, die Vergebung der Sünden und das Zeugnis des Wohlwollens Gottes gegen uns (ebd. 83,27– 30). Lehre von Evangelium, von der Gnade, von Rechtfertigung und Glauben sind darum eng verbunden. Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium wird auch auf die Unterscheidung zwischen altem und neuem Bund bezogen (De discrimine veteris ac novi testamenti), aber deutlich gemacht, dass das Alte Testament als Textkorpus sehr wohl nicht nur Gesetz, sondern auch Evangelium enthält, und die Väter vor der Inkarnation durch das Evangelium frei waren, soweit sie den Geist Christ hatten (ebd. 149,35 – 37). Die Sakramentenlehre (De signis) ist eng auf die Rechtfertigungslehre bezogen: die Sakramente sind Zeugnisse von Gottes Gnadenwillen (ebd. 161,6 – 13). Der Abschnitt De caritate ist mit Absicht sehr kurz gehalten, weil dem Glauben gegenüber der Liebe der Vorzug gegeben wird. Es fehlt also eine Entfaltung der christlichen Ethik; die vorangegangenen Passagen über das Naturgesetz enthalten hingegen ethische Details, so wie auch die am Schluss stehenden Lehrstücke, die besonders dringlichen Zeitumständen geschuldet sind: De magistratibus, wo Melanchthon in nuce das vorwegnimmt, was Luther 1523 in seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit sagen wird, und De scandalo, wo Melanchthon diejenigen Fälle nicht zu einem zu vermeidenden Ärgernis zählt, in denen menschliche Gebote im geistlichen Bereich keine Gültigkeit haben und ihre Übertretung die evangelische Freiheit beweist. Gotteserkenntnis ist in diesem Ansatz der Loci von 1521 Erkenntnis des fleischgewordenen Gottes und diese Erkenntnis ist die praktische Erkenntnis, die sich im Empfang seiner Wohltaten, also im Vollzug der Rechtfertigung des Sünders ereignet. Es ist klar, dass Melanchthon hier bestimmte Erkenntnisse voraussetzt, die er nicht eigens thematisiert: von Menschwerdung Gottes kann nur gesprochen werden, wenn man zuvor schon eine gewisse Auffassung von Gott hat. Die Loci von 1521 sind die Durchführung einer allgemeinen Wissenschaftstheorie, die hier ihrem eigentümlichen Gegenstand angepasst wird (s. C.II, Günter Frank zu Melanchthons Wissenschaftsverständnis; Grosse 2003, 69 – 80). Diese Wissenschaftstheorie kann als humanistisch bezeichnet werden, auch wenn man den Begriff „Humanismus“ inhaltlich nicht sehr dicht bestimmt (Grosse 2002): Typisch humanistisch ist es, von der Rhetorik aus die anderen Wissenschaften zu durchdenken. Typisch humanistisch ist auch die Ablehnung oder skeptische Beurteilung, aber auch unbekümmert geringe Kenntnis der Scholastik. Zu der rhetorischen Auffassung der Wissenschaften gehört der bewusste Bezug auf den Adressaten und auf seine Affekte
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(Grosse 2003, 75 – 76; 78 – 80). Melanchthon holt damit von seinem humanistischen Zugang her ein, was Luther mit der Reflexivität des Glaubens fordert: der Glaubende muss sich selber als Gegenstand von Gottes Verheißung mitglauben. Luther ist dies von Bernhard von Clairvaux überliefert worden; er hat die biblische Begründung dieses Postulats freigelegt (Bernhard von Clairvaux, De Annuntiatione Dominica Sermo Primus, 1. 3‐4 [Leclercq 1968, 13,10 – 13; 14,22 – 15,2]; Luther, WA 56, 370,1– 12 [Römerbriefvorlesung], WA 2, 13 – 16 [Acta Augustana]; dazu: Grosse 2007, 189 – 194). Melanchthon bringt in seinen Loci von 1521, die aus seiner Römerbriefvorlesung erwachsen sind, die eigenständig angeeigneten Einsichten der Rechtfertigungslehre Luthers in einen expliziten Zusammenhang mit der Gesamtheit der Theologie. Der rhetorische Begriff des locus / τόπος fällt dabei mit den capita der scholastischen Theologie zusammen. Die loci sind sowohl Gliederungspunkte einer Rede als auch formae rerum (Rhetorik von 1519, E iiiir, CR 20, 695; Grosse 2003, 75). Die Theologie betrifft sowohl die Realität als auch den usus, die Auswirkung der Mitteilung dieser Realität auf das Sein, Verhalten, Affekte des Adressaten der Mitteilung (Grosse 2003, 76 – 80). Die Entfaltung der Loci von 1521 zeigt schließlich auch, was Melanchthon unter mysterium versteht, wenn er von der ersten Hemisphäre von Gegenständen der Theologie spricht. Er hat hier keine theologia negativa im Sinn, noch eine Auflösung der Gegenständlichkeit theologischer Aussagen zugunsten eines Selbstverhältnisses des frommen Menschen wie in der Schleiermacherschen Theologie. Er führt innerhalb des Abschnitts De iustificatione et fide Ausführungen über die Schöpfung ein, die er noch in der Einleitung unter die schweigend zu verehrenden Geheimnisse gezählt hatte (MSA 2/1, 114,34– 119,12). Im Vertrauen auf die Güte und Barmherzigkeit, die Gott gegenwärtig in seiner Schöpfung erweist und auf seine Anrufung hin bereit ist zu erweisen, übt der Mensch das Vertrauen auf den Gott, der ihn, den Sünder, rechtfertigt. Die Lehre von der Schöpfung schließt also wesentlich die Lehre von der Vorsehung Gottes mit ein und wird auf die Rechtfertigungslehre bezogen (Grosse 2003, 81– 86). „Geheimnis“ ist also nicht etwas, das schlechthin verschlossen bleibt, sondern was sich eröffnet, wenn man bereit ist, unter dem Einsatz seines selbst, also dem Einsatz des Vertrauens, den Erkenntnisweg zu gehen, den Gott gewählt hat und der am entscheidenden Punkt dem zu Erkennenden entgegengesetzt ist: über die Menschheit, die Gott angenommen hat, wird Gott erkannt. So wird die Schöpfung durch den Glauben an den in Jesus Christus rechtfertigenden Gott erkannt.
2 Die Loci von 1559 Der Widmungsbrief zeigt bereits, dass diese Fassung dieselbe Zielrichtung hat wie die Loci von 1521: die Tröstung des angefochtenen Menschen (MSA 2/1, 186,1– 187,4). Diese seelsorgerliche Zweckbestimmung wird in diesem Werk immer wieder deutlich. Der Theologiebegriff Melanchthons deckt sich hier mit dem des Thomas von Aquin, wenn dieser zu Beginn seiner Summa Theologiae von einem Wissen spricht, das dem Menschen nötig ist,
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um das Heil zu erreichen (S.Th. I, q.1, a.1c), in einem noch weiteren Umfang mit dem Martin Luthers (Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner deutschen Schriften,WA 50, 658– 660) und schließlich dem der altprotestantischen Theologie (Calixt, Calov, Johann Musaeus, Hollaz: Belege bei Hirsch 1964, § 480). Die Loci werden ausdrücklich Erklärungen der Dogmen der Kirche genannt (MSA 2/1, 187,20 – 21). Melanchthon beansprucht damit die Kirchlichkeit seiner Theologie und ihre Übereinstimmung mit der wahren Tradition. Sie enthält keine neuen Lehren, sondern beruht auf der prophetischen und apostolischen Schrift, also der Bibel, und auf dem Konsens der Kirche Gottes. Dies konkretisiert er so, dass er der Lehre der Wittenberger Kirche folgt, welche, wie er sagt, mit der allgemeinen Kirche Christi („Ecclesiae catholicae Christi“) übereinstimmt (ebd. 187,27– 188,3). Es gibt hier genauso wenig wie in den Loci von 1521 eine eigene Lehre von der Schrift. Melanchthon spricht nur immer wieder von Zeugnissen, so etwa von den „Worten, die Gott dem Menschengeschlecht in sicheren und deutlichen Zeugnissen übergeben hat, durch die er […] sich und seinen Willen geoffenbart hat“ (ebd. 190,12– 14, vgl. LC 21997: ebd. 18,12 f.18 – 24, wo er die Priorität der Schrift damit begründet, dass der Leser durch sie im höchsten Maße inspiriert wird). Jedes Lehrstück enthält eine ausführliche Zusammenstellung von kommentierten Schriftzeugnissen für die vorgetragene Lehre. Melanchthon ist innerhalb seiner Loci auch Exeget. Die Rechtfertigung als das zentrale Thema wird schon dadurch hervorgehoben, dass auf den Widmungsbrief zunächst eine lateinische Übersetzung von Ps 32 (von Eobanus Hesse) folgt, mit einer Inhaltsangabe (argumentum) von Veit Dietrich, welche die Lehre dieses Psalms von der Rechtfertigung rühmt (in MSA 2/1, 189 – 190, Fn. zu Z. 22, nur das argumentum; der Psalm selbst in der Leipziger Ausgabe der Loci auf A4r). Die Loci von 1559 stellen eine weit umfassendere Durcharbeitung der überlieferten Lehrstücke der Theologie ausgehend von dem Zentrum der Rechtfertigungslehre dar als die von 1521 (man vergleiche die Liste in MSA 2/1, 19 mit dem Inhalt der Loci von 1559). Dabei werden fast alle der 1521 als mysteria deklarierten loci explizit behandelt (nur de modo incarnationis kommt nicht). Was Melanchthon mit seiner Erschließung des locus de creatione in den Loci 1521 beispielhaft vorgeführt hatte, wird nun fortgesetzt. Das heißt, es kommt die Gotteslehre hinzu. Die Praefatio enthält zuvor indes eine Methodenüberlegung. So wie die Philosophie von der allgemeinen Erfahrung und von ersten Grundsätzen ausgeht, die evident sind, und mittels Beweisführungen alles auf diese zurückführt, so geht die Theologie von Aussprüchen (dicta) aus beziehungsweise von den articuli fidei, die gleiche Gewissheit haben wie die mathematischen Wahrheiten (MSA 2/1, 189 – 192). Melanchthon denkt hier offenkundig nicht an die Artikel des Glaubensbekenntnisses. Er unterteilt diese articuli fidei sogleich in comminationes und promissiones divinae, also in anklagendes Gesetz und verheißendes Evangelium. Sie haben ihre Gewissheit durch die göttliche Offenbarung. Daraus ergibt sich, dass sie von der menschlichen Seite her geringere Gewissheit haben als die natürlichen Grundsätze: „Weil diese Dinge außerhalb des Urteils des menschlichen Geistes liegen, ist die Zustimmung träger. Sie kommt zustande, weil der Geist durch jene Zeugnisse und Wunder bewegt wird und der
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Heilige Geist ihm zur Zustimmung verhilft.“ (ebd. 191,7– 11) Melanchthon verkennt, wie diese Stelle zeigt, keineswegs die Anfechtbarkeit des menschlichen Glaubens. Die Anfechtungssituation schimmert vielmehr immer als Hintergrund seiner Ausführungen durch. Er will aber durch diesen Vergleich der theologischen Grundsätze mit denen der allgemein wissenschaftlichen Erkenntnis aufweisen, von woher dem Menschen in der Anfechtung eine verlässliche Hilfe kommt. Seine Aussagen decken sich also mit dem „Spiritus sanctus non est Scepticus, nec dubia aut opiones in cordibus nostris scripsit, sed assertiones ipsa uita et omni experientia certiores et firmiores“ Luthers (De servo arbitrio,WA 18, 605; Bayer [1994, 149 – 150] meint indes, dass Melanchthon die Anfechtbarkeit übersehe und Theologie für ihn weniger „Konfliktwissenschaft“ sei als für Luther). Melanchthon thematisiert hier auch die Anordnung der Lehrstücke. Er will sich an diejenige der Bibel halten; in geschichtlicher Abfolge (historica series) von der Schöpfung an. Übertragen auf sein eigenes Werk ergibt das einen geschichtlichen Zusammenhang von De creatione bis zu De resurrectione mortuorum. Der Mittelteil der Loci orientiert sich indes nach dem biblischen Vorbild, das in den Reden Christi die Glaubenssätze, die Erläuterung des Gesetzes und des Evangeliums enthält, was vor allem im Römerbrief des Paulus fortgesetzt wird (MSA 2/1, 192– 193). Nicht in diesem Aufriss enthalten ist die Gotteslehre, die Melanchthon nun explizit ausführt und gleich an den Anfang stellt. Dieses Vorgehen macht Sinn, weil in den heilsgeschichtlichen Lehrstücken und in den Ausführungen über Gesetz und Evangelium stets von Gott gesprochen wird. Melanchthon nimmt also eine Darstellung des Haupthandelnden der Heilsgeschichte vorweg. Die Einteilung der Loci von 1559 lässt sich in weiten Passagen als eine entfaltete Wiederholung derjenigen von 1521 verstehen. Eingeschoben sind dann im Wesentlichen nur De creatione und De causa peccati et de contingentia am Anfang, gleich nach der Gotteslehre, De ecclesia nach De discrimine veteris et novi testamenti, De praedestinatione nach dem größeren Block, der aus Rechtfertigungs- und Sakramentenlehre gebildet wird, De regno Christi, was die prä-eschatologische Frage betrifft, ob es ein weltliches Reich Christi vor dem Jüngsten Tage gibt, und De resurrectione mortuorum, was den Schluss der historischen Abfolge bildet, und einer Reihe von Lehrstücken, die wie ein Anhang am Schluss stehen, weil sie in diese Reihenfolge sich nicht zwingend fügen lassen. Unter diesen hat aber De invocatione Dei systematisches Gewicht, denn die ganze theologische Lehre ist als Anleitung zum Gebet zu verstehen. Die praktische, auf den usus ausgerichtete Anlage der Theologie zielt auf das Gebet. Dies macht sich nun gerade in der hier eingeführten Gotteslehre bemerkbar. Weil der Mensch dazu geschaffen ist, Gott zu loben, ist es die oberste Aufgabe des Menschen, Gott zu kennen, also die wahre Lehre von Gott zu erfassen (MSA 2/1, 195 – 196). Es gibt, wie Melanchthon schon 1521 gesagt hat, der menschlichen Natur eingegebene Kenntnisse, die auch der Sünder noch von Gott hat, doch sind diese aufgrund des Sündenfalls ungewiss und von Zweifeln angekränkelt. Gelegentlich kommt der Mensch dann nur noch zu der Auffassung, dass Gott nicht mehr in seiner Schöpfung handle (so Perikles, ebd. 196,15 – 17); im besten Fall wird das Strafen Gottes, nicht aber seine Gnade erkannt (so Oedipus, ebd. 196,18 – 19). Darum ist die Offenbarung Gottes,
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in deren Zentrum die Versöhnung steht, auch die Quelle der Gotteslehre, von der aus aufgenommen und eingeordnet werden kann, was auch der sündige Mensch von Gott noch erkennen kann. Gott wird, wie es Melanchthon schon 1521 gelehrt hat, durch den Blick auf Jesus Christus erkannt. Jesu Antwort auf die Frage des Philippus (Joh 14,9) ist hier für Melanchthon die zentrale Stelle, die auch bereits Relevanz für die Trinitätslehre hat. Von dort her kommt er auf die heilgeschichtlichen Selbstidentifikationen Gottes zu sprechen, anfangen mit Exodus und Sinai (s. Ex 20,2). Durchaus vergleichbar mit Thomas, der die natürliche Gotteserkenntnis ein perfectibile, etwas, das noch vollkommen werden muss, nennt (S.Th. I, q.2, a.2, ad 1), führt Melanchthon, nur mit einer anderen Akzentsetzung, eine „Beschreibung Gottes“ aus Platon (Philebos 22c; Politeia 379c; 380b) an: „Deus est mens aeterna, causa boni in natura.“ und nennt diese „mutilata“, also verstümmelt oder unvollständig (MSA 2/1, 199,8 – 11). Die vollständige, durch die Offenbarung gegebene Beschreibung Gottes spricht vom dreieinigen Gott: Vater, Sohn und Heiligem Geist, wie sich aus einer Fülle von biblischen Zeugnissen, angefangen mit Gen 1,1– 3, ergibt. Die Trinitätslehre steht also hier am Anfang der eigentümlich christlichen und darum vollständigen Gotteslehre (man kann Melanchthon jedenfalls den Vorwurf nicht machen, es würde seiner Trinitätslehre „an innerem Zusammenhang mit der Lehre von der absoluten Einheit Gottes“ mangeln, vgl. Pannenberg 2015, 316 und Grosse 2008, 275 – 277). Die Trinität erweist sich damit als ein Geheimnis, so wie in den Loci von 1521 von „Geheimnis“ die Rede war: etwas, das nur erkannt werden kann durch die Offenbarung Gottes, die in der Menschwerdung, im Kreuz Christi ihr Zentrum hat und die Rechtfertigung des Menschen einschließen muss, der nach Erkenntnis erlangen will. Der Beweis der Trinität, den Melanchthon in Kontrakritik zur Kritik Servets durchführt, besteht zum einen aus theoretischen Elementen, das heißt aus unmittelbaren Lehraussagen, wie etwa, nachdem die Göttlichkeit Jesu aus Joh 1,14; Kol 2,9 erwiesen wurde: „Alles aber, was außerhalb der Person des Vaters ist, in dem göttliche Natur ist, das muss notwendigerweise eine Person sein.“ (MSA 2/1, 210,33 – 34) Zum anderen besteht er aus praktischen Elementen: aus der Verehrung und Anrufung Christi nach den Zeugnissen der Schrift ist zu schließen, dass er, auf den eine Praxis gerichtet wird, die allein Gott gebührt, selber auch Gott sein muss (ebd. 211,7– 12): „Adoratio tribuit divinitatem.“ (ebd. 221,29) Der Abschluss der Trinitätslehre besteht in einem Gebet an Gott den Vater, in dem zugleich von dem Sohn und von dem Heiligen Geist gesprochen wird (ebd. 237,34– 238, 22, fast wörtlich wiederholt im Locus de invocatione, 2/2, 652,28 – 653, 7), an den Sohn und an den Heiligen Geist (MSA 2/1, 239 – 240). Sagte Melanchthon schon in den Loci von 1521, dass die theologische Erkenntnis dazu führen muss, Gott recht um Gnade und Vergebung der Sünden zu bitten (MSA 2/1, 21,8 – 9), so erweist sich hier, dass dieses Gebet ein Gebet an den dreieinigen Gott sein muss, dass also die Rechtfertigung nur durch eine praktische Anerkennung der Trinität stattfinden kann. Die Zwei-Naturen-Lehre in der Christologie wird gelegentlich im Zuge der Trinitätslehre berührt (MSA 2/1, 215,20 – 21; 217,23 – 34; 226,16 – 228,19). Das größte Gewicht in diesen Ausführungen hat die Aussage, dass Christus menschliche Natur haben
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musste, weil er nur so imstande war, leidensfähig zu sein und den Zorn Gottes zu verspüren. Die Kenosis wird nicht so verstanden, dass die göttliche Natur von Christus wich, wohl aber so, dass ihre Herrlichkeit nicht mehr so sehr strahlte: das Wort schwieg. Eine eingehende Beantwortung der Frage Cur Deus homo? und eine eigene Darstellung de persona Christi mit der Zwei-Naturen-Lehre fehlen indes (Melanchthon sagt nur, „dass ein Opfer für das Menschengeschlecht geschehen müsse, um den Zorn Gottes gegen die Sünde zu stillen“: MSA 2/2, 390,1– 3. Präziser wird die altkirchliche Zwei-Naturen-Lehre aufgenommen in der Explicatio Symboli Nicaeni [1561], CR 23, 368 – 376; Enarratio Symboli Nicaeni [1550], CR 23, 340 – 346. Das Cur Deus homo wird beantwortet in der Enarratio Symboli Nicaeni, CR 23, 338 – 340). Die Lehre von der Schöpfung baut den Grundeinfall der Loci von 1521 aus, so von der Schöpfung zu reden, dass zugleich von der Vorsehung Gottes in seiner Schöpfung und dem Vertrauen darauf die Rede ist (dabei fallen aber nicht, wie bei Schleiermacher [2003, § 36 – 39, 218 – 230] Schöpfung und Vorsehung ineins). Gott ist in seiner Schöpfung in einer solchen Weise präsent, dass das Bittgebet Sinn macht (MSA 2/1, 241– 245; Grosse 2003, 87– 91). In der Welt herrscht somit nicht blinder Zufall, wie die Epikureer meinen, noch ist Gott an die Kette der Zweitursachen gebunden, wie die Stoiker lehren, noch hat er sich aus der Schöpfung zurückgezogen (Melanchthon setzt sich hier mit der Lehre auseinander, die später Deismus genannt wird). Melanchthon integriert in diese Lehre von Gott dem Schöpfer und Vorsehenden nun auch eine Reihe von Gottesbeweisen. Der Keim zu solchen findet sich bereits in den Loci von 1521, wonach es eine Erkenntnis (Frank 1995, 228 – 333) aufgrund einer lex naturalis ist, dass Gott zu verehren sei. Melanchthon betont, dass durch den Sündenfall diese Beweise nur eine abgeschwächte Überzeugungskraft und dass die Zeugnisse der Schrift viel größere Gewissheit haben. Die Gottesbeweise sind also nur den Gläubigen nützlich, und auch das nur in zweitrangiger Weise. Melanchthon nennt (MSA 2/1, 247– 250): 1. Beweise aus der Ordnung der Natur, die aus den Wirkungen den Urheber erweisen (dies entspricht den fünf Beweisen [„Wegen“] des Thomas von Aquin, S.Th. I, q.2, a.3) 2. Beweise aus der Natur des menschlichen Geistes. Eine vernunftlose Sache kann nicht die Ursache einer vernunftbegabten Natur sein. Der Mensch hat sein Sein aber nicht aus sich selbst, sondern fängt einmal an. Ein anderes vernunftbegabtes Wesen muss ihn also hervorgebracht haben (das richtet sich gegen einen materialistischen Evolutionismus). 3. Vorstellungen, die dem menschlichen Geist von Natur aus eingegeben sind, wie etwa, dass ein Unterschied zwischen ehrenhaften und schändlichen Handlungen besteht. Solche Vorstellungen können nicht aufgrund eines Zufalls entstanden sein (das richtet sich gegen die Auffassung, dass alle Vorstellungen eines Menschen durch das Milieu, in dem er aufwächst, also durch Erziehung eingeprägt sind). 4. Schlussfolgerungen: I. Von Natur aus vorhandene Vorstellungen sind wahr, II. Dass Gott ist, ist eine solche Vorstellung, III. Also ist sie wahr (Melanchthon räumt ein, dass die Prämisse II nur eine geringe Überzeugungskraft besitzt – aufgrund des Sündenfalls – aber durch die anderen Argumente gestützt wird).
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Eine Variante von 3: die Gewissensängste von Verbrechern, auch wenn sie keine menschliche Strafe zu befürchten haben. 6. Beweise aus dem Bestehen einer Ordnung der Gesellschaft (politica societas): Der Mensch alleine wäre nicht imstande, sie zu erhalten. Es gibt ein göttliches Wesen, das die bestraft, die diese Ordnung verletzen, wie die Mörder, Blutschänder und Tyrannen (das richtet sich gegen die später aufgestellte Theorie von einem Gesellschaftsvertrag, durch die Menschen eben doch die Ordnung einer gegebenen Gesellschaft aufrecht erhalten). 7. Beweise aus der Reihe der Wirkursachen, die nicht ins Unendliche weitergehen kann. Ansonsten wäre nämlich keine Ordnung der Ursachen (Weg 2 bei Thomas; das Argument mit der Unmöglichkeit eines processus in infinitum kommt auch in Weg 1, implizit auch in Weg 3 vor). 8. Beweise aus den Zweckursachen. Es muss einen planvoll arbeitenden Architekten der Welt geben (Weg 5 bei Thomas). 9. Beweise aus der Erfüllung von Prophezeiungen, wie sie in der Bibel überliefert sind. Es muss also einen Geist geben, der die Ereignisse voraussieht.
5.
Der Locus de causa peccati et de contingentia stellt eine Neuerung gegenüber den Loci von 1521 dar, formal als Lehrstück, aber auch dem Inhalt nach. Der Skopus steht allerdings in Übereinstimmung mit dem von De creatione: Gott ist gut, und darum kann und muss auf ihn vertraut werden. Die gegnerische Position ist hier die, dass auch das Böse von Gott stamme. Melanchthon weist diese Position den Manichäern zu; sie stamme aus einer verdorbenen Philosophie (MSA 2/1, 251,5). Es liegt nahe zu vermuten, dass die Auseinandersetzung zwischen Erasmus und Luther von 1524/25 Grund für Melanchthons Überlegungen sind. Da er schon 1535 mit dem Beginn der secunda aetas die These „Deus non sit causa peccati“ aufgestellt hat (ebd. 251, Fn. zu Z. 15), ist es ausgeschlossen, dass sich Melanchthon hier von Calvin hat abgrenzen wollen, der erst allmählich von der Lehre von einer einfachen zu der von einer doppelten Prädestination voranschritt und viel später erst zu ihr gelangte. Freilich sprechen diese Ausführungen gegen den späten Calvin, wenn dieser sagt, Gott habe den Fall Adams angeordnet (Inst. III, 23,7). Man sollte indes nicht meinen, Melanchthon habe die Seiten gewechselt und würde nun, wie Erasmus, Luther dies unterstellen. Wesentlich plausibler ist die Annahme, dass Melanchthon Luther mit diesen Klarstellungen schützen will. In der Tat hat auch in De servo arbitrio Luther bestritten, dass Gott die Ursache der Sünde sei (WA 18, 708,31). Was das Wesen der Sünde betrifft, übernimmt Melanchthon die begrifflich aus dem Neuplatonismus stammende, etwa von Augustin adaptierte (Confessiones VII, xii,18 – xvi,22) Bestimmung des malum als nihil privationis (MSA 2/1, 254,17– 18), die auch Luthers Ausführungen in De servo arbitrio zu Grunde liegen (WA 18, 709 – 712). Gott wollte die Sünde nicht, wenngleich er die Natur des sündigenden Menschen erhält. Die Sünde geschah nicht aus Notwendigkeit, sondern aus dem freien Willen des Teufels und des Menschen. Sie ist somit kontingent (MSA 2/1, 255,25 – 37). Melanchthon liegt hier ganz auf der Linie des antipelagianischen Augustin (z. B. De peccatorum meritis et remissione II, xvii, 27). In der Beantwortung der Ge-
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genthese, dass Gott als Erstursache an der Sünde Evas mitschuldig sei, kommt Melanchthon auf seine antistoische Lehre zurück, dass Gott nicht an das Wirken der Zweitursachen gebunden ist (MSA 2/1, 261,30 – 263,14). In De humanis viribus seu de libero arbitrio tritt indes eine inhaltliche Veränderung gegenüber der Position von 1521, aber auch gegenüber der Confessio Augustana ein. 1521 hatte Melanchthon gelehrt, dass, auf die Prädestination bezogen, der Mensch weder in äußeren noch in inneren Werken frei ist. Auf die äußeren Werke bezogen, gibt es ein gewisses Maß an Freiheit. Nach den Affekten betrachtet, gibt es hingegen keinerlei Freiheit (MSA 2/1, 31,1– 6). CA XVIII spricht auch von dieser äußeren Freiheit und lehrt, dass Glaube, rechte Gottesfurcht etc. nur durch den Heiligen Geist im Menschen geschehen, der durch das Wort Gottes gegeben wird. Dies wird auch in der Confessio Augustana variata von 1540 nicht geändert (MSA 6 [1. Aufl.], 23 – 25). 1559 betont Melanchthon zwar zunächst sehr stark die Unfähigkeit des gefallenen Menschen, das Gesetz Gottes von Herzen und nicht nur nach außen hin zu erfüllen, und hat dabei eine antipelagianische Stoßrichtung. Der Mensch braucht dazu den Heiligen Geist (MSA 2/1, 266 – 268). Dann aber erklärt Melanchthon: „dann wirken zusammen [concurrunt] drei Gründe für eine gute Handlung, das Wort Gottes, der Heilige Geist und der menschliche Wille, der dem Wort zustimmt und ihm nicht widerspricht. Denn er könnte es abschütteln […]“ (ebd. 270,19 – 271,1, so schon 1535, s. ebd. Fn. zu Z. 18). Melanchthon bekräftigt diese Aussage mit Beobachtungen, aus denen die Willentlichkeit sowohl der Sünde wie auch des Glaubens hervorgehen – was auch Luther niemals in Frage gestellt hätte –, nimmt aber damit klar eine andere Position als Luther oder der antipelagianische Augustin ein und auch als er selbst früher und gleichzeitig in den verschiedenen Fassungen der Confessio Augustana eingenommen hatte. Melanchthon fügt als weitere Argumente hinzu, dass die Verheißung der Gnade allgemein ist, dass sie sich also nicht nur an Menschen richtet, die von vornherein erwählt sind, und dass es in Gott keine widersprüchlichen Willensbestrebungen gibt (ebd. 273,9 – 10: gemeint ist die Unterscheidung zwischen einem offenbaren und einem verborgenen Willen bei Calvin oder die ähnliche Unterscheidung Luthers zwischen deus revelatus und deus absconditus: Calvin, Inst. I, 17,2; I, 18,3; Luther, WA 18, 685,21– 27; s. auch Grosse 2010). Augustinus, Luther und Calvin hätten den menschlichen Willen nicht als dritte Ursache in einer Reihe mit dem Wort Gottes und dem Heiligen Geist genannt, sondern erklärt, dass der Wille, der das Wort Gottes bejaht, in Menschen durch den Heiligen Geist geschaffen wird. Melanchthons Position ist allerdings nun auch nicht die des Erasmus. Die Intention Melanchthons ist nämlich nicht wie bei Erasmus, die Moralität des Menschen zu erhalten (De libero arbitrio [1969, 18]), sondern, dem angefochtenen Menschen in seinem Kampf gegen die Sünde Mut zu verschaffen, in dem er die Hilfe des Heiligen Geistes erbittet (MSA 2/1, 271,25 – 31). Melanchthon nennt als Gegner hier wieder die Manichäer. Faktisch widerspricht er hier Luther. Ungeklärt bleibt der Widerspruch zu den vorangegangenen Ausführungen, welche die Unfähigkeit des Menschen betonen, sich zu Gott aufschwingen zu können. Die Konkordienformel (Epitome II. Negativa 4. 9: BSELK, 1230 – 1234) hat diese Wendung des späten Melanchthon korrigiert.
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Die folgenden loci liegen dann aber wieder ganz von der Linie von 1521: De peccato, wo er den Unterschied zwischen dem nur oberflächlichen Unrechtsbewusstsein des nicht-wiedergeborenen Menschen und dem Sündenbewusstsein des durch das göttliche Gesetz belehrten Menschen hervorhebt, dann die einzelnen loci über das Gesetz, die eine Erweiterung dadurch erfahren, dass Melanchthon nach De lege divina den Dekalog auslegt und damit eine materiale Ethik vorlegt. Diese kehrt wieder in De lege naturae, und zwar auch, was die erste Tafel (erstes bis viertes Gebot) betrifft (MSA 2/1, 346 – 353). Melanchthon geht hier von dem bereits 1521 geäußerten Gedanken aus, dass es auch im gefallenen Menschen eine, wenngleich dunkle und von Zweifeln angefochtene Erkenntnis des lex naturae gibt, dessen Erfüllung in keiner Weise den Menschen vor Gott gerecht macht. Auf diesem Gedanken baut die Lehre vom dreifachen Gebrauch (usus) des Gesetzes auf (ebd. 354– 359): der usus paedagogicus seu politicus, der zweite Gebrauch, der darin besteht, die Sünde aufzudecken (also der usus elenchticus), der dritte der usus in renatis. Auch wenn Melanchthon bejaht, dass in gewisser Weise die durch den Glauben Wiedergeborenen nicht an das Gesetz gebunden sind, weil sie von dessen Anklage befreit sind, gibt es einen solchen Gebrauch, weil a) noch Reste der Sünde in ihnen sind und b) „um sie die bestimmten Aufgaben zu lehren, in denen Gott will, dass wir Gehorsam üben“ (ebd. 359,6 – 7). Die Kritik der überlieferten consilia bezieht sich auf den Rat, sich nicht zu rächen, sodann auf Armut und Keuschheit. 1521 war zwar auch von dem Verzicht auf den eigenen Zorn die Rede, aber dann von der Dreiheit der Ordensgelübde Gehorsam, Armut und Keuschheit. Melanchthon verbindet dies mit ethischen Ausführungen. Mit dem Abschnitt De evangelio setzt die Rechtfertigungslehre ein, welche in der Stoffmenge gegenüber 1521 vermehrt, in den Grundlinien aber dieselbe ist. Das Evangelium fällt unter den Begriff Verheißung, wobei auch das Gesetz seine Verheißungen hat. Jedoch haben diese eine Bedingung, nämlich die Erfüllung des Gesetzes, das Evangelium hingegen verheißt etwas „unentgeltlich [gratis] wegen Christus“ (ebd. 380,11– 12). Melanchthon definiert dann: „Das Evangelium ist also die Verkündigung der Buße [Lk 24,47] und die Verheißung […] dass er [Gott] wegen Christus, seinem Sohn, die Sünden vergibt und uns als Gerechte proklamiert, das heißt, als Angenommene, und er den Heiligen Geist schenkt und das ewige Leben, damit wir das nur glauben, das heißt, darauf vertrauen, dass uns dies wegen Christus gewiss zukommt.“ (ebd. 381,31– 382,2) Dementsprechend: „Rechtfertigung bedeutet die Vergebung der Sünden und die Versöhnung oder die Annahme der Person zum ewigen Leben.“ (MSA 2/2, 395,10 – 13) „Glauben“ schließlich bedeutet „nicht nur die Kenntnis der Geschichte [von Jesus Christus], sondern auch das Vertrauen auf die Barmherzigkeit, die des Sohnes Gottes wegen verheißen ist“ (ebd. 397,33 – 36). Die Ekklesiologie, die Melanchthon in diese Loci einschiebt, ist eng mit der Rechtfertigungslehre verbunden, wobei Melanchthon, entsprechend der Hörbarkeit des Evangeliums, auch die „Sichtbarkeit“ der Kirche betont. Die Definition lautet dann: „Die sichtbare Kirche ist die Versammlung derer, die das Evangelium von Christus umfassen und von den Sakramenten rechten Gebrauch machen, in der Gott durch den Dienst des Evangeliums wirkt und viele zum ewigen Leben wiedergebiert,
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auch wenn in dieser Versammlung viele sind, die nicht wiedergeborenen sind, sondern nur der wahren Lehre zustimmen.“ (ebd. 512,12– 17) Auch die Sakramentenlehre ist, wie 1521, eng mit der Rechtfertigungslehre verbunden. Sakramente definiert Melanchthon als „eine Zeremonie, die im Evangelium eingesetzt worden ist, damit sie ein Zeugnis der Verheißung sei, welche dem Evangelium eigentümlich ist, nämlich der verheißenen Versöhnung oder der Gnade.“ (ebd. 533,9 – 11) Die Lehre von der Prädestination kommt mit Bedacht erst nach dem großen Block, der aus Rechtfertigungslehre, Ekklesiologie und Sakramentenlehre gebildet wird. Ihr Nutzen besteht darin, dass die Christen angesichts der Unbeständigkeit aller menschlichen Gemeinschaftsbildungen, auch angesichts des Untergangs der Kirche in manchen Regionen der Welt, durch diese Lehre Trost gewinnen (ebd. 629,21– 26). Die rechte Lehre von der Prädestination oder Erwählung hat drei Voraussetzungen: (I) „Nicht aus der Vernunft noch aus dem Gesetz ist von der Erwählung zu urteilen, sondern aus dem Evangelium.“, (II) „Die ganze Zahl derer, die wegen Christus errettet werden, ist erwählt. Darum kann man nicht von der Erwählung sprechen, wenn wir nicht die Anerkennung Christi ergreifen.“ (III) „Wir fragen nicht nach der einen Ursache für die Rechtfertigung und nach einer anderen für die Erwählung.“ (ebd. 630,16 – 22) So hätte auch Calvin sprechen können (vgl. Inst. III, 24,5). Aber Melanchthon fügt hinzu, dass die Verheißung Gottes eine universale ist und dass die Ursache der Verwerfung die Sünde derer ist, die das Evangelium weder hören noch annehmen oder vom Glauben abgefallen sind, keineswegs aber Gott (MSA 2/2, 632,3 – 4,12– 19). Melanchthons Lehre von der Ursache der Sünde und vom freien Willen greifen hier zusammen und führen zu einer anderen Prädestinationslehre als beim späten Calvin. Von den loci, die anhangsartig am Schluss stehen, verdient noch De calamitatibus et de cruce et de veris consolationibus besondere Erwähnung, weil es den Gegenpol zu dem nachfolgenden locus de invocatione Dei betrifft und auch auf den locus de causa peccati zurückgreift. Denn die entscheidende Hilfe in der Not, sowohl in der leiblichen als auch in der geistlichen Anfechtung, wird durch das Gebet, durch die Anrufung Gottes erlangt (MSA 2/2, 669 – 677, vgl. Grosse 2004, insbes. 160).
3 Rezeption in den Loci von 1559 – ihre Wirkung Melanchthon verarbeitet in den Loci der zweiten und dritten aetas wesentlich mehr Literatur als in denen der ersten. An erster Stelle steht natürlich die Bibel. Der humanistisch gebildete Theologe zeigt sich im weitläufigen Heranziehen antiker paganer lateinischer und griechischer Literatur. Der Horizont der Loci erhält dadurch ein humanum, das mit dem christianum verknüpft wird: nicht in den Antworten, wohl aber in den Fragen nimmt die Christenheit an der nicht-christlichen Menschheit teil. Aristotelische Begrifflichkeit wird nur sehr zurückhaltend verwendet (contingentia, privatio). Namentlich ausgewiesen sind die häufig zitierten griechischen und lateinischen Kirchenväter. Die Gegner in verschiedenen Richtungen, mit denen sich Melanchthon
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auseinandersetzt, werden selten persönlich genannt (im Widmungsbrief Eck, Cochläus und Alfonso de Castro, MSA 2/1, 187,18 – 19). Die Scholastiker werden meistens unter monachi pauschal zusammengefasst. Die Stoiker, meist ein Negativbegriff, stehen offensichtlich für um 1559 diskutierte Positionen, wobei offen bleibt, ob Melanchthon damit Calvin, Luther oder ein von Erasmus oder den romtreuen Theologen aufgebautes Feindbild von Luther meint, gegen das er Luther verteidigen will. Luther selbst hat, trotz der mittlerweile unterschiedlichen Beurteilung der Willensfreiheit, in seiner Vorrede zum ersten Band seiner lateinischen Werke von 1545 seine eigenen Werke insgesamt hinter den Loci Melanchthons der tertia aetas zurückgestellt. Diese ragten unter den neueren Lehrbüchern der Theologie hervor, seine eigenen Werke hingegen ließen zu sehr an Ordnung vermissen (WA 54, 179,1– 12). Die Loci von 1559 waren über mehrere Generationen hinweg das grundlegende Unterrichtsbuch für Theologie an Universitäten im Wirkungskreis der Augsburger Konfession. Die Loci theologici der altlutherischen Orthodoxie wurden formal und überwiegend auch dem Inhalt nach – abgesehen von den Stellen, welche die Konkordienformel korrigierte – in der Weise gebildet, dass die Loci Melanchthons abgedruckt und kommentiert wurden. Dies gilt auch noch von den Loci theologici Johann Gerhards. Die von Melanchthon gewählte Darstellungsform erwies sich dabei als aufnahmefähig für eine wesentlich präzisere, terminologisch geprägte Begrifflichkeit und logische Analysen der gegebenen Kontroversen, so etwa bei Leonhard Hütter (Hutterus). Der über den Kreis der Fachleute hinaus ansprechende, insofern „humanistische“ Charakter der Loci Melanchthons trat demgegenüber zurück. Die analytische Methode verließ Mitte des 17. Jahrhunderts die von Melanchthon gewählte Anordnung der Lehrstücke (Weber 1969, 20 – 74), was aber nicht besagt, dass damit inhaltlich melanchthonianische Positionen verlassen worden seien. Grosso modo bestimmt er, trotz mancher affekthafter Äußerungen gegen ihn (zu Abraham Calov siehe Bayer 1994, 127; für Hütter gibt es wohl keinen Beleg) die ganze Theologie der altlutherischen Orthodoxie (Junghans 1999).
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Literatur Bayer, Oswald. 1994. Theologie. HST 1, 127 – 155. Gütersloh. Frank, Günter. 1995. Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1497 – 1560). EThSt 67. Leipzig. Grosse, Sven. 2002: „Renaissance-Humanismus und Reformation. Lorenzo Valla und seine Relevanz für die Kontroverse über die Willensfreiheit in der Reformationszeit.“ KuD 48: 276 – 300.
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Grosse, Sven. 2003. „Die Nützlichkeit als Kriterium der Theologie bei Philipp Melanchthon.“ In Melanchthon und die Neuzeit. MSB 7, hg. v. Günter Frank und Ulrich Köpf, 69 – 93. Stuttgart/Bad Cannstatt. Grosse, Sven. 2004: „Theodizee im Bittgebet. Melanchthons Position zum Theodizeeproblem.“ NZSTh 46: 149 – 167. Grosse, Sven. 2007. „Der junge Luther und die Mystik.“ In Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Luther, hg. v. Berndt Hamm u. Volker Leppin, 187 – 235. Tübingen. Grosse, Sven. 2008. „Melanchthons Wendung zur Trinitätslehre.“ KuD 54: 264 – 289. Grosse, Sven. 2009. „Philipp Melanchthon: Die Loci Communes von 1521.“ In Kanon der Theologie. Schlüsseltexte im Portrait, hg. v. Christian Danz, 212 – 218. Darmstadt. Grosse, Sven. 2010. „Die fröhliche Schiffahrt. Luther und Calvin zu unfreiem Willen und Prädestination.“ In Johannes Calvin – Streiflichter auf den Menschen und Theologen. Vorträge und Tagungsbeiträge an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel zum Calvin-Jahr 2009. Studien zu Theologie und Bibel 5, hg. v. Sven Grosse und Armin Sierszyn, 79 – 97. Wien/Zürich. Hirsch, Emanuel. 41964. Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht. Berlin. Junghans, Helmar. 1999. „Philipp Melanchthons Loci theologici und ihre Rezeption in deutschen Universitäten und Schulen.“ In Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert, hg. v. Günther Wartenberg, 9 – 30. Leipzig. Pannenberg, Wolfhart. 2015. Systematische Theologie. Gesamtausgabe, hg. v. Gunther Wenz, Bd.1, Göttingen. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst. 2003. Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (Zweite Auflage 1830/31, Teilbd.1). Kritische Gesamtausgabe I.13/1, hg. v. Rolf Schäfer. Berlin/New York. Weber, Hans Emil. (1908) 1969. Der Einfluß der protestantischen Schulphilosophie auf die orthodoxe lutherische Dogmatik. (Leipzig) Darmstadt.
Robert Kolb
Rechtfertigungslehre
„Die ganze christliche Lehre dreht sich um das Thema, wie wir vor Gott gerecht werden oder was die Gerechtigkeit der Christen sei. Diese Definition ist das Zentrum und die Zusammenfassung der ganzen christlichen Lehre“, schrieb Philipp Melanchthon 1529 in seiner Einführung in den Römerbrief des Apostels Paulus (CR 15, 445). Zwei Jahre später schrieb er in seiner Vorrede zur editio princeps der Confessio Augustana, dass er in seinem Bekenntnis vor allem die Lehre der „Heiligen Schrift und der katholischen Kirche“ über die Gerechtigkeit des Glaubens, die Buße und die Sakramente dargelegt hätte. Im Artikel IV des Bekenntnisses erklärte er, dass die evangelische Kirche lehre, das wir durch unsere werck odder gnugthuung nicht können vergebung der sunden verdienen. Werden auch nicht von wegen unser werck gerecht geschetzt vor Gott, sonder wir erlangen vergebung der sunden und werden gerecht geschetzt vor Gott umb Christus willen aus gnaden durch den glauben, so das gewissen trost empfehet an der verheissung Christi und gleubet, das uns gewislich vergebung der sund geben wird und das uns Gott wölle gnedig sein, uns gerecht schetzen und ewiges leben geben umb Christus willen, der durch seinen tod Gott versünet hat und fur die sund gnug gethan. (BSELK, 98, 9 – 27/99, 5 – 20)
In dieser kurzen Zusammenfassung legte Melanchthon die wichtigsten Elemente der Rechtfertigungslehre dar, die er und Martin Luther ein Jahrzehnt früher zusammen verfasst hatten. Er hielt diesen Glaubensartikel für den „höchsten, furnemsten“ (praecipuus) Locus der christlichen Lehre, der, richtig verstanden, Christus die angemessene Ehre tue und den frommen Gewissen den notwendigen und höchsten Trost spende (Apologia Confessionis Augustanae, IV, BSELK, 268, 4– 11/269,3 – 5.). Seine Theologie fand hier seinen Anker in der Antwort auf die Fragen: Wie stehe ich vor Gott? Und wie erhalte ich Gottes Gunst, wenn ich seine Gnade einmal erfahren habe? Als Melanchthon im August 1518 in Wittenberg seine Professur antrat, bemühte sich Luther mit einem intensiven Studium der Bibel, eine Antwort auf diese beiden Fragen zu finden. Er gelangte in dieser Zeit allmählich zu einem neuen Verständnis des Christseins, das sich fundamental von der Glaubenswelt unterschied, in der er aufgewachsen war. Luther wie Melanchthon wuchsen mit einem Volksglauben auf, in dem die Menschen versuchten, ihre Beziehung zu Gott vorwiegend durch sakrale Rituale aufzunehmen und zu erhalten. Diese Rituale wurden stellvertretend durch die Priester vollzogen, die allein die Macht und Befugnis hatten, in der Kirche religiöse Zeremonien zu zelebrieren. Nur in Ausnahmefällen konnten auch Laien bestimmte nichtliturgische Rituale verrichten. Seine Studien der Heiligen Schrift, die auch in Zusammenhang mit der Schule des Theologen Wilhelm von Ockham standen, brachten Luther nun dazu, das Christsein neu zu verstehen: nicht als aktive Glaubensbemühung, sondern als ein von Gott durch sein Wort gestiftetes Verhältnis, das durch die Verheißung der Vergebung der Sünden und eines neuen Lebens in Christus DOI 10.1515/9783110335804-026
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eröffnet wird. Die Wiederherstellung des ursprünglichen Verhältnisses zwischen Mensch und Gott nannte Luther Rechtfertigung. Aus seiner Kritik an den Zeremonien der mittelalterlichen Kirche erschließt sich, dass Melanchthon Luthers Beurteilung der Rituale des traditionellen Glaubenslebens teilte (LC 21997, 254/255). Mit seinen Kenntnissen der griechischen Sprache unterstützte er Luther bei seinen Bibelstudien und hatte damit auch dazu beigetragen, dass dieser die Kernbegriffe seiner Theologie klarer fassen konnte. In seinen Loci communes von 1521 schrieb Melanchthon nun selbst „von der Rechtfertigung und vom Glauben“: Daher werden wir gerechtfertigt, wenn wir durch das Gesetz getötet sind und durch das Wort der Gnade wieder zum Leben erweckt werden, die in Christus verheißen wurde, oder durch das Evangelium, das die Sünden vergibt, und wenn wir an ihm im Glauben hängen, ohne einen Zweifel daran zu haben, dass Christi Gerechtigkeit unsere Gerechtigkeit ist, Christi Sühnetat unsere Sühnetat ist, Christi Auferstehung die unsere ist. Kurz, wenn wir keinen Zweifel daran haben, dass uns die Sünden vergeben sind und Gott uns nunmehr gewogen und zugeneigt ist. Daher ist kein einziges unserer Werke, mögen sie noch so gut erscheinen oder sein, die Gerechtigkeit, sondern allein der Glaube an die Barmherzigkeit und Gnade Gottes in Jesus Christus ist die Gerechtigkeit. (LC 21997, 207)
In dem Text von 1521 finden sich schon alle zentralen theologischen Begriffe, die später auch in das Augsburger Bekenntnis von 1530 einflossen: 1. Das Verständnis von der Sündhaftigkeit des Menschen, der vor dem Gesetz Gottes nicht bestehen kann, der deshalb den Tod des Sünders stirbt und dessen von der Sünde bestimmte Identität „in das Grab Christi“ sinkt. 2. Die Rede vom Wort Gottes als Evangelium, das dem bußfertigen Menschen ein neues Leben schenkt. 3. Das Verständnis von Evangelium als Verheißung (promissio). Die Begriffe „Evangelium“ und „Verheißung“ wurden von Melanchthon oft synonym gebraucht. 4. Die Definition der Gerechtigkeit vor Gott als Glauben und Vertrauen auf Christus. Wie Melanchthon immer wieder betonte, habe Christus das Heil für sein Volk durch seinen stellvertretenden Opfertod am Kreuz und seine Auferstehung gewonnen (die Bedeutung der Auferstehung für Melanchthons Rechtfertigungslehre wird von vielen Wissenschaftlern oft vernachlässigt) – eine Heilstat, die nur aus Gottes Gnade und Barmherzigkeit geschah. Wie Luther insistierte Melanchthon schon 1521 darauf, dass gute Werke und aller menschlicher Verdienst keine Bedeutung für die Gerechtigkeit des Menschen vor Gott hätten. 5. Melanchthon wies in seinen Loci communes zugleich darauf hin, dass der Glaube an Christus in der Folge gute Früchte trage (LC 21997, 261/262– 263/264). In seinem Kommentar zum Römerbrief von 1532 zählte er die drei Elemente auf, die zur conversio (Buße und Bekehrung) sowie zur regeneratio (Wiedergeburt) gehörten: die Vergebung der Sünden durch die Rechtfertigung oder Zurechnung der Gerechtigkeit Gottes sowie die Gaben des Heiligen Geistes (auch als Quelle der guten
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Werke als Früchte des Glaubens verstanden) und des ewigen Lebens (CR 15, 506). Diese drei Geschenke der Gnade würden dem Glaubenden zugleich zuteil. Diese theologischen Kernaussagen finden sich auch in Melanchthons Rechtfertigungslehre von 1535, wenn er hier auch zum Teil andere Formulierungen gebrauchte. Rechtfertigung erscheint hier als „die Vergebung der Sünden und Versöhnung bzw. die Annahme der Person zum ewigen Leben. Das sei der Wortgebrauch des Apostel Paulus, aus der hebräischen Denkweise“. Gleichzeitig mit der Vergebung der Sünden schenke Gott den Heiligen Geist, der neue Tugenden in den gerechtfertigten Menschen erwecke und den Gläubigen tröste, wenn die Furcht vor Gottes Zorn noch in seinem Bewusstsein auftauche (Loci 1559, MSA 2/2, 359,10 – 360,4). Und 1556 definierte er die Rechtfertigung als „Vergebung der Sünden, Versöhnung, Zurechnung der Gerechtigkeit, das ist Annahme zum ewigen Leben, in Verbindung zur Gabe des Heiligen Geistes“ (RömerbriefKommentar 1556, CR 15, 810). In den Loci communes wie in den Bibelkommentaren Melanchthons ist eine gleiche Argumentationsstruktur erkennbar. Die Auslegung der Heiligen Schrift wird durch Zitate von Kirchenvätern und mittelalterlichen Theologen ergänzt, um zu belegen, dass sein Verständnis von Rechtfertigung auch in der Tradition der Kirche steht. Zu den am meisten zitierten Bibelstellen gehören 2 Chr 20,20, Mk 9,24, Apg 15,9, Röm 3,22– 28, Röm 4,1– 25, Röm 5,1– 2, Röm 10,11– 17, Gal 3,6 – 29, Eph 3, 11– 12, Kol 2,12, Hebr 1,1 (z. B. Römerbrief-Kommentar 1532, CR 15, 513 – 519). Als Theologen der Alten Kirche und des Mittelalters werden vorwiegend erwähnt: Augustinus (Loci 1559, MSA 2/ 2, 368,1– 16; Römerbrief-Kommentar 1556, CR 15, 803) und Bernhard von Clairvaux (Loci 1559, MSA 2/2, 368,17– 28; Römerbrief-Kommentar 1556, CR 15, 803), aber auch Ambrosius von Mailand (Römerbrief-Kommentar 1556, CR 15, 803), Basilius von Caesarea (Loci 1559, MSA 2/2, 368,19 – 369,2; Römerbrief-Kommentar 1556, CR 15, 803), Prosper von Aquitanien (Römerbrief-Kommentar 1556, CR 15, 803) und Johannes Tauler (Römerbrief-Kommentar 1556, CR 15, 803). Die fünf theologischen Kernaussagen Melanchthons zur Rechtfertigungslehre werden im Folgenden ausführlicher erläutert.
1 Sündhaftigkeit der Menschen Melanchthon betonte stets in Anlehnung an Luthers Kleinen Katechismus, dass alle Menschen vor dem Gericht Gottes stehen würden, weil sie ihn von Natur aus nicht fürchten und lieben und ihm auch nicht vertrauen würden (Loci 1559, MSA 2/2, 357,29 – 33; BSELK, 862,6). In seinem Kommentar zum Römerbrief aus dem Jahr 1532 definierte er die Gottlosigkeit als den Kampf gegen die „erste Tafel des Gesetzes“ und den Wunsch, Gott nicht zu kennen. Sie sei im Vertrauen auf eigene Weisheit und die Gerechtigkeit von Werken ein Mangel an Gottesfurcht und -liebe. Gottlosigkeit zeige sich auch in der Entrüstung gegen Gott in der Not, in den menschlichen Begierden und in dem Streben nach dem eigenen Glück. Gottlose Menschen würden vor dem Bekenntnis zu Gott fliehen, mit der Erfindung falscher Gottesideen spielen, ihre Freude an den
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Irrtümern der Epikureer und der Athener Philosophenakademie haben und dem Wort Gottes nicht zustimmen. Die menschliche Sünde war für Melanchthon vor allem ein Mangel an Vertrauen zu Gott (CR 15, 62). 1553 erklärte Melanchthon, die Sünde umschließe „alles was wider gottes gesetz ist“, und vor allem „diese grosse, heimliche, tieffe sund, nemlich das die menschen nicht glauben an den Son gottes“ (Melanchthon [1553] 2002, 264,27– 29; CR 22, 326; Römerbrief-Kommentar 1556, CR 15, 814). Deswegen soll der Sünder sterben. Auch die Gläubigen müssen täglich die mortificatio erfahren, den Tod des Sünders mit seinen verderblichen Taten. Als warnendes Beispiel für die vernichtende Gewalt des Zornes Gottes zitierte Melanchthon für seine Leser die Beispiele Adams (Gen 3,10) und Davids (2 Kön 12,13). Diese hätten nach ihrem Abfall von Gott noch seine warnende Stimme gehört, weil ihre Herzen nicht verhärtet gewesen wären und sie die „terrores“ der göttlichen Strafe gefürchtet hätten (Loci 1559, MSA 2/2, 358,3 – 9; RömerbriefKommentar 1556, CR 15, 801– 802.). Für Melanchthon war klar erkennbar, dass „doch menschliche vernunfft also blind [sei], das sie diese Sonnen, den herrn Christum, nicht anschauet und tichtet zu allen zeiten eigne verdienst und eigne gerechtikeit. Also von anfang sind abgottereyen erticht […]“. Das führte dazu, dass „die gelerten“ das Wort „Gerechtigkeit“ nur als „eusserlicher zucht“ verstanden haben, oder dass „ die enthusiasten und Anabaptisten […] tichten, sie sind gerecht und gott gefellig von wegen yhrer innerlichen erleuchtung und enzukung. […] Also sturmen fur und fur teuffel und blinde menschen wider die warheit in disem hohen artikel vom herrn Christo und von der gnad, die ehr bringet, und rauben yhm zu gleich seine ehr und zerstoren rechte anruffung gottes und nehmen den erschroknen gewissen den rechten trost auß den augen“. Als Beispiele für den Hochmut der Sünder zitierte Melanchthon nicht nur Pharisäer und Pelagianer, sondern als Zeitgenossen auch die Verfasser des Augsburger Interims (Melanchthon [1553] 2002, 259,3 – 261,1; CR 22, 322– 323.). In der Summa der Rechtfertigungslehre in den Schriften der Propheten und Aposteln aus Melanchthons Römerbrief-Kommentar von 1556 wird die erste Begegnung des Menschen mit Gott nach dem Sündenfall noch einmal mit drastischen Worten geschildert. Adam wäre furchtbar erschrocken gewesen, denn „wenn Gott selber mit eigener Stimme das Geschöpf anklagt, meinen wir nicht, dass das ein beiläufiges Gespräch ist, Gott ist vielmehr ein verzehrendes Feuer“. Adam habe noch nichts außer dem Gesetz kennen können, das ihn verdamme. An ihm sei klar erkennbar: „Gottes Gerechtigkeit ist unwandelbar und straft und wirft den Sünder hin.“ Sie lasse den Sünder seinen Zorn erfahren, sodass dieser nur sagen könne: „Ich habe gesündigt; deswegen leide ich die Strafe“ (CR 15, 799 – 800).
2 Gottes Wort rechtfertigt den Sünder Für Melanchthon bleibt Gott auch nach der Erschaffung der Welt ein Schöpfer. Das Erschaffen gehört zu seinem Wesen. Deswegen brauche der Sünder, der unter Gottes
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Zorn sterbe, auch Gottes schöpferische Tätigkeit, damit er ein neues Geschöpf werde, das vor Gott gerecht sei. Eine fundamentale Voraussetzung für die Wittenberger Rechtfertigungslehre war Luthers zweifaches Verständnis von „Gerechtigkeit“: seine Unterscheidung zwischen iustitia aliena und iustitia propria, wie er sie 1518 genannt hat (Sermo de triplici iusticia 1518,WA 2 43 – 47; Sermo de duplici iustitia 1519,WA 2, 145 – 152), später als iustitia passiva und iustitia activa bezeichnet (In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius 1531/1535, WA 40,1, 45,24– 26). Melanchthon übernahm diese Unterscheidung, allerdings mit eigener Terminologie. Seine Dispositio orationis in Epistolam Pauli ad Romanos (1529) begann mit der Unterscheidung zwischen der iustitia politica oder civilis und der iustitia vor Gott. Die iustitia politica oder civilis erkenne gute Werke, sei aber blind für die iustitia vor Gott. Die Vernunft meine, dass es genüge in Gottes Gunst zu kommen,wenn man die Werke des Gesetzes tue. Sie verstehe aber nicht, dass Gott ein reines Herz verlange. Dieses könne der Sünder aber nicht durch seine Taten erlangen, sondern nur durch den Glauben an Gottes Sohn und die Vergebung der Sünden. Dieser Glaube, dieses Vertrauen führe zu der Gerechtigkeit, in der das menschliche Leben wieder in das rechte Verhältnis zu Gott gebracht werde (CR 15, 443 – 445). Die Apologie des Augsburger Bekenntnisses enthält eine längere Behandlung von der zweifachen Gerechtigkeit. Die Gegner der Confessio, so Melanchthon, würden eine Gerechtigkeit der Vernunft beziehungsweise des Gesetzes lehren, die Gott zwar fordere, die vor ihm aber nicht als Verdienst für die Erlangung der Seligkeit zählen würde. Die Evangelischen würden dagegen die Gerechtigkeit des Glaubens lehren (BSELK, 276/277– 286/287). Noch 1556 schrieb Melanchthon in Abgrenzung von der scholastischen Heilslehre, mit der er sich im Gespräch mit Altgläubigen immer wieder auseinanderzusetzen hatte, dass der Mensch auch nach der Bekehrung allein im Glauben an Jesus Christus von Gott gnädig angenommen werde. Der neue Gehorsam und Werke der Liebe blieben eine Folge der Bekehrung und hätten keine Auswirkung auf die Stellung des Menschen vor Gott (Römerbrief-Kommentar 1556, CR 15, 806). In kritischer Auseinandersetzung mit der Rechtfertigungslehre Andreas Osianders beschrieb er 1553 die Gerechtigkeit vor Gott mit folgenden Worten: ,,Des selbigen mittlers gantzer gehorsam von seiner menschwerdung an biß zur ufferstehung ist die hohe, warhafftige gerechtikeit, die gott gefellig ist, und ist der verdienst fur unß, darumb unß gott unsere sund vergibet und unß also annimet, das ehr unß gerechtikeit zurechnet umb des Sons willen, ob wir gleich noch swach und sundig sind – und mussen aber diese zugerechnete gerechtikeit mit glauben annemen.“ (Melanchthon [1553] 2002, 271,23 – 30; CR 22, 332– 333) Auf Gespräche mit Altgläubigen geht auch Melanchthons Umarbeitung des vierten Artikels des Augsburger Bekenntnisses von 1540/1542 zurück (CA Variata, BSELK QuM1, 173, 21– 30). Die göttliche Zurechnung der Gerechtigkeit, sein heilbringendes Wort bezeichnete Melanchthon als „Evangelium“. 1535 nannte er die Rechtfertigung vor Gott auch eine Lehre „von der Buße und der Vergebung der Sünden um Christi willen“ (MSA 2/2, 353) und wurde für diese Definition zwei Jahrzehnte später von Matthias Flacius heftig
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angegriffen. „Evangelium“ umfasste für Melanchthon oft auch das gesamte Handeln Gottes, das sich in der Spannung von Gesetz und Evangelium ereignen würde (MSA 2/2, 354– 359, 378 – 388). Ein so verstandenes Evangelium erschließe dem Gläubigen die Bedeutung des Todes und der Auferstehung Christi und damit das ewige Heil. Es tröste das Gewissen der Frommen und unterrichte sie, wie sie den wahren Gottesdienst auszuüben hätten (MSA 2/2, 353,11– 14). Die engere Bestimmung des Evangeliums beschrieb er in seinen deutschen Loci von 1553 als „ein rede, die ein froliche bottschafft bringet […] dies lieblich wort von der Gnadpredig“, das vom Gesetz, „den grossen ernsten zorn wider unsere sund“ zu unterscheiden sei. Die Predigt des Evangeliums sei insgesamt eine kräftige Botschaft Gottes, die „schreken und trost“ wirke (Melanchthon [1553] 2002, Heubtartikel, 249, 5 – 8, 250, 5 – 7, CR 22, 305). Melanchthons Rechtfertigungslehre ist forensisch, das heißt ein Wortereignis. Zur Gerechtigkeit durch die Vergebung der Sünden schrieb er 1535, „das heißt, du wirst als angenommene Person (acceptus) gerechnet (reputaris) oder erklärt (pronuntieris) um Gottes Sohnes willen, der sich für die Sünden geopfert hat“ (Loci 1559, MSA 2/2, 360,31– 33; MSA 2/2, 8 – 10; Römerbrief-Kommentar 1532, CR 15, 501, 510 – 511; RömerbriefKommentar 1556, CR 15, 807, 815). „Forensisch“ hieß für die Wittenberger aber nicht, dass Gottes Wort eine juristische Fiktion schafft. Es wurde von ihnen als ein schöpferisches Wort verstanden, dass eine neue Wirklichkeit schafft. Die Ontologie der Wittenberger ist auf das Wort Gottes und seine Person bezogen: Gott hat den Menschen durch das Wort mit ratio, voluntas und affectus erschaffen, aber wichtiger sei das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf, das durch das Wort erschaffen werde.Wie Gott einen Menschen betrachte und was er von ihm sage, bestimme sein Wesen. Dies gelte auch, wenn der sündige Mensch ein anderes Bild von sich selbst habe. Der gerecht Erklärte ist vor Gott gerecht. Dies ist eine Wirklichkeit, die Gott selbst schafft. Sein Wort bestimmt, was wirklich wahr ist. Für Melanchthon war es deshalb auch selbstverständlich, dass der Glaubende von sich aus gute Werke als Früchte des Glaubens hervorbringt. Der Glaubende sei im Vertrauen auf Gott bereit, sich für seine Nächsten – wenn notwendig – auch aufzuopfern. Beide Anliegen hatte Melanchthon 1536 klar benannt, als er in einem Gutachten an seine Kollegen Luther, Justus Jonas und Caspar Cruciger den Vorwurf von Conrad Cordatus zurückwies, dass er die Werkgerechtigkeit lehre. Um zu bekräftigen, dass er wie seine Kollegen nach wie vor fest zu der Wittenberger Theologie stehe, erläuterte er in seinem Gutachten ausführlich Gottes gnädige Zurechnung der Vergebung der Sünden und die Gerechtigkeit, die „sola fide“ vom Gläubigen empfangen werde (Gutachten vom 1.11.1536, MBW.T 1802, 1– 16). Gottes Wort ist für Melanchthon demnach das Instrument, durch das er in der Welt wirkt. Das Evangelium sei Gottes Kraft (Röm 1,16), durch das er die Herzen zum Glauben bewege – einen Glauben an das Evangelium, den Gott den Menschen als Gerechtigkeit zurechne (Dispositio 1529, CR 15, 446). Er befreie die Menschen, die an die Verheißung Christi glauben, von Gesetz, Sünde und Tod und eröffne ihnen ein ewiges Leben in Gerechtigkeit und Freude (Römerbrief-Kommentar 1532, CR 15, 507– 508).
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3 Das Wort Gottes als Verheißung Ernst Bizer nannte Melanchthons frühe Theologie eine „Theologie der Verheißung“ (Bizer 1964). Analog zum Begriff des „performativen Redens“ aus der modernen Sprachtheorie verstand Melanchthon Gottes Verheißung als Anrede an die Menschen, die ihm den Zugang zu den göttlichen beneficia eröffne. Menschliche Versprechen gewinnen ihre Glaubwürdigkeit durch gesellschaftliche Regeln der Sprache (Searle 1975, 344 – 369; Searle 1989, 535 – 558). Hinter den Verheißungen Gottes steht dagegen die Macht des guten und allmächtigen Schöpfers und Herrschers der Welt und aller Wirklichkeit. Melanchthon unterschied Gottes leibliche von seinen geistlichen Gaben. Durch die Erkenntnis der leiblichen Gaben, die Gott in seiner Barmherzigkeit den Menschen geschenkt habe, würden die Gläubigen erkennen, dass Gott ihnen in seiner Treue auch geistliche Gaben schenken wolle (LC 21997, 226/227– 230/231, MSA 2/1, 97,19 – 98,20). Melanchthon hat sich zu Beginn seiner theologischen Studien stark auf Luthers Lehre von Gottes Vorherbestimmung gestützt, so zum Beispiel in den Loci communes von 1521. Gottes Verheißung in Christus gründet demnach in Gottes Vorbestimmung (Eph 1,3 – 14). Melanchthon hatte hier wie Luther die Frage nach dem freien Willen des Menschen im Verhältnis zur Vorherbestimmung von der Gotteslehre her entfaltet. Im Augsburger Bekenntnis schrieb er, dass „der mensch etlicher masse ein freien willen hat, eusserlich erbar zu leben und zu welen unter denen dingen, so die vernunfft begreifft. Aber one gnad, hülff und wirckung des heiligen geists vermag der mensch nicht Gott gefellig zu werden, Gott hertzlich zu fürchten, zu lieben odder zu gleuben oder die angeporn böse lust aus dem hertzen zuwerffen sondern solchs geschicht durch den heiligen geist, welcher durch Gottes wort geben wird“ (LC 21997, 24/25 – 46/ 47, MSA 2/1, 21,29 – 31, 10; BSELK, 112,14– 20; Wengert 1998, 5 – 109). Melanchthons Gegner und auch einige moderne Wissenschaftler haben ihn wiederholt als „Synergist“ bezeichnet (Kolb 2005, 70 – 102) – also als einen Theologen, der lehre, dass in der Bekehrung der Sünder sich wenigstens zu Gott wenden wollen müsste, auch wenn er aus eigenen Kräften nicht die Wende zu Gott vollziehen könne. Dagegen bleibt festzuhalten, dass Melanchthon immer betont hat, dass auch in der Buße des Menschen der Heilige Geist mitwirken müsse (Kolb 2005, 113 – 117). In Sorge um die Menschen, die sich fragten, ob sie unter den Erwählten seien,verweist er auf die Universalität der Verheißung des Heils in Jesus Christus: „Denn inn rechter angst streyt das hertz nicht furnemlich da von, ob gott barmhertzig sey, sondern von disen zweyen artikeln ist der streyt, ob Gott iemand gnedig sein wölle, die gesundigt habe und nicht auch gute verdienst habe, Item ob ehr dich annemen wölle, ob ehr gleich andre angenomen hatt. […] ist auch dieses zu wissen, das beide predig alle menschen betreffend und universales sind. Alle menschen in dieser verderbten natur haben sund […]. Dagegen auch ist die gnadpredig im evangelio universalis und verheisst allen vergebung, gnad, gerechtikeit, heiligen geist und ewige selikeit, die diese gnade mit glauben annemen und uff den herrn Christum vertrauen.“
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(Melanchthon [1553] 2002, 253,6 – 21; CR 22, 309 – 310; Römerbrief-Kommentar 1532, CR 15, 505 – 506) Belege dafür fand Melanchthon in Mt 11,28, Ps 110,4, Ez 33,11, Mt 10,30, und 1 Tim 4,8. Aber er wollte nicht, dass die Leser dächten, dies hieße, dass Gott nicht über seine Verheißungen wache. Gott gäbe zeitliche Güter, um zu beweisen, dass nichts ohne Gottes Rat geschehe. Denn Gott erschaffe alles und teile allen seinen Segen aus (Melanchthon [1553] 2002, 253,24– 254,13; CR 22, 310).
4 Der Glaube als Vertrauen auf Christi Tod und Auferstehung Ein Versprechen als Wortereignis kann Vertrauen oder Misstrauen hervorrufen. Zu einer Neubestimmung des Begriffs „Glaube“ als Vertrauen auf das Wort Gottes, das über das mittelalterliche Verständnis von „fides“ hinausgeht, hat auch Melanchthon mit seiner Analyse der griechischen Vokabel πίστις beigetragen. In der Tradition der Wittenberger Theologie beschreibt er in seinen Loci communes von 1521 den Begriff des Glaubens: Sein Wesen sei es, „dem ganzen Wort Gottes fest zustimmen, etwas was nur geschieht, wenn der Geist Gottes unsere Herzen erneuert und erleuchtet. Nun ist aber das Wort Gottes Gesetz und Evangelium. Dem Gesetz sind Drohungen angefügt. Die Schrift nennt das Furcht, wodurch man jenen Drohungen glaubt, und sie nennt das Glauben, wodurch man dem Evangelium oder den göttlichen Verheißungen vertraut. […] Der Glaube ist […] nichts anders als das Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit, die uns in Christus verheißen ist. […] Dieses Vertrauen auf die Zuneigung oder Barmherzigkeit Gottes bringt zuerst Frieden in das Herz und entzündet es nachher, gleichsam um Gott zu danken für die Barmherzigkeit, damit wir das Gesetz spontan und fröhlich tun.“ (LC 21997, 216/217– 218/219; MSA 2/1, 92,14– 30) Auf den ersten Blick scheint es, dass Melanchthon diese Definition von Glauben Luthers Schrift De libertate christiana entnommen hat. Er hat jedoch, wie schon angedeutet, selbst dazu beigetragen, dass Luther die neutestamentliche Vokabel πίστις als Vertrauen (fiducia) und nicht nur als Glauben an die Faktizität biblischer Aussagen (fides, fides historica) interpretieren konnte. Zum Verhältnis von Glaube und Verheißung schreibt Melanchthon: „Derhalben sooffte wir reden von dem glauben, der gerecht macht odder ‚fide iustificante‘, so sind allzeit diese drey stücke odder obiecta beieinander: Erstlich, die Göttlich verheissung, zum andern, das dieselbige umbsonst one verdienst gnade anbeutet, fur das drit, das Christi blut und verdienst der schatz ist, durch wilchen die sunde bezalet ist. Die verheissung wird durch den glauben entpfangen […].“ (BSELK, Jonas Übersetzung, 288,28 – 33; CA Variata IV und XX, BSELK QuM1, 174,3 – 10, 181, 27– 183,36) In seinem Römerbrief-Kommentar von 1532 setzte Melanchthon dann die Kenntnis der biblischen Überlieferung in Beziehung zu einem Glauben, der bedeute, „dem
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Vertrauen auf die Barmherzigkeit, die um Christi willen verheißen wurde, oder der Verheißung der Gnade zuzustimmen“. Zustimmung bedeute hier in Ergänzung zu dem, was man historisch wisse, „sich göttlichen Trost zu wünschen und in ihm Ruhe zu finden, wenn wir hören, dass Gott ist um seines Sohnes Jesu Christi willen versöhnt“. Dieser Glaube ist für Melanchthon ein Nomen, das „relativa“ sei. Die Liebe (amor) habe ein Verhältnis zu dem, das sie liebe, die Furcht (metus) ein Verhältnis zu dem Grund ihrer Angst und das Vertrauen (fiducia) ein Verhältnis zu dem, auf das sie sich verlasse (CR 15, 514; Römerbrief-Kommentar, 1556, CR 15, 815 – 816). Das Verhältnis von Gott und Mensch ist für Melanchthon durch die Abhängigkeit des Sünders von der Treue Gottes gekennzeichnet – eine Bestimmung, die zugleich die Definition vom Wesen des Schöpfers und seiner menschlichen Geschöpfe in der Wittenberger Theologie widerspiegelt. Melanchthon zitierte in den Loci communes von 1535 vier alttestamentliche Bibelstellen (Ps 2,12, Jes 28,16, Dan 6,24, Ps 78,22) zur Bestimmung von fides als fiducia. Den Gebrauch von πίστις als „feste Zustimmung“ findet er auch in der vierten Philippica des Demosthenes, ebenso bei Plutarch, Platon, Theognis, Sophokles und Polybius belegt (Loci 1559, MSA 2/2, 362,30 – 364,10). In den Loci heißt es: „Dieser Glaube stimmt dem ganzen Wort Gottes zu als seine Darstellung und Verheißung der Versöhnung, die er umsonst um des Vermittlers Christi willen schenkt. Der Glaube ist also das Vertrauen zur Barmherzigkeit Gottes, die er um des Vermittlers Christi willen verheißen hat. Dieses Vertrauen ist die Bewegung im Willen, der notwendigerweise darauf erwidern muss, mit der Zustimmung. Es ist der Wille, der in Christus die Ruhe findet, damit wenn das geschieht, er durch den Heiligen Geist und das neue Licht angezündet wird.“ (Loci 1559, MSA 2/2, 363,5 – 13, 371,20 – 25) Die Verheißung des Heils durch Christi Tod und Auferstehung, die das Vertrauen auf Gott begründet – diese theologische Aussage trifft Melanchthon schon 1521. Wie Luther beschreibt er Glauben als Vertrauen auf das Wort Gottes in der Form eines Versprechens und führt aus: „Einzig der Glaube ist das Wahrnehmungsorgan der Barmherzigkeit Gottes, der die Quelle und das Leben und der Steuermann aller guten Werke ist.“ (LC 21997, 262/263 – 264/265, MSA 2/1, 114,1– 12) Noch im Jahr 1535 unterstrich Melanchthon die Bedeutung der biblischen Überlieferung für das zunächst historische Wissen über das Handeln Gottes in Jesus Christus. Diese Ereignisse müssten als Basis der Verheißung eines neuen Lebens erkannt werden (Loci 1559, MSA 2/2, 361,27– 31). Gleichzeitig aber wies Melanchthon darauf hin, dass bloße historische Kenntnisse von Christi Leben, Tod und Auferstehung dem Sünder den Frieden Gottes nicht vermitteln könnten, sie würden eher Schrecken und Verzweiflung über die Sünden bewirken. Der wahre Glaube müsste der Verheißung, dass diese historischen Ereignisse um des Sünders willen geschehen sind, zustimmen, um die Vergebung der Sünden zu empfangen (Loci 1559, MSA 2/2, 365,4– 19; Römerbrief-Kommentar 1532, CR 15, 503; Melanchthon [1553] 2002, 273,26 – 274,14, CR 22, 335). Deswegen sei der Glaube mehr als nur „wissen und gedanken.“ Der Glaube sei auch „im wollen und hertzen ein brinnend vertrauen uff den Son gottes, welches will und mit ernstlicher, sehnlicher begir annimet disen hohen schatz, vergebung der
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sunden und gnad und schreyt also zu gott: Hertzlieber vatter!“ (Melanchthon [1553] 2002, 274,29 – 24; CR 22, 335 – 336). Nur ein solcher Glaube finde den wahren Trost, den Gott durch Christus gebe, wenn er den Heiligen Geist ins Herz des Menschen sende (Melanchthon [1553] 2002, 274,26 – 276,3; CR 22, 336 – 337). Die Kraft lebendig zu machen, Frieden und Trost ins Herz zu geben, ist, wie Melanchthon betont, „nicht des glaubens krafft, sondern des herrn Christi selb, der hie mit wirkt, spricht den trost und gebet seinen heiligen geist in das hertz. Aber der herr Christus will also wirken und nit anders, nemlich durchs evangelium und glauben“ (Melanchthon [1553] 2002, 269,29 – 32; CR 22, 331). Der Glaube sei eigentlich, wenn man Paulus richtig verstehe, ein Mittel, durch das Gottes Wille vollbracht werde, dass „dieser heiland, sein Son erkannt werde“, und dass durch ihn seine Kirche begründet, der Trost und das neue Leben gegeben würden (Melanchthon [1553] 2002, 278,10 – 22; CR 22, 339). In der Tradition der Wittenberger Theologie stellte Melanchthon in seinen Loci communes und seinen Vorlesungen Abraham als den Urtyp des Glaubenden dar, der sein Verhältnis zu Gott im Vertrauen auf dessen Wort gegründet habe. Er zitierte hierzu Gen 15,1 und 6 ebenso wie den Apostel Paulus in Röm 4,1– 25 (LC 21997, 221/222– 223/ 224; MSA 2/1, 94,17– 21). Die Verse aus Ex 14,4 und 14,31, Num 14,11 und 20,12 und Dtn 1,31 ff. zitierte er in seinen Loci communes aus dem Jahr 1521 als Belege für das Wirken Gottes, der mit seinem Wort das Verhältnis zu seinem Volk begründet habe (LC 21997, 221/222– 223/224; MSA 2/1, 94,21– 97,18). In den deutschen Loci von 1553 lieferte Melanchthon dann eine kleine Heilsgeschichte der biblischen Figuren, die sich auf Gottes Verheißung verlassen hätten: die Kette reicht von Adam und Eva bis zu Abraham und David und seinen Kindern, und implizit immer weiter (Melanchthon [1553] 2002, 252,1– 32; CR 22, 308 – 309). Der Glaubende könne sich auf die Treue Gottes verlassen. Auf ihn gründen sich Hoffnung und Zuversicht (Hebr 11,1). Diese Aussage war für Melanchthon in Blick auf die Seelsorge und den Trost der Gläubigen von großer Bedeutung. In den Loci communes von 1521 redete er die Leser direkt an, um sie wie Luther in seiner Rede vom „pro te“ in ihrem Vertrauen auf Gottes Verheißung zu stärken: „Doch du wirst sagen, ich glaube, dass das Heil verheißen ist, nur wird es anderen zukommen. So denkt sicherlich das Fleisch. Aber höre. Sind diese Dinge dir nicht auch verheißen? Ist denn das Evangelium nicht allen Völkern gepredigt worden? Du glaubst daher nicht, wenn du nicht glaubst, dass das Heil auch dir zugesagt ist.“ (LC 21997, 230/231, MSA 2/1, 99,1– 5) Die Apostel Petrus und Paulus hätten fest auf die Macht und Barmherzigkeit Gottes vertraut, die sich in dem Sühnetod und der Auferstehung Christi gezeigt habe. Die Leser könnten gewiss sein, dass ihr Glaube ebenfalls einen absolut sicheren Grund habe. Aus eigener Erfahrung berichtete Melanchthon, dass dieser Glauben „nicht einmal von den Pforten der Hölle“ umgestürzt werden könnte. Die Bibelverse aus Apg 14,17, Ps 104,24, 27 f., Ex 20,2 und dem Hebr 11 zitierte er als Beleg dafür, dass der Schöpfer des Himmels und der Erde auch die Macht habe, durch die Vergebung der Sünden das Leben des Glaubenden neu zu erschaffen (LC 21997, 232/233 – 246/247, MSA
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2/1, 99,23 – 106,33). Schon Sarah aus dem Alten Testament hätte geglaubt, dass bei Gott alles möglich sei. Auf das alles erschaffende und lebendig machende Wort Gottes gründete Melanchthon seine Zuversicht: „Wer Christus hat, hat alles und kann alles. Der ist die Gerechtigkeit, der Friede, das Leben, das Heil.“ (240/241,244/245; MSA 2/1, 103,13 – 17,106,1– 2; Römerbrief-Kommentar 1556, CR 15, 802– 803) An dieser Stelle ist festzuhalten, dass Melanchthons Versöhnungslehre auch Voraussetzung und Bestandteil seiner Rechtfertigungslehre ist. Was Gott und den Menschen trenne, seien nicht nur menschliche Sünde und Schuld, sondern auch Gottes Reaktion darauf, sein Zorn. Dieser Zorn hätte nur durch den „den ganzen Gehorsam Christi dem Vater gegenüber“ aufgehoben werden können. Christus hätte durch seinen Gehorsam nicht nur die Forderungen einzelner Gesetzesgebote erfüllt, sondern auch die Forderung des Gesetzes nach dem Tod des Sünders (Röm 6,23b). Diesen Gehorsam hätte er durch sein ganzes Erdenleben bezeugt, von Inkarnation und Geburt bis zu Tod und Auferstehung (Melanchthon [1553] 2002, 271,25 – 26; CR 22, 332). Dieser Gehorsam sei die Grundlage für die Rechtfertigung des Sünders. Durch ihn wäre Jesus für die Sünder Befreier und Heiland geworden (Römerbrief-Kommentar 1532; CR 15, 509). In seinem Römerbrief-Kommentar von 1556 beschrieb Melanchthon die Genugtuung für die Sünden der Menschen, die Christus durch seinen stellvertretenden Opfertod geleistet habe: „Gottes Sohn wurde der Vermittler und nahm auf sich die Strafe nach seinem wunderbaren, unbeschreiblichen Entschluß.“ (CR 15, 800) Nach Melanchthons Oratio de definitione iusticiae von 1551 habe der Mensch Christus Jesus […] die Strafe für das ganze menschlichen Geschlecht getragen und der Forderung der Gerechtigkeit, die entweder Gehorsam oder Strafe verlangt, Genüge getan. Der Erlöser selber hat es gesagt: Der Menschensohn gebe sein Leben als Lösegeld für viele (Mk 10,45). Und deswegen sagte er: ich bin gekommen, nicht um das Gesetz aufzulösen, sondern um es zu erfüllen (Mt 5,17). Sein Gehorsam, weil er der Gerechtigkeit Gottes Genüge tut, entspricht dem Willen Gottes. Deswegen sagt Paulus: Er wurde unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, das heißt, er trug die Strafe für uns ab, und dadurch sind wir erlöst. Auch wenn die Anfänge schwach sind, und vieles in uns noch nicht der ewigen Norm entspricht, heiligt uns das göttliche Decretum; rechnet uns die Gerechtigkeit des Sohnes zu, um des Sohnes, unseres Mittlers und Schirms, willen; bedeckt unseren Schmutz; und macht uns gottgefällig wegen seiner Verdienste, die er λύτρα nennt, und wegen seines Flehens, dass wir gerecht seien. (CR 11, 995)
In seiner Analyse von Röm 4,25, eine Schlüsselpassage auch für Luthers Versöhnungslehre (Kolb 2011, 39 – 60), wurde Melanchthon klar, dass Paulus in der Interpretation des Zusammenhangs von Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi einen klaren Akzent gesetzt hatte. Der Apostel habe mit der Predigt von der Auferstehung zugleich auf die Herrschaft und Priesterschaft Christi verwiesen: „Wir gehören Christus, weil Christus als unser Hohepriester Einspruch für uns vor dem Vater erhebt, damit wir als Gerechte freigesprochen werden.“ (Römerbrief-Kommentar 1532, CR 15, 610) Die forensische Metapher der Rechtfertigungslehre Melanchthons bezieht sich nicht nur auf das Wort-Ereignis, das den Sünder von Gottes Urteil freispricht, sondern auch auf das Amt Christi als Advokat und Fürsprecher. Die Auferstehung Christi be-
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rühre das Leben des Gläubigen, „weil Christus jetzt lebt und regiert, er schickt dem Gläubigen den Heiligen Geist und macht den Gläubigen lebendig, befreit ihn von Gottes Zorn und dem ewigen Tod: er erweckt die Toten. Der Glaube ergreift das und macht es zu eigen, das heißt, er ergreift den Tod Christi und den auferweckten Mittler, Priester, und den, der lebendig macht, damit er das Opfer fasst, das Gott als den Preis für unsere Sünde hinstellt, weil Gott ein Opfer für die Sünde wollte.“ Christus sei als der Gekreuzigte und Auferstandene also auch der Priester aller Gläubigen (RömerbriefKommentar 1532, CR 15, 610). Melanchthon hebt auch in diesem Zusammenhang noch einmal hervor, dass die Vergebung der Sünden und die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gottes Gnade und Barmherzigkeit geschehen würden. Vor der Rechtfertigung bliebe der Sünder verflucht und verdammt, wie ein verdammter Baum könne er keine guten Früchte tragen (Mt 3,8 – 10) (LC 21997, 248/249 – 252/253, MSA 2/1, 107,37– 109,34). Nur Gott könne das Verhältnis des Schöpfers zu seinen Geschöpfen neu gestalten. Der Mensch selbst könne weder durch Reue und Buße, noch durch eigene Versuche das Gesetz zu erfüllen, die Gunst Gottes gewinnen (Loci 1559, MSA 2/2, 356,1– 9). Die Wittenberger haben oft die Terminologie der spätmittelalterlichen Scholastik übernommen, dann aber uminterpretiert. In den deutschen Loci von 1553 setzte sich Melanchthon mit der scholastischen Definitionen der „Gnade“ auseinander. „Die monch haben das wort >gnad< in einen grossen mißbrauch gezogen, haben gesagt, >gnad< heisse unser neue geschaffne heilikeit. Un so man darnach gesagt hatt, der mensch hatt vergebung und ist gerecht durch eigne heilikeit, haben sie die leut gewisen uff die geschaffne heilikeit in yhnen selb.“ Dagegen argumentierte Melanchthon, Gnade „heißt gnedige vergebung der sunden und annemung umb des herrn Christi willen one unser verdienst und schleußt in sich diese beiden reden: Gratis und umb des herrn Christi willen“ (Melanchthon [1553] 2002, 270,19 – 27; CR 22, 331– 332; Apologie des Augsburger Bekenntnisses, BSELK, 340/341– 396/397; Römerbrief-Kommentar 1556, CR 1, 803 – 804). Melanchthon verwendete neben dem Wort „gratis“ auch oft den Begriff particula exclusiva, um zu verdeutlichen, dass nur die Heilstat Gottes in Jesus Christus ohne jedes menschliche Zutun zur Vergebung der Sünden und Seligkeit der Gläubigen führe (Römerbrief-Kommentar 1532, CR 15, 503 – 504). Auch an dem Begriff meritum lässt sich zeigen, wie Melanchthon die scholastische Terminologie weiterentwickelt hat. Gottes Allmacht und bedingungslose Güte ließen keinen Platz für einen eigenen Beitrag des Menschen zu seiner Rechtfertigung. Deshalb konnte Melanchthon 1521 auch ohne Einschränkung die Bedeutung des freien Willens in Bezug auf das menschliche Verhältnis zu Gott verneinen. Man könne nicht das verdienen, was Gott aus lauter Liebe und Barmherzigkeit schenke. Der Mensch könne Gott nicht zum Schuldner machen. Vielleicht auch vor dem Hintergrund des scotistischen Lehrsatzes, dass der Schöpfer dem Geschöpf nichts schuldig sei (Dettloff 1963), haben die Wittenberger stets betont, dass allein der Schöpfer das Verhältnis zwischen Gott und Mensch neu begründen könne und nur Christus die Erlösung des Sünders habe bewirken können (LC 21997, 252/253 – 254/255, MSA 2/1, 109,35 – 110,11).
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1553 zählte Melanchthon fünf Gründe auf, aus denen man auf dem sola fide als Grundlage des Glaubens bestehen sollte. Fünf Jahre zuvor war er im Rahmen seiner Mitarbeit für den Leipziger Landtagsentwurf aus politischen Gründen noch bereit, auf diese Bestimmung zu verzichten (Herrmann und Wartenberg 1992, 254, 226 – 119). In seinen deutschen Loci kehrte er dann wieder zu dem gewohnten Sprachgebrauch der Wittenberger Theologie zurück. Für die Glaubensformel sprächen (Melanchthon [1553] 2002, 277,1– 278,8; CR 22, 338 – 339. Diese Stellungnahme wiederholt die Apologie des Augsburger Bekenntnisses, BSELK, 292/293 – 316/317): 1. 2.
3. 4.
5.
Das sola fide gebe Christus die Ehre. „Gott will auß grosser barmhertzikeit, das die gnad, die ehr in seiner gnedigen verheissung angeboten hatt, unß armen, elenden menschen gewisß, fest und unverrukt stehe und bleibe, wie die verheissung ein ewig testament gennet ist.“ „Es ist khein ander mittel, damit wir den herrn Christum und seine gnad erkennen und annemen und unß den allein der Glaub.“ Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium mache klar, dass das Evangelium tröste und dass der Trost allein durch das Sich-Verlassen auf Gott wirke. Ein auf das sola fide gegründeter Glaube könne Gott anrufen, im Vertrauen auf den einzigen Vermittler zwischen Mensch und Gott, Jesus Christus.
Auch an dieser Stelle wiederholte Melanchthon, dass die Zuversicht des Glaubens allein auf dem Vertrauen zu Gott beruhe. Der Christ würde immer in Angst vor seiner mangelnden Leistung leben, wenn er glauben würde, sich der Verheißungen des Evangeliums durch die Erfüllung des Gesetzes vergewissern zu können. In seinem Römerbrief-Kommentar von 1532 ermahnte er die Leser, sie sollten nicht die Ursache mit der Wirkung verwechseln. Der neue Gehorsam sei eine Folge des Glaubens, der mit der Vergebung der Sünden von der Angst einer sündhaften Existenz befreie, aber niemals Grund für diese Vergebung sei (CR 15, 603 – 609). Melanchthon wendete sich zugleich gegen die Kritik der Altgläubigen an der Wittenberger Theologie, dass gemäß Salomon (Weish 9,13) kein Mensch wissen könne, ob er Gott gefalle oder nicht. Er betonte, dass es keine Glaubenszuversicht und keinen Trost für das Gewissen geben könne, wenn dieser Vers auf die Seligkeit des Christen bezogen werde. Das Wort Gottes von der Gnade stehe fest, über schwache Menschen, die sich auf die eigene Sünde konzentrierten, sei zu sagen: „Der glaub in diesen menschen, die zu gott bekert sind, soll nicht uff unser eigne reinkeit gegrundet sein, sondern uff den Son Gottes. Und soll auf die verheissung halden“, wie es im Psalm 130,5 geschrieben stehe (Melanchthon [1553] 2002, 281,1– 282,34, bes. 282,14– 18; CR 22, 342– 344).
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5 Der Glaube trägt gute Früchte Ein lebendiger Glaube bringt auch gute Früchte hervor (LC 21997, 259/259 – 264/265, MSA 2/1, 112,23 – 114,12). Die Gläubigen, die Gott als den wahren Gott und Jesus als den von ihm gesandten Messias bekennen, sind von aller Angst befreit und haben den wahren und einzigen Trost in ihrem Leben erfahren. Für sie, so Melanchthon, habe damit schon das ewige Leben begonnen. In dieser Gewissheit und in Ehrfurcht und Liebe zu Gott würden sie ein Leben in Liebe zur Wahrheit, Keuschheit und Geduld führen und sich um Gerechtigkeit im Umgang mit ihren Nächsten bemühen (Römerbrief-Kommentar 1532, CR 15, 511). Der Gerechtfertigte lebe in der Gewissheit seiner Versöhnung mit Gott, seine Werke seien auch eine Gabe des Heiligen Geistes. Der Glaubende wisse zudem, dass Christus in seiner Kirche herrsche und dass es seine Aufgabe sei, Gerechtigkeit zu üben, die Werke des Teufels zu vernichten und für die anderen Gläubigen zu kämpfen, ihnen zu helfen und zu dienen (Römerbrief-Kommentar 1532, CR 15, 559). Der Gerechtfertigte stehe während seines Lebens immer mitten im eschatologischen Kampf zwischen Gott und Teufel, betonte Melanchthon – eine Thematik, die er in seiner Apologie des Augsburger Bekenntnisses ausführlich erläuterte (BSELK, 316/317– 338/339).
6 Zum Schluss Melanchthon entwickelte seine theologischen Lehren im Dialog und in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern. Bei der Ausformung seiner Rechtfertigungslehre spielten nicht nur die Dispute mit seinen altgläubigen Kritikern eine große Rolle. In seinem letzten Lebensjahrzehnt setzte er sich zudem intensiv mit der Rechtfertigungslehre von Andreas Osiander auseinander, der die These vertrat, dass die menschliche Gerechtigkeit vor Gott als die dem Gläubigen einwohnende göttliche Natur Christi zu verstehen sei. Osiander war als Pfarrer in Nürnberg ein engagierter Vorkämpfer für die Wittenberger Reformation gewesen. Nach seiner Übersiedlung nach Königsberg im Jahr 1550 wurden jedoch die Unterschiede zwischen seiner Lehre und der von Melanchthon und Luther immer deutlicher. Melanchthon konzentrierte sich in seinen Schriften zur Rechtfertigungslehre aus dieser Zeit auf die Punkte, die Osiander seiner Meinung nach falsch interpretiert hatte. Er wies die Beschuldigung Osianders zurück, dass die Wittenberger Rechtfertigungslehre eine juristische Fiktion sei, durch die „khein verendrung im menschen geschihet“. Er hielt dagegen, dass die Vergebung der Sünden und Gottes gnädige Annahme des Sünders auch die Wiedergeburt im Glauben einschließe (Melanchthon [1553] 2002, 264,1– 8; CR 22, 325). Timothy Wengert (2010, 147– 164; 2012, 317– 351) hat Melanchthons Auseinandersetzung mit Osiander näher untersucht. An Osianders Lehre, die Gerechtigkeit sei das, „das unß macht recht thun“, kritisierte Melanchthon wiederum, sie sei „ein gesetzrede und nimmt den trost weg“
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(Melanchthon [1553] 2002, 280, 25 – 30; CR 22, 341). Er warf seinem Kontrahenten zudem vor, dass dieser die beiden Naturen Christi in seiner Rechtfertigungslehre zu stark voneinander trennen würde. In mehreren kritischen Stellungnahmen zu Osiander betonte Melanchthon dagegen immer wieder die zentralen Punkte seiner eigenen Lehre: die Rechtfertigung des Sünders durch den stellvertretenden Opfertod Christi, sein Verständnis des Glauben als Vertrauen auf die Verheißung der Vergebung der Sünden, der in Tod und Auferstehung des Messias begründet liege (RömerbriefKommentar 1556; CR 15, 855). Einige Forscher haben seit dem späten 19. Jahrhundert wiederholt die These aufgestellt, dass Luther und Melanchthon sich in der Auslegung der Rechtfertigungslehre in wichtigen Punkten unterscheiden würden (Seeberg [1920] 1954, 479 – 480; dagegen Ritschl 1912, 319 – 320). So hatte beispielsweise Adolf Sperl (1959, 111) versucht zu begründen, dass die reformatorische Neuentdeckung bei Melanchthon im Gegensatz zu Luther nicht die Gewissheit der Sündenvergebung, sondern die Ermöglichung der wahren Tugend sei. Und nach Ernst Bizer (1964) liegt in Melanchthons Verständnis von Rechtfertigung im Unterschied zu Luther die Betonung auf der Verheißung der Sündenvergebung, die sich für den Glaubenden im Vertrauen auf Gottes Treue und sein Wort erfülle. Zwei Positionen, die sich nach einer Bemerkung Bernhard Lohses nicht unbedingt gegenseitig ausschließen müssten (Lohse 1980, 73). An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, dass Melanchthon sich in seiner Rechtfertigungslehre, wie auch gezeigt wurde, den beiden genannten Themen gewidmet hat. Eine nähere Untersuchung der Quellen zeigt zudem, dass Luther und Melanchthon trotz verschiedener Akzentuierungen und Formulierungen in zentralen Punkten der Rechtfertigungslehre übereinstimmten. Beide haben stets betont, dass Gottes Wort ein schöpferisches Wort sei. Und im Großen Katechismus Luthers ist nachzulesen, dass er wie Melanchthon großen Wert auf die Ausübung des frommen Lebens im neuen Gehorsam legte. Gleiches gilt auch für das Verständnis von Rechtfertigung als ein Handeln Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi und für die Rede vom aktiven Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche. Beide Wittenberger Professoren haben das „Solus“ von Gnade und Glauben betont, Glauben als Vertrauen auf die Verheißungen Christi und als Quelle für die guten Werke verstanden. Luther hatte schon vor Melanchthons Ankunft in Wittenberg mit der Niederschrift seiner Rechtfertigungslehre begonnen. Schon wenig später wurde der junge Griechisch-Professor für seinen älteren Kollegen zu einem wichtigen Gesprächspartner und konnte ihm wesentliche Impulse für seine theologischen Studien geben. Bis zu seinem eigenen Tod hatte Melanchthon dann die Wittenberger Rechtfertigungslehre öffentlich vertreten.
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Quellen Herrmann, Johannes, und Günter Wartenberg, Hg. 1992. Politische Korrespondenz des Herzogs und Kurfürsten Moritz von Sachsen. Bd. 4. Berlin. Melanchthon, Philipp. (1553) 2002. Philipp Melanchthon. Heubtartikel Christlicher Lere, hg. v. Ralf Jenett und Johannes Schilling. Leipzig.
Literatur Bizer, Ernst. 1964. Theologie der Verheißung. Studien zur theologischen Entwicklung des jungen Melanchthon 1519 – 1524. Neukirchen. Dettloff, Werner. 1963. Die Entwicklung der Akzeptations- und Verdienstlehre von Duns Scotus bis Luther. Münster. Kolb, Robert. 2005. Bound Choice, Election, and Wittenberg Theological Method. From Martin Luther to the Formula of Concord. Grand Rapids MI. Kolb, Robert. 2011. „Resurrection and Justification. Luther’s Use of Romans 4,25.“ LuJ 78:39 – 60. Lohse, Bernhard et al. 1980. Die Lehrentwicklung im Rahmen der Konfessionalität. Bd. 2, Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Göttingen. Ritschl, Otto. 1912. Dogmengeschichte des Protestantismus. Bd. 2. Leipzig. Seeberg, Reinhold. (1920) 1954. Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 4.2. Die Fortbildung der reformatorischen Lehre und die gegenreformatorische Lehre. Darmstadt. Searle, John R. 1989. „How performatives work.“ In Linguistics and Philosophy 12: 535 – 558. Searle, John R. 1975. „A Taxonomy of Illocutionary Acts.“In Language, Mind, and Knowledge, hg. v. Keith Gunderson, 344 – 369. Minneapolis. Sperl, Adolf. 1959. Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation. Eine Untersuchung über den Wandel des Traditionsverständnisses bei Melanchthon und die damit zusammenhängenden Grundfragen seiner Theologie. FGLP, X/15. München. Wengert, Timothy J. 1998. Human Freedom, Christian Righteousness. Philip Melanchthon’s Exegetical Dispute with Erasmus of Rotterdam. Oxford/New York. Wengert, Timothy J. 2010. „Commentary as polemic: Philip Melanchthon’s 1556 Enarratio ad Romanos against Andreas Osiander.“ In Hermeneutica Sacra: Studies of the interpretation of Holy Scripture in the sixteenth and seventeenth centuries / Hermeneutica Sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16.– und 17. Jahrhundert, hg. v. Torbjörn Johansson, Robert Kolb und Johann Anselm Steiger, 147 – 163. Berlin. Wengert, Timothy J. 2012a. Defending Faith. Lutheran Responses to Andreas Osiander’s Doctrine of Justification, 1551 – 1559. Tübingen.
Christian Link
Schöpfungslehre Melanchthon ist der Systematiker unter den Reformatoren. Verglichen mit Martin Luther öffnet sich hier ein theologisch neu vermessenes Gelände. An die Stelle pointiert zusammenfassender, erfahrungsbezogener Schriftauslegung ist die luzide dogmatische Sacherörterung getreten. Ihr Vorteil ist die klare, nuancenreiche theologische Begrifflichkeit, ebenso die methodisch bewusste Einordnung des umfangreichen Stoffes in das teils weit-, teils engmaschiger geknüpfte Netz der Loci (Loci communes 1521). Man hat von allgemeinen „rahmenmäßigen Suchformeln“ gesprochen, die zum Finden eines passenden Gedankens führen können (Joachimsen 1926, 74– 77; Geyer 1965, 49 – 50). Sie bilden den Grundriss der späteren „orthodoxen“ Schuldogmatik. Ihr Nachteil ist ein offenkundiger Verlust an Lebensnähe, auch eine Verkleinerung der theologischen Amplitude: Was die Schöpfung mit der Rechtfertigung, was sie vollends mit der Eschatologie zu tun hat, kann und braucht nicht eigens erörtert zu werden, da über beide Artikel an ihrem eigenen Ort ausführlich zu reden sein wird.
1 Schöpfung im Horizont der Naturphilosophie Die Konzentration der folgenden Darstellung auf das Spätwerk hat sachliche Gründe. Gemäß seinem programmatischen Leitsatz, dass wir „die Geheimnisse der Gottheit besser anbeten als erforschen“, hat der junge Melanchthon in der ersten Fassung seiner Loci (1521) das Mysterium der Schöpfung zu den einer Schuldogmatik entzogenen Stücken gerechnet (CR 21, 84). Es findet erst in der zweiten Ausgabe (1535) Eingang in die Loci. Für die endgültige Gestalt seiner Schöpfungslehre ist indessen ein anderer Umstand entscheidend. Ihr Entwurf ist nicht in einem dogmatischen, sondern in einem explizit naturphilosophischen Zusammenhang entstanden, in der über zwei Jahrzehnte andauernden intensiven Auseinandersetzung mit der aristotelischen „Physik“, deren Ergebnisse in den umfangreichen Initia doctrinae physicae (CR 13) niedergelegt sind (Petersen 1964, 74– 76). Gottes- und Schöpfungslehre in der letzten Ausgabe der Loci (1559) stimmen gelegentlich bis in den Wortlaut mit dieser „Physik“ überein. Die dort vollzogenen Weichenstellungen und Abgrenzungen – namentlich im Verständnis Gottes als „Werkmeister“ (opifex) der Natur – bestimmen ebenso die nächst den Loci ausführlichste Darstellung der Schöpfung in der Enarratio Symboli Nicaeni (1550). Jedem Vergleich mit Luther sind durch dieses neue physikalische Interesse Grenzen gezogen, obwohl es angesichts der Arbeitsgemeinschaft beider auch offenkundige Berührungspunkte gibt, etwa die Betonung der Schöpfung als „Gabe“, die Auszeichnung der Kreatur als „Instrument“, in dem Gott wirkt (CR 13, 769), vor allem aber die überragende Bedeutung des Wortes, durch das Gott alle Dinge erschafft. An der Interpretation der Schöpfung als Werk der gesamten Trinität, der ZusamDOI 10.1515/9783110335804-027
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mengehörigkeit von Schöpfung und Erhaltung, der Differenz zwischen natürlicher und offenbarer Gotteserkenntnis und deren theologischer Deutung im Rahmen der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium hat auch Melanchthon ohne Abstriche festgehalten. Dies alles aber bleibt merkwürdig unbetont. Die innere Mitte, der Gravitationskern seiner Schöpfungslehre, liegt an einer anderen Stelle. Melanchthons Interesse gilt dem Jetzt der eigenen Gegenwart. Ihn bewegt nicht das Wunder der erstmaligen Erschaffung der Welt, vielmehr – man darf sagen: fast ausschließlich – die in den Rang einer unumstößlichen Gewissheit erhobene Aussage, dass Gott sein Werk nicht verlässt wie der Baumeister das fertig gestellte Schiff, sondern auch jetzt im Regimente sitzt. Er „steht seiner Schöpfung bei“ (CR 21, 639).Was Melanchthon über Ursprung und Ziel der geschaffenen Welt und – sein zentrales Thema – über die in ihr wirksamen Ordnungen zu sagen weiß, ist von dieser Gewissheit her gedacht und steht im Dienst ihrer Begründung. Dementsprechend ist der systematische Ansatz und damit der Schlüssel seiner Schöpfungslehre dort zu suchen, wo ihre Quellen liegen: in den „Anfangsgründen der physikalischen Wissenschaft“ (1549). Dort nämlich wird sie unter dem Titel De Providentia vorgetragen (Büttner 1975, 49). Denn „Vorsehung“, so die definitionsmäßige Erklärung, ist „ein planmäßiges Lenken (gubernatio), wodurch Gott die gesamte Natur, die Ordnung der Bewegung, den Wechsel der Jahreszeiten, die Fruchtbarkeit der Erde und der Lebewesen, bewahrt“ (CR 13, 203). Unter diesem Aspekt muss sie in ihrer von Luther unterschiedenen Eigenart verstanden und gewürdigt werden.
2 Die Vorsehung als Schlüssel der Schöpfungslehre Was Melanchthon an der Schöpfung wichtig und unaufgebbar ist, bringt er im Grunde restlos in den Überlegungen zur Providenz unter. Nicht die augenfällige Schönheit der Welt, nicht das Geschenk des Daseins oder das aller Vernunft überlegene Lob der Kreatur, sondern die Überzeugung, dass „ein ewiger, kunstvoll planender und gerechter Geist (mens architectatrix) am Werk ist, der nach den Taten der Menschen sieht und über sie richtet“ (CR 21, 637), ist die erste und grundlegende Gewissheit, kraft der sich für Melanchthon die Welt als Manifestation eines überlegenen Schöpfers zu erkennen gibt. Sie erhebt sich auf dem dunklen Hintergrund menschlicher Chaosangst, in der sich die spätmittelalterliche Krise der Weltgewissheit, das Auseinanderbrechen von himmlischer und irdischer Wahrheit, spiegelt. Es ist der im Blick auf Gott „erschreckende Zweifel“, der sich in der Frage ausspricht: „Woher kommt im Menschengeschlecht ein solches Maß an Verwirrung, ein solches Maß an Verbrechen und Unglücksfällen, an Krankheit und Tod, da doch in den meisten Dingen die Ordnung der Natur so überwältigend wirksam ist?“ (CR 21, 643 – 644; auch 23, 246) Hier wird das Problem der antiken Kosmodizee, der Nachweis der göttlichen Vollkommenheit des Alls, auf eine höchst direkte Weise angesprochen. Denn das epikureische Dogma vom blind waltenden Zufall führe ebenso wie die stoische Anschauung einer schicksalhaft notwendigen Verknüpfung von Ursachen zu der theo-
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logisch unhaltbaren Konsequenz eines entweder müßigen oder abhängigen Gottes, den man vielleicht verehren, auf keinen Fall aber „anbeten“ kann (CR 21, 650). Melanchthon muss in einer offenkundigen Spannung zu seinem „physikalistischen“ Ausgangspunkt den Gedanken einer vernunftunzugänglichen Freiheit Gottes zulassen, um die christliche Vorsehungslehre zwischen der Scylla des epikureischen Zufalls und der Charybdis des stoischen Fatums hindurchzuführen. Die Providenz ist eine theologische Behauptung, für deren Wahrheit das philosophische Denken keine Bürgschaft übernimmt. Auf diese Herausforderung antwortet Melanchthon mit einem (von seiner Kritik unberührten) Spitzensatz der Stoa (Pohlenz 1964, 99 – 100): Alles in der Welt entsteht um des Menschen willen, denn das bewundernswerte Werk der Schöpfung ist von Gott „zur Wohnstätte der menschlichen Natur errichtet worden“, die Menschen aber, ergänzt er mit der Doxologie der Kirche, sind „um Gottes willen (erschaffen), damit Gott bekannt und gepriesen werde“ (CR 13, 214). Der Mensch also ist das Telos der geschaffenen Welt, In ihm spiegeln sich Gottes Absicht und Wille mit der Welt, die deshalb als Werk Gottes auch nur von dieser teleologischen Spitze her sachgemäß verstanden werden kann. Der Gesichtspunkt der tätigen Fürsorge Gottes für den Menschen ist daher nicht nur das Fundament des Lehrstücks „Von der Endursache (causa finalis) der Schöpfung“; sie bestimmt auch seinen gesamten Inhalt und entscheidet rückwirkend zugleich darüber, wie die Wirkursache (causa efficiens) der Welt verstanden werden muss. Damit ist die theologische Aufgabe gestellt: Melanchthon muss gegen die Epikureer und gegen den Determinismus der Stoa das Dasein der Providenz erweisen, und zwar nicht nur ihre Wirklichkeit, sondern – was erheblich schwieriger ist – auch ihre Möglichkeit. Das erste geschieht in den Providenzbeweisen der Physik, die der Sache nach den neun Gottesbeweisen der Loci entsprechen. Sie sollen demonstrieren, „dass Gott sich um die Menschen kümmert […] und auf ihr Leben bedacht ist“ (CR 21, 643). Das zweite ist Thema und Problem der korrespondierenden Abschnitte über den Zufall (De causa peccati et de contingentia, CR 21, 643 – 644).
2.1 Die Wirklichkeit der Vorsehung: die Providenzbeweise Man hat mit Recht bemerkt, dass Melanchthon im Unterschied zu Ulrich Zwinglis Traktat De providentia (1530) nicht auf die Bibel zurückgreift und schon gar nicht bei der Schöpfung einsetzt, um von dorther die die Vorsehung zu begründen (Büttner 1975, 53). Die gleichwohl höhere Plausibilität seiner Argumente beruht darauf, dass sie von alltäglicher, gegenwärtiger Erfahrung ausgehen. Insofern sind sie zugleich klassische Beispiele einer im Wortsinn „natürlichen“ Theologie. Eine solche „beweisfähige“ Erfahrung ist in erster Linie die beständige Ordnung der Natur: „Wenn Regen vonnöten ist, gehen Hyaden, Plejaden und Orion auf oder unter, wenn umgekehrt Trockenheit nötig ist, wechselt die Sonne in das Sternbild des Löwen oder in den Sirius, wodurch Hitze und Trockenheit eintreten, die der Ernte bekömmlich sind.“ Die Schlussfolge-
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rung ist – jedenfalls im Rahmen der Schulphilosophie – zwingend: „Da all dies handgreiflich zum Nutzen der Menschen so angeordnet ist, müssen wir bekennen, dass Gott das Leben der Menschen am Herzen liegt.“ (CR 13, 204) Die Vorsehung ruht auf dem Gedanken der Zweckmäßigkeit (utilitas) solcher Ordnungen, die sich in der Natur, in der Gesellschaft und im menschlichen Denken bewähren. Diese Ordnungen durch Zufall entstanden und zufällig weiter bestehend zu denken, wäre wider alle Vernunft. Damit ist die philosophische Basis der Schöpfungstheologie gesichert. Man darf über dieser durchgängig rationalen Argumentation jedoch nicht vergessen, dass Melanchthon, um die Providenz zur Gewissheit zu bringen, ein zweites Mal ansetzen muss: „Wir aber wollen aus der Lehre der Kirche über jeden Zweifel erhabene Zeugnisse hinzufügen. Denn ohne sie bliebe es bei einem völlig kraftlosen Fürwahrhalten.“ (CR 13, 205) Diese zur „Widerlegung“ der Epikureer und Stoiker aufgebotenen Zeugnisse – darunter Apg 17,28 und Ps 147,8 – werden in den Loci den Providenzbeweisen sogar vorangestellt. Denn die Einsicht, „dass Gott seiner Kreatur zur Seite steht“ (CR 21, 639), mag der Vernunft aus mancherlei Gründen einleuchten. Ihre Gewissheit aber – deshalb darf man von einem sachlichen Vorrang dieser testimonia reden – gedeiht nicht auf dem Boden der Vernunft. Warum das so ist, wird im zweiten Durchgang durch das Problem deutlicher werden.
2.2 Die Möglichkeit der Vorsehung: das Problem der Kontingenz Ungeklärt geblieben ist jedoch das Ausgangsproblem: Wie kommt es gleichwohl zu so viel Verworrenheit, zu so viel Verbrechen und Unheil unter den Menschen? Es gibt einen offenkundigen Widerspruch zwischen der theoretisch vermuteten Naturordnung und dem faktischen Weltlauf, zwischen den beständigen Gesetzen der Himmelsbewegungen und dem vielfachen Wechsel auf Erden, also zwischen der dem Wandel verpflichteten epikureischen These des universalen Zufalls und der von den Gesetzen des Himmels geforderten Notwendigkeit alles irdischen Geschehens, also der stoisch behaupteten schicksalhaften Verknüpfung aller Umstände und Ursachen (fatalis ordo causarum, CR 21, 639). In beiden Fällen ist eine Vorsehung ausgeschlossen, die sich mit blindem Zufall so wenig verträgt wie mit determinierender Notwendigkeit. Ob also überhaupt eine Vorsehung möglich ist, entscheidet sich (nach der Widerlegung des epikureischen Einwandes) an der Deutung und Auslegung jener Weltordnung, die in den Gottesbeweisen noch schlicht als Faktum vorausgesetzt ist: Gibt sie einer überlegenen Freiheit Gottes Raum, oder legt sie auch ihr durch das Gesetz der Zweitursachen (causae secundae) Fesseln an? Melanchthon steht also vor der schwierigen Aufgabe, einerseits – mit der Stoa – an der Vorsehung festzuhalten, andererseits – gegen die Stoa – eine immanente Notwendigkeit bestreiten zu müssen, also zu trennen, was für die Stoa zusammengehört: den Sinnzusammenhang des Kosmos (pronoia) und den Seinszusammenhang des Weltgeschehens (fatum). Dieser Aufgabe nimmt sich der (in allen Fassungen recht
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umfangreich geratene) Abschnitt „Von der Ursache der Sünde und von der Kontingenz“ an. Sein Beweisziel fasst sich in der These zusammen: Gott steht seiner Kreatur nicht als der durch Zweitursachen gefesselte stoische Gott gegenüber, sondern als schrankenlos freie Macht, sodass er „nach seinem Ratschluss in verschiedenen Naturen auf verschiedene Weise wirkt“ (CR 21, 651; 13, 210; auch 23, 242). Theologisch steht hier ein Zweifaches auf dem Spiel: zunächst die Freiheit Gottes in seiner Beziehung zur Welt, ohne die nicht erst die Vorsehung, sondern schon die Schöpfung selbst undenkbar wäre. Gott muss in seinem Willen frei sein, soll er als primus fons contingentiae (CR 13, 207), das heißt als Ursache auch des keineswegs notwendigen Geschehens, in Frage kommen und anerkannt werden. Soll aber im Ernst von innerweltlicher Kontingenz die Rede sein, dann muss darüber hinaus auch der Wille des Menschen frei sein – „Freiheit war das Geschenk, das dem Menschengeschlecht mit der Schöpfung eingestiftet wurde“ (CR 21, 647) –, andernfalls fiele Gott selbst die Verantwortung für Sünde und Übel in der Welt zu. In Wahrheit aber ist die menschliche Freiheit Ursache der schuldfähigen Handlungen der Kreatur. Melanchthon muss diese nur hypothetisch eingeführte Freiheit mit der ihr unstrittig überlegenen göttlichen Freiheit (also mit Luthers These vom „unfreien Willen“) ausgleichen. Der Beweis der Kontingenzthese – man kann eigentlich nur von einer ausführlichen Erörterung sprechen – verläuft in zwei Schritten: In einem ersten naturphilosophischen Schritt begründet Melanchthon seinen Leitsatz, „dass nicht alles aus Notwendigkeit geschieht“, indem er die traditionelle Unterscheidung im Begriff der Notwendigkeit diskutiert. Absolute Notwendigkeit, deren Gegenteil nach dem Satz vom Widerspruch undenkbar ist, kommt allein Gott zu (CR 21, 650). Sie macht sich gegenüber der Welt als absolute Freiheit (agens liberrimum) geltend (CR 21, 651). Der stoische Logos, durch den Gott und Mensch sich im Medium der Vernunft zusammenschließen, verliert seine begründende Kraft; die Vernunft wird aus ihrer angestammten Rolle, das ursprüngliche Gottesverhältnis des Menschen zu vermitteln, herausgedrängt. Von dieser absoluten Notwendigkeit unterscheidet sich die physische dadurch, dass sie auf innerweltliche Ursachen, das heißt auf den von Gott selbst so und nicht anders eingerichteten Naturzusammenhang (natura sic ordinata) eingeschränkt ist, die Notwendigkeit der Folge (necessitas consequentiae) hingegen dadurch, dass sie ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis beschreibt, das dem Satz vom Widerspruch grundsätzlich nicht unterliegt und somit Ausdruck für die Kontingenz in der Welt ist. Dass etwa Pharao die Israeliten verfolgt, ist nicht naturnotwendig, schon gar nicht absolut notwendig, sondern, weil von Gott so verfügt, lediglich faktisch notwendig, also „in Wahrheit kontingent“ (CR 13, 208; 21, 650). Sie lässt „völlig unentschieden“, ob die fragliche Ursache „notwendig nach Art von Naturursachen oder frei nach Willensursachen wirkt“ (Geyer 1959, 78). Auf diese Weise gelingt es Melanchthon, auch die Naturnotwendigkeit durch einen kategorialen Schnitt von der absoluten Notwendigkeit Gottes zu trennen und sie wie in den Loci (CR 21, 650) als eine nach Gottes freiem Entschluss verfügte Ordnung in den Bereich der Kontingenz zu verweisen.
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Gefordert ist diese Trennung göttlicher und weltlicher Ursachen, um der „Anrufung (invocatio) Gottes“ Raum zu schaffen. Die Gewissheit, dass Gott den Menschen auch dort nicht verlässt, wo sich die Vernunft im Zirkel der Zweitursachen verfängt, verlangt eine neue und bessere Begründung. So hat die Vorsehungslehre ihren letzten sachlichen Grund im Bekenntnis zu Gottes Freiheit, denen nahe zu sein, die ihn anrufen (CR 21, 652). Der zweite dogmatische Beweisschritt setzt dort ein, wo das naturphilosophische Argument endet: Gottes Freiheit wird durch die Zweitursachen so wenig eingeschränkt, so wenig das „naturnotwendig“ wirkende Heilmittel die Freiheit des ärztlichen Handelns zu beeinträchtigen vermag. Aus diesem Grund gibt es neben Gottes Freiheit (durch sie ermöglicht und bedingt) auch eine echte kreatürliche Freiheit in der Wahl der eigenen Handlungen und Ziele (CR 13, 29; 21, 647), die in abgeleiteter Weise die Kontingenz menschlichen Tuns bedingt (CR 21, 647). Es ist diese Zusammengehörigkeit der Freiheit Gottes und der Freiheit des Menschen, die den Gedanken des stoischen Schicksals unerträglich macht. Das gilt in Sonderheit im Blick auf die „Ursache der Sünde“. Denn wo der Mensch in seiner Selbstverfehlung als Sünder ins Blickfeld rückt, kann man sich nicht gut auf die alles durchwirkende Kraft des Logos berufen. Sie „schlüge zur versiegelten Heillosigkeit aus,von Gott selbst gewirkt“ (Geyer 1959, 82). Diese Möglichkeit vor Augen führt Melanchthon seinen Kampf gegen das stoische Schicksal nicht im Namen der Autonomie des Menschen, sondern im Zeichen seiner Bedürftigkeit. Um des Menschen willen, der im Zirkel natürlicher und historischer Kausalitäten an seiner Berufung zu scheitern droht, muss das Dogma von der schicksalhaft notwendigen Wirksamkeit der Erstursache gebrochen werden. So gesehen steht die Wahrheit der Vorsehung nicht schon auf dem Nenner eines apriorischen Wissens, sondern hat ihr Fundament – das erst macht sie zu einem Glaubenssatz – in der aposteriorischen Gewissheit, „dass wir zu Gott selbst fliehen und von ihm Hilfe erbitten und erwarten dürfen“ (CR 21, 648). Sie begründet die Möglichkeit des Gebets. Hier erheben wir uns über jede vorfindliche Naturnotwendigkeit und -ordnung. So schließt sich Melanchthon mit Luther in der Gewissheit zusammen, dass wir, sofern wir mehr sind als bloße Naturwesen, zu Gottes Mitarbeitern, ja zu „heilsamen Werkzeugen (organa) in jeglicher Art der Regierung“ (CR 21, 649) bestimmt sind.
3 Die biblische Schöpfung und der Kosmos der Philosophie Wie muss die Welt gedacht werden, in der eine solche Vorsehung wirksam ist und von der der biblische Glaube bekennt, dass sie ihr Dasein einer Schöpfung aus dem nichts verdankt? Melanchthon steht nicht als erster vor der Schwierigkeit, diese Glaubenssätze mit der philosophischen Naturerkenntnis in Einklang zu bringen. Enno Rudolph (1986, 172– 173, 177– 183) hat in einer detaillierten, bis heute noch kaum rezipierten Abhandlung die Bruchstellen markiert, die diesen Entwurf von seinem in Anspruch
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genommenen Gewährsmann Aristoteles trennen und den Plan des „freien Dialogs der himmlischen und irdischen Wissenschaften“ (Geyer 1959, 53) unmöglich zu machen drohen. Lassen sich die Gründe, die für die Freiheit des biblischen Schöpfers sprechen, tatsächlich der von Aristoteles beschriebenen Ordnung der Natur abgewinnen, und zwar den „Wirkungen“, durch die der „Werkmeister“ sich erweist?
3.1 Das Problem des theologischen Weltbegriffs Der siebente, in besonderer Weise als „wissenschaftlich“ apostrophierte Beweisgang der Loci führt aus: „Es gibt bei den Wirkursachen keinen Fortgang ins Unendliche. Darum muss man bei einer [einzigen, d.Vf.] ersten Ursache halt machen […]. Denn wenn der Progress ins Unendliche ginge, gäbe es keine Ordnung der Ursachen und keinen notwendigen Zusammenhang unter ihnen.“ (CR 21, 242– 243) Das Argument ist aristotelisch (Phys VII, 259 a 13), es belegt die „notwendige“ Annahme eines ewigen „ersten Bewegers“, wie die Initia ausdrücklich bestätigen (CR 13, 374). Von Aristoteles stammt auch die Auslegung der Naturordnung am Leitfaden der causa efficiens und finalis. Weist jene auf Gott als Baumeister der Welt zurück, so begründet diese die durchgängige teleologische Gesetzmäßigkeit der Welt. Hier endet jedoch die Übereinstimmung. Wo das pädagogische Ziel seiner Physik, die Menschen zu Gott zu führen, unerreichbar erscheint, hat Melanchthon die aristotelische Vorlage rücksichtslos verlassen (Büttner 1973, 123). Causa finalis: Dass die Finalursache aus ihrem philosophischen Zusammenhang herausgelöst und durch eine „erbauliche“ Betrachtung über die zweckvolle Ordnung der Natur ersetzt wird, ist schon lange aufgefallen (Petersen 1964, 77– 78). Sie wird nicht auf die beständige Präsenz eines ersten Bewegers als ihren jederzeit wirksamen Grund zurückgeführt, sondern auf einen Entschluss der göttlichen Weisheit vor aller Schöpfung. Sie ist Folge einer erstmaligen Anordnung des planenden Willens Gottes (CR 13, 347), nicht seiner weltimmanenten Gegenwart. Auf diese Weise versucht Melanchthon der Differenz von Gott und Welt, also der weltüberlegenen Freiheit des Schöpfers Rechnung zu tragen. Diese Abweichung von der philosophischen Vorlage ist die Folge einer tiefer greifenden Entscheidung. Causa efficiens: Melanchthon übernimmt den Schluss auf die prima causa, distanziert sich aber von der Wirkungsweise, die Aristoteles ihr zugeschrieben hat, dafür zu sorgen, dass Bewegung immer anhält, woraus dann zwingend der Satz von der Ewigkeit der Welt folgen müsste. Hier trennen sich die Wege. Das Prinzip „ex nihilo nihil fit“ darf „nicht auf den Ursprung der Welt übertragen werden, dort nämlich leisten andere Prinzipien Widerstand“ (CR 13, 376). In seiner Charakteristik der Erstursache als Schöpfer lässt Melanchthon daher keines der aristotelischen Argumente gelten. Die These von der durchgängigen Kausalbestimmtheit alles Geschehens in der Welt muss vielmehr eine Ausnahme zulassen, ihren nach biblischer Lehre kontingentfreien Anfang als Schöpfungstat Gottes. Um diese Freiheit sicher zu stellen, trägt er den Begriff der potentia „gerade dort in die Gotteslehre“ ein (CR 13, 377), wo Aristoteles
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den dynamis-Begriff aus ihr verbannt hatte. Der erste Beweger ist ihm zufolge reine energeia, „pure Tätigkeit und Lebendigkeit in ihrer erfülltesten Form.“ Melanchthon, folgert Rudolph (1986, 178), „lässt sich das aristotelische Angebot entgehen, Schöpfer und Schöpfung einander derart nahe zu bringen, wie es doch gerade die Liebe Gottes zu glauben aufgibt.“ Er behauptet eine essentielle Differenz zwischen der Ewigkeit des Schöpfers und der Genesis der Welt.
3.2 Das Problem der Freiheit Gottes Melanchthon beschreibt die notwendig wirkende Erstursache der Welt als perfectissima causa – einen Begriff, den Aristoteles nicht kennt – und rechnet ihm die unendliche Machtfülle (potentia) des göttlichen Werkmeisters zu. Diesen Sinn von Freiheit trägt der aristotelische erste Beweger als reine energeia jedoch nicht in sich. Wenn aber die ausgezeichnete Freiheit des Vermögens, planvoll zu schaffen, tatsächlich zum schöpferischen Ursprung der Welt gehören soll, das Prinzip „ex nihilo nihil fit“ auf diesen Ursprung also nicht übertragen werden darf (CR 13, 376), dann lässt sich jener erste Anfang durch den Begriff einer Ursache, die nach einer zuvor feststehenden Regel auf einen Effekt abzielt, überhaupt nicht beschreiben (Rudolph 1986, 181). Damit hängt ein zweiter fundamentalerer Einwand zusammen: Der Begriff der Ursache (causa) verknüpft nach einer einsichtigen Regel Vorgänge in der Zeit. Die von Melanchthon geforderte Unterscheidung zwischen den zeitabhängigen Gesetzen der Welt und dem Sein Gottes müsste, konsequent durchgeführt, nun auch den Verzicht einschließen, Gottes Sein einer Zeitbestimmung zu unterwerfen, also jeden Versuch unmöglich machen, den Anfang der Welt im Horizont der antiken Zeitvorstellung zu interpretieren. Geyer (1959) hat das Problem dieser Kontroverse daher mit Recht auf den latenten „Widerspruch zwischen dem biblischen Schöpfungsgedanken und dem aristotelischen Zeitbegriff“ zugespitzt. Melanchthon fragt nicht, ob die Welt die ewige Wirkung einer ersten Ursache oder ob sie – mit der biblischen Schöpfungslehre – im Anfang der Zeit entstanden sei. Stattdessen fragt er wie der Physiker nach dem Zeitpunkt (quando) ihres Ursprungs, ohne zu sehen, dass „der Begriff des Zeitpunktes den absolut ersten [Anfang, d.Vf.], den [er] meint, ausschließt“ (Geyer 1959, 63 – 64). Melanchthon hat die erhebliche Spannung zwischen der zeitgenössischen aristotelischen Wissenschaft und der biblischen Schöpfungslehre mit vollem Bewusstsein wahrgenommen und sich ihr gestellt, hat sie aber nicht wirklich auszutragen vermocht. Der Widerstand war zu groß, den das Axiom der linearen Zeit und das ihm verschwisterte kausale Denken jedem Versuch entgegensetzt, die theologische Aussage der Schöpfung zu verstehen. Von einer befriedigenden Lösung, auf die erst recht das gegenwärtige Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaft wartet, sind wir auch heute noch ein gutes Stück weit entfernt.
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4 Die Erkenntnis der Schöpfung Erst die ungelöste Spannung zwischen der biblischen Schöpfung und dem Kosmos der Philosophie lässt das Problem theologischer Welterkenntnis als ein Problem der Methode ausdrücklich in den Vordergrund rücken. Auf welcher Basis erhebt sich unser Wissen von der beständigen Gegenwart und Wirksamkeit Gottes? Hans Emil Weber hat wohl recht, wenn er davor warnt, diese Fragen schon mit dem „einseitigen, aus moderner polemischer Lage ergriffenen Begriff ‚natürliche Theologie‘“ zu belasten, will man sich nicht den Blick auf die hier verhandelte Sache verstellen (Weber 1951, 17). Es ist zunächst die von Luther in neuer Form entdeckte Polarität von Gesetz und Evangelium, die Melanchthon den Schlüssel zu ihrer Bewältigung liefert. Erst die Systematik, mit der er in den naturphilosophischen Schriften die Prinzipien des „vernünftigen“ Denkens neben die Gewissheit des Glaubens stellt, führt zu der Dualität (um nicht zu sagen: Antithetik) eines philosophischen Erkenntnisweges und der Lehre der Kirche, also zur Zweigleisigkeit eines allgemeinen, in der Natur uns erschlossenen, und eines besonderen, uns geoffenbarten Wissens von Schöpfer und Schöpfung. Man darf von einer notwendigen Komplementarität sprechen: Was die Physik hervorhebt, tritt in der Offenbarung ganz in den Hintergrund, was uns die Offenbarung zu erkennen gibt, kann sich im Spiegel der Physik nicht zeigen. Gottes Wesen (Trinität) und Wille (Schöpfungsratschluss) sind ausschließlich Gegenstand der evangelischen peculiaris doctrina (CR 21, 608 – 609; 11, 662– 663). Die allgemeine Gotteserkenntnis rückt damit unter die Kategorie des Gesetzes. Sie wird nicht als eine „natürliche“ Fähigkeit des Menschen, als ein ihm zur Verfügung stehendes theoretisches Wissen von Gott, freigegeben, sondern hat als praktisch-existentielle Erfahrung das Ziel, ihn „unentschuldbar“ zu machen (Röm 1,20).
4.1 Die Lehre der Kirche (peculiaris doctrina) In der Frage, wo die Erkenntnis Gottes ihren Ausgangspunkt nehmen müsse, ist Melanchthon schon in der Physik sich seines Unterschieds zu Aristoteles bewusst: Die Erkenntnisordnung beginnt mit der Vergegenwärtigung der geschichtlichen Zeugnisse, durch die sich Gott in der Kirche bekannt gemacht hat (CR 21, 637). Erst nachdem einer in der „wahren und richtigen Lehre“ über Gott und die Schöpfung „befestigt“ ist, kann man ihm die Kette der rationalen Beweise vorführen. Die niemals eingeschränkte oder zurückgenommene These lautet dementsprechend: Nur im Raum der Kirche kann die Schöpfung erkannt werden (CR 21, 615). Ihre Erkenntnis ist eine Folge der Erkenntnis des Schöpfers, nicht umgekehrt. Zwar dringt die eigentlich dogmatische Interpretation über eine formelhafte Zitierung der altkirchlichen Regel, wonach Schöpfung und Erhaltung der Welt ein Werk der gesamten Trinität sind (CR 21, 611), kaum wesentlich hinaus. Neu ist hingegen, dass hier die Brücke vom I. zum II. Artikel des Credo ausdrücklich geschlagen wird. „In
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Wahrheit ist der Schöpfer der Welt kein anderer als der Gott, der seinen Sohn hat Mensch werden lassen und seiner Kirche das Evangelium gegeben hat.“ (CR 21, 609) Er wird am Ort der Inkarnation, am Ort von Kreuz und Auferstehung, also durch die der Kirche anvertraute Offenbarung als Schöpfer der Welt erkannt. Die ihr gegebene Verheißung, Gott selbst werde für ihren Unterhalt auf Erden aufkommen (CR 21, 640), ist die Form, in der sich der Schöpfer in ihrer Mitte als gegenwärtige, geschichtlich erfahrbare Wirklichkeit erweist. Hier wird der Trennungsstrich gegenüber dem Theismus der „Türken und Juden“ unwiderruflich gezogen. Warum aber fügt Melanchthon dieser biblischen Darstellung dann überhaupt die umfangreichen Erörterungen über die notitia naturalis hinzu und beschließt sie überdies mit der „Ermahnung“, sie seien als ein Stück Philosophie wohl zu unterscheiden vom Evangelium und seiner Verheißung? (CR 21, 643)
4.2 Die Gewissheit der Philosophie (das Naturrecht) Das unbefangene Interesse Melanchthons an einem „natürlichen“, rationalen Aufweis der Schöpfung nimmt die alte Vorstellung der „zwei Bücher“ auf, des Buches der Natur und des Buchs der Schrift, die beide Gott zu ihrem Urheber haben.Wie könnten wir ihn um Leben und Nahrung, um Kräfte und Beistand bitten, wenn nicht in der Gewissheit, dass er sich in der Natur erkennbar darstellt (Röm 1,20)? Denn „Natur ist zugleich der Ort der Offenbarung, d. h. des Erscheinens ihrer letzten Wirklichkeit, wie auch das durch den Schöpfer Gewordene.“ (Frank 2012, 17) Diesen „Glauben“ nennt Melanchthon mit einer anselmischen Wendung den intellectus creationis. Denn „die gesamte Natur der Dinge ist zweifellos auf das Ziel hin erschaffen, Gott sichtbar werden zu lassen.“ (CR 21, 369) Um diese These durchzuführen, hat er sich weit intensiver als Luther auf die Tradition des antiken Naturrechts berufen – mit dem bezeichnenden Unterschied, dass die lex naturae nun als eine nahezu selbstständige, unabhängig von jedem Lebensvollzug befragbare Erkenntnisquelle in Anspruch genommen wird. An die Stelle der ordinatio in creatione (Luther) ist der ordo naturae getreten. Als Gesetzgeber der Welt kann Gott aus der beständigen Ordnung der Gestirne, der Gattungen, der Fruchtbarkeit der Erde und so fort erkannt werden. Wie weit Melanchthon in dieser Richtung zu gehen und auch die Lehre der Kirche formal dem Gewissheitsanspruch der Philosophie anzugleichen bereit ist, zeigt eine Notiz im Liber de Anima (1540), wonach neben die drei wissenschaftlichen „Normen der Gewissheit“ – allgemeine Erfahrung, angeborene Prinzipien und evidente Schlussfolgerungen – als vierte Norm in der Kirche die Offenbarung hinzutritt. Ihre Sätze können allen vernünftigen Menschen „mit einer vergleichbaren Festigkeit“ zugemutet werden, wie „wir ohne Zweifel behaupten, dass 2 x 2 = 4 sind“ (CR 13, 151; 21, 604). In welchem Sinne sich Melanchthon auf das Naturrecht als theologische Erkenntnisquelle beruft, kommt prononciert in der Begründung zum Ausdruck, mit dem er den Abschnitt De Lege naturae beschließt: Der Dekalog ist als Leitfaden des Na-
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turrechts durchsichtig und klar, nicht weil er der Vernunft einen gangbaren Weg weist, sondern weil er seinerseits genau dem Weg folgt, den die Vernunft vorschreibt (CR 21, 715). Der Grund dieses Vertrauens ist die Überzeugung, dass Gott selbst sich „vom Himmel her“ als Urheber solches „natürlichen“ Wissens bezeugt. So ist die notitia Dei naturalis, nicht aber die moderne Möglichkeit einer „natürlichen Theologie“ für ihn (wie später für Quenstedt und Hollaz) das maßgebliche, dogmatisch verbürgte Fundament.
5 Das Ordnungsgefüge der Schöpfung Melanchthons Aussagen über die Gestaltung der Welt weisen in eine zweifache Richtung. Mit Luther hält er den Gedanken der kreatürlichen Mitarbeit des Menschen in der Schöpfung fest – wir sind „in allen Verrichtungen zu heilsamen Werkzeugen Gottes bestimmt“ (CR 21, 649) –, stellt ihn aber in einen neuen systematischen Zusammenhang. Der „Sitz im Leben“ hat sich verändert. Melanchthon blickt nicht wie Luther auf eine Welt, die jetzt schon auf das Ziel ihrer Vollendung zugeht. Er hat sehr viel pragmatischer die irdischen Verhältnisse vor Augen, in denen die Gaben der Schöpfung bewährt und verantwortet werden sollen. Angesichts und trotz der „Unbeständigkeit aller menschlichen Dinge“ (CR 21, 648) sucht er sie als einen auf Dauer gestellten Zusammenhang zu begreifen. Der neue Gravitationskern seiner Schöpfungslehre wird dementsprechend durch den Begriff der Ordnung beschrieben. Ordo ist der systematische Leitbegriff für die Erkenntnis der von Gott geschaffenen und – wichtiger noch – der Schlüssel zur Interpretation der von ihm erhaltenen Welt Er bildet als solcher den Brückenschlag für den Entwurf einer Ethik der Weltgestaltung (Huschke 1968).
5.1 Die Ordnung der Schöpfung Zwar wird der Begriff der Ordnung schon im Genesiskommentar von 1523 mit der Schöpfung verbunden, von deren sichtbarer Gestalt um der Freiheit des Schöpfers willen jedoch betont abgehoben. Ihre Realisierung bleibt dem frei wirkenden Wort Gottes vorbehalten. Diese gegenüber der Philosophie gezogene Trennungslinie wird erst in den zweiten Loci (1535) mit der Lehre vom Naturgesetz durchbrochen. Die lex aeterna erlaubt, Gott und die Welt in dem einheitlichen Horizont einer „ewigen“ Ordnung zusammenzudenken. In den Initia (1549) unternimmt Melanchthon daraufhin den programmatischen Versuch, auf der Basis des Ordo-Begriffs Theologie und Philosophie zu verklammern, das heißt die Offenbarung und die Lehre des Aristoteles nachgerade als „kongruent“ zu erweisen. Gott hat die Ordnung der Dinge zum Zeugen von sich selbst gemacht, und diese Ordnung reicht bin in die Institutionen hinein. Die Loci praecipui (1559) erweitern den hier entworfenen Grundriss. Der Gedanke der universalen Ordnung ist die ontologische Klammer, die das ungeschaffene Gute
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(bonum increatum) mit den kreatürlichen Gütern verbindet. Sie ist deshalb geeignet, das bonum naturale, Inbegriff der geschöpflichen Güte der Welt, rational zu erklären. Das „sehr gut“ (Gen 1,31) besagt demnach, dass es eine geschaffene, natürlich bestehende „Konvenienz“ zwischen der Kreatur und dem göttlichen Geist gibt, die sich auf Seiten des Menschen in den Gaben der Einsicht, Gerechtigkeit und Freude manifestiert, auf Seiten der Natur aber in der von Gott ihr eingestifteten Ordnung (CR 21, 1006 – 1007) Denn es ist ein und dieselbe Ordnung, die durch das anfänglich gesprochene „Wort des Herrn“ die Himmel gegründet hat, und die sich uns im beständigen Lauf der Gestirne, in der Kenntnis von gut und böse, und selbst noch in den Regeln des politischen Gemeinwesens präsentiert.
5.2 Die Ordnungen der „Erhaltung“ Das dogmatische Problem der Erhaltung konzentriert sich auf die Frage, wie die von Gott gesetzte Ordnung dauerhaft gegen das vom Menschen ausgehende Gefälle zu ihrer Zerstörung und Selbstauflösung bestehen kann. Denn als Gottes Werk manifestiert sich die Schöpfung darin, dass ihr Ordnungsgefüge weder zur Linken durch blinden Zufall und blinde Naturnotwendigkeit, noch zur Rechten durch die Handlungsfolgen des freien menschlichen Willens alteriert werden kann. Daraus resultiert das theologische Problem: Einerseits muss Gott als Urheber dieser Ordnungen begriffen werden, der allen kreatürlichen Zweitursachen selbstständig gegenübersteht, andererseits dürfen diese Zweitursachen nicht einfach ausgeschaltet werden, da sie es sind, die diese Ordnungen ausführen und realisieren. Aus diesem Frageansatz hat sich die nicht gerade einfache Systematik der Orthodoxie entwickelt, die zwischen göttlicher Erhaltung (conservatio), Begleitung (concursus) und Regierung (gubernatio) der Welt unterscheidet. All diese Problemfelder sind von Melanchthon bereits ausdrücklich angesprochen worden. (1) Erhaltung: Die Erhaltung der Welt geschieht im Rahmen der ihr mitgegebenen „natürlichen“ Ordnung. Die ausführlichste Aussage findet sich bereits zu Beginn des Artikels De creatione: „Die Dinge sind nicht nur von Gott erschaffen, sie werden auch beständig von ihm in ihrer Eigenart (substantia) erhalten und getragen. Jahr für Jahr lässt Gott die Erde fruchtbar werden […] und schenkt allem Lebendigen das Leben [… ohne sich derart, d.Vf.] an die Zweitursachen zu binden, dass er nichts täte, außer was diese [schon] in Bewegung setzen.“ (CR 21, 638 – 639) Dennoch kann die Physik dieses „allgemeine“ Wirken Gottes exklusiv als ein Handeln im Rahmen der causae secundae interpretieren, sind doch auch sie auf das Ziel hin erschaffen, Bestand und Dauer der Arten und Generationenfolgen zu verbürgen. In besonderer Weise wird dann noch einmal der Gott anrufende Mensch und mit ihn die Kirche als ein ausgezeichneter Gegenstand göttlicher Fürsorge zum Thema erhoben, was zu der späteren Aufteilung des Lehrstücks in eine Providentia generalis, specialis und specialissima geführt hat. Hier zeigt sich, mit welchen Schwierigkeiten ein Denken fertig zu werden hat, das Gottes Vorsehung im Rahmen einer universalen
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Weltordnung zu begreifen versucht. Denn um den mit einem freien Willen ausgerüsteten Menschen, um vollends seine Kirche zu bewahren, der nicht nur das zeitliche Dasein, sondern die „ewigen Güter“ verheißen sind, muss Gottes Macht von jeder Schranke, die ihm die Zweitursachen aufnötigen könnten, freigesprochen und auf eine unmittelbare Weise wirksam werden können. (2) Begleitung: Die Frage, wie sich Gottes Wirken zur geschöpflichen Freiheit verhalte, hat Melanchthon mit dem Satz beantwortet: Gott wirkt „mit dem menschlichen Willen zusammen, indem er ihn stützt, sofern er sich in den Grenzen der [von ihm gesetzten, d.Vf.] Ordnung bewegt“ (CR 21, 651). Damit weist er den Einwand zurück, als gehe es darum, das Gewicht menschlicher Verantwortung gegen die Überlegenheit Gottes auszuspielen. Er geht von dem Faktum aus, dass Gottes und des Menschen Freiheit zusammengehören. Gottes Freiheit ist die „erste Quelle alles kontingenten Geschehens“ und als solche der Grund dafür, dass auch Menschen frei handeln können (CR 13, 207). Folglich kann die geschöpfliche Freiheit nur eine relative Selbstständigkeit des Menschen begründen. (3) Regierung: So stellt sich zuletzt die Frage, in welcher Weise Gott auf die „kontingenten Ereignisse der Welt“ Einfluss nimmt, sie „determiniert“ (CR 21, 647), wie sich also Erst- und Zweitursache zueinander verhalten. Unverkennbar ist auch hier die Tendenz, das von Gott erhaltene und begleitete Geschöpf dem göttlichen Willen einund unterzuordnen. Argumentieren lässt sich hier jedoch nicht mit Gründen der Vernunft, da uns die Einsicht in das göttliche Welthandeln fehlt (obscura disputatio, CR 21, 652). Doch in der Gewissheit, dass Gott das Gebet der Christen zu einem Faktor seiner Weltregierung erhoben hat, findet die Erkenntnis, dass er sich gegen den fatalis ordo causarum durchzusetzen vermag und sich, aller Eigenmächtigkeit seiner Schöpfung zum Trotz, für deren Erhaltung verbürgt, ihren unüberholbaren Ausdruck.
Literatur Büttner, Manfred. 1973. Die Geographia Generalis vor Varenius. Wiesbaden. Büttner, Manfred. 1975. Regiert Gott die Welt? Studien zur Providentiallehre bei Zwingli und Melanchthon. Stuttgart. Frank, Günter. 2012. „Natur als Offenbarung. Philipp Melanchthons Naturbild.“ Mathematik und Naturwissenschaften in der Zeit von Philipp Melanchthon. Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 26: 9 – 25. Geyer, Hans-Georg. 1959. Gott und Welt. Zur Frage des Aristotelismus bei Melanchthon. Diss. Masch.Schr. Bonn. Huschke, Rolf Bernhard. 1968. Melanchthons Lehre vom Ordo politicus. Ein Beitrag zum Verhältnis von Glauben und politischem Handeln bei Melanchthon. Studien zur evangelischen Ethik 4. Gütersloh. Joachimsen. Paul. 1926. „Loci communes. Eine Untersuchung zur Geistesgeschichte des Humanismus und der Reformation.“ LuJ 8: 27 – 97. Link, Christian. 1991a. „Philipp Melanchthon: Die Schöpfung im Horizont der Naturphilosophie.“ In Schöpfung, HST 7/1, 81 – 119. Gütersloh.
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Petersen, Peter. (1921) 1964. Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland. Stuttgart/Bad Cannstatt. Pohlenz, Max. 1964. Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung I. Göttingen. Rudolph, Enno. 1986. „Melanchthons Aristotelesrezeption in den ‚Initia Doctrinae Physicae‘.“ In: ders. Zeit und Gott bei Aristoteles aus der Perspektive der protestantischen Wirkungsgeschichte, 169 – 208. Stuttgart. Weber, Hans Emil. 1951. Reformation, Orthodoxie und Rationalismus II. Gütersloh.
Hendrik Stössel
Christologie 1 Christologie im Zeichen des Traditionsabbruchs Wenn wir von der Christologie Philipp Melanchthons sprechen, können wir nicht auf eine einheitliche Systematik zurückgreifen. Diesbezügliche Äußerungen des Brettener Reformators treten kaum als eigenständiger Topos auf, sondern sind bereits früh (Hund 2006, 67) in die Auseinandersetzungen um die Abendmahls-, die Naturen- und die Trinitätslehre eingebunden. Zudem liegen sie weithin über sein Werk verstreut, weshalb es nicht wirklich erstaunlich ist, dass bis zur Stunde eine monographische Gesamtdarstellung des Themas fehlt (Brandy 1991, 32; Krüger 2004, 38, Fn. 1; Hund 2006, 66, Fn. 36) Vor allem aber versteht Melanchthon unter Christologie etwas anderes als die scholastische Tradition, der er selbst entstammt (Scheible 1993b, 76). Indem er mit dieser seiner eigenen Herkunft in zum Teil höchst polemischer Weise bricht (Scheible 1993b, 78), entwickelt er einen außerordentlich wirkmächtigen, neuen christologischen Ansatz (Ratschow 1982, 55), den er durch seine gesamte theologische Existenz hindurch – zum Teil in themenbezogener Zuspitzung – beibehalten hat. Was die Methode betrifft, so hat Günter Frank darauf hingewiesen, dass die Topik, der er sich in seinen Loci bedient, weder seine Erfindung noch an sich selbst neu ist. Im Zeitalter der Reformation bildet sie nicht den Beginn sondern das Ende einer Entwicklung, die in der Philosophie im Grunde auf Aristoteles und in der theologischen Dogmatik mindestens bis ins 12. Jahrhundert zurückgeht (Frank 2011b, 251– 252). Die Eigenart seines christologischen Ansatzes leuchtet bereits in den Thesen von 1519 auf, mit denen der 22-jährige Gräzist unter dem Eindruck der Begegnung mit Luther an der Wittenberger Universität den akademischen Grad des Baccalaureus biblicus erwirbt – die Mindestvoraussetzung für die Durchführung theologischer Lehrveranstaltungen (Scheible 1993b, 77). In These 9 heißt es in programmatischer Kürze: „Christi Wohltat ist die Gerechtigkeit.“ (MSA 1, 24) Ein Jahr später liefert die Kleine Redeübung zur Lehre des göttlichen Paulus in Auseinandersetzung mit dem Unterschied zwischen scholastischer und paulinischer Theologie eine erste bemerkenswerte Präzisierung. Von Melanchthon selbst offenbar eher als eine Art „Fingerübung“ gedacht, die ihn selbst nicht wirklich überzeugt zu haben scheint, von der akademischen Communitiy in Wittenberg jedoch mit Begeisterung aufgenommen und sogleich in Druck gegeben (MSA 1, 27), bestimmt er hier die Wohltat Christi hinsichtlich ihrer Funktion in doppelter Weise: Sie bewirke ein befriedetes Gewissen und ein Herz, das seiner Affekte mächtig sei (MSA 1, 38,16 – 19). Die Affektenlehre ist für die Theologie wie die Anthropologie Melanchthons von gleichermaßen zentraler Bedeutung. Er sieht den Menschen als „Schlachtfeld seiner Gefühle, Leidenschaften und Triebe“. Es beherrscht mithin nicht der Wille die Affekte, DOI 10.1515/9783110335804-028
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sondern umgekehrt: der jeweils stärkste Affekt beherrscht den Willen. Befreiung findet der Mensch nur in der Bindung an Gott: Die (immer stärkste) Macht seiner Liebe befreit ihn von anderen Mächten und Bindungen. Autonom ist der Mensch nie. Unter einer Macht, die stärker ist als er, steht er immer (LC 21997, 44– 45, Fn. 83). Daher: „Was könnte schwerer wiegen als diese wahre Wohltat, die Christus durch sein Blut dem ganzen Erdkreis errungen hat […]?“ (MSA 1, 30,10 – 12) Eindrücklich nimmt dies viele Jahrhunderte später der Affirmativsatz der 2. Barmer These auf: „Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt [k.d.Vf.] zu freiem, dankbaren Dienst an seinen Geschöpfen.“ Unter dieser Voraussetzung erscheinen Theologie und Christologie im Besonderen nicht als spekulative, sondern als praktische Disziplinen. In diesem Sinne konnte bereits Martin Luther, an den Philipp Melanchthon anknüpft, formulieren: „Wahre Theologie ist praktisch, und ihr Fundament ist Christus, dessen Tod durch den Glauben ergriffen wird. Heute aber betreiben sie sie alle, die nicht mit uns übereinstimmen und unsere Lehre festhalten, spekulativ, weil sie aus dem Nachdenken nicht herauskommen. […] Deshalb gehört die spekulative Theologie in die Hölle zum Teufel.“ (WA TR 1, 75,16 – 21,153) Im Hintergrund steht die von Luther entwickelte Unterscheidung zwischen theologia gloriae und theologia crucis: „Theologie der Herrlichkeit ist die den menschlichen Wünschen wie der Vernunft gleichgeschaltete spekulative Erfassung der Majestät Gottes und zugleich das Spekulieren darauf, durch eigene Leistungen sich vor ihm rühmen und rechtfertigen zu können. Diese Verbindung natürlicher, metaphysischer Gotteserkenntnis mit einer moralphilosophisch umgebogenen Gnadenlehre ist für Luther der Inbegriff rationaler Pseudotheologie im Gegensatz zu der am Kreuz Christi orientierten Theologie von Wort und Glaube.“ (Ebeling 1985, 26, Fn. 69) Im Folgenden werden wir an Hand einiger prominenter Äußerungen exemplarisch zeigen, dass Christologie bei Philipp Melanchthon nicht nur im Zusammenhang der Abendmahls-, Naturen- oder Trinitätslehre zu verhandeln ist. Vielmehr hat sie ein eigenständiges theologisch-seelsorgerliches Gewicht. Sie gewinnt es dadurch, dass der Brettener Reformator sie als praktische Disziplin versteht, mit Potential und Relevanz nicht nur im Rahmen systematischer Differenzierungen, sondern existentiell für Glauben und Leben der Menschen in ihrem Alltag.
2 Die Loci Communes Rerum Theologicarum Seu Hypotyposes Theologicae von 1521 Es lassen sich bekanntlich drei verschiedene Bearbeitungsfassungen („aetates“) der Loci communes unterscheiden (MSA 2/1, 165). Während die dritte Fassung von 1559 viermal umfänglicher ist und in der lutherischen Orthodoxie des späten 16. bis mitt-
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leren 18. Jahrhunderts großen Einfluss gehabt hat, sind die Loci communes von 1521 in ihrer Wirkung für die Reformation „höher einzuschätzen“ (LC 21997, Geleitwort und Einführung, 10). Gott habe – so schreibt Melanchthon – seinen „Sohn ins Fleisch gehüllt“ (LC 21997, 20 – 21,6) und auf diese Weise das Himmlische verborgen, damit es „durch die Torheit der Predigt und [also] auf eine neue Art und Weise erkannt“ (LC 2 1997, 20 – 21,7) werde. Daher sollten wir „die Geheimnisse der Gottheit […] lieber anbeten als sie […] erforschen“ (LC 21997, 18 – 19,8). Jene, die das seiner Meinung nach anders sehen – die „scholastici“, wie Melanchthon sie nennt – hat er sein Leben lang als Gegner betrachtet und ist mit ihnen ins Gericht gegangen, zum Teil ausgesprochen unduldsam, später etwas konzilianter im Ton, aber immer absolut unbeugsam in der Sache. So disqualifiziert er insbesondere in seinen frühen Jahren zum Beispiel das theologische Denken eines Johannes Damascenus oder eines Petrus Lombardus, das auf jeweils eigene Weise über Generationen hin das ernsthafte Bemühen um die Heilige Schrift bestimmt hat, als unbrauchbar: Jener philosophiere zu viel, während dieser nur die Meinung von Menschen zusammentrage (LC 21997, 19 – 20,2). Der in Form und Inhalt durchaus aggressive Wille zur Delegitimierung von christologisch „Andersdenkenden“ – um dieses Wort hier zu verwenden – ist leider ein Kennzeichen des frühen Melanchthon, vor allem in den Loci von 1521. Es steht durchaus im Widerspruch zu jener Kompromissbereitschaft und -fähigkeit, die wir mit ihm in seinen späteren Lebensjahren verbinden.Wie immer sich seine Haltung im Lauf seines Lebens auch verändert haben mag: Jedenfalls in den Loci von 1521 will er sich auf seinem Weg „ad fontes“ ganz offensichtlich nicht aufhalten lassen durch die konstruktive und vielleicht auch schwierige Auseinandersetzung mit dem christologischen Denken derer, auf dessen Schultern er steht und aus deren Schule er kommt. In dieselbe Richtung geht der wütende, geradezu ungebärdige Vorwurf in der Widmung der Loci 1521 an Tilemann Plettener, den Rektor der Wittenberger Universität, „überall in der Theologie faselten (die „scholastici“), die uns anstelle der Lehre Christi aristotelische Spitzfindigkeiten dargeboten haben“ (LC 21997, 12– 13,4). Statt davon zu sprechen, „was das Gesetz fordert, woher man die Kraft holen kann, das Gesetz zu erfüllen, woher man die Gnade für Sünden bekommen kann, wie man den ins Wanken gekommenen Sinn gegen Teufel, Fleisch und Welt aufrichtet, wie die zerschlagenen Gewissen tröstet“ (LC 21997, 22– 25,16), das heißt, statt die lebenspraktische Relevanz Christi ins Zentrum zu rücken, seien „die Seelen zu kalten und christusfremden Disputen“ (LC 21997, 24– 25,19) hingelenkt und mit „dummen Erörterungen das Evangelium und die Wohltaten Christi verdunkelt“ worden (LC 21997, 20 – 21,10). In der Bibel „nur Leitsätze über Tugenden und Laster“ zu suchen – eine Anspielung auf die in der Scholastik gebräuchlichen Sentenzenkommentare –, sei mehr „philosophisch als christlich“, und er selbst empfinde keine „Lust, [sein] Talent unter Beweis zu stellen“, indem er jene widerlege, die sich „viel eher für gewisse Irrlehren stark […] machen als für die katholischen [sic!] Dogmen“ (LC 21997, 20 – 21,11). Stattdessen möchte er jene „Hauptwahrheiten skizzieren, die dir Christus ans Herz legen, […] das Gewissen stärken, [und] den Geist gegen den Satan aufrichten“ (LC 21997, 24– 25,20).
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Angesichts von Zweifel, Anfechtung und Unwissenheit des menschlichen Herzens versteht er Theologie im Allgemeinen und Christologie im Besonderen als Einladung zum biblischen Wort (LC 21997, 15,6), um „die Studien derer, die sich in der Schrift umtun wollen, so gut wie möglich [zu] unterstützen“ (LC 21997, 16 – 17,12): „Denn, glaub mir, es liegt viel daran, ob Du die Materie solch großer Inhalte aus Quellen schöpfst oder aus Wasserlachen“ (LC 21997, 99,2), schreibt er und macht keinen Hehl daraus, für wie falsch und sinnlos er es hält, allzu viel „Mühe auf […] die Dreieinigkeit Gottes [oder] die Art und Weise [seiner] Menschwerdung“ zu verwenden (LC 21997, 20 – 21,8). Hermeneutisch erkennen wir darin das berühmte humanistische Erkenntnisprinzip „ad fontes“, welches Melanchthon – und mit ihm die Reformation insgesamt – unter anderem zur Wertschätzung des biblischen Wortes in Gestalt der Ursprachen geführt hat; ein Verdienst, das er Erasmus von Rotterdam zuweist, der „als erster die Theologie zu den Quellen zurückgerufen hat“ (LC 21997, 14– 15,8, Fn.11).
2.1 Christologie als funktionale Disziplin So wird verständlich, wenn Melanchthon in den Loci von 1521 geradezu katechismusartig prägnant erklärt: „Wer die […] Hauptthemen […] nicht kennt: die Macht der Sünde, das Gesetz, die Gnade, von dem sehe ich nicht ein, wie ich ihn einen Christen nennen könnte. Denn aus ihnen wird Christus im Kern erkannt, da doch dies heißt, Christus erkennen: Seine Wohltaten erkennen [k.d.Vf.], nicht [dagegen] seine Naturen [oder] die Weise seiner Menschwerdung betrachten. Wenn Du nicht wüsstest, zu welchem Nutzen Christus das Fleisch annahm und ans Kreuz geschlagen wurde, was würde es nützen, die Historie zu kennen?“ (LC 21997, 22– 23,12– 14) Damit sind die Eckpunkte benannt, welche die Christologie des Reformators bestimmen und ihn – unbeschadet mancher Veränderung und Weiterentwicklung im Einzelnen – Zeit seines Lebens nicht mehr verlassen haben: Die Wohltaten Christi bringt er zur Geltung als das allein legitime Zentrum allen christlich-theologischen Denkens. Darin liegt das Neue, das Originelle seines Ansatzes, den wir als wir „funktionale Christologie“ (Ratschow 1982, 55) bezeichnen. Wir verstehen darunter einen Zugang, der sich weder auf die Erörterung sakraments- beziehungsweise trinitätstheologischer Fragen beschränkt, noch in kognitiv-begrifflichen Reflexionen über Inkarnation und Kreuzigung sich erschöpft, sondern nach den Wirkungen Christi fragt, eben nach seinem „Nutzen“. Unter dieser Bedingung verlagert sich das Gewicht von der res der Christologie auf ihren usus (Ratschow 1982, 55). In die Mitte rückt nun Christus als personaler Ausdruck von Gottes Barmherzigkeit und Freundlichkeit. Seine Wohltaten erschließen sich jedoch nicht dem spekulativ theoretisierenden menschlichen Verstand. Ebenso wenig ist er in der Lage, die Leidenschaften des Menschen zu lenken oder gar zu bezwingen. Zur Verdeutlichung verwendet Melanchthon schon früh das Bild des Soldaten, für den es eben nicht reiche, nur theoretisch zu wissen, wie man mit dem Feind kämpfe, wenn es dem Herzen an Tapferkeit und dem Körper an Kräften fehle. Genauso wenig reiche für ein gutes und glückliches Leben die (äußerliche)
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Observanz von Gesetzen und Vorgaben, wenn nicht auch das Herz dazu bereit sei (MSA 1, 30,27– 32). Doch im Hinblick darauf, dass es seinen Affekten unterworfen sei, übersteige eine solche Herzensverwandlung menschliche Möglichkeit. Zentral ist für Melanchthon die persönliche Vertrauensbeziehung (fiducia) zu Christus, die sein gerecht machendes Eintreten für den Sünder vor Gott nicht nur zur Kenntnis nimmt (notitia), sondern diesem auch innerlich zustimmt (assensus) (Schaede 2004, 402). Nur die daraus erwachsende, durch Gottes Geist erweckte fiducia ist der das Herz befreiende modus, in dem die benefica Christi wahr- und angenommen werden können (Krüger 2004, 52). Anders gesagt: Die mediatorische Interzession Christi, die der Glaube dankbar als Geschenk annimmt, begründet die Option einer Veränderung des Herzens durch Gott, der sich mit dem Menschen zu einer neuen, heilen Gemeinschaft verbindet. Dies sieht der Reformator begründet in der Person Christi, unabhängig davon, wie etwa dessen beide Naturen – gewissermaßen im „Innenverhältnis“ – zueinander zu bestimmen sind. Der einzige Grund, aus dem die Person Christi den Menschen überhaupt angeht, ist also ihre Wirkung beziehungsweise Funktion (Krüger 2004, 57). Diese besteht – und Melanchthon wird nicht müde, es als die Hauptsache immer wieder einzuschärfen – in der Vergebung der Sünden beziehungsweise im stellvertretenden Erwerb der Gerechtigkeit des Menschen vor Gott, welche eine fremde, von Christus herkommende, gleichsam ihm gehörende ist, aber durch den Glauben eine dem Menschen zugeeignete Gerechtigkeit wird (LC 21997, 207,1). Dabei unterscheidet er in den Loci von 1521 – Luthers diesbezügliche Äußerungen in der Galaterbriefvorlesung aus den Jahren 1531– 1532, die 1535 veröffentlicht wurden, vorwegnehmend – zwei Arten von Glauben, die scheinbar dasselbe sagen, sachlich jedoch nicht dasselbe meinen. Es gibt die fides historica (WA 40/I, 285, 22– 23 zu Gal 2,20), die sich auf die äußerlichen Tatsachen bezieht und eigentlich eher als Meinung denn als Glaube zu bezeichnen ist (LC 21997, 232– 233,62; 266 – 269,160). Sie „weiß“ zwar um die beneficia Christi, versteht sie aber als philosophische Wahrheit beziehungsweise als abstrakt-theoretisches Prinzip. Daneben gibt es die fiducia misericordiae divinae. Sie ist jene Art Glauben, die sich als Beziehungsvertrauen darstellt und der neutestamentlichen πίςτις entspricht. Sie allein begreift die beneficia Christi sachangemessen als individuell-konkretes Handeln „pro me“ beziehungsweise „pro nobis“. Damit ordnet Melanchthon nicht etwa Gottes Wirklichkeit der Beurteilungskraft menschlicher Subjektivität unter.Vielmehr leuchtet bereits hier jener Gedanke auf, den er erst viele Jahre später – zwar an anderer Stelle, aber nicht weniger prägnant – aussprechen wird, dass wir nämlich „geboren [sind], uns im Gespräch mitzuteilen“ (Melanchthon 2011b, 35). Das gilt ihm unter Menschen ebenso wie in der Gottesbeziehung. Darum erschließt sich die Wahrheit Christi nur denen, die sich ihr öffnen und von ihr ansprechen lassen.Wohl ist das Evangelium identisch mit Christus und seinen Wohltaten.Wer sie jedoch für sich nicht sucht,wird weder jenen noch diese finden:Wer nicht anklopft, dem wird nicht aufgetan, denn das „Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit, die uns in Christus verheißen ist […], bringt zuerst Frieden in das Herz und entzündet es nachher, gleichsam um Gott zu danken. […] Wenn wir hingegen nicht
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glauben, haben wir in unserm Herzen kein Gespür für die Barmherzigkeit Gottes. Wo kein Gespür ist für die Barmherzigkeit Gottes, ist entweder Verachtung Gottes oder Hass gegen Gott“ (LC 21997, 218 – 219,22). Für das Verständnis der Christologie Melanchthons kann dies nicht hoch genug eingeschätzt werden: Wenn das „pro me“ beziehungsweise „pro nobis“ als Fundamentalkategorie des Glaubens durch allgemeine theologisch-philosophische Lehrsätze ersetzt wird, sinkt Christus zum religiös-sittlichen Lebensideal herab, das für beliebige Zwecke instrumentalisiert werden kann. Die Zeiten, während derer der Protestantismus in dieses Fehlverständnis hinein ausgeglitten ist, gehören zu seinen dunklen Kapiteln. Das lässt sich – um nur dieses eine Beispiel aus der neueren Kirchengeschichte herauszugreifen – unter anderem auch am Christusbild der deutschen Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg zeigen, das vorwiegend zur Rechtfertigung und Überhöhung der von den Soldaten als Pflichterfüllung geforderten Selbsthingabe und Opferwilligkeit herangezogen wurde (Hammer 1971, 134).
2.2 Christologie als eine Gestalt des Gebets Das Heilshandeln Gottes in den Wohltaten Christi wird über vier Leitmotive entfaltet (Schaede 2004, 395 – 397), die Melanchthon in den Loci communes von 1521 zusammenstellt und über seine gesamte theologische Existenz hinweg immer wieder aufgreift, variiert und weiterentwickelt. Insofern Christus durch sein einziges, einmaliges und alleiniges Opfer den Menschen Gottes Wohlwollen erworben hat, stellt er sich dar als „promissionum omnium pignus“ (LC 21997, 162– 163,11): als Faustpfand aller Verheißungen. In gegenseitiger Durchdringung wird dieses Motiv verbunden mit denen des meritum (Verdienst), der victima (Opfer) und der satisfactio (Genugtuung), die ihrerseits jeweils in enger Beziehung stehen zur Vorstellung von der Person Christi als dem Mittler der Erlösung. „Nun hat aber Christus den guten Willen [Gottes] verdient [k.d.Vf.], den er als Mittler für uns, den er als Opfer und Genugtuung für uns gab. […] Weil Gott ihm zugeneigt ist, ist er uns zugeneigt, weil er ihm alles unterworfen hat, hat er uns alles unterworfen. So sind alle Verheißungen auf ihn zurückzuführen, der uns wirklich die Barmherzigkeit des Vaters verdient hat und uns mit dem Vater versöhnt hat […].“ (LC 21997, 246 – 247,101) Damit steht ein Koordinatensystem vor uns, dass es rechtfertigt, wenn nicht von einer ausgefeilten christologischen Systematik, so doch von einer übergreifenden Kontingenz im christologischen Denken des Reformators zu sprechen. Während die Motive des Opfers und der Genugtuung die Bedeutung Christi im Blick auf Gott – also gewissermaßen im „Innenverhältnis“ – beschreiben, akzentuieren die Motive des pignus und des meritum eher das „Außenverhältnis“ in Richtung auf den Menschen, der die Gewissheit sucht, dass Gott ihm freundlich gegenübersteht. Zusammengenommen lautet ihre Botschaft: Beunruhigen Dich Zweifel und Unsicherheit hinsichtlich Gottes Haltung Dir gegenüber, dann ergreife Christus. In ihm wird
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Gott Dir eindeutig. Auf ihn beziehungsweise auf den Erwerb Deines Heils durch ihn kannst Du Dich berufen. In ihm hast Du gleichsam das Licht, das Deine Dunkelheit erleuchtet: „die Verheißung der Gnade oder Barmherzigkeit Gottes und somit die Vergebung der Sünde und das Zeugnis der Zuneigung Gottes zu uns. Durch dieses Zeugnis sollen unsere Herzen aus der Gewissheit der Güte Gottes glauben, ihnen sei jede Schuld vergeben; und sie sollen, [wieder] aufgerichtet, Gott lieben, loben, in Gott fröhlich sein und aufjauchzen […].“ (LC 21997, 162– 163,10) Das Besondere – und wenn man so will – Innovative an dieser pignus-Christologie liegt darin, dass sie die Botschaft des Evangeliums funktional entfaltet, indem sie sie auf die Wirkung von Kreuz und Auferstehung Jesu zuspitzt (Ratschow 1982, 55). Unausgesprochen, doch erkennbar steht im Hintergrund das biblische Bild vom sinkenden Petrus (Mt 14,23 – 29): Wie jener gerettet wird, indem er nach der Hand des Retters greift, so greift der Glaubende nach der Person Christi, um sich an ihr festzuhalten und so der Wohltaten teilhaftig zu werden, die sie schenkt: Freiheit von Sünde und Tod und ein Leben im Lichte Gottes – schon jetzt. Wenn sich dies auch der theoretischen Reflexion beziehungsweise der kognitiven Erkenntnis entzieht, so bleibt gleichwohl die notitia ein zentrales Element reformatorischer Glaubensauffassung. Deshalb ist bei Melanchthon die äußere Kenntnis der biblischen Tradition eine Grundvoraussetzung und Grundlage aller Christusbeziehung, weshalb es ihm immer wieder nachdrücklich darum geht, sein Publikum „zur Heiligen Schrift einzuladen“ (LC 21997, 15,16). Dies allein nützt freilich nichts, wenn es nicht begleitet wird durch die Bereitschaft, den „Geist sorgfältig in die Betrachtung (meditatio) der Verheißungen ein[zu] üben […]. Hierher trage alle Gedanken Deines Geistes, hierauf verlege Dich, dass du aus den Verheißungen erkennst, was Dir in Christus geschenkt ist.“ (LC 21997, 246 – 247,102) Es kommt also darauf an, Christus in diesem Sinne „anzunehmen“ (LC 21997, 282– 283,210), das Herz auf ihn „auszurichten“ (LC 21997, 284– 285,220), sich gleichsam auszustrecken auf die Wohltaten hin, die von ihm erhofft werden dürfen, selbst, wenn diese aktuell verborgen erscheinen (LC 21997, 230 – 231,57). Den Weg zur Gewissheit über die Güte Gottes, dahin, ihn „zu lieben und zu loben, in ihm fröhlich zu sein und aufzujauchzen“ beschreibt der Reformator als den Weg, der „Einübung Christi“, seiner Betrachtung und Meditation, kurz: als den Weg des Gebets. Hier sei darauf hingewiesen, dass dieser Weg in der Scholastik durchaus bekannt war und begangen wurde. Auch insofern wird Melanchthons rüde Fundamentalkritik (LC 21997, 17,10) den Tatsachen nicht gerecht. Immerhin hat etwa Anselm von Canterbury, auf den der Reformator in den Loci von 1521 ausdrücklich nicht eingeht, sein Proslogion weitgehend in der Form eines Gebets verfasst. Man wird dies als Aussage zur Methode der Theologie beziehungsweise der Gotteserkenntnis verstehen müssen, die – trotz der Polemik des Reformators – Anknüpfungspunkte zu seinem eigenen Zugang bietet. Konsequenterweise siedelt er in unmittelbarer Nachbarschaft zum pignus-Motiv die Sakramente als Zeichen beziehungsweise Siegel der Gnadenverheißung an (LC 21997, 322– 323,1): „Nicht anders, als du es für ein Zeichen der göttlichen Gunst hieltest, wenn [Gott][…] als ein besonderes Faustpfand seiner Barmherzigkeit ein […] Wunder
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schenkte, ziemt es sich für dich, über diese Zeichen zu denken, […] die eingesetzt worden [sind], damit [durch sie] der Glaube an die Gnade angefacht werde.“ (LC 21997, 328 – 329,17– 18) Die innere Begründung liegt im reformatorischen Verständnis des Sakraments als verbum visibilium, das heißt sichtbares Wort, welches dasselbe sagt wie das gepredigte Zeugnis vom Wort Gottes im Evangelium. In gleicher Weise sind die Sakramente „ein handfestes Zeugnis des göttlichen Willens gegen dich“ (LC 21997, 324– 325,5). Sie sprechen von Gottes Barmherzigkeit und dienen der Vergewisserung des Glaubens.
3 Apologia Confessionis Augustanae und das „meritum Christi“ Dies führt uns zum meritum-Motiv als dem zweiten zentralen christologischen Leitgedanken Philipp Melanchthons. Es handelt sich dabei um eine Ausgestaltung der propter-Christum-Formel, die bereits in den Loci communes von 1521 anklingt (LC 21997, 202– 203,7), dann erneut 1530 im Rechtfertigungsartikel der Confessio Augustana (BSELK, CA IV) auftaucht und endlich in der Apologie der Confessio insgesamt 173 mal zu finden ist, was zu der Schlussfolgerung geführt hat, es handele sich um eine „Lieblingsformel“ (LC 21997, 203, Fn. 619) des Reformators. Dabei mag auf den ersten Blick der Eindruck einer gewissen Akzentverschiebung entstehen. In den Loci von 1521 gilt – wie wir gesehen haben – der gerecht machende „fiducia-Glaube“ noch eindeutig und allein der Person Christi als pignus misericordiae (LC 21997, 328 – 329,17– 18). Soweit hier ein „meritum“ thematisiert wird, bezieht es sich vor allem auf die Vergeblichkeit des Versuchs, mit ihm Gottes Barmherzigkeit zu erwerben beziehungsweise auf die Kritik an einer entsprechenden scholastischen Theologie (LC 21997, 64– 66,51– 54; 82– 83,94). In Bezug auf Christus findet sich die Wendung nur vereinzelt und dann in personaler Akzentuierung im Sinne des pignusMotivs (LC 21997, 282 – 283,210 – 212). Demgegenüber scheint Glaube in der Apologie eine eher objekthaft-dingliche Ausrichtung anzunehmen, insofern er sich weniger an der Person Christi orientiert als an den Gegenständen (obiecta) ihres Verdienstes. So scheint vor allem im Rechtfertigungsartikel IV der Apologie die Versöhnung mit Gott, die Christus dem Menschen erworben hat, zum Schatz (pretium) und eigentlichen Glaubensgegenstand zu werden (BSELK, 289,20 – 24; 291,1– 4). Dazu hat Stephan Schaede hat kritisch festgestellt, durch ein solches „sachhafte[s] Verständnis“ gerate die propter-Christum-Formel und mit ihr das meritum-Motiv in Gefahr, zur „soteriologischen Parole“ (Schaede 2004, 399) zu werden. Zwar bestreitet er nicht, dass Melanchthon auch in der Apologie den Glauben grundsätzlich als Vertrauensbeziehung zur Person Christi versteht, in der sich Gottes Barmherzigkeit erweist. Jedoch werde dieser Glaube zu gegenständlich bestimmt (ebd.) als ein „gleuben, also vertreuen, also sich trösten des verdienstes Christi, das umb seinetwillen Gott gewis uns wöll gnedig sein“ (BSELK, 296,20 – 21). Damit stünden auf der
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einen Seite „die Verdienste Christi und auf der andern Seite – unterschieden von ihnen – Gott, der den Menschen aufgrund dieser Verdienste wieder gewogen sein will“ (Schaede 2004, 399). Noch deutlicher werde die Abkehr vom personalen Verständnis des Erlösungswerks beziehungsweise der Wohltaten Christi, wenn Melanchthon sie in Auslegung von Apg 4,11– 12 auf seinen „Namen“ reduziere und dieser verstanden werde als „caussa meins heils und schatz […] dadurch ich erlöset bin“ (BSELK, 310,4– 5). Im Kern bezieht sich Schaedes Kritik darauf, dass in der Apologie jene personale Einheit zwischen göttlicher und menschlicher Natur Christi aufgehoben werde, welche die Loci von 1521 noch wahren, und die Melanchthon immer wieder als fundamental hervorgehoben und verteidigt habe. Es handele sich in der Apologia Confessionis Augustanae christologisch um eine „problematische Fixierung auf den Verdienstgedanken, die nicht […] die personalen sondern vielmehr die sachhaft-wertenden Momente am Begriff des meritum stark macht“ (Schaede 2004, 399).Von daher stelle sich die Frage, ob „aus dem Praeceptor Germaniae, der wie kaum ein anderer mit ausgesprochener, geradezu monotoner Hartnäckigkeit ostinat eingeschärft hat, dass die Rechtfertigung in der Barmherzigkeit Gottes ihren alleinigen Grund habe, unter der Hand der Prediger einer christologischen Werkgerechtigkeit geworden“ sei (Schaede 2004, 400). Wenn dieser Eindruck in der Tat zunächst entstehen mag, so relativiert er sich am Ende jedoch erheblich. Dies zeigt sich zunächst am Gesamtduktus der Apologie. Schaede selbst belegt, dass auch beim meritum-Motiv die personale Orientierung des fiducia-Glaubens in der Apologie keineswegs gänzlich verloren geht (2004, 400, Fn. 31). So nimmt Art. IV der Apologie immerhin beinahe wörtlich die Loci von 1521 auf: „Was aber ist das erkentnis Christi [anderes], denn sein wohlthat kennen und sein Verheissung, die er in die welt hat geprediget und predigen lassen? Und die wohltat kennen, das heist an Christum warlich gleuben, Nemlich gleuben das, was Gott durch Christum verheissen hat, das er das gewiss geben wolle“ (BSELK, 310,14– 18). Bemerkenswerterweise bietet der lateinische Text der Apologie hier – wie die Loci 1521 – die Pluralform beneficia (LC 21997, 22 – 23,13), was die inhaltliche Zusammengehörigkeit unterstreicht. Zudem wird man geltend machen müssen, dass sich die Auslegung von Apg 4,11– 12, auf welche Schaede seine Bedenken stützt, dem biblischen Sprachgebrauch anpasst. Dies spiegelt einmal mehr, dass Melanchthon seine Christologie (auch) in der Apologie als bibelgemäß und darin nach wie vor als „Einladung zur Schrift“ versteht. Und schließlich ist auf die speziellen kontroverstheologischen Entstehungsbedingungen der Apologie hinzuweisen: Immerhin hat die katholische Gegenposition in der Confutatio die soteriologische Relevanz des menschlichen Verdienstes besonders akzentuiert (Schaede 2004, 399). Im Ergebnis erscheinen Melanchthons Akzentuierungen in der Apologie der Confessio Augustana daher eher als Folge der Zuspitzung in der Auseinandersetzung mit dem römischen Katholizismus denn als Abweichung von seinem ursprünglich funktionalen, erfahrungstheologischen Ansatz, der sich an der unteilbaren Person Christi orientiert, aus welcher alles folgt und an welcher alles hängt.
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4 Die Christologie in der mittleren Lebens- und Arbeitsphase Melanchthons Mit der Klärung der Beziehung zwischen Philosophie und Theologie vollzieht sich in Melanchthons christologischem Denken eine Veränderung. Die ausgesprochen philosophiefeindliche Haltung, die – im Blick auf seine Herkunft und seinen Weg erstaunlicherweise – die Loci communes von 1521 geprägt hat, schwächt sich ab. Zwar bleibt er der großen Linie seiner funktionalen Christologie treu, aber es treten neue Aspekte hinzu. Den Arbeiten zum Kolosserbrief, die die zweite aetas der Loci von 1535 vorbereiten, kommt dabei wesentliche Bedeutung zu.
4.1 Der Kolosserbrief In Wittenberg 1527 zunächst als Vorlesung gehalten, haben die Scholia in Epistolam Pauli ad Colossenses Melanchthon – wie die Loci auch – ein Leben lang begleitet (MSA 4, 209). Die erste vollständige Überarbeitung erscheint 1528, beinahe doppelt so umfangreich wie die Urfassung. Es folgen 1529, 1534 und 1545 weitere Neuauflagen und im Jahr vor seinem Tod 1559 die Enarratio Epistolae Pauli ad Colossenses (CR 15, 1221– 1282). Von Bedeutung ist für uns zunächst der Paradigmenwechsel, den sie in ihrer Gesamtheit hinsichtlich der Beziehung zwischen Theologie und Philosophie repräsentieren. Diese erfährt eine erhebliche Aufwertung, und zwar erstaunlicherweise in Auslegung von Kol 2,8, einer Bibelstelle, bei der man – zumal im Lichte der Loci von 1521 – durchaus scharfe Polemik hätte erwarten können. Stattdessen erscheint die Philosophie als „wahre und gute Schöpfung Gottes“, die dem Menschen in Dingen der Natur und des Sittengesetzes die lex naturalis ins Herz schreibe (MSA 4, 230,12– 20). Die Differenz zwischen Philosophie und Theologie, die wie gezeigt die Loci von 1521 noch befeuert haben, wird nun im Sinne der Komplementarität dadurch ausgeglichen, dass beiden Systemen Bereiche zugewiesen werden, die einander nicht mehr ersetzen sondern ergänzen. In De Philosophia von 1536 führt Melanchthon dieses Programm weiter, indem er sagt: „Ich verkenne keinesfalls, dass die Philosophie einer anderen Art von Lehre angehört, als die Theologie; noch will ich beide so vermischen wie ein Koch viele Suppen zusammenschüttet, sondern ich will, dass der Theologe im Umgang mit der Methode [der Philosophie] gefördert wird. Es wird nämlich notwendig sein, dass er vieles aus der Philosophie entlehnt.“ (Melanchthon 2011a, 137) In die Beziehung zwischen Philosophie und Theologie bringt diese die Heilige Schrift ein, und zwar in der Auslegung durch die frühe Kirche. Darin erfüllt sie ihre Uraufgabe, nämlich die Erkenntnis der Wohltaten Christi zu fördern. Die Philosophie wiederum stellt die wissenschaftlichen Methoden zur Verfügung, einschließlich der Mittel ihrer sachangemessenen Versprachlichung (forma orationis) (Melanchthon 2011a, 135, Fn. 13). So führt sie die Theologie zur „Bildung“, das heißt zum Bewusstsein, „dass die Kirche […]
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nicht nur die Kenntnis der Grammatik, sondern auch vieler anderer Wissenschaften und das Wissen der Philosophie“ benötigt (Melanchthon 2011a, 133). Wie freilich die ungebildete Theologie von Übel ist (Melanchthon 2011a, 134), so ist es auch die ungebildete Philosophie: „Ich strebe nach einer gebildeten Philosophie, nicht nach jenen Spitzfindigkeiten, denen keine Inhalte zu Grunde liegen. Deshalb sage ich, dass man eine ganz bestimmte Art von Philosophie wählen muss, eine solche, die am wenigstens sophistisch ist und die Angemessenheit der Methode berücksichtigt: Von dieser Art ist die aristotelische Lehre […]. Jene einfache Philosophie aber, über die ich rede, bemüht sich zunächst darum, nichts ohne Beweis zu behaupten. So meidet sie leicht absurde Meinungen, weil diese keine Beweise besitzen, sondern lediglich durch sophistische Trugbilder verteidigt werden.“ (Melanchthon 2011a, 137– 138) Auf diese Weise gelingt Melanchthon ein grundlegender hermeneutischer Vermittlungsschritt: Er kann sein bisheriges Verständnis von Theologie beziehungsweise Christologie beibehalten als Disziplinen, die erfahrungsbezogen und praktisch, seelsorgerlich und funktional sich der Glaubensvergewisserung des Einzelnen unterordnen. Gleichzeitig kann er die Philosophie als säkularen Erkenntnisweg einer theologia naturalis im Sinne von Röm 1,19 – 20 akkreditieren und in Kontakt bleiben mit sich selbst und seiner eigenen theologisch-philosophischen Tradition. Damit befreit er Theologie und Philosophie von dem Zwang, die Antagonisten zu sein, als die sie die Loci von 1521 noch präsentiert haben.
4.2 Das Abendmahl als Ort der Christologie Von dieser Position aus kann er nun seinen Ansatz in den Kontext des Abendmahls stellen. Nicht zuletzt im Hinblick darauf hat man seine Christologie als „Abendmahlschristologie“ (Sturm 1972, 73) bezeichnet. Dabei zeigt sich, wie tief er trotz aller frühen Polemik stets in der scholastischen Tradition verwurzelt geblieben ist (Brandy 1991, 39) und zugleich, mit welcher Souveränität er nun scholastisch-philosophische Argumentationsfiguren nutzt, um seine theologisch-christologischen Positionen zu begründen. Dies selbst dann, wenn sie aus Quellen stammen, von denen er sich eigentlich distanziert. Auch in den Scholien zum Kolosserbrief verzichtet er weitgehend auf abstrakte Reflexion über die Naturen Christi und ihre Eigenschaften. Stattdessen begnügt er sich unter Bezugnahme auf den Personenbegriff der mittelalterlichen Scholastik mit der Feststellung, es sei von der unteilbaren Substanz eines vernünftigen Lebewesens (Krüger 2004, 39) auszugehen. Daher müsse auch die Anwesenheit Christi im Abendmahl in der Einheit seiner Person nach beiden Naturen hin konkret aufgefasst werden. Wie dies im Einzelnen zu denken sei – eine Hauptfrage scholastischer Theologie – lässt er offen, wobei rückblickend von späteren Äußerungen her – etwa der Enarratio Symboli Niceni von 1550 – vermutet werden kann, er verstehe das Verhältnis der beiden Naturen Sinne von (göttlicher) Substanz und (menschlicher) Akzidenz. Doch ausdrücklich sagt er das so nie (Hund 2006, 81). Es ist offenkundig, dass er sich
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allein mit dem Faktum begnügt, gründet es doch auf der Verheißung Christi, überall dort zu sein, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind (Mt 18,20). Darüber hinausführende Spekulationen – so meint er – würden nicht nur die Menschen verführen, sondern aus Christus ein Phantasiegebilde machen (Sturm 1972, 75, Fn. 56). Erhellend für diese Art der antispekulativen christologischen Argumentationsführung Melanchthons in seinen mittleren Jahren ist übrigens eine handschriftliche, ursprünglich Luther zugeschriebene Äußerung vom 16. März 1546 zum Abendmahl in Auslegung von 1 Kor 11,24: Der wahre Leib und das wahre Blut werden gereicht im Brot und im Kelch. Nun erhebt sich die Frage, auf welche Wiese kann Christus körperlich im Sakrament anwesend sein, da doch ein Körper nicht gleichzeitig an verschiedenen Orten sein kann. Darauf antworte ich: Christus hat gesagt, er sei im Sakrament gegenwärtig. Deshalb ist er es auch, und zwar wahrhaft und körperhaft, und es ist nicht die Aufgabe der Vernunft, anderes zu suchen: So sagt es das Wort und deshalb ist es auch zwingend so. Was den Körper betrifft, so kann Christus wenn er will überall sein, wo er will. Darum besteht ein Unterschied zwischen seinem Körper und unserem. Hinsichtlich seiner Allgegenwart gibt es nichts zu diskutieren. In dieser Kontroverse wird viel über anderes geredet und auch die Scholastiker sprechen nicht über die Allgegenwart sondern haben eine [zu] einfache Anschauung von der körperhaften Gegenwart Christi. (WA 48, 236; CR 9, 1086 – 1087)
Abermals erkennen wir: Entscheidend ist das „Dass“ der Präsenz Christi in den Elementen, das auf seinem Wort gründet, nicht das „Wie“. Nur diesem Wort zu trauen legt er seinen Lesern und Hörern ans Herz. Zu besonderer Ausprägung findet diese Haltung – am Rande sei darauf hingewiesen – in der Abendmahlsposition der Confessio Augustana Variata Secunda von 1540 (CA Variata). Während Art. X CA davon spricht, „das warer leib und blut Christi wahrhafftiglich unter gestalt des brods und weins im [sic!] Abentmal gegenwertig sey“ (BSELK, 104, CA X), handelt Art X CA Variata von der Anwesenheit Christi „cum [sic!] pane et vino“ (BSELK QuM1, 127, CA Variata X). Eick Sternhagen hat diesen Unterschied dahin gedeutet, Melanchthon habe in diesem von ihm selbst als privatem Dokument verstandenen Text den „Mut“ bewiesen, sich von Luthers christologischer Anwesenheitsbestimmung „in pane et vino“ zu distanzieren, die dieser zum Beispiel in seinem Bekenntnis von 1528 verwendet (Sternhagen 2003, 121– 131, 125). Hund dagegen meint, die Veränderung sei weniger auf theologische Gründe zurückzuführen als darauf, dass sich Melanchthons Hoffnung auf Anerkennung der Wittenberger Bewegung und Wiederherstellung der kirchlichen Einheit zerschlagen habe, sodass er glaubte verzichten zu können auf die für den Wandlungsgedanken offene Formulierung von Art. X CA (Hund 2006, 75). Unabhängig von der Bewertung liegt aber auf der Hand, dass auch mit dieser Veränderung eine spekulative Reduktion der Christologie einhergeht. Von daher ist nicht nur zu konstatieren, Melanchthon habe die Gedanken Luthers weiterentwickelt, Kompromisse bewirkt und kirchenpolitisch „durch seine Einigungsbestrebungen das Untergehen der lutherischen Bewegung verhindert“ (Sternhagen 2003, 130). Für unser Thema fügen wir hinzu: Zugleich hat er damit neue, seelsorgerlich akzentuierte Möglichkeiten eröffnet für das Verständnis des Abendmahls als
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eines Sakraments der Nähe Christi. Sein Wort ist Haltepunkt, Anker und Grund aller Gewissheit, nicht menschliche Erklärung und Spekulation. Was Christus zusagt, steht fest.
4.3 Die Loci von 1535 Dies findet seinen Widerhall in den Loci communes von 1535. Mit ihnen beginnt – vorbereitet unter anderem durch die Scholien von 1527 – eine vollständig überabeitete neue, die zweite Editionsreihe von „Melanchthons Schicksalsbuch“ (MSA 2/1, 164). Zwar folgte dieser zweiten aetas eine weitere dritte im Jahr 1544, und auch diese ist in mehreren Ausgaben verbessert und erweitert worden. Testamentarisch bekannt hat sich der Reformator am Ende aber zu den Loci von 1535 (Scheible 1993b, 88), sodass sie für seine theologische Arbeit insgesamt als besonders wichtig anzusehen sind. Nun tritt der zunächst über das pignus- und in der Apologie über das meritumMotiv entwickelte christologische Ansatz in den Kontext der Trinitätslehre. Damit setzt Melanchthon seine Überlegungen in Beziehung zur frühen Kirche. Den äußerlichformalen Grund für diese Akzentuierung hat die Wirksamkeit der Antitrinitarier Michel Servet und Johann Campanus seit 1532 geliefert (Scheible 1993b, 88; Hund 2006, 76). Als inhaltlich bedeutsam wird man die Wertschätzung ansehen müssen, die der Reformator dem frühkirchlichen Christuszeugnis entgegenbringt; ein Umstand, der uns bei der Formulierung der theologischen Aufgabe der Kirche im Gegenüber zur Philosophie bereits begegnet ist. Im humanistischen Geist des Ad-Fontes-Prinzips erwartet er umso mehr Gewissheit und Verlässlichkeit der Erkenntnis, je älter die Quellen sind, derer man sich bedient. Für sein Bemühen, zu belastbaren christologische Aussagen zu kommen, hat daher die Kontinuität zur frühen Kirche zentrales Gewicht. Dahinter steht die Auffassung, nur unter dieser Voraussetzung könne die Kirche ihrem Bildungsauftrag nachkommen, der nicht auf die fides historica zielt, sondern darauf, die fiducia der Gemeinde zu vergewissern (Mahlmann 1969, 11– 12). Dazu genügt es allerdings nicht, die überlieferten Formen und Schemata zu repristinieren.Vielmehr ist das im Dogma der Alten Kirche überkommene Zeugnis von Jesus Christus stets neu zu formulieren und anzueignen (Mahlmann 1969, 14). Die Schwierigkeit und Anfälligkeit dieses Weges ist ebenso offensichtlich wie unbestritten. Dennoch sieht Melanchthon zu ihm keine Alternative.Vielmehr hält er die Gefahr der Verfälschung der Lehre – und damit Verwirrung und Verunsicherung der Menschen – für umso größer, je weiter sich die aktuelle Theologie von diesen ihren Wurzeln entfernt und auf das Feld der Spekulation begibt (Sturm 1972, 83). Deshalb bleibt er auch hier unermüdlich, Christus von seinen Wirkungen her zu verstehen, statt über sein Wesen beziehungsweise seine Eigenart im innertrinitarischen Verhältnis zu sprechen. In den Loci von 1535 äußert sich dies unter anderem darin, dass sie – anders als ihr Vorgänger von 1521 – nicht mehr nur als Abriss des Römerbriefs zu lesen sind, sondern durch zentrale Aspekte der johanneischen Theologie ergänzt werden (Scheible 1993b, 88). In Auslegung des Dialogs zwischen Jesus und Philippus in Joh 14, 8 – 9 etwa geht
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Melanchthon auf die Frage der Erkenntnis Gottes beziehungsweise Christi ein, und wir begegnen hier den bekannten antispekulativen Argumentationsmustern: Christus ruft Philippus zurück von der Erforschung der geheimen Natur und erinnert daran, auf welche Weise Gott zu suchen und zu erkennen sei. Er sagt nämlich in Joh 14,9: Wer mich sieht, der sieht den Vater. Warum also glaubst Du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir? Viel Unruhe in den Seelen der Menschen rufen Spekulationen über Gott hervor, weil sie ohne das Wort Gottes und die von ihm gesetzten Zeichen über seine Natur und seinen Willen disputieren […]. Diese Erkenntnis [Christi, der im Evangelium geoffenbarten Barmherzigkeit und der Gegenwart Gottes] in allen Gefahren und Nöten zu befördern und zu befestigen und die Seele zu Gottesfurcht, Glauben und Gebet anzuspornen ist viel richtiger und besser als unnütze Spekulationen zu treiben und über schloastische Spitzfindigkeiten zu streiten, die ja doch die verborgene Natur Gottes nicht erklären. (CR 21, 351– 352)
Noch pointierter als 1521 tritt in den Loci von 1535 der Verweis auf den fiducia-Glauben in den Vordergrund als diejenige „Vernunft“, mit der allein Christus und seine Wohltaten wahrgenommen beziehungsweise erkannt werden können. Auch sonst haben sich die christologischen Grundaussagen nicht verändert: Nach wie vor bleiben – jetzt freilich eher unter Verzicht auf aggressive Untertöne gegen die Scholastik – die Geheimnisse Gottes der philosophischen Spekulation entzogen, im Bewusstsein, dass sie sich der logischen Deduktion nicht erschließen. So bleibt Melanchthon auch in seiner mittleren Schaffensphase seinem christologischen Ansatz treu. Er erweist sich als ein Denker, der „bei allem Streben nach Klarheit, vielleicht Dank diesem Streben, [ausgestattet ist mit der] bei Theologen seltene[n] Einsicht, dass sich vieles und gerade das Wichtigste in Fragen des Glaubens und der Existenz nicht formulieren und definieren läßt“ (Scheible 1993b, 88). Oder mit seinen eigenen Worten: „[Es] kann der Wille Gottes, dessen Erkenntnis zum Heil notwendig ist, auf keine Weise durch den Verstand ergriffen werden, [als] nämlich [so], dass Gott die Sünden nachlassen will […]. Gott auf irgendeine Weise annehmen und seinen Willen erkennen kann der menschliche Geist [nur], weil [Gott] immer irgendein Wort und irgendein Zeichen gibt, auf welche sich jener beziehen und durch welche er Gott fassen kann.“ (CR 21, 351) Auffällig – im Blick auf die Eigenart seines christologischen Ansatzes jedoch nicht erstaunlich – ist, dass der Reformator im Abschnitt De Tribus Personis Divinitatis, in dem er die christologischen Fragen behandelt, auf soteriologische Spekulationen völlig verzichtet (CR 21, 353 – 364). Abermals geht es ihm nicht um feingliedrige, dogmatisch-theoretische Begründungsketten, sondern darum, dass Christus am Kreuz die Vergebung der Sünden erwirkt hat. Das Wie und Warum erläutert er nicht, weil für ihn der hier angemessene Modus nur der der Hingabe sein kann. So finden wir in den Loci von 1535 inhaltlich dieselbe Formulierung, die sich als Grunddatum durch seine christologischen Äußerungen zieht, wenn er betont, Gotteserkenntnis folge nicht aus müßiger Spekulation. Stattdessen müsse man „mit erschrockenem Geist die Sünden erkennen, und sich wiederum aufrichten lassen durch die Stimme des Evangeliums, sich auf Christus werfen und dort Barmherzigkeit annehmen, Trost empfangen und Gottes Gegenwart und Güte erkennen. Nicht bei den Geheimnissen der Natur Gottes
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beginnt der Weg zur Erkenntnis [seines] Willens, sondern indem man Christus erkennt und die Barmherzigkeit, die im Evangelium offenbar geworden ist, erkennt man die Gegenwart Gottes.“ (CR 21, 352)
5 Der späte Melanchthon Die verschiedenen Editionen und Fassungen der Loci communes sind auch ein Spiegel der theologischen Debatten, an denen Melanchthon im Lauf der Jahre selbst teilgenommen hat. So ist die dritte aetas (1543/1544) die wohl „dogmatischste“ aus seiner Feder. Zum ersten Mal widmet er – wie sich bereits aus dem Titel ergibt wieder durch Servet motiviert (CR 21, 595) – der Christologie im Abschnitt De Tribus Personis Divinitatis einen eigen Topos De Filio (CR 21, 613 – 616), den er für die Fassung von 1559 dann noch einmal erheblich erweitert beziehungsweise ergänzt.
5.1 Die Loci von 1559 Im Blick auf seinen christologischen Ansatz geschieht diese Erweiterung im Kontext des victima- und satisfactio-Motivs. Er verknüpft es mit der Vorstellung von Christus als Mittler: Im Sinne von Joh 14,6 und Joh 14,13 beziehen sich auf seine Person (MSA 2/1, 213,3; MSA 2/2, 675,8) der Glaube (MSA 2/1, 213,7) und das Gebet (Ratschow 1982, 61). Wie zentral die Zuschreibung der Mittler-Eigenschaft in den Loci von 1559 ist, zeigt sich nicht zuletzt an der Orthographie: Melanchthon schreibt das Wort „Mittler“ (mediator) in der Regel groß und stellt es so auf eine Ebene mit dem „Christus“-Titel. Entsprechend heißt es bereits im Brief vom 10. November 1553 an Joachim II., Kurfürst von Brandenburg, in Auseinandersetzung mit Franciscus Stancarus, der die Mittlereigenschaft Christi auf dessen menschliche Natur eingegrenzt hat, im Sinne der Loci von 1559: „Der Herr Christus ist und bleibt Mittler nach beiden Naturen. Denn zu des Mittlers Eigenschaft gehört nicht allein das Leiden, sondern auch der Sieg und die Fürbitte […]. Dieses sind proprietates der göttlichen Natur: qui propter nos homines et propter nostram salutem descendit coelo; item: exinanivit se [d. h.: er hat sich entäußert].“ (CR 7, 1087– 1088) Im Anschluss an Anselm von Canterbury geht es für Melanchthon im Kern auch hier um das brutum factum, dass Christus durch sein Opfer am Kreuz dem Sünder jene Genugtuung erwirkt und erbringt, die Gott ihm als Gerechtigkeit zurechnet. Um dies im Einzelnen zu begründen, setzt er sich in den Loci von 1559 im Abschnitt De Filio gleichermaßen unter Bezug auf biblische Begründungen und Äußerungen der frühen Kirche intensiv mit den beiden Naturen Christi auseinander, insbesondere mit der biblischen Begründung seiner Gottheit (Ratschow 1982, 57– 59). Aber auch dies ist eben keine Christologie um ihrer selbst willen.Vielmehr geht es stets darum, sich der Erlösung des Menschen zu vergewissern, wie etwa in Auslegung von Phil. 2,6, wo er betont, Christus habe, wiewohl
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an Weisheit und Macht dem Vater gleich, […] die Gottgleichheit nicht geraubt. [Da er] gesandt [war], Gott im Leiden gehorsam zu sein, hat er nicht gegen diese Berufung gehandelt […], sondern sich entäußert, das heißt, seine Macht nicht herausgestellt, sondern sich erniedrigt, indem er die Gestalt eines Knechts angenommen hat. Anders gesagt: Er hat mit der menschlichen Natur [die] Sterblichkeit angezogen und war wie ein Mensch [mit allen] Affekten, [insbesondere] Angst, Traurigkeit und Schmerz. Deshalb unterscheiden wir die Naturen, aber zugleich wissen wir, dass wegen der [innertrinitarischen] Einheit der Person [des Vaters und des Sohnes] dieses wahr ist: Gott hat gelitten, ist gekreuzigt worden und gestorben; deshalb [sollst] du nicht denken dass die menschliche Natur allein die Erlöserin [sei] und nicht der ganze Sohn Gottes [nach beiden Naturen]. Denn wenn [auch] die göttliche Natur nicht gelitten hat, [sollst] du wissen, dass der Sohn, in Ewigkeit mit dem Vater, der Erlöser ist. [Diese] Grundsätze werden überliefert in der Lehre von der communicatio idiomatum. Sie handelt von den Eigenschaften, die [der menschlichen und der göttlichen Natur Christi] gemeinsam sind und besagt konkret, dass – wie leicht einzusehen ist – sich die Eigenschaften [der Naturen] der Person [gegenseitig mit]teilen. (MSA 2/1, 31– 199.198,15)
Dies soll das Herz annehmen und dem Verstand von Christus genügen (Krüger 2004, 51). Und selbst da, wo der Reformator – scheinbar abweichend von seinem funktionalen Ansatz – sich mit der innertrinitarischen Beziehung zwischen Vater, Sohn und Geist auseinandersetzt (MSA 2/1, 30 – 187.180,4), geschieht es nicht um diffiziler Distinktion willen, sondern ausschließlich um den Menschen seines Heils zu vergewissern und auf den Trost hinzuweisen, der aus der Gottheit Jesu folgt. Besonders deutlich zeigt dies seine Auslegung von Joh 1,14, wo er sagt: […] zwei aus der Schrift entnommene Argumente [sind] nach meinem Urteil nützlich, um die Frommen zu lehren und zu trösten [!]. Zunächst ist es notwendig zur Kenntnis zu nehmen, dass Christus in seiner Natur Gottes Sohn ist. Denn das Evangelium unterscheidet adoptierte Söhne von der Art Sohn, die Christus ist. Johannes nennt ihn nämlich im 1. Kapitel seines Evangeliums eingeborenen Sohn […].Weil deshalb [!] kein Zweifel bestehen kann über die Natur des Sohnes, ist es zwingend, dass die göttliche Natur sein Wesen ist. Was aber außerhalb der Person des Vaters und göttlicher Natur ist, muss notwendigerweise [zugleich] eine Person sein, wie es auch Paulus über Christus sagt (Kol 2,9): „In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.“ […] Das zweite Argument ergibt sich daraus, dass die ganze Bibel […] lehrt, Christus anzubeten, anzurufen und ihm zu vertrauen. Sie gesteht ihm also unbegrenzte Macht zu, überall zu helfen, die Herzen zu erkennen und zu gewähren, was Gerechtigkeit und ewiges Leben gibt. Darum ist es notwendig, dass er göttlicher Natur ist. (MSA 2/1, 13 – 188.187,2)
Diese Beispiele – und weitere könnten hinzugefügt werden – zeigen einmal mehr die Konsistenz der christologischen Anschauungen Melanchthons von seinen frühen bis zu seinen späten Äußerungen. Im Ergebnis muss deshalb in der Tat der Einschätzung widersprochen werden, seine Christologie litte unter einem „christologischen Defizit“, oder es hätte die Soteriologie die Christologie innerhalb der Trinitätslehre „aufgesogen“ (Ratschow 1982, 62). Vielmehr lassen sich auch die Loci von 1559 nicht aus dem Gesamtbild seiner erfahrungstheologisch beziehungsweise funktional ausgerichteten Christologie herauslösen, und auch hochtheologische Reflexionen werden immer wieder zurückgeführt auf die existentiellen Fragen nach Leben und Sterben, Glauben und Hoffnung, Leiden und Zuversicht des Menschen, dem die Person Jesu Christi als
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Weg,Wahrheit und Leben vorgestellt wird. Seine beneficia – die Aufhebung der Schuld und des ewigen Todes – sind auch in den Loci von 1559 allgegenwärtig: So sind die Vergebung der Schuld und der ewige Tod miteinander verknüpft. Es ist nämlich ein und dieselbe Wohltat Christi, die er [uns] ungeschuldet schenkt: die Schuld zu tragen bedeutet Gottes Zorn zu versöhnen, [denn] nichts anderes ist der ewige Tod als zu wissen, dass der schreckliche und unaussprechliche Zorn Gottes bleibt, wie Johannes sagt: „Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben.Wer aber dem Sohn nicht gehorsam ist, der wird das Leben nicht sehen, sondern] der Zorn Gottes bleibt über ihm“ (Joh 3,36). Wir wissen, dass die Schulden wie der ewige Tod gleichermaßen getragen werden um Christi Willen [propter christum] und nicht wegen irgendeiner Kompensation durch uns. […] Die Wohltaten Christi sind diese: Die Schuld und den ewigen Tod zu tragen, das heißt den unermesslichen Zorn Gottes zu versöhnen. (MSA 2/2, 578,14– 579,17)
5.2 Letzte Worte Auf einem vielzierten kleinen Blatt notiert der sterbende Philipp Melanchthon in zwei Kolumnen die Gründe, „warum Du den Tod nicht mehr fürchten musst“. Auf der linken Seite, die sich mit der Welt in ihrer zeitlichen Vorfindlichkeit befasst, nennt er: „Du scheidest von Sünden, wirst befreit von Sorgen und von der Wut der Theologen.“ Auf der rechten Seite entwirft er das Panorama einer Existenz vor Gottes Angesicht: „Du wirst ins Licht kommen. Du wirst Gott sehen. Du wirst den Sohn Gottes betrachten. Du wirst jene geheimen Wunder lernen, die Du in diesem Leben nicht hast begreifen können: Warum wir so gemacht sind, [und] welcher Art die Verbindung der zwei Naturen in Christus ist.“ (CR 9, 1098) Die auffällige Verwendung der zweiten Person Singularis mag den Gedanken nahelegen, er habe – im Rückblick und Rückgriff auf seine theologische Existenz – in seinen letzten Stunden sich selber trösten und Mut zusprechen wollen. Für unsern Zusammenhang ist diese Notiz als letztes „christologisches Wort“ des Reformators jedoch interessant, weil sie den Endpunkt des thematischen Bogens markiert, mit dem wir uns beschäftigt haben. Er beginnt bei der ersten Fassung der Loci communes von 1521, überwölbt die mittlere und spätere Schaffensphase und gelangt schließlich – was seine Gültigkeit noch einmal mit besonderem Ernst hervorhebt – sub specie aeternatis zur Bestätigung des Anfangs. Seinen Ansatz fasst er dort in den Satz, die Geheimnisse Gottes seien eher anzubeten als kognitiv zu erforschen (LC 21997, 18 – 19,8). Der Gedanke, dass daher die Christologie ihren sachangemessenen Ort in der Schauung beziehungsweise Betrachtung und im Gebet habe, findet sich in diesen letzten Worten unverkennbar wieder. Das in seinem letzten Memorial verwendete Wort intueberis bezeichnet nämlich nicht ein bloßes Sehen, sondern das bestaunende Anschauen im Sinne genauer Betrachtung, aufmerksamer Beobachtung, und umfasst damit wesentliche Elemente dessen, was wir unter Meditation verstehen. Dieser Befund bestätigt unsere Ergebnisse mit der Klarheit eines noch einmal gänzlichen anderen Lichts. Christologie betreiben bedeutet für den Reformator: Christus anschauen, um zu erkennen, was er schenkt. In den verschiedenen, zum Teil
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hochkontroversen Zusammenhängen, in denen er sich christologisch geäußert hat, geht es ihm daher niemals nur um den theoretisch-spekulativen Diskurs, sondern auf einer tieferen Ebene stets um den eminent praktischen, funktional-existenzbezogenen Weg, das Leben und – wenn es soweit ist – auch das Sterben im Angesicht Gottes zu bestehen. Am Anfang wie am Ende ist für Philipp Melanchthon also nicht entscheidend, die Geheimnisse Gottes in Jesus Christus kognitiv zu analysieren und zu definieren, so notwendig zumindest der Versuch in einzelnen Kontroversen auch sein mag. Es kommt vielmehr darauf an, ihn zu „betrachten“, in der Erwartung und Gewissheit, dabei zu begreifen, was sich auf dem Weg der Deduktion verschließt und in die Aporien der „rabies theologorum“ führt.
Quellen Melanchthon, Philipp. 22011a. „Rede über die Philosophie“ (De philosophia, 1536). Mel.Dt 1: 131 – 141. Melanchthon, Philipp. 22011b. „Rede über das unentbehrliche Band zwischen den Schulen und dem Predigtamt“ (Oratio de necessaria coniunctione scholarum cum ministerio evangelii, 1543). Mel.Dt 2: 25 – 42.
Literatur Brandy, Hans Christian 1991. Die späte Christologie des Johannes Brenz. Tübingen. Ebeling, Gerhard. 1985. „Leben und Lehre in Luthers Theologie.“ In: ders. Lutherstudien. Bd. 3, Begriffsuntersuchungen, Textinterpretationen, Wirkungsgeschichtliches. Tübingen. Frank, Günter. 2011b. „Topische Dogmatik im Zeitalter der Konfessionalisierung. Philipp Melanchthon, Wolfgang Musculus, Melchior Cano.“ In Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas. LStRLO 13, hg. v. Irene Dingel und Armin Kohnle, 251 – 270. Leipzig. Hammer, Karl. 1971. Deutsche Kriegstheologie 1870 – 1914. München. Hund, Johannes. 2006. Das Wort ward Fleisch. Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger Christologie und Abendmahlslehre in den Jahren 1567 und 1574. Göttingen. Krüger Thilo. 2004. Empfangene Allmacht. Die Christologie Tileman Heshusens (1527 – 1588). Göttingen. Mahlmann, Theodor. 1969. Das neue Dogma der lutherischen Christologie. Problem und Geschichte seiner Begründung. Gütersloh. Ratschow, Carl Heinz. 1982. Jesus Christus. HST 5. Gütersloh. Schaede, Stephan. 2004. Stellvertretung. Tübingen. Scheible, Heinz. 1993b. „Philipp Melanchthon.“ In Gestalten der Kirchengeschichte, Reformationszeit II, Bd. 6, hg. v. Martin Greschat, 75 – 101. Stuttgart. Sternhagen, Eick.2003. „Melanchthons Abendmahlsverständnis.“ In Zur Geistesgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Fragmenta Melanchthoniana 1, hg. v. Günter Frank et al., 121 – 134. Ubstadt-Weiher. Sturm, Erdmann. 1972. Der junge Zacharias Ursinus. Sein Weg vom Philippismus zum Calvinismus (1534 – 1562). Neukirchen.
Bo Kristian Holm*
Theologische Anthropologie 1 Einleitung
Melanchthons Anthropologie ist, wie seine Theologie, Gegenstand ständiger Entwicklung und Präzisierung und durch direkte wie indirekte Auseinandersetzung mit anderen, vor allem mit Luther, Erasmus und Calvin, geprägt. Wie diejenige Luthers ist sie durch einen grundlegenden Dualismus gekennzeichnet. Melanchthons Anthropologie hat nicht nur den theologisch verstandenen, sondern auch den natürlichen Menschen im Blick. Letzterer stünde zwar unter der Macht der Sünde, sei aber gleichzeitig immer auch von einer tiefen Spannung zwischen eben dieser Sünde und den von Gott gegebenen Möglichkeiten geprägt. Hieraus ergeben sich Aussagen zur Willensfreiheit, die Melanchthon in scheinbaren Kontrast zu Luther setzen.
2 Theologie und Lehrtätigkeit Als Melanchthon 1518 in Wittenberg ankommt, hat er bereits eigene Lehrbücher ausgearbeitet und publiziert. An seinen De Rhetorica libri tres von 1519 lässt sich zeigen, wie er sowohl das Verhältnis zwischen Rhetorik und Lehrbuch als auch dasjenige zwischen Lehrer und Studenten versteht: Das rhetorische genus demonstrativum, das traditionell Lob und Tadel bezeichnet, wird durch die Belehrung, das docere, erweitert, wodurch das Verstehen eines Textes von Anfang an in eine direkte kommunikative Praxis eingebunden ist. Dieser Zugang wird zwei Jahre später in die Loci communes überführt. Dass man mit Menschen pädagogisch umgehen muss, ist dann nicht mehr nur eine Lehrfrage, sondern bekommt tiefere theologische und seelsorgerliche Bedeutung. Die enge Verbindung von Lehrinhalt und seelsorgerlichem Wirken hat vor allem in Melanchthons Exegese eine große Bedeutung gehabt (vgl. Wengert 1987, 208 – 211; Fraenkel 1959, 131). Weil für Melanchthon das Endziel der Theologie, das finis ultimum, immer die Seelsorge ist (LC 21997, O,16; Bayer 1994, 154; alle Hinweise zur prima aetas der Loci folgen der Paragraphen-Nummerierung in LC 21997), wird es für sein Verständnis von Heilsgewissheit ausschlaggebend, dass man sich nur einer Sache gewiss sein könne, wenn man sie auch verstehen und wiederholen kann. In seinem frühen Werk De artibus liberalis (1517, CR 11, 5 – 14), hebt er hervor, dass nur die Dialektik dem Menschen Zugang zur logischen Gewissheit geben könne (Schneider 1997, 27). Entsprechend richtet sich seine Darstellung in den Lehrbüchern zur Dialektik, Compendiaria dia-
* Für sprachliche Überprüfung danke ich Frau Kinga Zeller. DOI 10.1515/9783110335804-029
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lectices ratio (1520, CR 20, 711– 764) und Rhetorik, Institutiones rhetoricae (Wittenberg 1521) an seinem Verständnis vom Menschen aus, konzentriert sich auf dasjenige, was für das Verständnis bedeutsam ist und verzichtet auf Spitzfindigkeiten (Kuropka 2002, 16 – 20). Diesen Zugang setzt er auch theologisch, beispielsweise in seiner Exegese, fruchtbar um und hebt hervor, dass jedes Argument so klar und verständlich formuliert werden müsse, dass jeder Student es greifen könne. Nur das Greifbare kann in Melanchthons Augen trösten (Hoffmann 1997, 68). Selbst verständlich und überzeugend reden zu können, wird deswegen ein Hauptziel in der Ausbildung. Diese müsse sich zudem daran orientieren, die Jugend zur kritischen Beurteilung anderer zu erziehen (Classen 2003a, 309), und sie dadurch in eine gewisse selbstständige Tätigkeit im Umgang mit der Welt einüben.
3 Die theologische Anthropologie in den Loci communes von 1521 3.1 Der Mensch als Sünder und Geschöpf Die für eine reformatorische Theologie unumgängliche Spannung zwischen menschlicher Passivität einerseits (in der Rechtfertigung) und menschlicher Aktivität andererseits (in der Welt), ist auch bei Melanchthon ein ständiges Thema. Die gängige Auffassung von seinem ersten theologischen Lehrbuch, den Loci communes von 1521, stellt heraus, dass hier die Unfreiheit, Passivität und alles durchdringende Sündhaftigkeit des Menschen emphatisch hervorgehoben, und der Mensch vor allem von seinem Sündersein aus gesehen wird (wie bei Peters 1979, 60 – 61). Dabei werden aber öfters wesentliche Nuancen übersehen, auf die im Folgenden hingewiesen wird. Melanchthons Verständnis des für die Heilsgewissheit Notwendigen führt in den ersten Loci zu einer vollständiger Ablehnung menschlicher Freiheit und einer entsprechenden Hervorhebung der göttlichen Alleinwirksamkeit. Alles geschehe, mit Hinweis auf Röm 11,36 und Eph 1,11, auf Grund göttlicher Vorherbestimmung (1,19 – 20). Dabei ist es das eigentliche Ziel der Loci, dem Leser einen Zugang zur Bibel zu eröffnen, in welcher Heilsgewissheit zu finden sei. Im Zentrum stehen die Wohltaten, die beneficia Christi, und definieren den möglichen Erkenntnisraum des Menschen. Was außerhalb der beneficia Christi liegt, wird als Geheimnisse der Gottheit verstanden, die besser angebetet statt erforscht werden sollen. Der Mensch solle Gott in dem Sohn betrachten und dadurch der eigenen Hinfälligkeit gewahr werden (O,6). Die Anthropologie wird im kritischen Gespräch mit Positionen aus der christlichen und antiken Tradition entfaltet. Hier wird eine strenge Grenze zwischen dem Zeugnis der Schrift einerseits und dem Urteil der menschlichen Vernunft andererseits gezogen: Alles, was in der Tradition den freien Willen hervorhebe, habe die Wohltaten Christi verdunkelt (1,4). In diesem Kontext unterscheidet Melanchthon, ohne philosophischen Hinweis, die menschlichen Kräfte nach zwei Kategorien: 1) die Erkenntniskraft, die als
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Fähigkeit des Verstehens und Wahrnehmens definiert wird; und 2) die Kraft, durch die Menschen einer Sache, die sie zuvor erkannt haben, folgen oder sie ablehnen. Letztere Kraft wird auch als Wille, Leidenschaft (affectus) oder Trieb (appetitus) beschrieben (1,8 – 9). Diese Unterscheidung, die Melanchthon in Gersons De theologia mystica finden kann, wird dem gängigen trichotomischen Verständnis, das auch Luther vertritt und nach dem der Mensch in Seele, Geist und Fleisch gegliedert wird, entgegengestellt (2,132). Der Wille wird bei Melanchthon die Quelle der Affekte, wodurch das menschliche Herz ins Zentrum der Betrachtung rückt (zur Mühlen 1996, 328 – 331). Dass dem Menschen auch ein positiver Zugang zu seiner Kreatürlichkeit geöffnet ist, zeigt sich vor allem in der Rechtfertigungslehre. Ein Hinweis zur Geschöpflichkeit des Menschen begegnet aber schon im Zusammenhang mit der Sündenlehre und stellt dort den positiven Hintergrund dem gefallenen Zustand gegenüber: Als Geschöpf sei der Mensch dazu geschaffen, von dem Geist geführt zu werden. Nach dem Fall sei der Geist aber nicht mehr des Menschen gubernator. Ohne himmlisches Licht und Leben werde der Mensch blind und suche nur noch das seine. Der gefallene Mensch sei von vornherein in sich verkrümmt (pranum) (2,8; 53) und könne geistliche Dinge nicht lieben (2,9). Eigenliebe (amor sui) wird entsprechend als der höchste Affekt der Natur des Menschen verstanden (2,12) und die Erbsünde als lebendige Wirklichkeit (energia), die Sünde erzeugt (2,26). Weil in jeder scheinbaren Tugend auch die Eigenliebe am Werke sei, seien auch alle lobenswerten Werke hervorragender Menschen, wie von Sokrates oder Cato, als unreine Laster und nicht als wahre Tugenden zu beurteilen (2,31– 2). In dieser Beurteilung trennen sich die Philosophie und die Theologie voneinander (2,45), und die Theologie müsse mit Bezug auf Paulus in dem Menschen Fleisch und Geist, alten und neuen Menschen unterscheiden (2,61– 67). Weil der alte Mensch Gott nur um des eigenen Vorteils willen lieben könne (2,89), seien alle scholastischen Lehren vom Billigkeitsverdienst zu verwerfen (2,94). Die Erkenntnis der Sünden ist deswegen für den natürlichen Menschen zwar nur mit dem Licht des Geistes möglich, trotzdem bleibt auch hier für den pädagogisch orientierten Melanchthon ein Bezug zu der natürlichen Vernunft übrig. Dass die natürliche Vernunft nicht völlig von der Sünde zunichte gemacht worden sei, belegt sein Verständnis des Naturgesetzes, das er als gemeinsames Wissen, dem alle Menschen zustimmen können (3,9), versteht. Das Naturgesetz zeige sich vor allem in der theoretischen Wissenschaft und in der Mathematik (3,10). Wichtig für Melanchthons Anthropologie ist aber, dass das Naturgesetz in Folge der Naturrechtstradition den Menschen in einen sozialen Zusammenhang stelle, in dem Gott geehrt, kein Mensch geschädigt und alle Güter gemeinsam genutzt werden sollen (3,17– 19; 33 – 37).
3.2 Der Mensch unter der Gnade Von Anfang an ist Melanchthons Verständnis des Evangeliums vom Zusammenhang und Unterschied zwischen Gnade und Gabe gekennzeichnet. Immer stehen die externe vergebende Gnade und Gottes Gunst in einer engen Verbindung zu der internen
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Präsenz des Heiligen Geistes, dessen Frucht der Glaube an das Evangelium und an die göttliche Gnade ist. Nur mit dem Geist ist es dem Menschen möglich, dem ganzen Wort Gottes zuzustimmen (6,20). Obwohl Melanchthon diese Relation unterschiedlich entfaltet, ist die simultane Doppelheit zwischen externer Vergebung und interner Erneuerung in seinen Werken grundlegend. Das Verständnis von Gnade als favor dei gewinnt für Melanchthon in den 1520er Jahren zunehmend an Bedeutung. Einen ersten Meilenstein in seiner theologischen Entwicklung markiert in diesem Zusammenhang der Römerbriefkommentar von 1532 (Schäfer 1997, 104). Von entscheidender Bedeutung ist hier, dass Melanchthon die Gabe Gottes mit dem Heiligen Geist selbst im Herzen des Menschen identifiziert. Der Geist übernimmt die Rolle, die bei Luther öfters dem gegenwärtigen Christus zugeteilt wird. Die Gnade wird entsprechend mit dem propter Christum eng an die Christologie gebunden. Der Sühnetod Christi ist für Melanchthon die Basis für die Verheißung, die der Menschen nur im Glauben, das heißt in dem Vertrauen, das der Geist schafft, ergreifen kann. Melanchthons Darstellung der Rechtfertigungslehre in den Loci 1521 ist im Vergleich mit der Vorarbeit, der Capita, durch seine schöpfungstheologische Erweiterung bemerkenswert. Diese enge Verbindung von Rechtfertigungs- und Schöpfungslehre bei Melanchthon wurde oft übersehen (vgl. dazu Grosse 2003, 83 – 86). Am Anfang des locus stellt Melanchthon fest, dass der Mensch gerechtfertigt werde durch die Tötung durch das Gesetz und durch die Erweckung zum Leben durch das Wort der Gnade. Mit Gottes Wort könne der Glaubende jetzt auf die göttlichen benevolentia vertrauen, was dem Herzen Frieden bringe und spontane Gesetzeserfüllung folgen lasse. Melanchthons Verständnis von Gnade als Gunst Gottes und das damit zusammenhängende Verständnis von der Gabe Gottes steht in enger Verbindung zu Senecas Begriff von beneficia (vgl. dazu Saarinen 2007). Seneca zufolge ist das eigentliche beneficium [Wohltat] die benevolentia, womit die Wohltat ausgeübt wird. Mit der Betonung der göttlichen benevolentia habe der glaubende Mensch nicht mehr einen Richter im Himmel, sondern einen Vater, und mit dem hieraus resultierenden Vertrauen müsse alles, was Gott tut und in der Geschichte getan hat, interpretiert werden: Wer so kraft des Geistes die Schöpfung der Dinge beurteilt, der nimmt auch die Macht Gottes, des Urhebers solcher großer Dinge wie seine Güte wahr. Wenn er fühlt, daß er alles gleichwie aus den Händen des Schöpfer empfängt, das Leben, die Nahrung und das Kind. Und das alles überläßt er dem Schöpfer, damit er es lenkt, regiert, verwaltet und, was er will, nach seiner Güte schenkt. Dieser Glaube an die Schöpfung ist keine kalte Meinung, sondern eine sehr lebendige Erkenntnis der Macht wie der Güte Gottes, die sich auf alle Geschöpfe ergießt, die alle Geschöpfe regiert und umsorgt. (6,64– 5)
Diese rechtfertigungstheologischen Folgen für die Schöpfungslehre sind bis jetzt nur wenig beachtet, aber das Vertrauen in die benevolentia Gottes eröffnet für den Menschen hier einen nicht-spekulativen Zugang zu der Schöpfung als Gabe. Mit dem inneren Zusammenhang zwischen Gottes Schöpfertat und dem alltäglichen Leben des Menschen greift Melanchthon Luthers kleinem Katechismus vor (für Peters [1991, 56 – 91] ist es Melanchthon, der 1532 in dem Catechismus puerillis Luthers „Kette von
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Gottesgaben“ übernimmt). Gleichzeitig zeigt sich hier Melanchthons kreatives Vermögen (in Abgrenzung von Dilthey [1914, 162], nach dem Melanchthon ohne schöpferisches Vermögen war), durch das er das Verständnis des sich in der Natur offenbarenden Gottes, das in dem Renaissance-Humanismus verbreitet war (Starobinski 1997, 64), in das reformatorische Schöpfungsverständnis integriert. Dadurch wird sein positives Verständnis von der göttlichen Gabe der menschlichen Vernunft schöpfungstheologisch unterstützt: Der Mensch erscheint mit allen seinen Fähigkeiten und Gaben als derjenige, der aus Gottes Gnade alles empfängt. An dieser Einsicht hat Melanchthon zeit seines Lebens festgehalten. Sie öffnet die reformatorische Schöpfungslehre für eine Einbeziehung des Naturrechtsdenkens. Das Verständnis vom Schöpfer als barmherzigen Vater verweist auf einen wesentlichen Aspekt in Melanchthons Menschenbild. Wo Luther in für seine Rechtfertigungslehre sehr zentralen Passagen das Ehe-Bild verwendet, wird bei Melanchthon durchgehend das Vater-Kind-Bild bevorzugt. Obwohl sich das Ehe-Bild vereinzelt auch bei Melanchthon finden lässt, zum Beispiel in der Auslegung von Joh 3,29 in den Annotationes in Johannem (CR 14, 1984); wird es nicht maßgebend für sein Verständnis des Verhältnisses von Gott und Mensch. Die Rechtfertigung des Menschen wird weithin mit der Adoption des Menschen als Kind Gottes gleichgesetzt (vgl. den späteren Kommentar zum Römerbrief von 1540, CR 15, 666 – 667), wodurch das göttliche Handeln im Rechtfertigungsgeschehen deutlich hervorgehoben wird.
4 Aufgabe der deterministischen Prädestinationslehre: Die Kolosserbrief-Vorlesung 1527 Die erste große Veränderung in Melanchthons Anthropologie wird in den Scholia in epistolam Pauli ad Colossenses, gedruckt 1527, deutlich. Hier wird zwar die weiterwirkende Tätigkeit in der Schöpfung bestätigt; aber um den Gedanken, Gott sei auch Urheber des Bösen und der Sünde, abzulehnen, wird die deterministische Prädestinationslehre aufgegeben (MSA 4, 222,7– 19). Die Ursache des Bösen und der Sünde wird jetzt in dem Willen des Menschen verortet. Diese neue Linie wird in den folgenden Werken ständig vertieft und verfeinert. Ohne Prädestinationslehre wird auch der menschliche Freiheitsraum erweitert. Nicht mehr alle fleischlichen Affekte können von vornherein als Sünde kategorisiert werden. Der Vernunft wird jetzt die Fähigkeit, den Willen in der äußeren Gerechtigkeit zu leiten, zugestanden. Gleichzeitig wird aber festgestellt, dass Gott zu lieben und zu fürchten unmöglich sei ohne die Wiedergeburt durch den Heiligen Geist, weil die menschliche Natur durch den Fall den Geist verloren habe (MSA 4, 222,27– 223,29; vgl. Matz 2001, 96 – 105). Das Freiheitsmoment auf menschlicher Seite hat also eine doppelte Begründung: erstens das Vermeiden eines internen göttlichen Dualismus; zweitens die Abwehr eines stoischen Fatalismus, der menschliche Handlungsfreiheit in äußeren Werken
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gemäß dem göttlichen Willen überflüssig erscheinen lassen würde. Obwohl Melanchthon in dieser Weise den Handlungsraum des äußeren Menschen erweitert und seinen zustimmenden Hinweis zu Lorenzo Valla in einen abwehrenden verändert, bleibt die grundlegende dualistische Anthropologie der ersten Loci auch für die folgenden die Basis.
5 Der sündige Mensch in Melanchthons Römerbrief-Auslegungen Der Römerbrief, der den Methodus für die Loci communes lieferte, bleibt für Melanchthon die Basis seiner Anthropologie. Sein Kommentar zum Römerbrief liegt in zwei Auflagen vor: in der ersten Fassung von 1532 (MSA 5) und in der Ausgabe von 1540 (CR 15, 495 – 796). Menschen seien dazu geschaffen, Gott zu ehren und zu danken und seine Gaben gemeinsam zu genießen, was gleichzeitig bedeutet, Gott als Schöpfer anzuerkennen. Menschliche Sünde wird in den Kommentaren zu Röm 1,21 vor diesem Hintergrund in zwei Grundformen kategorisiert. Entweder in der Form der Atheisten (ἄθεοι, impii), die Gott überhaupt nicht ehren, oder in die Form der Götzendiener (idolatrae), die etwas anderem danken und es ehren (MSA 5, 75,26 – 76,22; vgl. CR 15, 569). Der erste Kommentar versteht unter Atheismus das Verleugnen der Vorsehung Gottes, der letztere dagegen verbindet Atheismus interessanterweise mit dem fehlenden Dank, wobei der Mensch deutlicher als Geschöpf in Gemeinschaft mit dem Schöpfer gesehen wird. Mit dem Römerbrief hat Melanchthon Luthers grundlegende Unterscheidung von Geist und Fleisch übernommen. Auch für ihn ist Fleisch ein allumfassender Begriff. Alles, was in dem Menschen ohne den Heiligen Geist ist, sei Fleisch (MSA 5, 232,9 – 11). Fleischliche Natur ist dadurch gekennzeichnet, dass sie geistliche Dinge selbst weder verstehen noch suchen könne, sondern auf eigene Werke vertraue und Gott und sein Urteil hasse (MSA 5, 224,4– 10; vgl. CR 15, 651). Mit der Erneuerung im Glauben durch den Heiligen Geist beginnt der geistliche Kampf mit dem Fleisch.Wo die Auslegung von 1532 aus seelsorgerlichen Gründen die externe Gnade und die Imputation hervorhebt, verweist die Auslegung von 1540 auf die Erneuerung des Menschen durch den Geist. Da diese zwei Seiten der Rechtfertigung, die Rechtfertigung durch das Wort und die Erneuerung durch den Geist, von Anfang an immer nur gemeinsam bei Melanchthon vorkommen, scheint es präziser zu sein, anstatt von Brücken von wechselnden Betonungen in seiner Theologie zu sprechen (vgl.Vainio 2008 [74– 81], der Melanchthons Position von 1532 als eine sehr kurze Periode einseitigen forensischen Verständnisses der Rechtfertigung versteht). Diese unterschiedlichen Betonungen im Gnadenbegriff können anhand von zwei Textbeispielen veranschaulicht werden. So schreibt Melanchthon in seinem Römerbrief-Kommentar aus dem Jahr 1532:
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„Gnade“ bezeichnet weder die Qualitäten noch die in den Menschen eingegossenen Gaben, sondern relational die Gunst Gottes, das heißt die Vergebung der Sünden und die Zurechnung der Gerechtigkeit, obwohl es notwendig ist, dass sie in uns neue Tugenden wirkt. (MSA 5, 159,12– 15)
In der Ausgabe von 1540 heißt es dann: Gnade ist die Vergebung der Sünden und die Zurechnung der Gerechtigkeit, die von Gott um Christi Willen geschenkt wird. Und mit dieser Annahme [der Vergebung] ist die Gabe des Heiligen Geistes und des ewigen Lebens verbunden. (CR 15, 630)
Die Gleichzeitigkeit oder das simul der imputativen und der donativen Aspekte wird in der letzteren Version betont (vgl. hierzu CR 15, 658– 660). Es wird damit auch klarer, dass die geistliche Erneuerung für Melanchthon ein ständiges Hervorgehen ist, das die Todsünde zu einer lässlichen Sünde mache. Wenn der Mensch aber nicht gegen die Sünde kämpfe, werde die lässliche Sünde wieder zur Todsünde und der Mensch zum ewigen Tod verurteilt (CR 15, 665 – Röm 8,13). Damit wird die Notwendigkeit des Glaubens deutlich betont, zusammen mit der notwendigen Teilnahme des Menschen in der Bekämpfung der eigenen Sünde. Kein Mensch ist davon ausgenommen, was Melanchthons kritische Präsentation der Väter in der Ausgabe von 1540 zeigt (CR 15, 733– 782).
6 Melanchthons spätere Loci Auch die spätere Ausgaben der Loci räumen dem Mensch eine Handlungsfreiheit in äußerlichen Dingen ein (CR 21, 374; vgl. Saarinen 2011, 135 – 137) – eine Freiheit, die aber dauernd unter dem Angriff des Teufels stehe, der die Schwachheit der Menschen ausnutze. Die äußere Handlungsfreiheit und mögliche cooperatio des Menschen mit Gott, die Luther in De servo arbitrio eröffnet, wird in den zweiten Loci vertieft und erweitert. Den seelischen Kampf zwischen Gut und Bösen könne der Mensch dabei nicht selbst gewinnen, was ihm aber mitgeteilt werden müsse, wegen der Sünde, die den Menschen für seine eigene Korruption geblendet habe. Stünde die Schwachheit des Menschen der Erkenntnis nicht im Wege, wäre es kein Problem einzusehen, dass der Mensch dem Gesetz Gottes nicht Genüge tun könne (CR 21, 375; vgl.Wengert 2012c, 199). In diesen Zusammenhang findet sich bei Melanchthon die Lehre von den drei Ursachen, die sogenannte tres-causae-Lehre, die in seinen folgenden Werken weiter präzisiert wird, ohne das anfängliche Verständnis zu verlassen: In dem Kampf, der im Menschen zwischen Gott und Sünder vorgehe, werde die Seele ermutigt, das Wort festzuhalten. Sie dürfe nicht entmutigt werden, sondern müsse gelehrt werden, dass die Verheißung universell sei und geglaubt werden müsse. Hier wirken die drei Ursachen, Melanchthon zufolge, zusammen: Wort, Heiliger Geist und der Wille. Der letztere ist nicht ruhig, sondern bekämpft seine eigene Schwäche: In diesem Kampf ist die Seele aufzumuntern, so dass sie gegen alle Versuchungen am Wort festhalten wird. Sie ist nicht zu entmutigen,weder wird sie versucht, sondern sie ist zu lehren, dass
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die Verheißung universal sei, und dass sie sie glauben muss. In diesem Beispiel sehen wir, dass diese Ursachen zusammenwirken: Das Wort, der Heilige Geist, und der Wille, der nicht müßig ist, sondern seine Schwäche bekämpft. (CR 21, 376; vgl. hierzu Wengert 2012c, 199 – 201)
Der Begriff der Schwachheit wird hier eine anthropologische Fundamentalkategorie, die es ermöglicht, das menschliche Handeln graduell und im Unterschied zum göttlichen Heilshandeln zu behandeln. Nur so ist es für ihn möglich, die Rechtfertigung als exklusive Gotteshandlung in Zusammenhang mit menschlicher Verantwortung in irdischen Dingen zusammenzudenken. Dass der Wille nicht müßig ist, ist für Melanchthon wichtig, damit Neutralität zu keiner Tugend wird, sondern ein Laster bleibt. Hierin ist ein wichtiges Anliegen Melanchthons berührt: In der ständigen Präzisierung der Rolle des Willens geht es darum, sowohl Gottes Heilshandeln als gnädigen Zuspruch als auch das Beteiligtsein des Menschen zu berücksichtigen. In den dritten Loci wird die menschliche Freiheit nochmals Gegenstand einer weiteren Entfaltung. Hier findet sich eine Formulierung, die Melanchthon ausnahmsweise in die Nähe von Erasmus bringt. In der Revision der 1543er Ausgabe von 1548 übernimmt er die Definition des freien Willens als die Fähigkeit des Menschen, sich der Gnade anzuschließen, von Erasmus, schreibt sie aber Augustin zu und verwendet sie in einer Argumentation, die gegen die stoische deterministische Lehre und damit indirekt gegen Calvin gerichtet ist. Obwohl diese Formulierung großen Einfluss auf die Beurteilung von Melanchthon hat, begegnet sie nur hier und wird nie wiederholt. Sie lautet: „Deswegen haben einige Alten so gesagt: Der freie Wille ist die Fähigkeit sich der Gnade anzupassen, das ist, er hört die Verheißung und bemüht sich zuzustimmen und wirft ab die Sünde gegen das Gewissen.“ (CR 21, 659; vgl. hierzu Wengert 2012c, 186 – 187)
7 Der Mensch zwischen eigener Schwachheit und die Größe des allmächtigen Gottes in Melanchthons Kommentar zu Aristoteles’ De anima Als Melanchthon seine Lehre des Menschen in dem Kommentar zu Aristoteles’ De anima entfaltete, war das Resultat alles andere als ein gewöhnlicher Aristoteles-Kommentar; nicht nur wegen der Einbeziehung vieler anderer Autoren, von denen vor allem Galen, Vesalius und Leonhart Fuchs hervorzuheben sind. Melanchthons Hauptanliegen war es, eine neue lutherische Lehre vom Menschen zu entwerfen (Kusukawa 1995, 120; Frank 1996, 313). Als Konsequenz der veränderten Behandlung des aristotelischen Grundlagentextes wurde der Titel von Commentarius de anima zu Liber de anima 1552 geändert. Im Liber de anima von 1552 (CR 13, 5– 179; gekürzt in MSA 3, 307– 372. Commentarius de anima liegt nur in Originaldrucken des 16. Jahrhunderts vor, z. B.Wittenberg 1540 und Paris 1540) hat Melanchthon zum Beispiel Vesalius als „wiedergeborenen Galen“ zitiert (Kusukawa
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1995, 119 – 120), der ihm die Möglichkeit eröffnet habe, auch die menschliche Anatomie theologisch zu interpretieren. So scheint Vesalius Melanchthon zu einem Verständnis der Präsenz des Heiligen Geistes im menschlichen Körper verholfen zu haben (CR 13, 88– 89). Melanchthons schöpfungstheologische Offenheit für die Welt machte alle wissenschaftlichen Disziplinen zu möglichen Offenbarern der göttlichen Providenz. Auch der menschliche Körper bezeugt so durch seine Beschaffenheit die Größe seines Schöpfers (Kusukawa 1995, 92– 93). Generell wird hier der Mensch in der Spannung zwischen seiner eigenen Schwachheit nach dem Fall und den Spuren der geschöpflichen Gottebenbildlichkeit interpretiert (MSA 3, 361– 364). Die Schwachheit sei durch das Gesetz offenbar geworden; mit der Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit werde der Gebrauch des Gesetzes als paedagogus für das christliche Leben ermöglicht. Grundsätzlich sei die Schöpfung der Menschen sowie der Engel Ausdruck des göttlichen Willens zur Gemeinschaft. Der Mensch sei geschaffen um Gott anzuerkennen (MSA 3, 312,32– 33), eben deswegen sei der Mensch auch dazu geschaffen, froh zu sein, und mit Affekten ausgerüstet (MSA 3, 312,37– 39). Das Menschenbild Melanchthons hat eine starke soziale Komponente.Wirkliche Güter lassen sich demnach nur in Gemeinschaft genießen (vgl. z. B. MSA 3, 345,23 – 25). Sein seelsorgerliches Denken ist in dieser Weise nicht nur auf den evangelischen Freispruch gerichtet, sondern entfaltet sich auch in der Ordnung des menschlichen Lebens. Der Mensch ist nach Melanchthon aber nicht im Stande, das gute Leben aus eigenen Kräften zu leben, weil die Sünde den Mensch geschwächt habe. Saarinen hat gezeigt, wie Medea als Ausdruck des schwachen gefallenen Willens für Melanchthon immer mehr Bedeutung gewinnt (MSA 3, 330,21– 22; Saarinen 2011, 132– 142). Sein Verständnis menschlicher Schwachheit erlaubt es Melanchthon wie gesehen dennoch, im gefallenen Menschen einen Rest von Gottebenbildlichkeit zu sehen. Er bekommt damit einen Anknüpfungspunkt für die Ethik, ohne die Rechtfertigungslehre zu kompromittieren. Dem Menschen angeboren seien die Kenntnis der Zahlen, die Wahrnehmung von Ordnung und Proportion sowie die Einsicht in syllogistische Folgerichtigkeiten und das Verstehen der Geometrie, Physik und Ethik (MSA 3, 3,33,21– 26). Auch die Erkenntnis der Existenz Gottes gehört zu diesen notitiis naturalis (Frank 1996, 319). Laut Frank (1996, 321) findet sich in Melanchthons Verständnis von der Teilhabe des menschlichen Geistes am göttlichen Geist Spuren von Platons Metexistheorie und die Basis für Melanchthons Gedanken von der Unsterblichkeit der Seele. Wegen der Schwachheit des Menschen seien die angeborenen Kenntnisse nicht hinreichend für die Verwirklichung der wahren Tugenden. Andererseits geben sie dem Willen die Freiheit zum Wählen zwischen irdischen Dingen. Im Unterschied zu den frühen Loci folgt Melanchthon hier Aristoteles und versteht den Willen (voluntas) als eine eigene Fähigkeit (facultas) oder als ein Streben des Intellekts, das höher ist als das Streben der Sinne (MSA 3, 344,1– 4). Für den Menschen vor dem Sündenfall wäre Gott sowohl das Objekt des Intellekts als auch das des Willens. Diese durch den Sündenfall verloren gegangene Bestimmung wird im Evangelium wiederhergestellt. Im Unterschied zum ursprünglichen Menschen
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hat der gefallene Mensch aber seine volle Freiheit verloren. Dieser Verlust kann zwei Gründe haben: Entweder das Geschehen aller Vorgänge im stoischen Sinne durch Notwendigkeit, oder die schwächer gewordenen menschlichen Fähigkeiten. Um Gottes Güte Willen kann für den älteren Melanchthon nur das letzte der Fall sein. In dem wiedergeborenen Mensch ist der Wille wieder befreit. Im Hören des Evangeliums entzündet der Sohn selber ein Licht in der Seele (mens) und das Herz entflammt mit dem Heiligen Geist. Im Hinblick auf die Handlungen, die im Blick auf Gott geschehen, wirken nun folgende Ursachen zusammen, wie das Beispiel Josephs (Gen 39,7– 12) zeigt: Das Wort Gottes; der Sohn, der Gottes Gesinnung (mens) zeigt und den Geist gibt; der Heilige Geist, der Wille und Herz bewegt; und dazu auch des Menschen Wille, der sich selbst bewegt. In dieser Weise kann Melanchthon sagen, dass der Heilige Geist nicht die Willensfreiheit wegnimmt, sondern sie korrigiert und sie in Richtung Gottes dirigiert. Joseph konnte also den Geist zurückweisen, aber mit der Hilfe des Geistes wird der Geist zurückgeholt und ihm gefolgt (MSA 3, 354,4– 22). Des Menschen Wille ist damit einerseits frei im Sinne eines durch Wort, Sohn und Geist befreiten Willens (Matz 2001, 249), andererseits hat die menschliche Freiheit nach Melanchthon eine klare Grenze: Sie darf weder die Güte des Gottessohnes, noch die Verheißung des Heiligen Geistes oder der menschlichen Schwachheit kompromittieren (MSA 3, 354,31– 355,1). Was Melanchthon wichtig ist, darüber gibt er ausführlich Bescheid. Ob seine Lösung auch eine zusammenhängende und vor allem ob sie eine lutherische ist, wurde bereits in der Reformationszeit Gegenstand einer heftigen Diskussion, die bis zur heutigen Zeit mit abwechselnder Intensität fortgesetzt wird. Viele Forscher stellen gegenwärtig aber fest, dass Melanchthon in keinem Sinne eine erasmische Lehre vom freien Wille vertrete, sondern eine Lehre von dem Unvermögen des Willens in Heilsfragen verfechte (Wengert 2012c). Damit liegt Melanchthons Verständnis von menschlicher Freiheit auch hier in direkter Linie einer grundlegenden Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit. Melanchthons späte deutsche Loci bestätigen diese Interpretation.
8 Melanchthons deutsche Loci Die Heubtartikel christlicher lere von 1553 sind eine unterschätzte Quelle zu Melanchthons Theologie (Melanchthon 2002, im Folgendem zitiert als HCL), worauf er selbst hingewiesen hat. Während Luther das Beteiligtsein des Christen im erneuerten Gottesverhältnis durch eine sowohl soteriologische als auch anthropologische Verwendung der communicatio idiomatum formulieren kann, wie es im soteriologischen Gebrauch des Ehebildes am deutlichsten wird, liegt diese Möglichkeit für Melanchthon nicht in der gleichen Weise offen. Für Melanchthon nämlich wird das Beteiligtsein des Christen vor allem durch die Gegenwart des Geistes verwirklicht. Der osiandrische Streit drängt Melanchthon zu einer entscheidenden Präzisierung seiner Position, die für das Verständnis seiner theologischen Anthropologie bedeutend ist. Er muss sowohl die Präsenz Christi als auch den unaufgebbaren und nur durch die Sünden-
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vergebung ermöglichten Trost gleichzeitig betonen. Das führt zur Präzisierung des Verhältnisses zwischen Gnade und Gabe. Des Menschen Trost lasse sich nur im Opfer Christi finden. In diesem Trost aber sei Gott gleichzeitig im Glauben präsent: […] das wir vergebund der sünden haben, und angenehm sind vor Gott durch den verdienst Christi, so wir warhafftigen glauben den Herrn Christum annemen und gleuben, das uns gott umb dises Mittlers willen sünd vergeben und gnädig sein wölle, und ist zugleich war, das als dem Gott in uns wohnet, so wir durch diesen Trost aus rechter angst errettet werde. (HCL 458,4– 10)
Osianders Fehler war es für Melanchthon, Ursache und Wirkung zu verwechseln. Das göttliche Wohlwollen sei Voraussetzung der Gottesgegenwart im Trost, nicht umgekehrt. Gleichzeitig sei es aber die Erfahrung des Trostes, die vor allem ein Werk des Geistes sei, die die Verbundenheit zwischen interner Erneuerung und externer Zusage schaffe. Der osiandrische Streit führt in dieser Weise zu einer trinitätstheologischen Präzisierung in Melanchthons Anthropologie. Diese Präzisierung wird in der Revision von 1555 noch weiter ausgeführt, indem Melanchthon die Selbsthingabe Gottes mit der Bestimmung des Menschen zusammenbindet. Damit wird seine Anthropologie sowohl schöpfungstheologisch als auch soteriologisch eingebettet: Gott hat den Menschen also geschaffen, das er sich im offenbaren wil, wil im sich selbs geben und seine güter, sein liecht, weisheit, gerehtigkeit, freud und ewige seligkeit. Und dagegen sol der mensch Gott erkennen, im dancken und preisen. Darumb ist der mensch eine vernunfftige Creatur und sind in in gebildet etliche klerere anzeignungen von Gott den in die unvernufftige Creaturn. (HCL 1555, 96,28 – 32)
In der Revision von 1555 wird Melanchthons positiveres Verständnis der nicht ganz zunichte gemachten imago dei weiter entfaltet. Im Menschen sei es Christus selbst, der als gegenwärtiges Wort den Trost in die Herzen der Glaubenden spricht und dadurch den Heiligen Geist gibt. Diese Präzisierung der Anthropologie entspricht den Präzisierungen in der Frage der Willensfreiheit des Menschen. Dadurch wird Melanchthons Reserviertheit Erasmus gegenüber nochmals bestätigt. Die Behandlung der menschlichen Freiheit in den Heubtartikeln beginnt im Unterschied zu der lateinischen tertia aetas, an deren Anfang die Ablehnung eines stoischen Fatalismus steht, mit einer positiven Darstellung der menschlichen Möglichkeit als imago dei vor dem Fall. Nach dem Fall aber sei es dem Menschen unmöglich Gott anzunehmen, wenn der Heilige Geist nicht Verstand, Wille und Herz erleuchte und entzünde (HCL 140,23– 28). Ohne Geist sei dem Menschen innerlicher Gehorsam versperrt (HCL 140,24– 141,19). Der äußerliche Gehorsam sei dagegen gottgewollt und auch möglich. Der Wille sei hier aber immer Ausdruck der Heuchelei,weil er mit dem Herz nicht eins sei. Hier stimmen die Heubtartikel mit der drei Jahre älteren Auslegung der Nikomachischen Ethik in Ethica Doctrina Elemente überein. Auch hier hebt Melanchthon denselben Unterschied zwischen dem äußeren und dem inneren Willen und seine Bedeutung für die Zustimmung zur Verheißung hervor. Von hier aus geht er in der Ethik direkt zur tres-causae-Lehre über
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(Melanchthon 2008, 66– 70). Auch in den Heubtartikeln ermöglicht es Melanchthon eben diese Unterscheidung, die Frage nach dem freien Willen theologisch zufriedenstellend zu beantworten (HCL 142,31– 143,3). In den Heubtartikeln findet sich die tres-causae-Lehre nur implizit. Der zustimmende Gehorsam des Herzens, der den wahren Willen vom falschen trennt, könne nicht ohne göttliches Wirken und den Geist anfangen (HCL 146). Die natürlichen Kräfte des Menschen nützen hier nichts, weil sie vom Zweifel durchdrungen seien (HCL 147,7– 8). Nur wo Gott selbst durch den Geist gegenwärtig sei und wirke, das heißt, wo die schwachen menschlichen Kräfte von Wort und Geist erleuchtet und entzündet seien, dort vollziehe sich wahre Gehorsamkeit. Die Hinweise zur göttlichen Gegenwart, die ohne Zweifel auf den osiandrischen Streit zurückgehen, sind gegenüber der lateinischen Fassung neu, lassen sich aber unproblematisch als Weiterentwicklung und Präzisierung des früheren Verständnisses von Wort und Geist denken. Wolfgang Matz (2008, 249) zufolge wird Melanchthon durch sein Zusammenweben von humanistischer Anthropologie und reformatorischer Theologie immer mehr Theologe. Diese Entwicklung wird durch Melanchthons deutsche Loci nochmals bestätigt. Liest man Melanchthons Theologie als einen ständigen Präzisierungsversuch ohne große Brüche, so zeigt sich, dass sein theologisches Verständnis vom Menschen grundlegend in einem trinitarischen und schöpfungstheologischen Fundament verankert ist. Eine Vertiefung dieser Grundlage melanchthonischer Theologie ist von der Forschung noch zu erwarten.
Quellen [HCL] Melanchthon, Philipp. (1553) 2002. Heubtartikel Christlicher Lere, hg. von Ralf Jenett und Johannes Schilling. Leipzig. Melanchthon, Philipp. 2008. Ethicae Doctrinae Elementa et Enarratio. Libri quinti Ethicorum, hg. v. Günter Frank und Michael Beyer. Stuttgart/Bad Canstatt.
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Theologische Anthropologie
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Johannes Ehmann
Abendmahlstheologie
Dass die Reformatoren bezüglich des Verständnisses und der Lehre vom Abendmahl nicht übereinstimmten, ist bekannt. Dieses Faktum beschreibt freilich nicht eine mindergewichtige Sachfrage, sondern bestimmt und belastet – durch den Zusammenhang von Abendmahls- und Kirchengemeinschaft beziehungsweise von „Bündnis und Bekenntnis“ (Schubert 1908, Müller 1980) – die Reformationsgeschichte (zunächst) Ende der 1520er Jahre. Innerprotestantische Verständigungen Mitte der 1530er Jahre sehen sich erneut auf die Abendmahlsfrage gestoßen. Die abendmahlstheologische Verständigung Genfs mit Zürich im Consensus Tigurinus 1549 führt im Reich seit 1552 zum zweiten Abendmahlsstreit, der das Auseinandertreten von Luthertum und Calvinismus beziehungsweise deutschem Reformiertentum fördert. Eine klar erkennbar nicht mehr lutherische Abendmahlslehre bietet der Heidelberger Katechismus von 1563 – initiiert schon durch das Abrücken der Kurpfalz von einem lutherischen Standpunkt nach 1559. Die angedeuteten Wegemarken der abendmahlstheologischen Lehrentwicklung stehen dabei sämtlich im Zusammenhang der Theologie Melanchthons, seines kirchenpolitischen Einflusses und seiner Abendmahlstheologie. Einerseits der Theologie Luthers und seinem Insistieren auf der realen Gegenwart Christi im Mahl verbunden, entwickelt Melanchthon andererseits eigene sprachliche Formen, die eine eigenständige Abendmahlsauffassung erschließen. Leitgedanken dieser Abendmahlslehre, deren sprachliche Form sich seit 1526 verfestigt (Neuser 1968a, 433– 434), sind: (1) Betonung der Gemeinschaft in biblischer (und patristischer) Orientierung an 1 Kor 10, 16, (2) Zurückhaltung gegenüber einer identifizierenden Verhältnisbestimmung der Gegenwart Christi zu den Elementen, (3) Zurückhaltung gegenüber den christologischen Konsequenzen Luthers (im Sinne der Allgegenwart/Ubiquität der menschlichen Natur Christi im Abendmahl, siehe C.II. Christologie) sowie (4) Herausstellung des Handlungscharakters im Abendmahl. Selbstverständlich gründet auch für Melanchthon die Abendmahlslehre in der reformatorischen Zuordnung von Wort, Glaube und Zeichen beziehungsweise Verheißung, Vertrauen und sinnenfälligem Empfang der Verheißung. Diese Programmatik ist keine Spätentwicklung Melanchthons, sondern lässt sich bis in die Loci communes 1521 zurückverfolgen.
1 Die Abendmahlslehre der Loci communes 1521 Ausgehend von den beiden Grundgedanken Melanchthons in den frühen Loci (die Übersetzung im Text folgt nicht der Übersetzung Pöhlmanns [LC 1993]) – (1) „Die GeDOI 10.1515/9783110335804-030
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heimnisse Gottes beten wir besser an als dass wir sie erforschen“ (LC 1993, 0,6) und (2) „Das heißt Christus erkennen: seine Wohltaten erkennen“ (LC 1993, 0,13) – bindet Melanchthon die Erkenntnis Gottes allein an Glauben und Verheißung in der persönlichen geistgewirkten Aneignung des Werkes Christi. „Der Glaube ist also nichts anderes als das Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit, die in Christus verheißen ist, sogar in einem Zeichen.“ (LC 1993, 6,22) Rücken somit Glaube und Verheißung ganz nahe aneinander und konkretisiert sich Evangelium als Verheißung der Gnade, so gilt hinsichtlich der Zeichen (Sakramente): „Auch sie haben ihren Ort ganz nahe bei den Verheißungen. Denn in den [biblischen, d.Vf.] Schriften werden den Verheißungen Siegel oder Zeichen beigegeben, die uns nicht nur an die Verheißungen erinnern, sondern gewisse Zeugnisse des Willens Gottes uns gegenüber sind. Diese beglaubigen, dass wir gewiss empfangen werden, was Gott zugesagt hat.“ (LC 1993, 8,1) Sakramente sind die Zeichen, die Gott selbst eingesetzt hat: Taufe und Abendmahl. Freilich spricht Melanchthon bereits hier im Rahmen einer allgemeinen Sakramentenlehre von einer participatio am Tisch des Herrn, betont also den Handlungscharakter der Mahlgemeinschaft (LC 1993, 8,22), mit welchem der spezielle Abendmahlsartikel weitergeführt wird. Primärer biblischer Bezug sind (noch) die Einsetzungsworte nach Lk 22 und 1 Kor 11. Essen des Leibes und Trinken des Blutes Christi sind erläuternd der participatio zugeordnet. Diese selbst ist kein verdienstliches Werk, gar Opfer, sondern gewisse Erinnerung. Nicht sie selbst tilgt die Sünde, sondern allein der Glaube, der durch das Zeichen bekräftigt wird (LC 1993, 8,112). So führt der Glaube an die Verheißung zur Handlung (Essen, Trinken) der von Christus gestifteten Vergewisserung des Heilswillens Gottes.
2 „Abrücken“ Melanchthons von Luther? Steht Melanchthon mit dieser Lehre noch ganz in Einklang mit dem frühen Abendmahlsverständnis Luthers (WA 2, 742– 743), so werden spätestens beim Marburger Gespräch 1529 unterschiedliche Perspektiven auch der beiden Wittenberger Theologen deutlich. Zwar wird Melanchthon bis zu seinem Ende die gemeinsame Front gegen die römische Lehre von Transsubstantiation, opus operatum und Verdienstlichkeit des Messopfers nicht verlassen, dennoch wachsen bei Melanchthon Zweifel an Luthers realer Identifizierung der Elemente („est“) mit Leib und Blut Christi (praedicatio identica). Geglaubte wirkliche Gegenwart Christi im Mahlgeschehen bei Melanchthon und substantielle Gegenwart des Gekreuzigten in den Elementen bei Luther rücken auseinander. Melanchthon – offenbar beeindruckt durch die philologischen Erklärungen seines Freundes Ökolamapad (Basel) – versucht erfolglos, in Marburg eine „Unionsformel“ (Neuser 1965) einzubringen, welche die Vorstellungen Zwinglis zurückweist und den Formulierungen Luthers die Schärfe nimmt. Melanchthons Versuch der Verständigung ist also bestimmt vom Festhalten an der Realpräsenz Christi als einer speziellen Form seiner Gegenwart in der Kirche, die einer allgemeinen Gegenwart Christi zugeordnet wird. Subjekt dieser Vergegenwärtigung ist Christus selbst im Rückgriff auf die auf Augustin zurückgehende Vorstellung der Multilokation. Luther wird die Zurückhaltung Melanchthons nicht ver-
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borgen geblieben sein. Im Blick aber auf die frühen Loci wird man aber eher von einer selbständigen Präzisierung Melanchthons als von einem Abrücken vom (frühen) Luther sprechen müssen, der seinerseits (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis, 1528, WA 26, [241] 261– 509) im Verständnis der Einsetzungsworte („est“ als praedicatio identica) eine „Objektivierung“ der Heilsgegenwart Christi intendiert, das über die eigenen frühen Vorstellungen (s.o.) hinausführt und 1529 Luthers unerschütterliche Position in Marburg präfiguriert.
3 Die verschiedenen Fassungen der Abendmahlslehre der CA 1530 und 1540 und Melanchthons Rezeption der Wittenberger Konkordie (1536) Zunächst überlagert wird die unterschiedliche Perspektive aber von den theologischen und reichspolitischen Ereignissen im Umfeld des Augsburger Reichstags. Die dort von Melanchthon vorgelegte Confessio Augustana (CA) wird zur Grundlage der lutherischen Bekenntnisse schlechthin. Die Fortschreibung insbesondere des Abendmahlsartikels durch Melanchthon transformiert die Frage des Abendmahlsverständnisses nun auch zum Problem der Interpretation des Artikels 10 der veränderten Konfession (CA Variata) und des Verhältnisses der beiden Abendmahlsartikel (der CA Invariata und Variata) zueinander: Anpassung,Veränderung oder gar Verfälschung lutherischer Lehre (vgl. Dingel 2001, Maurer 1962, Seebaß 2005)? Confessio Augustana
Confessio Augustana (Variata)
lat. (BSELK, )
dt. (BSELK, )
lat. (RBS, )
dt. (CA Variata, )
De coena Domini docent, quod corpus et sanguis Christi vere adsint et distribuantur vescentibus in coena Domini et improbant secus docentes.
Von dem Abendmal des Herrn wirt also geleret, das warer leib und blut warhafftiglich unter gestalt des brods und weins im Abentmal gegenwertig sey und da ausgeteilt und genomen wirt. Derhalben wirt auch die gegenlahr verworffen.
De Coena Domini docent, quod cum pane et vino vere exhibeantur corpus et sanguis Christi vescentibus in Coena Domini.
Über das Abendmahl lehren sie, daß mit Brot und Wein Leib und Blut Christi dargereicht werden an die Essenden und Trinkenden im Herrenmahl.
Melanchthons Artikel der CA (1530) bietet sowohl in seiner lateinischen wie deutschen Fassung die im Luthertum unbestrittene Formulierung der zu bekennenden Abendmahlslehre. Ausdrücklich ist die wahre (vere, warhafftiglich) Gegenwart des Leibes und des Blutes Christi festgehalten – in der deutschen Fassung noch erklärend er-
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weitert durch die Bestimmung „unter gestalt des brods und weins“. Aber dass „es sich bei der von Melanchthon […] 1540 im Blick auf das Wormser Religionsgespräch umgearbeiteten Konfession um eine veränderte Fassung handelte, ist selbstverständlich auf altgläubiger wie auf evangelischer Seite sofort bemerkt worden, als die Konfession – sie wurde damit das offizielle Bekenntnis der Schmalkaldischen Bundesverwandten – am 22. November 1540 offiziell übergeben wurde.“ (Seebaß 2005, 412) Sowohl katholische wie auch später (nach 1552!) gnesiolutherische Theologen empfinden diese Fortschreibung als substantielle Veränderung der bekenntnismäßigen Bestimmung des Abendmahls (ebd.). In der Tat sind drei wesentliche Veränderungen der CA Variata gegenüber der CA zu erkennen, sowohl in der lateinischen wie deutschen Fassung: Zum einen (1) ist die nähere Bestimmung einer Gegenwart Christi (vere, warhafftiglich, s.o.) entfallen. Zum andern (2) wird das Verhältnis der Gegenwart Christi zu den Elementen nicht mehr mit der Präposition SUB, sondern mit CUM bestimmt. Damit ist eine Interpretation im Sinne der praedicatio identica Luthers nicht mehr sichergestellt. Schließlich (3) verzichtet CA Variata auf Verwerfungen. Herrscht darüber weitgehender Konsens, dass die Umarbeitung des Art. 10 in der CA Variata insbesondere im Zurgeltungbringen der Wittenberger Konkordie (1536) beruht, so herrscht Uneinigkeit darüber, ob Melanchthon sich damit grundsätzlich – so die Auffassung der Gnesiolutheraner – der oberdeutschen oder gar zwinglianischen Theologie verhängnisvoll angenähert habe (Seebaß 2005, Maurer 1962, passim). Die Wittenberger Konkordie aus dem Geiste Bucers und Melanchthons veranschaulicht – sieben Jahre nach Marburg – erneut den Zusammenhang von politischer Annäherung und theologischem Konsens in der Abendmahlslehre, jetzt nicht mehr mit den Schweizern (v. a. Zürich), sondern mit den oberdeutschen Städten (v. a. Straßburg). Es wäre zu wenig, die Konkordie zwischen Oberdeutschen und Wittenberg allein auf ein Dissimulieren der Beteiligten oder unklare Kompromisse zurückzuführen. Vielmehr findet Melanchthon eine sprachliche Form, die sich einerseits fast wörtlich an der deutschen Fassung der CA (1530!) orientiert, andererseits im Rückgriff auf Irenäus das sakramentale Geschehen als Parallele von himmlischem und irdischem Handeln begreift: Die Unterzeichner der Konkordie „bekennen lauts der wort Jrenej, das inn diesem Sacrament zwey ding sind, eines himlisch vnd eins irdisch. Demnach halten vnd lere[n] sie, das mit [!] dem brot vnd weinwarhaftig vnd wesentlich [!] zu gegen sey vnd dargereicht vnd empfangen werde der leib vnd das blut Christi.“ (WK, vgl. Neuser 2006, 86) Die dem folgende Interpretation Melanchthons schließt eine (spezielle) Gegenwart Christi außerhalb der Abendmahlshandlung aus. Das „MIT“ wird erläutert durch die Parallelstruktur eines Zugleich der Darreichung des Brotes (und Weins) und der Gegenwart Christi. Es ist somit zeitlich und sachlich als ein Zugleich und Miteinander von Handlung und Gegenwart zu verstehen. Also kann auch unter Verzicht der Präposition IN die wesentliche Gegenwart Christi im Abendmahl festgehalten und die Spannung zwischen Bucer und Luther mittels des, das Mysterium des Abendmahls wahrenden, Begriffs einer „sakramentalen Einigkeit“ (ebd.) gewahrt werden. Das Problem der
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„objektiven“ Wirksamkeit des Sakraments zu Heil oder Gericht (manducatio impiorum) wird freilich mit dem Begriff der manducatio indignorum überspielt. Der bereits für die frühe Abendmahlslehre Melanchthons so wichtige Begriff der Verheißung ist nur scheinbar entfallen. Explizit taucht er nicht auf, ist aber implizit gegeben, denn die Verbindung von himmlischem und irdischem Handeln (s.o.) kann nur in der Verheißung als der wirksamen Zusage Gottes gründen. Melanchthons Formulierungen öffnen die reformatorische Abendmahlslehre, sie stehen freilich auch unterschiedlichen Interpretationen offen. In lutherischer Interpretation findet die Konkordie Eingang auch in die Konkordienformel (BSELK, 1460 – 1463). Für Melanchthon bleibt sie bestimmend bezüglich der Parallelstruktur (CUM), dem Festhalten an der wirklichen Gegenwart Christi und dem Handlungscharakter des Abendmahls in der zugesagten Communio.
4 Die Abendmahlslehre des späten Melanchthon (1551 – 1560) Auf die Einzelheiten des (zweiten), zunächst zwischen dem Hamburger Pfarrer Joachim Westphal und Calvin ausgetragenen, Abendmahlsstreits ist hier nicht einzugehen. Festzuhalten ist allerdings, dass die weiteren Äußerungen Melanchthons zum Abendmahl direkt mit den teilweise bereits vor, vor allem aber nach Luthers Tod dann eruptiv aufbrechenden Kontroversen in Verbindung stehen. Erneut geht es also um Streitschlichtung und zugleich Apologie der eigenen Lehre – jetzt gegen ein extremes Luthertum Magdeburger beziehungsweise weimar-jenensischer Prägung sowie gegen die Artikel der bayerischen Inquisition. Die Grundlinien hat Melanchthon bereits in der für das Konzil von Trient in der Confessio Saxonica (CS 1551, vgl. MSA 6) erarbeitet: Die Sakramente sind Pfand und Zeugnisse aus der Verheißung Gottes zur Mitteilung der Wohltaten Gottes für alle, die diesen Ritus vollziehen (lat. uti; aaO. 127). Damit ist erneut der Zusammenhang von Sakrament, Verheißung Gottes und Handeln der Gemeinde herausgestellt. Die Handlung (usus) des Abendmahls dient zum einen dem vinculum congregationis, zum andern der societas Domini. Die Abendmahlshandlung stellt also in eine zweifache Gemeinschaft: nämlich mit Gott und den rituell handelnden Menschen. Die Feier wird zur propagatio memoriae passionis, resurrectionis et beneficiorum suorum; sie bewirkt Gliedschaft am Leibe Christi. Ihr öffentlicher Vollzug ist Bekenntnis der Gemeinde. Freilich bewirkt nicht die Feier als solche (opus) die Vergebung der Sünden, sondern der Glaube (fiducia), den die Handlung stärkt und bekräftigt (aaO. 128 – 129). Wie eine erweiternde Aufnahme der WK und CA Variata (!) klingt eine Zwischensumme Melanchthons: „Docentur etiam homines Sacramenta esse actiones divinitus institutas, et extra usum institutum res ipsas non habere rationem Sacramenti, sed in usu instituto in hac communione vere et substantialiter adesse Christum
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et vere exhiberi sumentibus corpus et sanguinem Christi, Christum testari, quod sit in eis, et faciat eos sibi membra, et quod abluerit eos sanguine suo.“ (aaO. 130) Christus ist wahrhaft und wesentlich gegenwärtig. Der biblische Bezug auf 1 Kor 10, 16 tritt hier zurück. Ausdrücklich hergestellt wird diese Verbindung von sakramentaler Handlung und Communio nach 1 Kor 10 dann aber im Gutachten Melanchthons Vom Synodo: Wie nicht das Wasser bei der Taufe Sakrament sein kann, sondern das Begießen mit Wasser, so sind manducatio und sumptio, nicht die Elemente an sich(!), das sakramentale Geschehen beim Abendmahl („erste Regel“, CR 9, 471). Nach dieser ersten Regel ist die andere [zweite, d. Vf.] auch gewiß, daß der Sohn Gottes ist warhaftiglich und gewißlich gegenwärtig bei dem Ministerio, da er eingesetzt hat; denn er ist die Person in der Gottheit, die gesandt ist, eine ewige Kirch zu sammeln […]. Darzu ist aber der Sohn Gottes in dieser seiner Ordnung im Abendmahl also warhaftiglich und wesentlich gegenwärtig, daß er uns in diese Nießung mit Brod und Wein seinen Leib giebet, appliciret und sich selbst und seine Verheißung, und machet uns Gliedmaß seiner Leibes, und wirket Trost in uns, und geschieht diese Wirkung durch die Person, die menschliche Natur angenommen hat, und wirket nun darin, und um derselbigen willen in uns, giebet uns Leben. Also spricht Hilarius: haec sumta et hausta faciunt, ut Christus sit in nobis, et nos in eo, das ist, so man dieses nießet und trinket, ist damit der Herr Christus in uns, und wir in ihm. Diese Wort reden klar von der Nießung. Wie auch ausdrücklich Paulus von der Nießung redet: das Brod ist die Gemeinschaft des Leibes Christi. (= 1 Kor 10, 16; Vom Synodo, CR 9, 472)
Nahezu unverändert gehen diese Bestimmungen auch in den Frankfurter Rezess ein (CR 9, 499 – 500), bilden gleichwohl den Angriffspunkt bei Theologen wie Matthias Flacius, Nikolaus Gallus und anderen, für die Melanchthon nun zu den Sakramentierern beziehungsweise Calvinisten zu zählen ist. Doch behält Melanchthon seine Auffassung bei und bekämpft seinerseits extrem lutherische Positionen in Hamburg (Westphal) und Bremen (Tiemann), deren Vorstellung von der Allenthalbenheit (Ubiquität) der menschlichen Natur Christi unter anderem im Brot des Abendmahls er zurückweist und die Anbetung Christi im Brot als Idolatrie brandmarkt (Vom Synodo, CR 9, 470). Aus der frühen Abgrenzung Melanchthons gegen die Abendmahlslehre Zwinglis hat sich nun die Abgrenzung gegen gnesiolutherische Auffassungen einer „substanzontologischen“ Identität der Elemente, das heißt insbesondere des Brotes mit dem Leib Christi. In scharfer Form begegnet diese Kritik in der sicher bedeutendsten Schrift des späten Melanchthon, in den Responsionen gegen die bayerische Inquisition (MSA 6, 298). Anbetung Christi im Brot ist Idolatrie (Artolatrie – Brotkult). Damit ist eine Position beschrieben, die durchaus als Vorstufe zur heftigen antirömischen Polemik des Heidelberger Katechismus (Frage 80) gelten kann. Die Entwicklung der melanchthonischen zur im Werden begriffenen reformierten Auffassung in der Kurpfalz erreicht somit eine gewisse Plausibilität. Besondere Bedeutung kommt somit schließlich dem Abendmahlsgutachten zu, das Melanchthon wenige Wochen vor seinem Tode im November 1559 erstellt (gedruckt in Heidelberg 1560). Anlass des Gutachtens ist der sogenannte Heidelberger Abendmahlsstreit des gnesiolutherischen Generalsuperintendenten Tileman Heshus mit
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dem Diakon Wilhelm Klebitz aufgrund von dessen (von Pierre Boquin erstellten? und keineswegs radikal zwinglianischen) Promotionsthesen (Struve 1721, Cap. V 78). Sich der Brisanz der Begutachtung („Non difficile; sed periculosum est respondere.“; MSA 6, 484) bewusst billigt Melanchthon die Entlassung der extremen Protagonisten und umreißt ein letztes Mal seine „forma verborum“: Es ist sinnvoll, sich auf die Worte des Paulus zu beschränken: Das Brot, das wir brechen, ist die (1) Gemeinschaft des Leibes Christi (nach 1 Kor 10,16). Und (2) ist reichlich von der Frucht des Abendmahls zu sprechen, nämlich dass die Menschen zur Liebe dieses Unterpfands geladen sind und zum häufigen Gebrauch (usus). Nicht spricht Paulus von einer Verwandlung des Brots wie die Katholiken, nicht, wie die Bremer (Tiemann, s.o.) von einer Brotsubstanz Christ, nicht davon (wie Heshus), dass der wahre Leib Christi Brot sei, sondern eben die Gemeinschaft, das heißt Vereinigung mit dem Leib Christi, die (3) im Handeln des Abendmahls (usus) geschieht (ebd.). Damit ist eine Interpretation der substantiellen Gegenwart Christi im Brot zweifellos durchbrochen. Zu bedenken ist allerdings, dass Melanchthon hier überscharf formulieren will. Substanzorientierte Spekulationen sind gegenüber den Früchten der Mahlgemeinschaft zurückzuweisen. Der Grundgedanke der Wohltaten Gottes (s. o.) bricht sich erneut Bahn. Im Grunde folgt Melanchthon weiter seiner Auffassung der Schrift Vom Synodo. Auch dürfte Melanchthon bekannt gewesen sein, dass die kurpfälzische Kirchenordnung (1556) als verbindliche Lehrnorm seine Abendmahlslehre (aus dem Examen ordinandorum 1552) aufgenommen hatte, die in größter Nähe zur CS steht – und bis 1563 in Geltung war: Was wirdt im abendmal des herrn Christi ausgeteilet und empfangen? […] Warer leib und blut des herrn Jesu Christi. Denn der herr Jesus Christus hat diese niessung eingesetzt, das er bezeuget, das er warhaftigklich und wesentlich bey uns und in uns sein will und will in den bekerten wonen, inen seine güter mitteilen und in inen kreftig sein, wie er spricht Joh. 15. [4]: Bleibt in mir und ich in euch. Wozu soll diese niessung geschehen? Zu sterckung des glaubens in den bekerten. Denn der ewig son Gottes samlet im [= sich] für und für ein ewige kirchen durch eusserliche predig des evangelii und durch sichtbare zeichen, die in göttlichem wort eingesetzt sind. … Und nachdem die verheissung ein rede ist, die … allen gnad anbeut, sind die sichtbaren zeichen daran gehengkt als erinnerung von der verheissung und, das sie zeugen sollen, damit ein jeder insonderheit im [= sich] die verheissung adpliciern möge durch glauben im rechten brauch der sacrament. Und sind [die Sakramente] also testimonia promissionis et adplicationis. (Sehling 1969, 198; vgl. auch Heppe 1865, 104)
Hier sind alle wesentlichen Merkmale der Abendmahlslehre Melanchthons (erneut) enthalten. Die Folgen der Neufassung der Abendmahlslehre im Heidelberger Gutachten sind gleichwohl erheblich und nachhaltig. Der Streit um die Heidelberger Abendmahlslehre erfährt und entwickelt schon nach Melanchthons Tod eine katalytische Wirkung im Zuge der Profilierung philippistischer, reformierter und gnesiolutherischer Theologie in dem Maße, in dem Calvin, aber auch Melanchthonfreunde beziehungsweise -schüler wie Albrecht Hardenberg, Christoph Pezel oder auch Zacharias Ursinus, der Hauptschöpfer des Heidelberger Katechismus, sich die Abendmahlslehre Melan-
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chthons zu eigen machen, um sie freilich quasi als „Öffnungsklausel“ zu einem reformiert-calvinischen Verständnis zu interpretieren.
5 Konsistenz und Grenze Die Konsistenz der Abendmahlslehre liegt in der soteriologischen Option seiner gesamten Theologie. Entsprechend ist in den verschiedenen Formulierungen Melanchthons – über die Jahrzehnte zwischen Frühzeit der Reformation und den Krisen reformatorischer Theologie in den 1550er Jahren hinweg – weniger von Wandlungen oder Veränderungen der Abendmahlslehre zu reden als von Präzisierungen sowohl gegenüber der katholischen wie auch der gnesiolutherischen Lehre. Ist der Ausgangspunkt des theologischen Denkens die Gunst und Wohltat Gottes gegenüber dem sündhaften Menschen, so ist dies kein Affekt, sondern konkretes Handeln in der Gemeinschaft des Sohnes Gottes als communio und participatio, schlichtweg als Handeln Gottes, dem menschliches Handeln aus seiner Verheißung entspricht. Der Glaube glaubt diese heilvolle als wirkliche Gegenwart Christi. Substanzphilosophische Vorstellungen (nach damaligem Verständnis) hinsichtlich des Verhältnisses von den Elementen zu Leib und Blut Christi weist Melanchthon zurück, nicht aber die Gegenwart Christi im Essen und Trinken des Leibes und Blutes mit Brot und Wein. Die Grenzen der Abendmahlstheologie Melanchthons sind schwer zu bestimmen. Historisch ist freilich unübersehbar, dass ihr Einfluss über den Polarisierungen des Reformiertentums (Heidelberger Katechismus 1563,vgl. Sehling 1969, 341– 368) und des Konkordienluthertums (1577/80) zerbricht, ja schon mit dem Entschwinden der melanchthonischen Corpora doctrinae an Geltung verliert. Erst wieder das unions- und melanchthonfreundliche 19. Jahrhundert wird wesentliche Aspekte seiner Abendmahlslehre neu entdecken. Vielleicht ist dann sogar von einer Fernwirkung Melanchthons im Blick auf die ökumenischen Vereinbarungen des 20. Jahrhunderts zu sprechen (Ehmann 1998).
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Ekklesiologie 1 „Ecclesia condita est verbo et imposita fidei ceu fundamento“ (Ann. In Matth. 16,18, MSA 4, 185,31 – 32) Sucht man nach einer Konstanten des Verständnisses von Kirche bei Philipp Melanchthon, für das er im Verlauf seiner Werkgeschichte durchaus unterschiedliche Definitionen vorlegen kann, so ist dies wohl das Verbum Dei. Kirche ist eine „durch Gottes Wort sichtbar in die Welt gerufene menschliche Gemeinschaft, die bis an das Ende aller Zeiten durch dieses Wort weiterhin konstituiert, geprägt und erhalten wird.“ (Appold 2004, 163) Melanchthons Ekklesiologie, ähnlich wie die Luthers, ist immer „Ekklesiologie vom Wort her“ (Haendler 1968, 19; Kühn 1980, 4). Im Verbum efficax der Schrift erfährt der Mensch vom Handeln Gottes. Hier erkennt sich der Mensch legitimer Weise als Angeredeter und Hörender und anerkennt das Handeln Gottes an ihm als Getroffenem und Betroffenem. Das Wort Gottes bleibt ihm aber stets im unverfügbaren Gegenüber. Das wahrt den Anredecharakter ebenso wie das dialogische Verhältnis von Gott und Mensch (Haendler 1968, 106). Als Verbum externum realisiert sich Gottes Wort in der Wirklichkeit des Menschen und durchbricht sie zugleich. Die Wortgebundenheit erweist sich als durchgängiges Element der Ekklesiologie Melanchthons: Sie ist und bleibt Kirche nur, insofern sie sich ständig auf dieses Wort des Evangeliums bezieht und daran gebunden bleibt. So kann Melanchthon die Glieder der Kirche als „Hörer des Wortes“ kennzeichnen, als jene, die dem Evangelium glauben. Damit verzichtet Melanchthon zumindest indirekt auf die Rechtfertigung als Leitbegriff und Mitte des Kirchenbegriffs. Daher sind auch die Kennzeichen dieser Kirche, die notae/signae Ecclesiae, im Sinne Melanchthons – die incorrupta vox evangelii, der legitimus usus sacramentorum und die oboedientia seu reverentia debita ministerio seu ministri (Responsiones von 1558: MSA 6, 286,34; Examen ordinatorum: MSA 6, 212,33) – gerade an diesem „An-dasWort-Gebundensein“ der Kirche orientiert. So macht Melanchthon an der „Externität“ des Wortes nicht nur die „Externität“ der Kennzeichen, sondern auch die „Externität“ der Kirche selbst, und damit die Notwendigkeit ihrer äußeren Sichtbarkeit fest (Haendler 1962, 187– 188). Das bedeutet aber zugleich, dass die Kirche auch in ihrer äußeren Sichtbarkeit nur durch ihre Relation zu Wort und Sakrament bestimmt und dadurch sichtbar wird. Kirche ist theologisch durch dieses Grundgeschehen von Verkündigung und Hören gekennzeichnet und damit nicht einfach in eine konkrete Institution zu übersetzen oder gar an bestimmte Personen oder Ämter zu binden, obgleich Kirche immer empirisch sichtbar werden muss. Das heißt: Kirche im Melanchthonischen Sinne ist bleibend durch eine wesentliche Doppelheit gekennDOI 10.1515/9783110335804-031
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zeichnet: Sie ist innere geistige Gemeinschaft und äußeres soziales Gefüge – societas fidei et spiritus sancti in cordibus und externa politeia, „die sich durch und um Wort und Sakrament bildet.“ (Haendler 1968, 379 – 380) Im Laufe der Zeit und in unterschiedlichen Phasen seines theologischen Schaffens wird Melanchthon aber immer wieder besondere Akzente zugunsten der Sichtbarkeit der Kirche setzen. Diese besonderen Akzentsetzungen Melanchthons innerhalb der reformatorischen Ekklesiologie haben ihren Grund zum einen sicher in der strukturellen Verfestigung der evangelischen Kirchentümer (Wiedenhofer 1976, 260 – 261). So beginnt Melanchthons systematisches Nachdenken über die wahre Kirche verstärkt zu dem Zeitpunkt, an dem die Trennung der Kirchen reale Tatsache wird, um die Trennung theologisch zu legitimieren und zugleich deutlich werden zu lassen, wie trotz des realen Zerbrechens dennoch von einer Einheit der Kirche gesprochen werden kann (ebd. 306). Zugleich dürften die Akzentsetzungen Melanchthon aber auch einer apologetischen Frontstellung gegen die „wiedertäuferische“ und „schwärmerische“ Kritik zu verdanken sein (Haendler 1962, 175). Melanchthon entwickelt in Auseinandersetzung mit dieser Kritik aber keine reformatorische „Wesensdefinition“ von Kirche, sondern er beschreibt die notwendige Kriteriologie von Kirche, die jene Punkte zu benennen hat, die als die entscheidenden „Kristallisationspunkte“ kirchlicher Wirklichkeit bezeichnet werden können und an der diese Verwirklichung auch ablesbar ist (Kinder 1956, 365). In dieser Perspektive hat auch die bekannteste aller Kirchendefinitionen Melanchthons in CA VII kriteriologisch-heuristische Bedeutung: „Es wirt auch geleret, das alzeit müsse ein heilige Christlich kirche sein und bleiben, welche ist die versamlung aller gleubigen, bey welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sacrament laut des Evangelii gereicht werden.“ (BSELK, 102,7– 10) Ekklesiologie ist bei Melanchthon immer eine Rede von Kirche „in Grenzwerten“ (Kinder 1956, 365). Das ist eine Tatsache, die im weiteren Verlauf der Entwicklung der protestantischen Kirchentümer wohl nicht genügend Berücksichtigung gefunden und so zu einer deutlichen Verkürzung des Kirchenverständnisses innerhalb des Protestantismus beigetragen hat. Man verwechselt Wesen und Kennzeichen, was zur Folge hat, „daß man in den in C.A. VII zum Ausdruck gebrachten Bestimmungen statt eines regulativen einen konstruktiv ausreichenden Kirchenbegriff sah, so daß aus den auf das Ganze der Kirche gerichteten lutherischen ekklesiologischen Prinzipien und Kriterien eine eigene lutherische Kirche als partikulare Denomination unter anderen wurde. Dies ist zweifellos eine Einbiegung der ursprünglichen Tendenzen der lutherischen Reformation und an sich ein Widerspruch in sich selbst.“ (ebd. 366)
2 Die Kirche als innere und äußere Gemeinschaft Zunächst (und damit wesentlich) ist die Kirche societas fidei et spiritus sancti in cordibus (CA VII, 1), also eine innere geistige Gemeinschaft, die ihre Gemeinschaft in der durch den Heiligen Geist ins Herz der Gläubigen hinein gestifteten Einheit und im gemeinsamen wahren Glauben an Christus findet. Dieser ersten Bestimmung von
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Kirche entspricht aber notwendig eine zweite: die Bestimmung der Kirche als „externa societas signorum ecclesiae, hoc est, verbi, professionis et sacramentum“ (ApolCA VII, 3; Haendler 1962, 179), also jene andere äußere Seite der Kirche als gesellschaftlichpolitisches Gefüge, als „societas externarum rerum ac ritum sicut aliae politicae“; also etwas, was Kirche mit anderen politischen Gebilden gemein hat, die dafür sorgen, dass in ihren Grenzen auch „gleichermaßen Gute wie Böse sind.“ (Loci 1535: CR 21, 505 – 506) Diese Doppelstruktur bildet auch den Hintergrund der Kirchendefinition in CA VII. Melanchthon vermeidet hier zwar die von Luther her naheliegende Unterscheidung von sichtbar und verborgen, aber diese bleibt implizit präsent. Diese „Kirche im engeren Sinne“ ist bei Melanchthon zunächst eine Glaubensgemeinschaft und nicht in erster Linie eine (gar hierarchisch) strukturierte und organisierte sakramentale Institution. Damit ist sie aber noch lange keine civitas platonica, sondern sie trägt äußere Zeichen ihres wahren Kirche-Seins, die dieses verdeutlichen: „Und dieselbige Kirche hat doch auch eusserliche zeichen, dabey man sie kennet, nemlich, wo Gottes wort rein gehet, wo die Sacrament demselbigen gemes gereicht werden, da ist gewis die Kirche, da sein Christen und dieselbige Kirche wird allein genennet inn der schrifft ‚Christus leib‘.“ (ApolCA VII, 5: BSELK, 398, 27– 30) Das aber sind sowohl jene Heilsmittel, mit denen der Heilige Geist zur Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden beruft, als auch die Zeichen des äußeren Gefüges, an dem zugleich hypokritae et mali teilhaben können. So sind zum einen res ac ritus jener societas nicht irgendwelche menschlichen Erfindungen, sondern sie sind von den signa ecclesiae her theologisch bestimmt. Gerade dies begründet auch die Einmaligkeit der Gemeinschaft der Kirche: „Ihr Sozietätscharakter ist kein naturrechtlich und korporationsrechtlich begründeter, sondern ein gottgesetzter, auf dem Akt göttlicher Inkorporation beruhender.“ (Haendler 1962, 181) Zugleich ist aber in dieser äußeren Kirchengemeinschaft die wahre Kirche verborgen. Die Kirche bleibt daher immer ein corpus permixtum. Mit dieser im Kern auf Luthers Unterscheidung der „zwo Kirchen“ zurückgehenden Differenzierung wird hier jene Nahtstelle markiert, die den Übergang vom Verständnis der Kirche als „verborgenem Reich Christi“ zu der „äußeren Taufgemeinschaft“ bezeichnet (Bayer 2004, 108). Bei Luther wie bei Melanchthon werden zwei Aspekte zueinander ins Verhältnis gesetzt: die äußere, rechtlich strukturierte Gemeinschaft und die innere, jedem ius humanum entzogene, allein durch Christus als ihr Haupt geschaffene Leib-Gemeinschaft. Für Luther bleibt die Untrennbarkeit beider Bereiche solange gewahrt, „solange der für Menschen verfügbare Bereich der Kirchenordnung nicht zum alleinigen oder parallel gültigen Maßstab von Kirche gemacht wurde und somit den unverfügbaren Bereich der Gemeinschaft mit Christus unberührt ließ.“ (ebd. 109) Und auch Melanchthon setzt auf die Verbindung beider Bereiche, die zugleich eine Unterscheidung ermöglicht. Insofern ist die Unterscheidung eine logische und keine ontologische (Cassese 1980, 306). Bei beiden Reformatoren ist eher eine innere Dynamisierung des Kirchenbegriffs, also eine dynamische Bezogenheit, im Blick als eine bleibende Dialektik von innen und außen: Es ist eine „Kirche des Ereignisses“, nicht eine „Kirche der Institution“ (ebd. 307). Dabei geht es Melanchthon aber um das konkrete Sichtbarwerden dieser Kirche.
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Während auf der ersten Ebene Kirche als creatura verbi und damit als congregatio Christi, das heißt die durch den Heiligen Geist in Wort und Sakrament gesammelte Gemeinde in den Mittelpunkt gestellt wird, kann Melanchthon diese zugleich auch als personale Gemeinschaft der „Heiligen und wahren Gläubigen“ (CA V) verstehen, deren personaler Charakter sich darin manifestiert, dass die Verkündigung des Wortes und die sakramentalen Gaben gläubig angenommen werden (Haendler 1962, 176). So spricht Melanchthon in den Loci 1535 von der congregatio iustorum, „qui vere credunt Christo et sanctificantur spiritu Christi“ – also der Gemeinschaft derer, die wahrhaft an Christus glauben und durch den Heiligen Geist geheilt sind – aber auch von der Gemeinschaft der Kirche, in der es zugleich Gute wie Böse gibt (vgl. Loci 1559: MSA 2/2, 476 Anm. A. 1535 /505 – 506) In den Loci ab 1543 wird Melanchthon deutlicher und spricht von der sichtbaren Kirche als Gemeinschaft der Berufenen – „coetum vocatorum, qui est Ecclesia visibilis.“ (Loci 1543: CR 21, 825) Die Grundproblematik des Kirchenbegriffs Melanchthons und damit des gesamten evangelischen Verständnisses von Kirche treten hier offen zu Tage: Die „Kirche ist sowohl der Ort, in dem die Menschen gerettet werden, als auch der, durch den sie gerettet werden. In dieser Zweideutigkeit liegt eine grundsätzliche Spannung des melanchthonischen Kirchenbegriffs, eine Spannung, die Klaus Haendler treffend in der Frage zusammenfasst: ‚Wie verhalten sich Göttliches (das, wodurch die Kirche entsteht) und Menschliches (das, worin sie besteht) im Kirchenbegriff zueinander?‘“ (Appold 2004, 165) Regin Prenter spricht hier gar von einer „Lücke“ in der Theologie Melanchthons, weil es ihr nicht gelingt, beide Seiten wirklich zu vermitteln (Prenter 1969, 146 mit Anm. 18). Der sich hier eröffnenden Problematik versucht Melanchthon bereits in der Apologie der CA gerade durch den doppelten Begriff der societas beizukommen (ApolCA VII). Dabei ist er dort aber weniger an der Unterscheidung als an der inneren Bezogenheit beider Seiten interessiert. In der Tat ringen bereits hier ein prädestinatianischer und ein antiprädestinatianischer Kirchenbegriff miteinander, ohne dass eine Lösung sichtbar würde (Kühn 1980, 40). So kämpft Melanchthon mit der gleichen Problematik wie Luther in der Rede von den „zwo Kirchen“. Als „wahre Kirche“ kann nur bezeichnet werden, was nicht nur dem Namen, sondern eben der Sache nach „wahre Kirche“ ist. Und dennoch hat gerade diese Kirche externe notae, an denen man sie als solche auch erkennen kann. So ist auch bei Melanchthon der Kirchenbegriff also ein doppelschichtiger. Zu je unterschiedlichen Zeiten kommt der eher das verborgene Wesen von Kirche betonende „prädestinatianische“ Zug von Kirche zur Geltung, der die Unsichtbarkeit der wahren Kirche als von Gott erwählter betont, oder eben der eher auf Sichtbarkeit und Bestimmbarkeit zielende „antiprädestinatianische“, der auf die konkreten sichtbaren notae Ecclesiae gerade in polemisch abgrenzender Weise abhebt und die sichtbare, abgrenzbare und an äußeren Kriterien festmachbare Kirche hervorhebt. In den späten Fassungen der Loci wird Melanchthon diese duale Dialektik fast im Stile der Papstkirche seiner Zeit zugunsten der Sichtbarkeit der Kirche aufgeben; freilich nutzt er diese betonte Sichtbarkeit zur vernichtenden Kritik gerade an dieser: Was sich in den Loci 1535 schon andeutete – die Dominanz der pura doctrina als innerster Kern der Rechtfertigungslehre, die Kirche zugleich als den Ort der reinen Lehre
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kennzeichnet: „Vera autem Ecclesia est, quae habet purum verbum Dei“ (Loci von 1535: CR 21, 505; vgl. auch Wiedenhofer 2001, 492) – wird am Ende zum Ausschlusskriterium gegenüber der römischen Kirche: Weil der Papst und seine Anhänger die Abgötterei verteidigen, Gotteslästerer und Mörder sind, können sie nicht die wahre Kirche sein. Darum ist auch der Gleichsetzung von römischer Papstkirche und katholischer Kirche entschieden entgegenzutreten: „Denn die päpstliche Schar ist nicht die Katholische Kirche, und es ist die Römische Kirche weder die Kirche des ganzen Erdkreises, noch sind die Bestimmungen der Römischen Kirche die Bestimmungen der universalen Kirche.“ (MSA 6, 290)
3 Verbum externum – ministerium publicum Indem Heiliger Geist und Glaube auf der einen und Wort, Sakrament und Bekenntnis auf der anderen Seite korrespondieren, vermag Melanchthon zunächst also beide Aspekte der Kirche als Gemeinschaft in ihrer inneren Einheit deutlich werden zu lassen: Die personale Gemeinschaft beruht aber auf der äußeren „gemeinsamen Teilhabe an Wort und Sakrament“ und auf dem „gemeinsamen Bekenntnis“: und so existiert letztlich „die societas fidei et spiritus sancti in cordibus […] nicht allein nur innerhalb der externa societas signorum ecclesia, sondern überhaupt nur als diese externa societas.“ (Haendler 1962, 179) Gläubige oder nur äußerliche Teilhabe sind freilich von außen betrachtet nicht zu unterscheiden. Sichtbar ist nur die äußere Teilhabe an den Zeichen, die sowohl Kennzeichen der äußeren Taufgemeinschaft als auch Zeichen der congregatio sanctorum sind. Melanchthons Verhältnisbestimmung beider Seiten des Kirchenbegriffs verändert sich im Verlauf der Jahre; beziehungsweise es treten die Betonung der Sichtbarkeit der Kirche und das Bewusstsein der Kirche als corpus permixtum verstärkt in den Vordergrund (Kühn 1980, 41– 42). Der antiprädestinatianische Kirchenbegriff setzt sich durch. Erst der späte Melanchthon wird wieder jene Seite von Kirche betonen, die sie als göttliche Sammlung, als creatura verbi konturiert: „Die Kirche ist in keiner Weise menschliche Möglichkeit, sie entspringt nicht menschlichem Entschluß und menschlicher Fähigkeit, auch nicht dem angeborenen Gemeinschaftsstreben des Menschen, sondern sie hat ihre einzige Möglichkeit und Wirklichkeit in Gott, und das heißt eben auch: in der Verkündigung des Evangeliums. Es gibt für Melanchthon keinen ekklesiologischen Synergismus.“ (Haendler 1962, 184) Grundlegend bleiben die Konstitutiva von Kirche – Evangelium und Sakramente; sie schaffen die Verbindung zwischen der Innen- und Außenseite von Kirche und bilden jene Kennzeichen der Kirche, an denen die wahre Kirche auch äußerlich zu erkennen ist (Wiedenhofer 1976, 262). Diese Kennzeichen – Wortverkündigung, Sakramentsverwaltung und Bekenntnis –, die an die als Gnadenmittel zu verstehenden Stiftungselemente von Kirche zurückgebunden sind, geben so zugleich ihre äußere Grundstruktur vor. Hier deutet sich bereits die Idee einer äußerlich sichtbaren, soziologisch wie rechtlich konkret bestimmten Struktur von Kirche an, die zum Wesen –
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„esse“ – und nicht nur zum zeitlich-geschichtlichen Dasein – „bene esse“ – von Kirche gehört. Für diese sichtbare Seite der Kirche ist bei Melanchthon nun aber das kirchliche Amt von Anfang an konstitutiv. Denn dieses Amt ist in seiner Finalität auf die Wortverkündigung ausgerichtet. „Wo das Wort wirkt, gibt es ipso facto auch ein Amt des Wortes.“ (Abraham 2007, 52) Dies wird in den späteren Jahren, zum Beispiel in der Kirchendefinition der Loci ab 1543 noch deutlicher: „Ecclesia visibilis est coetus amplectentium Evangelium Christi et recte utentium Sacramentis, in quo Deus per ministerium Evangelii est efficax“ – Kirche ist die durch das Evangelium Christi und den rechten Gebrauch der Sakramente versammelte Gemeinschaft, in der Gott durch das Dienstamt wirksam ist (Loci 1543: CR 21, 826). Die Kirche als societas hat für Melanchthon zwei Fixpunkte: die Verkündigung und Sakramentsverwaltung und die hörende und im Bekenntnis antwortende Gemeinde. „Wort und Antwort, docentes und audientes, Amt und Gemeinde – in diesen Zuordnungen dialogischen Charakters liegt der Ansatz der Societaswerdung der Kirche.“ (Haendler 1962, 180) Kirche ist daher divina institutione an die Existenz des Amtes gebunden.
3.1 Das kirchliche Amt Die Bedeutung dieses kirchlichen Amtes begründet und verwirklicht sich nun aber in deutlich anderer Weise als innerhalb eines, auf die scheinbar gnadentheologisch differenzierende Wirkung eines character indelebilis rekurrierenden Amtsbegriffs der Papstkirche seiner Zeit (Wiedenhofer 1976, 263). Das Amt empfängt seine Autorität allein aus der Autorität des göttlichen Wortes, indem es daran partizipiert (vgl. auch Kühn 1980, 45). Melanchthon versteht das kirchliche Amt durch seine enge Bindung an das ministerium verbi als göttliche Einsetzung zum Instrument der öffentlichen Verkündigung, Verbreitung und Bezeugung des Evangeliums; es macht die Kirche als Verkünderin des Wortes öffentlich sichtbar und hörbar. Hier spiegelt sich die Front Melanchthons gegen die Infragestellung der äußeren Seite der Kirche durch die radikalen Gruppen der Reformation wider: „Und werden verdammt die Widderteuffer und andere, so leren, das wir one das leibliche wort des Evangelii den heiligen geist durch eigene bereitung und werck verdienen“ (CA Variata, 4: BSELK, 100,7– 9); und: „Dieweil nu solchs sehr tröstlich ist, so wir wissen, das Gott durch menschen und diejhenigen so von menschen gewelet sind, predigen und wircken wil, so ist gut, das man solche wahle hoch rhüme und ehre, sonderlich widder die teuffelischen Anabaptisten, welche solche wahl sampt dem predigampt und leiblichen wort verachten und lestern.“ (ApolCA XIII, 13: BSELK, 514,15 – 20). Die notwendige Externität des Wortes der Verkündigung hat damit zwei Zielrichtungen. Zum einen betont es die Hör- und Sichtbarkeit der Verkündigung als welthaftes Geschehen, also ihre empirische Wahrnehmbarkeit. Das bedeutet aber zugleich, dass sie notwendig auch eine verstehbare Verkündigung zu sein hat: „Die Externität der media salutis ist Ausdruck dessen, daß Verkündigung und Sakramente auf verstehendes Hören angelegt sind und den wahrnehmenden Menschen nicht nur
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blind zum Glauben reizen und überreden wollen, sondern auf sein bewußtes und verstehendes Eingehen auf sie abzielen.“ (Haendler 1962, 182) Die Kontingenz der Verkündigung entspricht aber zum zweiten zugleich der Kontingenz des geschichtlichen Heilshandelns Gottes selbst. Das verkündigende Wort ist „überlieferndes“, „berichtendes“ eben kontingentes Wort (ebd. 183). In diesem Sinne ist das verbum externum als verbum vocale eben jene wahre testificatio exterior, in der die testificatio interior geschieht: „Das Geistliche schließt das Gestalthafte, Konkrete, Empirische nicht aus, sondern ein. Beides ist unlösbar aufeinander angewiesen und aneinander gebunden. (ebd. 184– 185) So kann das ministerium publicum und damit die Öffentlichkeit dieses amtlichen Dienstes als Inbegriff des Melanchthonischen Amtsverständnisses bezeichnet werden. Hierin zeigt sich deutlich die Zuordnung zum Wort als verbum externum. Hören und Glauben als von Gott selbst geschaffene Ermöglichung sind auf dieses verbum externum verwiesen, und hierin hat auch das Amt als ministerium publicum seinen Ort: Gottes universales Heilswort und Heilshandeln soll im gesprochenen Wort als wirklich zu hörendem Wort verkündigt werden. Denn so kann es als verbum publicum, als öffentliches Wort ergehen, sonst würde es seine Externität, das heißt seine Hör- und Wahrnehmbarkeit verlieren (Haendler 1968, 349). Externum und publicum sind damit eigentlich gleichbedeutend (ebd. 349 – 350). Um der Externität des Wortes Gottes, ja um des funktional auf dieses Wort zugeordneten Heilsmittels willen ist das Amt ein öffentliches. Insofern ist „[s]eine Externität und Öffentlichkeit […] von Gott selbst gewollt“ (ebd. 352); er hat es eingesetzt und gestiftet: „Solchen Glauben zuerlangen, hat Got das predig amt eingesatzt, Evangelium und Sacramenta geben, dadurch als durch mittel der heilig geist wirckt und die hertzen tröst und glauben gibt, wo und wenn er wil, inn denen, so das Evangelium hören, welches leret, das wir durch Christus verdienst ein gnedigen Gott haben, so wir solchs gleuben.“ (CA Variata, 1– 3: BSELK, 100,2 – 5; vgl. auch CA XIV; zu letzterem: Rohls 1985, 140) Das Amt ist damit ausschließlich funktional auf das Heilsgeschehen zugeordnet. Es begründet durch seine Verkündigung den rechtfertigenden Glauben und damit die Rechtfertigung selbst (Haendler 1968, 92). Auch hierin bleibt Gott allein selbst handelndes Subjekt und auctor des Amtes, wie dies sich in der göttlichen vocatio zu jedem Amt ausdrückt. Sie ist der Realgrund der Verkündigung. Dies schreibt die funktionale Dimension des Amtes fest – es ist und bleibt ministerium verbi oder es ist nichts –, und darin gründet seine „Essentialität“. Allein in der funktionalen Zuordnung zum Heilshandeln Gottes gründet seine „heilsgeschichtliche Dignität“ (ebd. 290 – 291). „Inhaberin“ eines so verstandenen Amtes ist die Kirche selbst; sie ist die eigentliche „Trägerin“ dieses Amtes. Ihr als Ganzer gilt der göttliche Befehl und die göttliche Vollmacht zur Verkündigung des Evangeliums, zur Spendung der Sakramente und zur Ausübung der Schlüsselgewalt. Und so „widerstreitet [es] der Anordnung Christi, die Ausübung dieser Funktionen den Inhabern bestimmter kirchlicher Ämter als iure divino vorbehalten zu erklären. Jeder Christ hat kraft seiner Gliedschaft am Leib Christi Anteil an diesem gesamtkirchlichen Auftrag und Amt.“ (ebd. 97)
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Damit hat aber letztlich die Kirche auch ein göttliches mandatum zur vocatio in dieses Amt (ApolCA XIII, 12: BSELK, 514,8 – 9; vgl. dazu auch Haendler 1968, 355 – 356) – eine Festlegung, die durchaus auch romkritischen, apologetischen Charakter hat, denn die Kirche ist durch diese Wirkung des verbum externum in die Pflicht genommen und daher nicht Herrin der vocatio (Haendler 1968, 372– 373). Freilich ist diese Vollmacht eine mittelbare. Auch hierin bleibt Gott selbst der auctor des Amtes. Die Vollmacht des Amtes geht unmittelbar auf Gott selbst zurück, es ist eine „Sach-“ und keine „Personalautorität“ (ebd. 98); das heißt eine Autorität, die sich aus der Erfüllung der „Sache“, die zu tun ist, ergibt oder eben nicht. Gerade hierin bringt sich die unaufgebbare Funktionalität des Amtes zum Ausdruck. Denn die Kirche besitzt gleichfalls das Recht des kritisch-richtenden mandatum reiiciendi impios doctores (Loci 1535: CR 21, 505); wiederum als mittelbare Ausübung der kritischen Instanz des Wortes Gottes selbst. Mit beidem – dem mandatum vocatione wie dem mandatum reiiciendi – verwirft Melanchthon ausdrücklich den römischen Anspruch, dass alleine Bischöfe und insbesondere der Papst Vollmacht und Fähigkeit zu Berufung und Ordination besitzen. Das Amt und seine Ordination ist an die Kirche als Ganze gebunden, weil darin die Kirche ihre eigene Verpflichtung zur Verkündigung als mandatum Dei zu verantworten hat (Haendler 1968, 358). Man kann mit Haendler daher von einer ekklesiologischen Depotenzierung des Amtes sprechen (ebd. 358). Kirche selbst erweist sich hierin nochmals in doppelter Weise als creatura Verbi: Sie ist diesem mandatum Dei grundlegend verpflichtet und ihr eigenes Kirchesein wird als allein durch das Wort des Evangeliums geschaffenes, geschenktes, nur im Hören auf dieses Wort konstituiertes und nur durch die Bindung an dieses Wort Wirklichkeit werdendes und bleibendes offensichtlich (ebd. 358): „Ubi igitur est vera Ecclesia, ibi necesse est ius esse eligendi ministros. Vera autem Ecclesia est, quae habet purum verbum Dei.“ (Loci 1535: CR 21, 505) Das Melanchthon wie Luther bekannte Ordnungselement des Amts erscheint hier als ein sekundäres (Haendler 1968, 370). Daher ist auch die Zuordnung des ordinierten Amtes zum allgemeinen Priestertum aller durch Luther für Melanchthon nicht das eigentlich Prägende seines Amtsverständnisses (Fagerberg 1978, 552– 574, 564; vgl. dazu auch Haendler 1968, 362– 363). Freilich der Unterschied bleibt wie bei Luther ein funktionaler, nicht ein qualitativer: „Etsi quod est discrimen, tantum ministerii est.“ (Refutatio Abusuum Coenae Domini, CR 23, 712; Loci 1535: CR 21, 477) Melanchthon verwirft hier ausdrücklich eine „statisch-habitual-ontologische“ Ordnung der Kirche und ersetzt sie durch eine „dynamischfunktional-personal[e] Ordnung, die durch das ekklesiologische Grund-Geschehen von Verkündigung und Hören bestimmt ist.“ (Haendler 1968, 381) Darin ist auch die strikte Ablehnung einer successio ordinaria verbunden (Iudicium de impositione manuum, CR 5, 210), die eine Trennung von Amt und Funktion und ein Verfügenwollen über das Wort Gottes bedeuten würde (Haendler 1968, 384– 385). Eine Kontinuität bildet allein die perpetua vocatio Dei, beziehungsweise die materiale Kontinuität der pura doctrina (ebd. 385 – 386). Die enge Bindung des Amtes an das verbum Dei externum verdeutlicht sich nun auf den verschiedenen Ebenen seiner funktionalen Zuordnung: Das Amt ist Organ der
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öffentlichen Verkündigung des in der Heiligen Schrift bezeugten Wortes Gottes; es hat dieses zu bewahren und getreu weiterzugeben; es hat es auszulegen, zu erklären und zu interpretieren (Wiedenhofer 1976, 302 – 303). Insofern ist das Predigtamt das höchste Amt der Kirche (ApolCA XV, 44: BSELK, 534, 3 – 4); eine Tätigkeit, die für die Kirche von zentraler Notwendigkeit ist. Es ist von Gott gewollt und gutgeheißen: Gott billigt dieses Amt „und ist darin anwesend“ (ApolCA XIII, 12: BSELK, 514,15 – 16). So wird auch deutlich, dass die Kritik Melanchthons am Amtsverständnis der römischen Kirche nicht formaler, sondern inhaltlicher Art ist. Weil sie das Evangelium unterdrücken und verfolgen, damit nicht ihrer Berufung nach handeln und so ihren eigentlichen Sinn verfehlen, werden die römische Kirche und ihre Institutionen kritisiert, nicht um ihrer selbst willen. Und so erhält das Amt auch eine neue inhaltliche Füllung; es ist „ministerium docendi evangelii et porrigendi sacramenta.“ (CA Variata, 1) Dabei ist Melanchthon der Gedanke einer repraesentatio Christi durch das Amt nicht fremd: Amtsträger handeln nicht in ihrer Person, sondern „als Christus, wie Christus zeuget: Wer euch höret, der höret mich.“ (ApolCA VII, 28: BSELK, 410,37– 38) Doch das Amt verleiht keinen character indelebilis und dem Amtsträger kommt so kein Amtshabitus zu. Es „steht und fällt […] mit der Ausübung seiner göttlich verordneten Funktionen“. (Haendler 1968, 99) Darum weist Melanchthon in gleichem Maße wie Luther den katholischen Gedanken eines Opferpriestertums zurück (ApolCA XIII, 7: BSELK, 512,31– 514, 5). Kirchliches Amt und Priestertum sind völlig verschiedene Dinge. Das Priesterliche ist das, was jeder Christin und jedem Christen durch die Rechtfertigung im Glauben zukommt. Es ist die Grundkategorie christlicher Existenz und damit die Grundlage des allgemeinen Priestertums aller. Ein damit konkurrierendes amtliches Priestertum kann es nicht geben (Haendler 1968, 99 – 100). Und so verwirft Melanchthon den Gedanken einer besonderen potestas des Amtes. Autorität und Gehorsamsverpflichtung kommen nicht dem Amt als solchem pauschal zu, sondern beide hängen an der Funktionalität seiner Ausübung und Ausrichtung auf die media salutis, durch die Gott selbst handelt. Melanchthon weist eine institutionelle Sicherung oder Garantie des Amtes zurück und stellt seine allein funktionale Legitimität in den Vordergrund; diese kann nicht auf die Amtsträger verobjektiviert werden. Eine gnadentheologisch Über- oder Unterordnung von Amt und Laien ist daher weder vorstellbar noch legitim. Der einzig legitime Unterschied ist der zwischen Verkündigung und Hören (ebd. 344).
3.2 Die „Vollmacht“ des Bischofsamtes Diese Grundüberlegungen machen dann auch eine mögliche Differenz zwischen Pfarrund Bischofsamt von vornherein hinfällig (Tract. 65: BSLK 440, 40 – 41), denn alle, die das Amt bekleiden, haben grundsätzlich die gleiche Vollmacht, seien sie nun Pastoren, Priester oder Bischöfe (Tract. 61; vgl. dazu Fagerberg 1978, 566). Die konstitutiven Funktionen des episcopus sind keine anderen als die des Pfarrers: Verkündigung des Evangeliums,Verwaltung der Sakramente,Vergeben/Behalten der Sünden, Ausschluss
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öffentlicher Sünder und Häretiker (vgl. dazu auch Haendler 1968, 310). Auch die bischöfliche Gewalt kann nur als Amt der Verkündigung wahrgenommen werden. Das heißt, auch das bischöfliche Leitungsamt wird völlig unpolitisch verstanden, und die Vermischung beider in der zeitgenössischen Struktur der römischen Kirche wird von Melanchthon ausdrücklich zurückgewiesen. Es gibt kein politisches gubernare et regere der Bischöfe iure divino. Nur dort, wo es in der Verkündigung des Wortes dessen Superiorität zur Geltung bringt, kann das überörtliche Leitungsamt iure divino Autorität gegenüber dem örtlichen Leitungsamt und der Gemeinde beanspruchen. Alles andere wäre die rein iure humano zugestandene, auf den allgemeinen Ordnungsbereich zielende Liebesordnung im Sinne eines anzuerkennenden im Naturrecht begründeten „menschlichen Kirchenrechts“, wie es für den späten Melanchthon wohl prägend wird (ebd. 318). Doch es bleibt dabei: Das oberhirtliche Amt hat keine „theologisch-religiöse Eigenwürde“ (ebd. 319). Die auctoritas der kirchlichen Amtsträger ist damit aber notwendig eine andere als die der politischen: Sie sind an die Vorgegebenheiten ihrer Autorität aus ihrer funktionalen Hinordnung auf die Verkündigung des Wortes Gottes gebunden und können diese nicht bestimmen oder gar verändern; das heißt, auch das Bischofsamt ist primär vom ministerium verbi und von nichts anderem her zu definieren. Davon streng zu unterscheiden ist jener Komplex von Funktionen, die dem Bischofsamt iure humano als Leitungsamt zugewachsen sein mögen und seine weltlichen Aufgaben umschreiben. Während der erste Bereich der Ordnung der Kirche als societas externa zugeordnet ist, gehört der zweite allein dem Bereich der weltlichen Vollmachten, die dem Bischofsamt als kirchlichem Leitungsamt zwar geschichtlich zugekommen sind (ebd. 313), aber letztlich mit der eigentlichen geistlichen Ausübung des Amtes nichts zu tun haben und damit abzulehnen sind. Innerhalb des kirchlichen Bereiches sind iure divino alle Ämter gleich, mögen diese Funktionen iure humano auch ein differenziertes Gehorsamsrecht zur Folge haben: Im Bereich des ius divinum wäre der Gehorsam als oboedientia debita ministro und damit als Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes zu verstehen; im Bereich des ius humanum aber als Auswirkung der caritas promixi beziehungsweise des dem Naturrecht geschuldeten Gehorsams (ebd. 318). Die Prärogative des bischöflichen Leitungsamtes stellt allein die inspectio der Pfarrer dar. Dadurch hat das oberhirtliche Leitungsamt zwar einen größeren Kompetenzbereich, aber es tut für diesen Bereich dasselbe wie das Gemeindepfarramt als die normale und reguläre Form des Verkündigungsamtes in seinem Bereich: „Das oberhirtliche Leitungsamt ist das überörtliche ministerium ecclesiasticum.“ (ebd. 315) Melanchthon lehnt daher eine Über- beziehungsweise Unterordnung innerhalb des kirchlichen Amtes – gar noch als ius divinum nach damaligem römischen Verständnis – ab (vgl. u. a. Tract. 1; 7; 16; beziehungsweise die Kritik der päpstlichen Vollmachtsansprüche und die Forderung ihrer Begrenzung; vgl. Tract. 25) und betont dagegen die Singularität des kirchlichen Amtes. Gerade aus der polemischen Haltung gegenüber der römischen Kirche heraus ist verständlich, dass Melanchthon die gängigen Begriffe,wie zum Beispiel auctoritas und potestas (potestas ordinis und potestas regiminis) zwar benutzt, sie aber inhaltlich
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völlig anders bestimmt. Darin bringt sich noch einmal die Funktionalität des Dienstes zum Ausdruck (Fagerberg 1978, 565). Denn die potestas des Amtes kommt ihm nicht qua Amt, sondern aus seiner funktionalen Hinordnung auf das Wort Gottes zu. So unterscheidet sich jedes geistliche iudicium von einem weltlichen Urteilsspruch darin, dass es die Präponderanz des Wortes Gottes zur Geltung bringt und aus dieser heraus, nicht aus eigener Amtsvollmacht entscheidet. Das gilt auch und gerade für die Schriftauslegung (Haendler 1962, 305). Allein durch das Wort „leitet“ das Amt. Kirche und Amt begeben sich selbst unter die „Leitungsgewalt“ des Wortes Gottes. Daher sieht Melanchthon im Papstamt und seinem Vollmachtsanspruch im Rekurs auf ein ius divinum den Gipfelpunkt des politischen Missbrauchs der Kirche (Wiedenhofer 1976, 275). Auf diesem Hintergrund sind auch die Ausführungen Melanchthons in der CA XXVIII zu verstehen. Ihnen liegt neben dem Versuch, eine Einigung mit den altgläubigen Bischöfen zu erzielen, das Bestreben zugrunde, das Bischofsamt in seiner altkirchlichen Grundgestalt anzuerkennen und zu übernehmen, und zwar als Amt, das über die konkrete Ausübung im Horizont der Gemeinde vor Ort und ihres amtlichen Dienstes hinausgeht. Die Einigung auf dem Augsburger Reichstag scheiterte an diesem Punkt bekanntlich weniger an einer mangelnden theologischen Kompatibilität der konfessionellen Ansätze als am politischen Widerstand der evangelischen Reichsstände gegen eine Wiedereinführung der bischöflichen Jurisdiktionsgewalt, die mit der verbindlichen Anerkennung der damaligen Bischöfe samt ihrer weltlichen Machtansprüche verbunden gewesen wäre (Meyer 1979, 162– 163; Iserloh 1980, 474– 477). Das zeigt sich auch an den bleibenden Vorbehalten Luthers und Melanchthons, bei der Neuordnung der evangelischen Kirchentümer innerhalb landesherrlicher Strukturen auf bestehende Strukturen zurückzugreifen (Kretschmar 1996, 273; Brosseder 1981, 298). Diese Problematik bedingt auch die Grundstruktur der Ausführungen in CA XXVIII: „Es geht hier im Wesentlichen um drei Fragekomplexe: (1) um die Art der bischöflichen Macht (potestas), genauer um die Frage geistlich/kirchlicher und weltlich/politischer Macht der Bischöfe, (2) um die Art und Reichweite der kirchlichen Lehr- und Leitungsautorität der Bischöfe, (3) um die Frage der ekklesialen Notwendigkeit des Episkopats in seiner geschichtlich gewordenen Gestalt.“ (Meyer 1979, 162) In gut melanchthonischer Manier wird zunächst die Vermischung von weltlicher und geistlicher Vollmacht kritisiert und auf die theologischen Fundamente (CA XXVIII, 1– 4) des kirchlichen Amtes – Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament – auch als Grundlage des Bischofsamtes rekurriert (CA XXVIII, 5 – 9). Diese Grundlegung schärft noch einmal die notwendige Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt ein (CA XXVIII, 12 – 16) und differenziert zwischen den Aufgaben des Bischofsamtes, die seiner geistlichen Funktion entspringen, und denen, die ihm aufgrund seiner weltlichen Vollmacht zukommen (CA XXVIII, 23 – 28); ohne freilich die spezifischen geistlichen Aufgaben wirklich konkret abzugrenzen (Meyer 1979, 159).Wo sie die potestas gladii beanspruchen, kann dies nur aufgrund ihrer weltlichen Aufgaben geschehen „und gehet das Ambt des Evangeliums gar nichts an“ (CA XXVIII, 19). Auch die jurisdiktionelle Gewalt des Bischofs wird streng an das Evangelium zu-
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rückgebunden. Nur in diesem Rahmen des Dienstes am Evangelium kann es überhaupt als ein ius divinum verstanden werden (Cassese 1980, 327). Daher ist eine Reinigung des Episkopats vom imperium notwendig (Brunner 1962, 259). Dieser unterschiedlichen Ableitung entsprechend begründet sich auch eine differenzierte Gehorsamspflicht gegenüber dem Bischof. Die geistliche Vollmacht entspricht dem einen geistlichen Amt: „das ist, den jhenigen, so befohlen ist das Evangelium predigen und sacrament zu reichen, kein ander Jurisdictio aus Göttlichem rechten und dem Evangelio, denn sund vergeben, die lere, so dem enangelio entgegen ist, verwerffen und ander offentlich sund mit dem bann straffen, ohn leiplich gewalt, sondern mit dem Wort. Inn diesen fellen sind die kirchen schuldig aus Göttlichem rechten, ihnen gehorsam zu sein, wie Christus spricht ‚Wer euch höret, der höret mich‘.“ (CA XXVIII, 21– 22: BSELK, 194,3 – 9) Melanchthon setzt für die Ausübung der Vollmacht in der CA und damit für die Gehorsamspflicht (Cassese 1980, 328) zwei notwendige Grenzen: die Bischöfe dürfen nichts gegen das Evangelium lehren (ApolCA XXVIII, 13) und von ihnen erlassenen Zeremonien, Riten, Gesetzen sowie Überlieferungen und Traditionen ist nur dann Gehorsam zu leisten, wenn sie dem Evangelium gemäß sind (hier bricht sich deutlich die rechtfertigungstheologische Füllung des Begriffs Bahn) und das menschliche Gewissen nicht in unnützer Weise in die Irre führen (ApolCA XXVIII, 6.15). Im letzteren Fall ist der Vollmacht des Bischofs nach freiem Ermessen Gehorsam zu leisten (Meyer 1979, 164; Brunner 1962, 260). Melanchthon appelliert im Folgenden an den Versöhnungswillen der Bischöfe (vgl. u. a. CA XXVIII, 69); zieht aber wie Luther (WA 30/ 2,340,23; WA 30/2,341,30; 342,21) in der freien Verkündigung des Evangeliums eine verbindliche und daher nicht zu überschreitende Grenze. Das Evangelium bleibt die kritische Norm gegenüber jeglicher bischöflicher Gewalt. Das Bischofsamt dient dazu, die befreiende Botschaft des Evangeliums zu verkünden und nicht dazu, durch Riten und Gesetze das Gewissen des Einzelnen zu binden. Diese funktionale Bindung ist wiederum das Spezifikum der veränderten Sicht der Reformatoren auf jedes kirchliche Amt und so auch auf das Bischofsamt (Brunner 1962, 278 – 279). Mit Peter Brunner können folgende Grundsätze festgehalten werden (ebd.): – Das ministerium Evangelii geht nicht in der geschichtlich gewordenen Form des Bischofsamtes auf. – Das Evangelium genießt Vorrang vor aller Kirchen- und Weltpolitik. – Dort, wo das Evangelium frei verkündigt werden kann, gibt es keinen Grund, das Bischofsamt abzulehnen. – Alle Funktionen des Bischofs iure divino werden durch die vocatio auch dem Hirten übertragen. – Die Einrichtung einer den einzelnen Gemeinden und ihren Hirten übergeordneten Aufsicht geschieht aus praktischen Gründen. – Das mandatum Dei zur Berufung des ministerium verbi ist der ausschlaggebende Grund für ein übergeordnetes episkopales Amt mit den Aufgaben: Examination und Ordination; Visitation; Feststellung und Verwerfung von Irrlehren; Exkommunikation.
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Wo der Bischof die Funktionen des Hirtenamtes ausübt, übt er sie, obwohl sein Amt sich iure humano erst entwickelt hat, iure divino aus. Die um des Friedens willen erlassenen menschlichen Satzungen der Bischöfe gelten, auch wenn sie nicht der Vollmacht des ministerium verbi entspringen, als Folge des apostolischen Ordnungsgebotes, sofern sie nicht dem Evangelium entgegenstehen; gehören aber nicht zur Heilsordnung.
Und so summiert Lohse zu Recht: „Entscheidend war in der Situation von 1530 nicht die Frage, ob es ein Bischofsamt geben solle oder nicht, weil hier im Grunde beide Seiten einer Meinung waren. Entscheidend war auch nicht einmal die bloße Formel iure divino für die bischöfliche Autorität, weil diese Formel eben mit verschiedenem Inhalt gefüllt werden konnte. Entscheidend war vielmehr der Zusammenhang von Bischofsamt und Evangelium.“ (Lohse 1982, 100; ApolCA XXVIII, 12: „Verum nos de episcopo loquimur iuxta evangelium.“) Dieses Grundprinzip zeigt sich auch im Gegenüber von Luthers apodiktischer Ablehnung des Papstamtes und Melanchthons Position, die eine Anerkennung des Papstamtes unter gewissen Bedingungen für möglich hält (Tract. De potetstate et primatu Papae: BSLK 463, 10 – 464,4; Wenz 1996).
3.3 Der Tractatus de potestate et primatu Papae In einem Zusatz zu den Schmalkaldischen Artikeln Luthers, in denen dieser bezüglich des Papstamtes auch vor übertriebener Polemik nicht zurückscheut, konzidiert Melanchthon zum Ärger mancher Mitstreiter noch: Dem Papst könne man, „falls er das Evangelium zulasse, um des Friedens und der allgemeinen Beruhigung willen, auch von unserer Seite die Oberhoheit zugestehen, die er über die Bischöfe nach menschlichem Recht bei jenen Christen hat, die ihm jetzt unterstehen und in Zukunft unterstehen werden.“ (vgl. BSELK, 780, 15 – 18) Für Melanchthon steht „der pragmatische Nutzen eines Jurisdiktionsprimats im Mittelpunkt“ (Haustein 1997, 87), für Einheit zu sorgen. Luther hatte diese Möglichkeit in den Schmalkaldischen Artikeln erwogen, aber letztlich ausgeschlossen. Melanchthon wirkt hier optimistischer. Freilich ist sein kritischer Blick auf die Möglichkeit der Anerkennung ein grundlegender, wie er im fast zeitgleich verfassten Zusatz zur Confessio Augustana, dem Traktat De potestate et primatu Papae – Von der Gewalt und Obrigkeit des Papstes, deutlich macht (BSELK, 587– 837). Der Tractatus wird später in die Sammlung der lutherischen Bekenntnisschriften aufgenommen und kann daher als offizielle Ergänzung der CA bewertet werden, der man ja vorgeworfen hatte, zentralen Streitpunkten wie der Frage des Papstamtes ausgewichen zu sein. Diese wird nun aber nachgeholt. Entschieden wird dem Anspruch einer Vorrangstellung des Papstes jedes theologische Recht abgesprochen. Drei Dinge stehen dabei im Mittelpunkt der Kritik: „Der Bapst rhümet sich zum ersten, Das er aus Göttlichen Rechten der Oberste sey uber alle andere Bischoffe und Pfarherrn in der gantzen Christenheit. Zum andern, Das er aus Göttlichen Rechten habe beide Schwert, das ist, dass er müge Könige setzen und
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entsetzen, weltliche Reich ordenen etc. Zum dritten sagt er, das man solchs bey verlust der ewigen Seligkeit zu gleuben schüldig sey; und dis sind die ursachen, das der Bapst sich nennet und rhümet, Er sey der Statthalter Christi auff Erden. Diese drey Artikel halten und erkennen wir, das sie falsch, ungöttlich, tyrannisch und der Christlichen Kirchen gantz schedlich sind.“ (BSELK, 797,4– 13) Melanchthon bemüht die Heilige Schrift – widerlegt insbesondere die für den legitimatorischen Nachweis stets bemühten Schriftstellen durch biblische Gegenargumente –, die Kirchenväter und damit die Historie, um einen irgendwie theologisch begründeten Primatsanspruch energisch zurückzuweisen. Allesamt ermangelt den einzelnen, mit dem Anspruch verbundenen Gehorsams- und Unterwerfungsforderungen die Schriftgemäßheit, aber auch der Konsens der Tradition der Kirchenväter und damit der Nachweis, solche Rechte iure divino beanspruchen zu können. Der durchgehende Widerspruch der Kirchenväter ist der Beweis der Anmaßung, die in diesem Anspruch steckt, und der nicht nur bei den Reformatoren, sondern auch bei den Repräsentanten der Tradition der Kirche stets auf Widerspruch getroffen ist. Im Stil kann Melanchthon in seiner Kritik am Papsttum dabei durchaus mit Luthers Polemik gleichziehen: „Darumb sollen Gottesfürchtige Leute solche greuliche Irrtümer des Bapsts und seine Tyranney wol bedencken und zum ersten wissen, das solche Irrtumb zu fliehen und die rechte Lere der ehre Gottes und der Seelen seligkeit halben anzunemen sey. Darnach, das man doch bedencke, wie eine greuliche große Sünde es sey, solche unbilliche wüterey des Bapsts helffen fördern, da so viel fromer Christen so jemmerlich ermordet werden, welcher Blut ohn zweiffel Gott nicht wird ungerochen lassen […].“ (ebd. 821,14– 20) Auch die Luthers Papstkritik grundlegend prägende Antichrist-Metaphorik ist Melanchthon nicht fremd: „Darumb ob schon der Bapst aus Göttlichen Rechten den Primat oder Obrigkeit hette, sol man ihm dennoch keinen Gehorsam leisten, weil er falsche Gottesdienst und ein andere Lere wider das Evangelium erhalten wil, ja man sol sich aus not wider in als den rechten Antichrist setzen.“ (ebd. 823, 11– 14) Der Vorwurf der Abgötterei macht sich insbesondere auch an der Kategorie der Verfolgung der Andersdenkenden, ja das Tötens „frommer Christen“ fest: „Die es aber mit dem Bapst halten und seiner Lere und falsche Gottesdienst verteidingen, die beflecken sich mit Abgötterey und Gotteslesterlicher Lere und laden auff sich alles blut der fromen Christen, die der Bapst und die seinen verfolgen, die verhindern auch Gottes Ehr und der Kirchen seligkeit, weil sie solche Irtumb und laster für aller Welt und allen Nachkomen zu schaden verteidigen.“ (ebd. 823,23 – 28) Diese Polemik hat aber auch argumentativen Charakter, denn damit wird die Entbindung möglicher Gehorsamspflichten theologisch legitimiert und der Widerstand gegen die päpstlichen Anmaßungen sogar zur religiösen Pflicht. Indes wirft am Ende insbesondere das von Melanchthon so polemisch überzeichnete Selbstverständnis des Papstamtes als episcopus oecumenicus bleibend Fragen auf; nicht nur angesichts so manch kirchengeschichtlich virulenter, absolutistischer Selbstinszenierung dieses Amtes vor, während und nach dem reformatorischen Zeitalter. Melanchthons Kritik zielt auf den Anspruch des Papstamtes, „von
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welchem alle Bischoffe und Pfarherrn durch die gantze Welt sollen Ordinirt und bestetiget werden, das er allein Recht und macht habe, alle Bischoffe und Pfarherren zu wehlen, ordnen, bestetigen und einzusetzen. Neben dem masset er sich auch dis an, das er macht habe, allerley Gesetz zu machen von Gottesdienst, enderung der Sacrament und der Lere, und wil, das man seine Statuta und Satzungen andern Artickeln des Christlichen Glaubens und der heiligen Schrifft sol gleich halten, als die one sünde nicht mögen nachgelassen werden.“ (ebd. 797,18 – 799,3) Hier scheint sich die Kritik am zeitgenössischen Papsttum als einer bestimmten Ausübungsform mit einer prinzipiellen Infragestellung zu vermischen, die das System der Papstkirche nicht nur als prinzipiell missbräuchlich versteht, sondern den eigenen Weg als einzig möglichen Ausweg verteidigt – eine Tendenz, die sich insbesondere in den späten Schriften Melanchthons verstärken wird. Das wiederum erklärt sich aus der Begründung von Autorität innerhalb der Ekklesiologie Melanchthons.
4 Schrift, Tradition und die Lehre der Kirche Es ist nicht verwunderlich, dass die polemische Negativseite des Verständnisses der Kirche als „Kirche unter dem Wort“ Melanchthons Kritik am Missbrauch von potestas und auctoritas in der Kirche bildet, der letztlich darin gründet, dass das politische Modell der Machtausübung illegitimer Weise auf die Kirche übertragen wird (Kühn 1980, 50). Dieser Übertragung steht das Wort Gottes explizit als Grenze entgegen. Der Grundduktus einer so fundierten Kirchenkritik Melanchthons ist wie folgt zu strukturieren (vgl. zum Folgenden bes. Wiedenhofer 1976). „Wie finde ich einen gnädigen Gott?“, so lautet die theologische Kernfrage der Reformation. Melanchthon verortet die Kirche in den Lehrstreitigkeiten seiner Zeit als eine von ihren Anfängen an in die fundamentale Differenz zwischen Heilswahrheit und der, deren Überlieferung hineingestellten Kirche (Wiedenhofer 1976, passim; zur humanistischen Herkunft dieser Unterscheidung vgl. ebd. passim). Die Gaben, die sie als göttliches Geschenk als dona spiritu sancti erhalten hat, zeichnen sie in besonderer Weise aus, aber sie ist nicht Herrin dieser Gaben, sondern bleibt in ihrem Gebrauch und ihrer Ausübung stets vom Wort Gottes abhängig. So ist sie in der Auslegung der Schrift – eine Gabe an die ganze Kirche, nicht nur an einzelne ihrer Glieder – an die Schrift zurückgebunden: daher ist „das mit der Schrift übereinstimmende Zeugnis der Kirche auch nicht glaubensbegründend, […] sondern glaubensstärkend.“ (ebd. 270) In ähnlicher Gebundenheit sieht Melanchthon die Übereinstimmung der kirchlichen Überlieferung: Auch hier sind Aussagen der kirchlichen Tradition zwar nützlich zur Bestärkung des Geistes, „aber der Glaube selbst stützt sich nicht darauf.“ (ebd. 272) Trotz aller Betonung der Wichtigkeit der Tradition und ihrer Funktion als Maßstab kirchlicher Lehre ist sie von sich aus keine Quelle des Glaubens oder der kirchlichen Verkündigung (Haendler 1968, 199). Sie bedarf zuvor der Beurteilung. Und Kriterium dieser Beurteilung ist und bleibt die Heilige Schrift. Sie allein unterscheidet zwischen wahrer, das heißt schriftgemäßer, und falscher, das heißt schriftwidriger Tradition und
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ist so die kritische Norm aller Überlieferung (ebd. 199 mit Verweis auf De eccl.: MSA 1, 334,13 – 21; 345,15 – 27, und Loci 1559: MSA 2/2, 482,28 – 29). Das allein macht sie zur apostolischen Überlieferung und bestätigt ihre Orthodoxie (Haendler 1968, 203). Dieser Prüfung halten insbesondere zwei Überlieferungsbereiche stand: Die altkirchlichen Bekenntnisse und die trinitarischen beziehungsweise christologischen Dogmen der Konzilien der ersten fünf Jahrhunderte. Bekenntnisse und Dogmen „haben eine qualitativ-summarische, […] eine konzentrative Funktion in Bezug auf die Schrift.“ (ebd. 205) Das heißt, für Melanchthon „erstellt“ und „erhellt“ Tradition „als konzentrative Summe der Schrift den Gesamthorizont und -zusammenhang der Schrift.“ (ebd. 206) Über die Schriftgemäßheit ihrer Auslegung reguliert die Schrift die richtige Auslegung ihrer selbst. Insofern hat die Tradition eine eminent heuristische Funktion: sie ist „Auslegungshilfe für weitere Auslegung.“ (ebd.) Dabei bleibt sie der Schrift zu- und untergeordnet. Die Tradition legt Zeugnis ab für die Schrift und gerade daran ist ihre Wahrhaftigkeit zu messen. Ihr Status kann kein materialer, sondern nur ein funktionaler sein (ebd. 219 – 220): Sie kommt von der Schrift her und führt auf sie hin. „Diesen Unterschied muß man beachten: Wir verachten nicht die lehrende Kirche, und dennoch wissen wir Gottes Wort als Richter.“ (MSA 2/2, 483,3) Diese Grunddimension bestimmt Melanchthons Verständnis von Lehre und Verkündigung der Kirche als ganzer. Ja, doctrina ist für Melanchthon letztendlich beides: das Verkündigungsgeschehen und sein Inhalt. Und auf Letzterem liegt der eigentliche Schwerpunkt, als das,was der Glaube wahrhaftig erfasst. Aber so, dass dieses Erfassen zugleich das Beschenktwerden durch Gott, das Heilwerden beinhaltet. Indem Melanchthon Lehre und Verkündigung eng zusammenbindet, ja die Begriffe doctrina und praedicatio promiscue gebrauchen kann, zeigt sich noch einmal die Dominanz des Schriftprinzips für alle kirchlichen Vollzüge. Beides ist nach ihm gleichermaßen inhaltlich von der Schrift her zu bestimmen (und gerade dadurch formal nicht zu unterscheiden). Die Schrift selbst nötigt zu ihrer Verkündigung; sie „setzt Tradition als ihr eigenes Tradiertwerden aus sich heraus.“ (Haendler 1968, 149) Daher kann Melanchthon Schrift wie Tradition als Verkündigung verstehen. Und so ist diese Grundstruktur von Tradition Methode, das heißt Organisationsprinzip der kirchlichen Lehre als ganzer, beziehungsweise sie dient als Maßstab der je neuen „Übersetzungsleistung“ kirchlicher Lehre bis hinein in Wort- und Begriffswahl, die als „angemessene und richtige forma loquendi“ für alle weitere kirchliche Lehre gilt (ebd. 223). In Verbindung mit dem konzentrativen Verständnis von Tradition, das zum Maßstab jeglicher Übersetzungsarbeit kirchlicher Lehre wird, ergibt sich bei Melanchthon ein für die Qualifizierung der kirchlichen Lehre eher tautologisch anmutendes Verständnis: Weil die Schrift einzig, einheitlich und eindeutig ist, fordert sie in ihrer Auslegung und Überlieferung die ihr entsprechende Einzigkeit, Einheitlichkeit und Eindeutigkeit der kirchlichen Lehre und Verkündigung. Auch hier trägt Tradition das schützende und bewahrende Moment als Hauptkennzeichen (ebd. 224). Jede kirchliche Lehre ist daher, sofern sie schriftgemäß ist, formal gesehen: Überlieferung – Menschenwort; inhaltlich gesehen aber „Wort Gottes“, weil sich hier nicht ein Menschenwort, sondern eben das Verbum Dei zur Sprache bringt (ebd. 236 – 237). Und diesem ist der Gehorsam ge-
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schuldet. Es geschieht so etwas wie eine zweifache Inpflichtnahme: die Verpflichtung zur Verkündigung der wahren Lehre seitens des Amtes und die Verpflichtung zum Hören seitens der Gemeinde. Beide sind letztlich und eigentlich vom Wort her entworfen, sind selbst Wortgeschehen beziehungsweise Konkretisierung und Realisierung des Wortgeschehens (ebd. 337).
5 Die „wahre Kirche“ als „Schule“ Verkündigung und Hören sind eng einander zugeordnet. Das Wort der Verkündigung macht Kirche für Melanchthon zu einem coetus docentium et discentium, oder noch deutlicher zu einem coetus scholasticum. In der Oratio de iudiciis Ecclesiae et de discrimine poenae ecclesiasticae et politicae von 1556 führt Melanchthon dieses ekklesiologische Modell näher aus (vgl. dazu auch Brecht 1996, 305 – 306). Die Kirche ist „keine ‚idea platonica‘, sondern ein ‚visibilis coetus‘ […] zusammengesetzt aus bestimmten und zugleich unterschiedlichen Menschen: Lehrenden und Lernenden – die professorale Sichtweise ist bezeichnend –, Gesunden, Kranken, Belehrbaren, Lasterhaften, Heilbaren und Unheilbaren. […] Ein solches Gemeinwesen braucht Leiter, Urteile und Strafen. Es besteht aber ein Unterschied zum politischen Gemeinwesen, in dem die Obrigkeit das Gesetzt handhabt, auslegt und Strafen ausspricht. In der Kirche gilt das Evangelium Christi, verstanden als Lehre von der Buße und ewigen Verheißung, ohne sonstige Zusätze […]. Die eigentliche kirchenleitende Instanz ist eben das Wort Gottes. Eine Institutionalisierte Autorität für die Auslegung, wie sie der Papst beansprucht, gibt es nicht.“ (ebd. 305) Das hat entscheidende Konsequenzen für die weiteren Konturen des Kirchenverständnisses Melanchthons. Die Kirche Gottes wird dort, ja nur dort sichtbar, wo der wahre Glaube gelehrt und weitergegeben wird (Wriedt 2001, 512– 513). Diese lehrende Kirche ist insbesondere in der vom Heiligen Geist geschenkten Schriftauslegung zu entdecken. Daher ist nicht nur die Kontinuität dieser lehrenden Kirche bis zurück zur Lehrtradition der Alten Kirche das entscheidende Kriterium der „wahren Kirche“ (ebd. 513), sondern die Analogie von Kirche und Schule reicht auch weit hinein in die Konstruktion und Bewertung struktureller Gegebenheiten, zum Beispiel die Bewertung des Standorts der akademischen Theologie im Gefüge der Kirche. Am deutlichsten ist freilich die Opposition zum traditionellen Kirchenverständnis. Der Begriff der Kirche als „Schule“ bildet bei Melanchthon so den positiven Gegenbegriff zum polemisch kritisierten politischen und damit auf Herrschaft gründenden Kirchenverständnis der römischen Kirche. So ist der Amtsträger im Sinne Melanchthons eben kein Herrscher, sondern Lehrer, „weil er wie dieser nicht mit formeller Autorität ausgestattet ist […], sondern weil er ebenso wie der Lehrer auf das Wesentliche hin […] nur das weitergeben darf, was er selbst empfangen oder gelernt hat, nämlich das Evangelium.“ (Wiedenhofer 1976, 287) Deutlich wird hierin das funktionale Zentrum des Melanchthonschen Amtsverständnisses, ja seines gesamten Verständnisses von kirchlicher Lehr- und Überlieferungstätigkeit: Das heißt, gegen die
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politisch verstandene successio episcoporum wie auch gegen das politische Verständnis der Katholizität wird „die Idee der Kontinuität der Lehre […] gegen die Idee der Prävalenz der Institution die Idee der Prävalenz der Funktion“ gestellt (ebd. 288). Auch hierbei ist letztlich das Überlieferte, das Wort Gottes, das Entscheidende. Wenn sehr häufig die Überlieferungstätigkeit von Kirche und Amt bei Melanchthon als Lehre bezeichnet wird, so ist auch hierbei klar: Lehre ist Hinführung, mahnender Hinweis, Bestätigung und Bestärkung (ebd. 289). Zu Recht bezeichnet Wiedenhofer dieses Verständnis von Kirche als „humanistisch beeinflusst“ und betont dabei das ganzheitliche Verständnis der Funktionen des Überlieferungsprozesses im Gegensatz zu einer allein intellektuell verkürzten Wahrnehmung eines politisch beziehungsweise juridisch orientierten Modells (ebd. 29). Kirche ist auf die Versammlung um das in ihrer Mitte verkündigte Wort zentriert und erweist sich daher als auch in ihrer soziologischen Struktur nicht von menschlicher Zustimmung oder Ablehnung abhängig. „Kirche existiert als […] vom Wort gestaltete[s] und geordnete[s] Seinsgefüge, oder sie ist nicht Kirche.“ (Haendler 1962, 190) Das bedingt nun aber keinen rein statischen Kirchenbegriff, denn dieses Ordnungsgefüge ist ein „Sollgefüge“ (ebd. 193), das heißt, Kirche hat sich stets an seiner Funktionalität und deren Erfüllung zu messen. Nur wenn sie das Wort sucht und sich nach ihm ausrichtet, kann es auch in ihr vernommen werden; und zwar so vernommen werden, dass es zugleich eine in Dienst nehmende Verpflichtung der die Verkündigung Hörenden ist. Die Bindung an die Kirche ist notwendige Folge der Verkündigung und im Sinne des Gehorsams gegen das Wort notwendige Voraussetzung der Bindung an das Wort Gottes (ebd. 194). Die Bindung an die Kirche stellt einen geistlichen, aber auch einen soziologischen Akt dar; sie ist zugleich ein Zutritt zur Kirche als externa politia. Auch hier weist Melanchthon in aller Deutlichkeit ein kongregationalistisches Missverständnis von Kirche zurück. Kirche ist keine naturrechtliche, das heißt aus dem „menschlichen Gemeinschaftsstreben, aus der gesellschaftlichen Natur und der Anlage des Menschen“ herkommende Größe (ebd. 197). Der einzige Grund der Kirche ist Gottes Kirche schaffendes Handeln. Gerade in den späten Jahren verdeutlicht Melanchthon diese bleibend externe Dimension von Kirche und stellt damit die „heilseffektive Wirksamkeit Gottes durch sein Wort […], die in jedem Fall in der ecclesia visibilis zum Zuge kommt“ (Kühn 1980, 42), in den Mittelpunkt. Die Betonung der Sichtbarkeit der Kirche ist bedingt durch die sich verfestigende Auseinandersetzung zwischen der wahren, das heißt evangelischen und der falschen, das heißt römischen Kirche (Kühn 1989, 262; Wiedenhofer 1976, 264– 265). Wird die Frage der institutionellen Konstitutiva in den frühen Jahren je nach den Erfordernissen entschieden, so setzt Melanchthon später systematisch-reflektierter an: „Das kirchliche Recht hat seinen Ursprung in zwei Rechtsquellen verschiedenen Ursprungs und verschiedener Wertigkeit. Das göttliche Kirchenrecht, durch das Wort im Amt gesetzt, entwirft die Grundstruktur kirchlichen Rechts und kirchlicher Ordnung. Das menschliche Kirchenrecht, durch die lex naturae in den ordinationes facta humana auctoritate gesetzt, ergänzt dieses.“ (Haendler 1962, 199 – 200) Auf den ersten Blick scheint es, als entfremde sich Melanchthon damit dem lutherischen und urreforma-
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torischen Anliegen (vgl. auch Kühn 1980, 54). Freilich denkt er den lutherischen Gedanken einer cooperatio cum Deo gerade in Gottes Handeln an und in der Welt durch den Menschen nur in offenerer, philosophisch-naturrechtlicher Form konsequent zu Ende. In ähnlicher Weise kann Melanchthon auch die effacia des kirchlichen Amtes näher bestimmen und konkretisieren und damit dem donatistischen Amtsverständnis der Täufer und Schwärmer entgegentreten. Die eigentliche theologische Spitze richtet sich freilich auch gegen ein römisches Amtsverständnis: Nicht das Amt selbst macht das Reden und Handeln des Amtsträgers zum Reden und Handeln Gottes, es ist also keine persönliche „Eigenschaft“ des Amtsträgers, die ihn gar von den anderen unterschiede, sondern dessen funktionale Zuordnung zu den media salutis, die das Amt als solches auszeichnet: Damit wird der Amtsträger jeglicher externer „institutionalisierter Absicherung“ und damit einer ihn selbst von den anderen grundlegend unterscheidenden gnadentheologischen Zusatzqualifikation beraubt und so seine Vollmacht allein als Heilsmächtigkeit des in den media salutis handelnden Gottes verstehbar (Haendler 1968, 331– 332). Darum kann sich Melanchthon auch kein Evangelium ohne Kirche vorstellen. Bei aller Kritik an der vorfindlichen Kirche und an dem in ihr praktizierten Missbrauch kirchlicher Vollmacht bleibt es gerade durch die Bindung der Kirche an das effektiv wirksame Wort Gottes wahr: „Nur in der Kirche ist Offenbarung und Wort Gottes und: Außerhalb der Kirche kein Heil.“ (Wiedenhofer 1976, 299) Und so fasst – bei aller Einschränkung, die gegenüber der für Melanchthon und die Reformation unzeitgemäßen Verwendung des Offenbarungsbegriffs durch Wiedenhofer gemacht werden muss – folgende Bemerkung Wiedenhofers die letzte Aporetik des damaligen Streits um die wahre Kirche treffend zusammen: „Das Fatale an der theologischen Situation [der Reformation, d.Vf.] bestand hier ja darin, daß faktisch nur auf dem Boden der mittelalterlichen Entwicklung gegen diese Entwicklung gekämpft werden konnte und daß den beiden systematischen Grundprinzipien […]: ‚ohne kirchliche Vermittlung keine Offenbarung‘ (katholisch) und ‚die Offenbarung geht in der kirchlichen Vermittlung nicht auf‘ (Melanchthonisch-reformatorisch) eine […] juristisch formulierte Alternative (Frage nach der höchsten potestas: Heilige Schrift oder kirchliches Lehramt) als Alternative theologischer Prinzipien nicht mehr angemessen ist.“ (ebd. 311)
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Prädestination, Eschatologie, Frömmigkeit 1 Prädestination Während Melanchthon in seiner Frühzeit unter dem Einfluss Luthers prädestinatianische Gedanken hegte, wendete er sich später davon ab und kritisierte auch schon früh die prädestinatianischen Vorstellungen Calvins. In den Loci communes 1521 behandelte oder vielmehr streifte Melanchthon die Prädestinationsfrage (praedestinatio kommt dreizehn mal vor), die er als „besonders harten Topos“ (asperrimus locus) bezeichnet, im Rahmen seiner für sein gesamtes Werk grundlegenden Frage nach den „Kräften des Menschen“ (De hominis viribus), zu der die Frage nach der Freiheit oder Unfreiheit des menschlichen Willens gehörte. Lapidar erklärt Melanchthon: „Da doch alles, was geschieht, gemäß der göttlichen Vorherbestimmung notwendig geschieht, gibt es keine Freiheit unseres Willens (Quandoquidem omnia quae eveniunt, necessario iuxta divinam praedestinationem eveniunt, nulla est voluntatis nostrae libertas).“ (MSA 22/1, 24,4– 6) Eine wirkliche, differenzierte Erörterung der Prädestinationsthematik hinsichtlich ihrer biblischen Grundlagen, ihrer theologischen Aspekte und ihrer ethischen Konsequenzen findet sich nicht. Melanchthon rechnet die Frage der praedestinatio zwar zu den capita der Theologie, aber zu den capita, denen er sich bewusst nicht ausführlicher zuwenden wollte. Zählte sie für ihn auch zu den „Geheimnissen“, die man besser anbeten als erforschen sollte? Bei der Auflistung der capita findet sich das Stichwort praedestinatio zwischen der Ethik (caritas) und der Sakramentenlehre (signa sacramentalia) (MSA 2 2/1, 19,30 – 31). Melanchthons Umschwung in dieser Zentralfrage reformatorischer Theologie (anders Mahlmann [1997], der eine bleibende, wenn auch versteckte Nähe zu Calvin sieht) hing einerseits mit Luthers Streit mit Erasmus zusammen, andererseits mit praktischen Erfahrungen in Gemeinden auf Visitationsreisen sowie Erfahrungen seines eigenen Lebens. Melanchthon sah den Menschen zwar weiterhin als auf Gott angewiesen und von Gott abhängig an, allerdings nicht als ausschließlich passiv. Deshalb bestritt er von 1527 an die völlige Unfreiheit des Willens und damit zusammenhängend auch die Lehre von einer definitiven, unabänderlichen göttlichen Prädestination. Mit Calvins ersten Überlegungen zur Prädestination setzte sich Melanchthon schon 1543 in zwei Briefen an den Genfer Reformator auseinander, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Kurz und bündig legt Melanchthon dar, dass die Prädestinationsfrage erstens nicht zu den wichtigen evangelischen Lehrstücken gehört, und empfiehlt dem zwölf Jahre jüngeren Calvin ohne Umschweife, sich lieber diesen zu widmen als der Prädestination. Zweitens erklärt Melanchthon, er halte das Problem von Providenz und Kontingenz für unlösbar und erinnert an diesem Punkt an DOI 10.1515/9783110335804-032
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seinen Tübinger Lehrer Franz Stadian. Drittens betont Melanchthon mit Entschiedenheit, dass nicht Gott die Ursache der Sünde sei, sondern der freie Wille (MBW 3245). Auf eine leider nicht erhalten gebliebene Antwort Calvins antwortet Melanchthon am 12. Juli desselben Jahres und bekräftigt noch einmal seine Position (MBW 3273). Indirekt bezeugt Melanchthons heftige Kritik an Calvin, dass dessen Prädestinationslehre in den Augen der Zeitgenossen nicht, wie von der neueren Calvinforschung behauptet, zu den Randthemen seiner Theologie gehörte. Mit nur indirekten, keinen namentlichen, und nur vorsichtigen, keinen polemischen Bezugnahmen auf Calvin diskutiert Melanchthon die Prädestinationslehre anschließend sowohl in seinen etwa gleichzeitig entstandenen Loci der dritten Aetas (MSA 22/2, 628 – 638) als auch in seinen Hauptartikeln von 1553 (Melanchthon [1553] 2002, 302– 306) und geht aus von der alle Menschen angesichts der Not und des Elends in der Welt quälenden Frage, ob ein bestimmter Teil der Menschen unter einer besonderen Fürsorge Gottes stehe („an aliqua pars generis humani peculiariter curae Deo sit“), wie er das Problem der Prädestination zunächst umschreibt. Die Behandlung des Themas hat somit von Anfang an einen seelsorgerlichen, keinen theologisch-spekulativen Charakter. Melanchthon bejaht die Erwählung der Kirche und ihr ewiges Bestehen, spitzt die Frage dann aber auf die Erwählung des Einzelnen zu: „Darnach fraget dein eigen hertz, ob du selb auch zu ewiger selikeit erwelet seyst und welche ursach sey der erwehlung zu ewiger selikeit.“ (Melanchthon [1553] 2002, 302, 25 – 27) Wie Luther in seinem Streit mit Erasmus wehrt Melanchthon jede Spekulation über den verborgenen Willen Gottes ab und schärft ein, sich an das offenbarte Gotteswort zu halten. Eindringlich heißt es in deutscher Sprache in den Hauptartikeln: „Wir sollen von gottes wesen und willen dises gewisslich schliessen, das ehr durch sein wort, nemlich durch seinen eingebornen Son Ihesum Christum, durch die propheten und Aposteln geoffenbart hatt, und sollen nicht ausser gottes wort eigne gedanken tichten von seinem wesen und willen.“ (Melanchthon [1553] 2002, 302, 29 – 33) Seinen Studenten sagt er es in folgender Weise: „Weder nach der Vernunft noch nach dem Gesetz darf über die Erwählung geurteilt werden, sondern nur gemäß dem Evangelium (Nec ex ratione nec ex Lege iudicandum est de electione, sed ex Evangelio).“ (MSA 22/2, 630,16 – 17) In der Folge benennt Melanchthon, unterstrichen durch zahlreiche Bibelzitate, die Sünde als die Ursache der Verwerfung und Gottes Barmherzigkeit, der der Mensch im Glauben antwortet, als die Ursache der Erwählung und macht deutlich, dass das Heilsangebot Gottes, vielmehr die Heilstat Gottes in Jesus Christus grundsätzlich allen Menschen gilt, wie nicht zuletzt 1 Tim 2,4 bezeugt. Die biblische und seelsorgerliche Erörterung der Prädestinationsfrage durchzieht den ganzen weiteren Diskussionsgang. Zweifeln, ob man denn selbst wirklich glaube und somit zu den Erwählten gehöre, begegnet Melanchthon tröstend unter Verweis auf das Gebet und die von Gott zugesagte Gebetserhörung: Wer Gott um seinen Geist bittet, bekommt ihn und damit auch den Glauben. Der Locus über die Prädestination schließt, sowohl in den Loci als auch in den Hauptartikeln, mit einer Aufforderung zum Gebet, zur „anruffung“ („invocemus Filium Dei“).
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Der Frage nach der Situation der Nichtchristen – der Juden und der „Heiden“ – begegnet Melanchthon unter Verweis auf deren Schuld, dem Ausschlagen des Heilsangebots Gottes. Auch dies unterstreicht noch einmal, dass Melanchthon dem menschlichen Willen die Freiheit zubilligt, sich gegen Gott zu entscheiden. Die Abhandlung in den Loci ist länger als die in den Hauptartikeln, weil Melanchthon in die Loci eine ausführliche Auseinandersetzung mit Röm 8,30 integriert hat, mit der Frage nach dem Zusammenhang von Erwählung und Berufung – bei Paulus in dieser Reihenfolge. Melanchthon entfaltet jedoch auch diesen Zusammenhang nicht spekulativ, sondern erneut seelsorgerlich, indem er drei Trostgründe daraus ableitet und darlegt.
2 Eschatologie Die „letzten Dinge“ wurden von Melanchthon 1521 in seinen Loci communes nicht behandelt. Sie gehörten, so kann man unterstellen, obwohl es Melanchthon nicht ausdrücklich sagt, zu denjenigen Hauptpunkten der Theologie, die er wie die Schöpfung und die Trinität lieber nicht behandeln wollte, weil ihre gedankliche Durchdringung nicht möglich ist und auch nichts nützt. Der Gang der Geschichte und der Theologiegeschichte veranlasste Melanchthon jedoch, wie die Trinität so auch die Eschatologie in späteren Ausgaben seiner Loci aufzugreifen, standen doch eschatologische Fragen spätestens durch die Endzeitberechnungen Michael Stifels 1533 und schon zuvor durch die biblizistischen Zukunftserwartungen der Täufer im Raum. 1530 bezog die CA Stellung: Artikel 17 bekannte in Übereinstimmung mit der kirchlichen Tradition die Wiederkehr Christi „am Jüngsten tag“ (in consumatione mundi), um zu richten (ad iudicandum). „[A]lle“ (omnes) Toten würden von ihm auferweckt, worauf er „den ausserwelten und gerechten“ (pi[i] et elect[i]) „ewigs leben und ewige freude“ (vit[a] aetern[a] et perpetua gaudia) geben und die „Gottlosen menschen […] und die Teuffel“ (impi[i] … homin[i] ac diablol[i]) „verdamnen“ (condemna[re]) werde. „[V]erworffen“ werden die „widderteuffer“, die die „ewige pein und qual“ der verdammten Menschen und der Teufel leugneten (qui sentiunt hominibus damnatis ac diabolis finem poenarum futurum esse). Ferner werden auch „etliche Jüdische Lere“ (Iudaica[e] opiniones) verworfen, die vor der allgemeinen Auferstehung ein „weltliche reich“ (regnum mundi) erwarteten, in dem „eitel heilige frome“ (pii) regierten und „alle Gottlosen“ (impi[i]) vertilgt würden (BSELK, 112/113,4– 11). Diese Positionierung Melanchthons und der Evangelischen in Augsburg hatte einen konkreten Anlass im Auftreten des Täufers Augustin Bader, der mit messianisch gestimmten Juden in Verbindung gestanden war. Seitens der Altgläubigen stieß diese Positionierung auf Zustimmung, weshalb die Apologie der CA nicht noch einmal auf diese Thematik eingehen musste. Weiter herausgefordert durch die eschatologischen Erwartungen verschiedener Täufer, nicht zuletzt durch das Täuferreich von Münster 1534/35, war Melanchthon
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auch weiterhin gezwungen, Themen der Eschatologie in seinen Lehrbüchern zu behandeln. Auch in der Letztauflage seiner Loci spricht Melanchthon die Zukunft der Welt im Kapitel über das Reich Christi (De regno Christi) an und weist erneut den „jüdischen Irrtum“ (error [… ] Iudaicus) der „Anabaptisten“ zurück, die vor dem Jüngsten Tag ein irdisches Gottesreich erwarteten, das von den Frommen regiert und in dem die Gottlosen ausgerottet würden. Das Reich Christi sei geistlich (spirituale), nicht weltlich, so betont er (MSA 22/2, 640). Melanchthon rechnete,wie Luther, mit einem baldigen Weltende, sah es aber nicht als möglich an, einen konkreten Zeitpunkt vorherzusagen oder zu berechnen. Das Vorrücken der Türken und die Türkenkriege waren ihm Anzeichen des kommenden Weltendes. Die biblische Gestalt des Antichrists konnte er mit den Türken identifizieren. Melanchthon argumentierte – wie Luther – mit Dan 7 und glaubte, in dem von Daniel prophezeiten bald endenden letzten Weltzeitalter zu leben. So gesehen war Melanchthon Apokalyptiker, wie die meisten Theologen der Reformation, allerdings ein gemäßigter Apokalyptiker. Die Zukunft des Einzelnen behandelt Melanchthon in der Letztauflage der Loci unter der Überschrift „Über die Auferstehung der Toten“ (De resurrectione mortuorum). Auf die Auferstehung folgt nach Melanchthon das Gericht, und dieses hat einen doppelten Ausgang: ewiges Leben für die Frommen, ewige Strafen für die Gottlosen. Interessant ist, dass Melanchthon, obwohl er klar am doppelten Ausgang festhält, den positiven Ausgang sehr viel ausführlicher und anschaulicher schildert als den negativen, breit untermauert durch Bibelworte des Alten und des Neuen Testaments. Während die Gottlosen (impii) „ewige Strafen“ erwarten,werden die Frommen (pii) mit „ewiger Herrlichkeit“ (gloria aeterna) beschenkt, die sich konkretisiert in einer Welt des Lichts (nova lux), erfüllt von Weisheit und – vollkommener (perfecta) – Gerechtigkeit (sapientia et iustitia), in der es weder Sünde (peccatum) noch Tod (mors) mehr gebe. Die Frommen erleben eine immerwährende Freude (perpetua laetitia) und genießen die volle Erkenntnis Gottes (perfecta agnitio Dei). Melanchthon vergleicht das Leben der Auferstandenen mit einem immerwährenden Festtag (perpetuus festus dies), der ausgefüllt wird mit der ständigen Anbetung Gottes (perpetua adoratio, id est, Dei cognitio). Es ist eine körperliche, keine rein spirituelle Existenz, allerdings keine in und mit den alten Körpern, sondern in erneuerten (renovata) Körpern (MSA 22/2, 645 – 652). Die Aussicht auf dieses neue Leben in Herrlichkeit ermöglicht es dem Menschen, die Widerwärtigkeiten des irdischen Lebens (aerumnae huius vitae) leichter zu ertragen, so Melanchthon. Er zeigt damit auch an diesem Punkt seiner Theologie, dass ihm jede Spekulation fremd ist und er weiter keine göttlichen Geheimnisse um ihrer selbst willen erkennen will, sondern theologische Erkenntnis abzielt auf das praktische Leben des Christen.Vielleicht aus diesem Grund bezeichnete Melanchthon in einer für das nicht gelehrte Publikum bestimmten deutschsprachigen Veröffentlichung (Heubtartikel Christlicher Lere, 1553) den „Artikel von dem ewigen Leben und Aufferstehung von den Todten“ als den „höchsten Artikel einer der gantzen Christlichen lere des Evangelii“ (Melanchthon [1553] 2002, 399).
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Gleichwohl erwartet Melanchthon vom ewigen Leben selbst einen Erkenntnisgewinn, ja eine Vervollkommnung der Erkenntnis. Dies drückte er in seinen späten Jahren verschiedentlich in der Vorstellung einer himmlischen „Akademie“, einer Akademie des Sohnes Gottes und der Seligen im Himmel aus („Academia[…] multo pulchrior[is] et tranquillior[is]“, CR 7, 319). Zeitlebens war Melanchthon ein Mann der Universität gewesen. Auch den Himmel stellte er sich deshalb am liebsten als Universität vor, wo er wie an der Wittenberger Universität mit Kollegen und Freunden, aber auch mit Propheten und Aposteln Umgang haben werde. Die eschatologische Vollendung stellt dabei den paradiesischen Urzustand wieder her, zu dem ebenfalls Gotteserkenntnis und vertrauter Umgang mit Gott gehört hatten. Mit einer theologischen Tradition, die auf Origenes zurückgeht, beschrieb Melanchthon schon 1521 das Paradies als perfekte schola Theologica. Durch den Sündenfall jedoch habe der Mensch nicht nur die Unsterblichkeit verloren, sondern auch die vollkommene Erkenntnis (CR 11, 44– 45). Das in Jesus Christus eröffnete ewige Leben werde sie wiederherstellen. Gedanken über die Zukunft und das Jenseits gehörten zum Letzten, was Melanchthon, als er das Nahen des Todes spürte, zu Papier brachte. Auf einem Zettel notierte er mit schwacher Hand die bekannten Gründe, warum man den Tod nicht fürchten müsse, darunter die Befreiung von der Sünde, das Kommen zum Licht, die Schau Gottes und des Sohnes Gottes. Die ebenfalls bekannte Erwartung der Befreiung von der Trübsal konkretisierte er, indem er ganz direkt den „Jähzorn der Theologen“ nannte, der ihm in seinen letzten Jahren am meisten Trübsal bereitet hatte. Die ebenfalls bekannte Erwartung vollkommener Erkenntnis konkretisierte er wie folgt: „Du wirst die wunderbaren Geheimnisse erfahren, die du in diesem Leben nicht begreifen konntest, nämlich warum wir so, wie wir sind, geschaffen wurden und wie die beiden Naturen [scil. die göttliche und die menschliche, d.Vf.] in Christus miteinander verbunden sind.“ (CR 9, 1098)
3 Frömmigkeit Das Thema Frömmigkeit hat bei Melanchthon drei Aspekte: Er hat sich erstens theoretisch mit Frömmigkeit beschäftigt, er hat zweitens Frömmigkeit gelehrt und zur Frömmigkeit angeleitet, und drittens können wir anhand teilweise intimer Quellen auch Einblicke nehmen in die von Melanchthon selbst praktizierte Frömmigkeit. „Frömmigkeit“ (fromkeyt), als Äquivalent zum lateinischen pietas, gehörte zur Sprache Melanchthons. Melanchthon sprach oft über Frömmigkeit, erstmals schon 1521/22, und unterschied „weltliche“ und „göttliche“ Frömmigkeit. Erstere bestand für ihn aus äußerlicher Zucht, Ehrbarkeit, Sitten und Gebräuchen, was zwar weltliche Ordnung garantiere, aber keine Rechtfertigung schenke. „Göttliche Frömmigkeit“ verband Melanchthon mit der Erkenntnis Gottes, dem Glauben und der Heiligung. Sie rechtfertige den Menschen und schenke ihm Leben. Konkretisieren konnte Melanchthon die göttliche Frömmigkeit an den Zehn Geboten oder an den Psalmen. Sie wird
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im Menschen von Gott selbst gewirkt, von Christus durch den Heiligen Geist (MSA 1, 171– 175). In Melanchthons Verständnis der christlichen Frömmigkeit und in seinem Sprachgebrauch spiegelt sich somit schon früh die neue, religiös-ethische Wortbedeutung von „fromm“, die sich in der Reformationszeit herausbildete und die durch Luthers Bibelübersetzung verbreitet wurde. In seinen theologischen Werken hat sich Melanchthon oft und immer wieder neu mit dem Gebet befasst. Es ist eines der Themen, denen er sich am häufigsten zugewandt hat. Dabei hat er eine differenzierte Gebetslehre entwickelt, die er je nach Zielgruppe seiner Schriften entweder wissenschaftlich-theologisch oder katechetisch entfaltet hat (z. B. MSA 22/2, 686 – 725, Loci theologici 1559). Melanchthon geht davon aus, dass das Ziel der göttlichen Schöpfung und der Zweck der Erlösungstat Christi die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist (Gen 1,27). Ein Ebenbild Gottes, so sagt Melanchthon, sei ein Mensch dann, wenn er ein Leben zum Lobe Gottes führe. Was will Gott vom Menschen? Melanchthon sagt, Gott wolle erkannt und gepriesen werden (MSA 22/1, 195). Gotteserkenntnis und Gottesanbetung, theologische Lehre und frommes Gebet, sind also die zwei zentralen Aufgaben des Menschen. Jedem Beten muss aus der Sicht Melanchthons Gotteserkenntnis vorangehen. Zuerst muss man wissen, wer Gott ist, bevor man ihn anrufen kann. Melanchthon beobachtet, dass die Menschen zu allen Zeiten und in allen Religionen gebetet haben. Was unterscheidet das christliche vom nichtchristlichen Beten? Melanchthon meint, dass Nichtchristen bei ihrem Beten immer von Zweifeln erfüllt werden, ob sie gehört und erhört werden. Der Christ könne sich dagegen auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus und die göttlichen Zusagen verlassen, könne also fest auf die von Gott zugesagte Gebetserhörung vertrauen (Mt 7,7; MSA 22/2, 687– 688). Melanchthon war der festen Überzeugung, dass die Erhörung von Gebeten nicht nur möglich, sondern dass sie gewiss sei. Freilich, so sagte er, erfolge die Erhörung nicht immer zu dem Zeitpunkt und auf die Art und Weise, wie sich der Beter das gewünscht habe. Es gebe Fälle, in denen Gott den Glauben des Beters prüfen wolle, und manchmal wolle Gott etwas anderes und das heißt letztlich etwas Besseres geben, als erbeten worden sei. Dem Zweifler empfiehlt Melanchthon, mit dem Beten nicht aufzuhören, auch dann nicht, wenn Gott scheinbar nicht erhören wolle. Nur zwei Gründe gibt es für Melanchthon, warum Gott die Erhörung wirklich versagen könnte: wenn der Beter unbußfertig sei oder wenn die betende Gemeinschaft die evangelische Glaubenslehre nicht rein bewahre. Die Reinheit der Lehre ist wichtig für das rechte, für das „erfolgreiche“ Beten. Zeitlebens hat sich Melanchthon nicht nur als Lehrer, sondern auch als Erzieher seiner Studenten betätigt. Dazu gehörte für ihn, seine Studenten zu einem frommen Leben anzuleiten, zu einer neuen evangelischen Frömmigkeitspraxis. Diese hatte ihr Zentrum im Gebet, selbstverständlich gehörten aber auch der Besuch der Gottesdienste und der Empfang der Sakramente dazu. Letzteres war allerdings so selbstverständlich – da zwingend vorgeschrieben –, dass es der Präzeptor nicht eigens
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thematisieren musste. Neben dem Beten zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Formen gehörte für Melanchthon auch der Blick in den Kalender, die Besinnung auf den Charakter des jeweiligen Tages, zu einer religiösen Praxis, die er seinen Studenten nahebringen wollte. Und nicht zuletzt ist noch die regelmäßige private Bibellektüre als unverzichtbares Element evangelischer Frömmigkeit zu erwähnen. Wie ein evangelischer Student zu leben hat, legte Melanchthon in individuellen Studienplänen dar, gefertigt für einzelne Studenten, aber auch in den Universitätsstatuten, für deren Überarbeitung er zuständig war. Morgens und abends sollen die Studenten in der Bibel lesen, und zwar morgens im Alten und abends im Neuen Testament. Die Bibellektüre soll in ein frei formuliertes Gebet einmünden, das Impulse des biblischen Textes aufgreift. Auf die meditatio folgt die oratio. Melanchthon empfiehlt auch, regelmäßig Psalmen zu beten, und nennt solche, die er für besonders geeignet erachtet. Dazu gehören Ps 6, 24, 50, 78, 101 und 129. Das Psalmenbeten hat Melanchthon immer geschätzt, nur gegen die spezielle Form des Stundengebets mit seinen strengen Normierungen hatte er Aversionen. Über Tischsitten im Hause Melanchthons im Jahre 1540 informiert uns Johannes Mathesius (WA TR 5, 5257,32,10 – 16). Nach dem Essen betete Melanchthons fünfzehnjähriger Sohn Philipp die Hauptstücke des Katechismus. Danach las die neunjährige Tochter Magdalena einen Abschnitt aus Luthers Katechismusauslegung, dann kamen die Kostgänger und Gäste an die Reihe: Einer erklärte biblische Weisheitssprüche, ein anderer las einen Abschnitt aus einem geschichtlichen Buch der Bibel, ein dritter eine Evangelienperikope und ein vierter einen Psalm. Daneben wurde aber auch aus Livius und aus Thukydides vorgelesen. Melanchthon selbst erzählte geschichtliche und andere Anekdoten und kommentierte das Vorgelesene mit eigenen Gedanken. Es muss nicht immer genau so abgelaufen sein, aber der Bericht zeigt, wie intensiv die Kinder und Jugendlichen im Hause Melanchthons, das eine ecclesiola Dei war, zu frommen Tischsitten angehalten wurden und wie auch hier christliche Traditionen und antike Überlieferungen nebeneinander ihren Platz hatten. Die Bücher der heidnischen Geschichtsschreiber der Antike boten Melanchthon Anlass, über das Wirken Gottes in der Geschichte nachzudenken. Dies war ein Versuch, pietas und eruditio, die beiden Grundanliegen Melanchthons als Lehrer, zu verbinden. Was Melanchthon jahrelang im persönlichen Bereich und mit seinen Privatschülern und Kostgängern erprobt hatte, konnte er später teilweise in offizielle Geltung bringen, und zwar als er den Auftrag bekam, für die Universität Wittenberg neue Satzungen auszuarbeiten. Im Wintersemester 1523/24 hatte Melanchthon erstmals Gelegenheit hierzu. Als Rektor der Universität erließ er neue Satzungen de studiis und de moribus (UUW 1, 128 – 129). Hier wurden sowohl die Deklamationen eingeführt und das Disputationswesen neu geregelt als auch das Tutorensystem, die Überwachung durch Präzeptoren, für verbindlich erklärt. Den Studenten wurden das Waffentragen, Hurerei und Trinkgelage verboten und eine ehrbare Kleidung vorgeschrieben. Wer von pietas und amor geleitet werde, brauche solche Gesetze nicht, sagt Melanchthon. Und er erklärt dann in den
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Satzungen auch, wie man zur pietas gelangen könne: durch Bibellektüre: „Pietatem alet sacrorum codicum cognitio.“ Weit über diese Andeutungen hinaus gehen die Satzungen, die Melanchthon 1545 der philosophischen Fakultät gegeben hat. Hier wird den Studenten wie in den individuellen Studienplänen morgens und abends Bibellektüre und Gebet vorgeschrieben, außerdem soll vor und nach dem Essen gebetet und sonntags der Gottesdienst besucht werden. Das sittliche Leben der Studenten wird streng und Punkt für Punkt am Maßstab der Zehn Gebote ausgerichtet. Die Studenten werden persönlich angesprochen: „Jeden Tag, wenn du in das Auditorium kommst, denke daran, dass du vor das Angesicht Gottes, Christi und der Engel gelangst. Ihnen musst du gegenübertreten mit einer frommen Gesinnung und mit dem Gebet, dass deine Studien von Gott unterstützt und gelenkt werden. Denn unsere Studien sind weder uns noch der Kirche, noch dem Staatswesen förderlich, wenn sie nicht von Gott unterstützt werden.“ (UUW 1, 275; Übersetzung d.Vf.). Der Hörsaal gleicht hier einem Gotteshaus, die Vorlesung wird zu einer gottesdienstlichen Versammlung. Einblicke in Melanchthons eigene Frömmigkeitspraxis gewinnen wir vor allem anhand seiner Briefe, die anders als die Briefe Luthers vielfach einen durchaus persönlichen, ja intimen Charakter hatten. Die meisten Melanchthongebete, die uns überliefert sind, bestehen aus kurzen Gebetsseufzern, die ihm beim Arbeiten gekommen sind, niedergeschrieben in seinen Briefen. Wenn Melanchthon sich in einem Brief über die aktuellen Probleme der Kirchen äußerte, fügte er gerne einen Gebetsgedanken ein wie: „Möge Gott seine Kirche bewahren.“ (z. B. MBW 5478) Auch wenn er an seine Freunde private Briefe schrieb und zum Beispiel anlässlich einer Hochzeit seine Glückwünsche übermittelte, formulierte er gleichzeitig eine kurze Gebetsbitte um göttlichen Segen für das Brautpaar und seine Familie (MBW 5805). Diese Gebetsgedanken drückte Melanchthon meistens in indirekter Rede aus, das heißt, er redete Gott nicht direkt an, sondern sprach von Gott in der dritten Person. Dieser Stil, in Briefen Gebetsgedanken niederzuschreiben, war nicht Stil der Zeit, sondern eine Eigenart Melanchthons, die er allmählich herausgebildet hat und Ausdruck seines Gebetslebens war. In den zwanziger Jahren finden sich nur selten Gebete in Melanchthons Briefen (z. B. MBW 114). Aber in den vierziger und fünfziger Jahren, in den letzten zwanzig Jahren seines Leben, gibt es kaum einen Brief, der nicht ein Gebet enthält. Ja, manche Briefe enthalten sogar zwei oder drei kurze Gebete (z. B. MBW 6613), und manchmal bestehen Briefe zur Hälfte aus Gebeten und gebetsähnlichen Formulierungen (z. B. MBW 3063). Der betende Briefstil war Ausdruck der Tatsache, dass Melanchthon Gebetsgedanken bei seiner täglichen Arbeit immer begleiteten. Er praktizierte das sogenannte „ständige Beten“, das in der Christenheit, insbesondere im Mönchtum, immer als ein hohes Ideal angesehen und angestrebt worden war. Den biblischen Hintergrund hierfür bildet 1 Thess 5,17. Da von Melanchthon sehr viele Briefe erhalten sind (die Neuedition des Melanchthon-Briefwechsels wird etwa 10.000 Texte umfassen), gibt es entsprechend viele solche Briefgebete.
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Doch es gibt auch noch andere Melanchthongebete. Schon seit den zwanziger Jahren, aber mit zunehmender Intensität im Alter, war Melanchthon darauf aus, seinen Schülern, Studenten und Freunden das Beten zu lehren. Aus diesem Grund hat er zahlreiche wohlüberlegte Gebete niedergeschrieben, die sich in zwei literarische Gattungen einteilen lassen: Gedichte und Prosatexte. Melanchthon hat gerne und viel gedichtet, teilweise in lateinischer und teilweise in griechischer Sprache. Und so sind auch viele Gebete in Gedichtform entstanden, kunstvolle Texte (z. B. CR 10, 653), die sich manchmal an Psalmen anlehnen (z. B. CR 10, 517). Diese Gebete im Stil antiker Gedichte zeigen Melanchthons Anliegen, seinen Schülern die hochstehende Bildung der Antike zu vermitteln und damit gleichzeitig die Übung christlicher Frömmigkeit zu verbinden. Beim Erlernen der lateinischen Dichtkunst sollten sich die Schüler und Studenten zugleich im Beten üben. Typisch für Melanchthons Beten waren diese Texte freilich nicht. Er bevorzugte eigentlich immer den Prosastil und liebte es, einfach und schmucklos zu sprechen, weil der Inhalt und nicht die sprachliche Form entscheidend sei. Auch an Melanchthons Briefen und Reden lässt sich beobachten, dass er die aufwändige sprachliche Gestaltung, die er als junger, vom Humanismus geprägter Mensch noch geliebt hatte, später nicht mehr gepflegt hat, sondern einfach und verständlich, direkt und ohne Umwege sagte, was es zu sagen galt. Es gibt von Melanchthon mehrere hundert längere Gebetstexte im Prosastil. Er hat solche Gebete in seinen theologischen Lehrbüchern niedergeschrieben oder für Kirchenordnungen formuliert (z. B. MSA 6, 226,15 – 227,2), und er hat sie in seine zahlreichen Reden eingebaut (z. B. CR 11, 229). Immer verfolgte er mit diesen Gebeten ein Ziel: den Lesern und den Hörern zu zeigen, wie man beten solle. Wenn wir Melanchthons Gebete im Prosastil betrachten, fällt uns die ausführliche Anrede Gottes auf, in der in der Regel die ganze Trinität angesprochen wird und in der Eigenschaften Gottes aufgelistet werden (z. B. MSA 22/2, 688,31– 689,9). Melanchthon ging es dabei einerseits um den doxologischen Preis der Gottheit und andrerseits darum, durch die sehr bestimmte Gottesanrede das christliche Beten vom heidnischen zu unterscheiden und an die zentralen Heilstatsachen (Tod und Auferstehung Jesu) zu erinnern, um im Beter die Gewissheit zu stärken, dass er gehört und erhört werde. Der Blick in den Kalender und die damit verbundene Besinnung auf die religiöse und geschichtliche Bedeutung des jeweiligen Tages war ein fester Bestandteil von Melanchthons Morgenandacht (z. B. MBW 5992). Er ließ sich aus dieser Besinnung auf den Charakter des Tages einen Impuls geben, der vergleichbar ist mit der Funktion der Losungen im Pietismus und der zum Danken und Bitten anregen oder einen hilfreichen oder tröstlichen Gedanken für die anstehenden Tagesaufgaben vermitteln sollte. Hierfür hat sich Melanchthon im Laufe der Zeit einen eigenen Kalender geschaffen, der von den traditionellen kirchlichen Fest- und Namenstagen nur noch die mit reformatorischem Denken zu vereinbarenden enthielt und zugleich neue, andere Gedenktage aus der Allgemeingeschichte und aus dem persönlichen Bereich verzeichnet hatte.
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Das traditionelle Heiligengedenken spielte in Melanchthons Tagesgedächtnis noch eine begrenzte Rolle. Das Heiligengedenken, auch die Heiligenverehrung, hat er ja nie abgelehnt. Im Gegenteil: Die CA hält ausdrücklich daran fest und empfiehlt sie (CA 21, BSELK, 128/9). Nur die Anrufung der Heiligen, ihre Anbetung, die die Heiligen zu Göttern neben Gott machen würde, hat Melanchthon verworfen. Außerdem traf er unter den zahlreichen Heiligen eine Auswahl. Nicht alle eigneten sich für ein erneuertes, ein evangelisches Heiligengedenken. Beispielsweise gedachte Melanchthon am 20. August Bernhards von Clairvaux und würdigte vor allem dessen politisches Werk, nämlich die Versöhnung des gebannten Gegenkönigs Konrad III. mit Kirche und Kaiser, lobte aber auch die bona dicta desselben (CR 25, 371– 372). Für zutreffend hält Melanchthon die Berichte, dass Bernhard Dämonen ausgetrieben habe, und erläutert, auch in der Gegenwart käme es vor, dass Menschen durch fromme Gebete von Dämonen befreit würden. Die Kirchenväter Augustin (MBW 5890), Ambrosius (MBW 8175) und der Schutzpatron der Humanisten, Hieronymus (MBW 8370), behielten ihre Gedenktage, ebenso Elisabeth von Thüringen, die Melanchthon als „fromme Fürstin“ schätzte (MBW 7336). Auch Gregor der Große (MBW 7744), der Heilige Laurentius (MBW 3288) und die Heilige Katharina fanden Beachtung (MBW 8432). Der Katharina-Tag war Melanchthon wichtig, weil seine Frau und zwei seiner noch zu seinen Lebzeiten geborenen Enkelinnen den Namen der legendären, historisch nicht fassbaren alexandrinischen Heiligen trugen. Die ebenfalls ziemlich legendarische Gestalt des römischen Diakons Laurentius war für den Reformator von Bedeutung, weil er in einer Laurentiuskirche (in Bretten) getauft worden war. Melanchthon hatte ein starkes Interesse an geschichtlichen Fakten. Das kann man nicht nur an den Gedenktagen erkennen, sondern auch daran, dass es Melanchthon liebte, vor seinen Hörern auszurechnen, wie viele Jahre es nunmehr genau her sei, seit sich eine Sache ereignet habe. Das legendarische Material, vor allem, was äußerlichmirakulös war, wurde weitgehend eliminiert. Das konnte sogar so weit gehen, dass Melanchthon einen Heiligentag zum Anlass nahm, um eine regelrechte Gegenpredigt zu halten, in der er die stultas fabulas widerlegte, die sich um den Heiligen rankten (CR 24, 197). Durch sein Tagesgedenken, zu dem das Heiligengedenken gehörte, erinnerte sich Melanchthon regelmäßig an zentrale Heilstatsachen, aber auch an Gottes Präsenz in der Geschichte der Völker und im Leben des Einzelnen. Daraus gewann er Gottvertrauen und Zuversicht, um tatkräftig und verantwortlich handeln zu können. Diesen Zusammenhang zeigen erstens seine Briefe, besonders dann, wenn sie tröstliche Gedanken und Ratschläge oder Gebetsworte enthalten, zweitens viele Passagen in akademischen Reden und drittens die zahlreichen wichtigen, aber noch unzulänglich edierten Texte der wenig beachteten sogenannten Postille (CR 24/25) und viertens die reiche, aber noch gar nicht umfassend edierte Überlieferung von Melanchthonaussprüchen und Melanchthonanekdoten, die mit Luthers Tischreden vergleichbar sind (die wichtigste Sammlung bietet Manlius 1563). Hier, in diesen vier umfangreichen Quellensammlungen und außerdem in der Chronik (Melanchthon 1572), kann man
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auch Informationen darüber finden, welche Relevanz eine bestimmte Gestalt der Geschichte oder ein bestimmtes Ereignis, dessen er gedachte, für Melanchthon hatten.
Quellen Manlius, Johann. 1563. Locorum communium collectanea. Basel. Melanchthon, Philipp. (1553) 2002. Heubtartikel Christlicher Lere. Melanchthons deutsche Fassung seiner Loci theologici, nach dem Autograph und dem Originaldruck von 1553, hg. v. Ralf Jennet und Johannes Schilling. Leipzig. Melanchthon, Philipp (T. 1 – 3) und Caspar Peucer (T. 3 – 5). 1572. Chronicon Carionis expositum et auctum multis et veteribus et recentibus historiis […]. Wittenberg.
Literatur Beißer, Friedrich. 1993. Hoffnung und Vollendung. HST 15. Gütersloh. Beutel, Albrecht. 1998. „Praeceptor Germaniae – Doctor Ecclesiae. Melanchthons Selbstverständnis als Gelehrter.“ In: ders. Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, 124 – 139. Tübingen. Jung, Martin H. 1998. Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators. BHTh 102. Tübingen. Jung, Martin H. 1999a. „Endzeithoffnungen und Jenseitserwartungen in der Reformationszeit.“ In Apokalypse. Endzeiterwartungen im evangelischen Württemberg. Kataloge und Schriften des Landeskirchlichen Museums 9, 95 – 99. Ludwigsburg. Jung, Martin H. 1999b. „Evangelisches Historien- und Heiligengedenken bei Melanchthon und seinen Schülern. Zum Sitz im Leben und zur Geschichte der protestantischen Namenkalender.“ In Melanchthonbild und Melanchthonrezeption in der Lutherischen Orthodoxie und im Pietismus. Referate des dritten Wittenberger Symposiums zur Erforschung der Lutherischen Orthodoxie, 6.–8. Dezember 1996. Themata Leucoreana 5, hg. v. Udo Sträter, 49 – 80. Wittenberg. Jung, Martin H. 2000. „Pietas und eruditio. Philipp Melanchthon als religiöser Erzieher der Studenten.“ ThZ 56: 36 – 49. Jung, Martin H. 2003. „Frömmigkeit und Bildung. Melanchthon als religiöser Erzieher seiner Studenten.“ In Zur Geistesgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Fragmenta Melanchthoniana 1, hg. v. Günter Frank und Sebastian Lalla, 135 – 146. Ubstadt-Weiher. Jung, Martin H, Hg. 42010a. Ich rufe zu dir. Gebete des Reformators Philipp Melanchthon. 4., ganz neu gestaltete Aufl. Frankfurt a.M. Jung, Martin H. 2010c. „‚Sooft ich gebetet habe mit Ernst, so bin ich gewisslich erhört worden.‘ Glaubenserfahrungen Melanchthons im Spiegel seiner Briefe.“ Jahrbuch für badische Kirchenund Religionsgeschichte 4: 111 – 123. Jung, Martin H. 2016. „Die Spiritualität Melanchthons.“ In Handbuch Evangelische Spiritualität. Geschichte, Theologie, Praxis. Bd. 1, hg. v. Peter Zimmerling, 45 – 63. Göttingen. Leiner, Martin. 2013b. „Melanchthon und Calvin. Ein Vergleich.“ In Calvinismus in den Auseinandersetzungen des frühen konfessionellen Zeitalters. Reformed Historical Theology 23, hg. v. Herman J. Selderhuis, Martin Leiner und Volker Leppin, 34 – 49. Göttingen. Mahlmann, Theodor. 1997. „Prädestination. V. Reformation bis Neuzeit.“ TRE 27: 118 – 156. Schäfer, Rolf. 1966. „Zur Prädestinationslehre beim jungen Melanchthon.“ ZThK 63: 352 – 378.
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Scheible, Heinz. 2007. „Melanchthons Verständnis des Danielbuchs.“ In Die Geschichte der Daniel-Auslegung in Judentum, Christentum und Islam, hg. v. Katharina Bracht und David S. du Toit, 293 – 321. Berlin. Schloemann, Martin. 1980. „Philipp Melanchthons Eschatologie. Grundgedanken nach den Loci praecipui theologici von 1559.“ In Beiträge des Faches Evangelische Theologie für Wilfried Eckey zum 9. Juni 1980. Diskussionsbeiträge des Fachbereiches 2, Philosophie, Theologie der Gesamthochschule Wuppertal 3, 33 – 56. Wuppertal.
III Philosophie Günter Frank
Zum Philosophiebegriff Melanchthons
Wilhelm Dilthey und Hans-Georg Gadamer waren wohl die beiden letzten großen Gelehrten, die Melanchthon als Philosophen ernst genommen hatten. In seinen frühen Untersuchungen über Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert aus dem Jahr 1892/93 hatte Dilthey Melanchthon als jene Vermittlungsgestalt gesehen, die den Übergang aus dem „alten theologisch-metaphysischen System“ hin zum natürlichen System des 17. Jahrhunderts bezeichnete. „Dies System gestaltete als natürliche Theologie und als Naturrecht die Ideen und Zustände Europas etwa vom dritten Dezennium des 17. Jahrhunderts ab um, es machte sich ebenso in den anderen Geisteswissenschaften geltend.“ (Dilthey 1986, 139 – 328, hier: 141) Daneben war es die Hermeneutikforschung des 20. Jahrhunderts, in der die in den älteren Arbeiten zur Frühgeschichte der Hermeneutik gleichwohl umstrittene Frage diskutiert wurde, ob der systematische Ort der Ausarbeitung hermeneutischer Theorien die protestantische Theologie (Dilthey 1974), die Logik (Jaeger 1974) oder die Rhetorik (Gadamer 1977) ist, in der dann insgesamt Melanchthon als Begründer einer systematischen Theologie des Protestantismus eine herausragende Rolle zukommt. Daneben wurde – vor allem in der protestantischen Kirchengeschichtsforschung – Melanchthons Philosophie häufig als Thema einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten philosophischen Schultradition diskutiert. Entsprechend der Gewichtung philosophischer Theoreme beziehungsweise einer entsprechenden Kommentarbuchtradition konnte er dann als Aristoteliker, Platoniker oder auch als Schüler Ciceros bezeichnet werden. Die Problematik einer solchen externen inhaltlichen Bestimmung des Philosophiebegriffs Melanchthons wird bereits darin deutlich, dass auf diese Weise nie das Ganze seines Philosophieverständnisses in den Blick geriet. Kennzeichnend hierfür wurde etwa der Kunstbegriff eines „Eklektizismus“, mit dem die unterschiedlichen und mitunter gegenläufigen philosophischen Traditionen zusammengedacht wurden (Frank 1995, 15 – 29). Um einen solchen externen Philosophiebegriff mit seinen Verkürzungen und Aporien zu vermeiden, erscheint viel wichtiger die Frage, was Melanchthon selbst unter Philosophie verstand. Im umfangreichen Œuvre Melanchthons lassen sich drei Philosophiebegriffe identifizieren:
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1 Philosophie im erasmischen Sinn als „Philosophia Christi“ oder als „Philosophia christiana“ Auf der einen Seite findet sich bei Melanchthon die erasmische Vorstellung einer „christlichen Philosophie“. Erasmus selbst hatte den Begriff einer „christlichen Philosophie“ bekanntlich aus der auf die religiöse Lebensform bezogenen Terminologie der Kirchenväter entlehnt (zu dieser philosophischen Tradition der Kirchenväter vgl. Kobusch 2006).Wichtig für diese Tradition war, dass die „christliche Philosophie“ – so etwa bei Clemens von Alexandrien (Strom. VI, 67,1), Johannes Chrysostomos (In Kalendis 3: PG 48,956) oder auch Augustin (Contra Iulian. IV, 14,72) – auf eine bestimmte Lebensform, zumeist auf das Leben der Mönche, bezogen war. Diese Redeweise wurde auch im Mittelalter insofern beibehalten, als man die Lebensform des Mönchtums allgemein, vor allem aber des Eremitentums als „christliche Philosophie“ bezeichnete. Erasmus von Rotterdam griff ab 1515 die Vorstellung einer „christlichen Philosophie“ durch die Kirchenväter erneut auf mit dem entscheidenden Unterschied, dass nunmehr diese Philosophie nicht auf die Lebensform eines Standes, etwa der Mönche, beschränkt blieb, sondern sich auf alle Christen bezieht, die berufen sind, ein Leben nach dem Neuen Testament in Entsprechung zu jener Lebensform zu führen, wie sie die Kirchenväter gelehrt hatten (Chantraine 1971; Domanski 1971, 87– 102; Augustijn 1986; ders. 21993; Walter 31995). An diese doppelte Vorstellung einer Lebensform, die sich an den Quellen des Neuen Testamentes orientiert und sich auf das religiös-sittliche Leben aller Christen bezieht, die mithin kaum an den spekulativen Perspektiven einer theoretischen Philosophie interessiert ist, knüpfte auch Melanchthon an. In seiner Deklamation über das Studium der paulinischen Lehre aus dem Jahr 1520 spricht Melanchthon von der „paulinischen Philosophie“ (CR 11, 34: „Paulinae philosophiae studium“; ebd. 40), die er auch als „hochheilige“ (ebd. 36: „Cur sacrosanctam philosophiam maximi homines tam studiose literis mandarent?“), „heilige“ (so in seiner Vorrede zu: Martin Luther, In epistolam Pauli ad Galatas commentarius, Leipzig [April ?] 1519 [CR 1, 122]: „Quo magis eorum requiro prudentiam, qui hac sacra philosophia, christiano maxime necessaria, vel prorsus neglecta, vel leviter transmissa, in gentilium philosophorum libris macerantur et senescunt.“ [vgl. auch MBW 54]) oder allgemein als „christliche Philosophie“ (CR 1, 122: „Verum id conqueror, istius seu miraculi seu monstri, imo christianae philosophiae vere hostis, tricas magis involventes quam expedientes, tanto temporis ac fructus dispendio christianum sectari.“ ähnlich auch CR 11, 276) bezeichnen kann, und bezieht sich hier vor allem auf die soteriologischen Perspektiven der paulinischen Theologie (iustificatio) und ihre Überlegenheit über eine „pagane Philosophie“. Unverkennbar ist, dass diese Äußerungen Melanchthons insofern einen neuen Akzent der erasmischen Rede einer „christlichen Philosophie“ verdeutlichen, als diese vor
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dem Hintergrund der paulinischen Theologie eine rechtfertigungstheologische Zuspitzung erfährt. Allerdings stellt sich aus diesen ersten Hinweisen auf jenen Philosophiebegriff, wie er aus der erasmischen Tradition entlehnt ist, die Frage, ob ein solches Philosophieverständnis tatsächlich den umfangreichen philosophischen Bemühungen Melanchthons gerecht wird. Auffallend sind hierbei bereits zwei eher äußerliche Beobachtungen: Zum einen erscheint der reformatorisch zugespitzte erasmische Philosophiebegriff im Blick auf das gesamte philosophische Œuvre Melanchthons eher singulär. Zum Anderen beschränkt sich dessen Rede von der „christlichen Philosophie“ auf die Jahre 1519 bis 1520, jene Jahre mithin, in denen Melanchthon unter dem Einfluss Martin Luthers gerade durch seine ausdrückliche Philosophiekritik von sich reden machen sollte. Neben dieser Philosophiekritik, die – zeitlich begrenzt – Episode blieb, muss vor allem berücksichtigt werden, welche Art von Philosophie Melanchthon kritisierte. Seine Vorrede zur bezeichnenden Edition der Wolken des Aristophanes aus dem Jahr 1520 verdeutlicht, dass es die vermeintliche „Nutzlosigkeit“ der spekulativen Philosophie für die politische Wirklichkeit ist, die Melanchthon der Lächerlichkeit preiszugeben versucht (CR 1, 273 – 275; dazu Frank 1995, 52– 60). So präzisiert er in einem Schreiben aus dem April 1520 an den Erfurter Augustiner Johannes Lang (MBW 87), in dem er die Edition der Wolken des Aristophanes ankündigt, dass sich seine Kritik auf die „Philosophaster“ beziehe, nicht jedoch auf jene Philosophen, die bescheiden und behutsam innerhalb der Grenzen ihrer Disziplin blieben (CR 1, 163). Insgesamt betrifft seine frühe und eher singuläre Philosophiekritik vor allem nicht den humanistischen Fächerkanon der artes liberales. Die Erneuerung des humanistischen Reformprogramms der artes liberales gehörte zu jener Tradition, die Melanchthon aus Tübingen nach Wittenberg mitgenommen hatte. Melanchthon hatte dieses Reformprogramm zum Gegenstand seiner Tübinger Rede De artibus liberalibus aus dem Jahr 1517 (MSA 3, 17– 28), in der er sich um die Erneuerung der klassischen artes liberales, dem Trivium (Grammatik, Dialektik, Rhetorik) und dem Quadrivium (Arithmetik [Reich 1998, 110 – 112], Geometrie, Musik [Knopp 2000], Astronomie) bemüht hatte, und dann vor allem seiner berühmten Wittenberger Antrittsvorlesung De corrigendis adolescentiae studii vom 28. August 1518 (MSA 3, 29 – 42) gemacht.
2 Der Philosophiebegriff des melanchthonischen Humanismus Schon in der Tübinger Rede über die artes liberales ist Melanchthons Vorstellung eines Kanons der Philosophie klar formuliert: neben den Fächern des Triviums und des Quadriviums, die er auf sieben der neun Musen bezieht, wird dieser Kanon erweitert mit den literarischen Figuren der Klio und der Kalliope, die Melanchthon – wie seit Hesiod, vor allem aber bei italienischen Humanisten üblich – mit der Geschichts-
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schreibung und der Poetik identifiziert (MSA 3, 26 [nach der Besprechung der einzelnen Disziplinen des Triviums und Quadriviums ergänzt Melanchthon]: „Censae artium numero Musae septem, duae supersunt. Cleio et Calliope, quibus aequum in omnes litteras ius: historiae Cleio, Calliopen poëma, […].“). Nicht anders sieht der Fächerkanon der artes liberales in der Wittenberger Antrittsvorlesung von 1518 aus. Auch hier sind es die Fächer des Triviums und Quadriviums, die Melanchthon als disciplinae humanae beziehungsweise als Philosophie bezeichnet (MSA 3, 38 – 39), ergänzt durch griechische und lateinische Literatur (Poetik) (MSA 3, 38) und Geschichtsschreibung (MSA 3, 39). Melanchthon kann diesen Kanon der Philosophie, wie er aus den artes liberales sowie der Poetik und Geschichtsschreibung gebildet wird, zusätzlich beziehen auf die stoische Einteilung der Wissenschaftsbereiche der sprachkundlichen (λογικόν), naturkundlichen (φυσικόν) und ethischen (προτρεπτικόν) Disziplinen (MSA 3, 34). Auch wenn der Bezug auf die stoische Wissenschaftsklassifikation, die er später in seiner Dialektik wiederum als aristotelische bezeichnet (CR 13, 656), eher äußerlicher Natur ist und hier darüber hinaus singulär erscheint, so ist klar, dass Melanchthon in diesen frühen Äußerungen über die Philosophie einen Philosophiebegriff formuliert hatte, wie er allgemein charakteristisch war für die humanistische Bewegung. Einen solchen humanistischen Philosophiebegriff hatte folglich die jüngere Melanchthonforschung – sofern sie sich überhaupt diesem Thema genähert hatte – deutlich herausgestellt (Scheible 1989, 235 – 237; Frank 1995, 61– 86). Dennoch bleibt auffällig, dass dieser Philosophiebegriff der artes liberales in seiner Erweiterung durch Poetik und Geschichte gerade nicht etwa auch die Moralphilosophie impliziert, die gemeinhin im Zentrum des Philosophieverständnisses der Humanisten stand (Buck 1987, 154– 176; Kristeller o. J., 177– 194; Walter 31996, 319 – 322; Keßler 31996, 322– 324; ders. 31999, 1099 – 1102; Scheible 42000c, 1941– 1944). Neben den vielfältigen Bearbeitungen der Schriften zur praktischen Philosophie (der Ethik und Politik des Aristoteles sowie der politischen Schriften des Cicero) würde ein solcher humanistischer Philosophiebegriff auch andere, unverkennbar philosophische Schriften ausschließen, die Melanchthon publiziert hatte. Hierzu gehören seine Schriften zur Rechtsphilosophie (Cicero) ebenso wie die Bearbeitungen der aristotelischen Psychologie (De anima), die für die Medizingeschichte (Hofheinz 2001) genauso bedeutsam ist wie für die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie aufgrund der in dieser entwickelten Intellektlehre (Frank 1996, bes. 313 – 314), und Naturphilosophie (Initia doctrinae physicae). Melanchthons Bearbeitungen dieser philosophischen Disziplinen verdeutlicht, dass er – zumindest seit den 1530er Jahren – unter Philosophie nicht nur die Fächer der Artistenfakultät in ihrer Erweiterung um Poetik und Geschichte verstanden wissen wollte, sondern mit Medizin und Jurisprudenz auch die höheren Fakultäten im Blick hatte. Schließlich: sofern selbst in der Theologie philosophische Theorien wie ein philosophischer Gottesbegriff (Loci praecipui Theologici, 1543 [CR 21, 607– 612]), philosophische Gottesbeweise (ebd. 641– 643), die aristotelische Lehre von der Ewigkeit der Welt (ebd. 637– 641) und die Willensfreiheit (ebd. 652–
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665) diskutiert werden, würde sich ein solcher Philosophiebegriff auch auf die Theologie erstrecken.
3 Der universalwissenschaftliche Philosophiebegriff Hinter diesem umfangreichen, den Fächerkanon der humanistischen artes liberales unverkennbar überschreitenden, für die philosophische Produktivität Melanchthons aber gerade seit den 1530er Jahren kennzeichnenden Œuvre der philosophischen Schriften verbirgt sich letztlich ein Philosophiebegriff als einer universalwissenschaftlichen Disziplin. Melanchthon hatte ein solches universalwissenschaftliches Programm von Philosophie richtungsweisend in seiner Rede über die Philosophie aus dem Jahr 1536 formuliert und grundgelegt (CR 11, 278 – 284). In einer programmatischen Zusammenfassung desjenigen Wissens, welches die Philosophie umfasst, hebt Melanchthon hervor, dass hiermit nicht nur die Kenntnis der Grammatik (ein deutlicher Hinweis auf das Trivium der artes liberales) gemeint sei, sondern die Wissenschaft (scientia) der Philosophie und vieler anderer Künste (artes) (CR 11, 279). Unverkennbar bezieht sich Melanchthon hier auf die wichtigsten Formen von Wissenschaft, die Aristoteles in den Kapiteln 3 – 5 des Buches VI der Nikomachischen Ethik entwickelt hatte: die theoretische Wissenschaft, die aus einem syllogistischen Beweisverfahren gewonnen wird und auf ersten unveränderlichen Prinzipien beruht (CR 13, 652– 653: scientia, ἐπιστήμη), sowie die auf die Hervorbringung von Dingen bezogenen artes (τέχναι) (vgl. hierzu auch Lohr 2005, 403 – 412). Zu dieser umfassenden Wissenschaft (scientia) der Philosophie gehört nach Melanchthon dann die Natur- und Moralphilosophie (CR 11, 280), eine wissenschaftliche Methodenlehre (Dialektik) und die Rhetorik (ebd.). Die im Studium dieser Wissenschaften Geschulten – so Melanchthon weiter – würden sich dann jene begründete Geisteshaltung (ἕξις) erwerben (ebd. 281), die sich nach Aristoteles auf die scientia argumentativa bezogen hatte, also auf die Wissenschaft von den ersten allgemeinsten und unveränderlichen Prinzipien. Zu dieser umfassenden Wissenschaft (ars integra), die einen ganzen Kreis von Wissenschaften bildet, in der die einzelnen Disziplinen miteinander verbunden und aufeinander bezogen sind, gehört dann auch die Psychologie (CR 11, 281), Moral- und Rechtsphilosophie (Ebd.), Geschichte, Mathematik, Astronomie und Astrologie (ebd. 281– 282). – Ausgeschlossen aus diesem universalwissenschaftlichen Philosophiebegriff bleibt jedoch die Metaphysik des Aristoteles.
Literatur Augustijn, Cornelis. 1986. Erasmus von Rotterdam. Leben, Werk, Wirkung. München. Augustijn, Cornelis. 21993. „Erasmus, Desiderius.“ TRE 10: 1 – 18. Buck, August. 1987. Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg i.Br./München.
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Praktische Philosophie Das Konzept einer praktischen Philosophie, wie es Aristoteles vorgelegt hatte, kann man als eine philosophische Theorie bezeichnen, und zwar als eine Wissenschaft vom Sein des Guten,welche er als teleologische Lehre von der Praxis,vom rechten Handeln, entwickelt hatte (Maier 1962, 65 – 66). „Ethik“ und „Politik“ waren danach faktisch zwei verschiedene Zweige derselben, πολιτική genannten Wissenschaft, die Aristoteles auch „die sich auf die menschlichen Dinge beziehende Philosophie“ (EN X 9, 1181 b 15) nannte, wobei die „Politik“ als sachliche Ergänzung zur „Ethik“ verstanden worden war (Flashar 1983, 336 – 358). Nach ihm hatten Ethik, Ökonomik und Politik eine Einheit gebildet, weil sie sozusagen die Möglichkeitsbereiche des guten Lebens darstellen. So war dann auch die Ethik Teil der Ökonomik und der Politik (EN I 1094 b 10 – 11; VII 1152 b 1), weil erst in der Hausgemeinschaft und dann vor allem in der Polis das isolierte Glücksstreben des Einzelnen an sein Ziel gelangt (Pol. I 1252 b 29 – 30; III 1280 b 33 – 35).
1 Philipp Melanchthon – der Ethiker der Reformation „Er war der Ethiker der Reformation“ (Dilthey 1986, 263). Dieses bündige Urteil über die ethischen Bemühungen Melanchthons, geäußert von keinem Geringeren als von Wilhelm Dilthey, ein bedeutender Berliner Gelehrter, der selbst 1864 mit einer Arbeit über Friedrich Schleiermachers Ethik promoviert wurde, war keineswegs singulär im ausgehenden 19. Jahrhundert. Im Gegenteil: Studien über Melanchthons Ethik hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon vor der einflussreichen Schrift Diltheys Konjunktur. 1879 erschien – um nur einige Beispiele zu nennen – die Abhandlung des württembergischen Geistlichen Gottfried Albert Herrlinger, 1884 die des Leipziger Professors Christoph Ernst Luthardt und 1889 die von Franz Költzsch (Ziebritzki 2000, 357– 373). Das Interesse an Melanchthons ethischen und politischen Schriften ist nach dem Ersten Weltkrieg ziemlich abrupt erloschen. Diese Tatsache hatte vor allem theologiepolitische Gründe, wie sie vorzüglich im Melanchthonbild des höchst einflussreichen Kirchenhistorikers Karl Holl offenkundig wurden (ebd. 358 – 359; darüber hinaus Scheible 2003, 223 – 238). Bei Holl findet sich das Urteil über Melanchthon bündig zusammengefasst: „Melanchthon hat die lutherische Rechtfertigungslehre verdorben.“ (Holl 61932, 128) Den Grund für dieses vernichtende Urteil Holls über Melanchthon sieht Heinz Scheible in dessen Konstruktion einer Luther und Melanchthon unterscheidenden Perspektive der Rechtfertigungslehre: „Holl nahm daran Anstoß, dass Melanchthon bei seiner Entfaltung des christlichen Glaubens vom Menschen DOI 10.1515/9783110335804-034
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ausgeht, von seiner Not, seiner Sehnsucht nach Sinn und Rettung. Er verlangte von einem Theologen, das dogmatische System auch vom Standpunkt Gottes aus zu denken.“ (Scheible 2003, 227) Dieses negative Melanchthonbild hatte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Schule gemacht. Erst in den letzten wenigen Jahren beginnt sich die Situation ein wenig zu ändern. 1990 erschien in Chicago die Studie The Moral World of Philipp Melanchthon von Ralph Keen, die allerdings die ethische Hauptschrift Melanchthons Ethicae doctrinae elementa unberücksichtigt lässt. Als historische Darstellungen der Ethik-Lehrbücher erschienen 1997 Beiträge von Jill Kraye (1997, 195 – 214) und Heinz Scheible (1997a). Weitere Studien widmen sich zwar zentralen, aber dennoch Einzelaspekten der Ethik Melanchthons, so über die Tugendlehre (Ziebritzki 2000, Saarinen 2001) und das Verhältnis von praktischer Philosophie und Willensfreiheit (Frank 2003b, 2003c). Melanchthons ethische und politische Schriften gehören zweifellos zu den erfolgreichsten seines umfangreichen Œuvres. Allein für das 16. Jahrhundert sind mindestens 79 Drucke und Neuauflagen seiner Schriften zur Ethik und Politik belegt (Enarratio aliquot librorum ethicorum Aristotelis, 1529 – 1532: 21 [VD 16, M 3137– 3157]; Commentarii in aliquot politicos libros Aristotelis, 1530: 1 [VD 16, M 2737], 1531: 1 [VD 16, M 3448]; Philosophiae moralis epitome, 1538: 7 [VD 16, M 3961– 3967]; Ethicae doctrinae elementa, 1550: 17 [VD 16, M 3291– 3305].Von dieser Ausgabe besitzt die Bibliothek des Melanchthonhauses in Bretten zwei weitere, im VD 16 nicht erfasste Drucke: Wittenberg 1559 [Signatur: M 307] und Wittenberg 1583 [Signatur: M 677]; Quaestiones aliquot ethicae, 1552 [teilweise angehängt an die Ethicae doctrinae elementa]: 28 [VD 16, M 4082– 4109]; In Ethica Aristotelis commentarius, 1581: 1 [VD 16, M 3448]; Exposition doctrinae ethicae, 1595: 1 [VD 16, M 3336]). Dies ist umso erstaunlicher, als sich Martin Luthers theologische Kritik bekanntlich ausgerechnet an der aristotelischen Ethik entzündet hatte, die er aber auf die Philosophie insgesamt ausgeweitet wissen wollte (Dieter 2001, 39 – 106; 149 – 256; Frank 2003c, 25 – 51). Im Jahr 1517 verurteilte er in seinen berühmten Conclusiones contra scholasticam theologicam die ganze aristotelische Ethik als den „schlimmsten Feind der Gnade“ (WA 1, 224– 228, hier: 226. So heißt es in der These 41: Denn „fast die ganze Ethik des Aristoteles ist höchst schlecht und eine Feindin der Gnade.“).Wenige Jahre zuvor, 1508, war zwar Luther selbst von seinem Orden an die junge Wittenberger Universität berufen worden, um dort in der Nachfolge von Wolfgang Ostermayr (Kunzelmann 1974, 495 – 496) die Nikomachische Ethik des Aristoteles zu lehren (Scheel 1930, 360; Brecht 1981, 98), auch wenn sein eigentliches Interesse dem Bibelstudium galt (so sein Hinweis in einem Brief an den Erfurter Johannes Braun vom 17. März 1509 [WA Br 1, 17, 40 – 44]). Da aus dieser Zeit jedoch keine Quellen überliefert sind, sind Aussagen über den Inhalt seiner Vorlesungen über Moralphilosophie nicht möglich. Umso mehr muss es verwundern, dass von Luther selbst keine Kritik an Melanchthons Studien und Lehrbüchern zur aristotelischen Ethik überliefert ist. Nur pauschal hielt dieser dem Kollegen gelegentlich „seine Philosophie“ vor (WA Br 5, 399, 16; 406, 56 – 62; 412, 51– 54). Daraus jedoch einen grundlegenden Dissens zwischen Luther
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und Melanchthon in der Bewertung der aristotelischen Moralphilosophie zu konstruieren, ist in den Quellen jedenfalls nicht belegt. Vielmehr zeigt sich in der konkreten Ausführung der Schriften zur aristotelischen Ethik und Politik, dass Melanchthon durchaus dem theologischen Interesse Luthers Rechnung trug. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Melanchthons besonderes Interesse an der Überlieferung der antiken Philosophie – hier nun auch der Schriften zu Ethik und Politik – war im 16. Jahrhundert keineswegs singulär. Sie stand vielmehr im weitergehenden Kontext der humanistischen Bewegung, der es vor allem nach dem Fall von Konstantinopel am 29. Mai 1453 gelang, nahezu das gesamte zugängliche Wissen der Antike dem lateinischen Westen neu zu erschließen (zur einführenden Übersicht Frank 2014).
2 Zur Traditionsgeschichte der ethischen und politischen Schriften des Aristoteles Bereits vor Melanchthon hatten italienische und französische Humanisten die aristotelische Moralphilosophie dem lateinischen Westen durch Übersetzungen neu zugänglich gemacht, beginnend mit Leonardo Bruni Aretino, der 1417 die Ethik und 1438 die Politik übersetzt hatte (Lines 2002, 36; Aspasius 1889; Gauthier 21970; Mercken 1990, 438 – 441; Frank 2006). Innerhalb dieser intensiven Welle der Wiederaneignung der ethischen und politischen Schriften des Aristoteles in der frühen Neuzeit durch die humanistische Bewegung in Europa stehen nun auch Melanchthons ethische und politische Lehrbücher und Kommentare. Schon als junger Gelehrter in seiner Tübinger Studienzeit 1512– 1518, also schon nach wenigen Jahren, in denen in Frankreich die ersten AristotelesAusgaben durch Faber Stapulensis und Aegidius Delphus erschienen waren, hatte er den Plan gefasst, als ein Gemeinschaftswerk mit Johannes Reuchlin, Willibald Pirckheimer, Simler, Capito und Oekolampad nicht – wie in der Forschung bisher angenommen – eine neue (philologische) Aristoteles-Ausgabe herzustellen, sondern eine entsprechend seinem topischen Wissenschaftsverständnis entfaltete Lehr- und Studienausgabe (so seine Ankündigung im Nachwort zu seiner griechischen Grammatik vom April/Mai 1518 [MBW.T 17]; ausführlich hierzu Frank 2011a, 51– 71). Dieses Vorhaben wurde nicht verwirklicht. Die historischen Umstände der ersten Jahre der Wittenberger Reformation, das Aufkommen der Schwärmer, Täufer und der Bauernaufstand 1525 scheinen jedoch Melanchthon davon überzeugt zu haben, dass für das Funktionieren der menschlichen Gemeinschaft eine Orientierung an der antiken Moralphilosophie unumgänglich ist. Frucht dieser Überzeugung war schließlich sein erster Kommentar In Ethica Aristotelis commentarius aus dem Jahr 1529.
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3 Zur Texttradition der ethischen und politischen Schriften Melanchthons Die Traditionsgeschichte der unterschiedlichen Auflagen der ethischen und politischen Schriften Melanchthons lässt sich nicht in allen Details klären. Dies hängt zunächst damit zusammen, dass keine Informationen darüber vorliegen, welche lateinischen oder griechischen Vorlagen Melanchthon für seine eigenen Ausgaben zur Ethik und Politik zur Verfügung standen. Andererseits wird die Rekonstruktion zusätzlich durch den Umstand erschwert, dass den vielfältigen Auflagen der Ethik und Politik nur wenige Mitteilungen aus Melanchthons umfangreicher Korrespondenz zur Seite stehen. Seit 1526 jedenfalls tauchte der Name des Aristoteles – nunmehr ohne pejorativen Tonfall – in Briefen Melanchthons auf (Kuropka 2002, 29 – 31; 176 – 181; 242– 244; 275 – 283). So schrieb er in einem Brief vom 2. Juni 1526 an seinen Freund und späteren Biographen Joachim Camerarius, er habe ein Beispiel in der Nikomachischen Ethik gefunden, das ihm sehr gefalle und über das er mit ihm reden wolle, weil er in Wittenberg keinen Gleichgesinnten finde (MBW.T 2, 473,25 – 28). In den Jahren 1527/ 1528 überlegte er, ob er nicht selbst Vorlesungen über die aristotelische Ethik aufnehmen sollte (MBW.T 3, 580,60 – 62). Am 15. Juni 1528 schrieb Melanchthon an Camerarius in Nürnberg, dass in Wittenberg unter großem Arbeitsaufwand eine Neuedition der Nikomachischen Ethik des Aristoteles erstellt werde. „Und hier wird Aristoteles Ethik gedruckt, die nicht ohne große Mühe bei derartigem Desinteresse der Drucker veröffentlicht werden kann. Und ich habe Anmerkungen hinzugefügt, die dem Leser ein wenig in einem derart schwierigen und komplexen Thema helfen können.“ (MBW.T 3, 693,15 – 17) Ungewiss ist, ob Melanchthon in dieser Zeit Vorlesungen über die Ethik hielt. Seine privaten Studien führten schließlich zur ersten Ausgabe In Ethica Aristotelis commentarius Philipp. Melanchtho., die 1529 in Wittenberg von Joseph Klug verlegt wurde. Im August dieses Jahres schickte er schließlich eine Ausgabe dieser Ethik an Joachim Camerarius nach Nürnberg (MBW.T 3, 816,22). Diese Ausgabe stellt – entsprechend seines Wissenschaftsverständnisses – genau genommen eine topische Bearbeitung des ersten Buches (Was ist das Ziel des Menschen?) und des fünften Buches (Gerechtigkeit) der aristotelischen Ethik dar, das heißt Melanchthon kommentierte nicht einfach die aristotelische Vorlage, sondern er versetzte diese mit theologischen Fragen und anderen antiken Traditionen, etwa der Tradition Ciceros De officiis. Wesentlich für diese Ausgabe – und dies gilt für alle Schriften Melanchthons zur Ethik und Politik – ist seine Unterscheidung von Philosophie und Theologie, die er den eigentlichen ethischen Diskussionen voranstellt, die vor allem einen offenbarungstheologischen und soteriologischen Skopus aufweisen: Fragen der Offenbarung, der Sündenlehre, der Gottesfurcht und des Gottvertrauens sind niemals Gegenstand einer philosophischen Disziplin. Eine philosophische Ethik ist mithin – theologisch gesehen – immer insuffizient. Von dieser fundamentaltheologischen Voraussetzung, die alle ethisch-politischen Schriften Melanchthons be-
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stimmt, ist klar, dass die letzte Antwort auf die Bestimmung des menschlichen Lebens der Theologie vorbehalten bleibt. Bevor Melanchthon die weitere Kommentierung der aristotelischen Ethik fortsetzte, arbeitete er zwischen September 1529 und Mai 1530 an einer Paraphrase zu den ersten drei Büchern der aristotelischen Politik (CR 16, 417– 452; hierzu MBW 855), in denen er die Grundlagen des öffentlichen Lebens und der Staatsgesetze auslegte (Frank 2006, 325 – 352). Wie in seiner Ethik stellte Melanchthon auch der Politik seine fundamentale Unterscheidung von Philosophie und Theologie voran. Dieser Kommentar fand zwar häufig Nachdrucke, wurde von Melanchthon selbst jedoch nicht weiter bearbeitet (Kuropka 2002, 278). In der Einleitung wird der historische Hintergrund seiner Paraphrase zur aristotelischen Politik deutlich. Melanchthon kritisiert Wyclif, Schweizer und Straßburger Theologen und die Täufer, dass sie nicht klar zwischen dem Staatswesen und dem Evangelium unterscheiden (CR 16, 419). Hingegen müsse von Anfang an zwischen dem Evangelium und der politischen Lehre unterschieden werden (ebd. 417). „Die Wissenschaften“, wie Melanchthon betont, „haben keinerlei Verwandtschaft mit dem Evangelium. Denn das Evangelium offenbart die ewige Gerechtigkeit, welche die Herzen im Glauben ergreifen […].“ (ebd. 418) Der soteriologische Skopus dieser strikten Trennung, die aus der Dialektik von Gesetz und Evangelium resultiert, besteht in der Konsequenz: was immer die Wissenschaften – hier die Politik – dem Menschen erschließen, bleibt soteriologisch und offenbarungstheologisch insuffizient und irrelevant. Im 1. Buch, in dem die Grundbegriffe der Politik diskutiert werden, lobt Melanchthon Aristoteles wegen dessen Methode, „etwas in rechter Ordnung zu lehren“ (iusto ordine docendi aliquid). Grundlegend ist jedoch für das Verständnis des Staatswesens die naturrechtliche Begründung, die Melanchthon dem Staat selbst gibt. „Die Politica behandelt die bürgerliche Gesellschaft und die Pflichten, die sich auf die Gesellschaft erstrecken, und leitet die Ursachen der Gesellschaft aus der Natur ab.“ (ebd. 421– 422) Wie alle wissenschaftlichen Disziplinen lässt Melanchthon auch die Politik – darauf bezieht sich das Lob auf Aristoteles – aus ersten, allgemeinsten Prinzipien anfangen, die von Natur aus bekannt sind (ebd. 423). Ähnlich besitzt auch die Politik erste Prinzipien, die aus der Natur und dem Ziel des Menschen gewonnen würden. So wie Prinzipien formaler Rationalitätsbedingungen wie „das Ganze ist größer als jedes seiner Teile“ allgemein bekannt, ja der Natur des Menschen eingestiftet sind, so sind dies auch die ersten Prinzipien der Politik: Der Mensch ist von Natur aus zur Gemeinschaft geschaffen; die erste Gemeinschaft ist die rechtmäßige Verbindung von Mann und Frau (ebd. 423). Aus solchen Prinzipien würden dann weitere allgemeine Prinzipien gewonnen. Melanchthon – so die naturrechtliche Begründung des Staatswesens – identifiziert diese allgemeinen Prinzipien der Politik mit dem Naturrecht und setzt dieses gleich mit dem göttlichen Recht (ius divinum). Deshalb müssten alle Sätze über die bürgerliche Gesellschaft, die in einer guten und sicheren Folgerung aus der Natur gewonnen würden, für göttliche Gesetze gehalten und gepflegt werden (ebd. 424).
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Bemerkenswert ist jedoch, dass Melanchthon die traditionelle Bestimmung des Zieles des Menschen als felicitas insgesamt preisgibt und diese durch die utilitas ersetzt. „Denn der Staat ist“, wie er definiert, „eine rechtmäßig errichtete Gemeinschaft von Bürgern mit dem Ziel eines gegenseitigen Nutzens, am meisten aber mit dem Ziel der Verteidigung.“ (ebd. 435) Damit entgeht er unverkennbar dem theologischen Problem, wie die felicitas als Ziel des Staates, wie dies Aristoteles und die aristotelische Tradition verstanden hatten, mit dem Ziel der Offenbarungstheologie in Einklang zu bringen ist, das der Mensch aus sich heraus nicht erreichen kann, sondern das ihm im Glauben geschenkt wird. Im Jahr 1531 erschien ein – in der Forschung bislang übersehener – Kommentar zum fünften Buch der Ethik (Kuropka 2002, 239 – 242). Nicole Kuropka vermutet aus hier nicht weiter zu verfolgenden Gründen, dass es sich bei diesem Kommentar um eine von Melanchthon nicht autorisierte Fremdveröffentlichung handele. 1532 erschien dann in Wittenberg Melanchthons großer Kommentar zu den Büchern I – III und V der Ethik des Aristoteles (In primum, secundum, tertium et quintum Ethicorum commentarii, Wittenberg 1532 [vgl. hierzu CR 16, 3 – 4; Kuropka 2002, 242– 244]; die Ausgabe findet sich dann im CR 16, 277– 416). Im Mittelpunkt des neu hinzugekommenen dritten Buches zur Nikomachischen Ethik stand dabei die Frage nach dem willentlichen Handeln (electio) und damit die Unterscheidung zwischen der philosophischen Lehre vom freien Willen und der christlichen Lehre über die Willensfreiheit. Im April 1532 hatte Melanchthon seine Widmung zu dieser Ethikausgabe geschrieben, die bei Joseph Klug in Wittenberg erschienen war. Mit diesen vier Büchern hatte er sich gleichzeitig einen Kanon zusammengestellt, an dem er auch bei künftigen Editionen festhielt, das heißt Melanchthon hatte nie mehr als diese vier Bücher, und zwar Bücher I – III und V der Ethik des Aristoteles kommentiert. Noch 1532 hatte Melanchthon an der Wittenberger Universität Vorlesungen zur aristotelischen Ethik angeboten (CR 2, 579 – 580). Die Vorlesungsmitschrift zirkulierte zunächst nur in handschriftlichen Abschriften (diese Abschrift wurde erstmals im Jahr 1893 durch die Publikation von Heineck zugänglich), ehe sie 1538 als Philosophiae moralis epitome in Straßburg publiziert wurde. In seiner Vorrede zu dieser Edition von Mitte April 1537 an Christian Brück in Wittenberg (MBW 1890), gedruckt von dem Straßburger Drucker Krafft Müller, hebt Melanchthon die Bedeutung der systematischen Ethik nicht nur für die sittliche Bildung hervor, sondern auch für die Gottes- und Prädestinationslehre. Ein Jahr später kann Melanchthon an Johannes Schwebel in Zweibrücken berichten, dass seine Moralphilosophie nunmehr auf der Frankfurter Messe zu erhalten ist (MBW 2024). Im Jahr 1550 erschien Melanchthons letzte große Ausgabe zu den Büchern I – III und V der aristotelischen Ethik, die unter dem Titel Ethicae doctrinae elementa et enarratio libri quinti Ethicorum bei Johannes Crato in Wittenberg gedruckt worden war (CR 16, 13 – 14, III. Der Text findet sich dann im CR 16, 165 – 276; 363 – 416). Melanchthons Vorrede zu dieser Edition an Arnold Burenius in Rostock stammt vom Oktober 1550. In ihr hebt er die Bedeutung der Definition der Gerechtigkeit im Unterschied zur Rechtfertigungslehre insbesondere auch für die Theologie hervor (CR 7, 686). Im
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Mittelpunkt seiner Kommentierung zum fünften Buch der aristotelischen Ethik stehen dann ausführlich die Bestimmung und Einteilung der Gerechtigkeit sowie Fragen zum Naturrecht und zum positiven Recht (CR 16, 363 – 416). Noch zu Melanchthons Lebzeiten hatte diese Ethik zwei Neuauflagen in den Jahren 1553 – 1554 und 1560 erfahren. Melanchthons letzte Schriften zu ethischen Fragen erschienen 1552 unter dem Titel Quaestiones aliquot Ethicae, de Iuramentis, excommunicatione et aliis casibus obscuris, explicata in lectione Ethica (CR 16, 453 – 494). Diese kleine Schrift, die aus Vorlesungen hervorgegangen war und von Johannes Crato in Wittenberg gedruckt wurde, ist ethischen Einzelfragen gewidmet wie dem Schwur, der Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Gewalt und der Exkommunikation. Spätestens seit 1557 wurde diese letzte Schrift zu ethischen Einzelfragen häufig im Anhang an die Ethik von 1550 gedruckt. Gerade diese Komposition der Ethicae doctrinae elementa und der Quaestiones aliquot Ethicae erlebte schon im 16. Jahrhundert eine Vielzahl von Neuauflagen. Vermutlich war diese überhaupt die erfolgreichste der ethischen Schriften Melanchthons, die schon zu dessen Lebzeiten Anlass zu weiteren Bearbeitungen der aristotelischen Ethik wurde.
4 Einige inhaltliche und systematische Perspektiven der praktischen Philosophie Es gehörte zweifellos zu den Leistungen Melanchthons, dass er die aristotelische Tradition der Ethik und Politik unter Leitbegriffen der reformatorischen Theologie neu ordnete und auf diese Weise ihre Karriere gerade auch im Protestantismus wirkungsvoll ermöglichte. Melanchthons Verfahren – und das unterschied ihn nicht von anderen Gelehrten in der frühen Neuzeit – bestand zunächst darin, die aristotelische Tradition zu fragmentieren, um sie den zeitgenössischen Herausforderungen anzupassen. Dies zeigt sich schon äußerlich darin, dass er nie alle Bücher der Ethik und Politik herausgab. Was hier auf der einen Seite als eine Fragmentierung der Tradition bezeichnet werden kann, führte jedoch auf der anderen Seite – und gerade dies wurde Voraussetzung ihrer Tradierungsfähigkeit – zu einer Neuordnung der Ethik unter Topoi beziehungsweise Leitbegriffen reformatorischer Theologie. Unter der grundsätzlichen reformatorischen Dialektik von Gesetz und Evangelium und theologisch bestimmter Leitbegriffe wie finis hominis, virtus und iustitia wird die aristotelische Tradition der Ethik neu geordnet. Ohne Zweifel war für das Luthertum richtungsweisend und erfolgreich jenes Konzept der Ethik Melanchthons. In einer grundlegenden Weise ist es vor allem die Theologie, welche die Konturen dieser Ethik bestimmte. Hier handelt es sich zunächst um die lutherische GesetzEvangelium-Dialektik, die Melanchthon auf alle wissenschaftlichen Disziplinen als eine fundamentaltheologische Voraussetzung angewandt hatte (Scheible 2000a, 93 – 100). In seiner Ethik von 1550 lautet dieses theologische Prinzip: „Das Moralgesetz ist die ewige und unverrückbare Weisheit und Regel der Gerechtigkeit in Gott […]. Das
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Evangelium aber ist, indem es die Sünden offenlegt, die Offenbarmachung der Strafe und die Verheißung der Vergebung der Sünden und der Versöhnung, der Gerechtigkeit und des ewigen Lebens, die umsonst aufgrund des Sohnes Gottes gegeben ist, deren Kenntnis niemals dem Menschen angeboren ist, sondern die aus dem verborgenen Sitz des ewigen Vaters bekannt gemacht wurde und die oberhalb und außerhalb des Gesichtskreises aller Kreaturen ist.“ (CR 16, 168) Dieses aus der reformatorischen GesetzEvangelium-Dialektik gewonnene theologische Strukturprinzip läuft hinsichtlich der praktischen Philosophie in einer prinzipiellen Weise auf die Folgerung hinaus, dass, was immer der Mensch ethisch und politisch wollen und tun kann, soteriologisch völlig irrelevant und hinfällig, für seine Rechtfertigung vor Gott mithin unbedeutend ist. Unverkennbar hatte Melanchthon mit dieser Deutung einen konsequent reformatorischen Entwurf einer praktischen Philosophie des Aristoteles vorgelegt, der folglich auch – systematisch gesehen – der theologischen Aristoteleskritik Luthers entgeht. Diese grundsätzlich theologische Perspektive der praktischen Philosophie zeigt sich dann auch in der eigentlichen Bestimmung des Zieles des menschlichen Lebens, also in der Frage der aristotelischen εὐϑαιμονία. Hier geht es um die wichtige Frage nach der eigentlichen Bestimmung und dem Ziel des menschlichen Lebens, wie es ethisch und politisch zu realisieren ist, in welcher Hinsicht also – wie Aristoteles bekanntlich im 5. Kapitel seines 1. Buches der Nikomachischen Ethik ausgeführt hatte – das Glück (εὐϑαιμονία) das Endziel des menschlichen Handelns darstellt. Entsprechend seiner grundlegend theologischen Deutung der Ethik führte Melanchthon schon in seinem ersten Entwurf von 1529 zu dieser Frage aus: „Der menschliche Geist zeige, welches das Ziel ist, Gott zu gehorchen und ihn zu verehren […].“ Und in dieser Frage könne – wie Melanchthon durchaus einräumt – die Ethik in Konflikt mit der Theologie geraten; die Theologie jedoch lege die Gründe offen, weshalb die Philosophie diese Fragen nicht hinreichend explizieren könne und weshalb der Geist des Menschen über sein Ziel im Zweifel ist (CR 16, 288). In dem Kapitel Quis est finis hominis? seiner Moralphilosophie aus dem Jahr 1538 wird diese durchgängig theologische Struktur der Ethik unmissverständlich deutlich. Zur Bestimmung des Zieles des menschlichen Lebens führt Melanchthon hierzu aus: „Weil die Moralphilosophie Teil des Gesetzes Gottes ist – wie oben gesagt wurde –, ist es geradezu das Ziel des Menschen, in Entsprechung zum göttlichen Gesetz und zur wahrhaften Philosophie zu sein, nämlich Gott zu erkennen, ihm zu gehorchen und sowohl seine Herrlichkeit kundig zu machen und zu beleuchten wie auch die menschliche Gemeinschaft Gottes wegen zu halten.“ (CR 16, 28) Ziel des Menschen und Gegenstand der praktischen Philosophie sind mithin nicht die Bestimmung eines innerweltlich zu erlangenden Glückes (εὐϑαιμονία), sondern Gotteserkenntnis und Gottesgehorsam, die in der Befolgung des göttlichen Gesetzes in seinen Auslegungen einzelner Naturgesetze in der menschlichen Gemeinschaft bestehen. Diese grundsätzlich theologische Argumentation führt bei Melanchthon dazu, dass der Mensch in seinem eigentlichen Wesen letztlich nur theologisch zu bestimmen und zu verstehen ist. Und diese theologische Struktur hält er auch in der anschließenden Diskussion der
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aristotelischen Diktion durch. Da nämlich – wie Melanchthon weiter ausführt – in der verdorbenen Natur des Menschen als Folge des Sündenfalls die Gotteskenntnis nicht genügend leuchte, spreche auch Aristoteles ein wenig anders über das Ziel des Menschen und bestimme dieses generell als richtige Handlung (recta actio) der höchsten (Seelen‐) Potenz im Menschen, das heißt der Tätigkeit der Tugend oder der Tugenden. Aristoteles habe diese Bestimmung aus der Ordnung und der Würde der Seelenpotenzen entwickelt. „Wenn er den Grad der Tätigkeiten aufgesucht hätte, hätte er als höchste Tätigkeit entdeckt, Gott zu erkennen und Gott zu gehorchen, und er hätte gesehen, dass die Tugend auf dieses Ziel zu beziehen ist, nämlich auf die Gotteserkenntnis.“ (CR 16, 30) Zur Unterstreichung der grundsätzlich theologischen Struktur seiner Ethik spricht Melanchthon in diesem Zusammenhang von dem finis principalis, der Gotteserkenntnis und dem Gottesgehorsam, während alle anderen Ziele des Menschen wie die Tugendakte lediglich finis minus principales seien (CR 16, 30 – 31). Innerhalb dieser theologischen Struktur wird nun jedoch auch die eigentliche aristotelische Definition der Bestimmung und des Zieles des menschlichen Lebens expliziert. In dem Kapitel Quae est ratio sententiae Aristotelicae?, in dem Melanchthon die Meinung des Stagiriten darzulegen versucht, wird zwar auf die aristotelische Definition hingewiesen, die eigentümliche Tätigkeit jeglicher Natur bestimme auch sein Ziel, die Tätigkeit der Tugend sei jedoch die eigentümliche Tätigkeit des Menschen, sodass die Tätigkeit der Tugend auch das Ziel des Menschen sei – wie dies tatsächlich Aristoteles auch gelehrt hatte. Obwohl diese Beweisführung – wie Melanchthon einräumt – aus naturphilosophischen Prinzipien gewonnen sei, müsse die Argumentation vielmehr aus jenen wahren und festen naturphilosophischen Prinzipien gewonnen werden, welche durch göttliche Anordnung in der Natur eingerichtet sind: das Gesetz Gottes. Und dieses ist nichts anderes als die Naturgesetze (leges naturae) als göttliche Gesetze (leges divinae), also die praktischen Prinzipien, die auf göttliche Anordnung in der Natur eingerichtet sind (CR 16, 31). Auch wenn sich Melanchthon an der philosophischen Argumentation des Aristoteles orientiert, wird man doch sagen müssen, dass sein Entwurf einer reformatorischen Ethik grundsätzlich nicht eine konzise philosophische, sondern eine theologische Ethik darstellt. Denn diese Ethik wird von einer theologischen Gesamtperspektive bestimmt. Sowohl Grund wie auch Ziel ethischen Handelns sind konsequent theologisch bestimmt. Der Grund besteht in der Schöpfungsordnung, in der Gott dem menschlichen Geist praktische Prinzipien eingestiftet hat, Naturgesetze als Auslegung der lex divina, die die Richtschnur ethischen und politischen Handelns darstellen. Letztes Ziel des menschlichen Lebens besteht nicht in der dauerhaften Ausübung von Tugendakten, wie dies Aristoteles gelehrt hatte, sondern in der Gotteserkenntnis und im Gottesgehorsam. Damit wird auch klar, dass der Mensch in seinem eigentlichen Wesen und in seiner eigentlichen Bestimmung nur theologisch zu verstehen ist.
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Naturphilosophie 1 Einleitung. Verortung in der geschichtlichen Tradition Philipp Melanchthons Lehrbuch zur Physik, Initia Doctrinae Physicae (1549) stellt eine wichtige Neuformulierung der traditionellen aristotelischen Physik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dar. Als Produkt eines Transformationsprozesses der spätscholastischen Naturphilosophie verzeichnete dieses Lehrbuch mit mindestens 22 Auflagen einen großen Erfolg (Reich 2012, 57). Zugleich begründete das Lehrbuch eine naturphilosophische Tradition, die bis zum Ende des 16. Jahrhunderts in Wittenberg und in den von der melanchthonschen Schulreform geprägten Gebieten erhalten blieb (Bauer 1997, 346 – 359; Westman 2011, 109 – 170; Brosseder 2004, 315 – 323). In Anknüpfung an die mittelalterliche Tradition stützte sich die universitäre Naturphilosophie auch im 16. Jahrhundert auf die aristotelischen libri naturales: die Physik, De caelo, De generatione et corruptione, Meteorologia, De Anima, Parva naturalia. Allerdings wurde diese Tradition in der Hochzeit der Renaissance durch die Rezeption verschiedener antiker Texte von alternativen Zugangsweisen zur Natur durchdrungen (Wallace 1988, 204). Der Aristotelismus entschwand infolge dieser Synthesen jedoch nicht, sondern bot eine gemeinsame Grundlage für die Anpassung der traditionellen Philosophie, insbesondere der Naturphilosophie, an die Dynamik der Renaissancekultur und ihrer Quellenvielfalt an (Frank 2017a). Sowohl die „zweite Scholastik“, die Wiederbelebung des Platonismus, der italienische Aristotelismus als auch der Humanismus befürworteten die allgemeinen aristotelischen Lehren und ihre systematische Kohärenz, kritisierten jedoch den Anspruch dieser Lehren auf Gewissheit und Apriorität (Keßler 1990, 137– 147). Die Flexibilität der aristotelischen Philosophie führte zu einer beeindruckenden Vielfalt der darauf bauenden philosophischen Auffassungen und dadurch zugleich zu ihrem eigenen Niedergang. Gerade die Auseinandersetzung mit den aristotelischen Wissenschaftsansprüchen schaffte den fruchtbaren Boden für die methodologischen und stilistischen Neuerungen, die in den mathematischen, erfahrungsbezogenen, technologischen und logischen Bereichen der Wissenschaften zustande kamen (Wallace 1989, 205 – 206). Die Denker dieses Zeitalters des Umbruchs glaubten die Natur „fast begriffen zu haben, um dann zu sehen, dass man so klug war wie zuvor“ (Hoykaas 1980, 37). Dieses „Hin- und Herschwanken“ des Naturforschers war aber für die frühmodernen Wissenschaftler kein Grund aufzugeben. Eine Mischung aus Demut vor der Natur und der Überzeugung, man könne sie sich Untertan machen – beide Meinungen wurden von Francis Bacon in seinem Novum Organon von 1620 geteilt –, findet sich auch bei den Denkern des
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16. Jahrhunderts wieder. Besonders in Melanchthons Lehrbuch zur Physik scheint diese optimistische Einstellung zur Naturforschung durch.
2 Entstehungsgeschichte Melanchthons naturphilosophisches Lehrbuch geht auf Vorlesungen zurück, welche der Humanist in den 1530er Jahren in der Artistenfakultät der Universität Wittenberg gehalten hat. In ihnen verknüpft Melanchthon die für ihn relevanten Passagen aus den naturphilosophischen Büchern des Aristoteles mit der Kosmologie des platonischen Timaios, mit der stoischen Naturlehre, mit Exzerpten aus dem ptolemäischen Quadritpartitum und mit verschiedenen Lehren zu den Temperamenten und Elementen des Galen und Hippokrates. Den Zusammenhang zwischen den aristotelischen und platonischen beziehungsweise ptolemäischen Auffassungen untermauert Melanchthon mit Beispielen aus der Zeitgeschichte und Dichterstellen in humanistischer Manier (Bauer 1997, 149 – 175). Sein Lehrbuch wird in einem reformatorisch-theologischen Bezugsrahmen konzipiert, mit dem die ausgewählten Lehren harmonisieren. Seine Abhandlung über die Naturphilosophie wird durch die platonisch-neuplatonische Überlagerung, welche die philosophische Seite der theologischen Annahmen Melanchthons repräsentiert, zur Darstellung einer Naturtheologie (Frank 1998, 52). Wie Melanchthons topische Einteilung der naturphilosophischen Themen zeigt, ist die Physik nur ein Teil dieser Naturlehre. Dazu gehören auch meteorologische Leitbegriffe, anthropologische und ethische Lehren. Das Kapitel über die Körperteile des Menschen in seinem Liber de Anima – sein anthropologisches Lehrbuch – kann als Fortsetzung seiner Darstellung der galenischen Elementenlehre und der aristotelischen Theorie der Mischungen in den Schlusskapiteln seiner Initia betrachtet werden. Systematisch geht aus der Verknüpfung der beiden Textbücher, und insbesondere aus der Betrachtung des letzten Teiles seiner De Anima-Schrift, die Relevanz der Naturphilosophie für die Ethik hervor.
3 Editionsgeschichte Melanchthons naturphilosophische Sicht wurde in der Philosophiegeschichte besonders vor dem Hintergrund der Kopernikus-Kontroverse behandelt. In seinem 1549 erschienenen Lehrbuch kritisiert Melanchthon die heliozentrischen Hypothesen des Nikolaus Kopernikus. In der zweiten Wittenberger Druckausgabe lässt Melanchthon die an den polnischen Astronomen adressierten polemischen Stellen aus. Die von dem Autor beibehaltenen Teile der Schrift stimmen mit dem Inhalt im Erstdruck überein. Die meisten darauffolgenden Ausgaben folgen der zweiten Schriftvariante. Zu Melanchthons Lebzeiten sind insgesamt zehn Druckausgaben erschienen. Weil die Veränderungen hauptsächlich Auslassungen in der zweiten Ausgabe gegenüber der ersten sind, wurde im Corpus Reformatorum (CR) die Wittenberger Ausgabe von Hans
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Lufft aus dem Jahr 1549 ediert (CR 13, 179 – 412). Es gibt zwei nicht-kritische moderne Übersetzungen von den Initia Doctrinae Physicae aus dem Corpus Reformatorum, von Walter Ludwig (2008) ins Deutsche und von Dino Bellucci (2009) ins Italienische übertragen. Bellucci hat seine Übersetzung mit wichtigen Anmerkungen versehen.
4 Zusammenfassung der Schrift Melanchthons Naturphilosophie unterscheidet sich von der scholastischen naturphilosophischen Tradition vor allem dadurch, dass das erste Buch der Schrift von der Astronomie und Astrologie handelt. Für die Aristoteliker bezog sich die physica ausschließlich auf die sublunare, veränderliche Welt. Melanchthon führt am Anfang seines Lehrbuches zwar die aristotelische Definition der physica ein, als „Lehre, welche die Qualitäten und die Bewegungen aller Körper und Arten in der Natur und die Ursachen für ihr Entstehen und Vergehen“ betrachtet (CR 13, 179), ergänzt diese aber mit der Lehre über die Bewegung der himmlischen Körper. Diese sei für die Betrachtung der unteren Materie sehr nützlich, da die Sterne eine universal wirkende Ursache seien und die Materie durch ihre Bewegung und ihr Licht regierten (CR 13, 185). Aus diesem Grund überrascht es nicht, dass Melanchthon in der Anordnung der Kapitel vom Allgemeinen zum Besonderen geht, von den einfachen Himmelskörpern zu den einzelnen Elementen und den aus ihnen zusammengesetzten irdischen Körpern. Melanchthon betont die Möglichkeit einer gewissen Erkenntnis mittels der physikalischen Lehre und begründet seine Aussage mit seiner Auffassung über die Existenz dreier Gewissheitskriterien, die auch in der Naturphilosophie maßgebend sind: eingeborene Prinzipien, Erfahrung und die Inferenzfähigkeit des menschlichen Geistes. Als Beispiel für die eingeborenen und somit gewissen Kenntnisse gibt er die Reihenfolge der Zahlen, ihre Progressionen und Proportionen an (CR 13, 187). Danach verortet Melanchthon seine Naturphilosophie in dem reformatorisch-theologischen Rahmen der Dialektik von Gesetz und Evangelium und betont die Bedeutung der Naturphilosophie für die Erkenntnis des Gesetzes. Melanchthon beschreibt die Natur als Ort der natürlichen Gotteserkenntnis, welche sich streng von der Offenbarungstheologie unterscheide. Aus der natürlichen Welt könne man zudem neun philosophische Gottesbeweise ableiten, die Melanchthon komplett aufzählt. Danach wendet sich Melanchthon dem Kosmos und seinen Teilen zu, bestimmt seine Bewegung, hebt seine Einzigartigkeit hervor, beschreibt den Himmel, seine Sphären und zählt die Planeten auf. Er betont die Nützlichkeit der Kenntnis der genauen Planetenbewegungen und der sie enthaltenden ptolemäischen Lehre. Diese sei laut Melanchthon der eigentlichen physikalischen Lehre hinzuzufügen. Erst im zweiten Buch kann man eine sich an die aristotelische Physik anlehnende Struktur erkennen. Hier behandelt Melanchthon die Prinzipien der Naturphilosophie und übernimmt die aristotelische Einteilung zwischen natürlichen und künstlichen Dingen. Er unternimmt eine detaillierte Untersuchung der natürlichen Ursachen, welche so nicht im aristotelischen Corpus zu finden ist. Im Zusammenhang mit der Ursa-
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chenanalyse behandelt Melanchthon die Frage nach dem Schicksal und dem Zufall und das Problem der Willensfreiheit. Daran knüpft er die Frage nach Finalkausalität und die Bewegungslehre an. In den letzten Kapiteln des zweiten Buches diskutiert er die von Aristoteles in seiner Physik aufgegriffenen Themen der Ruhe, des Unendlichen, des Kontinuums, des Ortes, des Vakuums, der Zeit sowie der Ewigkeit und zählt die aristotelischen Argumente für die Ewigkeit der Welt auf. Schließlich stellt er im dritten Buch die zusammengesetzte Körper konstituierenden Elemente und deren Qualitäten dar. In diesem Zusammenhang behandelt Melanchthon auch die Arten und Grade der Mischungen und ihre Ursachen. Mit den Kapiteln über die Arten der Veränderungen und Prozesse, welche in den zusammengesetzten Körper stattfinden, und einem Teil über die Verwesung schließt Melanchthon sein Lehrbuch ab.
5 Forschungsüberblick. 5.1 Problemstellung und -überwältigung Melanchthons Verständnis der Naturphilosophie wurde in der Philosophie und besonders in der Wissenschaftsgeschichte als modernitätsverhindernd dargestellt (Frank 2012, 9; Meinel 2011, 230), speziell wegen seiner Kritik an dem kopernikanischen System. Hinzu traten Melanchthons eigenes Bekenntnis zum Aristotelismus, seine Würdigung der Astrologie und die Abwesenheit einer modernen empirischen Methode in seiner Beurteilung des Erfahrungsbegriffs (Brosseder 2004, 228). Außerdem erkläre Melanchthon, so die Kritik, nicht die Auswahl der topoi, die er als Leitbegriffe der Naturphilosophie in seinem Lehrbuch aufstellt. Er legt sie laut Kusukawa dogmatisch fest (1997, 351). Die jüngste ideengeschichtliche und philosophiegeschichtliche Forschung setzte sich allerdings mit Melanchthons philosophischen Schriften intensiv auseinander (Kusukawa 1995; Bellucci 1998; Frank 1995/1998; Methuen 1998; Bauer 1997; Brosseder 2004; Frank und Mundt 2012; Frank 2017a) und hinterfragte den ursprünglichen Anspruch der Historiker, Wissenschaftsgeschichte als bloße Forschungsgeschichte zu verstehen (Cunningham und Williams 1993). Sie wog außerdem ihre eigenen methodologisch-historiographischen Prinzipien neu ab (Laerke, Smith, Schliesser 2013). Die neuere Forschung versucht deshalb verstärkt, die Philosophie Melanchthons und die Bedeutung, die er der Naturphilosophie beimisst, nicht nur in eigenen historischen und systematisch-philosophischen Kategorien zu interpretieren, sondern zunächst einmal aus sich selbst heraus zu verstehen. Die jüngste Forschung hebt in diesem Zusammenhang vor allem die Diversität an Disziplinen und Lehren hervor, welche Melanchthons naturphilosophisches Konzept umfasst. Eine Darstellung dieser Vielfalt unternimmt Melanchthon in seiner Rede zur Naturphilosophie (CR 11, 278 – 284). Als allererstes betont Melanchthon, dass die Naturphilosophie ihre Ursprünge in der Mathematik hat und von ihr immer wieder Beweise entleiht. Diese Überzeugung bricht mit der scholastischen Tradition der Be-
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gründung der Physik in der Metaphysik und verleiht der Naturphilosophie zunächst ein an der Mathematik angelehntes methodologisches Instrumentarium. In der Astronomie, welche für Melanchthon zur Naturphilosophie gehört, gäbe es fast ausschließlich mathematische Beweise. Die eigentliche Naturphilosophie, die sich mit der Untersuchung der Ursachen beschäftigt, verleihe der medizinischen Wissenschaft ihre Anfangsgründe. Die Medizin sei für ethische Diskussionen ihrerseits fundamental, da die Ursachen der Tugenden in der Natur des Menschen zu finden seien. Schließlich sei die Naturphilosophie nicht nur in der Politik nützlich, sondern vor allem für die Frömmigkeit des Menschen von hohem Wert. „Sachkundige Naturphilosophie bestätigt die ehrenvollen Meinungen über Gott und die Vorsehung“, vor allem, weil für Melanchthon die Menschen aus der Ursachenlehre auf den einzigen und ewigen, den allmächtigen, weisen und besten Geist schließen könnten, die Ursache des Guten in der Natur (CR 11, 558). Dieses Wissenschaftskonzept des orbis artium wird seelentheoretisch durch die eingeborenen Prinzipien begründet (De Angelis 2010, 36) und von Melanchthons Schöpfungstheologie untermauert. Zu jedem der oben erwähnten Themen der Naturphilosophie und zu der Bedeutung ihres Zusammenhangs haben sich Ideengeschichtler und Philosophiehistoriker in diversen Studien geäußert.
5.2 Forschungsresultate 5.2.1 Transformation der Naturphilosophie Mit dem Problem der Transformation der Naturphilosophie am Beispiel Philipp Melanchthons setzt sich Sachiko Kusukawa in ihrer bekannten Studie The Transformation of Natural Philosophy: the case of Philipp Melanchthon (1995) auseinander. Darin argumentiert die Autorin für eine grundsätzliche Rückbindung der Naturphilosophie Melanchthons an die lutherische Theologie und beansprucht für die Verfassung der Initia Doctrinae Physicae eine auf kontextuell-geschichtliche Ereignisse beruhende Interpretation. Weil Melanchthon seine wissenschaftlichen Bemühungen vollständig in den Dienst der Reformation und ihrer Unterstützung stellte, verwandelte er laut Kusukawa die traditionelle in eine lutherische Naturphilosophie. Diese sollte vor allem eine theoretische Begründung für die Ethik des bürgerlichen Gehorsams sein, welche sich – angesichts der sozialen Unruhen der 1520er und 1530er Jahre (mit dem Bauernkrieg und den Auseinandersetzungen mit den Täufern und den Zwickauer Propheten) – als notwendig für Luthers Projekt erwiesen hätte. Durch die Widerlegung des Skeptizismus, der atomistischen Theorien und der Theorie des Zufalls, durch die Darstellung einer optimistischen Anthropologie und durch die dogmatische Aufstellung der naturphilosophischen Leitbegriffe untermauere Melanchthons Schrift die lutherischen Lehren über die Distinktion zwischen Gesetz und Evangelium und über die göttliche Vorsehung. Die eklektische Integrierung verschiedener philosophischer Sichtweisen und von astronomischen, astrologischen und medizinischen Lehren in seiner Naturphilosophie dient nach Kusukawa
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dazu, auf wissenschaftliche Art und Weise die Erkennbarkeit des göttlichen Plans in der Welt und den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit zu begründen. Der Anspruch auf philosophische Systematik sei im Falle seiner naturphilosophischen Lehrbücher verfehlt (Kusukawa 1995, 99). In einem Versuch, die Transformation der Naturphilosophie systematisch-argumentativ anhand von Melanchthons Naturphilosophie darzustellen, fügt Günter Frank eine Ergänzung zu Sachiko Kusukawas ideengeschichtlicher Analyse hinzu. Frank untersucht in seiner umfangreichen Studie zu Melanchthons theologischer Philosophie (1995) die schöpfungstheologischen Voraussetzungen und die Gottesebenbildlichkeitlehre für Melanchthons Anthropologie und die damit verbundenen erkenntnisund wissenschaftstheoretischen Fragen. Er erkennt die Bedeutung der Dialektik von Gesetz und Evangelium für Melanchthons Bewertung der wissenschaftlichen Erkenntnis und Tätigkeit. In seinen weiteren Studien zu Melanchthons Naturbild und Naturphilosophie fokussiert er sich besonders auf die Art der philosophischen Umdeutung von traditionellen Argumenten und Begründungen und arbeitet die Transformation der Grundelemente der aristotelischen Physik heraus, welche Melanchthon neu definiert und begründet: das Verständnis der naturphilosophischen Prinzipien, die Bewegungslehre, das Ursachenverständnis. Durch die Ent-Ontologisierung der Natur und die Rückverlegung der immanenten teleologischen Zusammenhänge in den ordnenden Geist Gottes, an dem der Mensch partizipiere, treten allein die kausalen Zusammenhänge in den Vordergrund. Die Weltmaschine, welche sich dem Willen und Plan Gottes unterwerfe, könne aufgrund wissenschaftlicher Erklärungen gedeutet werden, welche von dem Mensch selbst ergründet werden können (Frank 1998, 55). Dadurch sei die Natur ein Ort der Offenbarung Gottes, an dem die göttlichen Eigenschaften beobachtet werden können, so wie die baumeisterliche Fähigkeiten an dem Werk eines begabten Architekten. Naturteleologie werde zur Naturtheologie (Frank 2012, 22). Ein solches Naturbild habe auch die Naturphilosophie der frühen Neuzeit bestimmt, als grundsätzlichen Rahmen der Entstehung der frühmodernen Wissenschaft. In einer Darstellung des Begründungszusammenhang und der Funktion des Naturverständnisses in Melanchthons Denken unterstützt Cristoph Meinel (2011) Kusukawas These der Bemühung Melanchthons um eine wissenschaftlich-verbindliche Basis für ethisches Verhalten und öffentliche Ordnung. Melanchthons Initia sei nicht primär ein Lehrbuch über die Natur- oder Himmelskunde, sondern eine naturphilosophisch begründete theologische Anthropologie. Die Gliederung und die inhaltliche Darstellung würden im Grunde die Stellung des Menschen in einer Welt zusammenfassen, in der er sich an der kontinuierlichen Erkenntnis der Attribute Gottes beteilige. Astrologie sei deshalb die wissenschaftlich begründete Zeichenlehre, welche die zwei Teile der Welt in einem einheitlichen Naturschauplatz vereinige. In diesem zeige sich Gott dem Menschen „in seinem beständigen Mit-der-Welt-Sein“. Dadurch befürwortet Meinel Franks Verständnis des melanchthonschen Naturbildes. Die Neuerungen des melanchthonschen Wissenschaftsverständnisses: die Würdigung und Integrierung der mathematischen Wissenschaften, die naturalistischen Elemente seiner Anthro-
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pologie, seine astrologische Semiotik und die geistphilosophische Begründung der Wissenschaft, würden auf eines hinausgehen: den Beweis einer klaren göttlichen Ordnung in der Natur, in der sich die vestigia Dei zeigen, welche Gott der Natur eingeprägt habe (impressa). Da die Natur für den Praeceptor Germaniae allerdings kein Ort der Offenbarung von zentralen Glaubensüberzeugungen sei, bliebe Melanchthons Naturauffassung den Physiktheologien des 17. Jahrhunderts noch fremd. Allerdings ließe sich gerade in der Beschränkung zwischen Philosophie und Theologie erst seine Naturphilosophie als wissenschaftliches Fundament von Anthropologie und Ethik deuten (Meinel 2011, 251). Die Verknüpfung der zwei Wissenschaftsbereiche erreiche Melanchthon, indem er verschiedene Lehren in seinem Lehrbuch mit theologischen Grundannahmen harmonisiere.
5.2.2 Initia Doctrinae Physicae als Synthese In einer näheren Betrachtung der verschiedenen philosophischen Lehren hebt Barbara Bauer (1997) den Zusammenhang hervor, den Melanchthon zwischen diesen Grundannahmen erstellt. Vor allem habe Melanchthon auf die Verträglichkeit einzelner Lehrstücke zu einigen Loci communes geachtet, welche mit metaphysischen, kosmologischen und ethischen Fragen zusammenhängen – über die Schöpfung, die Kontingenz, den freien Willen (Bauer 1997, 151). Die Abhandlung dieser Loci brächten Melanchthon dazu, von der traditionellen Gliederung der aristotelischen Physik abzusehen. Physik, Astronomie, Astrologie und Medizin seien als Teile der melanchthonschen Naturphilosophie theologisch begründet. Die zu integrierenden naturphilosophischen Auffassungen, die aristotelische Naturphilosophie, das ptolemäische astronomische System, die stoische und neuplatonische Philosophie, hätten allerdings auch zur Aufwertung der Naturwissenschaften in Wittenberg beigetragen und seien in humanistischer Tradition in einem neuen Curriculum berücksichtigt worden. Der Gesetz-Evangelium-Distinktion entsprechend wären die Wissenschaften als Mittel betrachtet worden, die Naturgesetze zu erforschen, zu erkennen und für das menschliche Leben nutzbar zu machen. Weil die Verträglichkeit zwischen den mit zu berücksichtigenden Elementen aufrechterhalten werden sollte, habe Melanchthon durch seine Einstellung zu den neuen astronomischen Hypothesen in seiner Initia die „Wittenberger Interpretation“ entwickelt (Bauer 1997, 172).
5.2.3 Astronomie und Astrologie: „The Wittenberg Interpretation“ In einem Versuch, mit traditionellen Historiographien der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts endgültig zu brechen, hebt Robert Westmans detaillierte Schilderung über die verschiedenen Arten der Aneignung des kopernikanischen Systems im 16. Jahrhundert die Kontingenz und Örtlichkeit der Vorstellungen über die Wissenschaft der Sterne hervor, welche diesen Aneignungen zugrunde lagen. Die
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Gültigkeit der kopernikanischen heliozentrischen Planetenordnung, welche Rheticus in seiner Narratio Prima der protestantischen Welt erschloss, wurde in Wittenberg verworfen. Dabei wurden die mathematischen Berechnungen des Kopernikus einbezogen, welche für die Korrekturen der astronomischen Tafeln und für sicherere astrologische Vorhersagen als nützlich galten, die traditionelle Auffassung von der Erde als Mittelpunkt des Kosmos jedoch beibehalten. Diese selektive Aneignung nennt Westman „die Wittenberger Interpretation“ (Westman 1975, 1980, 2011). Melanchthon habe die heliozentrischen Hypothesen vor allem aus physikalischen und biblischen Gründen in seinem Physiklehrbuch von 1549 verworfen. Er soll die Astrologie wegen ihrer universalistischen Erklärungskraft gewürdigt haben, die Mathematik aber musste für Melanchthon als Instrument der Astronomie an aristotelischen und ptolemäischen Voraussetzungen anknüpfen. Vor allem Erasmus Reinhold, der in seinen Prutenischen Tafeln Kopernikus Beobachtungen und Berechnungen aufnahm, habe dazu beigetragen, dass Kopernikus als praktischer Astronom in Wittenberg gepriesen wurde. Melanchthon habe vermutlich die zweite Druckauflage seiner Initia, in der er seine Kritik an Kopernikus auslässt, erst herausgegeben, nachdem er Reinholds Tafeln zu Gesicht bekam. Erst in den 1570er Jahren sei die Einheit des planetarischen Modells und der ihr zugrunde liegenden Himmelsordnung wieder von einer neuen Generation von Astronomen und Astrologen (Westman 2011, 257– 258) in Betracht gezogen worden. Jedoch habe die endgültige Entwicklung zur „Naturalisierung“ der Astronomie erst im 17. Jahrhundert stattgefunden, als Konsequenz weiterer astronomischer Erkenntnisse in den 1580er Jahren (Westman 2011, 372). Claudia Brosseder zeigt mittels einer ergänzenden Analyse des Commentarius de praecipuis divinationum generibus von Caspar Peucer, dass der Schüler und Schwiegersohn Melanchthons schon in den 1550er Jahren zumindest indirekt auf Kopernikus reagiert hat, indem er dem Licht eine wichtige Rolle in seiner Astrologie beimaß (Brosseder 2004, 200). Brosseders detaillierte Studie über die deutsche Astrologie im 16. Jahrhundert erweist sich als grundlegend vor allem in ihrem Versuch, die Stellung der Astrologie in Melanchthons Wissenschaftskanon zu erläutern und die damit verbundene Methodendiskussion aufzuzeigen. Astrologie sei die Wissenschaft gewesen, welche von ptolemäischen und aristotelischen Voraussetzungen ausging und Einblick in die natürlichen Kausalitätsbeziehungen gewährte (Brosseder 2004, 202). Sie vereinigte die irdischen näheren Ursachen mit den himmlischen und fernen und letztendlich mit der einen universalen Ursache: Gott (Melanchthon 2008, 151– 152). Astrologie als Zeichenlehre sollte aber erst durch die ordnende Rolle der Logik zur Wissenschaft werden. Caspar Peucer habe in seiner Methodendiskussion von dem melanchthonschen Methodenbegriff und seinen Beispielen (unter anderem aus den Erotemata Dialectices) geschöpft (Brosseder 2004, 223 – 231). Die vorwiegende probable Art der Argumentation in der Astrologie schließe jedoch gewisse, auf eingeborene Prinzipien aufgestellte Argumente nicht aus. Durch die Anwendung einer hermeneutischen Methode auf die Natur und die Kopplung der entdeckten Zusammenhänge an die notitiae naturales im menschlichen Geist habe Philipp Melanchthon
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die rhetorische Hermeneutik mit der Logik verknüpft (Brosseder 2004, 321). Diese für die Astrologie aufgestellte Methode sollte für die Naturphilosophie allgemein gelten. Die Integration von Kopernikus′ Berechnungen in die Wittenberger Physiklehrbücher habe dazu geführt, dass seine Lehren nicht verbannt wurden und frei gelesen und überarbeitet werden konnten. Melanchthons Würdigung der kopernikanischen Berechnungen kann man zweifellos mit seiner hohen Wertschätzung der Mathematik in Verbindung bringen. Sein platonisch inspiriertes Bild von Gott als Geometer habe Keplers Kosmosidee geprägt (Singer 2012, 98).
5.2.4 Die Bedeutung der mathematischen Wissenschaften für die Naturphilosophie In den von Melanchthon verfassten Vorreden zu mehr als einem Dutzend mathematischer und astronomischer Werke, die in dem zehnten Band des Corpus Reformatorum ediert wurden, lässt sich diese Wertschätzung Melanchthons sehr gut erkennen. Karin Reich stellt in ihrer Studie (2012) Melanchthons erste Begegnungen mit den mathematischen Fächern in Tübingen dar. Sie beschreibt dabei sein steigendes Interesse an den verschiedenen Werken von antiken, mittelalterlichen oder zeitgenössischen Autoren zu mathematischen, astronomischen und astrologischen Themen. Ihr Werk bietet eine Aufzählung und Zusammenfassung der von Melanchthon zu diesen Werken verfassten Reden. Das Fazit: Melanchthons Förderung der mathematischen Wissenschaften in Wittenberg habe über seinen Schüler Rheticus zweifellos zu einer Verbreitung des kopernikanischen Weltbildes beigetragen. Der Praeceptor Germaniae habe sich auch selbst für den mathematisch-astronomischen Unterricht an den Universitäten und an den Lateinschulen im protestantischen Deutschland des 16. Jahrhunderts intensiv bemüht (Reich 2012, 27– 58). Melanchthons Gründe für die Wertschätzung der Mathematik werden von Georg Singer in Sternenlauf und göttliche Vorsehung. Philipp Melanchthon als Förderer der mathematischen Lehre (2012) aufgezählt. Melanchthon betone nicht nur den Nutzen der Mathematik für den menschlichen Alltag, für den Schiffsverkehr oder für die Architektur, sondern auch die Bedeutung mathematischer Berechnungen für die kalendarische Festlegung kirchlicher Feiertage. Außerdem betone Melanchthon die Rolle der Mathematik bei der Einübung in das logische Denken, bei der Erkenntnis der Ordnungsstrukturen und als Propädeutik in der Philosophie. Das ausschlaggebende Argument für die große Bedeutung der Mathematik entwickele Melanchthon jedoch aus theologisch-kosmologischen Überzeugungen. Durch die Erforschung der Himmelsbewegungen erfahre der Mensch die kosmische Ordnung und schließe auf den genialen Architekten, auf den Schöpfer der perfekten Himmelswelt. Der Mensch vermöge die Welt mit den eigenen geistigen Fähigkeiten zu verstehen. Die Himmelsbewegungen und ihre Einflüsse auf das irdische Leben bedürften der menschlichen Interpretation. In dieser Interpretation entdecke der Mensch – mittels der Astronomie und Astrologie – den Schöpfergott, seine Güte und seine Vorsehung (Singer 2012, 64).
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Die Hochschätzung der Mathematik müsse, so Charlotte Methuen, vor dem Hintergrund der vielfältigen Interessen Melanchthons verstanden werden. In ihrem Beitrag Zur Bedeutung von Mathematik für die Theologie Philipp Melanchthons (1998) geht sie besonders auf zwei von den schon von Singer angegebenen Gründen ein, die für Melanchthon ausschlaggebend in seiner Bewertung der Mathematik seien. Erstens sei es für Melanchthon wichtig, dass die Mathematik zur Schulung des Verstandes im logischen Denken einen wichtigen Beitrag leiste. Sie würde der Philosophie nützen, weil sie dem logischen Schlussfolgern sehr ähnlich sei und ihre Beweise auf sichere Prinzipien gründe. Dass die Dialektik ihre Grundlagen aus der Arithmetik beziehe und dass die mathematischen Übungen für Melanchthon geeignete Vorbereitungen für den Syllogismus seien, belegt Methuen auch am Beispiel seiner Vorrede zu dem Arithmetik-Lehrbuch von Georg Joachim Rheticus (CR 11, 290). Zweitens ermögliche die Mathematik dem menschlichen Geist die Betrachtung der harmonischen und vollkommeneren Teile des Kosmos. Diese offenbarten durch ihre Schönheit und Unvergänglichkeit am deutlichsten die göttliche Ordnung in der Welt. Obwohl Melanchthon die Mathematik als geeignetes Hilfsmittel des menschlichen Geistes für den Aufstieg zu Gott gesehen habe, habe er streng zwischen der Offenbarung Gottes in der Bibel und der durch Mathematik vermittelten Erkenntnisse unterschieden. Melanchthon habe eher nach einer göttlichen Autorität für sein ethisches System als nach einer mathematischen Beschreibung des Universums gesucht. Er habe noch nicht die Rolle Gottes in einem mathematisch erklärbaren Ablauf der Welt und des menschlichen Handels rechtfertigen müssen. Erst die natürliche Theologie des 17. Jahrhunderts habe vollständig auf das Buch der Natur als den letztendlichen Offenbarungsort Gottes vertraut. Dies erfolgte in einem überaus optimistischen Vertrauen in die menschliche Erkenntnisfähigkeit, das im Denken Melanchthons gefehlt habe (Methuen 1998, 102).
5.2.5 Der metaphysische Rahmen des Naturbildes Dieses Naturbild ist insofern mit den Physiktheologien des 17. Jahrhunderts verwandt, als dass es eine natürliche Gotteserkenntnis begründet, welche in eine bestimmte Spannung mit der Heilstheologie gerät (Frank 1995,158; 1998, 55). Dino Bellucci sieht in dem natürlichen Gottesbegriff die Begründung von Melanchthons physikalischer Unternehmung und den Schlüssel zur Auslegung des Natur-Buchs (Bellucci 1998a/b). Bellucci geht es um die Bestimmung Gottes als mens und als prima causa, welche philosophisch bestimmt werden könne und keinesfalls mit der evangelischen Gottesoffenbarung zu verwechseln sei. Er möchte zeigen, dass Melanchthon trotz der strengen Trennung zwischen der göttlichen Offenbarung in der Schrift und in der Schöpfung offenbarten göttlichen Attributen eine natürliche Gotteserkenntnis untermauern wollte. Er habe in Augustinus′ Nachweis der Ebenbildlichkeit Gottes im menschlichen Geiste nur eine auf einzelne Gläubige beschränkte Gotteserkenntnis gefunden. Melanchthon habe deshalb ein Bild Gottes im Menschen zeigen wollen, das zu seinem Schöpfer führe. Dieser Schöpfer strahle seine Weisheit und Güte über den
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Geist aller Menschen aus (Bellucci 1998a, 68). Dieses sei das erste Naturgesetz, das sich im menschlichen Geist befände und durch die dem Geist eingeborene notitia de Deo begründet werde. Diese unvollkommene, natürliche Kenntnis der mens architectatrix stelle eine Vorbereitung für die vollkommene Gotteserkenntnis dar (Bellucci 1998a, 71). Sie erweise sich umso dringender für das Diesseits, je fester es die ethischen Handlungsvorschriften selbst begründe. Naturphilosophie, insbesondere die Betrachtung der makro- und mikrokosmischen Ordnung, würde sich normativ auf den menschlichen Geist auswirken und ihm die moralische Harmonie offenbaren, die von dem Menschen selbst erstrebt werden müsse – zumindest in Bezug auf die äußerlichen Handlungsakte (Bellucci 2005, 249). Aus der Naturphilosophie würde der Mensch die Prinzipien der Ethik entnehmen können. Melanchthon war nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ein unermüdlicher Förderer der Wissenschaften. Melanchthons naturphilosophische Bemühungen zielen nicht auf die Versöhnung von Religion und Naturwissenschaften in Bezug auf die Übereinstimmung von Tatsachen (Keen 1998 81– 82). Sein Anliegen bestand in der philosophischen Harmonisierung von verschiedenen Lehren, die seine Anthropologie und Metaphysik unterstützen sollten und nicht in der tatsächlichen Naturforschung. Sein philosophisches Streben nach Systematisierung hat letztendlich eine Naturtheologie begründet, welche im 17. Jahrhundert zur Grundlage der Entfaltung der neuen empirischen Wissenschaften wurde wurde.
6 Forschungsperspektiven Melanchthons Naturbild fußt auf theologisch-reformatorischen Voraussetzungen und auf einer von diesen Voraussetzungen geprägten Anthropologie. Es besteht in der Synthese von verschiedenen philosophischen Lehren, welche mit der vorausgesetzten Anthropologie und Theologie harmonisieren sollen. Der Zweck seiner Naturphilosophie ist eine natürliche Gotteserkenntnis, welche die Offenbarung stützen und komplementieren soll. Melanchthons originelle philosophische Ausarbeitung seiner theologisch bestimmten Anthropologie und die Aufnahme und Umdeutung der verschiedenen antiken und zeitgenössischen Philosophien begründen seine optimistische Metaphysik. Diese besteht in der grundsätzlichen Intelligibilität des ganzen Kosmos aufgrund der Verwandtschaft des menschlichen und des göttlichen Geistes. Die jüngste Forschung betont die Bedeutung der theologisch-kosmologisch geprägten melanchthonschen Naturphilosophie für die darauffolgende astronomische Tradition und die Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie (Methuen 1998; Frank 1995, 1998, 2012, 2017). Die theologischen Voraussetzungen der Naturphilosophie des 16. Jahrhunderts verdeutlichten die enge Beziehung zur Theologie, welche sich die moderne Philosophie und Naturforschung zu eigen gemacht habe (Kusukawa 1995; Harrison 1998, 2007). Jacomien Prins (1988) und Claudia Brosseder (2004) haben damit begonnen, das melanchthonsche Methodenbewusstsein sowie die Rolle von Logik und Mathematik für seine wissenschaftliche Begründung von Astrologie und
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Naturphilosophie zu untersuchen. Es bleibt dennoch ein Desiderat der Forschung, sich mit Melanchthons Methodenbegriff auseinanderzusetzen und seine Bedeutung für Melanchthons Naturphilosophie zu bestimmen.Würde nach dem Ansatz von Kuhn die Rekonstruktion der non-regressiven Methoden in Melanchthons naturphilosophischem und dialektischem Werk versucht werden (Kuhn 1998, 317– 339), wäre dies auch für die Methodendiskussion in der Interpretation der Renaissance-Philosophie insgesamt von großer Bedeutung. Eine systematische Analyse des Zusammenhangs zwischen eingeborenen Kenntnissen (notitiae naturales), Methoden und Wissenschaften würde einen wichtigen Beitrag für die Erforschung des melanchthonschen Methodenbegriffs im Kontext der graduellen Umdeutung der wissenschaftlichen Methode leisten (Risse 1963). Trotz der jüngsten Untersuchungen zur Philosophie und Erkenntnistheorie Melanchthons ist es weiterhin eine offene Frage, wie die für ihn gleichgestellten Wahrheitskriterien der Erfahrung und der eingeborenen Kenntnisse in einem konsistenten erkenntnistheoretischen, für die Naturphilosophie bestimmenden System eingebunden werden können. Obwohl seine Metaphysik in eine theo-rationalistische Richtung weist (Frank 2008, 273), ist der Begriff der „allgemeinen Erfahrung“ in Melanchthons Verständnis noch nicht endgültig geklärt worden. Eine noch fehlende Analyse des Erfahrungsbegriffs im 16. Jahrhundert in verschiedenen konfessionellen und kulturellen Kontexten würde einen wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Rahmen darstellen, in dem auch der melanchthonsche Erfahrungsbegriff zur Geltung kommen könnte.
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Anthropologie 1 Einleitung. Verortung in der geschichtlichen Tradition Philipp Melanchthons Liber de Anima von 1553 bedeutete zunächst einen signifikanten Bruch mit der Tradition der mittelalterlichen De-Anima-Kommentare. Mit seinem im 16. Jahrhundert sehr einflussreichen Lehrbuch leistete der Wittenberger Professor zudem einen bedeutsamen Beitrag zur Umdeutung der Psychologie als Wissensform in der Renaissance. Als Neubearbeitung seines 1540 in Wittenberg erschienenen Commentarius de Anima wurde Liber de Anima im 16. Jahrhundert in über vierzig Auflagen herausgegeben, zu denen acht Kommentare publiziert wurden (Schüling 1967, 183 – 86). Die Psychologie wurde, wie Keßler und Park (1989, 455) in ihrer umfangreichen Studie über die Überlieferung und vielgestaltige Rezeption der aristotelischen Seelenlehre in der Renaissance gezeigt haben,von den Philosophen und Wissenschaftlern des 16. Jahrhunderts nicht als eigenständige Disziplin betrachtet. Diese folgten der mittelalterlichen Tradition, indem sie die Seelenlehre im weiteren Kontext der Naturphilosophie behandelten und sich auf Aristoteles′ De Anima und Parva naturalia stützten. Aristoteles′ De Anima war im 13. wie im 16. Jahrhundert ein wichtiger Bestandteil des Universitätscurriculums der Artes-Fakultäten, dessen Lektüre allein die Aufarbeitung der aristotelischen Physik vorausging (Keßler und Park 1989, 456). Hierbei wurde die Seelenlehre meist als Verbindungsglied zwischen Physik und Metaphysik betrachtet (Stiening 1999, 314). Begriffsgeschichtlich wurden die Termini „Anthropologie“ und „Psychologie“ auf verschiedene Werke vom Anfang beziehungsweise Ende des 16. Jahrhunderts zurückgeführt (Schüling 1967, 7; Gerl 1989, 151). Über die bloß terminologische Differenz hinaus entstanden die De-Anima-Kommentare der Renaissance im Vergleich zum Mittelalter in einem geschichtlich, philosophisch, theologisch und wissenschaftstheoretisch modifizierten Kontext. Diese Epoche wird durch die zunehmende Verfügbarkeit der griechischen Werke des Stagiriten und seiner griechischen Kommentatoren, wie auch anderer antiker und vor-mittelalterlichen Denker, vor dem Hintergrund eines temporären Austauschs des Westens mit der byzantinischen Kultur charakterisiert (Grafton 1989, 767– 791). Verschiedene philosophische Lehren wurden in den philosophischen Schriften verflochten. Die Traktate und Lehrbücher über die Psychologie waren in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Auch wenn die Werke des 16. Jahrhunderts zum Teil eklektizistische Zusammenfügungen waren (Schmitt 1983, 102), so geschah die Einbeziehung neuer philosophischer Lehrmeinungen in eigene Traktate und Schriften der Renaissancephilosophen unter veränderten Vorzeichen. So DOI 10.1515/9783110335804-036
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unterschiedlich die Darstellungen der menschlichen Natur bei den verschiedenen Denkern, die sich auf antik-philosophische oder biblische Quellen zu stützen schienen, auch waren, sie alle wurden durch eine neue philosophische Begründungssituation geprägt: eine Subjektphilosophie (Cassirer 2013, 1– 220; Frank 1996, 313 – 317; Harrison 2007, 52– 138). Die Renaissancephilosophen versuchten vorwiegend, die Frage nach Gott, den Ursachen der Welt und der Natur des Menschen rein immanent aus ihrer unmittelbaren Erfahrung heraus zu beantworten, ohne auf metaphysischkosmologische Erklärungen zurückzugreifen (Frank 1996, 314). Der Mensch wurde zum Sinngeber der ihm gegenüber stehenden Welt, zum Erfinder einer eigenen Wissenschaft der Dinge. Die Reformation trug darüber hinaus zu der Auffassung einer einzig wahren unmittelbaren Beziehung zwischen Menschlichem und Göttlichem im Glauben bei. Zugleich betonte sie die unüberbrückbare Kluft zwischen den zwei Bereichen bezüglich des göttliches Wesens und einer eingeschränkten menschlichen Erkenntnis. Diese Position wurde von den Nachfolgern Luthers auf verschiedene Weise übernommen und interpretiert (Frank 2017a; Stiening 1999, 757– 787).
2 Entstehungsgeschichte In diesem Kontext entstanden Melanchthons Lehrbücher über die Seele, welche, wie Günter Frank betont, unter dem Einfluss reformatorischer Theologie konzipiert wurden und eine originelle Verflechtung von aristotelischer und platonischer Philosophie darboten (Frank 1996, 325). Gleichzeitig bezogen diese auch die neusten medizinischanatomischen Lehren mit ein. Diese synkretistische Einbeziehung verschiedener Autoren wurde in der Forschung als Hauptmerkmal der philosophischen Lehrbücher des 16. Jahrhunderts beschrieben (Schmitt 1989; Kusukawa 1999a). Dies ist jedoch kein Grund dafür, den in dieser Zeit entstandenen philosophischen Theorien von vornherein ihre Originalität abzusprechen. Melanchthons psychologisches Lehrbuch Commentarius de Anima entstand infolge seiner Beschäftigung mit der Physik, im Rahmen seiner Vorlesungen in der Leucorea in den 1530er und 1540er Jahren. Das Fach wollte er mithilfe seiner Kollegen im Rahmen seines geplanten humanistischen Studienprogramms anhand neuer Textquellen auch inhaltlich und strukturell neu gestalten (Kusukawa 1995, 83 – 85; De Angelis 2010, 31– 32; CR 2, 718 – 719). Die Naturphilosophie des Aristoteles sollte durch wichtige Lehren Galens ergänzt werden. Infolge der von seinen Freunden und Kollegen vorgeschlagenen Korrekturen beabsichtigte Melanchthon, seinen Commentarius schon kurze Zeit danach abzuändern (Kusukawa 1995, 115).
3 Editionsgeschichte Erst zwölf Jahre nach der ersten Edition des Commentarius erschien der Liber de anima, welcher besonders in den anatomisch-galenischen Teilen überarbeitet wurde. Es er-
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schienen zehn eigenständige Druckausgaben des Liber noch zu Melanchthons Lebzeiten, zusätzlich auch Ausgaben, in denen der Liber de Anima zusammen mit Juan Luis Vives De Anima et Vita libri tres herausgegeben wurde. Im Corpus Reformatorum erschien nur der Liber de Anima, der Commentarius wurde noch nicht in einer modernen Fassung ediert. Der philosophisch-theologische Teil des Liber de Anima wird in Stupperichs Studienausgabe der Werke Melanchthons ungekürzt wiedergegeben (MSA 3, 303 – 372). Eine englische Übersetzung des zweiten Teils bietet Ralph Keen in seinem Melanchthon Reader (Keen 1988, 239 – 289). Rüdiger Schwab übersetzte in seinem biographischen Handbuch Auszüge aus dem Liber ins Deutsche (Schwab 1997, 249 – 259). Dino Bellucci übersetzte den Liber de Anima ins Italienische. Belluccis Ausgabe ist nicht kritisch, sie ist allerdings mit wichtigen Anmerkungen versehen (Melanchthon 2009, 1264).
4 Zusammenfassung der Schrift Wie in der jüngsten Literatur betont wurde, unterscheidet sich Philipp Melanchthons Liber de anima durch eine – unter theologischen Vorzeichen – vollzogene Synthese von Anatomie und Philosophie sowohl von den mittelalterlichen De-Anima-Kommentaren als auch von den Schriften zur Seelenlehre italienischer Philosophen und Medizinprofessoren des 16. Jahrhunderts (Nutton 1993, 24; de Angelis 2010, 52– 54). Die Schrift kann weitgehend in zwei Teile aufgegliedert werden: in einen medizinischanatomischen und einen philosophisch-theologischen Teil. Melanchthon beginnt sein Lehrbuch zunächst mit der Frage nach der Definition der Seele, mit der terminologischen Bestimmung als „endelechia prima corporis“ (verstanden als erste und wesentliche aber auch kontinuierliche Bewegung), und setzt sich dabei mit der Seelenlehre von Platon und Aristoteles, Cicero und Boethius auseinander. Der philosophischen Bestimmung fügt er eine theologische Definition der Seele als „spiritus intelligens“ hinzu, die als „andere Substanz des Menschen nicht mit dem Körper untergeht, sondern unsterblich ist“ (CR 13, 18). Daran anschließend folgen eine kurze Diskussion über die Seelenvermögen und ein ausführlich medizinischanatomischer Teil über Organstrukturen und Körperteile. Seiner Auffassung nach kann man eine Erkenntnis über die Seele und ihre Tätigkeiten nur über die Kenntnis der ihr zugeordneten Organe und Organsysteme erlangen (CR 13, 20). Dieser Teil des Commentarius de anima erfährt nach der ersten Fassung die meisten Veränderungen. Der Liber de anima greift, anders als der Commentarius, der sich ausschließlich und explizit auf Galens Schriften beruft, in vielen Textstellen auf Andreas Vesalius′ 1543 erschienenes Hauptwerk De humani corporis fabrica zurück (Helm 1996, 183 – 187). Im Anschluss an seine Ausführungen über Körperteile und Organe thematisiert Melanchthon in Anlehnung an Galen die „Vier-Säfte-“ und die „Spiritus-Lehre“ und geht somit zum zweiten Teil über. In dem kurzen Kapitel über den spiritus verbindet er die galenische medizinische Theorie mit der theologischen Lehre über die Wirkung des Heiligen Geistes im menschlichen Körper.
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In der Beschreibung der Seelenvermögen der vegetativen und sensitiven Seele folgt er Aristoteles, mit der Ausnahme, dass er die aristotelische Auffassung der rationalen Seele mittels platonischer und ciceronischer Theoreme umdeutet. Zum rationalen Vermögen der Seele gehören für Melanchthon der Intellekt und der Wille. Aristoteles versteht zwar in De Anima das rationale Vermögen als einen eventuell unabhängigen Seelenteil, knüpft dessen Erkenntnis-Funktionen aber an die psychophysische Struktur des Körpers. Im Gegensatz dazu entwickelt Melanchthon an dieser Stelle seine Lehre der notitiae naturales. Die notitiae werden mit einem Licht gleichgesetzt, welches die Strahlen der göttlichen Weisheit im menschlichen Geist (mens) sind (CR 13, 138). Im nächsten Schritt koppeln diese notitiae teilweise die aristotelischen erfahrungsabhängigen Erkenntnisbedingungen des menschlichen Geistes ab und werden selbst zu den Ursprüngen der menschlichen Erkenntnis. Sie ermöglichen eine Wahrheits- und Gotteserkenntnis und sind Inhalte, die dem menschlichen Geist eingestiftet sind. Solche Inhalte sind zum Beispiel die Kenntnis der Zahlen, der Ordnungen und Verhältnisse, die Einsicht in die logische Schlussfolgerung des Syllogismus oder die Kenntnis der geometrischen, physischen und ethischen Prinzipien (CR 13, 144). Im selben Kapitel übernimmt Melanchthon die aristotelische Einteilung der rationalen Vermögen in intellectus agens und patiens, teilt den zwei Vermögen der Geist-Seele allerdings verschiedene Funktionen zu: die Funktion der Aufnahme von Kenntnissen und die der schöpferischen Erfindung (inventio) von Erkenntnis. Im Anschluss der Erörterung über den menschlichen Geist fügt er ein Kapitel über die Gewissheitskriterien in den Wissenschaften hinzu, zu denen die notitiae naturales als erste Prinzipien in den Wissenschaften gehören. Melanchthon beendet sein Lehrbuch, das er als Darstellung der ganzen Natur des Menschen versteht, mit einer Argumentation zugunsten der Willensfreiheit, der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und der Unsterblichkeit der Seele.
5 Forschungsüberblick Melanchthons Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie seines Jahrhunderts und mit der Seelenlehre als Teil seines naturphilosophisch-medizinischen Programms brachte ihm in der jüngsten Forschung, die sich mit der Geschichte der Wissenschaften, besonders der Medizin in der Renaissance und in der Frühen Neuzeit beschäftigt hatte, zunächst große Anerkennung – vor allem dank seiner originellen Synthese von medizinischen und philosophischen Erörterungen zur Psychologie. Die meisten Studien heben die enge Beziehung zwischen den medizinisch-anatomischen und philosophischen Elementen und den begründenden theologischen Voraussetzungen hervor, gewichten sie aber unterschiedlich. Dieses Verhältnis wird in den ideengeschichtlichen Untersuchungen oft als eine Instanz der fruchtbaren Begründungszusammenhänge für die darauf folgende Entwicklung der modernen Wissenschaftsauffassung und Philosophie interpretiert.
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5.1 Medizin und Physiologie im theologischen Zusammenhang Melanchthon wird zunächst in einem der richtungsweisenden Werke im angelsächsischen Raum Ende des 20. Jahrhunderts, der Cambridge History of Renaissance Philosophy, ausgiebig gewürdigt. Katherine Park stellt ihn hier als einen Repräsentanten für die allgemeine Tendenz der Vereinfachung von psychologischen Theorien im 16. Jahrhundert vor (Park 1989, 480). Sein humanistisches Bildungsprogramm verfolgte unter anderem eine sprachliche Reform, welche unklare Begriffe aus den philosophischen Erklärungsversuchen verabschieden sollte (Schwab 1997, 21– 43). In seiner Psychologie habe Melanchthon die philosophisch-spekulative Argumentation durch spezifisch physiologische Erklärungen der organischen Funktionen des Körpers ersetzt (Park 1989, 483). Dafür bediente er sich der galenischen Lehre über das pneuma und seine Erscheinungsformen (Galen 1980, 445 – 449). Diese erklärt die wesentlichen Körperfunktionen im Menschen wie die der Lebenserhaltung, Ortsbewegung und Wahrnehmung. Das pneuma spielt gelegentlich die Rolle der materiellen Seele in tierischen Organismen (Park 1989, 481; CR 13, 18). Zugleich stellt diese Lehre den Drehund Angelpunkt der Synthese zwischen physiologisch-medizinischen Erklärungen und den philosophisch-theologischen Erörterungen über die Natur des Menschen (Helm 1998, 219) dar. Pneuma oder spiritus sind kein Instrument einer ontologisch anders zu bestimmenden Seele, sondern werden mit der anima gleichgesetzt (Salatowsky 2006a, 114). Durch diese Gleichsetzung entwickelt Melanchthon nach Jürgen Helm eine „Physiologie der Geistwirkung“, die zugleich eine medizinische Bestätigung seiner theologischen Konzeption sei (1998, 237). Schon Daniel Walker hatte darauf hingewiesen, dass Melanchthon die körperlichen spiritus und den göttlichen spiritus in ihrer Substanz fast gleichsetzen musste, um die Vermittlung zwischen Mensch und Gott physikalisch erklären zu können (1985, 289 – 291). Melanchthon habe, so Helm, durch die originelle Auslegung der Lehre Galens eine Möglichkeit gefunden, seine theologische Konzeption der menschlichen Erlösung durch den Heiligen Geist mit medizinischem Wissen zu verflechten und zu erklären. Tatsächlich begründet Melanchthon auf physiologische Weise die Vermischung der menschlichen spiritus mit dem Heiligen Geist, um den Zustand der Seele im frommen Menschen darzustellen. Infolge dieser Vermischung soll die Gotteserkenntnis im Menschen klarer, die Zustimmung fester und die Bewegungen zu Gott hin glühender werden (CR 13, 89 – 89). Damit deutet Helm auf die theologische Problematik hin, die er als grundlegend für Melanchthons Psychologie und für seine Philosophie im Allgemeinen ansieht: die systematische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium (Helm 1999, 29). Aus dieser Perspektive bestimmt auch Simone de Angelis Melanchthons Liber de Anima als ein Lehrbuch über die Natur des Menschen nach dem Sündenfall, welches auf Melanchthons theologischem Gesetzverständnis gründe. Die Übereinstimmung mit der lex Dei habe der Mensch durch die Ursünde verloren, er habe aber noch unter dem natürlichen Gesetz die Kenntnis der göttlichen Gesetze beibehalten, könne sie jedoch wegen der Unordnung der Affekte nicht befolgen. Die Erlösung durch den
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Heiligen Geist, der sich physikalisch mit den körperlichen spiritus mische, führe zu einer Übereinstimmung zwischen den Affekten des Herzens und dem erkennenden Geist und somit zur Befolgung der lex Dei – daher die interdisziplinäre Verknüpfung der beiden Wissenssphären der Theologie und Medizin (De Angelis 2010, 34). Andersherum betrachtet habe Melanchthon durch seine spiritus-Lehre die Wirkung der göttlichen Gnade naturphilosophisch erklären können (Wels 2010, 51– 85). Seine Betonung der „natürlichen Ursachen“ aller in der Natur zu erklärenden Phänomene künde die im folgenden Jahrhundert erzielte Emanzipierung der Naturphilosophie an, die sich von aristotelisch-metaphysischen Formprinzipien, „okkulten“ Ursachen und auch von der Notwendigkeit des konstanten göttlichen Eingreifens befreit habe. Die Synthese zwischen theologischen, naturphilosophischen und den neuesten medizinisch-anatomischen Kenntnissen der Zeit sei, so Vivian Nutton, durch das Projekt Melanchthons zustande gekommen, die Verfolgung medizinisch-therapeutischer Ziele mit der Beantwortung von theologisch-moralischen Fragestellungen zu verbinden. Dieses Grundanliegen wäre in den Werken der Nachfolger Melanchthons sogar noch deutlicher zu erkennen; seine Denkanstöße hätten im Wittenberg des 16. Jahrhunderts zu einer engen und geschichtlich einzigartigen Zusammenarbeit von Philosophen und Medizinern geführt (Nutton 1993, 24– 25).
5.2 Reformatorisch-theologische Aspekte der melanchthonschen Seelenlehre Sachiko Kusukawa sieht in den reformtheologischen Prinzipien Luthers, die zweifellos eine wichtige Rolle für die Entstehung der zwei Lehrbücher über die Seele spielten, die einzigen systematisch erkennbaren und richtungsbestimmenden Grundlagen der Psychologie Melanchthons. Deshalb bestimmt sie Melanchthons Commentarius de Anima als eine „lutherische Lektüre von Aristoteles De Anima“ (Kusukawa 1995, 99). So wie Melanchthon seine Moralphilosophie auf dem lutherischen Konzept des Gesetzes aufbaue, um der Heterogenität der religiösen Auffassungen und dem bürgerlichen Ungehorsam entgegenzutreten, so brauche er laut Kusukawa für seinen moralpolitischen Gesetzbegriff eine ebenso homogene Begründung. Diese habe er der Naturphilosophie und Seelenlehre entnommen. Die mit aristotelischen, galenischen und später vesalischen teleologischen Argumenten gestützte Beschreibung des menschlichen Körpers und seiner Seele sollte demzufolge ein Beweis für die Vorsehung Gottes sein und zugleich für die menschliche Gesetzeserkenntnis im lutherischen Sinn (Kusukawa 1995, 100). Kusukawa stellt geschichtlich-kontextuelle Ereignisse als Beweggründe für Melanchthons Konzipierung seiner Lehrbücher der Psychologie heraus und betont die theologisch-begründenden und teleologischen Motive in Melanchthons Lehrbüchern. Eine genauere Untersuchung des inneren systematischen Zusammenhangs von Melanchthons philosophischer Argumentation hält sie für weniger
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aufschlussreich, einen Anspruch auf Systematik in Melanchthons Werk würde die eigentliche Bedeutung und die Absicht des Werkes verkennen (Kusukawa 1995, 99). In seinem Versuch, Vesalius als Lutheraner zu entlarven, knüpft Cunningham an Kusukawas These an und versteht die Einführung der Anatomie in der Wittenberger Studienordnung der 1530er Jahre als unmittelbare Folge von politischen Angelegenheiten des lutherischen Protestantismus (Cunningham 1997, 231). Cunningham stellt Melanchthon als einen überzeugten Vertreter der lutherischen Reformbewegung dar. Diese Reformbewegung wird von ihm allein als Folge der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umstände der Zeit interpretiert und habe die neue „Radikalität in der Medizin und Anatomie“ hervorgerufen (Cunningham 1997, 236). In diesem Kontext ließen sich auch Melanchthons Psychologielehrbücher erklären. Eine eigenständige Interpretation der historischen Quellen liefert Cunningham in seiner Studie nicht.
5.3 Geistphilosophische Aspekte der Seelenlehre Hildebrand vergleicht die systematische Bedeutung des theologischen Motivs der Vorsehung Gottes in Melanchthons Verständnis der menschlichen Natur mit dem Menschenbild, das Vesalius in seiner De humani corporis fabrica (1543) entfaltet habe. Melanchthon habe sich die vesalschen Prinzipien der morphologischen und funktionalen Rekonstruktion des Lebendigen angeeignet und somit einen neuen erkenntnistheoretischen Ansatz übernommen. Es liege danach nun in der Pflicht des Menschen, die Zusammenhänge in der körperlichen Beschaffenheit des Menschen zu erkennen (das „Wie“ und nicht das ontologisch sich offenbarende „Was“), um daraus auf eine komplexe Ordnung sowie auf einen Schöpfer schließen zu können. Diese Untersuchung gründe nicht auf einer Deduktion aus der Wesenserkenntnis, sondern auf der Induktion anhand der vorliegenden Phänomene (1996, 377). Damit weist Hildebrand auf die erkenntnistheoretischen Implikationen hin, welche Melanchthon in seinem Kapitel über die rationale Seele behandelt. Die Theorie der Geist-Seele zeichnet Melanchthons Psychologie nicht weniger als die darin enthaltene Synthese zwischen Medizin, Philosophie und Theologie aus. Seine Lehre über die rationale Seele wurde in der jüngsten Forschung auf vielgestaltige Weise als eine originelle Verflechtung von aristotelischen, platonischen und ciceronischen Elementen interpretiert. Dadurch wird Melanchthon eine eigene philosophische Leistung zuerkannt, was lange Zeit in den geschichtsphilosophischen Studien über die Renaissance und die frühe Neuzeit umstritten war (Frank 1995, 9 – 49). Die theologische Grundlegung seiner Psychologie wurde in diesen Studien mehrfach betont und stellt inzwischen ein unbestrittenes Argument für die intrinsische Verbindung zwischen Philosophie und Theologie in der Frühen Neuzeit dar. Die paradoxen Folgen einer solchen Verbindung hat Günter Frank detailliert in Bezug auf Melanchthons theorationalistische Philosophie aufgezeigt (1995, 1– 181). Franks Auffassung von Melanchthons Philosophie als Philosophie der Vormoderne, welche auf die Entwicklungen
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des 17. Jahrhunderts in der Subjektphilosophie deute, wurde von Salatowsky (2006a) und Stiening (1999) in ihren Untersuchungen in Frage gestellt. In dem Kapitel über das rationale Vermögen der Seele betont der Wittenberger Reformator und Humanist, dass die mens ein nicht-organisches Vermögen sei, trotz ihrer Anregung durch die inneren Sinne, „welche ihr dienen und Objekte anbieten“(CR 13, 139). Melanchthons Differenzierung der organischen von der Geist-Seele ist an seine theologischen Grundvoraussetzungen gekoppelt. Das Kapitel über die rationale Seele beginnt mit einer ausführlichen Bemerkung über die dem Menschen eigentümlichen, auf die Gotteserkenntnis gerichteten Erkenntnisfähigkeiten. Frank sieht darin zunächst die angedeuteten theologischen Begründungselemente in Melanchthons Psychologie: Melanchthons schöpfungstheologische Auffassung, seine Gottesebenbildlichkeitslehre und seine Theorie von der Unsterblichkeit der individuelle Seele (Frank 1996, 317– 321). Diese würden auf philosophischer Seite von der platonischen Theorie des Exemplarismus, der philosophischen Überlagerung der aristotelischen Seelenlehre durch platonische Elemente und der originellen Verbindung des traditionellen Seelenbegriffs mit Melanchthons Theorie der Kenntnisse (notitiae) und des Lichtes (lux) komplementiert (1996, 321– 324). Die geistphilosophischen, erkenntnispsychologischen und erkenntnistheoretischen Aspekte der notitiae-Theorie Melanchthons haben Günter Frank und Felix Mundt im Hinblick auf die stoisch-ciceronische Rezeption in Melanchthons Oeuvre hervorgehoben (Frank 2008, 549 – 574; Mundt 2012, 155 – 163). Frank sieht in Melanchthons Umdeutung des ciceronischen Theorems der notiones communes eine Verschiebung des Ideenbegriffs, welche auf die Lehre der angeborenen Ideen von René Descartes deutet und den Ausgangspunkt neuzeitlicher Philosophie und Wissenschaft ankündigt. Stiening versteht die Theorie der eingeborenen Kenntnisse und des Lichtes als Präzisierung der augustinischen Illuminationstheorie (Stiening 1999, 318), die auf die spätere, in der modernen erkenntnistheoretischen Debatte geprägte „Theorie der eingeborenen Ideen“ deute (Leibniz 1996, XI – XXXII; Frank 1995,170 – 171). Er sieht jedoch keine Andeutung in Melanchthons eigener Auffassung der notitiae auf die subjekt-theoretische intellectus-ipse-Lehre von Descartes oder Leibniz. Vielmehr sei Melanchthons Philosophie eine die Theologie stützende Philosophie, die gegen die Autonomie- und Subjektivitätstradition der Neuzeit stehe (Stiening 1999, 777; SchmidtBiggemann 1998a, 49 – 50). Sascha Salatowskys Argumentation unterstützt Stienings These der Spiritualisierung des anima-Begriffs in Melanchthons Liber de Anima. Eine Theologisierung der Psychologie könne man in Melanchthons Psychologie-Lehrbüchern erkennen an der theologischen Definition der Seele, der Verbindung der galenischen spiritus-Lehre mit der Lehre vom Heiligen Geist, der Aneignung der ursprünglich stoischen Lehre von den eingeborenen Ideen und der These der Unsterblichkeit der Seele. Melanchthon habe im Liber de Anima im Vergleich zum Commentarius durch seine Radikalisierung des theologischen Anspruchs sogar eine eigenständige philosophische Position vollständig aufgegeben (2006, 73). Besonders an der Umdeutung des entelechia-Begriffs und der Re-Ontologisierung des intellectus agens in Melanchthons Liber de Anima
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ließe sich das „Zuviel an Theologie in der Philosophie“ festmachen (2006, 101– 103; 124– 125). Es bedarf der Aufarbeitung durch die Forschung, ob diese „Theologisierung der Psychologie“ wirkungsgeschichtlich betrachtet eine fruchtbare Rezeption der philosophischen Aspekte der melanchthonschen Psychologie für die Ausbildung einer Philosophie der Subjektivität eher behindert habe. Zumindest Eckhard Keßler und Günter Frank haben dies bestritten (Keßler 1989, 516 – 518; Frank 1996, 313 – 326).
5.4 Mögliche Zusammenhänge zwischen Melanchthons Seelenlehre und seiner Methode Keßler sieht in der präzedenzlosen Auffassung Melanchthons über die Tätigkeiten des menschlichen Geistes zudem einen möglichen Versuch Melanchthons, die Lücke zwischen der psychologischen Epistemologie und Methodologie zu überbrücken (Keßler 1989, 518). Keßlers Auffassung über die Verlagerung der logischen Methode ins denkende Subjekt wird von Wilhelm Risse bekräftigt. Melanchthon habe die Methode als pragmatische Maxime entfaltet, „überhaupt erst Ordnung in die zu bedenkenden Sachverhalte hineinzubringen“ (Risse 1964, 283). Kusukawa weist darauf hin, dass Melanchthons Auseinandersetzung mit der humanistischen Dialektik und seine Seelenlehre die Aufnahme der ramistischen Philosophie in die protestantischen Schulen und die Annäherung zwischen der Methodenproblematik und der Seelenlehre gefördert habe. Ihre Untersuchung bezieht sich auf die historische Aufzeichnung der Werke einer Generation von lutherischen Gelehrten, welche in Folge ihrer Beschäftigung mit Melanchthons Werk die philippo-ramistische Synthese eingeführt hätten (Kusukawa 1999a, 128 – 139).
6 Forschungsperspektiven Im Licht der oben skizzierten Themengebiete lassen sich weitere Forschungsperspektiven aufzeigen. Wirkungsgeschichtlich wurde der Einfluss der melanchthonschen Psychologie schon in den Schriften der Marburger Professoren an der Schwelle zum 17. Jahrhundert historisch und philosophisch-systematisch nachgewiesen und ausführlich untersucht (Stiening 1999, 315 – 344). Darüber hinaus wurde die Rezeption einzelner Theorien der melanchthonschen Psychologie bis ins 17. Jahrhundert verfolgt (Roling 2012, 173 – 200). Der Einfluss der melanchthonschen Psychologie auf medizinisch-anatomische Traktate blieb laut Nutton bis zu den von Harvey eingeführten anatomisch-medizinischen Neuerungen im 17. Jahrhundert erhalten (1990, 136 – 15; 1993, 11– 32). Systematisch hat sowohl die deutsche als auch die angelsächsische Literatur Melanchthons medizinisch-anatomische Quellen ausführlich untersucht. Die Forschung über die systematische Bedeutung der Medizin im Werk Melanchthons und der ihr eigentümlichen Methode befindet sich allerdings noch in ihren Ansätzen (Hofheinz 2001, 43 – 50).
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Bezüglich seiner Geistphilosophie wird Melanchthon in der jüngsten Forschung zum einen als ein Repräsentant einer Philosophie und Psychologie der Prämoderne dargestellt, dessen Werk auf die kommenden Entwicklungen in der Subjektphilosophie der Neuzeit deutet. Auf der anderen Seite gilt er als Angehöriger einer philosophischen Tradition, welche den Ansätzen der epistemologischen Debatten des 17. Jahrhunderts entgegensteht. Es bleibt eine Aufgabe der Forschung, in Abwägung dieser beiden Positionen eine neue systematische Darstellung und Interpretation von Melanchthons Psychologie zu versuchen. Diese Neuinterpretation sollte weder die Verankerung Melanchthons in einer von der Reformation und dem Renaissance-Humanismus geprägten Zeit verkennen noch ihm seine eigene philosophische Leistung absprechen. Interessant wäre in diesem Zusammenhang zudem ein ausführlicher systematischer Vergleich mit den geistphilosophischen Lehren des 17. Jahrhunderts sowie mit den Psychologie-Traktaten der Renaissance. Durch die Verschmelzung der Methodendiskussionen mit psychologischen Debatten entstehen im 17. Jahrhundert infolge einer signifikanten Verlagerung von der Methodendiskussion zur Epistemologie neue geistphilosophische Lehren. Melanchthons Rolle in diesem Prozess wurde nur flüchtig von Keßler (1989) und Risse (1963) behandelt. Die Erforschung der innersystematischen Beziehung zwischen Dialektik und Psychologie in Melanchthons philosophischem Werk steht noch aus. Es bleibt zudem eine Aufgabe der Renaissance-, Humanismus- und Refomationsforschung, die Verankerung von Melanchthons Psychologie in dem ideengeschichtlichen Kontext seiner Zeit weiter zu untersuchen.
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Christoph Strohm
Jurisprudenz Im Unterschied zu Martin Luther hat sich Melanchthon vielfach Fragen der Jurisprudenz gewidmet. Seine Arbeiten zur Ethik nehmen die Überlegungen des fünften Buches der Nikomachischen Ethik zum Begriff der Gerechtigkeit auf und verbinden diese mit Erörterungen einzelner Rechtsprobleme aus dem Corpus iuris civilis (vgl. bes. MSA 3, 200 – 289; vgl. auch Philosophiae moralis epitomes libri duo, MSA 3, 152– 301; Ethicae doctrinae elementorum libri duo, CR 16, 165 – 276; Überblick über die für die Rechtslehre relevanten Schriften Melanchthons bei: Kisch 1967, 30 – 36; vgl. auch Deflers 2005a). Über die ausdrücklichen Bezüge auf das Corpus iuris civilis hinaus haben die meisten der von Melanchthon angesprochenen Themen und viele der dort gebotenen Beispiele Parallelen beziehungsweise Vorbilder im römischen Recht (explizite Zitate von Gesetzestexten aus dem Corpus iuris civilis: Philosophia moralis, 1546, MSA 3, 217,18 – 20, mit Zitat von Cod. 3, 1,8; MSA 3, 222,15 – 20, mit Zitat von Dig. 16, 3,32; MSA 3, 264,22– 27, mit Zitat von Cod. 1, 14,4; Inst. 2, 17,8; MSA 3, 270,38 – 271,6, mit Zitat von Cod. 4, 54,2; MSA 3, 273,31– 33, mit Zitat von Cod. 4, 22,3). In akademischen Reden hat er sich häufig zum Wert des römischen Rechts für die gegenwärtige Rechtsordnung geäußert und dabei auch sein Verhältnis zur mosaischen Gesetzgebung thematisiert (Abdruck der vierzehn wichtigsten diesbezüglichen Reden bei Kisch 1967, 185 – 298; zur Frage der Autorschaft und Überlieferungsgeschichte der Reden vgl. ebd. 33 – 43; Deflers 2005b). Melanchthons lebenslanges Interesse an der Jurisprudenz dürfte nicht allein in seinen juristischen Studien (vgl. Oratio de discrimine legum politicarum et traditionum humanarum in Ecclesia, 1556, CR 12, 147; Oratio de vita Hieronymi Schurffii, 1554, CR 12, 89 = Kisch 1967, 291) begründet liegen, sondern bereits durch seinen Verwandten und Förderer, den Juristen Johannes Reuchlin, geweckt worden sein (zum Einfluss Reuchlins auf Melanchthon vgl. Maurer 1964, 20 – 25). Guido Kisch und zuletzt Isabelle Deflers haben zudem auf den wichtigen Einfluss des befreundeten Wittenberger Rechtslehrers Hieronymus Schürpf aufmerksam gemacht (vgl. Muther 1966, 203.216; Kisch 1967, 62– 67; Deflers 2005a, 16.43.133 – 139; Deflers 2009). Melanchthon pflegte den Austausch mit führenden Juristen seiner Zeit und hat auch selbst wichtige Einflüsse auf Juristen ausgeübt (vgl. Lück 2006; Lieberwirth 2006; Tamm 2006; zum Einfluss auf Johann Apel vgl. Muther 1966, 243.255.264– 271; Stintzing 1957, 287– 296; Wieacker 1959, 47– 49; Kisch 1967, 70 – 73; Berman 2003, 83 – 87.111– 113.150 – 151). Selbst unter französischen Juristen genoss er wegen seiner Arbeiten zur Ethik, die juristische Gesichtspunkte miteinbezogen, hohes Ansehen (vgl. Kisch 1967, 72). Melanchthons Erörterungen zu Recht und Jurisprudenz offenbaren vor allem drei Grundentscheidungen. Erstens präferierte er das römische Recht als Grundlage weltlichen Rechtslebens gegenüber dem mosaischen Recht. Zweitens entwickelte er im Blick auf die Gesetzes- beziehungsweise Gebotsauslegung eine Aequitaslehre, die mit einem ausdrücklichen Interesse am geschriebenen Gesetz verbunden wird. Und dritDOI 10.1515/9783110335804-037
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tens beginnt er bereits Anfang der 1520er Jahre, eine wirkungsreich gewordene Naturrechtslehre zu entfalten.
1 Hochschätzung des römischen Rechts als Quelle weltlichen Rechtslebens Luthers scharfe Kritik am kanonischen Recht, die in der Verbrennung mehrerer Ausgaben am 10. Dezember 1520 einen öffentlichkeitswirksamen Ausdruck fand (vgl. Brecht 31990, 403 – 406), machte die Suche nach Alternativen drängend. Denn das kanonische Recht war nicht nur Grundlage des kirchlichen Rechts im engeren Sinn, sondern auch des Eherechts, des Prozessrechts und vieler anderer Rechtsmaterien. Anfangs hatte Melanchthon im Zuge eines gewissen Biblizismus noch die mosaische Gesetzgebung den heidnischen Gesetzen und der heidnischen Sittenlehre vorgezogen (vgl. MSA 2/1, 152,28 – 33; vgl. auch Wolf 1960, 14; Sperl 1959, 93 – 99; Kisch 1967, 102– 115). Bald wendet er sich jedoch gegen die mosaischen zugunsten der römischen Gesetze (vgl. bes. die Rede De dignitate legum oratio von 1538, CR 11, 357– 364; wiederabgedr. in: Kisch 1967, 221– 227; weitere Belege ebd., 108 – 115). Katalysator dieser Entwicklung waren die Anfang der 1520er Jahre vehement vorgetragenen Bemühungen Andreas Bodenstein von Karlstadts und anderer, das mosaische Recht an die Stelle des römischen zu setzen (vgl. Bubenheimer 1977). Mit Luther betonte er dagegen, dass das mosaische Gesetz für Christen keine bindende Kraft habe (vgl. Kisch 1967, 110 – 111; zu Luther vgl. dessen bekannte Rede von der mosaischen Gesetzgebung als der Juden Sachsenspiegel, in: Wider die himmlischen Propheten, 1525, WA 18, 81,4– 17; vgl. auch WA 18, 76,4– 5). Vielmehr sei es ihnen erlaubt, im bürgerlichen Leben die Gesetze anzuwenden, die sich im Einklang mit dem Naturrecht befinden, auch wenn sie von heidnischen Gesetzgebern erlassen sind. Melanchthon spricht sich unmissverständlich für die Überlegenheit des im Corpus iuris civilis gesammelten römischen Rechts aus (vgl. De dignitate legum oratio, 1538, CR 11, 357– 358; wiederabgedr. in: Kisch 1967, 222– 223; zur Förderung der Pandektenausgabe Gregor Haloanders vgl. Kisch 1967, 160 – 167; zum Wandel auch der Bewertung der mittelalterlichen Glossatoren und Kommentatoren des römischen Rechts hin zu einer positiven Würdigung vgl. Kisch 1967, 127– 140). Es kommt, wie humanistische Juristen betont hatten, als eine Art „ratio scripta“ dem Naturrecht am nächsten (vgl. De dignitate legum, 1553, CR 12, 22). Dadurch, dass er dies in seinen akademischen Reden vielfach ausführt, hat er maßgeblich zur Förderung des römischen Rechts im Protestantismus beigetragen (vgl. Kisch 1967, 116 – 167; Deflers 2005b).
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2 Entwicklung einer Aequitaslehre Im Zuge der mehrfachen Kommentierung der aristotelischen Überlegungen zum Gerechtigkeitsbegriff im fünften Buch der Nikomachischen Ethik gelangt er zu einem profilierten Begriff der ἐπιείκεια beziehungsweise aequitas (zur Aequitaslehre in der humanistischen Jurisprudenz vgl. Piano Mortari 1956, 17– 38; Kisch 1960; ders. 1972, 24– 25.50 – 59; Troje 1977; zur Aufnahme dieser Diskussion bei Melanchthon vgl. Strohm 1996, 240 – 252; ders. 2000b). Mit Aristoteles und den späteren Texten des Corpus iuris civilis wird die aequitas im Gegenüber zum ius strictum als notwendiges Korrektiv herausgearbeitet. Anders als Aristoteles, der der aequitas eine das Gesetz korrigierende und verbessernde Funktion zuspricht, charakterisiert Melanchthon sie als mitigatio, Milderung des Gesetzes: „Aristoteles generaliter aequitatem vocat mitigationem legis, sive scriptam, sive non scriptam“ (MSA 3, 217,24– 25). Aristoteles selbst hatte hingegen von ἐπανόρθωμα νόμου, das heißt, Korrektur oder Verbesserung des Gesetzes gesprochen (vgl. Nik. Eth. V,14, 1137b; zu dieser Verschiebung gegenüber Aristoteles’ Aequitaslehre vgl. Kisch 1967, 176). Zwar ist diese Verschiebung bereits durch das kanonische Recht und die Scholastik vorbereitet (vgl. Elsener 1963, 168 – 190; Caron 1967), aber mit dem Verständnis der aequitas als einer Milderung des Gesetzes liefert er der Reformation wesentliche Grundlagen für eine Rechtstheologie, die an der reformatorischen Neuentdeckung der Barmherzigkeit Gottes orientiert ist (zur Schlüsselstellung des Begriffs der aequitas im Sinne einer Milderung der Gesetze bei Melanchthon vgl. MSA 3, 212,1– 2.6 – 7.13 – 14.24.33;213,12;214,18. 22;217,23 – 28.32– 33;218,32; vgl. auch die Reden De aequitate et iure stricto ex l. Placuit, C. de iudiciis [Cod. 3,1,8], 1542, CR 11, 551– 555; wiederabgedr. in: Kisch 1967, 269 – 273; Oratio de stricte iure et aequitate ex l. Placuit Codice de iudiciis [Cod. 3,1,8], recitata a D. Melchiore Kling, 1544, CR 11, 669 – 675; wiederabgedr. in: Kisch 1967, 274– 280; Oratio de lege Placuit, Cod. de iudiciis [Cod. 3,1,8], 1554, CR 12, 95 – 101; wiederabgedr. in: Kisch 1967, 281– 287). Postremo adiiciendum et hoc est, quod ipsum Evangelium tradit mirificam ἐπιείκειαν legis divinae. Docet enim placere Deo inchoatam et imperfectam oboedientiam in his qui credunt Christo. In hac ἐπιείκεια lucet magnitudo misericordiae Dei, et excitantur pii ad diligentiam recte faciendi, cum cogitant tantam esse bonitatem Dei, ut propter mediatorem Christum placeat Deo exigua et infirma oboedientia. (Philosophiae moralis epitome, 1546, MSA 3, 215,18 – 23; zu Luther vgl. nur WA TR 1, 57,19 – 25,134, 14.12.1531; WA TR 1, 131,11– 17,320, 1532)
Recht und aequitas im Sinne von Barmherzigkeit und Liebe sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich gegenseitig. Melanchthons Verständnis der aequitas ist zugleich dadurch gekennzeichnet, dass er einen Gegensatz zum geschriebenen Gesetz zu vermeiden sucht. In der Alternative zum ius scriptum problematisiert Melanchthon den aequitas-Begriff, da er zu einer Schwächung der Autorität der Gesetze führe. Vielmehr ist von einer aequitas scripta ebenso auszugehen wie von einer aequitas non scripta. Die aequitas scripta oder
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scriptae mitigationes sind, wie er hervorhebt, verbindlich zu befolgen. „Quod autem scriptae mitigationes sequendae sint, manifestum est, quia sunt leges, aut habent vim legum“ (MSA 3, 217,33 – 35; zu Melanchthons Hervorhebung der aequitas scripta vgl. auch Troje 1977, 701). Hinter diesem Interesse an einer Stärkung der Autorität der geschriebenen Gesetze steht, wie Guido Kisch treffend herausgearbeitet hat, die Erfahrung der Bedrohung der bürgerlichen Gesetze durch Täufer, „Schwärmer“ und aufständische Bauern (vgl. Kisch 1967, 82– 100; zu dem durch diese Bedrohung verstärkten Ordnungsdenken bei Melanchthon vgl. z. B. De dignitate legum oratio, 1538, CR 11, 358 = Kisch 1967, 222; Oratio de legibus, 1550, CR 11, 911 = Kisch 1967, 244). Allen Gruppen gemein ist nach Melanchthons Auffassung die Infragestellung der Autorität des weltlichen Regiments und der zivilen Gesetze.
3 Verbindung reformatorischer Theologie und humanistischer Anliegen mit Hilfe des Naturrechtsgedankens Der wirkungsgeschichtlich bedeutsamste, zum Teil auch kritisch beurteilte Beitrag Melanchthons auf dem Gebiet der Rechtswissenschaften (so insbesondere von Karl Barth, der darin den Beginn des Niedergangs der evangelischen Theologie in der Moderne sah, da hier neben das Wort Gottes eine andere Offenbarungsquelle trete,vgl. Barth 41981, 56; Barth 1953, 154) ist die Entfaltung einer Naturrechtslehre (vgl. zum Folgenden bes. Strohm 2000b, mit weiteren Zitaten und Nachweisen; vgl. ferner Liermann 1950, 299 – 303; Fild 1953; Bauer 1965; Stintzing 1957, 283 – 287). Angesichts der durch die Einführung der Reformation im Winter 1521/22 in Wittenberg ausgelösten Unruhen (vgl. Scheible 2016, 73 – 89) sieht Melanchthon die Notwendigkeit, sich verstärkt Fragen der Weltgestaltung zuzuwenden (vgl. Schwarzenau 1956, 9 – 21; Pfister 1968, 60 – 89; vgl. auch die einer der Loci-Ausgaben von 1523 angefügten Themata de duplici iustitia, CR 21, 227– 230). Dem Naturrechtsgedanken kommt dabei in dreifacher Hinsicht eine Schlüsselrolle zu. Zum einen kann mit seiner Hilfe das humanistische Anliegen sittlicher Bildung in den Entwurf einer reformatorischen Theologie integriert werden. Zum anderen ermöglicht er eine ethische Begründung weltlicher Rechtsbildung angesichts einer „schwärmerischen“ Infragestellung. Und schließlich leistet der Naturrechtsgedanke eine systematische Zusammenschau der verschiedenen Wissenschaften in ihrem Zusammenspiel gerade auch mit der Theologie.
3.1 Profilierung des Naturrechtsgedankens auf dem Hintergrund biblischer und antik-philosophischer Tradition Melanchthon hat den Naturrechtsgedanken in zahlreichen, dem Genus nach sehr unterschiedlichen Schriften entfaltet (vgl. die Auflistung der relevanten Stellen bei
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Strohm 2000b, 339 – 340; vgl. ferner Frank 1995, 143 Anm. 385 u. 146 Anm. 396). Schon dieser Sachverhalt weist auf die Bedeutung, die ihm in Melanchthons Werk zukommt. Bereits vor seiner Hinwendung zur Reformation hat Melanchthon in verschiedenen Zusammenhängen auf scholastische Naturrechtslehren zurückgegriffen (vgl. Maurer II 1996, 289 – 290; Pfister 1968, 8 – 14). Auch in den Loci von 1521 nimmt er den Naturrechtsgedanken auf. Allerdings steht er im Sinne von Röm 2,14– 15 ganz im Dienst der Soteriologie. Die Vorstellung, dass der natürliche Mensch um die Existenz Gottes weiß und die Grundbegriffe von Gut und Böse kennt, dient allein dem Zweck, die Unentschuldbarkeit des Menschen und seine Angewiesenheit auf das Evangelium zu begründen. Die in den Loci von 1521 sichtbare, mit den Humanisten geteilte Hochschätzung Ciceros (vgl. dazu genauer Strohm 2000b, 342– 343) bildet den Ausgangspunkt für die Anthropozentrierung und Subjektivierung des Naturrechtsgedankens, die den späteren Melanchthon kennzeichnen. In den Scholia in officia Ciceronis von 1525 werden die Naturgesetze nicht mehr einfach als προλήψεις, sondern als „innata semina virtutum humanis animis“ bezeichnet (vgl. CR 16, 636). In den Prolegomena in officia Ciceronis von 1530 profiliert Melanchthon die von der stoischen Tradition geprägte rationale Naturrechtsvorstellung gegenüber der aristotelischen Herleitung von natürlichen Neigungen (inclinationes naturales cordis bzw. στοργαί, vgl. Prolegomena in officia Ciceronis, 1562, CR 16, 573; vgl. auch Enarratio über das erste Buch der Nikomachischen Ethik, 1530, CR 16, 283 Anm. 2). Die Naturgesetze haben, wie Melanchthon noch vielfach betont, die Qualität von notitiae, die dem Verstand zugeordnet werden müssen, und sind nicht von inclinationes, die den Affekten entstammen, herzuleiten (vgl. Enarratio libri V. ethicorum Aristotelis, 1560, CR 16, 385; Ethicae doctrinae elementa, 1550, CR 16, 228; vgl. auch Philosophia moralis, 1546, MSA 3, 176 – 177.208,18 – 209,9; Prolegomena in officia Ciceronis, 1562, CR 16, 535.547– 548.573). Im Jahre 1529 stellt Melanchthon zum ersten Mal einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Naturrechtsvorstellung und der Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen her. Der Inhalt des Naturgesetzes, die notitia Dei et discrimen honestorum et turpium, entspricht genau dem, was Gott als seine Ebenbildlichkeit in den Geist des Menschen gegeben hat (vgl. Enarratio libri I. ethicorum Aristotelis, 1529, CR 16, 279 – 280). In den Loci von 1535 ist der Zusammenhang von Naturgesetz und Gottesebenbildlichkeit noch nicht genauer entfaltet (vgl. aber bereits Enarratio libri V. ethicorum Aristotelis, 1532/60, CR 16, 384). Hier wird lediglich formuliert, dass Gott dem menschlichen Verstand ein Abbild seiner Weisheit eingeprägt habe. Dabei dient der insbesondere von den Stoikern verwendete lumen-Begriff zur Erläuterung des Naturrechtsgedankens (vgl. Loci 1535, CR 21, 398 – 399). In den Loci tertiae aetatis geht die Einbindung des Naturrechtsgedankens in die Anthropologie noch einen Schritt weiter (vgl. Prolegomena in officia Ciceronis, 1562, CR 16, 534– 548). Nun besteht ein unauflöslicher Zusammenhang von Naturgesetz und Gottesebenbildlichkeit dergestalt, dass diese durch jenes definiert wird (vgl. Ethicae doctrinae elementa, 1550, CR 16, 227; De dignitate legum, 1538, CR 11, 362). Wegen des Naturgesetzes, das die von Gott in die Natur des Menschen eingegebene Kenntnis des
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göttlichen Gesetzes ist, werde gesagt, dass der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen sei. „Denn in ihm“, so Melanchthons Begründung, „leuchtete die Ebenbildlichkeit (imago), das heißt, die Kenntnis Gottes und eine gewisse Ähnlichkeit (similitudo) mit dem göttlichen Geist (mens)“. Die Gottesebenbildlichkeit besteht somit in der Fähigkeit, Gott zu erkennen sowie Gut und Böse zu unterscheiden, und dem Sachverhalt, dass die menschlichen Willenskräfte dem entsprechen (Loci 1559, MSA 2/1, 315,16 – 23). Die besondere menschliche Würde liegt, wie Melanchthon vielfach betont, in diesen notitiae naturales, die den Inhalt der Gottesebenbildlichkeit ausmachen (vgl. De dignitate legum, 1538, CR 11, 362). Die Auffassung, dass die „natürlichen Kenntnisse“ die Gottesebenbildlichkeit ausmachten und hierin der besondere Ausdruck menschlicher Würde liege, wird von Melanchthon vielfach wiederholt (vgl. z. B. De dignitate legum, 1538, CR 11, 362; Philosophia moralis, 1546, MSA 3, 158,19 – 30; Ethicae doctrinae elementa, 1550, CR 16, 227; Enarratio libri V. ethicorum Aristotelis, 1560, CR 16, 384; Prolegomena in officia Ciceronis, 1562, CR 16, 573; Enarratio Symboli Niceni, 1550, CR 23, 291). Die Folgen des Sündenfalls für den Zusammenhang von Naturgesetz und Gottesebenbildlichkeit erörtert Melanchthon je nach Genus der Schrift mehr oder weniger ausführlich. Charakteristisch ist, dass die dem Menschen vom Schöpfer eingegebene Gottes- und Gesetzeserkenntnis nur marginal betroffen ist. Sie wird durch den Fall verdunkelt, keineswegs aber ausgelöscht (Loci 1559, MSA 2/1, 314,18 – 19; Enarratio in tertium librum ethicorum Aristotelis, 1546, CR 16, 329; De anima, 1553, MSA 3, 329,23 – 26; De anima, 1553, MSA 3, 330,15 – 17). Bezeichnenderweise wird in der 1530 veranstalteten Neuausgabe der zuerst 1529 erschienenen Enarratio libri I. ethicorum Aristotelis eine Erörterung der Folgen des Sündenfalls hinzugefügt (vgl. CR 16, 281). Anders verhält es sich hingegen mit der Zustimmung des Willens zu dieser Erkenntnis. Sie geht verloren (vgl. Commentarii in epistolam Pauli ad Romanos, 1540, CR 15, 565 – 566; vgl. auch Loci 1559, MSA 2/1, 314,18 – 316,1). Die Art und Weise, wie Melanchthon den Zusammenhang von Naturgesetz und Gottesebenbildlichkeit begründet, zeigt das Spezifische seiner Naturrechtslehre im Vergleich zur scholastischen Tradition. Von der ciceronisch-stoischen Vorstellung des göttlichen Funkens im menschlichen Geist beeinflusst, begründet er die Fähigkeit des Menschen zur Gottes- und Gesetzeserkenntnis damit, dass Gott dem Menschen Funken seiner Weisheit eingegeben habe (vgl. Enarratio Symboli Niceni, 1550, CR 23, 291). So bekommt der menschliche Geist schon durch die Schöpfung Anteil am göttlichen Geist (vgl. ebd., 296). Die Vorstellung der Wesensverwandtschaft von göttlichem und menschlichem Geist qua Eingießung oder Einstrahlung (vgl. ebd., 294; Philosophia moralis, 1546, MSA 3, 158,27– 29) bringt eine Subjektivierung des Naturrechts mit sich (vgl. Frank 1995, 179; Bauer 1965, 279; Hügli 1984, 582; kritisch Link 21982, 52 Anm. 37; mit Bezug auf: Dilthey 61960, 172). Das Naturrecht, und zwar die allgemeinen Prinzipien wie die Folgerungen, wird ganz im subjektiven menschlichen Geist verankert. Die scholastische Ableitung des Naturgesetzes aus der lex aeterna wird in den Hintergrund gedrängt (vgl. aber Loci 1559, MSA 2/2, 702,1– 3), ebenso die in der Scholastik komplementär dazu verwendete, aus der aristotelischen Ethik gespeiste Begründung
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konkreter Naturgesetze von den natürlichen Neigungen (inclinationes naturales) her. Gleichwohl hat Melanchthon seine Naturrechtslehre seit 1529 zuerst im kritischen Gespräch mit der aristotelischen Anthropologie und Ethik entfaltet (vgl. Enarratio libri I. ethicorum Aristotelis, 1529, CR 16, 279 – 287; Philosophia moralis, 1546, MSA 3, 157,29 – 160,28). Denn Aristoteles’ umfassende Theorie menschlichen Handelns eignete sich im Besonderen, die Ethik- und Ordnung-begründende Funktion des Naturrechtsgedankens auszuführen.
3.2 Begründung von Ethik und Recht mit Hilfe des Naturrechtsgedankens Der Zusammenhang der Entfaltung einer Naturrechtslehre in den 1520er Jahren mit dem neuen Interesse an der Ethik geht schon daraus hervor, dass Melanchthon nun ausdrücklich betont, dass das Naturgesetz die bürgerliche Ordnung fordere (vgl. Themata de duplici iustitia, These 6.10.33, CR 21, 227– 230). Das unter dem starken Einfluss Luthers für einige Jahre zurückgetretene humanistische Interesse an der sittlichen Bildung kommt wieder hervor. Konsequenterweise erfolgt nun eine neue Beschäftigung mit der antiken Moralphilosophie, zunächst 1525 mit der stoischen Ethik Ciceros (vgl. Argumentum et Scholia in officia Ciceronis, 1525, CR 16, 615 – 680) und erst danach mit dem durch den scholastischen Missbrauch belasteten Aristoteles. In den Überlegungen zu Ciceros De officiis betont Melanchthon ausdrücklich, dass er sich im Blick auf das bürgerliche Leben und die Fragen der Moral dessen Gedanken zuwenden und die „Religion“ dabei außen vor lassen wolle (vgl. Argumentum in officia Ciceronis, 1525, CR 16, 627– 629, bes. 629). Der Naturrechtsgedanke spielt eine Schlüsselrolle bei der Mitte der 1520er Jahre einsetzenden, erneuten Beschäftigung mit der antiken Moralphilosophie und ihrer Auswertung für eine christliche Ethik. In der Enarratio zum ersten Buch der Nikomachischen Ethik von 1529 wird ausgehend von der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium die Ethik dem Gesetz zugeordnet und als Entfaltung des Naturgesetzes definiert (vgl. CR 16, 277– 279.281; zu Melanchthons Verortung von Recht und Politik im Rahmen der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium vgl. Weber 1962, 7– 10). In den folgenden Auflagen ab 1530 formuliert Melanchthon noch pointierter, dass die Ethik eine Sache der Vernunft und des Naturgesetzes sei. Christus sei nicht in die Welt gekommen, um Moralvorschriften zu lehren, die ja der Vernunft bereits bekannt seien, sondern um der Sündenvergebung willen (vgl. z. B. Enarratio libri I. ethicorum Aristotelis, 1530, CR 16, 281). Konsequenterweise wird die Ethik in den Loci secundae aetatis von dem qua Vernunft zugänglichen Naturgesetz her entfaltet, während dem Dekalog nur mehr eine ergänzende Funktion zukommt (vgl. Loci 1535 – 1541, CR 21, 388 – 405). Schon die Darstellung des Dekalogs im Abschnitt „De lege divina“ dient primär dem Erweis seiner Übereinstimmung mit dem Naturgesetz (vgl. Loci 1535 – 1541, CR 21, 398; vgl. auch CR 21, 390 – 392). Darüber hinaus wird dann im Abschnitt „De lege naturae“ noch einmal die ratio naturalis, die Vernunftgemäßheit der einzelnen Gebote
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aufgezeigt, insbesondere auch der der ersten Tafel (vgl. CR 21, 400 – 402). Seit Mitte der 1520er Jahre ist es eines der zentralen Anliegen Melanchthons herauszustellen, dass das Evangelium keinesfalls im Streit mit den Geboten der Moralphilosophie liege (vgl. Enarratio libri I. ethicorum Aristotelis, 1530/32/35, CR 16, 281; vgl. auch Prolegomena in officia Ciceronis, 1530, CR 16, 573 – 574). Begründet wird das mit der Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium sowie der Explikation des Gesetzes mit Hilfe des Naturrechtsgedankens. In derselben Weise verfährt Melanchthon in der Frage des Gegensatzes von Evangelium und weltlichem Recht. Auch diese Frage verneint er und begründet dies mit der gleichen Argumentation (vgl. ebd., 573). Das Interesse an der vielfach ausgeführten naturrechtlichen Begründung der weltlichen Gesetze resultiert aus der Erfahrung der Bedrohung der bürgerlichen Gesetze durch Täufer, „Schwärmer“ und aufständische Bauern (vgl. bes. Commentarii in aliquot politicos libros Aristotelis, 1530, CR 16, 421; Loci 1535 – 1541, CR 21, 542– 554; Loci 1559, MSA 2/2, 689 – 732; vgl. zum Ganzen Pfister 1968, 184– 185.228 – 229.236 – 239. 307– 313; Kisch 1967, 82– 100). Deren gemeinsames Kennzeichen ist nach Melanchthons Auffassung die Infragestellung der Autorität des weltlichen Regiments und der zivilen Gesetze (vgl. z. B. Commentarii in aliquot politicos libros Aristotelis 1530/31/ 35, ebd., 417– 418; vgl. ebd., 419.431.444.447). In der Folge ist es konsequent, dass Melanchthon nicht nur die Pflicht der Obrigkeit, aus dem Naturrecht positive Gesetze herzuleiten, sondern auch die obrigkeitliche Ordnung selbst naturrechtlich begründet (vgl. Commentarii in epistolam Pauli ad Romanos, 1532, MSA 5, 85,13 – 26). Diese ist in den Loci secundae aetatis nicht mehr nur eine Notordnung, die durch den Sündenfall notwendig wurde (so noch Capita, 1520, CR 21, 25 – 26; LC 21997, 3,24– 26.36, 1993, 104– 109), sondern sie gehört zur ursprünglichen Schöpfung (vgl. Loci 1535 – 1541, CR 21, 546). Sie ist ein zentraler Teil des umfassenden ordo, der die Schöpfung kennzeichnet. (vgl. Huschke 1968; Link 1991b, 108 – 117). Melanchthons Entfaltung des Naturrechtsgedankens steht jedoch nicht nur im Dienst der Ethik- und Rechtsbegründung. Sie hat auch wesentlichen Anteil daran, dass das humanistische Interesse an Wissenschaft und Bildung insgesamt mit der reformatorischen Konzentration der Theologie auf die Soteriologie verbunden werden kann.
3.3 Naturrechtsgedanke und System der Wissenschaften Luthers reformatorischer Aufbruch hatte zu einem Niedergang des Studiums und der Wissenschaften an der Universität Wittenberg geführt. Nicht nur an der Theologischen Fakultät ging die Zahl der Studenten und Studienabschlüsse Anfang der 1520er Jahre stark zurück (vgl. Förstemann 1976, 3:803 – 804; Friedensburg 1917, 156 – 159; Scheible 1996a, 353 – 369). Luthers Kollege Andreas Bodenstein von Karlstadt stellte wie andere ursprüngliche Anhänger Luthers, die den inneren Geist zu besitzen beanspruchten, den Wert der Bildung grundsätzlich in Frage (vgl. Kähler 1952, 299 – 312; vgl. auch Seifert 1996, 256 – 258). Dagegen hielt Melanchthon an der humanistischen Hoch-
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schätzung von Bildung und Wissenschaft fest und arbeitete in vielfältiger Weise an der Umgestaltung und Sicherung des Schul- und Universitätswesens mit. Nachdem er in den Loci von 1521 als Erster die Theologie im Sinne der Reformation systematisch dargestellt hatte, legte er seit Mitte der 1520er Jahre die Grundlagen eines theologischen Systems, das den Eigenwert der verschiedenen Wissenschaften neben der biblischen Theologie wahren konnte. Luthers im Kontext der Hermeneutik gewonnene Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wird systematisch entfaltet, wobei dem Naturrechtsgedanken eine Schlüsselrolle zukommt (zur Hervorhebung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium sowie der Schlüsselstellung des Naturrechtsgedankens für die Erläuterung des Gesetzes beim späten Melanchthon vgl. z. B. die Bemerkungen in der Enarratio Symboli Niceni, 1550, CR 23, 290; zur systematischen Struktur der Theologie Melanchthons vgl. Wiedenhofer 1976, 162– 246; zur pädagogischen Funktion des Gesetzes bei Melanchthon vgl. Schmoeckel 2002, 257– 262). Das von Luther bekämpfte scholastische Stufenmodell von Natur und Gnade ist hier insofern überwunden, als das Evangelium, das alle soteriologisch relevante Erkenntnis umfasst, dem Gesetz als der vernünftigen Erkenntnis der Welt gegenübergestellt wird. Die Erkenntnis Gottes des Schöpfers ist ebenso wie die theoretischen und praktischen Grundkenntnisse (principia speculabilia et practica) der Vernunft des Menschen zugänglich, trotz aller verdunkelnden Auswirkungen des Falls. Die Vernunft umfasst neben einer allgemeinen Gotteserkenntnis Welterkenntnis und Weltgestaltung, während die Offenbarung im biblischen Wort sich allein auf die heilsrelevanten Sachverhalte bezieht. Der Naturrechtsgedanke, der mit Hilfe der Theorie einer Wesensverwandtschaft des göttlichen Geistes mit dem des natürlichen Menschen entfaltet wird, bildet neben dem geoffenbarten Evangelium den zweiten Pfeiler des Systems. Zuerst zeigt sich dies an der Neubewertung der Philosophie in den Scholia in epistulam Pauli ad Colossenses von 1527 (vgl. MSA 4, 230,12– 34; vgl. auch Bayer 1994, 142– 146). Abgeschlossen ist die mit Hilfe des Naturrechtsgedankens begründete Einbeziehung der Philosophie in das theologische System in der Philosophia moralis von 1538 (vgl. Bauer 1965, 300). Melanchthons Rückgriff auf den Naturrechtsgedanken beziehungsweise die principia speculabilia et practica und die damit verbundene Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung trugen, wie vor allem Wilhelm Dilthey hervorgehoben hat, wesentlich zur Herausbildung des neuzeitlichen „Systems der Wissenschaften“ bei (vgl. Dilthey 61960, 162– 203). Nicht zuletzt Melanchthon ist es zu verdanken, dass Luthers Konzentration auf die Soteriologie nicht zu einer „Weltlosigkeit“ und Bildungsfeindlichkeit des Protestantismus führte.
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Lange Zeit wurde weitgehend übersehen, dass sich Philipp Melanchthon in seinen Reden und Schriften auch ausgiebig mit medizinischen Themen auseinandergesetzt hat. Während sich die einschlägige ältere Literatur auf wenige Arbeiten beschränkte (Rump 1896; Fossel 1908; Kramm 1940; Kleebauer 1943), sind seit den 1990er Jahren einige Aufsätze (Nutton 1993; Kusukawa 1993; Helm 1996; Koch 1997; Eckart 1998; Koch 1998; Helm 1998; Rütten 1998; Helm 1999; Hofheinz 2000; Bröer/Hofheinz 2001; Helm 2007) und eine Monographie (Hofheinz 2001) erschienen, die das Verhältnis Melanchthons zur akademischen Medizin seiner Zeit explizit thematisieren.Und auch in einigen seitdem publizierten Werken zur Geschichte der Anatomie im 16. Jahrhundert wird Melanchthon verhältnismäßig ausführlich behandelt (Cunningham 1997, 230 – 234; French 1999, 216– 218). Alle diese Arbeiten zeigen, dass Melanchthon bei seinem Versuch, die akademischen Studien zu reformieren, die Medizin nicht ausließ.Vielmehr formulierte er ein Programm für die Medizin, das damals als fortschrittlich empfunden werden musste und das die Umbrüche in der akademischen Medizin des 16. Jahrhunderts möglicherweise vorbereitete oder zumindest unterstützte. Bereits wenige Monate nach seinem Amtsantritt in Wittenberg äußerte sich Melanchthon öffentlich zur Situation und zur Perspektive der Universitätsmedizin. In seiner Vorrede der 1519 erschienenen Parva Hippocratis tabula (Burckhard 1519) des gerade auf einen medizinischen Lehrstuhl berufenen Peter Burckhard betonte Melanchthon den Wert der griechischen Autoren für die Medizin seiner Zeit. Der unter allen Ärzten einzigartige Hippokrates – so Melanchthon – werde am meisten verachtet, obwohl die Medizin keinen Größeren kenne. Nur wenn Hippokrates wieder auflebe, bestehe noch Hoffnung für den heruntergekommenen Zustand der gegenwärtigen Medizin (MBW.T 1, 95). Diese programmatischen Sätze deuten die Tendenz der von Melanchthon propagierten Erneuerung der Medizin an: Im Vordergrund stand die Wiederentdeckung der antiken medizinischen Schriften, die die mittelalterlichen Übersetzungen und Kommentare als grundlegende Texte der Universitätsmedizin ablösen sollten. Einerseits überrascht es natürlich nicht, dass sich der junge Philologe für die Lektüre antiker Autoren einsetzte. So beklagte Melanchthon bei einer späteren Gelegenheit auch das sprachliche Niveau der mittelalterlichen Galen-Übersetzungen, die mehr dem Gebrüll eines Ochsen glichen als der „reinen, klaren und schönen Sprache Galens“ (CR 11, 863 – 864; vgl. Hartfelder 1889, 165). Auf der anderen Seite ist es aber doch bemerkenswert, dass Melanchthon schon am Ende des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts die Wiederbelebung der griechischen Medizin als bedeutendste Perspektive für die akademische Heilkunde seiner Zeit propagierte und damit eine Entwicklung vorwegnahm, die in den folgenden Jahren durch die Arbeit von Philologenärzten wie Leonhart Fuchs und Janus Cornarius die Universitätsmedizin prägen sollte. DOI 10.1515/9783110335804-038
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Auch nach dem 1521 erfolgten Weggang Peter Burckhards, zu dessen Schrift Melanchthon die genannte Vorrede verfasst hatte, hielt Melanchthon an seinem Programm der Wiederbelebung der griechischen Medizin fest. Besonders deutlich wird dies in den declamationes, den in Wittenberg regelmäßig gehaltenen akademischen Reden, die von Melanchthon geschrieben, aber meist von anderen Gelehrten der Universität vorgetragen wurden (Scheible 1978, 144– 145; Scheible 1993a, 74– 79). Unter den 22 Reden, die medizinische Themen behandelten (Hofheinz 2001), finden sich zum Beispiel auch biographische Texte über Hippokrates (CR 11, 503 – 509; vgl. Hofheinz 2001, 137– 144; Rütten 1998) und Galen (CR 11, 495 – 503; vgl. Hofheinz 2001, 126 – 136). Über Hippokrates schrieb Melanchthon, dass er der Medizin eine vernünftige Methode und die wissenschaftliche Lehre geschenkt habe. Entscheidend bei der Ausübung der Kunst sei die Kenntnis der Ursachen, und daher dürfe derjenige, der auf die philosophische Bildung verzichte, nicht Arzt genannt, sondern müsse als Henker bezeichnet werden (CR 11, 507). Und über Galen ließ Melanchthon vortragen, dass die eigentlichen Wurzeln der Medizin bei ihm lägen, auch wenn später einige Araber und Griechen in durchaus verdienstvoller Weise dieser Kunst nachgegangen seien (CR 11, 502). An anderer Stelle – in Melanchthons zunächst ungedruckt gebliebener Präfatio der Baseler Galen-Ausgabe von 1538 (Galen 1538) – wird Galen als der reichhaltigste Autor der ärztlichen Kunst bezeichnet. Für Jahrhunderte sei er die einzige Quelle der Medizin gewesen, aus der die Schriften aller späteren Mediziner wie Bächlein entsprungen seien (CR 3, 491). Die Beobachtung, dass die griechischen Autoren – und besonders Galen – die wichtigste Berufungsinstanz in Melanchthons Überlegungen zur Medizin darstellten, zeigt sich am offensichtlichsten in seiner Schrift De anima, die erstmals 1540 als Commentarius de anima erschien (Melanchthon 1540). Im Unterschied zu anderen Werken des 16. Jahrhunderts mit dem gleichen Titel (Schüling 1967; Park/Keßler 1988) beschränkte sich dieses Buch nicht auf die Lehre von den Fähigkeiten und Tätigkeiten der menschlichen Seele, sondern bot auch eine umfangreiche Zusammenfassung des zeitgenössischen anatomischen und physiologischen Wissens. Dabei stützte sich Melanchthon weitgehend auf Galen: Es lässt sich zeigen, dass er in den anatomischphysiologischen Abschnitten des Buches mindestens 15 verschiedene Galenschriften entweder griechisch zitierte oder lateinisch paraphrasierte (Helm 1996). Mit dem Rückgriff auf griechische Galentexte war Melanchthon auf der Höhe der medizinischen Forschung seiner Zeit: Im Jahr 1525 war in Venedig die erste griechische Gesamtausgabe der Werke Galens – die sogenannte Aldina – erschienen (Galen 1525; vgl. Mani 1956 u. 1977), die in den folgenden Jahrzehnten eine Flut von neuen Übersetzungen, Kommentaren und Kurzfassungen der Schriften Galens bewirkte (Durling 1961). Man kann nicht oft genug betonen, dass diese Texte im 16. Jahrhundert nicht als historische Quellen gelesen wurden, sondern als Instrumente gültiger wissenschaftlicher Erkenntnis galten und als Handlungsanleitungen für die eigene medizinische Praxis dienten. Melanchthons Hinwendung zu den griechischen Medizinern bedeutete nicht, dass er den Wert anderer Autoren grundsätzlich in Frage stellte. In der Rede De vita Avi-
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cennae (CR 11, 826 – 832; vgl. Hofheinz 2001, 160 – 167) empfahl Melanchthon ausdrücklich die Lektüre des Canon, denn insbesondere auf dem Gebiet der Therapie und Pharmakologie fänden sich hier Einsichten, die die Griechen noch nicht gehabt hätten (CR 11, 831– 832). Und Melanchthon war ebenso bereit, in der zweiten Auflage seiner Seelenschrift – dem 1552 fertig gestellten Liber de anima – Korrekturen an den anatomischen Abschnitten vorzunehmen, nachdem er sich intensiv mit Andreas Vesals De humani corporis fabrica libri septem (Vesalius 1543) auseinandergesetzt hatte. In der überarbeiteten Version seines Lehrbuchs lobte Melanchthon Vesals Fabrica als ein „sehr reichhaltiges Werk eines überaus erfahrenen Mannes“ (CR 13, 21). Dennoch ging Melanchthon bei den durch die Vesal-Lektüre induzierten Änderungen sehr behutsam vor: Er vermied es, Galen und Vesal gegeneinander auszuspielen, und war bemüht, Galens Stellung als medizinische Autorität trotz offenkundiger Fehler in seiner anatomischen Lehre nicht zu erschüttern (Helm 1996, 316 – 319). Das bisher Gesagte deutet bereits an, dass die akademische Medizin für Melanchthon in erster Linie eine Buchwissenschaft gewesen ist. Aus den geeigneten Texten sollten die Studenten ihre Erkenntnisse über den Bau und die Funktion des menschlichen Körpers ableiten, und ebenso sollten sie aus Büchern lernen, wie Krankheiten zu erkennen und zu behandeln sind. Augenfällig wird dieser Sachverhalt in Melanchthons Rede Contra empiricos medicos (CR 11, 202– 209; vgl. Hofheinz 2001, 117– 125), die sicher nicht – wie in einem 1940 erschienenen Aufsatz behauptet (Kramm 1940) – gegen Paracelsus und seine Anhänger gerichtet war (Eckart 1998, 191– 192). Melanchthon wandte sich hier ganz allgemein gegen nicht-akademische Heilkundige, die sich als Ärzte ausgäben, obwohl sie nicht eine einzige Seite bei Hippokrates, Galen oder Avicenna gelesen hätten (CR 11, 205). Mit seiner Kritik an den reinen Empirikern wolle er zwar nicht – so Melanchthon – der Erfahrung den Wert als Erkenntnisinstrument für das medizinische Denken absprechen, aber es sei leichtfertig und verantwortungslos, auf den reichen Erfahrungsschatz der medizinischen Tradition seit der Antike zu verzichten. Aus den gesammelten Erfahrungen sei eine gesicherte Heilmethode, die ärztliche Kunst, entstanden, und diese müsse in der rechten Weise mit eigenen Erfahrungen verbunden werden.Vorher müsse allerdings die Kunst erlernt werden. Dies sei bei vielen Scharlatanen nicht gewährleistet, und um den Schaden abzuwenden, den diese Betrüger unter den Empirikern an der Bevölkerung anzurichten drohten, sei es dringend notwendig, dass die nicht-akademischen Heilkundigen – wie es in einigen Städten bereits üblich sei – einem Gremium akademischer Ärzte unterstellt würden (CR 11, 205 – 207). Mit diesem Vorschlag zeigt Melanchthon auch sein politisches Interesse an einer Stärkung der Position der universitären Heilkunde (Eckart 1998, 189 – 191). Es war allerdings nicht nur dieses Interesse, sondern auch die Sorge um die medizinische Wissenschaft an sich, die Melanchthon zu seinem Angriff auf die empirischen Ärzte seiner Zeit veranlasste. Es sei besonders schmerzhaft für ihn – so heißt es am Ende der genannten Rede –, dass eine Wissenschaft verachtet werde, die sich mit den schönsten Erscheinungen der Natur befasse. In den Schriften der Mediziner finde man alles über die natürliche Beschaffenheit der Dinge, die zu untersuchen und
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kennen zu lernen es jeden gesunden Menschen dränge. Es gebe keine größere Freude, als die Einteilung, Ordnung und die Abfolge der unterschiedlichen Naturerscheinungen zu beobachten (CR 11, 208). Ähnliche Sätze finden sich auch in Melanchthons Lobreden auf die Medizin. So schrieb er in der Oratio in laudem artis medicae (CR 11, 191– 197; vgl. Hofheinz 2001, 109 – 116), dass die Medizin unter allen Disziplinen als vornehmste betrachtet werde, weil sie die Wissenschaft von den natürlichen Dingen und die gründliche Erkenntnis der menschlichen Natur umfasse (CR 11, 192). In der Rede De dignitate et utilitate artis medicae (CR 11, 806 – 811; vgl. Hofheinz 2001, 153 – 159) ließ Melanchthon die Frage vortragen: „Was aber ist ehrenvoller und dem Menschen angemessener, als durch die Suche nach den göttlichen Spuren in der Natur die wahre Anschauung von der Vorsehung Gottes zu beweisen und Gott als den Schöpfer zu erkennen?“ (CR 11, 809) Und im Encomium medicinae (CR 11, 197– 202; vgl. Hofheinz 2001, 101– 108) formulierte Melanchthon sogar, dass es sicher eine Torheit sei, die übrigen Künste zu verachten. Aber die Medizin zu verschmähen, sei nicht Torheit, sondern impietas, Gottlosigkeit (CR 11, 199). Offensichtlich war es nicht allein der Aspekt von Gesundheit und Krankheit, der Melanchthons Interesse an der gelehrten Medizin begründete. Ihren besonderen Wert gewann die Medizin in seinen Augen dadurch, dass sie sich mit dem ordo naturae, der Ordnung der Natur, befasse. In der bereits erwähnten Rede De vita Avicennae wird die Weltordnung als theatrum bezeichnet, in dem Zeugnisse der Gegenwart, Weisheit und Güte Gottes sichtbar werden (CR 11, 826). Durch die Betrachtung der Natur – so drückte es Melanchthon in vielen Texten aus – könne man Gottes Spuren in seiner Schöpfung erkennen und damit Gewissheit über die Existenz und Providenz Gottes erlangen. Die Medizin rückte damit in den Kontext von Melanchthons Naturphilosophie, die in ihren Grundzügen weder neu noch originell war. Der Schluss von den Schöpfungswerken in der Natur auf die Weisheit des Schöpfers war spätestens mit Augustinus zu einem topos christlicher Naturlehre geworden. Melanchthon versuchte allerdings, diesen Ansatz einer „natürlichen Theologie“ durch die Unterscheidung von „Gesetz“ und „Evangelium“ mit reformatorischen Grundsätzen zu vereinbaren (Kusukawa 1995; Frank 1995). Der enge Zusammenhang von Naturtheologie und Medizin wird besonders deutlich in Melanchthons Aussagen zur Anatomie, die die Erlangung anatomischer Kenntnisse beinahe zu einer Christenpflicht machten. In der Rede De doctrina anatomica (CR 11, 939 – 946; vgl. Hofheinz 2001, 168 – 177) heißt es, die Anatomie sei eine nutrix, eine Ernährerin, vieler Tugenden, deren wichtigste die Erkenntnis des Schöpfergottes sei. Der planvolle Aufbau des menschlichen Körpers sei ein sichtbares Zeichen der Vorsehung Gottes. Die anatomische Lehre dürfe daher auf keinen Fall vernachlässigt werden (CR 11, 941– 942). Und in der bereits erwähnten Declamatio De vita Galeni hob Melanchthon besonders Galens anatomische Bücher hervor: Nicht nur Medizinstudenten, sondern alle Liebhaber der Philosophie sollten diese in den Händen haben. Galen habe nämlich sehr weise gesagt, dass die anatomische Lehre der Anfang der Theologie sei und ein Zugang zur Erkenntnis Gottes (CR 11, 501).
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Noch in einer weiteren Hinsicht rückte Melanchthon die Anatomie in den Kontext seines theologischen Ansatzes: Nicht nur der Erkenntnis Gottes, sondern auch der Erkenntnis des Menschen selbst sollte die Wissenschaft vom Aufbau des menschlichen Körpers dienen. Besonders deutlich wird dies wiederum in der Schrift De anima, denn Melanchthon versuchte hier nichts anderes, als den Zustand des Menschen nach dem Sündenfall mit Entlehnungen aus der Anatomie und Physiologie zu erklären (Helm 2007). Wichtig sind dabei einerseits die platonisch-galenische Dreiteilung der Seele, die den Verstand in das Gehirn, die Affekte in das Herz und die Triebe in die Leber lokalisiert, und andererseits die Vorstellungen von den Wirkungen der spiritus im menschlichen Körper, die Melanchthon weitgehend von Galen übernahm. Beim ursprünglichen Menschen – so Melanchthon – herrschte im Gefüge von eingeborenen Kenntnissen, Wille und Affekten eine vollendete Harmonie, die von sich aus mit den Absichten Gottes und mit seinem Gesetz übereingestimmt habe (CR 13, 169). Nach dem Fall sei diese Harmonie gestört, die Kenntnisse über Gott seien verdunkelt, und die Affekte irrten ziellos umher und rissen den Willen mal in die eine, mal in die andere Richtung (CR 13, 164). Hier greife nun das Wirken Gottes ein, um den Menschen zu erneuern: Sein Wort erreiche den Verstand, sodass die Erkenntnis Gottes klarer werde, und sein Heiliger Geist erreiche das Herz, wo er sich mit den dort befindlichen spiritus mische und neue Affekte hervorrufe, die mit dem Willen Gottes übereinstimmten (CR 13, 171; vgl. auch Haendler 1968, 496 – 517 und 570 – 572). Diese Aussagen entbehrten ihrer empirischen Grundlage, hätte Melanchthon nicht in den vorhergehenden Kapiteln seiner Schrift akribisch aufgezeigt, wie die spiritus im Herzen durch eine Verfeinerung des Blutes entstehen (CR 13, 88 – 89), wie die inneren Sinne des Gehirns arbeiten und mit den äußeren Sinnen in Verbindung stehen (CR 13, 120 – 122), oder wie die Affekte durch verschiedene Bewegungen des Herzens und eine Veränderung der spiritus hervorgerufen werden (CR 13, 125 – 129). Und um diese Dinge richtig zu verstehen, ist es auch wichtig, die grobe Anatomie des Körpers zu kennen, die Verteilung der Organe auf die drei Körperhöhlen, den Aufbau und auch die Funktion der einzelnen Körperteile sowie ihren Zusammenhang untereinander. Kurz gesagt: Für Melanchthon war die Anatomie integraler Bestandteil seines anthropologischen Entwurfs (De Angelis 2004), und als solcher sollte die Anatomie nicht nur der medizinischen Wissenschaft, sondern auch der richtigen Lebensführung – „ad regendos mores“ – und dem Verständnis der von der Kirche vertretenen Lehre – „ad intelligendam Ecclesiae doctrinam“ – dienen (CR 12, 28).Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Melanchthon eben nicht nur von Medizinstudenten, sondern von allen Studenten forderte, dass sie sich anatomische Kenntnisse aneignen sollten. Geradezu schändlich sei es für den Menschen – so schrieb er im Commentarius de anima –, das Gebäude seines Körpers nicht kennen lernen zu wollen (Melanchthon 1540, 32r). Um zusammenzufassen: In Reden und Schriften äußerte sich Philipp Melanchthon zur akademischen Medizin seiner Zeit. Diese sollte sich weitgehend auf die antiken griechischen Autoritäten stützen, dabei aber offen sein für die wichtigsten Werke arabischer Mediziner und auch für die innovativen Erkenntnisse zeitgenössi-
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scher Autoren. Heilkundige, die ohne Kenntnis der gelehrten Tradition Kranke behandelten, müssten – so Melanchthon – einer strengeren Kontrolle unterworfen werden, um die Gefahr für die Patienten zu verringern. Die medizinische Wissenschaft diente in Melanchthons Augen nicht nur der Behandlung von Krankheiten, sondern stand in einem theologischen Kontext. Insbesondere die Anatomie rückte in den Bezugsrahmen von Naturlehre und Anthropologie, weshalb Melanchthon sie als eine Disziplin betrachtete, die zur Grundausbildung aller Gelehrten – also auch der Philosophen, Theologen und Juristen – gehörte.
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Hanns-Peter Neumann
Dialektik
A Überblick: Forschungsergebnisse und -desiderate Trotz der großen Bedeutung, die der humanistischen Sprachreform im Allgemeinen (vgl. u. a. Wels 2000) und Melanchthons Dialektik als fundamentalwissenschaftlicher Methode im Besonderen (Risse 1964, 82; Vasoli 1968a, 281– 282; Frank 1995, 162– 164; Frank 1997, 134– 135; Wels 2000, 127– 128; Kuropka 2002, 33 – 34) in der FrühneuzeitForschung zuerkannt worden ist, existiert bis heute keine monographische Studie, die sich ausführlich mit der Kontextualisierung der drei melanchthonischen Lehrbücher zur Dialektik und mit der umfangreichen Nachschrift, die zu der von Melanchthon von Oktober 1544 bis Juni 1546 gehaltenen Dialektik-Vorlesung erhalten ist, befasst hätte. Dies liegt sicherlich auch daran, dass die Druckgeschichte der dialektischen und rhetorischen Schriften, wie zu Recht festgestellt wurde, „noch nicht in allen Details […] erforscht“ ist (Kuropka 2010, 25). Eine heutigen Maßstäben gerecht werdende kritische Edition der dialektischen Schriften Melanchthons gehört in der Tat zu den noch offenen Desideraten der Melanchthon-Forschung. Denn gerade die erfolgreichen, in zahlreichen Überarbeitungsstufen vorliegenden Ausgaben der drei Dialektiken Melanchthons bedürften einer modernen, die beiden CR-Ausgaben (CR 20, 709 – 764: Compendiaria Dialectices Ratio; CR 13, 507– 752: Erotemata Dialectices) gründlich revidierenden historisch-kritischen Edition, um eine Sichtung und Analyse der konzeptuellen, didaktischen, sprachlichen und kontextuellen, durch die je aktuelle theologische Diskurslage und politische Situation bedingten Veränderungen, die Melanchthon an seinen dialektischen Lehrbüchern vorgenommen hat, zu erleichtern. Sichtbar wird dieses Manko, wenn man gewahr wird, dass es vornehmlich die neben der ersten Dialektik im CR edierte dritte Dialektik Erotemata Dialectices gewesen ist (CR 13, 507– 752: dieser Edition liegt eine Ausgabe zugrunde, die erst nach Melanchthons Tod erschienen ist, nämlich der 1580 in Leipzig erfolgte Druck), die Gegenstand umfangreicherer Darstellungen wurde (Risse 1964, 89 – 104; Frank 1995, 162– 181; Frank 1997, 134– 143; Wels 2000, 91– 186, stellt die Methodik der humanistisch reformierten Dialektik u. a. an Ludovico Vives, Rudolf Agricola, Ortholph Fuchsperger und Melanchthon dar, wobei er bei letzterem in der Hauptsache auf die Erotemata Dialectices zurückgreift). Die zweite, bislang in keiner modernen Edition vorliegende Dialektik De Dialectica Libri Quatuor fand hingegen weniger Beachtung, obwohl gerade sie die meisten Druckauflagen erfahren hat, von Melanchthon über eine Dauer von vierzehn Jahren, nämlich von 1528 bis 1542, kontinuierlich überarbeitet und von Heinrich VIII. 1535 nebst den auf Rudolf Agricolas und Georgius Trapezuntius’ Dialektik basierenden Lehrbüchern für die Universität Cambridge als Lektüre vorgeschrieben worden ist, um DOI 10.1515/9783110335804-039
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dort die scholastische durch eine „rhetoristische Logik“ (Risse 1964, 49) zu ersetzen (zur Rezeption in Cambridge vgl. auch Kusukawa 2002, 247– 248). Gewiss mag die Beschränkung auf die Erotemata Dialectices dadurch legitimiert sein, dass sie die zu reifer Form gelangte Dialektik Melanchthons darstellen und das bis 1600 „maßgebende Lehrbuch im protestantischen Deutschland“ (Risse 1964, 89) gewesen sind. Cesare Vasoli bezeichnete die Erotemata dialectices deswegen als „definitives Lehrbuch, das Melanchthons Tätigkeit im Bereich logischer Studien beschließt“ (Vasoli 1968a, 283). Und doch zeigen die Untersuchungen Vasolis und Nicole Kuropkas, wie wichtig die Analyse der beiden ersten Dialektiken ist, um das Anliegen, das Melanchthon mit seiner Reform der Dialektik verbunden hat, aus den zeitgenössischen Diskursen heraus genauer zu verstehen (Vasoli 1968a, 283 – 309; Kuropka 2002, 16 – 31; zur Analyse der Wittenberger Dialektik von 1528/29 ebd. 31– 40). So geht auch Earline Jennifer Ashworth kurz auf die zweite Dialektik Melanchthons ein und betont die Hinwendung zur Dialektik als fundamentalwissenschaftliche Methodik, die Melanchthon darin vollzogen habe. Ashworth macht dies wie Vasoli an der Ausgabe der Dialektik von 1537 fest (Ashworth 1974, 14),während Kuropka vermutet, dass die 1537erAusgabe nur eine Neuauflage der Ausgabe von 1528/29 ist, Melanchthon also noch vor Petrus Ramus und Johannes Sturm die Dialektik als grundlegende wissenschaftliche Methode diskutiert habe (Kuropka 2002, 32– 33 u. Anm. 108). Kuropkas irrige Vermutung bestätigt jedoch, worauf sie ihrerseits zu Recht hingewiesen hat, dass nämlich die Editionsgeschichte der Dialektiken Melanchthons noch weitgehend unerforscht ist. Denn die von Vasoli benutzte Ausgabe der Dialektik (Lugduni 1537) folgt der überarbeiteten Wittenberger Ausgabe von 1536, die sich schon bei der Definition der Dialektik zu Beginn des ersten Buches grundlegend von der 1528/29er-Edition unterscheidet und eine signifikante Wende in der Dialektik-Konzeption Melanchthons markiert, die sich – und hier ist Kuropka zuzustimmen – freilich schon in der zweiten Dialektik von 1528/29, wenn auch nicht so deutlich pointiert und an zentraler Stelle, ankündigt (vgl. dazu ausführlich weiter unten Punkt C, 3.2). Während Vasoli also die Fassung der zweiten Dialektik von 1528/29 nicht bekannt war, hat Kuropka diejenige von 1536 nicht eingesehen. Hätten sie beide Versionen miteinander vergleichen können, wären sie womöglich zu anderen, differenzierteren Schlussfolgerungen gelangt. Besonders mit Blick auf die zweite Dialektik hat Nicole Kuropka Melanchthons Bemühen um eine pragmatisch reformierte Dialektik als Versuch verstanden, eine theoretische Grundlage für die lutherische Schriftauslegung zu schaffen, die zugleich unentbehrliches Werkzeug für das Verstehen, die Analyse und die Vermittlung der in der Heiligen Schrift enthaltenen Lehren und Argumente sein sollte. Die Dialektik sollte dem sola scriptura eine passgenaue hermeneutische Methode zur Seite stellen und dazu befähigen, Glaubensinhalte argumentativ und didaktisch überzeugend zu vermitteln (Kuropka 2002, 36 – 40). Dafür habe, so Kuropka, – und darauf hat auch Cesare Vasoli hingewiesen, der von einer „Kunst des Denkens“ („arte di pensare“) und „wirkungsvollen didaktischen Methode“ („un efficace metodo didattico“) spricht
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(Vasoli 1968a, 283); Wilhelm Risse bemüht hingegen den Terminus „Denkpädagogik“ (Risse 1964, 89) – Melanchthon die Dialektik als gleichsam universale Methodenlehre des sich in Sprache mitteilenden Denkens entwickelt (zur dahinterstehenden philosophischen Sprachtheorie vgl. Frank 1995, 73 – 81): Dialektik als Basiswissenschaft also, deren Kenntnis als Voraussetzung für die explikative Darstellung aller Einzelwissenschaften, auch der Theologie, zu gelten habe. Auf die Bedeutung, die Melanchthon für die frühneuzeitliche Transformation der Dialektik zu einer universal- und fundamentalwissenschaftlichen Methode besaß, ist seit Vasolis Studie mehrfach hingewiesen worden (s. aber auch schon Gilbert 1963, 125 – 128). Wilhelm Schmidt-Biggemann spricht von der Universalisierung der Topik in Melanchthons Dialektik und Rhetorik als einer wichtigen Station in der „Geschichte von Wissenschaft“ (Schmidt-Biggemann 1983, 20). Günter Frank charakterisiert Melanchthons Dialektik als an die Arithmetik angelehnte fundamentalwissenschaftliche axiomatische Methode (Frank 1997, 134– 143). Volkhard Wels bezeichnet sie vor dem Hintergrund ihrer Neuausrichtung durch Agricola und Melanchthon als „wissenschaftlich gewordene Fähigkeit, Wissenschaft zu entwickeln“ (Wels 2000, 128). Vasoli und Kuropka machen nun genau diese melanchthonische Neuakzentuierung der Dialektik als dezidierte Methodenlehre und Pädagogik des Denkens an jener Nahtstelle fest, in der Melanchthon die erste Dialektik zur zweiten umgearbeitet hat. Es ist diese sicherlich auch schon früher, aber noch nicht derart in den Vordergrund geholte didaktisch-methodische Akzentuierung in Melanchthons Neuausrichtung der Dialektik, die dann auch in der dritten Dialektik, den Erotemata dialectices, in besonderer Weise zur Geltung kommt. Die erheblichen Umbrüche aber, die sich im Verlauf der langwierigen Überarbeitung der zweiten Dialektik ergeben haben, sind in der Forschung bislang nicht konsequent analysiert worden. Will man die dialektischen Schriften Melanchthons auf einen idealtypischen Nenner bringen, ohne deren Differenzen und Modifikationen zu berücksichtigen, dann steht Folgendes außer Frage: Es handelt sich um praktisch und pragmatisch ausgerichtete Lehrbücher, in denen eine auf durch Gott den Menschen eingeborene Ideen und Fähigkeiten basierende, aus diesen durch Übung gewonnene, in Technik/Kunst (ars) transferierte fundamentalwissenschaftliche und sprachdialektische Methode zum gesellschaftlichen Nutzen beitragen soll. Die dialektische Methode trägt dadurch zur Entwirrung und Förderung gesellschaftlicher, politischer, konfessioneller, theologischer und wissenschaftlicher Kommunikationsprozesse bei, dass sie sprachlich noch zu formulierende und sprachlich schon verfasste Sachverhalte – gesprochene, gehörte, geschriebene, gelesene Sachverhalte – in größtmöglicher produktiver und hermeneutischer Klarheit argumentativ glaubwürdig, sowohl einzeln als auch in ihren Verknüpfungen, zur Darstellung bringt und auf diese Weise bestmöglich unterrichtet (ars docendi) respektive informiert. Das Unterrichten und Informieren muss hierbei auch reflexiv als Sich-Unterrichten und Sich-Informieren verstanden werden (vgl. dazu die instruktiven Ausführungen bei Wels 2000, 101– 102, Anm. 20). Die solcherweise dialektisch aufbereiteten Sachverhalte sollen zum Zwecke der Überzeugung und handlungsrelevanten Motivation schließlich rhetorisch kompetent vermittelt und das
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Wahre, Glaubwürdige und Wahrscheinliche in gesellschaftliche Praxis überführt werden. So stimmig und für eine erste Orientierung hilfreich eine solche idealtypische Pointierung der melanchthonischen Dialektik auf den ersten Blick auch sein mag, so wichtig ist es, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Melanchthon die Dialektik in seinen drei Lehrbüchern auf unterschiedliche Weise profiliert hat. Auch wenn in der Forschungsliteratur oft und gerne stillschweigend vorausgesetzt wird, dass hinter den drei dialektischen Schriften Melanchthons gleichsam das Modell eines einzigen Dialektik-Konzepts stünde, als seien sie also drei Ektypen eines idealtypischen Vorbilds, das in den Erotemata Dialectices schließlich seinen reifsten Ausdruck gefunden habe, muss dieser Ansatz vor dem Hintergrund der komplexen Bearbeitungsgeschichte der drei Dialektiken einer kritischen sowohl systematischen als auch stärker historisierenden und kontextualisierenden Revision unterzogen werden. Die konkreten zeitgenössischen Gründe und Anlässe für die zahlreichen Überarbeitungen, die Melanchthon seinen Dialektiken angedeihen ließ, sind nämlich noch weitgehend unerforscht. Schon Nicole Kuropka hat, wie oben kurz angerissen, zwischen der ersten und der zweiten Dialektik konzeptuelle Verschiebungen konstatiert, ohne de facto alle Bearbeitungsstufen eingesehen und berücksichtigt zu haben, und mit gutem Grund auf den Austausch oder die Ergänzung theologischer Beispiele hingewiesen, die Melanchthon zur Veranschaulichung diverser dialektischer Verfahren gebraucht. Bevor also nicht alle Bearbeitungsstufen der drei Dialektiken in ihren Differenzen und Gemeinsamkeiten und auf deren kontextuelle Gründe und Anlässe hin untersucht worden sind, kann die Frage, was Dialektik oder was die Dialektiken bei Melanchthon gewesen sind, nur unter Vorbehalt beantwortet werden. Was die Rezeptionsgeschichte der melanchthonischen Dialektik anbelangt, so ist zu konstatieren, dass es nur wenige Studien zu deren Wirkungsgeschichte im 16. und 17. Jahrhundert gibt. Wilhelm Risse spricht mit Blick auf den deutschsprachigen Raum von der sogenannten Melanchthon-Schule, zu der unter anderem Erasmus Sarcerius, Lucas Lossius und Victorinus Strigelius gehörten (Risse 1964, 107– 121). Erst in neuerer Zeit haben Kees Meerhoff und Marie-Luce Demonet die komplexe Rezeption der Dialektik Melanchthons in Frankreich (Meerhoff 2001, Demonet 2002) , Riccardo Pozzo im Paduaner Aristotelismus untersucht (Pozzo 2002). Demonet macht die Schwierigkeit einer präzisen Verortung des Einflusses Melanchthons in Frankreich an der Vermengung mit dem Aristotelismus, der rhetorischen Dialektik des Agricola und der Methodenlehre des Petrus Ramus fest (Demonet 2002, 145,148), konnte daher auch nur einen einzigen „mélanchthonien déclaré“ (ebd. 145), Henricus Decimator, eruieren, während sie zu anderen Logikern wie Philippe Canaye und Claude Aubery „nur“ signifikante Parallelen hinsichtlich der Methodenlehre, der Unterscheidung zwischen notwendigen und wahrscheinlichen Wahrheiten und der Anwendung der Methode auf die Analyse der Heiligen Schrift herauszuarbeiten vermochte. Pozzo stellt Ähnliches für die nicht immer eindeutig nachweisbare Rezeption der Dialektik Melanchthons bei den Paduaner Aristotelikern Francesco Piccolomini, Francesco Patrizi und Jacopo
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Zabarella fest. Schwerpunkt sei hier die Methodenlehre von Petrus Ramus und Melanchthon gewesen, deren Affinität man festgestellt habe (Pozzo 2002, 57). Pozzo glaubt im Melanchthonschüler Johann Caselius den wichtigsten Vermittler der melanchthonischen Dialektik in Norditalien ausfindig gemacht zu haben (ebd. 64). Dieser habe dann aber auch die Methodenlehre Zabarellas in Rostock und Helmstedt bekannt gemacht (ebd. 65). Im Vergleich zur Rezeptionsgeschichte der Dialektik Melanchthons im 16. und frühen 17. Jahrhundert erscheint ein Ausblick auf das späte 17., das 18. Jahrhundert und die Moderne fast als terra incognita. Hier ist nur wenig bekannt. In ihrer Untersuchung zur Wirkungsgeschichte der Logik Melanchthons in Frankreich hat Demonet ein wichtiges Stichwort gegeben, das auf eine besondere Eigenschaft der späten Dialektik Melanchthons hinweist: „l’irénisme dialectique“ (Demonet 2002, 159) oder „dialectique iréniste“ (ebd. 141). In der Tat ist es dieser vermeintliche irenische Grundzug der dialektischen Methode Melanchthons, der deren wenig bekannte Rezeption beim Aufklärungsphilosophen Christian Wolff am treffendsten kennzeichnet. Mit Berufung auf Melanchthons Vorwort zu Johann Vögelins Lehrbuch Elementa Geometriae Ex Euclide von 1536 und aus betont irenischen Gründen trat Wolff für die Applikation der an der Euklidischen Geometrie angelehnten logischen Methode in der Theologie zur Herausbildung einer wissenschaftlich seriösen, gleichsam ‚geometrisch‘ begründeten theologischen Basisdogmatik ein (vgl. dazu ausführlich Neumann 2011, 399 – 400). Melanchthon diente Wolff hierbei als Gewährsmann. Der hier nur knapp skizzierte Befund aus den wenigen Studien zur Wirkungsgeschichte der Dialektik Melanchthons zeigt, dass sie, wenn auch oft nur subkutan oder gleichsam in den Lehrplänen der Universitäten verborgen, erheblich gewesen sein dürfte. Immerhin hat kein Geringerer als Leibniz Melanchthon in philosophicis sehr geschätzt. Dieser Wertschätzung gilt es noch immer auf den Grund zu gehen.
B Kurze Editionsgeschichte der dialektischen Schriften Philipp Melanchthons 1520 bis 1560 Melanchthon hat insgesamt drei, sich in Umfang und Konzeption voneinander unterscheidende dialektische Lehrbücher verfasst. Die konzeptuellen Unterschiede haben ihre Ursachen zum einen in der Verhältnisbestimmung von Rhetorik und Dialektik, zum anderen im Aristoteles-Diskurs und in der Kritik am scholastischen Aristotelismus in den 1520er Jahren, sowie in der Frage nach der wissenschaftstheoretischen und lebenspraktischen Gewichtung der Dialektik in bildungspolitischen, politischen und theologischen Kontexten und nicht zuletzt im Problem der angemessenen Vermittlung dialektischer Lehrgehalte. Die genannten Ursachen umrahmen Melanchthons Versuch, das Eigentümliche der Dialektik – etwa im Unterschied zur Rhetorik – pointiert und theoretisch fundiert herauszuarbeiten.
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Da davon auszugehen ist, dass Melanchthon seine dialektischen Lehrbücher aus der Vorlesungspraxis heraus verfasst hat, ist gerade der didaktische Aspekt der Vermittlung dialektischer Kompetenz von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Zu Recht wurde daher auf den pädagogisch-didaktischen Aufbau der dialektischen Lehrbücher Melanchthons verwiesen, in denen, in Umkehrung der natürlichen Ordnung und Methode, die Topik der Syllogistik nachgeordnet sei (Wels 2000, 109, Anm. 30). Wie sich zudem zeigen wird, hat Melanchthon seine drei Dialektiken kontinuierlich revidiert und die jeweiligen Revisionen neuerlich drucken lassen. Dies beweist die große Bedeutung, die er der dialektischen Kunst beigemessen hat. 1. 1520 erschien die in vier Bücher gegliederte Compendiaria dialectices ratio (insgesamt 28 Druckausgaben). Spätestens ab Juli 1526 (MBW.T 2, 473,436) arbeitete Melanchthon, offenbar im Zuge der Dialektik-Vorlesung, die er von Juni 1526 bis mindestens Mai 1527 hielt (Kuropka 2002, 21), seine erste Dialektik stufenweise um, sodass zunächst das für die konzeptionelle Bestimmung der Dialektik zentrale erste Buch der Compendiaria dialectices ratio einen neuen Zuschnitt erhielt und stark erweitert wurde, während die Bücher II bis IV weitgehend so beibehalten wurden wie sie waren. Diese als Mischfassung zu bezeichnende Version erschien schließlich 1527 in Hagenau unter dem Titel Dialectica Philippi Melanchthonis, ab autore adaucta et recognita, ut in multis veterem non queas agnoscere. 2. Bereits ein Jahr später wurden die umfangreicheren De dialectica libri quatuor (unter dem Titel Dialectices Ph. Mel. libri quatuor, Hagenau 1528) veröffentlicht, die die Compendiaria dialectices ratio vollends ablösten, ihrerseits wiederum einer sofortigen Revision unterzogen wurden, die dem fehlerhaften Hagenauer Druck geschuldet war (MBW.T 3, 525), und dann kurze Zeit später erschienen (Melanchthon 1528/29). Der lange Zeitraum zwischen 1528 und 1547, bis zum Erscheinen der ausführlichsten dialektischen Schrift Melanchthons, den Erotemata dialectices, war der steten, in der Intensität jeweils differierenden Überarbeitung der zweiten dialektischen Schrift Melanchthons gewidmet (insgesamt 45 Druckausgaben), die de facto erst mit dem Erstdruck der neunten Auflage Wittenberg 1542 abgeschlossen war, dem Erscheinungsdatum der unter dem Titel Dialecticae Praeceptiones gedruckten endgültig revidierten De dialectica libri quatuor. Bis 1542 sind drei Phasen der Umarbeitung festzuhalten: 1529 hat Melanchthon eine inhaltlich stark überarbeitete Fassung in Wittenberg (De Dialectica libri quatuor, Wittenberg 1528 [in fine imprime 1529]) drucken lassen, die von Nicole Kuropka als Grundlage für die Analyse des konzeptionellen Wandels, den Melanchthon zwischen 1520 und 1530 in dialecticis vollzogen hat, herangezogen worden ist (Kuropka 2002, 16 – 40, zur Quellenlage ebd. 258 – 262). Eine zweite Phase der Bearbeitung, die von 1531 bis 1537 stattgefunden hat, fällt zwar weitaus weniger intensiv aus, verzeichnet ab 1533 jedoch immerhin einen gut zehn Seiten umfassenden und neu hinzugekommenen Text über die sogenannten relationes sowie ab 1536 wenige, aber cruciale Überarbeitungen an zentralen Stellen (siehe dazu unten C, 3.2). Zwischen 1538 und 1542 setzt ein drittes, nun wieder intensiveres Stadium der Überarbeitung ein, in der zum einen eine zweite Widmung hinzugefügt wurde, nämlich an Johannes Sturm, zum andern
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erstmals ein Index angehängt wurde sowie einzelne Kapitel wie etwa „De Regulis Consequentiarum“ hinzugefügt oder bearbeitet worden sind. 3. Spätestens von Februar 1544 an (MBW 3450, 27) hat Melanchthon damit begonnen, seine zweite Dialektik zu den Erotemata dialectices umzukonzipieren. Zwar glaubte er schon im Oktober 1544 (MBW 3720, 142), die Erotemata dialectices bald zu Ende bringen zu können, doch zu einer Veröffentlichung ist es nicht gekommen. Möglicherweise wollte er seine im Herbstsemester 1544 begonnene Dialektik-Vorlesung für die Neukonzeption seines Dialektik-Lehrbuchs nutzen. In der Tat wird man in der Vorlesung Formulierungen finden, die auch in den Erotemata dialectices enthalten sind. Die umfangreiche Vorlesungsmitschrift Rapsodiae in Dialecticam D. Philippi Melanthonis Ipso Autore Praelegente stellt ein durchaus eigenständiges, da mit vielen Exkursen und Beispielen arbeitendes Dokument dar, das die insgesamt 77 Vorlesungen wiedergibt, die Melanchthon zwischen dem 28. Oktober 1544 und dem 8. Juni 1546 gehalten hat (Melanchthon 1544/46). Die Mitschrift gewährt einen gründlichen Einblick in die Neukonzeption der dritten melanchthonischen Dialektik. Sie ist aber auch deswegen von Bedeutung, weil sie am Gegenstand der Dialektik die darin gelehrte Methode – die ars docendi – exemplarisch vorführt und in die Vorlesungspraxis überführt: Sie vermittelt lebensnah dialektisches Wissen nach dialektischer Methode und veranschaulicht zugleich die Transparenz und Grenzlinie zwischen Dialektik und performativer Rhetorik. Erst im Februar 1547 wird die dritte Dialektik Melanchthons wieder im Briefwechsel erwähnt. Zu diesem Zeitpunkt war Melanchthon allem Anschein nach mit dem Schlussteil der Erotemata dialectices beschäftigt (MBW 4593, 47). Im August 1547 befanden die Erotemata sich im Druck (MBW 4836, 155), der schließlich im September abgeschlossen war (MBW 4906, 183) und in Wittenberg erschien. Doch auch damit waren Melanchthons Bemühungen um die Perfektionierung seines dialektischen Lehrbuchs nicht abgeschlossen. Diese betrafen, etwa in der zweiten Auflage Wittenberg 1548, nicht nur stilistische Verbesserungen und Fehlerkorrekturen, sondern auch einige inhaltliche Überarbeitungen und den bei Melanchthon häufig anzutreffenden Austausch theologischer Beispiele. Auch die Wittenberger Neueditionen der Erotemata dialectices von 1555 und 1559 weisen mehr oder weniger starke Neubearbeitungen des Textes auf. Die Auflage Wittenberg 1559 kann als die letztgültige Fassung vor Melanchthons Tod gelten. Wie Wilhelm Risse vermerkt hat, avancierten die Erotemata dialectices schließlich zum bis 1600 wichtigsten und verbreitetsten dialektischen Lehrbuch im protestantischen Deutschland.
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C Philipp Melanchthons Dialektik-Verständnis zwischen 1518 und 1559 1 Die Kritik an der scholastischen Logik, die humanistische Reform der Dialektik und der Aristotelismus des 16. Jahrhunderts Melanchthons Konzept einer lebenspraktischen, fundamentalwissenschaftlichen und pädagogischen Begründung der Dialektik schließt an die Transformation der mittelalterlichen Logik in der Renaissance an, wie sie für Rudolf Agricolas De inventione dialectica (1515) typisch war – eine in ciceronianisch-quintilianischer Manier vollzogene topische Korrektur des scholastisch vereinnahmten Aristoteles (zum Ciceronianismus und zur „rhetorischen Logik“ vgl. Risse 1964, 17– 25), die, wie im Falle Melanchthons und des Johannes Caesarius (Risse 1964, 25 – 31), mit der philologischen Regeneration des ‚echten‘ Aristoteles aus den griechischen Primärtexten einherging. Agricolas dialektische Schrift entstand 1479, zirkulierte in diversen Handschriften und wurde erstmals posthum 1515 gedruckt (vgl. Agricola 1992). In der Epistola nuncupatoria an Wilhelm Reiffenstein, die seiner zweiten dialektischen Schrift De Dialectica libri quatuor vorangestellt ist, nennt Melanchthon Agricola neben Johannes Caesarius und Aristoteles als für den Unterricht zu konsultierende Autoritäten auf dem Gebiet der Dialektik: „Iohannis Caesarij libelli accuratissime scripti, & Rudolphi Topica. Et Aristotelem maxime velim omnibus studiosis in manibus esse, ad cuius lectionem viam sternere hoc nostro commentariolo voluimus.“ (Melanchthon 1531, Epistola nuncupatoria, A4v – A5r) Die Dialectica Iohannis Caesarij in decem tractatus digesta des zu Melanchthons Korrespondenten zählenden Gräzisten Johannes Caesarius war 1526 in Köln erschienen. Agricolas „rhetorical logic“ (Ashworth 1974, 11) schließt an die Kritik an der stark formalisierten Logik der mittelalterlichen Scholastik im italienischen Humanismus an, wie sie unter anderem bei Lorenzo Valla oder dem aus Byzanz nach Italien emigrierten Gelehrten Georgius Trapezuntius anzutreffen ist, die gegen die „barbarische“ Verunstaltung der Sprache durch die als überflüssig und lebensfremd angesehenen komplexen Subtilitäten der an den Universitäten Padua, Köln, Löwen und vor allem Paris im Curriculum verankerten scholastischen Logik polemisierten und für eine pragmatische „Rhetorisierung der Logik“ (Frank 1997, 132) eintraten, um diese sozusagen alltagstauglich zu machen. Zum europäischen Kontext dieser Entwicklung zählten auch zahlreiche andere Gelehrte der Zeit wie Jacques Lefèvre d’Étaples (Faber Stapulensis) und Giovanni Ludovici Vives (dazu Risse 1964, 14– 78, Maurer 1967, 194– 209, Vasoli 1968a, Ashworth 1974, 8 – 14, Mack 1993). Agricolas Schrift De inventione dialectica hatte schließlich einen so durchschlagenden Erfolg, dass sie über die Agricola-Schüler Bartholomaeus Latomus, Johannes Caesarius und Johannes Sturm auch in Paris, der Hochburg der scholastischen Logik in Europa, Fuß fassen konnte
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(vgl. u. a. Ashworth 1974, 14; „Einleitung“, Agricola 1992, XVII, wonach Paris seit 1529 neben Köln der Druckort war, „an dem die meisten Ausgaben der ‚Inventio‘ erschienen sind“). Zielscheibe der Kritik waren aber nicht nur die aristotelischen Scholastiker, sondern auch Aristoteles selbst. Nicht zuletzt war es schließlich die Auseinandersetzung mit dem Corpus Aristotelicum, die zur Ausgestaltung einer „neuen“ humanistischen Logik führte. Hier förderte Rudolf Agricola eine durchaus ambivalente Haltung gegenüber Aristoteles. Obwohl er nicht mit lobenden Worten für Aristoteles spart, war seine Kritik am Stagiriten (Agricola 1992, 21– 30), an dessen Unverständlichkeit und Komplexität doch so nachhaltig, dass, wer immer am Corpus Aristotelicum festhalten und sich zugleich an Agricola orientieren wollte, dies nur mit einem restaurierten Aristoteles tun konnte. Genau dies aber hatte der in scholastischer Logik sehr gut unterrichtete Melanchthon im Sinn, als er für eine sich bereits europaweit vollziehende Reform der Dialektik eintrat, wie er dies explizit in seiner berühmten Wittenberger Antrittsrede De corrigendis adolescentiae studiis 1518 tat. Dem „mangelhaften und verstümmelten“ („mancum, et lacerum“) lateinischen Aristoteles der Scholastiker – Melanchthon nennt exemplarisch Thomas von Aquin, Duns Scotus, Johannes Versor und Johannes Durandus – stellt er den griechischen Aristoteles gegenüber (CR 11, 17). Ausdrücklich spricht er von einem zu reinigenden Aristoteles; er habe seinem Tübinger Dialektik-Lehrer Franz Kircher aus Stadion „Aristoteli purgando“ helfen wollen, was in diesem Fall, neben der geplanten, dann aber nicht zustande gekommenen neuen Aristoteles-Werkausgabe, vor allem die angemessene Interpretation der Analytica posterior betraf (CR 11, 20). Aufgrund der Anathematisierung der aristotelischen Philosophie, insbesondere der Ethik, Metaphysik und Physik, durch Martin Luther in dessen Heidelberger Disputation aus dem gleichen Jahr konnten allerdings zunächst nur die rhetorischen und logischen beziehungsweise methodologischen Schriften des Stagiriten in Betracht gezogen werden, um der von Luther und Melanchthon als fatal gedeuteten scholastischen Vermengung der aristotelischen Metaphysik und Ethik mit der christlichen Theologie entgegenzuwirken. Der „entmetaphysierte“ dialektische und rhetorische Aristoteles sollte dann wie Cicero und Quintilian dazu beitragen, ein praktikables Instrumentarium zu schaffen, das für das Begreifen und Produzieren von Reden und Texten konstitutiv war, in welchen Kontexten diese auch immer entstanden sind oder entstehen sollten, seien diese nun bildungs-, gesellschafts-, wissenschafts-, kirchenpolitischer, theologischer oder kontroverstheologischer Ausrichtung. Das methodische Rüstzeug, das in den logischen, hermeneutischen und rhetorischen Schriften des Aristoteles enthalten war, sollte von allem metaphysischen Ballast befreit werden, das ihnen im Laufe ihrer spätmittelalterlichen Vereinnahmung aufgebürdet worden war. Als Beispiel nennt Melanchthon die schon erwähnte Analytica posterior, die fälschlicherweise der Metaphysik zugeordnet worden sei, und die Kategorien, deren praktische Bedeutung für die Dialektik man verkannt habe, um sich stattdessen in fruchtlosen Diskussionen über die reale Existenz der Gattungen zu ergehen (CR 11, 19). Unter Zuhilfenahme griechischer Aristoteles-Kommentatoren wie Themistius und Philoponos galt es die Aristoteles-Texte
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einer „Reinigung“ zu unterziehen und die in ihnen enthaltenen „Grundlagen der Künste von den Fesseln der [mittelalterlichen] Barbarei“ („artium elementa vindicta Barbarorum liberarentur“) freizulegen (CR 11, 20). Es ging also darum, die unseligen Folgen einer aus Melanchthons Sicht durch die mittelalterliche Scholastik unnötig verkomplizierten aristotelischen Dialektik, wie sie laut Melanchthon in den LogikLehrbüchern und -Kommentaren eines Petrus Tartaretus, Thomas Bricot, Johannes Versor und Johannes Eck zum Ausdruck kamen (CR 11, 19), zu beheben und aus dem sophistischen Streit der Lehrmeinungen innerhalb der Scholastik heraus zu gelangen, um mithilfe einer gereinigten und modifizierten aristotelischen Logik und Hermeneutik ein allgemeinverständliches und im Alltag praktikables Organon zu schaffen, das Klarheit, Ordnung und Eindeutigkeit im Unterrichten und Disputieren von Sachverhalten zu vermitteln versprach und, fern von unnötigen Formalisierungen, im engen Verbund mit der Rhetorik in real gesprochene, lebendige Sprache einfließen konnte (vgl. Lorenz 2010, 725 – 747, insbes. 738 – 747). Die polemische Kritik an den genannten Logikern ist indes mit Vorsicht zu genießen. So hat Johannes Eck ein kurzes dialektisches Lehrbuch verfasst, das den Kriterien der Verständlichkeit und Nützlichkeit durchaus gerecht wird und in Vielem mit dem übereinstimmt,was Melanchthon selbst in seiner ersten und zweiten Dialektik expliziert hat. Man wird wohl davon ausgehen können, dass Melanchthon trotz seiner Kritik die Lehrbücher der scholastischen Aristoteliker auch weiterhin zurate gezogen hat. Für eine Reinigung des Aristoteles von den Schlacken der Scholastiker war eine kritische Sichtung des gesamten logischen Schrifttums des Aristoteles erforderlich, also der zur logica vetus gezählten Categoriae und De interpretatione – mit eingerechnet werden muss hier zudem noch Porphyrios’ Isagoge in die aristotelische Logik– sowie der zur logica nova zugerechneten Analytica priora, Analytica posteriora, De sophisticis elenchis und Topica. Aus dieser Sichtungsarbeit ergab sich dann ein ganz spezifischer Aristotelismus, der zum scholastischen Aristotelismus in Konkurrenz trat. Um der komplexen Aristoteles-Rezeption bei Melanchthon gerecht zu werden, muss man daher auch mehrere Label unterscheiden, die in seinen Schriften allesamt mit dem Titel „Aristoteles“ etikettiert worden sind. Ausschlaggebend war hier der Wettstreit diverser Aristoteles-Deutungen um den Anspruch auf den „echten“ Aristoteles. Einen reinen Aristoteles hat es nämlich genauso wenig gegeben wie einen reinen Aristotelismus, wie dies Günter Frank vollkommen zurecht angemahnt hat (Frank 1995, 21). Selbst wenn Melanchthon also, wie Kuropka meint, in seiner ersten dialektischen Schrift, der Compendiaria Dialectices Ratio, Aristoteles nicht beziehungsweise nur äußerst selten beim Namen nennt (Kuropka 2002, 17), wäre es ein Fehlschluss zu behaupten, er habe sich in den frühen 1520er Jahren von Aristoteles abund erst 1526, im Zuge der Entstehung der zweiten Dialektik, wieder eindeutig und nachhaltig zugewandt. Kuropka spricht diesbezüglich von Melanchthons Wiederentdeckung des Aristoteles im Jahr 1526, zu dem er sich nun offen bekannt habe (Kuropka 2002, 29 – 31). Einen solchen radikalen Schnitt hat es aber so nicht gegeben (vgl. dazu Frank 1995, 17, Anm. 26), wohl aber Negationen bestimmter Aristotelismen und einen,
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zu Beginn der Zusammenarbeit mit Luther, vorsichtigen, stark selektiven Umgang mit dem Corpus Aristotelicum. So stellte es für Melanchthon kein Problem dar, in seiner ersten dialektischen Schrift die scholastischen Aristoteliker, etwa in Bezug auf vermeintlich nutzlose formallogische Spitzfindigkeiten, die von den Humanisten einer Vergewaltigung des Sprachverständnisses und -gebrauchs des gemeinen Menschenverstandes gleich geachtet wurden, als barbarisch zurückzuweisen und sich gleichzeitig bestimmter logischer und erkenntnistheoretischer Lehrelemente und Fachtermini aus dem Organon des Aristoteles und aus dem Schrifttum der sogenannten „Aristoteliker“ zu bedienen. Unter anderem rekurriert er, ohne Aristoteles beim Namen zu nennen oder nennen zu müssen, im ersten Buch der Compendiaria Dialectices Ratio auf die aristotelische Lehre von den vier Ursachen, um daraus vier Arten des Definierens abzuleiten (CR 20, 721). Im zweiten Buch referiert Melanchthon die bei den „Aristotelici“ geläufige Unterscheidung zwischen einfachen und modalen pronuntiata (CR 20, 727– 728), während er deren Regeln für die Konversion von Subjekt und Prädikat einer Aussage im gleichen Atemzug als unnütze Posse verurteilt (CR 20, 731). Im dritten Buch über die Argumentationslehre wiederum liest Melanchthon „Aristotelici“ und Cicero zusammen (CR 20, 734). Dass er schließlich von den drei syllogistischen Figuren der Aristoteliker nur zwei ausdrücklich empfiehlt, ist hinreichend bekannt (CR 20, 737). Um Fehlschlüsse zu durchschauen, reiche es nämlich aus, so Melanchthon, einen reduzierten Kanon an syllogistischen Regeln zu befolgen (CR 20, 747– 748). Melanchthons kontinuierliche Auseinandersetzung mit den logischen und rhetorischen Schriften des Aristoteles schlug sich dann zwangsläufig in einer deutlicheren Verankerung aristotelischer Lehrelemente in seinen dialektischen Lehrbüchern nieder. In der zweiten Dialektik etwa, den De Dialectica Libri Quatuor, tritt anders als in der sehr knappen Schrift Compendiaria Dialectices Ratio von 1520 die Bedeutung des aristotelischen Organon gleich zu Beginn des ersten Buches in den Vordergrund. Die dialektischen Bücher des Aristoteles werden nun als Instrumentarium bezeichnet, das darauf vorbereitet, „über alle Dinge geordnet und auf rechte Weise zu sprechen“ („omnibus de rebus ordine & rite dicendi“) (Melanchthon 1528/29, A5r). Die Deutung der Funktion des aristotelischen Organon verschob sich dann signifikant mit Melanchthons sich veränderndem Verständnis der dialektischen Kunst. Im Zuge der Überarbeitung seiner zweiten Dialektik etwa hat Melanchthon spätestens ab 1536 nicht mehr von dicere, sondern von docere gesprochen. In der Wittenberger Ausgabe von 1536 wird die nachhaltige Neubestimmung der Dialektik als „Kunst und Weg des Unterrichtens“ („ars ac via docendi“) dann konsequent auch auf das aristotelische Organon übertragen. Dies sei das Instrument, „über alle Dinge geordnet und auf rechte Weise zu unterrichten“ („omnibus de rebus ordine & rite docendi“) (Melanchthon 1536, A5r). Bei der Verschiebung vom dicere zum docere kann man nun einerseits davon ausgehen, dass das Neue in Melanchthons Bestimmung der Dialektik als einer Kunst oder Wissenschaft des Unterrichtens nicht darin liegt, die Dialektik überhaupt mit dem docere verbunden zu haben. Denn dies haben zahlreiche andere
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Dialektiker wie Rudolf Agricola, Johannes Caesarius, Bartholomäus von Usingen, darunter auch solche, die von Melanchthon mit heftiger Polemik bedacht worden sind wie etwa Johannes Eck, der die Dialektik als „ars docens“ bezeichnet hatte, schon vorher getan. Das Neue liegt vielmehr darin, das docere zum essentiellen Hauptmerkmal dialektischen Denkens überhaupt extrapoliert zu haben. Die Dialektik „lehrt“ nicht einfach nur die Verfahren des Definierens, Aufteilens und Argumentierens, wie dies bei Johannes Eck zu lesen ist, sondern sie ist im Kern mit ihrem Zweck, dem sachhaltigen (Sich‐) Unterrichten und (Sich‐) Informieren identisch.Wohl deshalb positionierte Melanchthon im Zuge der Überarbeitung der zweiten Dialektik die Definition der Methode als „ratio atque ordo docendi iuxta praecepta dialectices“, die er gegen Ende der Dialektik von 1528/29 den „Alten“ („veteres“) zugesprochen hatte (Melanchthon 1528/29, K8r), dann in modifizierter Form gleich an den Beginn des ersten Buchs. Andererseits muss man sich, wenn Melanchthon an so prominenter Stelle vom Organon des Aristoteles spricht, darüber im Klaren sein, dass es sich um einen bereits modifizierten, humanistisch anverwandelten Aristoteles handelt, der mit ciceronianischen und quintilianischen, aber auch platonischen und neuplatonischen Lehren zusammengelesen und gerade in dieser Zusammenlese kritisch und selektiv angeeignet worden ist.
2 Grundzüge der humanistischen Dialektik Für die „neue“ humanistische Dialektik, die sich aus der Auseinandersetzung mit Aristoteles und dem Aristotelismus der scholastischen Logiker entwickelt hat, und somit auch für die Dialektik Melanchthons waren folgende vier Merkmale konstitutiv: 1. die Aufteilung der Dialektik in die Inventio (Erfinden, Finden), also das produktive Finden von Argumenten, um einen Sachverhalt glaubwürdig zu machen, anhand von Topoi, und in das Iudicium (Urteil), also das Beurteilen von Argumenten, die einen Sachverhalt explizieren sollen, durch Applikation syllogistischer Regeln (wie diese neue Dialektik im Einzelnen funktioniert, wird anschaulich vorgeführt in Wels 2000, 101– 112). 2. Der trotz scheinbar klar abgegrenzter Zuständigkeiten mehr oder weniger fließende Übergang zur Rhetorik. 3. Die damit einhergehende lebenspraktische Ausrichtung. 4. Die Bestimmung der Dialektik als ars mit direkter Nachbarschaft zur Grammatik und Rhetorik, also als Teil der sprachlichen Künste, wobei ihr ein der Arithmetik im Quadrivium analoger zentraler Stellenwert zugesprochen worden ist. Melanchthon hat, ganz dieser humanistischen Neu- und Umdeutung der Logik verpflichtet, noch in seiner Dialektik-Vorlesung von 1544/46 Grammatik, Dialektik und Rhetorik als „artes dicendi“ (Melanchthon 1544/46, 42) bezeichnet und ars als lebensnützliche Anwendung von Wissen (scientia) definiert, das in der begründeten Zusammenstellung evidenter Propositionen bestehe (Melanchthon 1544/46, 2– 3). Die
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Lebensnützlichkeit der ars erklärt Melanchthon zum Signum ihrer göttlichen Vermitteltheit: Artes sind „divinitus traditae“, und nur, was göttlich vermittelt ist, darf sich ars nennen, impliziert also eine signifikante Nützlichkeit für das Leben (Melanchthon 1544/46, 3). Hierbei kommt der ars dialectica eine besondere, nämlich eine sich an die Arithmetik anlehnende universalwissenschaftliche utilitas zu. Sie wurde deswegen schon früh von Melanchthon als die notwendigste ars („maximam necessariam esse“) unter allen Künsten herausgestellt (u. a. Melanchthon 1528, 161). Diese spezifische Notwendigkeit der dialektischen Kunst hat Melanchthon im Zuge der Bearbeitung seiner dialektischen Lehrbücher herausgearbeitet, indem er den eigentümlichen Kern der dialektischen Tätigkeit immer pointierter freizulegen suchte.
3 Melanchthons Bestimmungen der Dialektik zwischen 1519 und 1559: Von der Kunst der Erörterung zur „arithmetischen-geometrischen“ Wissenschaft des Unterrichtens Melanchthon hat mit seiner Dialektik keinen revolutionären Umbruch innerhalb der Geschichte der frühneuzeitlichen Logik vollzogen. Seine Originalität besteht nicht in einer grundlegenden Neukonzipierung der Dialektik. Dennoch hat Melanchthon Einflüsse, die er aufgegriffen hat und unter welchen Rudolf Agricola und dessen Schule neben „Aristoteles“ und Platon die bedeutendsten sind, im Laufe der Bearbeitung seiner dialektischen Schriften so akzentuiert und auf eine Weise kombiniert, dass sich zunehmend das Konzept einer nun auch erkenntnistheoretisch und theologisch begründeten Dialektik qua Fundamentalwissenschaft herauskristallisiert hat. Dieser Prozess lässt sich in zwei zusammengehörigen Schritten beschreiben: zum einen in der arithmetisch-geometrischen Pointierung und Grundlegung der dialektischen Kunst (C, 3.1), zum anderen im Wandel der Bestimmungen, die Melanchthon der Dialektik gegeben hat (C, 3.2). Beide Schritte gehören insofern zusammen, als sie sich während der Überarbeitung der ersten Dialektik zur zweiten sowie der Bearbeitung der zweiten Dialektik bis hin zur Publikation der dritten Dialektik vollzogen haben. Dabei tritt das Zusammenspiel der erkenntnistheoretischen und theologischen Grundlegung der Dialektik, das deren maximale Lebensnützlichkeit bis zur fundamentalwissenschaftlichen Notwendigkeit steigert und für die sprachlich performative Praxis unentbehrlich macht, zunehmend in den Vordergrund. Die empirische Orientierung an der gesprochenen Sprache beugt dabei der durchaus möglichen formallogischen Ausgestaltung einer im weitesten Sinne mathematisch konzipierten ars dialectica vor.
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3.1 Die arithmetisch-geometrische Pointierung der dialektischen Kunst Genauso wie die Arithmetik und die Geometrie, von Melanchthon in seiner In arithmeticen praefatio Georgii Ioachimi Rhetici von 1536 als „Flügel des menschlichen Geistes“ bezeichnet (CR 11, 288: „Sunt igitur alae mentis humanae, Arithmetica et Geometria“), beruhen – und diese Parallele arbeitet Melanchthon erst in seiner zweiten Dialektik dezidiert heraus – auch die Verfahren der Dialektik auf von Gott dem Menschen eingeborenen rational-kognitiven Strukturen, Ordnungsformen und -verfahren, mittels derer die bei Melanchthon stets sprachlich gefassten Dinge unterschieden, beurteilt und sowohl einzeln als auch in ihrem Zusammenhang zu einer differenzierten Ordnung disponiert werden können. Diese differenzierte Ordnung ist produktiv beziehungsweise konstruktiv in propositional ausgedrückte Sachverhalte oder begründete Informationen übertragbar, um schließlich unter der Voraussetzung ihrer persuasiven rhetorischen oder im weitesten Sinne sprachlichen sozialen Kommunikation handlungsrelevant werden zu können. Genau darin, im Potential der Sprache zu Überzeugungen zu bewegen, die Handlungen nach sich ziehen, besteht denn auch deren nachhaltige Geschichtsmächtigkeit. Umgekehrt können in hermeneutischer Perspektive sprachlich ausgedrückte Sachverhalte auf die ihnen zugrunde gelegte propositionale und dingliche Ordnung untersucht und auf ihre Richtigkeit oder Falschheit beziehungsweise auf den Grad ihrer Glaubwürdigkeit geprüft werden. Auch dies Verfahren hat handlungsrelevanten Charakter, sofern es existente Überzeugungen relativiert oder korrigiert, was wiederum in konkrete Aktionen ummünzbar ist. Aufgrund der sprachlichen Verfasstheit der Welt stehen das produktiv-topische und das hermeneutisch-judiziale Verfahren in einer dynamischen Wechselbeziehung zueinander. Die hermeneutische Entschlüsselung des Römerbriefs zum Beispiel, die aus dessen stilistischer und rhetorischer Aufmachung das Gerüst seiner argumentativen Struktur herauspräpariert, führt in letzter Konsequenz zur dann sachgerechten produktiv-topischen Vermittlung der darin enthaltenen Argumente und Glaubenssätze (Kuropka 2002, 39). Dies vermag schließlich dazu beizutragen, den Habitus des gläubigen Menschen zu prägen und zu steuern. Von daher wird auch verständlich, warum die Rhetorik mit zur Hermeneutik und zur produktiv-topischen Vermittlung zu zählen und somit die Grenze zur Dialektik durchlässig ist (Mack 1993, 325; Berwald 1997, 112– 113). Ihre Aufgabe besteht nämlich sowohl in der kompetenten Identifizierung rhetorischer Figuren als auch in der anschaulichen und überzeugenden performativen Darlegung der von der Dialektik herausgearbeiteten „nackten“ argumentativen Struktur propositionaler Zusammenhänge. Melanchthon spricht diesbezüglich von der rhetorisch beredsamen Ausschmückung des von der Dialektik in kurzen Worten gefassten nackten Falls („nuda[m] caussa[m]“) (Melanchthon 1528/29, A5r). Hatte Melanchthon in der Compendiaria Dialectices Ratio von der Dialektik noch als von einem roten Faden der menschlichen Ratio gesprochen, ohne sie an die paradigmatischen Mathemata der Arithmetik und Geometrie zu koppeln und ohne sie als
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von Gott dem Menschen eingeborene Kunst herauszustellen, so betonte er ab der zweiten Dialektik die sicherlich auch platonisch und augustinisch unterlegte innere Relation zwischen der Dialektik und der ars numerandi. In der schon erwähnten Praefatio in Arithmeticen verdeutlicht Melanchthon, dabei auf die pythagoreischplatonische Mathematik rekurrierend, die propädeutische Funktion der Arithmetik für die Dialektik: Der zählende, dividierende und multiplizierende Geist legt die Basis für den in und mit Sprache hantierenden schlussfolgernden Geist. Beide Bereiche überschneiden sich durch die dem menschlichen Intellekt eingeschriebene „Kraft der Beweisführung“ („vis demonstrationis“) (CR 11, 291– 292), die sich in den genauso arithmetisch-geometrisch wie dialektisch konnotierten Verfahrensweisen der bestimmenden Abgrenzung (definitio), der Aufteilung und Aufzählung der Teile (divisio, enumeratio) sowie der Schlussfolgerung (ratiocinatio, argumentatio) ausdrücken (Melanchthon 1528/29, A3v). Doch erst in den Erotemates dialectices wird die in der zweiten Dialektik schon alludierte göttliche Verankerung der Arithmetik und Dialektik im menschlichen Geist an zentraler Stelle benannt und explizit gemacht (CR 13, 514: „Et magna cognatio est Dialectices et Arithmetices. Deus indidit naturae intelligenti noticias numerorum, ut res discernat“). Da Dialektik wie alle wahren, sich durch besondere lebenspraktische Nützlichkeit auszeichnenden Künste bei Melanchthon gottgewollt ist, zudem noch als die notwendigste unter allen Künsten geadelt wird, hat sie eine erhebliche theologische und anthropologische Bedeutung. Sie ist jene universalwissenschaftliche Maßgabe, mit der die gottgeschaffene Ordnung der Dinge eruiert, in allen Wissenschaften diskursiv durchdekliniert, evident gemacht und so in letzter Konsequenz überhaupt erst in gesellschaftliche Lebenspraxis transferiert werden kann. Sie trägt dadurch dazu bei, die göttliche Zweckbestimmung des Menschen in allen Lebensbereichen hin zum Besten aller zu entfalten. Und sie macht es als hermeneutische und produktiv-topische Methode möglich, die in Gottes Wort enthaltenen Argumente in Form klarer dogmatischer Sätze herauszuschälen und in eine überzeugende Ordnung zu bringen.
3.2 Der Wandel in Melanchthons Bestimmung der Dialektik Will man die Bestimmungen Revue passieren lassen, die Melanchthon der Dialektik zwischen 1519 und 1559 gegeben hat, ergibt sich folgender umrissartiger Überblick: In der Dedikationsepistel an Bernardus Maurus, die seinem ersten rhetorischen Lehrbuch De rhetorica libri tres von 1519 vorangestellt ist, versteht Melanchthon unter Dialektik noch das kunstreiche präzise Auskundschaften und die korrekte argumentative Dis- und Exposition eines beliebigen zu besprechenden Gegenstands, auch als „disserendi materia“, Materie der Erörterung, bezeichnet. Dafür seien die Verfahren der Definition und Unterteilung unerlässlich (Melanchthon 1519, Aijr). Folgerichtig heißt es dann in der kurze Zeit darauf publizierten ersten Dialektik von 1520, Compendiaria Dialectices Ratio, dass die Dialektik das Handwerk (artificium) sei, einen
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beliebigen Gegenstand in angemessener Weise zu erörtern (disserere), indem sie das Wesen und die Teile des zu erörternden Gegenstands aufzeigt und ihn in so „gewissen Worten“ („certis verbis“) „vorschreibt“ („praescribit“), dass es unausbleiblich ist, den Sachverhalt einzusehen und das Wahre vom Falschen zu unterscheiden (Melanchthon 1520, 711). Den Zweck und Nutzen der Dialektik sieht Melanchthon darin, und hier folgt er weitgehend Rudolf Agricola, präzise und angemessen über einen beliebigen Gegenstand „reden zu können“ („posse dicere“). Dafür muss die disserendi materia in einer Anordnung exponiert werden, die zum Unterrichten/Informieren über den Gegenstand am besten geeignet ist („ad docendum accommodato“) (Melanchthon 1520, 712). Noch tritt also das docere hinter der sich in performativer Rede vollziehenden sachhaltigen Erörterung eines Themas, hinter das dicere und disserere, zurück. Noch handelt es sich bei der Dialektik um eine Form der Kommunikation, in der es um das klare und eindeutige Sprechen über einen in seiner Sachhaltigkeit im Vorhinein analysierten Gegenstand geht. Der didaktische Aspekt des „ad docendum“ wird durch die Anordnung des zu Sagenden zwar integriert, aber eben nur als ein Teilbereich, nämlich jener der argumentativen Ordnung und Disposition der Rede; er wird (noch) nicht zum schlechthinnigen Kern und Wesen der dialektischen Kunst selbst erklärt. Geht man nun wie Vasoli von einem synonymen Gebrauch von dicere und docere bei Melanchthon aus (Vasoli 1968a, 285, Anm. 10), riskiert man, genau diejenigen feinen Verschiebungen und Neuakzentuierungen in der melanchthonischen DialektikKonzeption zu übersehen, die mit der von Vasoli in den Blick genommenen zweiten Dialektik einsetzen. Die zweite Dialektik von 1528/29 vollzieht nämlich eine merkwürdige Wende, ohne dass bereits das docere in den Mittelpunkt der Bestimmung der ars dialectica gerückt oder das dicere und disserere aus dem Blick genommen würde. Sie fokussiert die eigentümlichen Verfahren der Dialektik, also Definition, Aufteilung und Schlussfolgerung gerade dadurch, dass sie zu Beginn des ersten Buches auf die bislang gebrauchten zentralen Momente des Redens und der Erörterung verzichtet: Dialektik ist nunmehr nur „die Kunst des Definierens, Teilens und Argumentierens“ (Melanchthon 1528/29, A4v). Im Zuge der philologisch-etymologischen Herleitung des Wortes „Dialektik“ von „dialegomai“, lateinisch „disserere“, wenige Abschnitte später definiert Melanchthon Dialektik zwar erneut als „Wissenschaft der Erörterung“ („disserendi scientia“), das heißt distinkt über einen beliebigen, zur Diskussion stehenden Gegenstand reden und dabei einem kolloquialem Frage-Antwort-Modus folgen zu können, und betont folglich wiederum die sprachliche Performanz der dialektischen Kunstfertigkeit, wie er dies schon in der Compendiaria Dialectices Ratio getan hatte. Dennoch bahnt sich eine tendenzielle Neuakzentuierung an, in deren Verlauf Melanchthon das Kerngeschäft der Dialektik herauszupräparieren und für sich sichtbar zu machen sucht. Es hat den Anschein, als beginne er zwischen den der Dialektik eigentümlichen Verfahren und der erörternden Rede eine theoretisch relevante Diskrepanz zu sehen, die es zu beheben galt. Offenbar musste, auch um die Dialektik deutlicher von der Rhetorik abzugrenzen, neben und vor der sprachlichen Performanz,
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dem Dicere und Disserere, eine grundlegende Besonderheit der Dialektik geltend gemacht werden, die ihr jene zentrale Stellung zusicherte, welche es erlaubte, ihre explizit in der zweiten Dialektik herausgestellte Verwandtschaft mit der Arithmetik zu unterstreichen. In der Tat heißt es dann erstmals ab der Wittenberger Neuauflage von 1536, hier zitiert nach der alle Überarbeitungsstufen abschließenden Fassung der zweiten Dialektik von 1542, den Dialectices Praeceptiones: „Die Dialektik ist die Kunst und der Weg des Unterrichtens, denn genau darin liegt die eigentliche Kraft der Dialektik.“ (Melanchthon 1542, 1: „Dialectica, est ars ac via docendi, haec enim est proprie vis Dialecticae.“) Prägnanter konnte Melanchthon das dem Menschen von Gott eingegebene Vermögen, mit Worten (und den darin zum Ausdruck kommenden Dingen) rechnen und sachhaltige Informationen „berechnen“, verbinden, anordnen und vermitteln zu können, kaum formulieren. Dies stets tätige Vermögen einer analytisch und synthetisch verfahrenden Denkordnung, das sich in den schon genannten drei Verfahrensweisen der Definition, Aufteilung/Aufzählung und Schlussfolgerung (durch colligere, Verknüpfen/Verbinden) entfaltet, ist demnach der Schlüssel, der dem Menschen vom Schöpfer zur Erschließung der Welt zur Hand gegeben worden ist und mit dem er sowohl Wissen zu schaffen und zu kommunizieren als auch Glaubenssätze sprachlich überzeugend zu formulieren vermag, ohne im letzteren Fall die Mysterien des Glaubens dem Richterspruch der Vernunft zu unterwerfen. Das docere hat dabei eine doppelte Richtung, eine reflexive und eine transitive: Einerseits bezieht es sich auf das Lernen (Sich-Unterrichten) im Sinne einer aktivproduktiven und/oder vermittelten (von jemandem lernen als ein Moment, das nicht rein passiv zu verstehen ist) Aneignung der Welt in ihren vielfältigen Zusammenhängen durch die Praxis des dialektischen Denkens selbst – durch die Ausübung ihrer Kraft (vis) –, andererseits auf das Lehren (jemanden unterrichten) im Sinne einer aktivproduktiven Vermittlung des Stoffes an andere durch Applikation der dialektischen Methode zum Zweck der sprachlichen Performanz der informativ-lehrenden, erkenntnisfördernden und Sachgehalte klärenden Erörterung und Unterredung. Beide Richtungen des docere gehören bei Melanchthon untrennbar zusammen. Da sie immer schon sprachlich verfasst sind, implizieren sie stets und immer soziale Interaktion. Denn Rede ist immer Zwischen-Rede, Sprache niemals einsam, sondern auf Gemeinschaft ausgelegt. Dass das docere die Aufmerksamkeit auf die kognitive Struktur des menschlichen Denkens lenkt, auf dessen Veranlagung, differenzierte Denkprozeduren zu vollziehen, die zur Erkenntnis eines Sachgehalts zu führen vermögen und das Wahre und Falsche, das Wahrscheinliche und Glaubwürdige zu bestimmen helfen, bedeutet demnach nicht, dass es nicht länger als Akt der sprachlichen Kommunikation nach außen begriffen werden kann. Ganz im Gegenteil: Die Semantik von docere impliziert immer auch den sozialen Akt des Unterrichtens. Die angeborenen kognitiven Fähigkeiten sind von deren Übung und Praxis im öffentlichen Sprachraum nicht zu trennen. Genau darin aber liegt der pragmatische Grundzug der melanchthonischen Dialektik.
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Wohl auch deswegen, mit Blick auf die im weitesten Sinne soziale Verpflichtung der dialektischen Kunst, leitet Melanchthon auch weiterhin das Wort „Dialektik“ von „dialegomai“ (disserere) ab und bezeichnet die Dialektik als „disserendi scientia“. Eine kaum merkliche, die überarbeitete Fassung von der alten Version der zweiten Dialektik unterscheidende Neuformulierung weist auf den einschneidenden Wandel in der Konzeption hin, den Melanchthon vollzogen hat: Hatte er 1528/29 noch die dialektischen Verfahren von der etymologischen Bestimmung der Dialektik als Wissenschaft von der Erörterung deduziert („Sunt itaque Dialectices officia definire, dividere & colligere seu ratiocinari“, Hervorh. d.Verf.), wird nun an gleicher Stelle auf das zentrale Moment des docere abgehoben, das subtil vom disserere und dicere abgegrenzt wird, ohne diese damit zwangsläufig aufzuheben: „Jedoch,“ schreibt Melanchthon hier, „ist es das eigentliche und hauptsächliche Geschäft der Dialektik zu unterrichten.“ (Melanchthon 1542, 3: „Est autem proprium & principale officium dialectices, docere. Id fit definiendo, dividendo, ratiocinando […].“, Hervorh. d.Vf.) In der zur Dialektik-Vorlesung, die Melanchthon von 1544 bis 1546, quasi auf dem Weg zur dritten Dialektik, den Erotemata Dialectices von 1547, gehalten hat, erhaltenen Vorlesungsmitschrift Rapsodiae in Dialecticam […] bestätigt sich die mit der Zuspitzung des dialektischen Kerngeschäfts auf das docere einhergehende fundamentalwissenschaftliche Wende, die Melanchthon in seiner Dialektik-Konzeption zwischen 1529 und 1542 vollzogen hat. Die Dialektik gilt ihm auch hier als diejenige „Kunst, die die Methode des richtigen Unterrichtens unterrichtet.“ (Melanchthon 1544/46, 35: „Quid est Dialectica? Est ars quae docet rationem recte docendi.“) Vermutlich schon mit Blick auf die Niederschrift der Erotemata Dialectices führt Melanchthon seinen Hörern nun aber zwei Jahre nach der endgültigen Revision seiner zweiten Dialektik den besonderen fundamentalwissenschaftlichen Rang der Dialektik als allgemeine Denkund Methodenlehre explizit vor Augen. Im Rückgriff auf die Bestimmung der Dialektik als „ars artium“ bei Petrus Hispanus bezeichnet er die dialektische Kunst und Methode des Unterrichtens nun als „Kunst der Künste, Wissenschaft der Wissenschaften, die den Weg zu den Prinzipien aller Methoden innehat“, sie sei, so heißt es weiter, das „Instrument aller anderen Künste“, denn sie unterrichte „den Weg des Unterrichtens und Lernens in Bezug auf welche Materie auch immer.“ (Melanchthon 1544/46, 35 – 36: „Quae est Definitio Petri Hispani? Dialectica est ars artium, scientia scientiarum […]. Ars Artium: Id est organum aliarum artium. Ad omnium Methodorum principia Via[m] habe[n]s: Id est, Docet Viam docendi & discendi, in qualibet materia.“) Das docere und discere präzisieren hier noch einmal terminologisch die oben erwähnte doppelte Richtung, die die dialektische Kraft des Unterrichtens entfaltet. In die Erotemata Dialectices, deren endgültige Revision freilich erst 1559 abgeschlossen ist, fließen schließlich die mit den Überarbeitungen der zweiten Dialektik vollzogenen Veränderungen des Dialektik-Konzepts ein, werden prägnant ausformuliert und transparent expliziert. Zu Petrus Hispanus’ Definition der Dialektik als ars artium (im Übrigen hier wortgetreu identisch mit den Ausführungen, wie sie in der Dialektik-Vorlesung gefunden werden) gesellt sich Alexander Aphrodisias’ Vergleich
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der Dialektik mit der Arithmetik, um ihre fundamentalwissenschaftliche, da themenund stoffunabhängige Methode herauszustellen (Melanchthon, CR 13, 515). Anders aber als in den ersten beiden Dialektiken hebt Melanchthon nun die theologische und erkenntnistheoretische Verankerung der dialektischen „unterredkunst vel unterrichtskunst“ hervor (Melanchthon, CR 13, 514), nennt mit der Anerkenntnis Gottes, mit der Erkenntnis der Tugend und der Verpflichtung zu ihr und mit der Betrachtung der Natur die gottgeschaffenen Zielbestimmungen des Menschen. Dessen Hauptzweck sei dann aber, seinesgleichen „über diese so großen Dinge zu unterrichten“ (Melanchthon, CR 13, 513: „de his tantis rebus docere homines“). Dass die allgemeinverständliche, von formallogischen Reduktionismen und sophistischen Klügeleien freie Unterrichtung der dann auch am allgemeinen Sprachgebrauch orientierten und teilhabenden dialektischen Kunst der Unterrichtung selbst, gerade in deren zweifacher Ausrichtung als Methode des Informierens und Sich-Informierens beziehungsweise, weniger modern gesprochen, als Methode des Lehrens und Lernens, eine der vornehmsten, göttlich induzierten Aufträge ist, versteht sich vor diesem Hintergrund von selbst.
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Drei Lehrbücher zur Rhetorik Philipp Melanchthons, die zwischen 1519 und 1610 zusammen 121 Auflagen erlebten, sind wichtige Beiträge zu Lehre und Theorie der Rhetorik im nordalpinen Europa des Zeitalters von Renaissance und Reformation (Green/Murphy 2006, 296 – 298; Claus 2014). Ihr ökonomischer Erfolg ist lediglich ein Hinweis auf die geistesgeschichtliche Bedeutung Melanchthons. Peter Mack (2011, 104) beschreibt die Jahre 1519 bis 1545 im Europa nördlich der Alpen in seiner kürzlich erschienenen Geschichte der Rhetorik als „das Zeitalter Melanchthons“, um die Bedeutsamkeit des Einflusses Melanchthons auf die freien Künste (artes liberales) zur Geltung zu bringen. Daniel Gross beschreibt Melanchthons Rhetorik in einer Studie zur frühen Entwicklung der Geisteswissenschaften als eine „architektonische Disziplin“, die Psychologie, Medizin und Pädagogik befruchtete (Gross 2000, 5), und auch Nicole Kuropka (2002, 15) beschreibt die Rhetorik mit Blick auf Melanchthons Einfluss auf Gesetzgebung und Gesellschaft seiner Zeit als Grundlagendisziplin. Wilhelm Dilthey erkennt Melanchthon als zentrale Gestalt der Philosophie an, und Hans-Georg Gadamer verortet Melanchthon an den Anfängen der Hermeneutik (Knape 1993, 1– 2). Die Ausmaße von Melanchthons Einfluss auf die unterschiedlichsten akademischen Disziplinen sind bisher nur in Ansätzen erforscht; es gilt indes als gewiss, dass seine Schriften zur Rhetorik einen wesentlichen Teil seines geistesgeschichtlichen Erbes ausmachen. Als eine der drei sprachlichen Disziplinen innerhalb des triviums (Grammatik, Dialektik und Rhetorik) und als deren wichtigste innerhalb der als Renaissance-Humanismus bekannten Bewegung war die Rhetorik ein durchgängiger Gegenstand der Schriften Melanchthons, behandelt in unterschiedlichsten Kontexten und aus verschiedenen Anlässen wie akademischen Deklamationen oder Vorworten und Kommentaren zu Neuausgaben antiker rhetorischer Werke (Berwald 1994, 100 – 142). Melanchthon wandte die Kunst der Rhetorik auf homiletische Werke an (SupplMel 5/2) und verfasste über hundert Stilübungen, die handschriftlich erhalten sind und einen eigenständigen Beitrag zu den rhetorischen Schulübungen darstellen (SupplMel 2/1). Zahlreiche Annotationen zu antiken Autoren illustrieren seine Theorie rhetorisch informierter Lektüre (Wels 2000, 265 – 270; Mack 2002, 29 – 52). Während alle diese Schriften zum Verständnis von Melanchthons Theorie und Praxis der Rhetorik beitragen, stellen seine drei Hauptschriften zur Rhetorik, die „Drei Bücher über die Rhetorik“ (De Rhetorica Libri Tres, 1519), „Rhetorischer Unterricht“ (Institutiones Rhetoricae, 1521) und die „Elemente der Rhetorik“ (Elementa Rhetorices, 1531, revidiert 1532 und 1539; Melanchthon 2001, 465 – 469), nach wie vor die wichtigsten Zeugen für seine Transformation der antiken Kunst dar.
* Übersetzung Tobias Jammerthal. DOI 10.1515/9783110335804-040
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Sie sollen daher im Folgenden einführend dargestellt und hinsichtlich ihrer Bedeutung gewürdigt werden. Obgleich lange als „Fassungen“ oder „Versionen“ eines einzigen Lehrbuches beschrieben, erkennen Historiker sie inzwischen als eigenständige Werke an, die jeweils einzigartige Umstände widerspiegeln. Sie fallen, wie für die Beschäftigung mit Melanchthons Leben und Werk bedeutsam ist, mit wichtigen Ereignissen zusammen: Die erste Schrift erscheint kurz nach seinem Umzug nach Wittenberg und besteht zum Teil aus Auszügen seiner Vorlesungen im Herbst 1518 über den Titusbrief. Die Rhetorik von 1521 folgt auf die Leipziger Disputation und die Exkommunikation Luthers, sie fällt zusammen mit der Abfassung der ersten Auflage der Loci communes und spiegelt Melanchthons exegetische Erfahrungen als baccalaureus biblicus wider. Die dritte Rhetorik erscheint kurz nach dem Reichstag von Augsburg, auf dem Melanchthon unermüdlich für die Einigung und Kompromisse in der Kirche gekämpft hatte. Jede dieser Schriften spiegelt die Umstände ihrer Abfassung wider, und jede hat ihre eigene Rezeptionsgeschichte. Im Folgenden sollen einige der jeweils spezifischen Charakteristika der drei Hauptschriften dargestellt werden, um die Notwendigkeit zu verdeutlichen, alle drei bei der Erforschung von Leben und Werk Melanchthons zu berücksichtigen.
1 Kontexte Um die Bedeutung der Rhetorik in Melanchthons Leben und Werk zu ermessen, ist es notwendig, die Stellung dieser Disziplin an den Universitäten des 16. Jahrhunderts zu betrachten. Die Rhetorik war in ganz Europa während der Renaissance im Zentrum akademischer Kontroversen über Wissen, Bedeutung und Autorität (Mack 2011; Monfasani 1988, 3.171– 235; Moss 2003, 165 – 180). Zu den bekannteren Erbstücken dieser Auseinandersetzungen gehören das humanistische Motto ad fontes und das reformatorische Motto sola scriptura, während der Anstieg der Lesefähigkeit und der Verfügbarkeit von Büchern durch die Erfindung der beweglichen Lettern zu den wichtigeren Umständen zählen. Am Ideal der eloquentia (Beredsamkeit), das für viele das Ziel von Kultur und Erziehung markierte, ausgerichtet, galt Rhetorik nicht nur als Zeichen gepflegter Sprache und Überredungskunst, sondern als Ausdruck der Zivilisation selbst. Rhetorische Übung und Fähigkeit wurden außerdem weithin mit moralischer Ertüchtigung und Exzellenz identifiziert. Das erste Jahrhundert des Buchdrucks sah hunderte Werke über Rhetorik, ein beredtes Zeugnis der zentralen kulturellen Stellung dieser Disziplin zu Lebzeiten Melanchthons.Vor der Darstellung der drei rhetorischen Hauptschriften Melanchthons sollen die Kontexte von Melanchthons Theorie der Rhetorik zur Sprache kommen: das universitäre Curriculum der artes liberales, der antiken Tradition und der RenaissanceHumanismus.
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1.1 Das Curriculum der artes liberales: ein Ort der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance Melanchthon erachtete die Rhetorik auf eine für das Mittelalter und die Renaissance übliche Weise als eine der sieben artes liberales. Als Erbe des mittelalterlichen Rhetorikstudiums im Modus der Briefstellerei (ars dictaminis) galt die Rhetorik auch in der Renaissance als eng mit der Kunst der Komposition verwandt. Ungeachtet von Versuchen, die antike Weise der Befassung mit Rhetorik als einer Kunst der gesprochenen Rede nachzuahmen, etwa durch Deklamationen bei akademischen Anlässen, blieb die Rhetorik der Renaissance größtenteils literarische Rhetorik.Wie von Berwald (1994, 8 – 36) eingehend erörtert, äußerte sich Melanchthon zwar häufig zur weiteren moralischen und sozialen Wichtigkeit der eloquentia, aber der universitäre Kontext scheint seine diesbezügliche Auffassung etwas eingeschränkt zu haben. Die pädagogische Orientierung der drei generell als Lehrbücher bezeichneten Hauptschriften fokussierte Melanchthons Blick auf die Rhetorik und ermöglichte gerade so einige seiner wichtigeren Veränderungen. Innerhalb der artes liberales erachtete Melanchthons die Rhetorik als unverzichtbare Ergänzung der Dialektik, und den akademischen Rhetorikunterricht als ein Korrektiv für viele Missbräuche und Exzesse, die er in der scholastischen Art des Lernens fand (Knape 1993, 5 – 10). Seine erste Rhetorik war folglich zunächst auch ein Versuch, elementare Anweisungen zur Dialektik innerhalb der Kunst der Rhetorik zu erteilen, mit freilich gemischtem Ergebnis: Einerseits erwiesen sich die dialektischen Teile in De Rhetorica als unzureichend und für den studentischen Gebrauch zu undeutlich, und Melanchthon fühlte sich genötigt, 1520 ein eigenes Elementarlehrbuch der Dialektik herauszugeben (MBW.T 1, 78). Andererseits grenzte er die beiden Schwesterdisziplinen der Dialektik und der Rhetorik nie hermetisch voneinander ab (Wels 2000, 192): Noch die Elementa Rhetorices von 1531 sind als Ergänzung seines Lehrbuchs der Dialektik von 1528 geschrieben.
1.2 Die klassisch-antike Tradition als Grundgerüst für neue Konzepte und Anwendungen der Rhetorik Die antike rhetorische Tradition war durch von Cicero geschriebene oder ihm zugeschriebene Werke durch das Mittelalter hindurch ungebrochen. Aber erst die Entdeckung von Ciceros Epistulae ad Familiares und des vollständigen Textes seines Dialogs De Oratore, der eine umfangreiche Darstellung der Rhetorik und ihrer Anwendung enthält, führten zum Aufblühen einer akademischen Disziplin, die zum reinen Schulfach herabgesunken war (Conley 1990, 111– 115). Auch Poggio Bracciolinis Entdeckung des vollständigen Textes von Quintilians Institutio Oratorica in der Klosterbibliothek von St. Gallen im Jahre 1416 trug zu diesem neuen Aufschwung der Rhetorik bei. Unter den anderen wiederentdeckten antiken Werken ragt Quintilians Schrift heraus, weil die Institutio Oratorica eine zusammenfassende Darstellung der formalen
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Ausbildung des Redners von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter bietet. Der ideale Redner, ein Beispiel an Charakter und Meister des gesprochenen Wortes, wurde das Ziel humanistischer Erziehung. Dies war der Ritterschlag der Rhetorik und verband ihre bescheidene Rolle als Schulfach mit den größeren politischen und kulturellen Ambitionen der Zeit. Melanchthon trug sehr viel zur klassischen Rhetoriktradition bei, als deren Teil sein Werk erachtet werden will. Die antiken Kategorien, überkommen vor allem durch lateinische Schriften – einschließlich der fünf Aufgabenbereiche des Redners (officia oratoris), der drei antiken Gattungen der Redegegenstände (genera causarum), und der verschiedenen Teile einer Rede (partes orationis) – dienen seiner gesamten Lehrtätigkeit als Grundlage. Innerhalb dieses antiken Schemas indes bewegt er sich frei, und manchmal verändert er die antike Ordnung ausdrücklich. Karl Bullemer schreibt in seiner detaillierten Untersuchung der Quellen Melanchthons: „In bescheidener, nüchtern-sachlicher Weise spricht er auch über bedeutsame, bewusste Abweichungen von der antiken Überlieferung.“ (Bullemer 1902, 15) Viele seiner Modifikationen scheinen auf Erfordernisse des Lehrbetriebs und insbesondere der jungen Studenten der Rhetorik zu reagieren. Dabei ist zu beachten, dass Melanchthon keines seiner rhetorischen Werke verfasste, um in Konkurrenz zu einer umfassenden Behandlung des Gegenstandes zu treten oder eine solche zu ersetzen. Er beschreibt seine drei Hauptschriften als grundlegende Lehrbücher, die zu einem oder mehreren Entwürfen eines antiken oder gegenwärtigen Autors in antiker Tradition hinführen sollten. Dass sie in exakt dieser Weise verwendet wurden, zeigt sich an ihrem den antiken Werken vergleichbaren Schicksal (Mack 2011, 30 – 32).
1.3 Der Renaissance-Humanismus als treibende Kraft hinter Melanchthons reformerischer Auffassung der Rhetorik Melanchthon war ein Nutznießer der frühen Einfallstraßen des Renaissance-Humanismus nach Süddeutschland, sowohl hinsichtlich seiner Erziehung als auch hinsichtlich der ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen (Schneider 1990, 13 – 50). Durch Johannes Reuchlin, der die Studien des jungen Mannes energisch förderte, fand sich Melanchthon in familiärer Verbindung zu einem der prominentesten Vertreter des Humanismus, durch Lehrer wie Georg Simler in Pforzheim sowie Pallas Spangel und Jakob Wimpfeling in Heidelberg hatte er Zugang zur Beschäftigung mit klassischem Latein als Vorbild eleganter Prosa und Dichtung. In Thomas Anshelm, der ihn in seiner Tübinger Druckerei als Korrektor beschäftigte, fand er ein Beispiel für die materielle und kommerzielle Seite des Humanismus. Melanchthons praefatio und prolegomena zu Anshelms Terenz-Ausgabe von 1516 sind typisch humanistische Texte (MBW.T 1, 7; CR 19, 681– 692). Melanchthon übernahm verschiedene humanistische Auffassungen der Rhetorik: Zunächst betrachtete er Rhetorik als ein Gegengift zum exzessiven Studium der Dialektik bei den Scholastikern. Sie fördere lebensnahe Rede, da sie im Gegensatz zu den
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Abstraktionen der Scholastiker Situationen des tatsächlichen Lebens behandle. Zweitens sah Melanchthon die Rhetorik als eine direkte Versorgungsleitung mit antiken Ideen und Erziehungsmethoden, und in seinen pädagogischen Schriften finden sich viele Bezüge zu „originalen“ oder „antiken“ Zugangsweisen. Drittens nahm Melanchthon eine starke, wenn nicht gar unvermeidbare Verbindung zwischen moralischem und rhetorischem Urteil an, wie er besonders in seiner Inanspruchnahme der Rhetorik zur Erläuterung antiker Literatur betont. Als er 1519 seine erste Rhetorik verfasste, war Melanchthon schließlich mit den Werken mehrerer humanistischer Heroen vertraut. Als wichtigste moderne Autoritäten sah er Rudolf Agricola, Erasmus von Rotterdam und Georgius Trapezuntius. Der Einfluss des Erasmus überragte den der beiden anderen, und während Melanchthon die Theologie des Erasmus vor allem nach dessen Streit mit Luther über den freien Willen nicht sonderlich schätzte, achtete er die Schriften des Niederländers über Erziehung und Rhetorik stets hoch. Das neuartige und ambitionierte Werk De Inventione Dialectica des Agricola, zuerst 1515 veröffentlicht, nimmt einen wichtigen Ort in der Beschäftigung mit Melanchthons Rhetorik ein, da es wesentlich zu seiner Auffassung von der Zusammengehörigkeit von Rhetorik und Dialektik beitrug. Die Rhetoricorum Libri Quinque des Trapezuntius preist Melanchthon als ersten zusammenhängenden modernen Entwurf nach antikem Vorbild. Die Bedeutung des Humanismus für Melanchthons Auffassung von der Rhetorik kann nicht hoch genug erachtet werden: Seit seinen frühesten Deklamationen bezieht er mit den Humanisten Stellung gegen die Scholastiker, und in Verbindung mit Luthers Theologie verstärkte sich diese Tendenz, wie sein Angriff auf die Scholastik in den Loci communes von 1521 zeigt. Die humanistische Reform der artes liberales gab Melanchthon die Begrifflichkeiten in die Hand, mit denen er Beredsamkeit als wesentlichen Bestandteil menschlicher Wohlfahrt und Rhetorik als grundlegende und für den Fortschritt in allen Künsten und Wissenschaften notwendige Disziplin beschreiben konnte.
2 Texte Die drei rhetorischen Hauptschriften Melanchthons werden bisweilen als drei „Versionen“, „Fassungen“ oder „Ausgaben“ eines einzigen rhetorischen Lehrbuches beschrieben, was aber die einzigartigen Umstände und den einzigartigen Charakter jeder einzelnen Schrift nicht angemessen zur Geltung bringt. Die Unterschiede zwischen den Schriften sind vielmehr zu betonen, weil De Rhetorica und die Institutiones Rhetoricae nicht in einer modernen Edition vorliegen. Bibliographien und Kataloge beschreiben sie trotz substanzieller Unterschiede als frühere Fassungen der Elementa Rhetorices. Ralph Keen (1988, 50 – 54) subsumiert diese drei Schriften unter Nr. 76, Elementa Rhetorices (CR 13, 413 – 506). Lawrence Green und James Murphy haben in ihrem neueren bibliographischen Katalog (2006, 296 – 298) die Auffassung vertreten, dass die Elementa Rhetorices „in aufeinanderfolgenden Editionen unter verschiedenen
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Titeln erschienen sind“ (ebd. 296). Karl Bretschneider beschreibt die Elementa Rhetorices in seiner Ausgabe für das Corpus Reformatorum von 1846 als dritte „Ausgabe“ (editio) von De Rhetorica Libri Tres (CR 13, 413 – 414). Karl Bullemer erschwert die Unterscheidung der drei Schriften noch mehr, wenn er in einer wichtigen Untersuchung zu den Quellen Melanchthons (1902, 13) schreibt: „Ein Lehrbuch der Rhetorik von Melanchthon ist in 3 verschiedenen Gestalten verbreitet worden.“ Diese Beschreibung entsprach den bibliographischen Standards um die Wende zum 20. Jahrhundert. Bis Joachim Knape 1993 (24– 54) eine Übersicht und vergleichende Untersuchung der drei Hauptschriften veröffentlichte (die mit einem Faksimile-Druck der CR-Ausgabe erschien), erweckte die CR-Ausgabe in der Tat den Eindruck, dass die dritte Rhetorik die früheren beiden revidierte. Nach den gegenwärtigen bibliographischen Standards sind die drei Schriften verschiedene Werke über einen gemeinsamen Gegenstand, was weder bedeutet, dass jede Schrift eine völlig andere Sicht der Rhetorik einnimmt, noch, dass es kein allen drei Schriften gemeinsames Material gebe. Dennoch gilt es, die jeweiligen Anlässe, Umstände und Rezeptionsgeschichten separat wahrzunehmen. Gemeinsam spiegeln die drei rhetorischen Hauptschriften die verschiedenen Facetten einer Disziplin wider, die Melanchthon schon vor seiner Ankunft in Wittenberg 1518 als für eine Reform des Bildungswesens im Morgengrauen von Humanismus und religiösen Reformen zentral erachtete.
2.1 De Rhetorica Libri Tres (1519) De Rhetorica gilt als Melanchthons „erste Rhetorik“ (Melanchthon 2001, 465; Kuropka 2002, 13; vgl. auch Meerhoff 2001, 16). Knape (1993, 25 – 27) spricht von ihr als der „Tübinger Rhetorik“, eine hilfreiche Erinnerung daran, dass die Schrift Melanchthons Lehrerfahrung als Magister in Tübingen 1514– 1518 widerspiegelt. Vieles von De Rhetorica mag noch in Tübingen entstanden sein, einige Teile indes beziehen sich schon auf seine noch jungen Erfahrungen in Wittenberg. In einem Abschnitt über die Paraphrase („De Enarratorio Genere“) bezieht sich Melanchthon auf seine im Herbst 1518 in Wittenberg gehaltene Vorlesung über den Titusbrief (De Rhetorica Libri Tres, Basel 1519, 30). Dieser Abschnitt und die ihm folgenden drei Teile über die Auslegung und Erklärung von Autoren, über die Umstände und über die allgemeinen Gesichtspunkte (loci communes) können als Ergänzungen zu einem bereits vorhandenen Text interpretiert werden. De Rhetorica ist ein substantiell von den beiden späteren Schriften unterschiedenes Werk. Carl Joachim Classen (2003, 282) bemerkt in seiner Untersuchung ihrer Bedeutung zu ihrem Zweck: „Er [Melanchthon, d.Vf.] will nicht einfach ein rhetorisches Handbuch schreiben, er will Mißstände beseitigen und die rhetorische Ausbildung von Grund auf reformieren.“ Kees Meerhoff (2001, 65) hält De Rhetorica für Melanchthons wichtigste Schrift zur Rhetorik, der Text sei „wesentlich zum Verständnis des rhetorischen Denkens Melanchthons.“ De Rhetorica hat insbesondere die
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Erforschung von Melanchthons frühen Bibelkommentaren und Annotationen befruchtet (Wengert 1987, 167– 212; Schneider 1990, 65 – 95). Mit einem Brief vom Januar 1519 widmet Melanchthon das Werk seinem früheren Schüler Bernardus Maurus (MBW.T 1, 40; Schneider 1990, 67– 69). Er blickt auf die Antike zurück, in der Studenten von der Beschäftigung mit der Grammatik sogleich in die Obhut der Rhetoriker übergingen, welche sie in allen Feldern der Geisteswissenschaften (studia humanitatis) unterwiesen und sie über alle Angelegenheiten zu reden und zu urteilen gelehrt hätten. Dann aber hätten die Dialektiker die Stelle der Rhetoriker eingenommen und die Studenten mit verwirrter Dialektik überschüttet. Der Widmungsbrief formuliert sodann das in De Rhetorica entfaltete Grundargument: dass die Studien überall dort blühten, wo Rhetorik und Dialektik die gleiche Aufmerksamkeit zuteilwerde, und wo die praktische Übung (usus) einen wichtigen Bestandteil der Studien bildet. Die auffällige Aufmerksamkeit für Schulübungen in der ersten Hälfte von De Rhetorica spiegelt den elementaren Charakter des Buches und seinen offensichtlichen Zweck wider: die antike Praxis des direkten Übergangs von der Grammatik zur Rhetorik nachzuahmen (SupplMel 2/1). In der Renaissance stellen solche Schulübungen einen wichtigen Teil des Rhetorikunterrichts dar (Kraus 2005). De Rhetorica behandelt in drei Büchern drei der fünf üblichen Aufgabenbereiche des Redners: Stoffauffindung (inventio), Gliederung (dispositio) und rednerischen Ausdruck (elocutio). Wie in allen drei rhetorischen Hauptschriften lässt Melanchthon das Memorieren (memoria) und den Vortrag (pronuntiatio) aus, um einer eingehenderen Beschäftigung mit einer umfassenden Darstellung der Rhetorik wie etwa der (Cicero zugeschriebenen) Rhetorica ad Herennium nicht vorzugreifen. Das erste Buch über die inventio ist das bei weitem längste und leidet unter Abschweifungen und Wiederholungen (Knape 1993, 25, 27). Melanchthon unterteilt seine Behandlung der inventio originell in die drei Redegattungen, beginnend mit der Prunkrede (genus demonstrativum), um mit Beratungsrede (genus deliberativum) und Gerichtsrede (genus iudiciale) fortzufahren. Eine ähnliche Unterteilung findet sich in allen drei Lehrbüchern. In der ersten Rhetorik bezieht sich Melanchthon auf die antiken Gattungen und führt neue Gattungen der Rede ein, um die Anforderungen von Hörsaal und Kanzel zu berücksichtigen. In die Prunkrede schließt er die Lehrrede (genus διδακτικόν) ein, bei der er zwischen der Behandlung eines einfachen und eines komplexen Themas unterscheidet. Diese beiden Themata stellen Melanchthons Versuch dar, mit der Definition (eines Themas) und der Beweisführung (im Rahmen einer These) im Modus von bei Humanisten beliebten literarischen Formen und Vorgehensweisen zwei Elemente der Dialektik einzuführen. Indem er Dialektik und Rhetorik anhand literarischer Beispiele unterrichtet, schließt sich Melanchthon der Methode von Agricolas De Inventione Dialectica an. Unter dem Titel der „Auslegung“, einem Anhang zur Lehrrede über ein einfaches Thema, sammelt Melanchthon andere grundlegende Übungen, einschließlich der Paraphrase (enarratorium genus, διήγησιν) und verschiedener anderer, die er in historische, überzeugende und allegorische Arten unterteilt (Knape 1993, 27– 28;
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Schneider 1990, 81– 82). So ist die Lehrrede über das einfache Thema bei weitem nicht auf Definition und Beschreibung eines Begriffs beschränkt, sondern schließt eine Vielfalt literarischer Formen einschließlich Aufforderung, Tadelrede (obiurgatio), Klagerede (quaerimonia), Historien , Fabeln, Apologien, Chrien, Sentenzen und Rätsel ein (De Rhetorica, 31– 41). Diese Anweisungen für die Auslegung mögen den Grundriss der Sammlung von Themata für Prosa und Poesie von Melanchthons Freund Joachim Camerarius in seinem Lehrbuch Elementa Rhetoricae (Basel 1541) gebildet haben. In dieser Behandlung des genus demonstrativum zeigt sich Melanchthons Versuch, nicht nur dialektische Unterweisung, sondern auch die abwechslungsreichen und erfinderischen Übungen, wie sie Erasmus im zweiten Buch seiner Schrift De Copia gefordert hatte, in die antiken Formen einzureihen. Im Brief an Bernardus Maurus hatte Melanchthon diese Schrift zusammen mit den Adagia des Erasmus als „organon der Dialektik“ (und damit als literarische Alternative zum Aristoteles der Akademien und Universitäten) bezeichnet (De Rhetorica, 7). De Rhetorica versucht somit, einige der Reformen, die Melanchthon in seiner Antrittsrede gefordert hatte, umzusetzen, und sollte in deren Kontext gelesen werden (MSA 3, 29 – 42).
2.2 Institutiones Rhetoricae (1521) Die zweite Hauptschrift ist eine Veröffentlichung studentischer Mitschriften aus Melanchthons Rhetorikvorlesung von 1521, der in seiner Widmung des Werks an Johannes Agricola seine widerstrebende Zustimmung zur Veröffentlichung seiner „kleinen Anweisungen zur Rhetorik“ (praeceptiunculae rhetoricae) gibt, die immerhin „deutlicher“ seien als ihre Vorgängerinnen (MBW.T 1, 161). Obgleich sie weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat als die beiden anderen Hauptschriften, gibt es zahlreiche Hinweise auf die Wichtigkeit dieser Schrift. Knape (1993, 30) schreibt: „Schon in diesem Lehrbuch von 1521 tritt also ein konzeptioneller Umschlag deutlich zutage.“ Sie enthält eine innovative Lehre der elocutio (Weaver 2011) und scheint Handbücher des 16. Jahrhunderts über Figuren und Tropen beeinflusst zu haben (Mack 2011, 216 – 217). Das Werk beginnt unvermittelt mit einer Unterscheidung der Teile der Rhetorik: inventio, Urteilsvermögen (iudicium), Stoffverteilung und Stil. Wie in seiner ersten Rhetorik vermeidet Melanchthon die Behandlung von memoria und pronuntiatio. Das iudicium, üblicherweise in den Aufgabenbereich der Dialektik fallend, ist hier hinzugekommen, um weitere Vergleiche und Unterscheidungen zwischen den Schwesterdisziplinen der Rhetorik und der Dialektik zu ermöglichen. Dies ist eine bedeutsame Erweiterung der in De Rhetorica behandelten drei antiken Aufgaben. Sie nimmt den kritisch-analytischen Gebrauch der Rhetorik vorweg, der die Elementa Rhetorices von 1531 charakterisieren wird, und ist so ein erster Hinweis darauf, dass Melanchthon die Rhetorik von ihrer ursprünglichen Anwendungswese als produktive Kunst hin zu einer Kunst der Rezeption oder zu einer Hermeneutik verändert (Bullemer 1902, 23 – 24). Eine der Folgen aus Melanchthons Aufmerksamkeit für das rhetorische Urteilsvermögen ist eine erheblich stärkere Emphase auf die elocutio: Mehr als die Hälfte
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dieser Schrift ist der elocutio gewidmet, die noch in De Rhetorica relativ kleinen Raum eingenommen hatte, und innerhalb des Abschnitts über die elocutio ist wiederum den rhetorischen Figuren breiter Raum gewidmet. An dieser Stelle führt Melanchthon eine neue dreigliedrige Klassifizierung der rhetorischen Figuren ein, die sich im 16. Jahrhundert weitgehend durchsetzen wird (Weaver 2011, 400 – 402). Die Aufgabe des iudicium wird daneben bei der Behandlung der Lehrrede erörtert, die, nunmehr genus dialecticum genannt, nicht mehr als eine Untergliederung des genus demonstrativum, sondern eine Redegattung eigenen Charakters neben den drei antiken Gattungen ist. Diese neue Einteilung mag als ein Versuch Melanchthons erscheinen, die Schulung des Urteilsvermögens innerhalb der Rhetorik (und nicht nur wie üblich innerhalb der Dialektik) zu formalisieren. Die Forschung hat für Melanchthons frühe exegetische Werke vor allem die erste Rhetorik als Beispiel seiner rhetorischen Theorie herangezogen. Dennoch gibt es gute Gründe, die Institutiones Rhetoricae stärker zu beachten. Theorie und Praxis befruchten sich gegenseitig, und die Annahme liegt nahe, dass manche der Veränderungen in Melanchthons rhetorischer Theorie aus seiner Lehrerfahrung als baccalaureus biblicus herkommen. Seine Betonung des Urteilsvermögens und der rhetorischen Figuren stimmt überein mit verschiedenen Kritikpunkten, die er in den aus seiner Römerbriefvorlesung entstandenen Loci communes von 1521 gegen scholastische Theologen erhebt (Weaver 2014, vgl. bes. 37– 47). Während er also in den Loci communes gegen die Unkenntnis der Theologen in Sachen Komposition und rhetorischen Figuren der Schrift polemisiert, lehrt er in der Rhetorikvorlesung eine bessere Methode der Interpretation. Der Eindruck dieser Vorlesung war unmittelbar und andauernd. Die Institutiones Rhetoricae wurden allein 1521 in vier Städten gedruckt und erlebten weitere 26 Auflagen. In England gewannen sie als Hauptquelle der Arte or Crafte of Rhetoricae des Leonard Cox (1532, hg. von Carpenter 1889), einer der frühesten volkssprachlichen Schriften zur Rhetorik in England, erheblichen Einfluss. Sie boten die Grundlage einer Kurzfassung, die hinsichtlich ihrer Beliebtheit im 16. Jahrhundert mit den späteren Elementa Rhetorices wetteiferte (Weaver 2011, 396 – 397). Mindestens ein Zeitgenosse Melanchthons bevorzugte Teile der Institutiones Rhetoricae vor den späteren Elementa Rhetorices (ebd. 398).
2.3 Elementorum Rhetorices Libri Duo (1531) [Elementa Rhetorices] Die Elementa Rhetorices sind die dritte und bekannteste der drei Hauptschriften, wirtschaftlich noch erfolgreicher als ihre beiden Vorgängerinnen, die sie vom Buchmarkt verdrängten (Melanchthon 2001; Wels 2000, 189 – 244; Mack 2011, 112– 120; Knape 1993, 36 – 40). Die Elementa sind explizit als Ergänzung zu einem Lehrbuch der Dialektik verfasst. Im Widmungsbrief an Albrecht und Johannes Reiffenstein verweist Melanchthon auf seine De Dialectica Libri Quartuor (1528 Wilhelm, dem Vater der
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beiden, gewidmet) und dediziert ihnen die neue Rhetorik, „damit ihr diese beiden Schwesterkünste zusammen binden könnt“ (Melanchthon 2001, 10). Zu Beginn des Werks betont er erneut die Wechselbeziehungen zwischen Dialektik und Rhetorik und ihre jeweilige Rolle (Knape 1993, 9 – 10). Indem er expliziert, was frühere Schriften implizierten, schreibt Melanchthon weiter, dass seine Absicht bei der Abfassung des Werks gewesen sei, Albrecht und Johannes für die Lektüre der besten Bücher vorzubereiten (Melanchthon 2001, 18). Die Rhetorik, erläutert er, sei ursprünglich „nicht, um Redner zu machen, sondern, um Heranwachsenden zu helfen, die Reden herausragender Redner zu lesen, und schwierige Kontroversen zu beurteilen“ (ebd. 20) unterrichtet worden. Somit erscheint die Pflicht zur Beurteilung, in den Institutiones Rhetoricae als eine der Pflichten des Redners aufgeführt, hier als das telos des rhetorischen Unterrichtes. Diese Ausrichtung des „elementaren“ Lehrbuchs (Melanchthon beschreibt es als Vorbedingung für die Beschäftigung mit fortgeschrittener Rhetorik) verschafft den Elementa Rhetorices einen einzigartigen Platz in der Geschichte der Rhetorik. Gadamer sah die Elementa Rhetorices als das früheste Werk der rhetorischen Hermeneutik, und Kathy Eden (1997, 79) beschrieb sie treffend als eine „Kunst der Rede für den Leser.“ Der doppelte Nutzen der Rhetorik für Urteilsvermögen und Sprache scheint in diesem Buch überall durch. Die Topiken, auf welche Melanchthon einen Großteil seiner Lehre der inventio aufbaut, dienen als Mittel nicht nur zur Auffindung, sondern auch zur Einschätzung von Texten und Einteilung von Reden in Teile (Wels 2000, 194– 200). Selbst die Figuren der dritten Gruppe werden nach der Topik, der sie entstammen, eingeordnet, was die operative, heuristische Funktion der rhetorischen Figuren im Unterschied zu ihrem formalen Gesichtspunkt betont. In ihrer Kapazität, Rede zu beschreiben und einzuschätzen, erscheinen die Topiken lediglich der Statuslehre untergeordnet, einer antiken Methode der Analytik. Die Loci communes, welche sowohl im ersten wie im zweiten Buch behandelt werden, sind ein Mittel zur Identifikation der Texten zugrundeliegenden syllogistischen Struktur. In De Rhetorica waren sie als eine Weise des Schreibens behandelt worden, hier werden sie ausführlich als Strategien der Beweisführung und Amplifikation erörtert. Im Abschnitt über die dispositio beschreibt Melanchthon eine auf Argumenten basierende Textanalyse anstelle einer strikt formalen Analyse in den üblichen Redeteilen. In einem Abschnitt über die Allegorie, einer der sieben Tropen, schweift er zur Schriftauslegung ab (gegen die allegorische Schriftauslegung nach dem vierfachen Schriftsinn beschreibt Melanchthon die Auslegung der Schrift als Rede im Sinne der Redekunst). In abschließenden Abschnitten zu Nachahmung (imitatio) und den drei Stilgattungen wiederholt er die beiden notwendigen Tätigkeiten zur Ausbildung der eigenen Eloquenz: Kritische Lektüre und Nachahmung von Reden. Die Elementa Rhetorices spiegeln Melanchthons Erfahrungen aus mehr als einem Jahrzehnt religiöser Spaltung wider. Wahrscheinlich reagieren sie insbesondere auf seine jüngsten Erfahrungen auf dem Reichstag zu Augsburg, wo er als unermüdlicher Agent für Einheit und Kompromiss arbeitete, den er aber mit realistischeren Vorstellungen verließ. Der Brief an die Brüder Reiffenstein, und vielleicht ein Großteil des
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Lehrbuchs selbst, spiegelt diese realistischere Perspektive wider: Kontroverse ist keine vorübergehende Anomalie, sondern ein dauerhafter Charakterzug der intellektuellen Landschaft. Für Melanchthon war der Nutzen der artes liberales in dieser Landschaft klar: Alle sprachlichen Künste, einschließlich der Rhetorik, müssten mit einbezogen werden, um Kontroversliteratur zu klaren Darstellungen der jeweiligen Argumente und Schlussfolgerungen hin zu verändern. In den Elementa Rhetorices verwandelte Melanchthon die Rhetorik nicht vollständig in eine Kunst der Analyse und der Beurteilung, sonst hätte das Buch seine große Beliebtheit nicht erlangen können. Es diente unstrittig dem viel allgemeineren Bedürfnis, rhetorische Konzepte in wohl organisierter Form mit angemessenen Beispielen einzuführen. Die Betonung liegt indes deutlich, und ganz anders als in der ersten Rhetorik mit ihrem Schwerpunkt auf Komposition und Lehre (auf Kanzel und Katheder), auf Kontroverse und der Beurteilung verschriftlichter Disputationen: Lesen und Schreiben, Beurteilen und Nachahmen sollten Hand in Hand gehen.
3 Zusammenfassung Die drei rhetorischen Hauptschriften sind unentbehrliche Dokumente zum Verständnis des philosophischen und pädagogischen Denkens des Praeceptor Germaniae. In ihrer Beziehung zu wichtigen Stationen seines Lebenswegs – dem Gang nach Wittenberg, dem schicksalhaften Jahr 1521 und dem Reichstag zu Augsburg – sind sie wichtige Dokumente für seine Biographie und für die Geschichte lutherischer Theologie. Zusammen genommen sind sie Hinweis sowohl für Kontinuität wie für Wandel seiner pädagogischen Philosophie. Im Vergleich mit antiken und humanistischen Texten zur Rhetorik illustrieren sie die durch die für ihn charakteristische Bescheidenheit verdunkelte Originalität des Denkens Melanchthons und seinen Ruf als Vermittler der Gedanken anderer. Um ihrer einzigartigen Beliebtheit auf einem Markt von hunderten von Lehrbüchern willen schließlich stellen sie ein grundlegendes Mittel zur Untersuchung seines Einflusses auf die weitere Kultur Europas nördlich der Alpen im 16. Jahrhundert dar.
Quellen Agricola, Rudolf. 1992. De Inventione Dialectica Libri Tres, hg. u. übers. v. Lothar Mundt. Tübingen. Cox, Leonard. (1532) 1889. The Arte or Crafte of Rhethoryke, hg. v. Frederic Ives Carpenter. Chicago. Erasmus, Desiderius. 1988. De Copia Verborum ac Rerum. ASD I-6, hg. v. Betty I. Knott. Camerarius, Joachim. 1541. Elementa Rhetoricae. Basel. Melanchthon, Philip. 1519. De Rethorica Libri Tres. Basel. Melanchthon, Philip. 1521. Institutiones Rhetoricae. Wittenberg. Melanchthon, Philipp. 2001. Elementa rhetorices. Grundbegriffe der Rhetorik. Bibliothek seltener Texte 7, hg. u. übers. v. Volkhard Wels. Berlin.
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Grammatik In seiner Tübinger Rede von 1517 Über die Freien Künste (De artibus liberalibus) spricht Philipp Мelanchthon über die Notwendigkeit der Erlernung der Grammatik für die Kenntnis und den Gebrauch der Sprachen: „Die Grammatik ist die erste [Wissenschaft, d.Vf.], man muss sie wie das Alphabet kennen. Man braucht gar nicht weiter zu beweisen, weil diese Behauptung so selbstverständlich ist. (Grammatica prima, cui quoniam elementa litterarum debemus, nulla ex parte non est necessaria: quid enim attinet longius immorari palam concessae rei).“ (Melanchthon 1517, 8; vgl. Hartfelder 1889, 175) Ende August 1518 nach seiner Ankunft in Wittenberg, um den GriechischLehrstuhl zu besetzen, hält Melanchthon die Antrittsvorlesung über Fragen der Studienreform Über die Verbesserung der Studien der Jugend (De corrigendis adolescentiae studiis). Er macht sich hier, seine schon in Tübingen formulierten Ideen aufgreifend, erneut Gedanken über die Notwendigkeit der Sprachenerlernung: „Mit Latein zusammen muß man gleichzeitig Griechisch lernen, was aber leicht zu bewerkstelligen ist. Widmet doch einige Stunden von der Freizeit, die euch das Studium läßt, dem Griechischen!“ (Melanchthon 1997, 60) In humanistischer Manier geht er davon aus, dass es gelte, an die alten antiken Autoren anzuknüpfen und damit zu den eigentlichen Quellen alles Wissens und aller Gelehrsamkeit zurückzukehren. Dafür ist es natürlich in erster Linie vonnöten, die alten Sprachen in ihrer Reinheit zu lernen (Rupp 1997, 106).
1 Griechische Grammatik Melanchthon hat einen Großteil seiner wissenschaftlichen Arbeit der Erarbeitung von Lehrbüchern gewidmet. Die Reihe der von Melanchthon verfassten Lehrbücher beginnt 1518 mit den Anleitungen zur griechischen Grammatik (Institutiones graecae Grammaticae [Melanchthon 1518]; ab der zweiten Auflage von 1520 bekannt als Integrae Graecae Grammaticae Institutiones [Melanchthon 1520]). Melanchthons Werk war nicht die erste griechische Grammatik, die nach dem sogenannten Wiederaufleben der klassischen Altertumswissenschaft auf deutschem Boden erschien.Vor seinem Lehrbuch erschienen: – Elementale Introductorium in Ideoma Graecanicu[m] von Wolfgang Schenk (1501), – Orthographia von Nikolaus Marschalk (auch 1501), – die griechische Sprachlehre von Georg Simler 1512, erschienen in Tübingen, – ein Enchiridion, erschienen 1514 in Straßburg bei Schürer, – ein Büchlein von Richard Crocus, erschienen 1516 unter anderem in Leipzig. (Paulsen 1885, 43)
DOI 10.1515/9783110335804-041
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Aus den Zitaten oder Verweisen auf andere Grammatiker, die Melanchthon in seinem Werk anbringt, sieht man, dass Melanchthons griechische Grammatik auf antike Autoren wie Apollonius Dyscolus (Melanchthon 1518, lv), auf Theodorus Gaza (Melanchthon 1518, diir) sowie auf weitere griechische Grammatiker der Renaissance wie Manuel Chrysoloras (Melanchthon 1520, 170) und Guarinus Veronensis (Melanchthon 1520, 118; Melanchthon 1518, liiiv) stützte. Die mittelalterliche byzantinische Grammatik stellte für Melanchthon eine weniger wichtige Quelle dar (Förstel 1997, 47). Sie ist in seinem Werk in der Person des Georgius Choeroboscus (Melanchthon 1518, cr) und des Manuel Moschopulos (Melanchthon 1518, or; cv; ov), der um 1300 in Konstantinopel wirkte, vertreten. Melanchthons als Schulbuch aufgefasste griechische Grammatik ist in lateinischer Sprache geschrieben, das erhöhte die Benutzerfreundlichkeit gegenüber den griechisch geschriebenen Grammatiken des 15. Jahrhunderts. In einem wichtigen Punkt weicht Melanchthon allerdings von der griechischen Tradition ab: er bringt häufig Vergleiche mit der lateinischen Sprache an, zum Beispiel bei der Betonung der Mehrsilber: „Der Grieche hat also seine, der Lateiner eine andere Art der Betonung: Die Entscheidung des Lateiners geht von der vorletzten Silbe aus; denn so sagen ihre Grammatiker: Ist die Vorletzte lang, ist der Akzent auf derselben (Ergo est alia toni graeci, alia latini ratio. Iudicium latini est è[sic! d.Vf.] penultima, sic enim illorum grammatici, penultima longa accentus est in eadem).“ (Melanchthon 1518, biiv) Oder er betrachtet bei der Deklination auch griechische Endungen, also Fremdwörter, im Lateinischen (Melanchthon, 1518 diiiiv; Pohlke 1997, 53). Über die Bedeutung des Vergleichens mit dem Lateinischen schreibt er schon in der Vorrede: „Man kann die lateinische Sprache ohne Griechisch vollständig nicht kennen. Die griechische Sprache bietet viel Schönes, wenn Latein mit jenem Reichtum geschmückt wird. (Et sciri latina sine graecis nequeunt prorsum, et graeca splendoris capiunt plurimum, si romanis opibus adornes).“ (Melanchthon 1518, aiir) Diese Eigenschaft hat er mit den anderen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auf Lateinisch geschriebenen Grammatiken des Griechischen gemeinsam. Das Lateinische nimmt in Melanchthons griechischer Grammatik eine viel bedeutendere Stellung ein als in den anderen vergleichbaren Werken seiner Zeit (Förstel 1997, 50, 51). Die Parallelen zum Deutschen zieht er in der Ausgabe 1518 nicht, er weist auf die deutsche Sprache oder auf Unterschiede zu ihr erst in seinen späteren Ausgaben hin, wie zum Beispiel bei der Erläuterung des Artikels, den das Lateinische nicht kennt: „Die deutsche Sprache hat den Artikel, und man kann die Bedeutung des griechischen Artikels nur aus dem deutschen Idiom genau verstehen (Germanicus sermo habet articulum, nec Graeci articuli vim exacte cognoveris, nisi es Germanico idiomate).“ (Melanchthon 1520, 29) Die Einteilung der Grammatik war der lateinischen Grammatik Priscians, den er oft zitiert, und des Aelius Donatus nachgebildet. Diese Tatsache erklärt sich dadurch, dass Priscian in seinem Werk die gesamte griechische Sprachwissenschaft und vor allem die Syntax des Apollonius Dyscolus ins Lateinische übertragen und auf das Lateinische angewendet hat (Förstel 1997, 54). Mit den lateinischen Grammatiken war die Aufteilung des Lehrbuches Melanchthons in vier Gebiete vorgegeben: Orthogra-
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phie, Etymologie (Formenlehre), Syntax und Prosodie. Vorgegeben war aber auch die Aufteilung des Wortschatzes in acht Wortarten. Wie bei den meisten seiner Vorgänger, unter anderem bei Georg Simler, fehlt in Melanchthons griechischer Grammatik allerdings die Satzlehre (Syntax). Das entspricht der griechisch-byzantinischen Tradition, die seit den Anfängen der Grammatik die Analyse des Satzbaus als ein autonomes, aus dem Rahmen der Elementargrammatik fallendes Gebiet ansah. Sie steht aber im Gegensatz zur Struktur der Grammatiken des Gaza, Laskaris und Oecolampadius, die alle drei die Syntax einbeziehen (Förstel 1997, 36). In seinem Vorwort zur Erstausgabe rechtfertigt er das Fehlen der Syntax damit, dass er den Anfängern „weitere Schwierigkeiten nicht aufbürden wolle (Nolebam pluribus onerare nondum aliquo asque).“ (Melanchthon 1518, aiiv) Melanchthon plante auch eine Syntax unter dem Titel Über die griechischen Sprachbesonderheiten (περί ελληνικών ίδιωμάτων) (Melanchthon 1518, aiiv) und verwies darauf zum Beispiel bei der Behandlung der Pronomen (Melanchthon 1518, niiv) oder der Präpositionen (Melanchthon 1518, oiiiiv). Doch erschien die Syntax nie. Die griechische Grammatik Melanchthons hatte einen durchschlagenden und lange andauernden Erfolg. Das Werk erschien bis zum Jahr 1544 insgesamt 19 Mal. Es kam ab 1545 in einer größeren Umgestaltung durch Melanchthons Freund Joachim Camerarius heraus. Melanchthons Grammatik behauptete sich so in über 20 weiteren Ausgaben bis ins 17. Jahrhundert (Pohlke 1997, 39). Der Erfolg seiner Grammatik erklärt sich durch ihre knappe Fassung und sodann ihre Verständlichkeit. Wie alle anderen humanistischen Grammatiker verfolgte auch Melanchthon das methodische Ziel, den Schülern möglichst schnell den Erwerb der alten Sprachen zu ermöglichen. Seine Grammatik enthält eine tabellarische Darstellung des behandelten Stoffes (eine Übersichtstabelle über die Formen von Artikeln und Relativpronomen, Melanchthon 1518, ciir), die das Erfassen des Materials erleichtern sollte. Die Ausbildung sollte auf diese Weise vereinfacht und eine neue, bessere Lehrmethode zum Erinnern aller Stoffe bereitgestellt werden. Das Tabellarisieren selbst kann schon bei früher in Deutschland verfassten lateinischen Grammatiken nachgewiesen werden, so bei Johannes Cochläus (1511) und Johannes Aventin (Rudimenta gramaticae, 1517). An erster Stelle behandelt Melanchthon in seiner Grammatik die Buchstaben (De literis Graecorum, Melanchthon 1518, aiiir). Unter Buchstaben sind hierbei sowohl das Schriftzeichen als auch der entsprechende Laut zu verstehen. Dann folgt die Prosodie, das heißt die Klanggebung der Silben (Melanchthon 1518, aiiir – aiiiir) sowie die Behandlung der Akzente, Spiritus und anderer diakritischer Zeichen, die im Griechischen gebräuchlich sind (Melanchthon 1518, aiiiir – cr). Der ganze Abschnitt entspricht nach der Analyse von Eichler (1870, 27) dem ersten und der ersten Hälfte des zweiten Buches bei Priscian. Er urteilt: „Die Akzentlehre behandelt er […], überhaupt mit großer Ausführlichkeit, und es scheint, als sei der größere Teil der angegebenen Regeln von ihm selbst aufgefunden.“ (Eichler 1870, 28) Dennoch gilt: Ein Teil der Akzentlehre stimmt mit den byzantinischen Grammatikern überein, selbst die Beispiele sind die gleichen (Hartfelder 1889, 251).
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Der zweite Hauptteil umfasst die Formenlehre (Etymologia). Die Lehre von den Wortarten gliedert sich nach antiker Tradition in acht Unterabteilungen: statt Interjektion steht Artikel (der dem Lateinischen fremd ist), Nomen, Verb, Partizip, Pronomen, Adverb, Präposition und Konjunktion. Die Abhängigkeit von den spätbyzantinischen Grammatikern, von denen gleich zu Anfang auch Manuel Moschopulos (Melanchthon 1518, cv) erwähnt wird, ist hier umso deutlicher, als Melanchthon in seiner lateinischen Grammatik eine andere Reihenfolge der Unterabteilungen anwendet (Hartfelder 1889, 252). Die morphologische Behandlung der einzelnen Wortarten bildet den Kern der Grammatik. Hierbei nehmen die Kapitel über das Nomen und das Verb den größten Raum ein. Auf Definitionen (so heißt es beispielsweise bei Nomen und Verbum: „Nomen όνομα dictio est quae casu flectitur“ [Melanchthon 1518, ciir]; „Verbum ρημα dictio est. quae modis, temporibus ac personis flectitur“ [Melanchthon 1518, fiiiir]) folgen wie bei Priscian und Donat Akzidenzien (beim Nomen sind zum Beispiel zu beachten: die Species, Genera, Casus, Declinatio und Figura), Beispiele und, soweit es sich um flexionsfähige Wörter handelt, Musterparadigmen. Die Grammatik sucht den komplexen Formenbestand der griechischen Sprache in Regeln zu binden. Da Melanchthon für Anfänger schreibt, teilt er als Lernstoff nur das Notwendigste mit. Die Zahlwörter werden beispielweise nur bis vier (τέαταρες) (Melanchthon 1518, ciiv) vollständig aufgeführt, von verba anomalis sind nur einige erwähnt. Melanchthon will darüber eingehender in seinem liber constructionum schreiben: „Res multi est negocii, & ego in libro constructionum aliquid eius attingam.“ (Melanchthon 1518, miiiir; zur Beschränkung in der Wahl des Stoffes siehe ausführlicher Eichler 1870, 29) Melanchthon empfiehlt die vollen Paradigmen der Konjugation aus den Erotemata von Guarini zu nehmen (Melanchthon 1520, 118). Zur Einübung des Gelernten hat Melanchthon in die Grammatik aufgenommen: Auszüge aus der Theogonie Hesiods, (Melanchthon 1520, 72– 82; Melanchrhon1518, ciiv – fiiiiv), aus dem zweiten Buch der Ilias (Melanchthon 1520, 144– 147; Melanchthon 1518, pv – piiiv) und aus dem homerischen Hermeshymnus (Melanchthon 1520, 147; Melanchthon 1518, piiiv – piiiiv). Jede dieser Stellen ist lateinisch übersetzt und endlich – mit Ausnahme der letzten – genau grammatisch analysiert. Die Auswahl, die Melanchthon unter den griechischen Schriftstellern vornimmt, entspricht dem in Entstehung begriffenen humanistischen Klassikerkanon, den Melanchthon entscheidend mitgeprägt hat (Förstel 1997, 56). Melanchthon stellte später auch die erste griechische Chrestomathie in Deutschland zusammen, das heißt eine Sammlung zum Lernen brauchbarer Stellen aus griechischen Autoren: Seine Institutio puerilis literarum Graecarum wurde 1525 gemeinsam mit der hebräischen Grammatik des Aurogallus in Hagenau gedruckt, hat aber keine große Verbreitung gefunden (Pohlke 1997, 54– 55).
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2 Lateinische Grammatik 1525 erschien in Hagenau Melanchthons Grammatica Latina. 1526 kam in Hagenau auch die lateinische Syntax heraus. Als Heinrich Ernst Bindseil 1854 im Corpus Reformatorum seine Editio critica erscheinen ließ, konnte er bis zum Jahre 1757 insgesamt über zweihundert Ausgaben von Grammatik (und Syntax) nachweisen (Kößling 1999, 80). Wie Melanchthons griechische Grammatik hatte seine lateinische Grammatik auch zahlreiche humanistische Vorläuferinnen, die unter anderem im deutschen Sprachraum veröffentlicht wurden: Grammatica nova des Jakob Locher (genannt Philomusus) (1495), Institutiones grammatice des Johannes Brassicanus (1508), Grammatica omnium utilissima et brevissima des Johannes Aventin (1512). Traditionsgrammatiken der älteren Generation wie das Doctrinale Alexanders de Villa Dei oder die Ars minor Donats und Priscians Institutiones, um nur die bekanntesten zu nennen, standen auch zur Verfügung. Melanchthon sucht die Publikation seiner Grammatik zu rechtfertigen. Der Beweggrund liegt auf dem pädagogischen Gebiet: der Stoff müsse den Schülern zuliebe und ihren Bedürfnissen gemäß eingerichtet werden. Melanchthons lateinische Grammatik erweckt zuerst den Anschein, als folge die Grammatikschreibung dem griechisch-lateinischen Kanon. Der Grammatica latina ist eine in Melanchthons griechischer Grammatik fehlende knappe Begriffsbestimmung der Grammatik vorangestellt, die als „eine durch Regeln bestimmte Weise zu sprechen und schreiben (certa loquendi et scribendi ratio)“ (Melanchthon 1525, 245) definiert wird. Es folgte eine Aufzählung der grammatikalischen Teilgebiete Orthographia, Prosodia, Etymologia und Syntaxis. Von diesen wird sodann die Orthographie knapp durch bloßes Nennen der einzelnen Buchstaben, gegliedert nach Vokalen, Diphthongen und Konsonanten, behandelt. Die Prosodie, von der man eingangs nur erfahren hatte, dass sie die Wortbetonung regelt, findet keine weitere Beachtung. Die Prosodie wie die Syntaxis wurde später 1526 veröffentlicht. Das nächste Kapitel befasst sich mit der Etymologia (Formenlehre), die als „Eigentümlichkeit der Redeweise, sie lehrt nämlich die Unterschiede der Flexionen bei den wörtlichen Darstellungen (proprietas dictionis, docet enim discrimina casuum in dictionibus)“ (Melanchthon 1525, 246) definiert wird. Obwohl im Lateinischen der Artikel fehlt, wurde auch dort wie in der griechischen Grammatik die Achtzahl beibehalten: Der Artikel wurde durch die Interjektion ersetzt. Die acht lateinischen Wortarten sind also Nomen, Pronomen, Verbum, Adverbium, Participium, Coniunctio, Praepositio und Interiectio. Bezeichnend dürften der oft wiederkehrende Hinweis auf das Griechische sein, der den Gräzisten Melanchthon charakterisiert, sowie die Verweisungen auf die älteren Grammatiker, wie Priscian oder beispielsweise Donatus: „Die Deklination (der Pronomina, d.Vf.) ist dem Donatus zu entnehmen, den die Schüler immer in den Händen haben müssen, um daraus die Analogie im Deklinieren und Konjugieren zu lernen (Declinatio est ex Donato petenda, quem semper oportet pueris in manibus esse, ut inde analogiam in declinando ac coniugando discant).“ (Melanchthon 1525, 298) Der
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folgende Abschnitt über die Casus zählt die sechs Fälle in der gewöhnlichen Reihenfolge auf, wobei zum Ablativ bemerkt wird: „Eine Besonderheit der lateinischen Sprache ist der Ablativ, den die Griechen nicht haben (Estque hic casus Latinus proprius. Graeci enim ablativos non habent).“ (Melanchthon 1525, 264) Die von Melanchthon angeführten Beispiele (Sätze oder Elementareinheit von einem oder mehreren Wörtern) stammen nahezu ausschließlich aus den Werken antiker Autoren wie Terenz, Cicero oder Vergilius. Der pragmatische Rahmen der lateinischen Grammatik stellt klar, dass die deutsche Sprache in das Unterrichtshandeln einbezogen werden sollte. Um einzelne Wortbedeutungen oder sprachliche Besonderheiten zu verdeutlichen, führt Melanchthon den Vergleich mit dem Deutschen durch. In der Folgezeit waren für die ersten deutschen Grammatiken zum Beispiel Vergleiche wie Melanchthons Bemerkung über den Artikel von Nutzen: „Latein aber hat im allgemeinen keinen Artikel. Germanen haben einen Artikel (Nam Latinus sermo in universum caret articulis, Germani habent articulos).“ (Melanchthon 1525, 298) Auch bei den Darlegungen zum Gebrauch des Passivs in unpersönlichen Wendungen dienen deutsche Entsprechungen zur Verdeutlichung: „Legitur, man list [sic! d.Vf.], Dicitur, man sagt. Anhand dieser Konstruktion der deutschen Sprache werden die Jungen leicht das Wesen dieser Formen erkennen und begreifen, daß die unpersönlichen Formen mit keiner bestimmten Person verbunden sind (Legitur, man list, Dicitur, man sagt. Ex his figuris Germanici sermonis, facile intelligent pueri naturam horum verborum, sentientque nullam certam personam impersonalibus praeponi).“ (Melanchthon 1525, 323) Hinsichtlich der Nomina differenziert er zwischen Substantiv und Adjektiv. Melanchthons Formulierung über die Verwendung der Signalwörter Mann, Weib, Ding gelangte in die wichtigsten Grammatiken des Deutschen des 17. Jahrhunderts, und selbst im 18. Jahrhundert reißt ihre Verwendung keineswegs ab (Puff 1995, 230): „Einem Substantiv kann man nicht Mann, Weib, Ding hinzufugen […] ein Adjektiv kann mit Mann, Weib, Ding verbunden werden […] (Substantivum, eui non potest addi, Man, Weib, Ding, ut campus. Adiectivum, cui addi polest, Man,Weib, Ding, utalbus vir, alba mulier, album peclus).“ (Melanchthon 1525, 247)
3 Pädagogische Prinzipien Um sich bei dem Unterricht in den Anfangsgründen nicht allzu lange mit der Grammatik aufzuhalten, sondern möglichst bald zu Übungsstücken überzugehen, arbeitete Melanchthon ein Hilsfsbuch aus, eine Art lateinischer Chrestomathie, eine Sammlung von Musterbeispielen, das unter dem Titel Enchiridion elementorum puerilium in Wittenberg 1524 und als Elementa puerilia vereint mit Zwingiis Ratio formandae iuventutis im gleichen Jahre zu Augsburg gedruckt worden ist (CR 20, 391– 412). Das Buch dürfte übrigens keine allzu große Verbreitung gefunden haben, nur fünf Ausgaben sind nachzuweisen. Und doch ist es für den Verfasser sehr charakteristisch, dass die Heilige
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Schrift und die Klassiker der Antike den Stoff liefern, mit dem der christliche Humanist seine Schuljugend vertraut macht (Hartfelder 1889, 277). Melanchthon bemühte sich stets darum, Schüler möglichst schnell an Originaltexte heranzuführen. Er sah keinen Sinn darin, sich lange mit der systematischen Grammatik aufzuhalten. Folglich wählte er neue Formen der Grammatikdarbietung. In seiner griechischen Grammatik versucht Melanchthon, die Regeln aus der Mehrzahl der Beispiele zu abstrahieren. Was bei der Einteilung und Behandlung der Redeteile und der grammatischen Kategorien dann jedoch fehlt, sind verallgemeinerte Regeln, die Hervorhebung von äußeren Phänomenen trifft oft nicht den Kern der Sache. Die Konzentration auf das Äußerliche trübe oft den Blick für die Erkenntnis des Allgemeinen und Richtigen, betont Eichler (1870, 34– 35). Die griechische Grammatik Melanchthons ist somit ein Beispiel für eine empirische Grammatik, die vor allem auf Beobachtung beruht: „Die Sache besteht aus der Beobachtung, die Beobachtung aber unterstützt die Regeln (Constat enim res observatione, observatio nem vero adiuvant regulae)“, schreibt Melanchthon in seiner Vorrede als Grundsatz zur Prosodie (Melanchthon 1518, aiiv). „Indessen wird den doch aus der Mehrzahl der Beispiele abstrahierten Regeln oft ein allzu großer Umfang verliehen, und diese übermäßige Ausdehnung der Analogie ist die Ursache, dass nicht selten unattische, ja sogar auch ganz ungriechische Formen auftreten“, hält Eichler dagegen (1870, 30). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Melanchthon sich mit seiner Grammatik in der Hauptsache auf die griechische Tradition beschränkt, die Wortarten in zwei große Gruppen aufzuteilen, einerseits in die der Flexion unterworfenen Wörter (Artikel, Nomen, Verbum, Partizip, Pronomen), und andererseits in die nicht flektierten Wörter (Adverb, Konjunktion und Präposition) (Melanchthon 1518, niiiv; Förstel 1997, 39).
4 Die Grammatik im humanistischen Bildungskanon Die Aufgabe der humanistischen Grammatiken sollte die Wiederherstellung der antiken (römischen) Grammatik sein und deren Befreiung von den Spekulationen der mittelalterlichen Grammatiker. Auf dieser Entwicklungsstufe konnten sich Grammatiken nur in der Ausführlichkeit der Darstellung positiv unterscheiden. Was aber die Beschreibung des grammatischen Materials betrifft, so ist in Melanchthons lateinischer Grammatik die Umwandlung des griechisch-lateinischen Kanons zu sehen, während der Bestand an grammatischen Definitionen beibehalten wird. Im Vergleich zu seinem Werk über die griechische Sprache legt Melanchthon für die lateinische Grammatik einen anderen methodischen Rahmen vor, innerhalb dessen grammatische Beschreibungen erfolgen. Er strebt in den Definitionen der Redeteile (Nomen, Verb etc.) ein totales gegenseitiges Verhältnis zu den Gegenständen an, er führt in der lateinischen Grammatik das semantische Herangehen an die Definitionen der grammatischen Kategorien ein und versucht, so weit wie möglich auf formale Kennzeichen zu verzichten.
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Die Quelle des semantischen Herangehens liegt in den philosophischen Anschauungen Melanchthons. Im 16. Jahrhundert war die Wissenschaft noch nicht von der Philosophie getrennt. Die aktuellste Aufgabe war darum die Befreiung von der mittelalterlichen scholastischen Überlieferung. Aber die Verbindung der Grammatik mit Philosophie, Logik und Rhetorik blieb wie im Mittelalter bestehen. Melanchthon stützt sich auf Aristoteles, als er 1526 mit Bildungsaufgaben in protestantischen Ländern beauftragt wird (Wollgast 1978, 169). Er strebt nach Isomorphie des ontologischen und grammatischen Systems im Teilbereich der Wortarten. In vielen Fällen beruft sich Melanchthon auch auf die aristotelische Logik als Darlegungsmethode der grammatischen Kategorien.Von der direkten Verbindung zwischen der Logik und der Grammatik spricht er 1518 in seiner Wittenberger Antrittsrede: Die Sprachkunde [Logik, d.Vf.] behandelt alle Erscheinungen und unterschiedlichen Bestandteile der Sprache. Da gerade über sie der Weg zu jenen höheren Künsten führt, ist sie die erste Stufe der Ausbildung des Kindes und umfaßt Lese- und Schreibunterricht. Eigentümliche Erscheinungen der Sprache werden in Regeln gefaßt, oder es wird das, was man zu beachten hat, anhand der Sprachgestaltung bei Schriftstellern gezeigt. Dies etwa ist der Beitrag, den die Grammatik für die Ausführung leistet. (Melanchthon 1997, 49)
Schon in der Nachrede zur griechischen Grammatik teilt Melanchthon seinen Plan mit, eine gereinigte Aristotelesausgabe herzustellen – unter Mitwirkung von Koryphäen der Gräzistik wie Willibald Pirckheimer, Georg Simler, Johannes Oecolampadius,Wolfgang Capito und dem Rektor der Tübinger Universität, Franz Stadian. Die Grammatik solle einen Beitrag liefern, um Griechisch zu lernen und Aristoteles in seiner Sprache zu lesen (Melanchthon 1518, [q] v). In der lateinischen Grammatik dominiert bei Melanchthon bei der Definition der Kategorien eindeutig die deduktive Verfahrensweise. Seine Deduktion ist meistens auf die semantische Fragestellung eingeschränkt und geht auf die Gegebenheiten der Ontologie zurück, aus denen die sprachlichen Elemente abgeleitet werden. Er verzichtet auf die ausführlichen formalen Kennzeichen. Im Unterschied zu der ausführlichen Definition des Verbs bei Donat und in den griechischen Grammatiken, die neben den semantischen auch die formellen Kriterien in der Definition des Verbs wie Konjugation enthielten, sowie in Differenz zur oben angeführten Definition des Verbs in seiner griechischen Grammatik fehlen in Melanchthons lateinischer Grammatik die formellen, nicht immer wesentlichen Kennzeichen. Hier ist eine deduktive, semantische Betrachtung zu beobachten, wie ein Vergleich zwischen Donat und Melanchthon zeigt: „Das Verb ist ein Redeteil, dem Tempus und Person eigen ist, ohne Kasus. Das Verb bezeichnet entweder ein Handeln oder ein Erleiden oder keines von beiden (Verbum est pars orationis cum tempore et persona sine casu aut agere aliquid aut pati aut neutrum significans).“ (Donatus 1864, 381) Dagegen: „Das Verb ist ein Wort, welches ein Handeln oder Erleiden bezeichnet (Verbum est vox significans agere aut pati, ut: verberare actio est, passio verberari).“ (Melanchthon 1525, 298) Melanchthon stellt also die Semantik in den Vordergrund. Er greift auf die formalen Kriterien in der Regel erst
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zurück, wenn die semantischen ausgeschöpft sind. 1550 brachte Joachim Camerarius eine Ausgabe heraus, die viele Verweise auf den philosophisch orientierten Grammatiker Julius Caesar Scaliger enthielt (Jensen1997, 96 – 97), der wie Melanchthon die logisch-semantischen Kategorien verwendet. Indem Melanchthon die formellen Kennzeichen ablehnt, führt er ähnlich wie die Rationalisten des 17. Jahrhunderts die Klassifizierung der Redeteile auf dem logischen Weg durch (die semantischen Definitionen sind ja nichts anders als der deduktive Weg). Darin besteht der wissenschaftlich-methodologische Wert der lateinischen Grammatik Melanchthons. Ihre Beschreibungsart der grammatischen Bedeutungen ist im Grunde genommen Vorbild der Beschreibungsprinzipien der allgemeinen (universellen) Grammatiken. Zu solchen gehören Wolfgang Ratkes Allgemeine Sprachlehr (1619) und Christoph Helwigs Sprachkünste (1619), in denen der sichtbare Übergang zu der rationalistisch-universellen auf den semantischen Kriterien der Wort- und Kategorienklassifikation beruhenden Grammatik vollzogen wird. Diese semantisch-deduktive Methodologie wird in diesen Grammatiken benutzt, weil sie damit argumentiert, dass alle Sprachen strukturell grundsätzlich der Realität und dem Denken entsprechen. Die berühmteste universelle Grammatik von Port-Royal erschien in Frankreich viele Jahrzehnte später im Jahr 1660. Melanchthon selbst erhebt nirgends den Anspruch, wissenschaftliche Sprachlehren geschrieben zu haben. Seine lateinische Grammatik war (wie seine griechische Grammatik) für den Elementarunterricht bestimmt und sollte dann von der Grammatik des Thomas Linacre im Unterricht abgelöst werden. Melanchthon übertrug die Herausgabe seines Werks seinem Freund Camerarius und seinem Schüler Jacobus Micyllus; von denen die lateinische Grammatik sukzessive überarbeitet und viele Male aufgelegt wurde (CR 20, 200,201; Jensen 1997, 96). Die Camerarius-Überarbeitungen von Melanchthons Grammatik für Fortgeschrittene werden als „nützlich für Lehrer und Studenten (utiles futura tam magistris quam discipulis)“ angepriesen. So etwa in der Grammatica Philippi Melanchthonis Latina (Leipzig 1552). Nach dem Erscheinen von Melanchthons Lateingrammatik und ihrer zahlreichen Bearbeitungen sank die Ars minor vielerorts zum reinen Lesetext ab oder diente als Fundus für Flexionen (Puff 1995, 77). Die ihm eigene Klarheit und Kürze hat Melanchthons griechische und lateinische Lehrbücher so sehr empfohlen, dass selbst die katholischen Gegner sich zum Teil derselben bedienten (Hartfelder 1889, 258,280).
5 Nachwirkungen: Melanchthon und Ramus Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts war die absolute Vorrangstellung Melanchthons in Deutschland, soweit es seine pädagogischen Absichten betraf, zwar erschüttert, aber keineswegs gebrochen. Neben den Melanchthonianismus trat der Ramismus, der philosophisch und methodisch den empirischen Gegenschlag gegen die Aristotelisierung bedeutete (Moltmann 1957, 317). Die Grammatiken von Petrus Ramus fanden in Deutschland eine große Verbreitung. An Stelle der semantischen Ausrichtung wurde
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in diesen Grammatiken ein formal-semasiologischer Ansatz verfolgt. Die Auseinandersetzung zwischen Melanchthon und Ramus führte dazu, dass die Methodenvorstellungen von Pädagogik und Wissenschaft, insbesondere in der Grammatik, bei calvinistischen und lutherischen Verfassern Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts in Zentraleuropa im Allgemeinen von einer eklektischen philippo-ramistischen Tradition beeinflusst wurden (Freedman 2001, 91; Bauer, Mahlmann und Seifert 2 2000, 89). Dies zeigt auch schon der Titel einiger in Deutschland verfasster lateinischen Grammatiken an, zum Beispiel Grammatica Latina Philippo-Ramea (Herborn 1602). In den Lehrbüchern der deutschen Sprache des 16. und des 17. Jahrhunderts, zum Beispiel in den Grammatiken von Laurentius Albertus, Johannes Clajus,Wolfgang Ratke und Christoph Helwig, gestaltete sich der Übergang zur semantischen Methode in der Weise, dass Melanchthons an der Semantik orientierter Ansatz weiter entwickelt wurde. Die lateinischen Grammatiken Melanchthons und seiner Nachfolger hatten auch einen großen Einfluss auf die osteuropäische, insbesondere auf die ostslawische Grammatikographie des 16. und des 17. Jahrhunderts: auf die ersten kirchenslawischen Grammatiken von Lavrentij Zizanij und Miletij Smotrickijs.
Quellen Donatus, Aelius. 1864. „Ars Grammatica.“ In Grammatici Latini. Vol. 4, hg. v. Henricus Keil, 353 – 402. Leipzig. Melanchthon, Philipp. (gehalten 1517). „De artibus liberalibus.“ (CR 11, 6 – 14) Melanchthon, Philipp. 1518. Institutiones Graecae Grammaticae. Hagenau. Melanchthon, Philipp. 1520. Integrae Græcæ Grammatices Institutiones. Hagenau. (CR 20, 5 – 180) Melanchthon, Philipp. 1525. Grammatica Latina. (zit. nach der Ausgabe Hagenau 1526, CR 20, 193 – 336) Melanchthon, Philipp. 1997. „Wittenberger Antrittsrede De corrigendis adolescentiae studiis, 1518“ (übersetzt von Gerhard Steinger). In Melanchthon, Philipp. Schule und Universität, Philosophie, Geschichte und Politik, Mel. Dt 1, hg. v. Michael Beyer, Stefan Rhein, Günther Wartenberg, 41 – 63. Leipzig.
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Grammatik
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Mathematik 1 Eingrenzung der Mathematik Zunächst soll festgestellt werden, auf welche Teilgebiete der Mathematik in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts man sich hier einschränken kann. Die Grundlagen des Studiums wurden in der Artistenfakultät gelegt. An vielen Universitäten standen bei den sieben freien Künsten das Trivium, bestehend aus Grammatik, Dialektik und Rhetorik, im Vordergrund. Das sich daran anschließende Quadrivium mit den Fächern Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik kam häufig zu kurz. In diesem Beitrag beschränken wir uns auf die Arithmetik und die Geometrie.
2 Mathematische Quellen Wer hat sich bisher mit der mathematischen Seite bei Melanchthon befasst? Die erste ausführliche Darstellung stammt von Christian Wilhelm Bernhardt (1865, 1– 47). In jüngster Zeit haben Matthias Aubel (2008, vgl. bes. 169 – 199), Stefan Deschauer (2003), Günther Oestmann (1997), Karin Reich (1988, 2010, 2012, 2014) und Silvia Schöneburg (2007) Melanchthons Äußerungen zu mathematischen Themen untersucht. Inzwischen liegen einige deutsche Übersetzungen von Melanchthons lateinischen Beiträgen zur Mathematik vor, die an entsprechender Stelle erwähnt werden.
3 Melanchthons mathematische Ausbildung 3.1 Lebensstationen Bretten, Pforzheim, Heidelberg Zunächst wird der Frage nachgegangen, wann und wo Philipp Melanchthon mathematische Kenntnisse erworben hat, bevor er 1512 an die Universität Tübingen ging. In seiner Geburtsstadt Bretten dürfte Melanchthon als Knabe zunächst eine städtische Schule besucht haben, deren genaue Schulform – ob es eine Lateinschule, eine „teutsche“ Schule oder eine „vermengte“ Schule war – bei der schlechten Quellenlage nicht bekannt ist (Martin 1997). Dann genoss er von etwa 1504 bis 1507/08 Privatunterricht bei dem von seinem Großvater Johann Reuter angestellten Hauslehrer Johannes Unger, der hauptsächlich die lateinische Grammatik unterrichtete. Beim anschließenden Besuch der angesehenen Lateinschule in Pforzheim standen Studien der lateinischen und griechischen Sprache im Vordergrund. Hier waren Melanchthons Lehrer der Präzeptor Georg Simler und sein Kollaborator Johannes Hiltebrant, die beide ab 1510 beziehungsweise 1511 an der Universität Tübingen studierten und lehrten DOI 10.1515/9783110335804-042
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(Kremer 1997). In seinem dreijährigen Studium von 1509 bis 1512 in der Artistenfakultät der Universität Heidelberg vertiefte Melanchthon insbesondere seine Griechischkenntnisse und legte 1511 erfolgreich das Baccalaureatsexamen in der Artistenfakultät ab, in dem vornehmlich die Fächer Grammatik, Dialektik und Rhetorik des Triviums abgeprüft wurden. Dazuhin widmete sich Melanchthon in seiner Heidelberger Zeit intensiv der Lektüre antiker Dichter und Historiker. Weder aus Bretten noch aus Pforzheim oder Heidelberg gibt es Hinweise, dass Melanchthon mathematischen Unterricht erhalten hat. Melanchthon selber äußert sich später recht negativ über seine Unterrichtung in mathematischen Fächern. So beklagte er sich in einem Brief (MBW 2, 1595 und CR 4, 853 – 854; dieser Brief ist schwierig zu datieren) an den Nürnberger Mathematiker, Theologen und Instrumentenbauer Georg Hartmann, der Melanchthon 1542 eine seiner Sonnenuhren geschenkt hatte: „Oft beklage ich mich über die Studien meiner Jugendzeit, oft klage ich an die schlechte Gewohnheit der Universitäten, die in vielen Gegenden damals die Mathematik völlig vernachlässigten und sie auch bis heute vernachlässigt haben.“ Melanchthon beklagt dazuhin die Barbarei der Fürsten, die „sich nicht bemühen, diese vorzügliche Wissenschaft der Nachwelt zu bewahren.“ In einem späteren Schreiben vom 7. Juli 1550 an den Nürnberger Gelehrten und Ratsherren Erasmus Ebner bedauert Melanchthon, dass er „in seiner Jugend keinem guten Mathematiklehrer begegnet wäre“ (MBW 6, 5847 und CR 4, 839). Dies mag zutreffen auf Melanchthons Schul- und Studienzeiten in Bretten, Pforzheim und Heidelberg, aber auf keinen Fall auf Melanchthons Aufenthalt in Tübingen.
3.2 Johannes Stöffler Es ist vielfach belegt, wie fasziniert Melanchthon von seinem Mentor Johannes Stöffler an der Universität Tübingen war. Auffälligstes Zeugnis ist der Umstand, dass Melanchthon seine 1517/18 gehaltene Rede De artibus liberalibus oratio Stöffler gewidmet hat. Stöffler war ein hervorragender Vertreter seines Fachgebiets und weckte mit seinen Vorlesungen bei Melanchthon mathematisch-naturwissenschaftliche und astronomisch-astrologische Interessen. Ganz besonders hatte es Melanchthon die Astrologie angetan, aber er erkannte auch die Bedeutung der Arithmetik und Geometrie als Grundlage für die Astrologie und viele weitere Gebiete. Seine Verehrung und Bewunderung Stöfflers drückte Melanchthon dadurch aus, dass er seine erste überlieferte Rede De artibus liberalibus oratio (MBW 1, 18 und CR 1, 15 – 16; Übersetzung von Christiane Domtera und Armin Kohnle, Mel.Dt 4, 13 – 33), die 1517/18 erstmalig von Thomas Anshelm in Hagenau gedruckt wurde, Stöffler widmete und ihn darin in höchsten Tönen lobte, dass er viele Jahre mit großem Eifer die Geheimnisse der Mathematik aufgedeckt habe und alle Studenten einschließlich ihm, Melanchthon, „mit solchem Wohlwollen umfangen und gleichsam mit diesem Ansporn zum Ruhm anzutreiben gepflegt habe“ (diese Formulierung stammt aus Eberhard Knoblochs Übersetzung in Karin Reich 2010, 146). In dieser Rede behandelt Melanchthon neben
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den Fächern des Triviums und des Quadriviums zusätzlich die Geschichtsschreibung und die Poetik und kann so zeigen, dass jedem der insgesamt neun Fächer eine der neun Musen entspricht. In seiner Rede legt Melanchthon zunächst das Schwergewicht auf die Grammatik und später beim Quadrivium auf die Arithmetik, die ein Regelwerk für Ordnung und Anzahl sei. Melanchthon bezieht sich bei seinen Überlegungen hauptsächlich auf Platon und Pythagoras. Die Geometrie wird nur kurz gestreift.
4 Melanchthons Einsatz für die Mathematik In den Folgejahren hat sich Philipp Melanchthon auf vielerlei Weise nachhaltig für die Mathematik und hier speziell für die Arithmetik und Geometrie eingesetzt und sich dafür große Verdienste erworben. Im Gegensatz zur Physik (Naturlehre) hat er weder eine Vorlesung in Mathematik gehalten noch ein Lehrbuch geschrieben.
4.1 Mathematisches Werk? Begibt man sich auf eine mathematische Spurensuche bei Melanchthon, stößt man rasch auf ein Druckwerk mit dem Titel Disciplinarum Mathematicarum tum etiam Astrologiae Encomia per Philip. Melanch., zuerst gedruckt 1537 in Straßburg bei Krafft Müller (Crato Mylius) und als zweite Auflage 1540 in Lyon von Sebastian Gryphius. Man muss aber die Hoffnung auf ein mathematisches Werk begraben, denn es sind nur drei Briefe abgedruckt, die als folgende Vorreden veröffentlicht wurden. Dabei handelt es sich um einen Brief Melanchthons, den er vor dem 17. August 1531 an Simon Grynaeus geschrieben hatte, der als Vorrede bei Johannes de Sacroboscos Liber de sphaera in der Wittenberger Ausgabe von 1531 diente (MBW 2, 1176; CR 2, 530 – 537), um einen Brief, den Melanchthon im August 1536 an Johannes Reiffenstein in Wittenberg geschrieben hatte, der als Vorrede bei Elementa Geometriae ex Euclide singulari prudentia collecta von Johannes Vögelin in der Ausgabe Wittenberg 1536 Verwendung fand (MBW 2, 1780; CR 3, 107– 114), und um den Brief Melanchthons vom 7. August 1536 an Johannes Schöner in Nürnberg, den Schöner bei seinen Tabulae astronomicae, 1536 gedruckt in Nürnberg (MBW 2, 1770; CR 3, 115 – 119), verwertete. Der Brief in Vögelins Buch über die Elemente Euklids wird hier später besprochen.
4.2 Reden und Vorworte „Melanchthons Eintreten für die Förderung der mathematischen Wissenschaften zur Steigerung ihrer Akzeptanz im öffentlichen Bewusstsein wird vor allem durch das Faktum dokumentiert, dass er eine Vielzahl von bekannten zeitgenössischen mathematischen [lateinischen d.Vf.] Lehrbüchern mit einem Vorwort oder mit einer Einleitung versehen hat.“ (Aubel 2008, 174) An Melanchthons Beiträgen zur Arithmetik und
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zur Geometrie ist erkennbar, dass neben pythagoräischem Überlieferungsgut platonische beziehungsweise neuplatonische Gedanken und religiöse Überlegungen Eingang in seine Erörterungen über die Bedeutung der Mathematik und ihren Bildungswert gefunden haben (ebd. 180).
4.2.1 Arithmetik 4.2.1.1 Praefatio in arithmeticen 1536 Die ausführlichste Abhandlung über die Arithmetik ist Praefatio in arithmeticen (CR 11, 284– 292; deutsche Übersetzung von Gerhard Weng, Vorrede zur Arithmetik des Georg Joachim Rheticus oder Rede über den Nutzen der Arithmetik, Mel.Dt 4, 80 – 90). Diese Universitätsrede hat Georg Joachim Rheticus – das kann mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden – als seine Antrittsrede 1536 an der Universität Wittenberg gehalten. Die Frage nach dem Verfasser dieser Rede ist nicht zweifelsfrei geklärt. Lange Zeit wurde Melanchthon als Autor angesehen, bis Stefan Deschauer 1999 in der Estnischen Akademischen Bibliothek in Tallinn die Handschrift einer bislang unbekannten Rheticus-Vorlesung wieder aufgefunden hat. Danach kann nicht mehr die Meinung aufrecht erhalten werden, dass Melanchthon alleiniger Verfasser dieser oratio ist.Vielmehr ist wohl davon auszugehen, dass Melanchthon und Rheticus im Gespräch den Inhalt der Rede abgestimmt haben und Rheticus sie schließlich verfasst hat (zu näheren Angaben siehe Deschauer 2003, V – IX). Von Rheticus stammt der mathematische Inhalt, und auf Melanchthon gehen insbesondere die Passagen zurück, in denen Bezug auf die griechischen Philosophen Platon und Aristoteles sowie auf die römischen Dichter Horaz, Lukrez und Vergil genommen wird. Zum Inhalt der Rede: Am Beginn wird darauf verwiesen, dass Grundkenntnisse in den Zahlen und Maßen den Zugang zu den übrigen Teilen des Quadriviums eröffnen. Man solle auch darauf achten, wie weit sich der Nutzen der Arithmetik auf das Wirtschaftsleben erstrecke. Nicht nur im Handel, im Bergbau und bei der Münzprägung, sondern auch bei der Berechnung vieler anderer (öffentlicher und privater) Projekte brauche man diese Wissenschaft. Und wer im Gemeinwesen tätig sei, müsse die Rechnungsführung der Staatskasse kennen. Es könnten viele Ereignisse eintreten, bei denen die Arithmetik für jeden Einzelnen sehr nützlich sein könnte. Anschließend wird der Nutzen der Geometrie ausführlich geschildert und dabei das Bauwesen, die Vermessung von Gefäßen, die Kosmographie und die Ermittlung der räumlichen Entfernungen erwähnt. Der Zugang zur Lehre über die Himmelserscheinungen stehe nur über die Arithmetik und die Geometrie offen. Nun kehren Melanchthon beziehungsweise Rheticus zur Arithmetik zurück, und es kommt eine Passage in dieser Rede, die in folgender zu stark vereinfachter Formulierung in der mathematischen Fachwelt weit verbreitet ist: „Die Anfangsgründe der Arithmetik, das Addiren und Subtrahiren sind unbedingt zum täglichen Gebrauche nothwendig und so leicht, dass Knaben sie erlernen können; die Regeln der Multiplication und Division erfordern allerdings ein wenig mehr Aufmerksamkeit, aber bei
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einiger Anstrengung werden sie doch bald begriffen.“ Es ist nicht ganz klar, wer als erster diese eingängige Formulierung verwendet. In der zitierten buchstabengetreuen Formulierung hat sie der bekannte Heidelberger Mathematikhistoriker Moritz Benedikt Cantor verbreitet mit der Bemerkung, so laute Melanchthons Programm für den arithmetischen Inhalt von Universitätsvorlesungen. Wer als erster diese sehr freie Übersetzung von sich gegeben hat, lässt sich kaum feststellen. Bekannt wurde sie jedenfalls durch die Darstellung in Cantors Standardwerk (21913, 408). Hier erlaubt sich der Autor, unter Hinzuziehung der erwähnten Übersetzungen von Stefan Deschauer und Gerhard Weng seine eigene Übersetzung dieser Passage vorzustellen: Ich weiß, dass die Heranwachsenden von diesen Wissenschaften wegen der vermeintlichen Schwierigkeit abgeschreckt werden. Aber was die Anfangsgründe der Arithmetik angeht, die in den Schulen gewöhnlich gelehrt werden und die zum täglichen Gebrauch verwendet werden, irren sie sich gewaltig, wenn sie diese für ungemein schwierig halten. Die (Rechen‐)kunst entspringt unmittelbar aus der Natur des menschlichen Geistes und besitzt ganz gesicherte Beweise. Daher können ihre Anfänge weder unverständlich noch schwierig sein, die ersten Regeln sind im Gegenteil so klar, dass auch Kinder sie begreifen können, weil dieses ganze Wissensgebiet aus der Natur hervorgeht. Danach verlangen die Regeln der Multiplikation und Division bedeutend mehr an Sorgfalt, aber dennoch können die Gründe von den Aufmerksamen schnell durchschaut werden. Diese Wissenschaft verlangt Übung und Gebrauch wie alle anderen Wissenschaften.
Danach wird ausgeführt, dass die übrigen Wissenschaften leichter zu begreifen seien, wenn man die Arithmetik kenne. Sie lehre, das Eine und das Viele zu unterscheiden und einzuteilen, zeige die Systematik der Gegenstände auf und mache darauf aufmerksam, verworrene Zusammenhänge zu analysieren. Dies seien die Anfangsgründe des logischen Denkens. Bei diesen Überlegungen wird ein Bezug zu Pythagoras, Platon und Vergil hergestellt. Abschließend wird nochmals betont, dass man die Arithmetik in vielen Tätigkeitsbereichen des Lebens brauche, und ganz besonders bekräftigt, dass ohne Arithmetik kein Zugang zu jenem besten Teil der Philosophie über die Himmelserscheinungen offenstehe.
4.2.1.2 Vorwort zu Georg von Peuerbachs Elementa Arithmetices 1534 Neben der oben beschriebenen Universitätsrede verfasste Philipp Melanchthon mehrere Vorworte zu Arithmetikbüchern. Hier ist in zeitlicher Reihenfolge zunächst ein Brief zu nennen an Justus Jonas d.J., den Sohn des Reformators Justus Jonas. Dieser Brief ist als Vorwort von zweieinhalb Seiten erstmalig 1534 abgedruckt in dem Buch mit dem Titel Elementa Arithmetices (nähere Angaben zu Justus Jonas d.J. und dem Briefinhalt [MBW 2, 1756; CR 3, 93 – 94] bei Karin Reich 2012, 41– 42), das sich inhaltlich auf Georg von Peuerbach bezieht. Der Brief ist ebenfalls gedruckt in mehreren späteren Auflagen, so Wittenberg 1536 und Frankfurt/Main 1544. Erstaunlich ist der Umstand, dass Melanchthon 1534 an den erst neunjährigen Knaben schreibt. Er redet ihn an mit Modestissimo adolescenti Ivsto Ionae filio D. Doctoris Ionae Philippvs Melanchthon. S. D. und widmet ihm dieses Buch
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Abb. 1: Georg von Peuerbach, Elementa Arithmetices, Wittenberg 1534, Titelblatt, Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. Math. P 420.
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als Anreiz. Er betont den Wert der Arithmetik als Grundlage bei weiteren Wissenschaftsgebieten und im alltäglichen Gebrauch. Dabei weist er den Studienanfänger nachdrücklich auf den erforderlichen Fleiß und das notwendige intensive Üben hin.
4.2.1.3 Vorwort 1533 zu Michael Stifels Arithmetica Integra Eines der bedeutendsten mathematischen Werke des 16. Jahrhunderts stellt das Buch Arithmetica Integra dar. Michael Stifel hat es verfasst, und es wurde 1544 von Johannes Petrejus in Nürnberg gedruckt. Das Buch behandelt als eines der frühesten Werke neben der Arithmetik auch die Algebra. Stifel führt erstmalig in der Mathematik den Begriff Exponent ein und legt damit die Basis für die Entwicklung der Logarithmen. Das Buch beginnt mit einem Vorwort an die Leser, das Philipp Melanchthon mit dem Datum des 1. Januar 1543 verfasst hat. Wegen seiner inhaltlichen Bedeutung wird dieses Vorwort komplett wiedergegeben (Übersetzung unter Berücksichtigung von Bauer et al. [1989, 87] und Knobloch/Schönberger [2007, 9 – 10]):
Abb. a, b: Michael Stifel, Arithmetica Integra, Nürnberg , Melanchthons Name ist durchgestrichen auf dem Titelblatt und beim Beginn der Vorrede Melanchthons des Exemplars der Biblioteca Vaticana Roma, Sign. R.G.Miscell.II. (int.), Kopie aus Mikrofiche MF , H/H in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe.
Philippus Melanthon grüßt den Leser. Nicht einmal, wenn ich hundert Zungen und hundert Münder hätte [die lateinische Formulierung „Non mihi si linguae centum sint, oraque centum“ hat Melanchthon aus der Aeneis, Buch VI, Zeile 625, des lateinischen Dichters und Epikers Publius Vergilius Maro übernommen], könnte ich aufzählen, bei wie vielen Dingen die Zahlen von Nutzen sind. Und so sind augenfällig und offensichtlich die Vorzüge, die nicht nur die Zahlen bringen, sondern auch die Kunst, die lange und komplizierte Rechnungen mit bewundernswerter Ge-
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wandtheit ausführt und erklärt, sodass ich meine, dass es niemand gibt, und sei er noch so dumm, welcher nicht die Zahlen bewundert und die Rechenkunst selbst für vortrefflich hält. Wenn ich eine lange Lobrede über diese Vorzüge anstimmte, würde ich mich ebenso benehmen, wie wenn ich, wie die Griechen sagen, mitten am hellen Tag ein Licht anzünden würde. Es ist aber für einen wissbegierigen Menschen zu erkennen, welchen Nutzen die Arithmetik insbesondere denjenigen bringt, die in den übrigen Bereichen der Philosophie eine wahrhafte und vollkommene Lehre entwickeln wollen. Wenn man nämlich allgemein sagt, der Anfang sei schon die Hälfte des Ganzen, so wird dies am meisten in Teilen der Philosophie gewahr. Es gibt nur einen Zugang zu dem vortrefflichsten Teil der Philosophie, den himmlischen Bewegungen, dies ist die Kenntnis der Arithmetik. Und diese besitzt eine so große Kraft, dass auch jemand, der nur mittelmäßig in Arithmetik geübt ist, leicht das übrige durchschaut und begreift. So besitzt derjenige, der die Arithmetik mittelmäßig verstanden hat, mehr als die Hälfte dieser ganzen Philosophie. Diesen so großen Nutzen mögen diejenigen, die mit edlem Wesen versehen sind, aufmerksam betrachten, die Sinne zur Liebe dieser Kunst entfachen und sich vorbereiten, die übrigen Künste zu begreifen. Weiterhin wenden wir vielfach in der Naturlehre und auch viel in der Geschichte diese sehr gründliche Lehre von den Zahlen an. Schließlich ist es für einen Wissenschaftler schändlich, diese Kunst zu vernachlässigen, die Quelle und Beginn der gesamten vernünftigen Überlegung ist, die erstmalig eins und viele unterscheidet und diese ordnet, eine Erkenntnis, durch die sich der Mensch eigentlich vom Vieh unterscheidet. Deshalb müssen tüchtige und gelehrte Männer sich mit größter Macht anstrengen, diese Lehre in die Schulen zurückzurufen, damit nach Vertreibung jener aufgeweichten und geschwätzigen Sophistik, die die Dialektik und die Physik unterdrückt hatte, nunmehr wieder die Beschäftigung der alten und reinen Philosophie gedeihe. Diese sorgfältige Beschäftigung wird dem Staat auf vielerlei Weise von Nutzen sein. Denn Männer, die an einfache und reine Lehre gewöhnt sind, urteilen richtiger, suchen in den Wissenschaften das Sichere und halten nicht verbissen am Unsicheren fest. Es ist auch dies ein großer Vorzug, dass diese Gewohnheit selber zur Wahrheitsliebe führt, die gute Männer hervorbringt und sie gewissenhaft auch im weiteren Leben an Mäßigung gewöhnt. Was ist aber für die Menschheit zuträglicher, als dass diejenigen, welche wegen ihrer Gelehrsamkeit dem Staat an die Spitze gestellt werden, wahrheitsliebend und maßvoll sind? So werden sich die Schulen gut und vortrefflich um das Menschengeschlecht verdient machen, wenn sie der Jugend die wahre, nützliche, reine Lehre vorsetzen und sie zugleich zur Wahrheitsliebe, zur Sorgfalt und zur Mäßigung im Leben unterweisen. Deshalb ist auch die Anstrengung vieler zu loben, die in dieser unserer Zeit alte Schriften herausgeben und anschaulich jene Wissenschaften darstellen, die die Quellen der Philosophie enthalten, oder neue drucken lassen. In diesem Sinne glaube ich, Michael Stifels Buch über die Arithmetik der studentischen Jugend empfehlen zu müssen, weil es zur Übung nützlich sein wird, dann aber auch sehr viel Licht bei der Untersuchung der Sachverhalte in der Lehre bringen wird. Lebe wohl! Wittenberg, am ersten Januar 1543.
4.2.1.4 Vorwort 1544 zu Isagoge arithmetices von Joachim Ammonius Ein weiteres Mal hat Melanchthon 1544 ein Vorwort geschrieben für ein kleines, nur 32 Seiten umfassendes lateinisches Rechenbuch mit dem Titel Isagoge arithmetices collecta et edita per Iochimvm Ammonivm Nissensem.Verfasser des 1544 in Wittenberg bei Georg Rhau gedruckten Rechenbuches ist Joachim Ammonius, ein Rechenmeister aus Neiße, der wenig bekannt ist. Ein Exemplar der zweiten Auflage 1550, gedruckt bei Peter Seitz d.Ä. in Wittenberg, konnte bisher nicht aufgespürt werden. Karin Reich (2014) hat das Rechenbuch von 1544 ausführlich beschrieben. Darin befindet sich eine komplette Übersetzung des Melanchthon-Vorwortes von Eberhard Knobloch. In diesem Vorwort vom 17. April 1544 berechnete Melanchthon, dass Noah
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vor 3845 Jahren die Arche betreten habe. Es ist zu vermuten, dass Melanchthon nur deshalb ein Vorwort zu diesem Büchlein geschrieben hat, weil es 1544 an der Universität Wittenberg (ausnahmsweise) bei dem „Arithmeticus“ Johannes Fischer Verwendung fand (Schöneburg 2007, 40 und vi). Die Standardlektüre war allerdings das Arithmetikbuch Arithmeticae practicae methodus facilis von Rainer Gemma Frisius, das im Zeitraum von 1542 bis 1621 mindestens 26 Auflagen in Wittenberg erlebt hatte (Ulrich Reich 2005, 323 – 339).
4.2.2 Geometrie 4.2.2.1 Vorwort 1536 zu Elementale Geometricum von Johannes Vögelin Der aus Heilbronn gebürtige Johannes Vögelin (Ulrich Reich 2014, 77– 82) ließ im Jahr 1528, dem Jahr seiner Berufung zum Professor an der Universität Wien als Nachfolger von Georg Tannstetter, sein erstes gedrucktes Werk herstellen, das Buch mit dem Titel ELEMENTALE GEOMETRICVM, EX EVclidis Geometria. Es war ein preiswertes Exzerpt aus den sechs ersten Büchern der Elemente Euklids und war an Lateinschulen und den Artistenfakultäten der Universitäten im christlichen Abendland weit verbreitet. Das Buch erlebte viele Auflagen, die in weit verstreuten Städten Europas (beispielsweise in Wien, Venedig, Paris und Kopenhagen) gedruckt worden sind. Besondere Beachtung fand die Auflage 1536 mit dem Titel Elementa Geometriae ex Euclide singulari prudentia collecta à Ioanne Vœgelin professore Mathematico in schola Viennensi. Diese Ausgabe, gedruckt bei Joseph Klug und teilweise zusammengebunden mit Georg Peuerbachs Arithmeticae Practica, zeichnete sich aus durch das ausführliche Vorwort Melanchthons (13 Seiten), der seinen Beitrag dem 1536 in Wittenberg öffentlich disputierenden Johannes Wilhelm Reiffenstein gewidmet und darin die Bedeutung der Geometrie geschildert hatte.Von diesem auf August 1536 datierten Vorwort (MBW 1780; CR 3, 107– 114) gibt es neuerdings eine deutsche Übersetzung von Gerhard Weng und Ulrich Reich (2016, 68 – 76). Melanchthon beginnt sein Vorwort zu dem Geometriebuch mit einem Bezug auf den Satz über dem Eingang zu Platons Akademie: „Kein der Geometrie Unkundiger soll hier eintreten.“ Die Geometrie dürfe man nicht allein den Handwerkern überlassen, die Gebäude, Gefäße und andere kleine Gegenstände ausmessen. Auch der Philosoph brauche aus vielen anderen Gründen die Kenntnis der Geometrie. Man müsse nach Platon sich die Geometrie deshalb aneignen, weil ihre Kenntnis dazu dienlich sei, andere Künste leichter und genauer zu erfassen. Ihr Nutzen sei aber am offenkundigsten in der Vermessung der Größe der Erde, der Himmelskörper und ihrer Abstände. Weil man in der Geometrie das Bauwerk und die Lenkung der Welt erkenne, habe sie große Bedeutung für die Festigung rechter Gottesvorstellungen im Geist der Menschen. Melanchthon geht davon aus, dass auch nur mittelmäßig Begabte sich von ihrer Bewunderung der Künste anspornen lassen, wenn man es ihnen bewusst mache und ein Fachmann hinzukomme, der es ihnen in geeigneter Weise beibringe. Melanchthon hofft aber bei Reiffenstein und seinesgleichen, dass sie zuerst daran denken, sich mit
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Abb. 3: Johannes Vögelin, Elementa Geometriae Ex Evclide, Wittenberg 1536, Titelblatt, Bayerische Staatsbibliothek München, Sign. L.Lat. 838 a#Beibd.2.
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allen geistigen und seelischen Kräften anstrengen zu müssen, damit sie eine begründete und vollkommene Bildung erwerben, die für das Gemeinwesen nützlich ist. Im Folgenden betont Melanchthon: Manche schreckt von den mathematischen Wissenschaften ihre schwere Erlernbarkeit ab. Aber diese Leute äußern sie, bevor sie prüfen, was sehr unfair ist, verwerfen und verurteilen das ganze Studium, bevor sie seine Anfangsgründe gekostet haben. Die Grundlagen, die im praktischen Leben und in vielen Berufen Anwendung finden, kann man sich bestimmt ohne große Schwierigkeit aneignen. Diese Erfahrung hätten sie wenigstens machen sollen, bevor sie sich über die schwere Erlernbarkeit äußerten. Zweitens erleichtert der systematische Aufbau, der gerade in der Geometrie sehr zweckmäßig ist, die Anstrengung und bringt viel Licht in ihr Studium. Drittens werden überall Beweise gelehrt. Auch wenn sie im letzten Fall der Kunst, gewissermaßen auf ihrem Höhepunkt, sich der Anschaulichkeit und unserem direkten Blick weiter entziehen, wie Städte, die wir aus der Ferne sehen, zeigen sie doch in allen übrigen Teilen viel weniger Schwierigkeit, weil sie mehr vor Augen liegen. Es ist äußerste Lässigkeit, das Studium abzulehnen, bevor man einen Versuch gemacht hat. Und es ist nicht zu rechtfertigende geistige Verweichlichung, beim Lernen kein bisschen Anstrengung auf sich nehmen zu wollen. Denn das Gemeinwesen hat uns die verantwortliche Pflege und Erhaltung der höchsten Werte anvertraut, die wir nur mit höchster geistiger Anspannung bewahren können. (Übersetzung von Gerhard Weng)
Nun bezieht sich Melanchthon auf Aristoteles und dessen Darstellung der Gerechtigkeit mit geometrischen Figuren. Aristoteles unterscheide im fünften Buch seiner Ethik, der Nikomachischen Ethik, zwei Arten von Gerechtigkeit, indem er sie mit der arithmetischen und geometrischen Proportion vergleiche. Diesen Vergleich habe Aristoteles von Platon übernommen. Melanchthon listet Beispiele für Anwendungen auf, bei denen entweder die arithmetische oder die geometrische Proportion für die Gerechtigkeit die richtige ist. Als ein Beispiel für die Verwendung der geometrischen Proportion gibt Melanchthon die Kirche an. Wenn es in der Kirche eine höchste Lehrautorität der besten und gelehrtesten Männer gäbe und jeder einzelne seine Aufgabe nach seinem Rang verstünde und erfüllte, dann würden sich die Unerfahrenen den Beschlüssen der Gebildeten fügen. Melanchthon fragt: Was gäbe es Glückseligeres als die Kirche, wenn sie nach dieser geometrischen Proportion verfasst wäre, die sowohl tyrannische Alleinherrschaft wie auch die Willkür des Volkes verhindert? Denn bei einer tyrannischen Alleinherrschaft gebe es keine Rangunterschiede, sondern alle Tüchtigen würden in gleicher Weise unterdrückt. Das Vorwort endet mit der persönlichen Ansprache an Johannes Wilhelm Reiffenstein (CR 3, 114; Übersetzung durch Gerhard Weng): Mein lieber Johannes, dir wurde durch Gottes Gnade gewiss eine Veranlagung zuteil, die von Natur aus gemäßigt und auch, was man an deinen Bildnissen wahrnehmen kann, für die Geometrie geeignet und für das philosophische Gemeinwesen durchaus angemessen ist. Ich hoffe aber, dass du infolge der väterlichen und meiner Ermunterung vor Begierde brennst, jene überaus herrliche Lehre von den Bewegungen und Wirkungen des Himmels kennenzulernen. Der Schritt zu ihr muss über die Geometrie gemacht werden. Du wirst aber der Meinung sein, dass du auch gottgefällig handelst, wenn du dir bei diesen Studien Mühe gibst. Platon hat nämlich sehr reizvoll gesagt, dass Gott immer vermesse, d. h. dass er, wie ich es jedenfalls interpretiere, alles lenke und nach absolut festem Gesetz die Himmelsbahnen und die ganze Schöpfung regiere. Daher heißt er ohne Zweifel
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das Studium derer gut, die ihn gewissermaßen bei der Beobachtung dieser Bahnlinien als Lenker anerkennen und verehren. Jakob Milichius hat in nützlicher Absicht die für die Universitäten am besten geeigneten Bücher der Arithmetik und Geometrie vereinigt. Sie sind von vorzüglichen Meistern verfasst, dazu noch an der Akademie, die einige Jahrhunderte der bedeutendste Sitz dieser Künste war. Denn auf Initiative des Verfassers Peuerbach wurde in Wien die Philosophie von den Himmelserscheinungen nahezu wiedergeboren, und jetzt bewahren und bereichern dort mit höchster Anerkennung ihren Besitz wie ein Erbe andere Gelehrte, besonders aber auch Johannes Vögelin, der Verfasser dieses Buches über die Grundlagen der Geometrie. Er hat sie allerdings in der Kürze und in dem systematischen Aufbau erfasst, wie sie, so hoffte er, den Lernenden am dienlichsten sein würde. Christus möge deine Studien und die der übrigen Jugend zum Wohl des Gemeinwesens lenken! Sei gegrüßt! Im August 1536
Interessant ist der Umstand, dass Johannes Vögelin und Philipp Melanchthon in Heidelberg studiert haben. Vögelin immatrikulierte sich am 21. Juni 1505 in der Artistenfakultät. Sein Baccalaureatsexamen legte er am 9. November 1506 ab und am 16. November 1508 das Magisterexamen in der Artistenfakultät. Da Melanchthon sich erst elf Monate später am 14. Oktober 1509 in Heidelberg immatrikuliert hatte, muss eher angenommen werden, dass sie sich in Heidelberg nicht mehr begegnet sind.
4.2.2.2 Vorwort zur Euklid-Ausgabe 1537 Basel Das Vorwort zu Vögelins Euklid-Buch findet Verwendung ein Jahr später im August 1537 in der Basler lateinischen Euklid-Ausgabe mit dem Titel Euclidis Megarensis mathematici clarissimi Elementorum Geometricorum Lib. XV. […]. Dieses bedeutende Buch druckte Johannes Herwagen erstmalig 1537 und in einer weiteren Auflage 1546. Sein Sohn Johannes Herwagen d.J. stellte 1558 einen weiteren Nachdruck her. Melanchthons Vorwort wendet sich an die heranwachsenden Studierenden: „PHILIPPVS MELANC[H]THON STVDIOSIS ADOLESCENTIBVS. S. D.“ Es ist in dieser Anrede verändert, gegenüber Vögelins Büchlein (libellus) an das umfangreiche Werk angepasst (liber), und in einer Anrede im Text steht „vos adolescentes adhortor“ anstelle „mi Ioannes et tui similes adhortor“. Auf die oben übersetzte persönliche Ansprache verzichtet Melanchthon komplett. Zum Abschluss der Reden und Vorworte zur Arithmetik und Algebra kann in Matthias Aubels Worten festgehalten werden: „Geometrie und Arithmetik bildeten für Melanchthon die grundlegenden Fächer zum Einstieg in das Studium der Philosophie und der Astronomie, der aus seiner Sicht höchsten mathematischen Kunst, die sich nach seiner Überzeugung die Kenntnis der Himmelskörper und die Untersuchung ihrer Bewegungen zur Aufgabe stellt und die Erkenntnis ermöglicht, in Gott den Baumeister der uns umgebenden Welt und der ihr zugrunde liegenden Ordnung zu erblicken.“ (Aubel 2008, 181)
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4.3 Melanchthons sonstiger Einsatz für die Mathematik 4.3.1 Universitäten Aufsehen erregte Melanchthon mit seiner Wittenberger Antrittsrede vom 28. August 1518 (CR 11, 15 – 25), wenige Tage nach seiner Ankunft in Wittenberg. In Bezug auf die Mathematik verwies er auf einige Männer wie Beda Venerabilis, Alkuin und einige Benediktinermönche, von denen keiner berühmt geworden sei, der seine Gelehrsamkeit nicht durch ein mathematisches Werk unter Beweis gestellt hätte (Mel.Dt 1, 46). Unter diesem Aspekt trug Melanchthon wesentlich zum Ansehen und zum Stellenwert der mathematischen Disziplinen gerade an der Universität Wittenberg bei (Schöneburg 2007, 11– 13). Bereits 1521 sprach Melanchthon die Empfehlung aus, dass zwei Professoren die mathematischen Fachgebiete vertreten sollten. Der Mathematiker Johannes Volmar müsse einen Kollegen erhalten (MBW 1, 169; CR 1, 396 – 398). Die zwei Lehrstühle in Wien am Collegium poetarum et mathematicorum, die 1502 erstmalig mit Andreas Stiborius und Johannes Stabius besetzt wurden, waren Vorbild für Wittenberg und weitere Universitäten, die ebenfalls zwei mathematische Lehrstühle einzurichten wünschten. In Wien sprach man von dem ersten und dem zweiten beziehungsweise dem einen oder anderen Lehrstuhl. In den Verhandlungen über eine Universitätsreform zwischen dem Geheimsekretär Georg Spalatin und den kurfürstlichen Räten mit der Universität in Anwesenheit des Kurfürsten Friedrichs des Weisen wurde festgelegt: „[…] detur negotium Mathematicam Maiorem et Minorem alternis diebus profitendi […].“ (Schöneburg 2007, 12– 13) Damit bürgerten sich in Wittenberg die Bezeichnungen der Mathematica Maior et Minor beziehungsweise der niederen und höheren Mathematik ein. Die Aufspaltung in zwei Lehrstühle wurde erst 1525 vollzogen. Johannes Volmar, der seit 1519 als einziger die Mathematikprofessur innehatte, erhielt die Professur für die höhere Mathematik, Johannes Longicampianus wurde als erster Professor für die niedere Mathematik berufen. Für die Universität Wittenberg war es eine schwierige Zeit des Umbruchs mit mehreren Unruhen. Außerdem brach im Sommer 1527 in Wittenberg die Pest aus, und die Universität war bis April 1528 geschlossen. Melanchthon und weitere führende Vertreter der Universität waren zur Wahrnehmung kirchlicher Aufgaben wie Visitationen und Religionsgesprächen häufig auf Reisen, sodass die Lehre an der Universität oft vernachlässigt wurde. Auf Longicampianus folgte nach dessen Tod Jakob Milich(ius). Als 1536 Johannes Volmar verstarb und Milichius in die medizinische Fakultät aufgenommen wurde, waren beide Lehrstühle vakant. 1536 fand eine Reform und Neukonstituierung der Wittenberger Universität statt. Davon profitierte auch die Mathematik mit der Bestätigung der beiden Lehrstühle. Melanchthon hat das große Verdienst, dass er sich nachhaltig dafür eingesetzt hat, mit Georg Joachim Rheticus für die niedere Mathematik und Erasmus Reinhold für die höhere Mathematik zwei sehr fähige Männer zu berufen. „Dabei lag der Schwerpunkt in der niederen Mathematik vor allem auf der Lehre der Arithmetik und der Einführung
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in die Astronomie, während die höhere Mathematik sich auf die Unterweisung der Elemente Euklids und der weiterführenden Astronomie konzentrierte.“ (Schöneburg 2007, 13) Auf spätere Neubesetzungen der mathematischen Lehrstühle nahm Melanchthon wiederholt entscheidenden Einfluss. Auf Details zu den Berufungen und Professuren von Erasmus Flock, Johannes (Aurifaber) Goldschmidt und Sebastian Dietrich für die niedere Mathematik und von Caspar Peucer wird hier verzichtet (vgl. hierzu Schöneburg 2007). Melanchthons Einfluss wirkte auch auf weitere Universitäten. So wurden nach dem Wiener und dem Wittenberger Vorbild beispielsweise1536 in Tübingen und um 1540 in Leipzig jeweils zwei mathematische Professuren eingerichtet. In Melanchthons Briefwechsel findet man zudem eine umfangreiche Korrespondenz mit Männern, die sich in der Mathematik betätigt haben. Hier sind in erster Linie Joachim Camerarius und Johannes Schöner zu nennen, mit denen Melanchthon freundschaftlich verbunden war. Das Verhältnis zu Michael Stifel stellte sich problematischer dar, obwohl Melanchthon Stifel lange Zeit unterstützte (Schneider 2015). Einen regen Briefwechsel führte Melanchthon mit dem Hofer Reformator, Pädagogen und Mathematiker Nikolaus Medler (Nikolaus Medler 2003). Aus dem Zeitraum von 1537 bis 1549 sind 69 Briefe von Melanchthon und umgekehrt drei von Medler erhalten. Es bleibt hier als Einschränkung festzuhalten, dass Melanchthon sich nicht mit deutschsprachigen Rechenmeistern und deren Rechenbüchern befasst hat. Es ist kein Kontakt bekannt zu seinem Zeitgenossen Adam Ries, der als Rechenmeister zu Annaberg ein Rechenbuch verfasst hatte, das über 120 Auflagen erlebte. Man weiß erstaunlicherweise auch nichts von einer Beziehung zu dem Wittenberger Rechenmeister Johann Albert, der über zwei Jahrzehnte als Küster unter Johannes Bugenhagen an der Stadtkirche St. Marien tätig war und als bedeutendster Rechenmeister nach Adam Ries ein Rechenbuch verfasst hatte, das in etwa 40 Auflagen gedruckt worden ist. Dabei ist interessant, dass bei den beiden ersten Auflagen 1541/42 und 1544 seines zweiten Rechenbuches von dem Drucker Georg Rhau auf dem Titelblatt ein Rahmen verwendet wurde, auf dem Melanchthons Wappen wiedergegeben ist. Eigentlich müssten sich Melanchthon und Johann Albert häufig in Wittenberg begegnet sein und sich auch gesprochen haben. Aber gerade dies ist wohl der Grund, dass es bei Melanchthon keine schriftliche Erwähnung des berühmten Wittenberger Rechenmeisters gibt. In vielen Briefen, die an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden, unterstrich Melanchthon die Bedeutung der mathematischen Wissenschaften. Joachim Camerarius (1777, 71) schrieb dazu in seiner Biographie Melanchthons: „Aber weil er wusste, dass alle Wahrheit des menschlichen Wissens auf den mathematischen Fächern beruhe und dass es ohne sie weder eine gewisse Lehre noch eine feste Erkenntnis gebe, lud und lockte er die Studenten mit allen erdenklichen Mitteln, sie zu betreiben.“ In dem Einleitungsgedicht auf die Dialektik des Antonius Gender von 1552 (übersetzt bei Weng 2003, 192; siehe CR 10, 609 – 610) schreibt Melanchthon indirekt, dass es zudem notwendig sei, im Leben die Zahlen zu kennen, dass aber erst im Gebrauch der Wert der Zahlen erkannt werde.
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4.3.2 Schulwesen Melanchthon korrespondierte wegen Schulmeisterstellen mit vielen Gemeinden. Im Folgenden werden die Ortschaften aufgelistet, zu denen im edierten Briefwechsel (MBW) eine Korrespondenz nachweisbar ist: Altenburg, Amberg, Ankershagen, Arnstadt, Bartfeld, Berlin, Borna, Brandenburg-Altstadt, Braunschweig, Bremen, Breslau, Buchholz, Coburg, Dillenburg, Dresden, Eilenburg, Eisenach, Eisfeld, Eisleben, Erfurt, Frankenhausen, Freiberg, Freystadt in Schlesien, Friedberg, Goldberg, Golßen, Görlitz, Gotha, Göttingen, Grimma, Groß Salze, Güstrow, Halle, Hamburg, Heringen, Hersbruck, Herzberg/Elster, Hof, Jena, Joachimsthal, Jungbunzlau, Kitzingen, Kloster Nienburg, Leitmeritz, Luckenwalde, Mansfeld, Meißen, Merseburg, Mühlhausen, Naumburg, Neumarkt/Oberpfalz, Neustadt/Orla, Nordhausen, Nördlingen, Nürnberg, Oelsnitz, Pforta, Pirna, Posen, Pößneck, Regensburg, Reval, Rossleben, Saalfeld, Salzwedel, Schlaggenwald, Schweinfurt, Schulpforta, Soest, Stettin, Stolberg, Tangermünde, Torgau, Waltershausen, Weimar, Wesel, Zeitz, Zerbst und Zwickau. Hierbei handelt es sich um verschiedene Bildungseinrichtungen (städtische Schulen, ehemalige Klosterschulen, Fürstenschulen), denen gemeinsam war, dass an ihnen auf Latein unterrichtet wurde. Nach Melanchthons Vorstellungen sollten auch die Fächer des Quadriviums berücksichtigt werden. Dies ist allerdings auf sehr unterschiedliche Weise geschehen.
5 Hat Melanchthon Mathematik betrieben? Hierzu fällt zunächst eine Aufgabe der griechischen Anthologie auf, die mit Melanchthons Namen verknüpft ist. Melanchthon hat sie aus der griechischen in die lateinische Sprache übersetzt (CR 10, 566; CR 19, 182,15 – 25): Philippus Melanthon. Mulae Asinaeqe duos imponit servulus utres Impletos vino, segnemque ut uidit Asellam Pondere defessam vestigia figere tarda Mula rogat. Quid cara parens contare, gemisque? Unam ex utre tuo mensuram si mihi reddas, Duplum oneris tunc ipsa feram; sed si tibi tradam Unam mensuram, fient aequalia utrique Pondera. Mensuras dic docte Geometer istas.
Die deutsche Übersetzung lautet: „Einer Mauleselin und einer Eselin legt ein junger Diener Schläuche auf, die mit Wein gefüllt sind. Als sie sieht, dass die Eselin schlaff, vom Gewicht ermüdet, ihre Hufe langsam setzt, fragt die Mauleselin:Was, liebe Mutter, zögerst du und stöhnst? Wenn du mir aus deinem Schlauch ein Maß gäbest, dann trüge ich das Doppelte an Last. Aber wenn ich dir ein Maß übergäbe, werden für jede von
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beiden die Gewichte gleich. Nenne diese Maße, gelehrter Geometer!“ (Übersetzung von Stefan Deschauer) Diese Aufgabe aus der Unterhaltungsmathematik hat Melanchthon aus früheren Quellen übernommen. Die Aufgabe fand sich bereits in der Aufgabensammlung des griechischen Mathematikers Diophant von Alexandria. Sie war im Mittelalter unbekannt und wurde erst 1462 von Johannes Regiomontanus wiederentdeckt, als er in Venedig auf die Handschrift Cod. marc. gr. 308 (13. Jahrhundert) aufmerksam wurde. Er berichtete über sie in einer Vorlesung 1464 an der Universität Padua. Die Aufgabe selbst war aber schon bekannt durch eine Sammlung von Aufgaben der Unterhaltungsmathematik, die der Überlieferung nach von Metrodorus zusammengestellt wurde (Folkerts/Gericke 1993, 314). Unter welchen Umständen und zu welchem Zeitpunkt Melanchthon auf diese Aufgabe gestoßen ist, ist unklar. Erstmalig wird sie 1540 erwähnt. Es ist denkbar, dass er sie von Johannes Schöner erfahren hat, eventuell bereits früher in Pforzheim von Johannes Reuchlin oder in Heidelberg. Die Aufgabe wird mit dem Namen Melanchthons in Rechenbüchern verschiedener Autoren wie Reiner Gemma Frisius (Arithmeticae practicae methodus facilis, Wittenberg 1542, f. K7v und später), Johann Scheubel (De numeris et diversis rationibus, Leipzig 1545, f. i6v; Euclidis Megarensis, Philosophi Mathematici excellentissimi, sex libri priores, Basel 1550, f. Kr; Algebrae compendiosa facilisque descriptio, Paris 1551 und 1552, f. Nijv) und Nikolaus Medler (Rudimenta Arithmeticae practicae, Wittenberg 1550, f. E iiijv; Handschrift Commentarii in totam arithmeticam practicam iusto ordine traditam Tomus primus, Bibliothek des Jean-Paul-Gymnasiums Hof, 1547– 1549, Sign. Paed. 3713, f. 107v) wiedergegeben.
6 Hat Melanchthon gerechnet? Melanchthon hat sich auch mit Themen befasst, bei denen er mit Rechenaufgaben konfrontiert war. Beispielsweise schrieb Melanchthon in der von Joseph Klug 1544 gedruckten Abhandlung Vocabula rei nummariae, ponderum & mensuram Graeca, Latina & Ebraica, quorum intellectus omnibus necessarius est: collecta ex Budei, Ioachimi Camerarii, & Philippi Melanth. Annotationibus. den achtseitigen Part Vocabula mensurarum et rei numariae, in dem Maß- und Währungseinheiten umgerechnet werden mussten. Die Koautoren waren Guglielmus Budaeus und Joachim Camerarius. Das Geschichtswerk Chronica Carionis des Johannes Carion, das Melanchthon überarbeitet und weitergeführt hatte, enthält viele Jahreszahlen, die Melanchthon zu vielerlei Berechnungen von Zeitperioden und insbesondere dem Alter der Welt verleiteten. Melanchthon hatte unter anderem, wie bereits erwähnt, in dem Vorwort vom 17. April 1544 zum Arithmetikbuch des Ammonius berechnet, dass Noah vor 3845 Jahren die Arche betreten haben musste. Auch im Alltagsleben hatte er ganz gewöhnliche Berechnungen durchzuführen. So existiert beispielsweise eine umfangreiche Reisekostenabrechnung (MBW 1, 836; Autograph im Melanchthonhaus Bretten [Hs. 105]) der Reise von Wittenberg zum
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Marburger Religionsgespräch 1529, die Melanchthon, Luther und weitere Reformatoren angetreten hatten. Mit welchen Ziffern hatte Melanchthon bei diesen Gelegenheiten gerechnet? Hier schätzte er die neuen indisch-arabischen Ziffern. Auch die meisten Jahreszahlen hat er mit diesen Ziffern geschrieben. Daneben hat er eher vereinzelt bei einzelnen Zahlen noch die römischen Ziffern verwendet, am ehesten bei den Zahlen 1, 2, 3 und 10.
7 Fazit Melanchthon hat sich bei vielen Gelegenheiten, hauptsächlich in Briefen (MBW bzw. CR), zur Bedeutung der Mathematik und ihrer Teilgebiete geäußert. Abschließend kann in diesem Sinn festgehalten werden: Philipp Melanchthon war zwar kein Mathematiker, hat aber die Bedeutung der Mathematik erkannt, schätzte und bewunderte sie und war in seiner Zeit ihr wichtigster geistiger Förderer an den Universitäten und höheren Schulen. Durch seinen bedeutenden Ruf zählte auch auf diesem Gebiet Melanchthons Meinung, vielleicht sogar gerade deshalb, weil er kein Mathematiker war. Karin Reich (1998, 121) stellt fest: „Seiner vielfältigen Unterstützung der mathematischen Lehre und seinem steten Trachten nach Verbreitung des mathematischen Wissens sollte daher gebührende Beachtung geschenkt werden.“ Und Matthias Aubel (2008, 173) resümiert: „Wie die übrigen Wissenschaften wurde die Mathematik von Philipp Melanchthon als eine Gabe Gottes aufgefasst, die […] als ein von Gott empfangenes Gut der besonderen Pflege bedürfe und den Menschen in die Lage versetzen könne, zur Erkenntnis vom Dasein und von der Größe Gottes vorzustoßen. Angesichts des aus seiner Sicht stets fortlaufenden, allgegenwärtigen göttlichen Wirkens und Lenkens ordnete Melanchthon der Mathematik somit eine religiöse Funktion zu.“
Quellen Camerarius, Joachim. 1777. Ioachimi Camerarii De Vita Philippi Melanchthonis Narratio, hg. v. Georg Theodor Strobel und Johann August Nösselt. Halle a. d.S. Knobloch, Eberhard und Otto Schönberger. 2007. Michael Stifel. Vollständiger Lehrgang der Arithmetik. Deutsche Übersetzung mit einem Nachwort von Eberhard Knobloch. Würzburg.
Literatur Aubel, Matthias. 2008. Michael Stifel. Ein Mathematiker im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Algorismus, Studien zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 72. Augsburg. Bauer, Siegfried et al. 1989. „Michael Stifel: Arithmetica Integra.“ Esslinger Studien 28: 75 – 129. Bernhardt, Christian Wilhelm. 1865. Philipp Melanchthon als Mathematiker und Physiker. Wittenberg.
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Cantor, Moritz. 21913. Vorlesungen über Geschichte der Mathematik. 2. Bd. Leipzig. Deschauer, Stefan. 2003. Die Arithmetik-Vorlesung des Georg Joachim Rheticus Wittenberg 1536. Eine kommentierte Edition der Handschrift X-278 (8) der Estnischen Akademischen Bibliothek. Algorismus, Studien zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 42. Augsburg. Folkerts, Menso und Helmuth Gericke. 1993. „Die Alkuin zugeschriebenen Propositiones ad acuendos iuvenes (Aufgaben zur Schärfung des Geistes der Jugend).“ In Science in Western and Eastern Civilization in Carolingian Times, hg. v. Paul Leo Butzer und Dietrich Lohrmann, 283 – 362. Basel. Kremer, Hans-Jürgen. 1997. „Lesen, Exercieren und Examinieren“: Die Geschichte der Pforzheimer Lateinschule; höhere Bildung in Südwestdeutschland vom Mittelalter zur Neuzeit. Ubstadt-Weiher. Martin, Wolfgang. 1997. „Das Schulwesen in Bretten in den Kinderjahren Melanchthons.“ In „Als ich ein Kind war…“: Bretten 1497 – Alltag im Spätmittelalter, hg. v. Peter Bahn, 47 – 65. Ubstadt-Weiher. Nikolaus Medler (1502 – 1551), Reformator – Pädagoge – Mathematiker. 2003, hg. v. Nordoberfränkischen Verein für Natur-, Geschichts- und Landeskunde e.V. Hof. Oestmann, Günther. 1997. „Johannes Stoeffler, Melanchthons Lehrer in Tübingen.“ In Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland. Bildungsstationen eines Reformators. Ausstellungskatalog, hg. v. Stefan Rhein, Armin Schlechter und Udo Wennemuth, 75 – 85. Karlsruhe. Reich, Karin. 1988. „Melanchthon und die Mathematik seiner Zeit.“ In Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit. MSB 4, hg. v. Günter Frank und Stefan Rhein, 105 – 121. Sigmaringen. Reich, Karin. 2010. „Johannes Stöffler – Melanchthons Tübinger Lehrer in Mathematik und Astronomie.“ In Vom Schüler der Burse zum „Lehrer Deutschlands“. Philipp Melanchthon in Tübingen, hg. v. Sönke Lorenz et al., 138 – 151. Tübingen. Reich, Karin. 2012. „Philipp Melanchthon im Dialog mit Astronomen und Mathematikern. Ausgewählte Beispiele.“ Mathematik und Naturwissenschaften in der Zeit von Philipp Melanchthon. Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 26: 27 – 58. Reich, Karin. 2014. „Joachim Ammonius’ ‚Isagoge arithmetices‘ und Melanchthons Vorwort (1544).“ In Arithmetik, Geometrie und Algebra in der frühen Neuzeit. Schriften des Adam-Ries-Bundes Annaberg-Buchholz 23, 115 – 127. Annaberg-Buchholz. Reich, Ulrich. 2005. „Über hundert Auflagen: Das Arithmetikbuch des Gemma Frisius (1508 – 1555).“ In Arithmetische und algebraische Schriften der frühen Neuzeit. Schriften des Adam-RiesBundes Annaberg Buchholz 17, hg. v. Rainer Gebhardt, 323 – 339. Annaberg-Buchholz. Reich, Ulrich. 2014. „Johannes Vögelin (um 1490 – 1549) aus Heilbronn, Leben und Druckwerk.“ In Mathematik und Anwendungen. Forum 14, Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien, hg. v. Michael Fothe et al., 77 – 82. Bad Berka. Schneider, Martin. 2015. „Michael Stifel und Philipp Melanchthon. Zwei Freunde Luthers und das Ende einer Beziehung.“ In Michael Stifel. Reformation + Mathematik = Apokalypse. Lose Reihe 6, hg. v. Felix Engel und Gerd-Christian Th. Treutler, 24‐34. Potsdam. Schöneburg, Silvia. 2007. Zur mathematischen Lehrtätigkeit an der Universität Wittenberg im 16. und frühen 17. Jahrhundert, dargestellt unter besonderer Berücksichtigung des Wittenberger Mathematikers Ambrosius Rhodius (1577 – 1633). Univ. Diss. Halle a. d.S. Weng, Gerhard. 2003. „Philipp Melanchthons Gedichte zum akademischen Leben an der Leucorea zu Wittenberg.“ In Zur Geistesgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Fragmenta Melanchthoniana 1, hg. v. Günter Frank und Sebastian Lalla, 179 – 241. Ubstadt-Weiher. Weng, Gerhard und Ulrich Reich. 2016. „Philipp Melanchthon ‚Vorrede zu Elementale Geometricum von Johannes Vögelin‘“. In Humanismus und Reformation. Fragmenta Melanchthoniana 6, hg. v. Günter Frank, 68 – 76. Ubstadt-Weiher.
Martin Schneider
Geschichte
„Überhaupt ist die Kenntnis der Geschichte für alle Menschen notwendig“, schreibt Melanchthon im Widmungsbrief zum 1. Teil des Chronicon Carionis im März 1558 (MBW 8600; Scheible 1966a, 27). Hier und an vielen anderen Stellen weist er der Geschichte einen hervorgehobenen Platz im Gesamtprogramm von Bildung und Wissenschaft zu. Und dies gilt nicht erst seit seinen späten Jahren, als er mit seinen Vorlesungen zur Universalgeschichte begann, sondern von Anfang an war die Geschichte für ihn Gegenstand des Interesses. Schon als Knabe habe er sich, sozusagen als Ausgleich zu den trockenen Übungen in der Dialektik und Physik, „in kindlicher Neugier“ den Dichtern und dann auch den Historien und Fabeln zugewandt, schreibt er 1541 im Rückblick auf die Studienjahre in Heidelberg (MBW 2780; CR 4, 715). Wenn dann später in seiner Tübinger Magistervorlesung von 1518 zu hören war, dass Poesie und Geschichte die traditionelle Siebenzahl der freien Künste ergänzen, so entsprach dies dem Konzept der humanistischen Bildungsreform, in die der Brettener hineingehört (MSA 3, 26; Beyer et al. 2012, 26; Scheible 2000b, 237). Melanchthons Interesse an der Geschichte wurde durch seinen Lehrer Johannes Reuchlin gefördert. Andere humanistische Gelehrte wie der Elsässer Jakob Wimpfeling und sein Landsmann Beatus Rhenanus trugen damals wesentlich dazu bei, dass die deutsche Geschichte zum Gegenstand der Forschung wurde (Mertens 2000, 44; Joachimsen 1910, 125). Der junge Melanchthon sammelte dann erste Erfahrungen im Umgang mit Geschichtswerken, als er in der Druckerei des Thomas Anshelm in Tübingen mit Korrekturarbeiten an der Chronik des Tübinger Kanzlers Nauclerus befasst war. Zu dieser Chronik schrieb Johannes Reuchlin die Vorrede und in seiner Wittenberger Antrittsrede zitiert Melanchthon fast wörtlich aus dieser Vorrede seines Lehrers und stellt die These in den Raum, „ohne diese [resp. die Geschichte, d.Vf.) kann kein Bereich des Lebens, weder der öffentliche noch der private, auskommen.“ Melanchthon fährt dann fort: „Die Musen sind […] von der Göttin der Erinnerung geboren“, und dies bedeute nicht mehr oder weniger, „dass alle Kunst und Wissenschaft in der Geschichtsschreibung ihren Ursprung hat.“ (MSA 3, 39 und Beyer et al. 2011, 56; Scheible 2000b, 230) 42 Jahre später, wenige Tage vor seinem Tode, beendet Melanchthon die Arbeit an seiner Universalgeschichte, dem Chronicon Carionis und beschreibt dort in seiner Vorrede die Geschichte als ein „Schaubild des Menschengeschlechts“ (CR 9, 1077). Es blieb also nicht bei einem Programm; Melanchthon hat im Verlauf seiner langen und vielseitigen Lehrtätigkeit und wissenschaftlichen Arbeit der Geschichte zu einem herausragenden Platz im Reigen der Wissenschaften verholfen, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen werden.
DOI 10.1515/9783110335804-043
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1 Geschichte im Gesamtwerk Melanchthons Eine Zusammenfassung von Melanchthons Schriften zur Geschichte findet sich schon im Inhaltsverzeichnis des Corpus Reformatorum. Der Herausgeber Bretschneider benennt dort verschiedene Formen und Gattungen der Schriften zur Geschichte: Geschichtswerke, Reden, Briefe, Vorreden und Gedichte (CR 20, 430 – 438). Die historischen Schriften, die Reden über historische Persönlichkeiten oder zu Ereignissen sowie Vorreden zu historischen Werken anderer oder zur Neuausgabe von antiken Historikern, verdienen also besondere Beachtung. Aus den Briefen, das heißt im Austausch mit Freunden, ergeben sich wichtige Einsichten in die konkrete Situationen und die Zusammenhänge, die zur Einordnung und zum Verständnis von Melanchthons historischen Werken unbedingt beitragen. Die Gedichte schließlich dokumentieren auf ihre Weise das persönliche lebenslange, intensive Interesse Melanchthons am Gang der Geschichte und dem Schicksal einzelner Personen oder bestimmter Orte. Es fehlen in Bretschneiders Aufzählung die Vorlesungen zur Universalgeschichte (Scherer 1927a, 359 – 366) und die vielen historischen Anekdoten, die Melanchthon auch in seine Vorlesungen und Werke einzustreuen pflegte (CR 20, 519 – 608; Beyer et al. 2011, 308 – 312). Im Folgenden sollen nun aus diesen verschiedenen Gattungen einige Beispiele vorgestellt werden, die das breite Spektrum der Schriften und damit auch die Weite und Tiefe von Melanchthons Interesse an der Geschichte verdeutlichen.
1.1 Vorreden Melanchthons Vorreden zu historischen Werken wie den Ausgaben antiker Historiker oder den Neuausgaben mittelalterlicher Chroniken müssen zuerst genannt werden; sie dokumentieren sein Interesse an den Geschichtswerken. In der Online-Ausgabe von Melanchthons Briefwechsel (siehe C.I. Briefe) werden 287 Vorreden aufgeführt, davon sind immerhin ca. 30 historischen Werken zuzuordnen. Mit seinen Vorreden förderte er die historische Arbeit allgemein und kann hier zugleich seine grundsätzliche Auffassung von Sinn und Nutzen der Geschichte weiter vermitteln. Bereits 1525 erscheinen die Annalen des Lambert von Hersfeld mit einer Vorrede Melanchthons (MBW 304; CR 1, 749 – 750). Die Chronik des Burchard von Ursperg wurde von dem Straßburger Reformator Caspar Hedio 1537 in einer eigenen Bearbeitung neu herausgegeben. Zu der deutschen Ausgabe, die zwei Jahre später erschien, verfasste Melanchthon eine ausführliche Vorrede, die später in veränderter Form auch dem 1541 von Hedio neu herausgegebenen Werk des Johannes Cuspinian vorangesetzt wurde (Scheible 1966a, 19 – 26). Von besonderem Interesse ist auch die Vorrede zum 2. Band der lateinischen Ausgabe von Luthers Werken, in der Melanchthon kurz nach Luthers Tod eine erste zusammenfassende Darstellung von Luthers Leben bietet (MBW 4277; CR 6, 155 – 170; Beyer et al. 1997, 169 – 188).
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Die Vorreden wollen den Nutzen der Geschichte für das gesamte Leben aufweisen. Sie haben nicht nur die akademische Jugend vor Augen, sie wenden sich teilweise direkt an die in Kirche und Politik Verantwortlichen und sind jeweils bestimmten führenden Persönlichkeiten gewidmet; die Vorrede zur Chronik Hedios dem Pfalzgrafen Philipp, die Vorrede zu Xenophon dem französischen Diplomaten Guillaume du Bellay und die Chronik Carions dem Erzbischof Sigismund von Magdeburg (MBW 1875, 2341, 8600). Der pädagogische Sinn und Zweck kann auch eine konkrete politische Dimension bekommen. So soll sich du Bellay dafür einsetzen, dass die Verfolgung der Protestanten in Frankreich aufhört (MBW.T 9, 2341, 43; Frank/Schneider 2011, 224). Im Allgemeinen wird im Sinne der Leitgedanken von Melanchthons Ethik den Herrschenden die Sanftmut und Mäßigung ans Herz gelegt.
1.2 Akademischen Reden In vielen Reden vor allem an den entsprechenden Gedenktagen widmet sich Melanchthon einzelnen Persönlichkeiten und Ereignissen. Diese Reden wurden im Rahmen von Veranstaltungen der Universität Wittenberg oft von anderen vorgetragen (Koehn 1985, 1289 – 1290). Für ihn wie für die meisten Geschichtsschreiber seiner Zeit verdichtete sich das Geschehen in Leben und Werk bestimmter Personen. Vielen, denen Melanchthon eine Rede gewidmet hat, ist er persönlich verbunden. An erster Stelle ist hier Martin Luther zu nennen. Dem Freund und Lehrer gilt die Gedenkrede an seinem Grab in der Wittenberger Schlosskirche am 22. Februar 1546 (Bräuer 1996, 210 – 214; Beyer et al. 1997, 156 – 168) und eine ausführliche Lebensbeschreibung in seiner Vorrede zum 2. Band von Luthers Werken (CR 6, 155 – 170; Beyer et al. 1997, 169 – 188). Die großen Philosophen Platon und Aristoteles (CR 11, 413 – 425 und 342 – 349; Beyer et al. 2011, 136 – 169), seine humanistischen Lehrer Johannes Reuchlin (CR 11, 999 – 1010), Erasmus von Rotterdam (CR 12, 264– 271) und Rudolf Agricola (CR 11, 438 – 446) sind ebenso Gegenstand von Reden wie die in Melanchthons Augen vorbildlichen Fürsten Kurfürst Friedrich der Weise (CR 11, 962– 975) und Herzog Eberhard von Württemberg (CR 11, 1021– 1030). Welthistorische Ereignisse wie die Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453 (CR 12, 153 – 161), der sacco di Roma 1528 (CR 11, 130 – 139) und die Unterredung Kaiser Karls V. mit Papst Clemens VII. in Bologna 1530 (CR 12, 307– 315) werden in ihrer Bedeutung gewürdigt, auch einzelne Landschaften wie Franken (CR 11, 383 – 397). Da es sich bei diesen Gedenkreden um laudationes also um Lobreden in antiker Tradition handelt, wird man hier eine kritische Betrachtung oder eine historische Genauigkeit nicht erwarten können. Dennoch enthalten sie viele wichtige Informationen, sind sie doch vielfach aus persönlicher Begegnung erwachsen. Was wir zum Beispiel über Johannes Reuchlin oder den Kanzler Gregor von Brück erfahren, bieten sonst keine anderen Quellen. Melanchthons Bericht über den Thesenanschlag Luthers an der Tür der Wittenberger Schlosskirche in seiner Vorrede zum 2. Band der latei-
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nischen Werke Martin Luthers sei hier als Beispiel genannt, wie Melanchthon eine folgenreiche Tradition begründet, deren Historizität aber bis heute umstritten ist.
1.3 Vorlesungen zur Geschichte Nach Vorlesungen zu einigen antiken Historikern wie Livius beginnt 1555 mit der ersten Vorlesung zur Universalgeschichte eine neue Epoche in Melanchthons Lehrtätigkeit an der Wittenberger Universität. Seine Vorlesungen sind zugleich das Manuskript für die Neubearbeitung und Erweiterung der Chronik Carions, wie aus den Aufzeichnungen zweier Hörer dieser Vorlesungen hervorgeht (Berger 1897, 781– 790). Melanchthon liest wöchentlich zwei Stunden und dies bis kurz vor seinem Tod. Die letzte Vorlesung am 9. April 1560 behandelt das Leben Karls des Großen und endet mit den Worten: „jetzt ist es genug“ (Scherer 1927b, 365). Mit Karl dem Großen endet auch die Chronik, die im Todesjahr mit Melanchthons Vorrede erscheint. Die Vorlesungen werden nach seinem Tode von seinem Schwiegersohn Caspar Peucer weitergeführt, der auch den dritten und letzten Band der Chronik verfasst (Neddermeyer 1997, 69 – 101).
1.4 Anekdoten Melanchthon war auch ein Erzähler.Viele Anekdoten in seinen Schriften und vor allem in seinen Vorlesungen sind dafür Beleg (CR 20, 519 – 608; Beyer et al. 2011, 308 – 312). Er war sich wohl bewusst, dass in der Erzählung Geschichte lebendig wird.Was er über seinen theologischen Widerpart Johannes Eck, dem er zuletzt 1541 in Regensburg gegenübersaß, zu erzählen wusste, dürfte Kurfürst August von Sachsen, dem Auftraggeber eines Gutachtens und manch anderen Lesern gefallen haben. Eck, so berichtet er, habe sich damals über Melanchthons Kritik an der katholischen Lehre vom Abendmahl so geärgert, dass er sich danach betrunken habe und am nächsten Tag nicht verhandlungsfähig war (CR 9, 472; Frank/Schneider 2011, 122).
1.5 Gedichte Melanchthons Gedichte in lateinischer oder auch griechischer Sprache waren Kennzeichen und Beweis seiner humanistischer Gelehrsamkeit, aber waren zumindest seiner Meinung nach kein Ausdruck einer besonderen dichterischen Begabung (CR 10, 41– 672; Hartfelder 1889, 320; Fuchs 2008, 48 – 50). Sie entstanden zumeist als Nebenprodukt seiner umfangreichen literarischen Produktion, wurden in Briefe an Freunde eingefügt oder als Widmungen in Bücher eingetragen. Neben einer Vielzahl von Epitaphien, die Freunden, Familienangehörigen oder anderen gewidmet wurden, sind in unserem Zusammenhang jene Gedichte erwähnenswert, die sich der Geschichte einzelner Orte oder Städte widmen, wie dem sächsischen Torgau (CR 10, 612).
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Nicht zuletzt hat er 1555 in Nürnberg der Lektüre historischer Werke ein besonders aussagekräftiges lateinisches Gedicht gewidmet, das mit den Worten beginnt: „Gott selbst hat kunstvoll die Grenzen der Jahre festgelegt und befohlen, sie mit den Augen und dem Verstand zugleich wahrzunehmen.“ (CR 10, 629) Auch der Weissagung Daniels von den vier Monarchien sind Gedichte gewidmet (CR 10, 635).
1.6 Historien Neben verschiedenen kleineren historischen Arbeiten bleibt Melanchthons Name vor allem mit der Chronik Carions verbunden. Sein Anteil an den verschiedenen Ausgaben der Chronik war und ist Gegenstand historischer Forschung. Die Erstausgabe von 1532 stellt sich nach den neuesten sorgfältigen Untersuchungen als eine Gemeinschaftsarbeit von Johannes Carion und Philipp Melanchthon dar (Prietz 2014, 38). Melanchthon kannte Johannes Carion, den brandenburgischen Hofastrologen, seit den gemeinsamen Studienjahren in Tübingen. Die von Carion gelieferte Vorlage hat er intensiv bearbeitet und weiter verändert, wie die vielen nachfolgenden Drucke zeigen. In einer lateinischen Übersetzung von Hermann Bonnus wurde das Buch zur Grundlage für den Lehrbetrieb an den Universitäten. Da Melanchthon diese Übersetzung aber nicht für gelungen hielt, begann er nochmals mit einer grundlegenden Revision, die dann zu einer Neuausgabe mit dem Titel Chronicon Carionis Latine expositum et […] A Philippo Melanthone führte, deren erster Band 1558 und der zweite dann 1560 in Wittenberg erschienen sind (CR 12, 707– 1094). Hier erscheint dann sein Name auch im Titel.Warum dies nicht schon bei den Ausgaben ab 1532 geschah, bleibt eine offene Frage. Tatsächlich erscheint die Chronik Carions in einer politisch angespannten Zeit, in der Melanchthon als Repräsentant der Wittenberger Reformatoren dieses Werk nicht direkt mit seinem Namen verbunden wissen wollte (Prietz 2014, 11). In allen Fassungen bleibt es bei der Grundstruktur, die sich zum einen in traditioneller Weise an der Danielweissagung von den vier Tieren orientierte, zum anderen aber an der Einteilung in drei Zeitalter entsprechend der Weissagung des Elia. Die Verbreitung der verschiedenen Fassungen der Chronik in ganz Europa, die unzähligen Neuauflagen und verschiedenen Übersetzungen belegen, welch eine Resonanz dieses Buch zu seiner Zeit und noch später bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fand. Die Chronik war sowohl Grundlage für den Lehrbetrieb an den Universitäten als auch in den jeweiligen Volkssprachen Lektüre für das gebildete Publikum (Fueter 1985, 187). Dies erstaunt umso mehr, als die Kritik an Konzeption und Methode schon im 17. Jahrhundert einsetzte (Völkel 2006, 341– 342). Die Chronik war ein Standardwerk und in ihrer Wirkung vergleichbar mit Melanchthons theologischem Hauptwerk, den Loci communes. Ihr Erfolg erklärte sich daraus, dass sie „schlüssig und in kompakter Form den Wandel in der Geschichte in Bezug auf die Gegenwart“ erklärte (Prietz 2014, 672).
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2 Geschichte als göttlich geordnete Zeit Für Melanchthon war das Interesse an Geschichte und an Geschichtsschreibung Ausdruck seines Suchens nach dem eigenen Ort und nach einem Halt in einer Zeit ungeheurer Veränderungen. In der Rückschau beschreibt er seine Jugend als goldenes Zeitalter und meint damit die Jahre vor der fatalis discordia, vor dem folgenschweren Streit also um die Reform der Kirche (MBW 2780; CR 4, 715). Demgegenüber verstand er schon in den dreißiger und vierziger Jahren seine Gegenwart als letzte Zeit und sprach von der senecta mundi, vom Greisenalter der Welt (Schneider 2010, 158). Man wird hier zunächst eine altersbedingte Verklärung der Jugend und eine entsprechende negative Sicht der Gegenwart vermuten, aber diese Einschätzung und Bewertung finden wir nicht nur bei ihm, sie ist Ausdruck der Stimmung vor allem nach dem Augsburger Reichstag von 1530 und der darauf folgenden spannungsgeladenen Zeit mit der ständigen Angst vor einem Gewaltakt des Kaisers gegen die Protestanten und einem weiteren Vordringen der Türken (Prietz 2014, 672). Zeit und Geschichte waren für ihn kein Ergebnis des Zufalls; gegen ein solches Verständnis der Geschichte hat er sich stets leidenschaftlich gewehrt. Was für die Existenz der Welt gilt, dass sie nämlich ein Ergebnis göttlichen Handelns und kein „zufälliges Zusammenkommen von Atomen“ war (CR 10, 62) – wie dies Melanchthon in seinem Gedicht über den Nutzen und die Notwendigkeit der Beschäftigung mit der Geschichte bekenntnishaft ausdrückt – gilt auch für den Lauf der Geschichte. Ihre von Gott vorgegebene Ordnung und Struktur zu erkennen, war das leitende Interesse an seiner lebenslangen Beschäftigung mit den Zeugnissen der Vergangenheit.
2.1 Drei Zeitalter Die Grundstrukturen der Geschichte lassen sich nach Melanchthons fester Überzeugung aus der biblischen Tradition ableiten, zu der für ihn nicht nur die traditionelle Einteilung in die vier Monarchien gehörte, sondern auch die besondere Tradition des Hauses Elia. Diese sogenannte Weissagung des Elia,von ihm unzählige Male zitiert und auch als Widmung in viele Bücher eigenhändig eingeschrieben, begegnet zuerst in der Chronik Carions von 1532.Wie aus einer Notiz von Michael Stifel hervorgeht, scheint sie schon 1530 Melanchthon bekannt gewesen zu sein (Prietz 2014, 452). In der Chronik Carions von 1532 wird sie auf folgende Weise von Melanchthon in der Vorrede eingeführt und zitiert: „Wer historien nüzlich lesen will, sol alle zeit von anfang der welt in ein richtige ordnung fassen; darümb haben etlich die welt geteilet in sieben etates und rechnen die selbigen mancherlei, machen damit mehr ein unordnung denn ein ordnung. Ich will fur mich nehmen den köstlichen Spruch des trefflichen propheten Elia, der hat die Welt fein geteilet in drei alter und damit angezeiget die höchsten verenderung in der welt, auch, wenn Christus hat komen sollen, wie lang auch diese welt weren sol und lautet also:
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Sechs tausend jar ist die welt, und danach wir sie zubrechen. Zwei tausend oed. Zwei tausend das gesetz Zwei tausend die zeit Christi Und so die zeit nicht gantz erfüllet wird, wird es feilen umb unser sunde willen, wilche gros sind.“ (Scheible 1966a, 17).
In einem Brief an Johannes Carion vom 17. August 1531 erklärt Melanchthon, er habe diesen bei den Rabbinen weit verbreiteten Spruch hier eingefügt, um die Chronik Carions noch bekannter werden zu lassen, dieser fände sich auch bei Burgensis (MBW 1177; MBW.T 5, 1171). Tatsächlich findet sich der Spruch nicht nur im scrutinium scripturarum des Paulus Burgensis, sondern auch im babylonischen Talmud. Er findet sich auch als Buchinschrift von der Hand Melanchthons in hebräischer Schrift (Scheible 1995, 115 – 116). In allen weiteren Ausgaben der Chronik und auch in der späteren Neufassung von 1558/1560 wird dieser Spruch angeführt. Es handelt sich hierbei um eine christliche Umdeutung einer Messias-Weissagung, die im jüdischen Verständnis die Verzögerung des Kommens zum Inhalt hat – „wegen der Sünden“ (Köstlin 1878, 133). Ganz neu ist diese Epocheneinteilung nicht. So finden sich schon bei Thomas von Aquin die drei Epochen vor dem Gesetz, unter dem Gesetz und unter der Gnade entsprechend den Personen Adam, Mose und Christus (Hünermann 2006, 561– 562). Für diese Einteilung sprach, dass sie den reformatorischen Grundkriterien von Gesetz und Evangelium entsprach (Leppin 1999, 139).
2.2 Endzeit Nach dieser Grundstruktur und dem allgemeinen christlichen Zeitverständnis war die Zeit nach der Geburt Jesu Christi letzte Zeit. Und in dieser letzten Zeit galt es, auf die Zeichen der Zeit zu achten und die Ankündigung eines Antichrist ernst zu nehmen. Die besondere Endzeiterwartung, die sich schon in der Frühzeit der Reformation findet, hat in doppelter Weise diese Erscheinung des Antichrist wahrgenommen, im Papsttum und in der Bedrohung durch die islamischen Türken. Schon früh hatte sich bei Luther die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Papst der im Evangelium angekündigte Antichrist sei. In einer Flugschrift von 1523 mit dem Titel Von dem Papstesel zu Rom führt auch Melanchthon nach Dan 8 den Beweis, dass der Papst der in der Bibel angekündigte Antichrist sei (CR 20, 663 – 673). Dem entspricht allerdings nicht, dass er noch 1537 in seinem Sondervotum zu den Schmalkaldischen Artikeln dem Papst als dem Bischof von Rom noch einen möglichen Primat nach menschlichem Recht zubilligt (Scheible 1995, 89 – 91). Im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der Papstkirche ist ein weiteres Motiv für die Beschäftigung mit der Geschichte zu finden; es galt in Anknüpfung an die genuine, unverfälschte Lehrtradition der alten Kirche den reformatorischen Standpunkt zu verteidigen. Unausweichlich war hier der Anschluss an die Tradition der christlichen Lehre und ein entsprechendes Verständnis der Kirchen-
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und Dogmengeschichte. So findet sich zum Beispiel ein differenziertes Bild der Lehrentwicklung in seiner Rede über Luther und die Zeitalter der Kirche von 1548 (CR 11, 783 – 788; Beyer et al. 2011, 189 – 196). Nicht zuletzt war die Apologie der Augsburgischen Konfession mit ihren ausführlichen Zitaten aus den Werken der Kirchenväter Ausdruck dieses Bemühens. Auch in der Vorrede zur Chronik Hedios von 1539 betont er: „darumb sollen besonder wir Christen disen nutz erstlich in den historien suchen, dass sie uns leiten zu dem anfang der religion und rechten kirchen, zu bestätigung unsers glaubens.“ (Scheible 1966, 20) In gleicher Weise wie die Auseinandersetzung mit der Papstkirche war die Bedrohung durch den Islam ein Anstoß, sich mit den Anfängen seiner Geschichte und mit seiner Ausbreitung bis hin zur Eroberung Konstantinopels zu befassen. Die Geschichte des Islam galt es nun zu verstehen und damit auch in Zusammenhang zu bringen mit der Weissagung Daniels (Dan 7) von den vier Tieren, die vier Weltreiche bedeuten. Daniel 7 wurde schon seit langem so gelesen und verstanden, dass hier die Reiche der Babylonier, Perser, Griechen und Römer gemeint seien. Sollte das römische Reich bis zum Ende der Zeit bestehen, so war der Islam entweder mit dem Antichrist zu identifizieren oder mit jenem kleinem Horn, das nach der Weissagung Daniels aufbrechen sollte (Dan 7,8). Auch die Weissagungen des Propheten Hesekiel von den beiden Völkern Gog und Magog (Hes 37 und 38) bezieht Melanchthon auf die Türken, wie er in der Vorrede zu seinem Chronicon 1558 schreibt (Scheible 1966a, 40). Der Kampf des Kaisers Karl V. gegen die türkisch-islamischen Eroberer hatte damit einen endzeitlichen Charakter, wobei es für Melanchthon durchaus denkbar war, dass die Türken ganz Europa beherrschen würden und die Christenheit nur als kleines Häuflein, als heiliger Rest bis zum Ende der Zeit bestehen sollte.
2.3 Zeitrechnung Die Weltgeschichte war schon seit Augustin und Orosius in sechs beziehungsweise sieben Epochen gegliedert, entsprechend den Schöpfungstagen und dem folgenden Sabbat. Diese sieben Tage wurden entsprechend Ps 90,4 als Jahrtausende verstanden, sodass es zu einer Gesamtdauer der Weltgeschichte von 6000 Jahren kam (2 Petr 3,8; Barnabas 15, 4). Den eigenen Ort im Ablauf dieser Geschichte zu bestimmen, dazu bedurfte es der Chronologie, mit der sich die Reformatoren intensiv befassten (Köstlin 1878, 126 – 127). In den verschiedenen Ausgaben der Chronik Carions zeigen sich dabei allerdings Widersprüche zwischen den Ausführungen im Text und der Tafel am Ende des Buches, die sich aus der mehrmaligen Überarbeitung ergaben (Prietz 2014, 196 – 198). Zur Orientierung sei hier die tabula annorum mundi – die Zeittafel der Welt, wie sie sich am Ende der Chronik Carions von 1532 findet, abgedruckt (Prietz 2014, 191): Tabula annorum mundi/nach der Bibel und nach Philo. 1656 Auff die Sintflut. 292 Auff die gepurt Abrahe.
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425 Auff die gepurt Moisi. Auf den zug aus Egypto. 30 430 Auff den Tempel Salomonis. 158 Auff den König Joas. 291 Auff Jeconias wegfürung gen Babel. Auff die zerstörung Jerusalem durch Nabugdonosor. 11 70 Das gefengnis zu Babilon. 191 Der Persen Monarchi / nach end des gefengnis zu Babilon. 7 Alexander nach dem tod Darii. 146 Der Grecken Reich bis auff Judam Machabeum. 127 Der Machabeer Reich bis auff Herodes den ersten bey Josepho. 30 Herodes/ den im 30. jar Herodis ist Christus geporn. 1532 Nach der gepurt Christi unsers Herrn Gottes und Heilands. Anno mundi 3944 ist Christus unser Gott und Heiland geborn. Inn gegenwertigem 1532 jar/sind anfang der welt. 5476 jar.
In der Darstellung der Universalgeschichte im Chronicon von 1558/1560 findet sich eine dreifache Orientierung beziehungsweise Datierung, die zuerst die Jahre seit der Schöpfung, dann die jeweilige Monarchie und schließlich die Epoche berücksichtigen. Der Abschluss des Chronicon mit dem Jahr 782 wird in folgender Weise eingeleitet: „Im 4744 Jahr der Welt. Im 1535. Jahr (seit der Gründung) Roms. Im 782. Jahr (seit der Geburt) Christi.“ (CR 12, 1091) Eine konkrete Naherwartung im Sinne einer Berechnung und Datierung des Weltendes, die bei dem Lochauer Pfarrer und Mathematiker Michael Stifel auf der Grundlage seiner Auslegung der Johannes-Apokalypse zu einer Berechnung des Weltendes für das Jahr 1533 führte, findet sich bei Melanchthon nicht. Im Gegenteil, Luther und Melanchthon versuchten damals alles, um Stifel von seiner Endzeitberechnung und Endzeitpredigt abzubringen (MBW 1364; Aubel 2008, 123 – 149). Stifel hatte schon 1530 von der Weissagung des Hauses Elia erfahren und sie auch für sich übernommen (Prietz 2014, 452). Melanchthon wusste spätestens seit dem Bauernkrieg um die Gefahr, die von einer konkreten Endzeiterwartung oder einer chiliastischen Perspektive ausging. Schon in Artikel 17 des Augsburger Bekenntnisses war die Lehre vom tausendjährigen Reich, das mit der Wiederkunft Christi anbrechen sollte, verworfen worden (BSELK, 121– 122). Mit der Wortrechnung, wie sie im Sinne kabbalistischer Tradition von Stifel und von Melanchthons Lehrer Johannes Reuchlin geübt wurde, hat sich Melanchthon selbst nie identifiziert. Für ihn und viele seiner Zeitgenossen war eher der Stand der Sterne eine Möglichkeit, das Zeitgeschehen zu deuten oder einzuordnen. Himmelserscheinungen und andere Naturphänomene waren Anlass für vielfältige Spekulationen. Die Beobachtung des Laufs der Gestirne war überhaupt für die Einteilung der Zeit in einzelne Abschnitte wie Jahre, Jahreszeiten und/oder Monate, das heißt für jede Zeitrechnung, grundlegend und vom Schöpfer vorgegeben. So wird aus diesem Grund in einer akademischen Disputation aus dem Jahr 1560 von Melanchthons Schwiegersohn Caspar Peucer die Beobachtung der Gestirne gegen den Vorwurf des Aberglaubens verteidigt (CR 10, 888).
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Wie bedeutsam die zeitliche Einordnung und chronologische Orientierung für Melanchthon war, ergibt sich auch aus den feierlichen Zeitangaben am Ende mancher Briefe. Entsprechend dem Kalendarium seines Schülers Paul Eber, bekommt jeder Tag seine besondere Qualität durch seinen Bezug zur Heilsgeschichte. So endet sein Widmungsbrief an Erzbischof Sigismund von Magdeburg vom 25. März 1560 mit dem Hinweis „an dem Tag, an dem der Sohn Gottes, unser Herr Jesus Christus, vor 1526 Jahren am Kreuz für uns geopfert wurde. Und es wird überliefert, dass an diesem Tag vor 5522 Jahren Adam und Eva erschaffen wurden.“ (MBW 9269; CR 12, 1073) Den eigenen Ort bestimmen im Lauf der Geschichte, das ist Melanchthon innerstes Bedürfnis, das gibt ihm Trost und Halt in jenem „krankhaften Greisenalter der Welt“ (Schneider 2010, 156 – 161). Vor dieser Zeitbestimmung ist, wie zumeist in den Reden aus den späteren Lebensjahren, ein Gebet eingefügt, das Christus um die die Sammlung, Leitung und Bewahrung der Kirche bittet (MBW 9269; CR 12, 1076 – 1077).
3 Geschichte als Lehrbuch der Ethik Die Weltgeschichte ist Bühne oder Schauplatz für das Handeln und Treiben der Menschheit. Ihre Darstellung will zugleich zu rechtem Leben und Handeln im Sinne der Gebote Gottes auffordern. In der Vorrede zu seinem Chronicon von 1558 zeigt Melanchthon am Beispiel der zehn Gebote, wie sich menschliches Handeln auswirkt: „Der Dekalog sei die Norm des Lebens, nämlich das Gesetz Gottes […]. Wir sollen wissen, dass die Historien Beispiele der Gesetze sind und uns die Strafen für die schrecklichen Verbrechen, aber auch den Freispruch für die Gerechten aufzeigen.“ (Scheible 1966a, 28 – 29) Die Beispiele im Einzelnen finden sich wieder in der biblischen Geschichte und bei den antiken Historikern. Das menschliche Handeln kann zwar grundsätzlich die vorgegebene Ordnung und den Ablauf der Geschichte nicht verändern, doch beeinflusst es die Zeitdauer im Einzelnen. So wird nach der Weissagung des Elia die letzte Epoche keine zweitausend Jahre dauern „wegen der Sünden“ (Scheible 1966a, 39). Während nach dem Verständnis des Talmuds die Sünden das Kommen des Messias verzögern, so ist in der christlichen Umdeutung das Gegenteil der Fall; nach Mt 24,22 wird die letzte Zeit der Bedrängnis „um der Auserwählten willen“ verkürzt. Die Sünden verkürzen, wie in der Bibel aufgezeigt, die Lebensdauer nicht nur des Einzelnen, sondern auch die Dauer der Weltreiche. Die Geschichte als ein Lehrbuch der Ethik, als eine Beispielsammlung über die Folge menschlichen Verhaltens, wird damit zum integrierten Bestandteil des Erziehungs- und Bildungsprogramms. Melanchthon wehrt sich vehement gegen die Auffassung der Geschichte als Zufall oder Schicksal, das den Menschen vor seiner Verantwortung entbinden würde. So wie die Beobachtung der Gestirne nicht zu einem fatalistischen Verhalten führen darf, so soll auch die Geschichte aufzeigen, wie wichtig es ist, dass sich die Menschen an den Geboten Gottes orientieren. So ist das Gesetz als die von Gott gesetzte Norm und Orientierung niemals nur eine Last, und das wiederum lässt Melanchthon zum Gegner oder zur Zielscheibe jener Antinomisten werden, die
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unter Berufung auf den reformatorischen Grundsatz des sola gratia das Gesetz grundsätzlich negativ sehen. Der Zusammenhang von Melanchthons Geschichtsverständnis mit seiner Theologie beziehungsweise seinem Verständnis des Zusammenhangs von Gesetz und Evangelium wird hier wiederum deutlich (Scheible 1992, 391– 392). Im Blick auf die politische Ethik wird auch in der Vorrede zum Chronicon von 1558 mit Verweis auf Beispiele aus der Geschichte und unter Berufung auf die Bibel vor einem blinden Aktivismus gewarnt, vor Veränderungen, „die nicht notwendig sind“ (Scheible 1966a, 34– 35). Ein konservatives Denken entspricht gewiss auch seinem Wesen, ohne dass man ihm deshalb eine „weiche, ängstliche Seele“ zuschreiben und seinen Aufruf zur modestia, zu Mäßigung, als bloßen Ausdruck der Resignation verstehen sollte (Brettschneider 1880, 22).
4 Melanchthon als Historiker Um Melanchthons Wirkung und Leistung im Blick auf die Geschichtsschreibung aus heutiger Sicht zu verstehen und beurteilen zu können, muss man berücksichtigen, dass sein Blick auf das Geschehen nicht der eines Gelehrten ist, der aus sicherer Distanz heraus auf der Grundlage des Studiums der Quellen schreibt, sondern der eines Zeitzeugen und auch eines Hauptakteurs auf der Bühne des Zeitgeschehens. Er war schon beteiligt bei den Auseinandersetzungen um seinen Lehrer Reuchlin und damals Teil des Netzwerks der Humanisten. Seit 1521 arbeitete und kämpfte er in Wittenberg an der Seite Luthers. Er war auf den Reichstagen 1530 in Augsburg, 1540 in Regensburg und bei dem großen letzten Religionsgespräch in Worms 1557 Vertreter und Sprecher der reformatorischen Bewegung Wittenberger Prägung und kannte von daher alle wichtigen Persönlichkeiten, die Fürsten und ihre Räte vor allem aber auch die Theologen. Er kannte auch Zwingli und war seit 1540 mit Calvin befreundet. Er kannte auch die Vertreter der Gegenseite, aus dem Lager der Altgläubigen. Er hatte Gelegenheit, auch die radikalen Vertreter des linken Flügels der Reformation kennenzulernen, schon 1521 in Wittenberg die Zwickauer Propheten und dann 1532 bei den Verhören gefangener Täufer. Dieser Erfahrungshintergrund prägt auch sein Verhältnis zur Geschichte und sein Verständnis von Geschichte. Nicht ein ruhiges Leben als akademischer Lehrer war ihm beschieden, sondern eine zutiefst engagierte Existenz im Dienst der reformatorischen Bewegung. Ein historisches Urteil sine ira et studio, aus ruhiger Distanz heraus, ist von ihm nicht zu erwarten. Seine Quellen waren die Bibel, die antiken Historiker sowie eine ganze Fülle von weiteren Chroniken, wie genauere Untersuchungen aus neuer Zeit erwiesen haben (Prietz 2014, 671). Dazu kamen, was die Zeitgeschichte angeht, die persönliche Erinnerung oder auch Berichte, die von anderen mündlich überliefert wurden. Jene berühmte Auseinandersetzung zwischen Kaiser Karl V. und Papst Clemens VII. über die Einberufung eines Konzils, die anlässlich der Kaiserkrönung 1530 in Bologna stattgefunden haben soll und über die er in seiner Rede über die Zusammenkunft in Bologna ausführlich berichtet (CR 12, 307– 315; Frank/Schneider 2011, 260 – 264), beruht
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nach seinen eigenen Aussagen in einer Vorlesung aus dem Jahr 1558 auf dem Bericht eines Franziskanermönchs namens Aegidius, der ihm während des Augsburger Reichstags von 1530 zu Ohren kam (Berger 1897), und bei dem es sich möglicherweise um den gleichnamigen kaiserlichen Prediger Gil Lopez de Bejar handelte (MBW 950a und MBW 1081). Sein Hauptwerk, die Chronik, die ihn bis in seine letzten Tage beschäftigte, gab sich zunächst in aller Bescheidenheit als eine Bearbeitung eines bereits vorliegenden Werkes. Und dennoch gerade in der Neustrukturierung und Gliederung dieses Werkes und schließlich in seiner Neufassung hat er es zu dem gemacht, was es über Jahrhunderte war, die Universalgeschichte für den Bereich nicht nur der akademischen Welt protestantischer Prägung. Darüber hinaus hat er mit seinen Vorreden die Akzente gesetzt, was die Bedeutung und das Verständnis von Geschichte angeht. Er hat mit den Vorreden die historische Arbeit vieler gefördert und damit auch gleichsam erfüllt, was er schon zu Beginn seiner akademischen Laufbahn programmatisch formulierte, Geschichte als umfassenden Horizont für Theologie und Philosophie, für Ethik und damit für Bildung überhaupt darzustellen. Nicht zuletzt ist es ihm zu verdanken, dass Geschichte als eigenständiges Lehrfach seinen Platz an den Universitäten finden sollte (Klempt 1960, 11, 18). Man kann und darf Melanchthon als Historiker bezeichnen, wenn man ihn in seiner Zeit und aus seiner Zeit heraus versteht und nicht jene Maßstäbe anlegt, die aus einer späteren Epoche der Geschichtsschreibung stammen. Eine kritische Betrachtung im Einzelnen ist damit nicht verwehrt; sie betrifft unter anderem seine Darstellung Luthers und des Reformationsgeschehens überhaupt. Ein Beispiel dafür ist sein Bericht über den Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 an die Tür der Schlosskirche (MBW.T 15, 4277,304; Beyer et al. 1997, 169 – 188). Diese Erzählung in seiner Vorrede zum ersten Band der Werke Luthers wurde zum Eckdatum protestantischer Erinnerungskultur. Ob sich dieser Thesenanschlag damals wirklich so ereignet hat, ist bis heute umstritten (Leppin 2008, 69 – 92). Die grundsätzliche Kritik an Melanchthons Geschichtsbild beginnt im 17. Jahrhundert und sie trifft nicht nur ihn, sondern die ganze traditionelle Historiographie. Die generelle Ausweitung des Horizonts, die Verselbständigung der einzelnen Wissenschaften und ihre Emanzipation von der Theologie lassen das traditionelle Verständnis von Weltgeschichte als Heilsgeschichte und die entsprechende Einteilung in drei Epochen und vier Weltreiche als überholt erscheinen (Klempt 1960, 33). Wer aber Melanchthon nun sein „Theologisieren und Moralisieren“ vorwirft (Münch 1925, 262– 263) und sein Denken als „a-historisch ja anti-historisch“ beurteilt (Agnoletto 1964, 527), seine Darstellung als „eine absolut theokratische Konstruktion“ (Brettschneider 1880, 21) kritisiert, legt hier einen falschen Maßstab an (Prietz 2014, 671). Das Theologisieren und Moralisieren entspricht seinem Verständnis der Geschichte als Ergebnis göttlicher Planung und Leitung und zugleich als Schauplatz menschlicher Bewährung. Gottes Handeln lenkt zwar die Geschichte und ihre ewige Ordnung ist vorgegeben. Das Handeln des Menschen ist demgegenüber aber dennoch nicht unwesentlich. Wenn es sich nicht an den Geboten Gottes orientiert, so folgen daraus göttliche Strafen in
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Gestalt von Krieg und Katastrophen. Daran erinnert Melanchthon vor allem jene, die als Fürsten oder sonstige Obrigkeit in besonderer Verantwortung vor Gott stehen und warnt sie zugleich vor jedem blinden Aktivismus (Vorrede Chronicon 1558, Scheible 1966a, 34). Melanchthons Interesse an der Geschichte ist zutiefst im Kern seines Glaubens und Denkens verankert. Wie in der Natur, wie im Lauf der Gestirne, so ist im Weltgeschehen eine von Gott gegebene Ordnung und Struktur erkennbar. Wilhelm Maurer sieht schon im jungen Melanchthon den ihm über den Humanisten Marsilio Ficino und seinen Lehrer Reuchlin vermittelten „pythagoreisch-platonischen Grundsatz […] dass alles Wissen auf der Kenntnis der Zahl beruht“ (Maurer 1967, 105). Er hat diese vorchristliche Tradition mit dem biblisch-heilsgeschichtlichen Denken verknüpft und steht damit in einer Tradition, die seit der Antike das Verständnis der Weltgeschichte geprägt hat. Gotthard Münch sieht bei aller Kritik in Melanchthons Chronicon das „klassische Werk der humanistisch-reformatorischen Geschichtsschreibung“, geprägt von einer „großartigen Geschlossenheit und tiefem Ernst“ (Münch 1925, 283).
Quellen Beyer, Michael, Armin Kohnle und Volker Leppin, Hg. 2012. Philipp Melanchthon, die Universität und ihre Fakultäten. Mel.Dt 4. Leipzig. Beyer, Michael, Stefan Rhein und Günther Wartenberg, Hg. 1997. Philipp Melanchthon. Theologie und Kirchenpolitik. Mel.Dt 2. Leipzig. Beyer, Michael, Stefan Rhein und Günther Wartenberg, Hg. 22011. Philipp Melanchthon. Schule und Universität, Philosophie, Geschichte und Politik. Mel.Dt 1. Leipzig. Frank, Günter und Martin Schneider, Hg. 2011. Philipp Melanchthon. Von Wittenberg nach Europa. Mel.Dt 3. Leipzig.
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Antike Literatur 1 Einleitung: Zur Lektüre und produktiven Aneignung der antiken Literatur „Welch vielseitige Belesenheit!“ – Diese Bewunderung des jungen Melanchthon äußerte kein Geringerer als Erasmus von Rotterdam, der nach der Lektüre von Melanchthons literarhistorischer Vorrede zur 1516 in Tübingen publizierten Terenz-Ausgabe große Hoffnungen in die humanistische Begabung des jungen Gelehrten setzte. In den vergangenen Jahren hatte sich Melanchthon offensichtlich eine gründliche und breite Kenntnis der lateinischen und griechischen Literatur in Unterricht und privater Lektüre angeeignet, die er zeit seines Lebens vertiefte (Probst 1997). Schon beim Hauslehrer Johannes Unger in Bretten las er wohl Klassikertexte von Vergil, Horaz und Ovid. Seine Lateinkenntnisse vertiefte er in der Lateinschule in Pforzheim und anschließend während des Universitätsstudiums, wo er privat mit der Lektüre der antiken Dichter begann, später auch Historiker studierte, wodurch er sich immer mehr den alten Autoren zuwandte (CR 4, 715; MBW 2780). Aus regionalgeschichtlichem Interesse las er auch den spätantiken Historiker Ammianus Marcellinus (CR 9, 791– 792; MBW 8905). Besonders bemerkenswert ist seine herausragende Kenntnis der griechischen Sprache und Literatur zu Beginn des 16. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als der Griechischunterricht nördlich der Alpen erst in den Anfängen stand. In Pforzheim erhielt er von den ausgewiesenen Griechischexperten Georg Simler und Johannes Reuchlin Extraunterricht in dieser Sprache, in der er solche Fortschritte machte, dass er schon in seiner Tübinger und frühen Wittenberger Arbeit Übersetzungen von Texten Plutarchs und Lukians anfertigte (MBW.T 1, 13,58; MBW.T 1, 23,74– 75,52– 63). Seine intensive Kenntnis der klassischen Autoren schon in jungen Jahren belegen neben der gerade gezeigten gründlichen Auseinandersetzung mit den griechischen und lateinischen Texten schon zwei eigene frühe Gedichte (1510/11). Sie lassen erkennen, wie Melanchthon nach dem humanistischen Prinzip der imitatio sprachlichformal wie inhaltlich die Klassikerlektüre für eigene poetische Äußerungen fruchtbar machte (CR 4, 715; MBW 2780; CR 9, 791– 792; MBW 8905). Dasselbe gilt für die eingangs erwähnte Terenz-Vorrede, zahlreiche griechische Zitate in seiner griechischen Grammatik (1518) und den großen Anspielungsreichtum in der Tübinger Rede De artibus liberalibus (1517/18). Auf dieser Grundlage widmete Melanchthon sein ganzes Leben der Lektüre der klassischen Autoren. Seine schriftlichen Äußerungen lassen regelmäßig erkennen, in welch hohem Maß er sich die antike Literatur zu eigen machte. Dies war zum einen seinen humanistischen Überzeugungen geschuldet, nach denen die antike Literatur DOI 10.1515/9783110335804-044
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für das Leben der Gegenwart des 16. Jahrhunderts in verschiedensten Bereichen maßgebliche Vorbilder bereitstellte, zum anderen beruhte die intensive Auseinandersetzung auf seiner beruflichen Tätigkeit innerhalb der Artistenfakultät. Hier war er nicht nur institutionell verankert; die durch die Lektüre der antiken Autoren vorgegebenen Inhalte, die in den Artes vermittelt wurden, galten ihm als wissenschaftspropädeutische und allgemein relevante Grundlage, die er in verschiedensten Schulund Studienordnungen in Wittenberg und weit darüber hinaus verbreitete. Einen quantitativen Überblick über Melanchthons Studium der antiken Literatur zu gewinnen, ist schwierig, da für eine genaue Erfassung von Klassikerstellen und -referenzen in Melanchthons Werk einschlägige Untersuchungen fehlen. Neben Editionen, Vorlesungen, Vorreden und kommentierenden Schriften, eigenen Erwähnungen seiner Lektüre antiker Autoren gibt es eine Vielzahl über das ganze Œuvre verstreuter Zitate, Anspielungen, Metaphern und Vergleiche aus der griechischen und lateinischen Antike, die einen Hinweis geben, in welch hohem Maß dem Humanisten Melanchthon die antike Literatur Gegenstand der Beschäftigung, Referenzhorizont und Quelle gelehrter Ausdrucksweise war. Allerdings erschwert die Tatsache, dass gegenwärtig nur ein Teil der Melanchthon-Editionen die Verwendung antiker Literatur im Apparat ausweist, einen schnellen Überblick über die Präsenz der klassischen Literatur in seinen Werken und erst recht eine Analyse der Methode der Stellenauswahl beziehungsweise ihrer funktional-argumentativen Bedeutung in den Texten.
2 Antike Literatur im humanistischen Bildungsprogramm In Tübingen hielt Melanchthon eine Rede über die traditionell das geistige Erbe der Antike vermittelnden Artes liberales (1517/18). Diesen sieben „freien Künsten“ fügte er dabei im Rückgriff auf die neun Musen als ihnen gleichwertige Gaben Geschichte und Dichtkunst hinzu und würdigte sie mit den Worten: „Die Geschichte und die Dichtkunst berühren das Schrifttum jeder Gattung, und keine anderen Autoren liest man mit größerem Nutzen und Muße als die Historiker und Dichter. Sie reißen den heranwachsenden Geist heraus aus dem Schmutz der gewöhnlichen Studien und versetzen ihn an einen erhabenen Ort, denn sie hauchen Dinge aus, die gelehrter Männer würdig sind.“ (Mel.Dt 4, 26; MSA 3, 26,1– 8) Dieser programmatische Beitrag Melanchthons während seiner Tübinger Dozententätigkeit steht im Kontext der Bemühungen im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert, humanistische Bildung an Schulen und Universitäten nördlich der Alpen zu etablieren und die Fächer der studia humanitatis durch die Lektüre der originalen Quellen selbst kennenzulernen. Wenige Monate später verkündigte er in seiner Antrittsrede als Griechischprofessor in Wittenberg seine Vorstellungen von einer Studienreform. Sie gründet in dem humanistischen Programm der Wiedergeburt der Antike durch die intensive Aneignung der antiken Literatur (der bonae litterae ac renascentes Musae; MSA 3, 30,7) in der
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Gegenwart und eine von Erasmus geprägte christlich-humanistische Erneuerung in der Hinwendung zu den Quellen (MSA 3, 40,19 – 22). Der Vernachlässigung der Sprache und der klassischen Literatur in den vergangenen Jahrhunderten, die zur sprachlichen und inhaltlichen Barbarei in den Wissenschaften und in der Kirche geführt habe, stellte er das Studium der gerade wieder aufblühenden, erlesenen antiken Literatur gegenüber (studium litterarum renascentium; elegans litteratura; MSA 3, 30,7,16 – 17; 31,6 – 7). Gemäß der humanistischen Zielsetzung ad fontes hält Melanchthon die gründliche Kenntnis der Wissenschaften durch eine Originallektüre der besten Autoren für unbedingt erforderlich (MSA 3, 38,19 – 20). Zu den wissenschaftspropädeutischen Studien des Triviums (Grammatik, Dialektik, Rhetorik) gehört für ihn das Griechische wie das Lateinische, um bei der ursprachlichen Lektüre der Philosophen, Theologen, Historiker, Redner oder Dichter ein angemessenes inhaltliches Verständnis zu erzielen (MSA 3, 38,28 – 35). Auf dieser Grundlage könnten dann alle Wissenschaften, auch die Theologie, angemessen betrieben werden. Daneben garantiere die antike Literatur Charakterbildung und naturkundliche Kenntnisse. Er fordert dementsprechend eine verständige und weise Jugend (sapere audete), die sich einer sorgfältigen Lektüre der alten lateinischen Autoren sowie der Aneignung des Griechischen widmet (veteres Latinos colite, Graeca amplexamini; MSA 3, 43,5 – 6). Als zu Beginn der 1520er Jahre (nicht nur) in den Gegenden, in denen die Reformation sich durchsetzte, eine Bildungskrise eintrat, kämpfte Melanchthon engagiert für ein methodisch sorgfältiges Studium der humanistischen Fächer (humaniores disciplinae): Beredsamkeit, das heißt die Fähigkeit zur eigenen sprachlich angemessenen Darstellung, und gedankliche Urteilskraft gehörten zusammen und seien für die Wissenschaften, auch für die Theologie, unbedingt erforderlich (z. B. MSA 3, 49,23 – 24; 57,35 – 58,6; vgl. das Encomium eloquentiae insgesamt). Die Methode des Redens und Urteilens müsse dabei aus den besten antiken Autoren erarbeitet und durch Nachahmung (imitatio) derselben in Prosa und Versen eingeübt werden (z. B. MSA 3, 50,27– 30; 54,2– 3). Dichter und Historiker nennt er an erster Stelle; insbesondere Homer verdiene große Aufmerksamkeit, bei den Lateinern Vergil, aber auch die Tragiker, die Geschichtsschreiber Thukydides, Xenophon und Herodot oder Redner wie Demosthenes und Cicero (MSA 3, 50 – 54). Melanchthon vertrat aus gegebenem Anlass in dieser Bildungsrede ein sehr funktionales Verständnis der Lektüre der antiken Literatur. Nur zum Vergnügen (voluptatis tantum causa) dürften die Autoren nicht gelesen werden; vielmehr wollten sie selbst nützlich (prodesse) sein (MSA 3, 50,34– 38). Gemeinsam ist den programmatischen Reden Melanchthons zur antiken Literatur ihr dezidiert pädagogisch-didaktischer Argumentationszusammenhang. Er forderte die Lektüre der antiken Literatur als Vertreter der Artistenfakultät, als Bildungsreformer und -organisator zur Etablierung und Förderung des humanistischen Programms in Bildung und Wissenschaften und bekräftigte den notwendigen wissenschaftspropädeutischen Charakter des Studiums der alten Sprachen und Literatur vor allem angesichts der Bildungskrise seit Beginn der 1520er Jahre.Von ihm verfasste und beeinflusste Schul- und Universitätsordnungen tragen diesem Anliegen Rechnung. Auch in zahlreichen anderen Äußerungen zur antiken Literatur, wie zum Beispiel
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wiederholt in den Praefationes zu verschiedensten griechischen und lateinischen Werken der Antike, die ebenfalls im didaktischen Kontext verankert sind, finden sich seine Überzeugungen wieder. Die Beschäftigung mit der antiken Literatur verfolgt in teils unterschiedlicher Akzentuierung im Wesentlichen folgende Aspekte: 1. Melanchthon legte überhaupt Wert darauf, dass nach dem Zweck der Beschäftigung mit bestimmten Autoren gefragt wird. Deswegen wies Melanchthon in seinen Vorreden oder Einleitungen gern auf den seines Erachtens spezifischen Lektüreertrag des Werks hin, auf den der Leser achten sollte. Eine willkürliche Lektüreauswahl sollte verhindert werden und er empfahl den Studenten, die besten Autoren zu lesen, wiederholt und mit Sorgfalt, und für sich Nutzen daraus zu ziehen. Außerdem legte er in einer Widmungsvorrede zu Vergil darauf Wert, dass die Studenten das Werk des Dichters als Ganzes lasen und nicht nur, wie es teilweise üblich war, einzelne Sentenzen und seltene Wörter exzerpiert wurden (MBW.T 3, 856,685,1– 9; CR 2, 23; MSA 3, 41– 42; CR 11, 239 – 240). 2. Antikenlektüre spielte für ihn im Grammatikunterricht natürlich die zentrale Rolle beim Spracherwerb. Über diese grundlegende Funktion hinaus bieten die von ihm besonders gewürdigten Autoren eine wichtige Rolle für die Schulung der eigenen sprachlichen Äußerung. Die Verwendung der Wörter, sprachlichen Figuren, die Ausführung von Argumenten und Amplifikationen, die Auffindung und Anordnung der Inhalte ließen sich am Beispiel so hervorragender Redner wie Demosthenes oder Cicero, Historiker wie Herodot oder Thukydides, aber auch der Dichter wie Homer oder Vergil ausgezeichnet analysieren und für die eigene Rede oder Schrift fruchtbar machen (MSA 3, 44– 62). 3. Mit der Sprachkompetenz ist die Bildung der eigenen gedanklichen Urteilsfähigkeit verbunden. Sorgfalt beim Lesen und Schreiben führe zu einer guten Urteilskompetenz (z. B. MSA 3, 49). 4. Neben die formale Kategorie der Sprachkenntnis tritt die inhaltliche Aussage der Texte. Hier interessiert sich Melanchthon in erster Linie für die Charakterbildung durch das Studium der griechischen und lateinischen Klassiker. Nicht nur philosophische Schriften, auch die Dichtung, Geschichtsschreibung oder Reden bieten teils eine Fülle von direkten ethischen Vorschriften, oft in einprägsame Sentenzen gekleidet, teils durch die Präsentation unterschiedlichster Charaktere exempla für richtiges und falsches Handeln. Moralisch-ethische Fragestellungen dominieren Melanchthons inhaltliches Verständnis antiker Texte, die – in Übereinstimmung mit der humanistischen Überzeugung – wenigstens in begrenztem Maß Bedeutung für die private und öffentliche Lebensgestaltung haben (z. B. MSA 3, 52 – 54). 5. Des Weiteren vermittele jedes Werk natürlich auch spezielle Sachkenntnisse. Hierzu zählen zum Beispiel historische, naturkundliche, staatspolitische, juristische oder auch religiöse Inhalte, auf die er in seinen Kommentierungen einzeln hinweist.
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Trotz aller Betonung eines funktionalen Literaturverständnisses, wonach die antike Literatur sprachlich-logische sowie moralisch-ethische Bildung vermittle, weiß Melanchthon auch um die ästhetischen Qualitäten von Literatur und ihren Unterhaltungswert. Die Sophokles-Lektüre – schreibt er Joachim Camerarius – bereite ihm unglaubliches Vergnügen (MBW.T. 6, 1505,223; CR 2, 792– 793). Mit Horaz geht er davon aus, Poeten wollten nützen und ebenso erfreuen (prodesse – delectare; Hor. ars 333), und zeigt beispielsweise für die Lektüre von Homer ,Vergil oder Ovid, wie Nutzen und Vergnügen aufeinander bezogen sind. Dennoch ist die Lektüre von griechischen und römischen Schriftstellern für Melanchthon kein Wert in sich, sondern innerhalb seines humanistischen Bildungskonzepts verankert (MSA 3, 50 – 51; CR 11, 400 – 401; 403 – 404). 7. Diese Verankerung bedeutet aber gleichzeitig eine Rehabilitierung der antiken Literatur gegenüber einem konkurrierenden funktionalen Bildungsverständnis, das unter Umgehung des Sprachpropädeutikums direkt das Studium der gehobenen Fächer aufnehmen wollte. Gerade gegen Vorbehalte gegenüber den paganen Inhalten der antiken Texte im reformatorischen Lager sorgte Melanchthon dafür, dass die antike Literatur einen festen Platz im schulischen und akademischen Bildungsgang hatte. Dabei hat Melanchthon keine Spezialausbildung für humanistische Intellektuelle im Blick, sondern die Notwendigkeit einer soliden sprachlichen Ausbildung anhand antiker Vorbilder als Voraussetzung für das Studium der Wissenschaften und für die Tätigkeit in Staat und Kirche. Philologische und literaturwissenschaftliche Aspekte sind deshalb untergeordnet. Die bereits in der Wittenberger Antrittsrede angelegte christlich-humanistische Zielsetzung wurde im reformatorischen Interesse erweitert. Beides, der humanistische Anspruch sowie die christlich-reformatorische Funktionalisierung der Bildung, begründet die besondere Aufmerksamkeit für die griechische Sprache und Literatur. 8. Literatur- und dichtungstheoretische Reflexionen finden sich eher am Rande. Grundsätzlich gilt die Dichtkunst (poetica) für Melanchthon als in metrischer Form und mit poetischen Stoffen kunstgerecht gestaltete (numeris et fabulis concinna) Philosophie. Dichtung sei die älteste Kunst, wie Cicero schreibt; schon als es noch keine Philosophen gab, hätten bei den Griechen die Dichter das Studium der Weisheit betrieben. Mit dem Zitat aus Horaz’ Ars poetica (Hor. ars 333) würdigt er Vergnügen und Nutzen als besondere dichterische Merkmale. Hierin bestehe ein Mehrwert gegenüber Prosatexten, sodass er poetisch eingekleideten Wahrheiten, ob es sich um historische, naturwissenschaftliche oder ethische handelt, aufgrund ihrer ästhetischen Qualitäten besondere Wirkung zuspricht (CR 19, 501). 6.
Selten, und nicht im Rückgriff auf den platonischen furor-Gedanken, spricht Melanchthon auch von göttlicher Inspiration guter Dichter, was sowohl auf den Inhalt, nämlich die moralische Belehrung, als auch auf die sprachliche Darstellung bezogen ist. Literaturstudium wird demnach als Gabe Gottes und als Ausdruck von Mensch-
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lichkeit empfohlen. Dies gilt insbesondere für die Homerlektüre (CR 11, 398; CR 10, 483; vgl. CR 11, 408).
3 Griechische Literatur Mit großem Engagement widmete sich Melanchthon, 1518 auf die Griechischprofessur in Wittenberg berufen, der griechischen Sprache und Literatur. Seine eigene Beschäftigung umfasste nicht nur Literatur in einem engeren Sinn, sondern auch Fachliteratur. Melanchthons so betont ethisches Interesse schränkte ihn ganz offensichtlich bei der Textauswahl nicht ein. Eigenes Nachdenken über die antiken Werke und universitärer Unterricht sowie die Veröffentlichung von Editionen, (Teil‐)Übersetzungen oder Kommentaren verschiedenster Art stehen dabei häufig in engem Zusammenhang. Die seit der Wittenberger Antrittsrede erkennbare Vorliebe für die griechische Literatur zeigt sich in Melanchthons akademischen Bemühungen. In der Rede De studiis linguae Graecae aus dem Jahr 1549 (CR 11, 855 – 867; Übersetzung: Mel.Dt 4, 34 – 49), mit der er die Jugend zum Studium der griechischen Sprache und Literatur anregen möchte, legte er Gründe für ihre Vorrangstellung gegenüber dem Lateinischen dar. Da sind zunächst ihre sprachlich-stilistischen Qualitäten zu nennen: Griechisch ist für Melanchthon die Sprache mit dem höchsten Maß an Bildung und ästhetischem Wert (lingua dulcissima atque eruditissima; MSA 3, 137,5 – 13). Ihr schreibt er ausgezeichnete Eleganz (suavitas atque elegantia; MSA 3, 139,17), lieblichen Klang und die Kraft zu, die Herzen zu liebkosen und zu erschüttern – mehr als irgendeiner anderen Sprache. Die lateinische Sprache dagegen schöpfte ihre Qualitäten nur aus den griechischen Quellen (MSA 3, 141,31– 35; 146,11– 14; 147,5 – 7). Daneben ist sie aber auch aufgrund der in dieser Sprache vermittelten Inhalte bedeutend. Allem stehen die Lehren des Neuen Testaments voran, auch die Texte der Kirchenväter. Das Evangelium sei aber nach Gottes Plan in einer Sprache aufgeschrieben worden, die schon vorher in paganen Texten ethisch-moralische Bildung, Wissenschaften und Geistesbildung (doctrinam morum, disciplinae et humanitatis) vermittelt hätte (MSA 3, 139 – 141; Zitat 141,12 – 13). Weitere Würdigungen der griechischen Sprache ließen sich hier leicht hinzufügen. Die oben zusammengestellten Merkmale des Verständnisses der antiken Literatur bei Melanchthon finden sich bei seiner Auseinandersetzung mit einzelnen antiken Autoren wieder. Im Folgenden wird Melanchthons praktische Auseinandersetzung mit klassischer Literatur vorgestellt. Besondere Aufmerksamkeit findet dabei seine Beschäftigung mit Homer. Ausgewählte andere griechische und lateinische Autoren ergänzen das an diesem Beispiel gewonnene Bild über Melanchthon und die antike Literatur.
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3.1 Homer Allen voran zog Homer mehr als zwei Jahrzehnte bis in die Mitte der 1540er Jahre immer wieder Melanchthons Aufmerksamkeit auf sich, wie Thomas Bleicher (1972, 79 – 84) herausgearbeitet hat. Die Ergebnisse seiner Beschäftigung mit Homer lassen sich in seiner Praefatio in Homerum aus dem Jahr 1538 gut erkennen (CR 11, 397– 413). Melanchthon geht es nicht um die historische Person des Autors, sondern um das literarische Werk selbst. Homer bietet ihm in seiner Dichtung wie kein anderer Autor ein hohes Maß an Lesevergnügen (voluptas) und ist gleichzeitig für den Leser überaus nützlich (infinitus utilitatum cumulus). Dieser Zusammenhang ist grundlegend: Der ästhetische Wert von Dichtung an sich, der die Freude des Rezipienten bei der Lektüre weckt, die wunderschöne poetische Bildlichkeit (dulcissimae et iucundissimae icones poeticae) bietet den äußeren Rahmen für sehr wichtige und ernsthafte inhaltliche Unterweisungen (CR 11, 400 – 401; 403 – 404). Hierunter versteht Melanchthon naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und zählt naturkundliche und anthropologisch-psychologische Einsichten auf, ohne sie näher zu erläutern (CR 11, 401– 402; 408). Vergleichsweise wichtiger sind für ihn jedoch die ethischen Lehren (praeceptum ad mores) als Voraussetzung für eine gute und glückliche Lebensführung. Sowohl für das private wie das öffentlich-gesellschaftliche Leben enthält Homer eine Fülle von sententiae mit dem Charakter von verbindlichen Lebensregeln (leges), allgemeinen und sehr nützlichen ethischen Regeln und Vorschriften (CR 11, 402– 403). Daneben biete er positive und negative exempla der handelnden Personen, an denen sich der Leser für sein Leben orientieren könne. Melanchthon versteht den Text gewissermaßen als Fürstenspiegel im poetischen Gewand, wenn er ganz aktuelle politische Zusammenhänge aufzeigt (CR 11, 402). Beide homerischen Werke, die Ilias und die Odyssee, ergänzten sich nach Melanchthon in ihrer politisch-gesellschaftlichen Relevanz, indem sie Fähigkeiten und Charakterzüge eines Staatenlenkers in Krieg (Ilias) und Frieden (Odyssee) abbildeten (CR 11, 404– 407). Mit antiken Urteilen über Homer kommt Melanchthon zu dem Ergebnis, dass dieser ein Muster für Beredsamkeit und die Quelle aller Wissenschaft und Erkenntnis sei. Sein alle ihm folgenden Dichter übertreffendes Werk schreibt er göttlicher Eingebung und Kraft zu (CR 11, 409 – 411). Seine Beschäftigung mit Homer fand ihren Niederschlag außer in der gerade vorgestellten Rede in einigen weiteren Bemerkungen in seinen Reden, Schriften und Epigrammen, in einer ganzen Reihe von Vorlesungen zur Ilias, in einigen lateinischen Prosa- und Versübersetzungen, einem Scholion in seiner griechischen Grammatik von 1518 sowie in der Edition und Kommentierung der homerischen Batrachomyomachie. Das Scholion zu einer Ilias-Passage (Hom. Il. 2,212– 220) fungierte – trotz Integration in die griechische Grammatik – weniger als grammatisches denn als moralisches Beispiel (CR 20, 144– 147; vgl. CR 18, 124– 126). Wichtig ist ihm, hier zu verdeutlichen, dass Homer auf „geistliche Weise“ ausgelegt werden müsse: Seine
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Dichtung habe eine naturwissenschaftliche, eine historische und eine ethische Dimension und letztere sei in ihrer psychagogischen Funktion die wichtigste. Die lateinischen Homer-Nachdichtungen (CR 18, 121– 136) weisen Stellen aus, mit denen sich Melanchthon intensiv auseinandersetzte. Sie fungierten als „Interpretationshilfen“ im Zusammenhang seiner Vorlesungen und wurden gezielt ausgewählt, um besondere Merkmale homerischer Dichtung zu beleuchten. In Übereinstimmung mit dem humanistischen Rhetorikideal, wie er es zum Beispiel im Encomion eloquentiae formuliert hatte, arbeitete er hier den Zusammenhang von rhetorischer Begabung und charakterlichen Eigenschaften heraus. Eine Ausnahme verdient in dem Zusammenhang Beachtung: Die Behandlung von Ilias 9, 186 – 189 (CR 10, 485) wendet sich gezielt einem dichtungstheoretisch wichtigen Text zu: Achills Gesang, in dem er zur Leier den Heldenkampf verherrlicht, verdeutlicht die Grundfunktion des homerischen Werkes an sich. Erstaunlicherweise fehlt eine eingehende Auseinandersetzung mit der Odyssee. Vorlesungen sind nicht bekannt und es gibt nur einige wenige, aber nicht sehr aussagekräftige Versübertragungen. Thomas Bleicher (1972, 76 – 78) kommt deshalb zu dem Schluss, Melanchthons Begeisterung für das Pathos der Ilias, seine Abneigung gegen eine naheliegende allegorisierende Auslegung der Odyssee, sein nicht auf die Abenteuer übertragbarer Fabelbegriff habe ihm einen Zugang zur Odyssee als Ganzes verwehrt. Demgegenüber ist jedoch zu berücksichtigen, dass in der oben vorgestellten Praefatio in Homerum der Schwerpunkt der Darlegung auf der Odyssee liegt. Odysseus ist der kluge und politische Mann, der das Schicksal lenkt; seine Liebe zum Vaterland lässt ihn alle Widrigkeiten überwinden; seine Liebe gegenüber der Familie, die Verehrung der Eltern, seiner Frau und seines Kindes wird erweitert zur pflichtbewussten Verantwortung gegenüber den Gefährten und dem Staat. So wird Odysseus in seinem klugen Planen, in seinen Tugenden und seiner Beredsamkeit zum Beispiel für bewährtes Handeln. Dabei ist Odysseus in seinem Tun nicht autonom, sondern auf göttliche Unterstützung angewiesen, was mit Melanchthons Überzeugung von der Angewiesenheit des Menschen auf göttliche Hilfe übereinstimmt (CR 11, 404– 406). Der hier beschriebene vorbildliche Charakter der Odyssee wird von Melanchthon in Anlehnung an eine Horazepistel auch in einem lateinischen Epigramm an Thomas Blarer, den Konstanzer Reformator, ausgedrückt. Melanchthon würdigt in seinem Gedicht das Vorhaben von Verfasser und Adressat, Homer täglich gründlich zu studieren – nützlich (utile) sei dies. Doch während er selbst sich „zufällig“ (!) der Ilias zugewandt habe, sei das Studium der Odyssee der zahlreichen guten Vorbilder wegen (einige werden genannt) vorzuziehen (CR 10, 490). Neben den beiden Epen beschäftigte sich Melanchthon auch mit dem Homer zugeschriebenen hellenistischen Kleinepos Batrachomyomachie (CR 18, 141– 154). Überliefert sind eine Übersetzung mit Scholien, ein Vorwort sowie ein kleines Gedicht aus seiner Feder. Melanchthons in der Vorrede sachlich dargelegtes Verständnis der Parodie auf die homerischen Epen als „Krieg zwischen Fröschen und Mäusen“ steht erneut in einem moralisch-didaktischen Zusammenhang. Homer richte sich mit die-
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sem vergnüglichen Gedicht in Form einer witzigen Tiergeschichte an die Jugend, um sie zu Toleranz und Abneigung gegen den Krieg zu erziehen. Da im Griechischunterricht zu Beginn des 16. Jahrhunderts dieses Epyllion als Einführung in Homer verwendet wurde, leistete Homer in Melanchthons Urteil für jedes Alter einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung von humanitas (Bleicher 1972, 76 – 77; Hofmann 1999, 109 – 110). Melanchthon bewegt sich in seiner Einführung in Homer innerhalb der Vorgaben seiner humanistischen Vorstellungen und stimmt damit auch mit dem zeitgenössischen Homerverständnis überein. Gegen bildungsfeindliche Tendenzen machte er deutlich, dass sich Bildung nicht im kurzfristigen Erwerb materieller Güter manifestiere, sondern charakterliche Prägung des Menschen (humanitas, virtus, honestas) zum Ziel habe (CR 11, 412– 413). Dabei ging er von der unmittelbaren Gegenwartsrelevanz antiker Literatur aus, setzte entsprechend seiner Überzeugung den Schwerpunkt auf einen ethischen Utilitarismus der homerischen Epen, der einhergeht mit ästhetischer Qualität, die für ihn keinen eigenständigen Wert hat. Das normative Verständnis der antiken Literatur bedeutet aber nicht, dass er keinen Blick für die historische Distanz und Unterschiedlichkeit hätte, was gerade bei seiner Rechtfertigung Homers gegenüber der platonischen Dichterkritik ins Auge fällt (CR 11, 409 – 411). Auch wenn er eine prinzipielle Vergleichbarkeit weltanschaulich-religiöser Überzeugungen Homers mit christlichen implizit andeutete, arbeitete er doch die historische Bedingtheit des antiken Weltbildes heraus.
3.2 Weitere griechische Autoren Zahlreiche griechische Autoren wurden von Melanchthon in seinen Vorlesungen behandelt. Melanchthon gab Kommentare im Druck heraus und fertigte für einige Texte eigene Übersetzungen in Prosa, bisweilen sogar in lateinischen Versen an. Ein Schwerpunkt lag auf Aristoteles’ philosophischen Schriften, insbesondere der Nikomachischen Ethik. Er las aber auch über die Dialektik und das Organon sowie die Aristoteles zugeschriebenen Werke Problemata und De mundo. Daneben interessierte er sich für Reden, weil sie Beispiele guter und schlechter Bürger böten und eloquentia vermittelten (CR 11, 101– 106). Gerade die Vermittlung sprachlicher Fähigkeiten konnte bei den Rednern naturgemäß gut studiert werden, weswegen Melanchthon Demosthenes für Unterrichtszwecke besonders geeignet hielt und wiederholt seine Reden zum Vorlesungsgegenstand machte. Außerdem sind Vorlesungen über Aischines’ Rede gegen Ktesiphon, über Isokrates und Lykurg erhalten. Besonderes Augenmerk galt der Dichtung. Hier ist zunächst die Epik zu nennen. Neben Homer hielt Melanchthon eine Vorlesung über die Argonautica des hellenistischen Dichters Apollonios Rhodios. Hesiods Lehrgedicht Erga erschien Melanchthon in besonderem Maß empfehlenswert, weil der Nutzen der moralischen Belehrung durch ansprechende sententiae gefördert würde. Eine wiederholte und intensive Beschäftigung mit dem Autor legte
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Melanchthon den jungen Leuten auch deshalb ans Herz, weil Hesiods ethische Aussagen, unabhängig von der spezifisch christlichen Offenbarung, mit dem allgemeinen Sittenkodex übereinstimmten und deshalb für das bürgerliche Leben des Einzelnen und der Gesellschaft in Staat und Gerichtsbarkeit bedeutend seien (CR 11, 111– 115; 239 – 251). Außerdem sind als Lehrgedichte die Phainomena und die Alexipharmaka der hellenistischen Dichter Arat und Nikander sowie die unter dem Namen des Theognis erhaltene Sammlung verschiedener meist kleinerer Gedichte aus dem 6. Jahrhundert v.Chr. zu nennen. Unter den Tragödiendichtern fand Aristophanes offensichtlich das geringste Interesse Melanchthons. Über Sophokles hielt er im Jahr 1545 eine ganze Vorlesungsreihe (Aias, Antigone, Elektra, Oedipus auf Kolonos, Oedipus Tyrannus). Größte Aufmerksamkeit erfuhr Euripides, dem er sich in Vorlesungen, Übertragungen ins Lateinische (zum Teil in Versform), Dramenprologen und vielfachen Erwähnungen im schriftlichen Œuvre zuwandte. Grund für diese „Rangordnung“ ist wohl erneut die rhetorische Kategorie, würdigte er doch insbesondere Euripides’ rhetorische Vorzüge gegenüber Sophokles (CR 18, 395), den Dialogcharakter, dann aber auch die staatstheoretische Thematik. Seine Tragödien Phoinissen, Iphigenie in Aulis, Medea, Hiketiden, Orestes sowie der Rhesus sind Gegenstand seiner Vorlesungen. Melanchthon ging es bei den Tragödien nicht nur um Vergnügen und Unterhaltung, sondern um den exemplarischen Einblick, den die Stücke in Grundprinzipien des menschlichen Lebens böten, wonach Glück nicht von Dauer sei, Gute belohnt und Schlechte bestraft würden. Aus seiner persönlichen Lektüre berichtete er über die psychologische Wirkung, wenn der Mensch angesichts des Unglücks wegen böser Begierden schaudere und so zu Gottesfurcht geleitet würde (CR 5, 567– 572; MBW 3782). Der Lyriker Pindar zog Melanchthon mit seinen Epinikien an, für die er eine Prosaübersetzung anfertigte (CR 19, 191– 268; s.u.). Auch über den Bukoliker Theokrit hielt er eine Vorlesung. Unter den Historikern fand Herodot wegen seiner Vermittlung von res und verba sein Interesse (eine beabsichtigte Übersetzung erschien nie im Druck; MBW.T. 3, 2494,94 – 95; CR 3, 1089 – 1090). Fünf Vorlesungen über Thukydides lassen sich nachweisen. Schließlich sei auf Vorlesungen über den Mediziner Galen, den Satiriker Lukian von Samosata, das astrologische Werk Tetrabiblos des Ptolemäus sowie Plutarchs pädagogische Schrift über die Kindererziehung hingewiesen.
4 Lateinische Literatur Eine vollständige Übersicht über Melanchthons Vorlesungen existiert nicht (Rhein 1999, 64 – 69; Hartfelder 1972, 555 – 566). Im Vergleich zu den griechischen Autoren ist die Behandlung der lateinischen Klassiker jedoch geringer zu veranschlagen, was mit Melanchthons Besetzung des Wittenberger Griechisch-Lehrstuhls zu begründen sein dürfte. Latein war für seine Schüler und Studenten zwar in weit höherem Maße als das Griechische die Sprache, die sie geläufig beherrschen mussten, und zwar sowohl bei
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der Lektüre als auch in der aktiven mündlichen wie schriftlichen Kommunikation. Gleichwohl lag der Schwerpunkt der Vorlesungs-, Kommentierungs- und Editionstätigkeit nicht bei den Lateinern. Aufgrund des sprachlichen und inhaltlichen Bildungswertes ragt Cicero unter den Autoren, denen sich Melanchthon wiederholt zuwandte, eindeutig heraus. Vorlesungen beziehungsweise Kommentare gibt es zu den Reden Pro Milone, Pro Sexto Roscio Amerino, Pro Murena, Pro Marcello, Pro Archia, Pro Caelio, Pro Sulla, Pro Ligario, Pro rege Deiotaro, Pro Rabirio, Pro Sestio, In Pisonem (?), die Philippica, pro lege Manilia und In Catilinam (ediert in CR 16 und 17). Daneben stehen die philosophischen Schriften De oratore, aber auch De officiis, die Topica, die Dialektik und die Tusculanen sowie ein Kommentar zum Orator und den Partitiones oratoriae. Auch die Epistulae familiares fanden in seinem Werk Niederschlag. Dem Interesse an Rhetorik sind natürlich die Vorlesungen und Kommentare über Quintilians Institutio oratoria geschuldet. Daneben stehen als Prosaautoren die Historiker Sallust und Tacitus (Germania) sowie Plinius’ Naturgeschichte. Unter den Dichtern wandte sich Melanchthon in Vorlesungen und Kommentaren vor allem den Klassikern der augusteischen Zeit und den Komödien Terenz’ zu. Neben der bereits erwähnten Vorrede des Jahres 1516 stehen die einflussreichen und vielfach gedruckten Kommentierungen der Ausgabe von 1524, Scholien (deren Edition in CR nach einer Untersuchung Richard Wetzels [1997b], unbrauchbar ist), die Behandlung in Vorlesungen, in seiner Schola privata und Theateraufführungen seiner Schüler, für die er poetische Prologe schrieb, eine Vorrede zur Terenz-Ausgabe seines Freundes Joachim Camerarius (1546) und außerdem zahlreiche Zitate in seinen Schriften. Melanchthon arbeitete, insbesondere in den Vorreden, den Wert der Komödienlektüre heraus: Die besondere pädagogische Funktion der Komödie stellte er in den kulturgeschichtlichen und zeithistorischen Kontext ihrer Entstehung in der griechischen Polis, wobei er zunächst ganz allgemein die große Bedeutung von Dichtung für das öffentliche gesellschaftliche und individuelle Leben aufzeigte und sie in Bezug zur griechischen Philosophie setzte. Für die römische Komödie arbeitete er zutreffend die Abhängigkeit von Menander heraus. Melanchthon verstand die Komödie vor allem als moralisch-didaktische Gattung. So bezeichnete er Terenz als et orationis et vitae magister. Sein Dichtungsverständnis, nach dem er die Komödie der Gattung der deliberativen Rede zuordnete, legt – ähnlich wie bei der griechischen Tragödie – zum einen ihre Lektüre wegen der für das private wie das öffentliche Leben wertvollen moralischen Belehrung nahe: Exemplarisch finde man in seinen Komödien allgemeinmenschliche Verhaltensweisen thematisiert. Dem Leser beziehungsweise Zuschauer werde ein „Spiegel des Lebens“ vorgehalten. Zum anderen lerne man bei Terenz auch richtig sprechen. Gerade die alltägliche Sprache im genus humile hält Melanchthon für die Spracherziehung für besonders geeignet. Bei aller Funktionalität der Lektüre hatte er auch einen Blick für die ästhetische Dimension der Darstellung und arbeitete situationsbezogen Elemente der Komik heraus. Wenn auch seine Leistungen, was die philologisch-editorische Tätigkeit angeht, geringer zu veranschlagen ist, als früher
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angenommen (Wetzel 1997b), kommt seinem Bemühen um die Verankerung der Terenz-Lektüre im christlich-humanistischen Bildungsprogramm zur Vermittlung moralisch-ethischer und sprachlicher Menschenbildung doch ein besonderes Verdienst zu. Auch die handlungsorientierte Beschäftigung mit dem antiken Autor in Form von Schultheateraufführungen ist hier hervorzuheben. Die von ihm verfassten Versprologe nach Terenz’ Vorbild empfahlen dem Wittenberger Publikum den lohnenden sprachlichen, ethischen und didaktischen Wert der Komödien. Dabei musste er wiederholt (und mit Luthers Rückhalt) die Terenz-Lektüre gegenüber der Kritik an der moralischen Fragwürdigkeit der Beschäftigung mit heidnischen Texten im Unterricht verteidigen. Gerade das Auftreten von Hetären und Bordellbesitzern stieß im protestantischen Umfeld wie bereits im vorreformatorischen Humanismus (Jakob Wimpfeling) auf massive Vorbehalte. Über Vergil hatte Melanchthon schon in Tübingen eine Vorlesung gehalten, auch in Wittenberg machte er den römischen Dichter zum Gegenstand der Behandlung im Unterricht, was in schriftlichen Kommentierungen seinen Niederschlag fand. Vergils Epos Aeneis, in dem in der augusteischen Zeit die Gründung Roms und seine gegenwärtige Größe mythologisch überhöht wurde, biete einen zweifachen Inhalt: Kriege, in denen das Leben von Helden dargestellt würden, und die Seefahrt, die ein exemplum für das zivile und private Leben sei (CR 19, 435). Die Dimension der moralischen Bildung durch die Aeneis sieht Melanchthon in der Vermittlung des Bildes eines Politikers und militärischen Strategen durch den Protagonisten. Aeneas ist demnach das Muster für die Lenkung von Staaten, für Kriegsführung, Gerechtigkeit, Milde und Pflichterfüllung. Besondere Leistungen sieht Melanchthon durch Vergil in der Kombination von klugen menschlichen Überlegungen und der Abhängigkeit von den Göttern und günstigen Schicksalsmächten begründet. Darüber hinaus werde deutlich, dass Menschen unverdientermaßen ums Leben kommen könnten (wie Pallas) oder gerechte Schicksale erlitten. Daneben verweist Melanchthon auf die Darstellung von Emotionen, naturkundliche Darstellungen, schließlich auf Geschichten, die einfach zum Vergnügen gelesen werden könnten (MBW.T 3, 856,685 – 686; CR 2, 23). Das Lehrgedicht Georgica las er unter naturkundlichem Gesichtspunkt und gab in seiner Praefatio nur knappe Hinweise auf die Themen der Bücher: Acker- und Gartenbau,Vieh- und Bienenzucht. In den Einleitungen der Scholien zu den Büchern 2 bis 4 lenkte er die Aufmerksamkeit darauf, dass vor allem die Beschreibungen und Bezeichnungen von Bäumen und Tieren beachtet werden sollten, da die Natur der Tiere das Zeichen göttlicher Vorsehung trage (CR 19, 359 – 362,377,395,413). Vergils Eklogen, in denen Hirten in ihrer Welt dargestellt werden, beurteilte Melanchthon als Übung eines talentierten Dichters; sie enthielten auch moralische Belehrungen und sollten allegorisch ausgelegt werden. Es geht Melanchthon um die Frage, welche bedeutenden Dinge im Leben durch sie dargestellt würden. Dabei bewegt er sich, wenn er zum Beispiel den puer der 4. Ekloge in übertragenem Sinn (figurate) als Augustus deutete, innerhalb des seit der Antike bekannten Deutungsrahmens (CR 19, 305 – 307,313,323; Hofmann 1999, 126).
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Melanchthon bot auch eine Einordnung Vergils in den Gesamtzusammenhang der griechisch-römischen Literatur und konzentrierte sich auf die griechischen Autoren, mit denen sich Vergil in nachahmender Weise auseinandergesetzt hatte: auf den Epiker Homer (Aeneis), den Lehrdichter Hesiod (Georgica) und den Hirtendichter Theokrit (Eklogen), wobei er die griechischen Vorbilder für unerreicht hielt. Ovid dichtete Fasti, eine poetische Ausführung des römischen Kalenders mit seinen Festen und ihren Geschichten. Hier bot sich nach Melanchthon dem Leser neben dem sprachlichen ein vielfältiger Nutzen: astronomische Beobachtungen, geschichtliche Angaben, naturkundliche Formulierungen und Wörter, außerdem Loci communes und rhetorische Beispiele (CR 19, 479). Ovids Metamorphosen enthalten nach Melanchthon ausgewählte Geschichten: Beispiele des göttlichen Zorns und Wohlwollens, anschauliche Abbilder des menschlichen Lebens und seiner Grundbedingungen, was schon durch die Anlage der Metamorphosen als Dichtung vom Beginn der Welt bis zur Gegenwart des Dichters intendiert sei. Man finde naturkundliche und astronomische Inhalte. Das Werk wolle nicht nur unterhalten, wie einige Unkundige behaupten, sondern enthalte einen Bildungsschatz, da die exempla moralische Unterweisungen böten, beinahe alle Artes liberales in der vielfältigen Lehre der Metamorphosen abgedeckt seien und schließlich der sprachliche Nutzen des Werks nicht zu gering zu veranschlagen sei. Ovid übertrifft nach Meinung Melanchthons alle griechischen Autoren, die sich an ein vergleichbares Werk gemacht haben. Angesichts der Aufmerksamkeit, die Ovids Liebesdichtung unter den Humanisten erfuhr, ist das Fehlen der Amores oder der Ars amatoria in Vorlesungen und Kommentierungen bemerkenswert. Offensichtlich gab es Vorbehalte gegenüber einer öffentlichen Behandlung erotischer Inhalte. Das bedeutete jedoch nicht, dass im lutherischen Wittenberg eine Zensur über solche Texte verhängt worden wäre, denn Melanchthon waren die Texte vertraut, wie Zitate in seinem Werk belegen, und er verteidigte die Komödienaufführungen seiner Schüler gegen Kritiker an frivolen Inhalten.
5 Kommentare zur antiken Literatur Melanchthons Kommentare zur antiken Literatur stehen wie die Mehrzahl seiner Äußerungen zu diesem Textcorpus im Kontext des Unterrichts in Schule und Universität. Hier ging es nach den Erfordernissen der Zeit zunächst darum, den Studenten die antiken Texte in gedruckten Editionen zur Verfügung zu stellen. In vielen Fällen richtet sich der Umfang – und damit auch die Art der Kommentierung – nach dem neben dem Text im Buch zur Verfügung stehenden Platz. Peter Mack (2002) hat die Melanchthon-Kommentare zur antiken Literatur in fünf Kategorien eingeteilt: 1. Grammatisch-rhetorischer Kommentar: In diese Kategorie gehört Melanchthons Terenz-Kommentar von 1528. Zu Beginn jeder Komödie bot er ein argumentum, eine Zusammenfassung, in der er zum Teil explizit auf einzelne Teile der Handlung eingeht:
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vor allem die Protasis, in der sich der Konflikt ankündigt, die Epitasis, in der die Handlung auf ihren Höhe- und Wendepunkt zusteuert, und die Katastrophe, in der alle Verwicklungen gelöst werden und es einen glücklichen Ausgang gibt. Die anschließende Kommentierung teilt die Komödien in Akte und Szenen ein. Zu jeder Szene gibt es eine kurze Zusammenfassung des Inhalts, manchmal begleitet von einem Hinweis auf die moralische Botschaft dieser Passage. In den sich anschließenden Scholia zu einzelnen Stellen werden teils Hinweise auf moralische Lehren, rhetorische Figuren oder vergleichbare Formulierungen anderer Autoren geboten; teils werden bestimmte Topoi, von denen einzelne Aussagen abgeleitet wurden, benannt oder die Wirkung von Worten auf die Zuhörer; es gibt Kommentare zur Ironie der Komödien. Der vergleichsweise große Umfang und die Qualität der Kommentierung ist auf mehrere Umstände zurückzuführen. Ein ganz pragmatischer Grund ist der ihm zur Verfügung stehende Raum, der einen umfangreichen Kommentar erlaubte. Melanchthon konnte sich an einem Terenz-Kommentar des spätantiken Rhetoriklehrers Aelius Donatus orientieren, außerdem verfügte er über gründliche eigene Kenntnisse und Unterrichtserfahrungen. 2. Dialektisch-rhetorischer Kommentar: Anhand der Kommentare zu Ciceros Reden Pro Archia poeta, Pro Marcello und Pro Milone lässt sich sein besonderes Interesse an rhetorischer Struktur und logischem Aufbau der Texte erkennen. Melanchthon bestimmt jeweils in zusammenhängender Darlegung die Redegattung (genus iudiciale), woraus sich bestimmte Fragestellungen für die Argumentation (status iudicialis) ableiten. Ihm gelingt es dabei, den Beitrag rhetorischer Mittel im engeren Sinn zur logischen Argumentation herauszuarbeiten. So kann er zeigen, wie Ciceros Argumente, die von bestimmten Vorgaben für die Gestaltung von Gerichtsreden (Topoi/loci) abgeleitet sind, und seine sprachliche Ausgestaltung eines Gedankens (Amplifikation) im Zusammenhang der Rede Überzeugungskraft gewinnen. Methodisch orientiert er sich hier an Rudolf Agricolas dialektischem Kommentar zu Ciceros Rede Pro lege Manilia und den Kommentaren des Latomus. Anders als sie legt er jedoch mehr Wert auf die rhetorische Gliederung der Reden. Die Scholien zu Pro Archia poeta und Pro Marcello markieren die einzelnen Redeteile und ihre Unterteilungen mit Inhaltsangaben. Außerdem gibt es kurze Erläuterungen zu einzelnen Stellen und Wörtern und Hinweise auf Amplifikationen und Loci communes (CR 16, 897– 920,923 – 970,975 – 1032). 3. Paraphrasen: Zu einigen Reden bietet Melanchthon auch Paraphrasen der gesamten Rede (z. B. zu Pro Archia poeta: CR 16, 903 – 910 und Pro Marcello: CR 16, 931– 948,957– 958) beziehungsweise nur zu Redeteilen (z. B. zum exordium von Pro Murena: CR 16, 1083 – 1041 und Pro Milone: CR 16, 993 – 996). Die Hauptgedanken jedes Abschnitts werden in zusammenhängender Darstellung zusammengefasst, sodass sie einerseits gegenüber dem Original verkürzt und vereinfacht sind, andererseits der argumentative Fortschritt der Rede, wie er in der ausführlichen Analyse der logischen Struktur herausgearbeitet wird, leicht nachvollzogen werden kann, um so den Gesamtzusammenhang der Rede und das Zusammenspiel ihrer einzelnen Argumente zu
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verdeutlichen. Als solches kann die Paraphrase wiederum zur Vorbereitung einer eigenen sorgfältigen Detailanalyse dienen. 4. Scholien: Die Mehrheit der schriftlichen Kommentierungen antiker Werke durch Melanchthon sind Scholien. Sie bestehen zum Teil nur aus sehr wenigen und kurzen Anmerkungen, wie etwa die zu Vergils Werken oder zu Ciceros De officiis. Aufgrund der enormen Kürze – für Vergil hat Mack (2002) einen Durchschnitt von nur fünf Wörtern pro Marginalie festgestellt – kann Melanchthon natürlich keinen Gedankengang entwickeln.Vielmehr handelt es sich um knappe Hinweise zum Inhalt der Stelle wie in Vergils Aeneis: Er gibt Abschnitte in rhetorischer Terminologie an, weist auf stilistische Merkmale hin, macht rhetorische Angaben, verweist auf Sachinformationen und vermerkt emotionale Wirkungen des Textes. Die Scholien zu Ciceros De officiis sind vergleichsweise etwas länger. Melanchthon bietet Anmerkungen zu Struktur und Haupttopoi, verweist auf ähnliche Aussagen anderer antiker Autoren, setzt Cicero in Beziehung zu anderen Philosophenschulen und gibt Erklärungen zu loci und philosophischer Methode, ohne dass aber Argumentationen nachvollzogen würden. Vermutlich waren es pragmatische Gründe, die eine ausführlichere Kommentierung verhindert haben. Die Darbietung des antiken Werkes selbst hatte für Melanchthon offensichtlich Vorrang. Kosten und zur Verfügung stehender Raum beschränkten in diesen Fällen den Umfang der Erklärungen. Die wenigen Anmerkungen gaben von daher Schülern die allernötigsten Hinweise, wobei Melanchthon einen Lehrer voraussetzte, der für die Erarbeitung von Inhalt und Argumentation im Einzelnen Anleitung und weitere Hilfestellung gab. 5. Argumenta: In den posthum edierten Kommentaren Melanchthons zu Vergils Eklogen oder Ciceros Epistulae ad familiares stehen eine ganze Anzahl von argumenta. Vermutlich handelt es sich um Inhaltsangaben unterschiedlicher Schüler aus verschiedenen Vorlesungen.
6 Übersetzungen Macks fünf Kommentar-Kategorien lässt sich mit Melanchthons Übersetzungen griechischer Autoren ins Lateinische eine weitere hinzufügen, die einerseits größere Eigenständigkeit beansprucht, andererseits integraler Bestandteil des Kommentierungsprozesses war. Neben zumeist sehr wörtlich übersetzten Zitaten, die über sein ganzes Œuvre verteilt sind, hat er umfänglichere Passagen, zum Teil ganze Werke in lateinischer Prosa wiedergegeben, einzelne poetische Texte sind auch in eine metrische Fassung übertragen. Zu den Prosaübersetzungen gehören – in CR 17– 19 abgedruckte – Reden von Demosthenes, Aischines, Lykurg, Lukian, Reden in den Werken von Thukydides und Xenophon, außerdem Plutarch (De nota Pythagorica), Ptolemäus. Neben Rednern und Historikern stehen Werke von griechischen Dichtern: die Elegien von Theognis, die Oden Pindars, die Tragödien von Sophokles (bisher nur handschriftlich überliefert) und Euripides.
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Melanchthon formulierte seine Übersetzungen gern im Rahmen seiner Vorlesungen, gerade bei schwerer verständlichen Autoren (MBW.T 2, 335,153 – 154; CR 1, 699 – 700; MBW.T 5, 1309,389; CR 2, 636). Sein Ziel war es, dem sachlichen Verständnis des Originals zu dienen, weswegen er auf sprachliche Genauigkeit oder eine Nachahmung der rhetorisch-stilistischen Ausgestaltung verzichtete (MBW.T 3, 549,68; CR 1, 889). Anhand der Übersetzungen ganzer antiker Werke lassen sich die Besonderheiten der Melanchthonschen Übersetzungspraxis herausstellen (Loehr 2001, insbes. 237– 239). Der Entstehungskontext dieser Übersetzungen ist in jedem Fall nicht der Schreibtisch des gelehrten Übersetzers, der eine zielsprachenorientierte, das Original ersetzende und mit ihm wetteifernde eigenständige Übersetzung in einem kreativen Prozess schafft und eine Publikation beabsichtigt. Vielmehr stehen Melanchthons Übersetzungen, wie die Kommentare, im akademisch-unterrichtlichen Zusammenhang und wurden nur aus Vorlesungsmitschriften von Studenten ediert. Melanchthon formulierte sie – zum Teil extemporierend – für seine des Griechischen kundigen Zuhörer, damit sie sich schneller im Text zurechtfinden konnten. Dabei war seine Intention, ihnen einen „Sachkommentar“ als Verständnishilfe, das heißt eine am Originaltext orientierte Form der Interpretation, zur Verfügung zu stellen. Methodische Schritte zur Übersetzung waren erstens die Bestimmung von Form und Semantik der griechischen Wörter, zweitens nach der Konstruktionsmethode eine syntaktische Klärung, die beide drittens in die eigentliche Übersetzung mündeten. Dabei ist das Besondere das Bemühen um eine einfach nachvollziehbare Übertragung, die dem Sachverständnis dient, indem das eigentlich Gemeinte, nicht (unbedingt) das poetisch ausgeschmückt Gesagte, lateinisch wiedergegeben wird. Anders als etwa bei Nachdichtungen von Erasmus von Rotterdam bedeutet das natürlich einen Verzicht auf die Poetizität der Sprache, auf bildliche Ausdrücke, Metonymien oder Metaphern, auf kunstvoll gebaute Wendungen und metrische Form. Andererseits vermeidet Melanchthon auch eine wörtliche Übersetzung im engeren Sinn, die den Studenten bei der Lektüre des griechischen Originals hinsichtlich Vokabular und Syntax Hilfestellung geben würde. Seine kommentierende Übersetzungsweise überträgt dabei entsprechend den weltanschaulichen Voraussetzungen und Zielen des Übersetzers – wohl bewusst – Aussagen der paganen Religion und Ethik in eine christlich geprägte Vorstellungswelt. Je nach Gattung erscheint diese Übersetzungsmethode unterschiedlich passend. Bei der Übersetzung der Chorlyrik ist der Abstand zwischen Original und Übersetzung recht groß, nachdem die poetische Eigenart dieser Dichtung außer Acht gelassen wurde. Insofern führte die Übersetzung nach Verlust des ursprünglichen Entstehungszusammenhangs der Vorlesung in selbständig gedruckter Form nicht zum Original hin. Hier dominiert das kommentierende Element. Von daher ist die Wirkungsgeschichte der Pindar-Übersetzungen Melanchthons auch nur gering. Recht bald fand sich passenderer Ersatz in den Übersetzungen des Pariser Humanisten Henricus Stephanus, der auch die poetische Qualität der Oden berücksichtigte. Dagegen ist in
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den kommunikativen Passagen der Tragödien Melanchthons sachorientierte Übersetzungsweise angemessen. Mehrere Nachdrucke zeigen die Wirkungsmächtigkeit der Übersetzungen bis ins 17. Jahrhundert. Entsprechend seiner Zielsetzung, den Sinn eines Textes herauszuarbeiten, hat Melanchthon bewusst die sachorientierte, kommentierende Methode gewählt, im Gegensatz etwa zu Erasmus’ ästhetisch ausgerichteter Übersetzung. Das bedeutet freilich nicht, dass er nicht auch „wörtliche“ Übersetzungen angefertigt hat, die sich an Wortschatz und Struktur der Vorlage enger orientierten und Schülern Hilfestellung geben sollten.
7 Melanchthon und die antike Literatur Melanchthons Bedeutung für die Vermittlung der antiken Literatur im humanistischen Bildungskanon ist unbestritten groß. Im Besonderen gilt dies für die Verankerung der humanistischen, an der Antike geschulten Bildung im reformatorischen Umfeld. Die Lektüre der antiken Literatur und die Orientierung des eigenen Redens und Denkens daran war fester Bestandteil seines Lebens und sollte es für Schüler und Studenten unter seinem Einfluss werden. Als Vermittler der antiken Literatur wirkte er durch seinen Unterricht, Schul- und Universitätsordnungen, durch Vorlesungen, Kommentare, Editionen und Übersetzungen. Anders als manche Humanisten vor und neben ihm galt sein Interesse nicht philologisch-historischen Fragestellungen. Seine Textausgaben enthalten keine Textkritik; sein interpretierender Zugang zu den klassischen Autoren war in der Regel ein unmittelbarer, funktionaler, auf moralische Bildung ausgerichteter. Literatur sollte nicht um ihrer selbst willen, sollte nicht nur zur Unterhaltung gelesen werden. Der Ertrag seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der antiken Literatur weist insofern kaum anregend über seine eigene Zeit hinaus, auch wenn die Auflagenstärke seiner Werke für das 16. und noch 17. Jahrhundert die breite Rezeption seiner Arbeiten zur antiken Literatur belegen. Und dies war wohl nicht nur seinem Ansehen geschuldet, sondern lag in ihrem didaktischen Wert begründet.
Literatur Bleicher, Thomas. 1972. Homer in der deutschen Literatur (1450 – 1740). Zur Rezeption der Antike und zur Poetologie der Neuzeit. Stuttgart. Daskarolis, Anastasia. 2000. Die Wiedergeburt des Sophokles aus dem Geist des Humanismus. Studien zur Sophokles-Rezeption in Deutschland vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Tübingen. Effe, Bernd. 1998. „Philipp Melanchthon: Ein humanistisches Plädoyer für den Bildungswert des Griechischen.“ In Philipp Melanchthon. Exemplarische Aspekte seines Humanismus. Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 32, hg. v. Gerhard Binder, 47 – 101. Trier. Hartfelder, Karl. (1889) 1972. Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae. Monumenta Germaniae paedagogica 7. (Berlin) unv. Nachdr.: Nieuwkoop.
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Hofmann, Heinz. 1999. „Melanchthon als Interpret antiker Dichtung.“ Neulateinisches Jahrbuch 1: 99 – 128. Loehr, Johanna. 2001. „Melanchthons Übersetzungen griechischer Dichter.“ In Die Musen im Reformationszeitalter, hg. v. Walther Ludwig, 209 – 245. Leipzig. Mack, Peter. 2002. „Melanchthon’s Commentaries on Latin Literature.“ In Melanchthon und Europa, 2. Teilbd. Westeuropa. MSB 6/2, hg. v. Günter Frank und Kees Meerhoff, 29 – 52. Stuttgart/Bad Cannstatt. Probst, Veit. 1997. „Melanchthons Studienjahre in Heidelberg.“ In Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland. Bildungsstationen eines Reformators. Ausstellungskatalog, hg. v. Stefan Rhein, Armin Schlechter und Udo Wennemuth, 19 – 38. Karlsruhe. Schwab, Hans-Rüdiger. 2003. „Der lächelnde Humanist. Melanchthon und die römische Komödie des Terenz.“ In Gedenken und Rezeption – 100 Jahre Melanchthonhaus. Fragmenta Melanchthoniana 2, hg. v. Günter Frank u. Sebastian Lalla, 187 – 201. Ubstadt-Weiher. Rhein, Stefan. 1999. „Philipp Melanchthon als Gräzist.“ In Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert, hg. v. Günther Wartenberg, 53 – 69. Leipzig. Wetzel, Richard. 1997b. „Melanchthons Verdienste um Terenz unter besonderer Berücksichtigung ‚seiner‘ Ausgaben des Dichters.“ In Philipp Melanchthon in Südwestdeutschland. Bildungsstationen eines Reformators. Ausstellungskatalog, hg. v. Stefan Rhein, Armin Schlechter und Udo Wennemuth, 101 – 126. Karlsruhe.
D Wirkung und Rezeption
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Altes Reich Es gibt noch keine zusammenhängende Darstellung der Geschichte der Rezeption und der Nachwirkung Melanchthons. Eine solche Darstellung müsste der Tatsache gerecht werden, dass Melanchthon ein Universalgelehrter war, insbesondere Philosoph und Theologe, und dass dies im Kontext der Reformation keineswegs eine harmonische Konstellation war, auch wenn der Christ Melanchthon dafür arbeitete. Während seine theologische Autorität schon zu Lebzeiten im Corpus Evangelicorum strittig wurde, blieb seine philosophische Autorität in den protestantischen Schulen und Universitäten des Reiches über Jahrzehnte weithin in Geltung. Praeceptor Germaniae (Dingel/ Kohnle 2011; zur Herkunft des Titels vgl. Mahlmann: Sträter 1999, 135 – 222) wurde er schon aufgrund seiner Beteiligung an der Neugestaltung (Wittenberg, Tübingen, Heidelberg, Frankfurt/Oder, Rostock, Leipzig) und Neugründung (Marburg, Königsberg, Jena) von Universitäten (Scheible: TRE 22, 374– 400; für Wittenberg und Helmstedt vgl. Mager: Sträter 1999, 105 – 126; für Rostock: Kaufmann 1997; für Marburg: Bauer 22000). Allerdings unterschied Melanchthon selbst das theologische, nach Maßgabe des Schriftprinzips begründete Wissen vom philosophischen, auf Vernunft und Erfahrung basierten Wissen und dessen Wahrheitsansprüchen (vgl. dazu die Beiträge Günter Franks zum Wissenschaftsverständnis [C II.] und Philosophiebegriff [C III.] Melanchthons). Die Formeln dafür, „Theologie und Philosophie“, „Vernunft und Offenbarung“ und, am prägnantesten, „Gesetz und Evangelium“, benannten jedoch nicht lineare, sondern komplexe Korrelationen. Es war Melanchthons Umgang damit, der nach seinem Tode die Personalunion des Philosophen und des Theologen Melanchthon ins Zwielicht rückte und die Anknüpfung an sein Denken, aber auch dessen Umformung und seine Verabschiedung veranlasste. Die Kritik an Melanchthon betraf in der religionspolitischen Situation nach 1546 vor allem den Theologen Melanchthon. Langfristig betraf sie auch den Philosophen, sowohl als solchen als auch im Blick darauf, dass er die an protestantischen Hohen Schulen gelehrte Philosophie auf reformatorische Kriterien von Wissenserwerb und praktischer Orientierung zu beziehen hatte. Die neuere Forschung trennt den philosophischen Aspekt nicht mehr ab vom theologiehistorischen Kontext, umgekehrt kontextualisiert sie die früher oft abgetrennte theologische Arbeit Melanchthons wissenschafts- und kulturhistorisch. Besonders wichtig ist das im Blick auf den Rückgang der Nachwirkung Melanchthons, der sich zeitgleich mit dem Übergang der reformatorischen Theologien in eine konfessionalistische Phase und mit dem Übergang der renaissancehumanistischen Philosophie in einen methodologisch neuen Reformaristotelismus einerseits, in hermetisch-frommen Spekulationen andererseits vollzog (um 1600: vgl. Schmidt-Biggemann/Vollhardt 2016). Vor diesem Hintergrund wird (1) dargestellt, wie die universalwissenschaftliche Philosophie Melanchthons in protestantischen Hohen Schulen (Seifert: Hammerstein/Buck 1996, 197– 279; Hammerstein: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 295 – 301) nach gegenwärtiger Kenntnis DOI 10.1515/9783110335804-045
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präsent war. Dann wird (2) dargestellt, welche Rolle Melanchthon in den protestantischen Theologien der Frühen Neuzeit in Rezeption und Kritik gespielt hat.
1 Philosophie Die Forschungslage hat sich in den letzten Dezennien erheblich verbessert, nachdem erste Initiativen (Troeltsch 1891, vgl. auch Rieger 2003; Weber 1907; Althaus 1914; Petersen 1921: Heesch: Frank/Köpf 2003, 201– 213) fast folgenlos geblieben waren. Petersen durchmaß in seiner Geschichte des protestantischen Aristotelismus das „Flachland der Melanchthonschen Philosophie“ und würdigte, dass sie das Interesse auf Aristoteles und die Kommentatoren konzentriert, diesen „Aristotelismus“ im Verbund mit reformatorischer Theologie didaktisch klug vermittelt und in der philosophischen Fakultät institutionell auf Dauer gestellt, also in neuerliche „Scholastik“ transformiert habe (Petersen 1921, X, 19 – 108). Das ist bis heute unstrittig, nur dass „Scholastik“ nicht mehr pejorativ gebraucht wird.Von den zahlreichen Hinweisen auf philosophische Nachwirkungen (Petersen 1921, 109 – 218) sind inzwischen eine größere Zahl in ihren historischen Kontexten, die Universitäten und Gymnasien der lutherischen und reformierten Territorien, bibliographisch und zum Teil doxographisch verifiziert worden (Schmidt-Biggemann: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 392– 474; Sparn: ebd. 475 – 606; Mühling: Selderhuis et al. 2013, 177– 193). Das Jubiläum 1997 hat die Aufmerksamkeit auf Melanchthons Philosophie deutlich verstärkt und die Diskussion über ihre Nachwirkungen ermöglicht. Einzelstudien und interdisziplinäre Tagungen im Umkreis der Internationalen Melanchthon-Akademie Bretten haben auf allen Feldern der Philosophie neue Erkenntnisse erbracht. Sie betreffen a) die artes liberales, wie sie seit Melanchthons Reform gepflegt wurden: Philologie, Rhetorik, Poetik, Dialektik, Historie; b) die Naturphilosophie, vor allem Physik mit Psychologie, Astronomie mit höherer Mathematik und Astrologie; c) die Moralphilosophie mit Ethik und Politik; d) die von Melanchthon ausgeschiedene, aber gegen 1600 wieder eingeführte Metaphysik.
a) Artes liberales Die Anerkennung der philosophischen Autorität Melanchthons verbürgten im Bereich des wissenschaftlichen Instrumentariums und seiner Didaktik über einige Jahrzehnte die vielen Schüler, die an Universitäten und Gymnasien tätig wurden. Weit verbreitet waren auch seine Lehrbücher, oft aufgelegt, anonym auch außerhalb protestantischer Gebiete; Studienführer hatten geradezu die Aufgabe, diese Lehrbücher zu empfehlen, zum Beispiel David Chytraeus‘ De ratione discendi et ordine studiorum in singulis artibus recte instituendo (1562, 111596). Im Reich wurden in allen Hohen Schulen, die reorganisiert oder neu gegründet wurden, die Grammatiken Melanchthons eingeführt, seine Rhetorik (1542) und seine humanistische, als ars disserendi konzipierte und als
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„Dialektik“ firmierende Logik (1547); dazu die Quellentexte Aristoteles‘, Ciceros und Quintilians. Bis ins 17. Jahrhundert wurden danach declamationes und orationes für die verschiedenen Rede-Genera, auch Predigt und Lehrvortrag im (neuen) genus didaskalikon eingeübt. Zwei Neuerungen der rhetorisch-dialektischen Methode, die der Schüler Georg Major auch in Frageform fasste (1537, 131574), waren folgenreich. Zum einen wurde die humanistisch erneuerte Topik, die begründende Lehre in der Abfolge von Loci, die ihre Leitbegriffe nun den jeweiligen Quellen entnahm, nun bewusst in der Theologie, aber auch in der Geschichtsschreibung und der Jurisprudenz angewandt; es handelte sich um eine neue Methode historischer Wissensordnungen (Schmidt-Biggemann 2007, 229 – 246; Frank 2017b, 159 – 177). Zum anderen wurde die aristotelische Hermeneutik auf das Verstehen von Rede und Text anderer Autoren erweitert. Das erforderte, die philologisch und theologisch tradierten Regeln der Auslegung zu revidieren: „Lehre“ war nun zu messen an der richtigen Interpretation der Heiligen Schrift. Die nächsten Schritte gingen Martin Chemnitz im Traktat über die Heilige Schrift im Examen Concilii Tridentini (1565, dt. 1576) (Kaufmann: Scheible 1997b, 183 – 254) sowie Matthias Flacius Illyricus, der Freund auch Melanchthons, im Clavis Scripturae Sacrae (1567). Letzteres Werk wurde bis ins frühe 18. Jahrhundert aufgelegt und auch als Fundus biblischer Rhetorik benutzt (Diebner: Scheible 1997b, 157– 182). Auch Melanchthons Bemühungen um die (lateinische) Poesie, nachdem er die artes erweitert hatte um die alten Sprachen, Poetik und Historie, wirkten stark nach, prominent im Schüler Johannes Stigel, dem „Wittenberger Homer“ (Rhein: Scheible 1997b, 31– 50; Schäfer: ebd. 51– 68; Wels: Frank/Lalla 2003, 81– 104), Hermann Kirchner und pädagogisch wirksam durch Georg Major, seit 1561 Poetikprofessor und Exeget (Wengert: Scheible 1997b, 129 – 156). Die reiche Produktion von Epigrammen, Epicedien, Carmina etc. stand bis ins späte 17. Jahrhundert in der Nachfolge von „PhiloMela“. Auch das protestantische Schultheater entwickelte sich unter seinem und Majors Einfluss weiter (Kühlmann: Hammerstein/Buck 1996, 139 – 168). Die universale Philosophiekonzeption Melanchthons (Frank: Frank/Mundt 2012, 1– 10) wurde durch die Studienordnungen nach Wittenberger und Marburger Vorbild auch in der praktischen Philosophie wirksam, die in Ethik, Politik (darin das Naturrecht) und (oft deutsche) Ökonomik gegliedert wurde. Sie verstärkte auch die Naturphilosophie, die als Physik, höhere Mathematik und Astronomie ausgelegt war; sie wurde aus den Quellen (Aristoteles, Galen, Ptolemaios, Cicero) erklärt und um zeitgenössische Autoren ergänzt. Dieser Fächerkanon blieb im 16. Jahrhundert die Regel; ihre Professuren wurden teils auf zwölf aufgestockt (für Wittenberg vgl. Scheible: Asche et al. 2015, 191– 206). Melanchthons philosophischer Einfluss erstreckte sich nachhaltig auf die erneuerten und die neuen „illustren“ Gymnasien. Die Kombination seiner Lateinschule mit dem Straßburger Modell Johann Sturms (Schindling 1977; Seifert: Hammerstein/Buck 1996, 301– 312) eröffnete seinen Kompendien reichsweite Wirksamkeit. Noch im 1605 gegründeten Gymnasium im lutherischen Coburg wurden sie benutzt – jetzt jedoch ramistisch modifiziert, wie die dort benutzte Dialectica emendata oder die Grammatica latina philippo-ramea im reformierten Herborn (1598), die Harmonia logica philipporamea Heizo Buschers in Hannover oder die Institutiones
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logicae Rudolph Goclenius‘in Marburg (Bauer 22000, 77– 122) belegen. Das indiziert die Krise der Akzeptanz Melanchthons, die durch den Ramismus hervorgerufen wurde. Die Dialecticae institutiones (1572) des Reformierten Pierre de la Ramée (1569 sollte er als Nachfolger Viktorin Strigels nach Heidelberg berufen werden) votierten wie Melanchthon antischolastisch, radikalisierten aber die humanistische Dialektik im Sinne der platonischen Ideenlehre. Sie überschritten die epistemische Grenze der ars disserendi Melanchthons, der stets unterstellte, dass dialektisch gebrauchte Begriffe auf externe Sachverhalte referieren. Ramus ordnete begriffliches Wissen durch Findung von definiblen Oberbegriffen und deren logische Divisionen in übersichtliche, auf alle Wissenschaften anwendbare dichotomische Begriffstabellen (Schmidt-Biggemann 1983, 31– 66; Feingold 2001). Das schien didaktisch so überlegen, dass etwa Altdorf 1576 im Interesse vor allem seiner (renommierten) Juristen die Kompendien Melanchthons durch ramistische ersetzte (Mährle: Brennecke et al. 2011, 29 – 49). Ähnliches gilt für Heidelberg (Freedman: Strohm et al. 2006, 93 – 126). Ohnehin setzte sich in der Jurisprudenz Melanchthons Lokalmethode nicht durch, obwohl gerade Wittenberg in der Rechtspflege weit ausstrahlte und auch Marburg über bedeutende Naturrechtslehrer wie Johannes Oldendorp verfügte (Rockmann: Asche et al. 2015, 379 – 395; Bauer 22000, 551– 597). Konrad Lagus versuchte, seine Traditio methodica juris civilis (1543) an Melanchthon zu orientieren, um nach seiner Begegnung mit Ramus doch auf dessen Methode zu wechseln; der dezidierte Ramist Johann Thomas Freigius brachte das Werk 1571/1582 in Tabellenform (Troje: Scheible 1997b, 255 – 283). Von Melanchthon zu Ramus bewegte sich auch die Bildungspolitik des Kasseler Landgrafen Moritz des Gelehrten, der 1605 das reformierte Bekenntnis annahm (Menk: Schilling 1986, 154– 183; Friedrich 2000). Man kann in dieser Zeit von einer strittigen Präsenz Melanchthons sprechen, etwa wenn im Hamburger Johanneum Jakob Werenberg den dortigen Philippo-Ramismus 1615 durch eine zabarellistische Revision der Dialektik Melanchthons auszuhebeln versuchte (Sparn: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 585 – 587). In der pädagogischen Reform, die Wolfgang Ratke seit 1612 propagierte, waren Ziele im Blick, die Melanchthon und Ramus gemeinsam waren, wie sprachliche Kompetenz, enzyklopädische Orientierung und sittliche Praxis (Kordes 1999). Sie wurden jedoch in ein pansophisches Gesamtkonzept eingefügt, das in dieser Zeit nicht wenige Philosophen teilten, das aber die Grenzen der Philosophie Melanchthons überschritt; die Schulreformer in Weimar (Johannes Kromayer) und Gotha (Sigismund Evenius) setzten Ratkes Didaktik eher technisch ein. Aber auch Daniel Stahl, Jenaer Professor für Logik und Metaphysik (!), wurde 1628 Ratkes Mitarbeiter; was sich immerhin in der Konzentration auf axiomatische Regeln und tabellarische Formen sowie in der Schätzung der Dialektik neben der demonstrativen Logik niederschlug (Kühlmann: Hammerstein/Buck 1996, 165 – 196; Sparn: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 524– 525. 529 – 531). In der Schulphilosophie trat an die Stelle des Ramismus und des Semiramismus die wissenschaftliche Methodik, die im Paduaner Reformaristotelismus ausgearbeitet wurde, programmatisch von Jacopo Zabarella (De methodis: Opera logica 1578, 41617). Diese Methodologie (Leinsle 1985, 42– 53; Cohen 1994, 279 – 285) ersetzte die für si-
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cheres Wissen ungenügende Dialektik durch die demonstratio propter quid gemäß den Zweiten Analytiken Aristoteles‘. Damit wurde eine kategoriale Unterscheidung zwischen bloß logischen, sachlich neutralen Begriffen von primären, das heißt auf Sachverhalte referierenden Begriffen verbunden; das bedeutete das Ende der dialektischen Vermischung von „Instrumentaldisziplinen“ und „Realdisziplinen“. Über bloße Organisation von Wissen hinaus auf begründetes und neues Wissen zu zielen, war zunächst das Anliegen von Naturphilosophen, es wurde aber in der übrigen Philosophie aus Gründen eines klaren „wissenschaftlichen“ Aristotelismus weithin übernommen. Diese quellennahe reformaristotelische Methodenlehre war attraktiv auch für Theologen, die in der Folge der Konfessionalisierung der pragmatisch-persuasiven Topik den demonstrativen Beweis vorordnen wollten. Es ist nicht ganz klar, wieso Schulen, die Melanchthon näher standen als andere, die neue Methodologie (und die von ihr nahegelegte Metaphysik) so energisch einführten und noch vor 1600 den Ramismus verboten. Altdorf und Helmstedt – hier galt das Luthertum der Konkordienformel von 1577 nicht – waren theologisch und philosophisch melanchthonisch geprägt. Die Helmstedter Statuten (1576) verfasste David Chytraeus, die Logik wurde mit einem weiteren Melanchthon-Schüler, Owen Günther, die Ethik 1590 wurde mit Johannes Caselius besetzt, einem weiteren Schüler. Der Logiker wollte zwar Melanchthons Dialektik mit der paduanischen Methodologie verbinden (Leinsle 1985, 53 – 62), aber das wurde von Cornelius Martini, einem Rostocker Schüler Chytraeus‘ und Caselius‘, zugunsten der aristotelischen Logik der Zweiten Analytiken überholt (1596). Es scheint, dass die Rückkehr zu den Quellen – ein zentrales Anliegen Melanchthons, auf das auch Chytraeus‘ Statuten verpflichteten – den Abschied von seinen Kompendien mit herbeiführte. Auch der Reformierte Bartholomäus Keckermann, ein erklärter Freund Melanchthons, zog die neue Methodologie der ramistischen vor und ergänzte folgerichtig seine mit Melanchthon gegen Ramus konzipierte Logik (1599) durch ein Scientiae metaphysicae systema (1609; Meerhoff: Strohm et al. 2006, 169 – 205). Eher kontinuierlich entwickelte sich das Verhältnis zu Melanchthons Kompendium der Rhetorik, etwa bei Viktorin Strigel. Eloquentia, utilitas blieben fraglose Standards, deren stilistische und materielle Realisierung sich bald den Darstellungsund Überzeugungsbedürfnissen im Barockzeitalter anpassten (Wels: Frank/Lalla 2003, 229 – 237). Melanchthons besondere Liebe zur Historiographie in ihrer ethischen Bedeutung wurde produktiv mit Kalenderwerken, die eine evangelische memoria der Heiligen neu begründeten (Jung, in: Sträter 199, 40 – 80), vor allem mit der universalgeschichtlichen Chronica Carionis (1558/1560, 1566 vom Schüler Caspar Peucer fertiggestellt), die mindestens bis 1621 oft aufgelegt und vom Schüler Christoph Pezel als Scholae historicae (1586) auch in seiner reformierten Phase präsentiert wurde (Neddermeyer: Scheible 1997b, 69 – 101). Noch länger wirksam waren die von Matthias Flacius initiierten Centuriae Magdeburgenses (1559 – 1574), die zusammen mit dem Catalogus testium veritatis (1556; im Konkordienbuch 1580) das protestantische Geschichtsbewusstsein bis ins frühe 18. Jahrhundert prägen sollten. Im Unterschied zum moralischen historia vitae magistra diente Geschichtsschreibung nun auch der
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kirchlichen Identitätsstiftung, nicht zuletzt dadurch, dass sie methodisch auf Findung und philologischer Analyse von Quellen beruhte und den Stoff nach der topischen Methode Melanchthons ordnete (Pohlig 2007; Bollbuck: Frank/Meier-Oeser 2011, 123 – 146). Die starke Erweiterung des geographischen Horizonts, die Vermehrung der Quellen und die Verfeinerung ihrer kritischen Prüfung führten zur Etablierung der Geschichtswissenschaft als eigenem Fach. Die Universalgeschichte im Gefolge Melanchthons blieb das Muster für die Platzierung der Gegenwart in der 6000-jährigen (Heils‐)Geschichte der Vier Monarchien und ihrer letzten Gestalt vor dem Weltende, des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Obwohl schon Flacius die Theorie der translatio imperii widerlegt hatte, verzögerte dieses Muster im lutherischen Deutschland den Erfolg der religiös indifferenten Historiographie, die seit Jean Bodin (1566) diskutierbar war (Seifert 1990).
b) Naturphilosophie Die naturphilosophischen Leistungen Melanchthons, die erst neuerdings wirklich beachtet werden (Frank/Rhein 1998; für Marburg: Bauer 22000, 345 – 399; siehe auch den Beitrag zur „Naturphilosophie“ in C III.) wirkten zunächst erfolgreich nach. Dafür sorgten auch die Freunde und Schüler, die seine Werke zum Druck gaben, PhysikKommentare schrieben oder Professuren für Mathematik, Physik, Astronomie oder Medizin übernahmen, wie Jakob Milichius, Nikolaus Selnecker, Paul Eber (Thüringer: Scheible 1997b, 285 – 321), Caspar Peucer (Neddermayer: ebd. 69 – 101) und Bartholomäus Schönborn (Koch: ebd. 343 – 340). Die Rezeption der Physik Melanchthons wurde durch ihre Kritik an der Heliozentrik Kopernikus‘ (den er als Mathematiker ja hoch achtete) nicht wirklich behindert; die These wurde in den Prutenischen Tafeln (1551) verwendet, Schüler vertraten die neue Lehre von der ersten Bewegung ausdrücklich (Caspar Peucer 1551; Viktorin Strigel 1563). Allerdings wurde sie auch nicht propagiert, sodass die moderat kritische zweite Auflage der Initia doctrinae physicae (1550) an die 20 Auflagen erleben konnte; sie wurde noch von Cornelius Martini 1599 in Helmstedt benutzt. Die Förderung der Astronomie durch Melanchthon, der astronomische Gedichte verfasste, wurde akademisch überaus wirksam (Bauer: Frank/Rhein 1998, 137– 181; Lindgren: ebd. 239 – 252). Das gilt auch für die (als Schulfach etablierte) Geographie und die Kosmographie, die Astronomie und Astrologie sowie Weltchronologie umfasste. So projektierte es Gerhard Mercator 1568, den Melanchthon stark beeinflusst hatte (Knobloch: Frank/Rhein 1998, 253 – 272). Speziell geographische Anregungen reichen von Caspar Peucer (De dimensione terrae, 1554) bis in die Enzyklopädien reformierter Philosophen, z. B. bei Bartholomäus Keckermann (Systema geographicum, 1612). Melanchthons Einfluss im aufblühenden Naturalia-Unterricht zwischen 1560 und 1600/1610 ist noch nicht zu überblicken (Pozzo: Frank/Rhein 1998, 279 – 284). Weithin rezipiert wurde Melanchthon auch im psychologischen Teil der Physik, den er als Commentarius de anima (1540) und Liber de anima (1553) publizierte. Diese
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Werke begründeten die frühneuzeitliche Anthropologie wesentlich mit, zumal sie auch die Anatomie und Physiologie des Menschen enthielten. Der Liber, der die neue Anatomie Andreas Vesalius‘ (1543) inkorporierte (Koch: Frank/Rhein 1998, 203 – 218; Wels: Greyertz et al. 2010, 51– 85), avancierte trotz seiner physikotheologischen Intention und seiner Argumentation für die Unsterblichkeit der Seele zum medizinischanatomischen Lehrbuch (zu Medizin und Chemie vgl. Bauer ²2000, 474– 549). Die Wittenberger Statuten von 1572 schrieben es auch formal vor; noch 1606 legte das Coburger Gymnasium den anatomischen und physiologischen Teil dem Unterricht zugrunde. Der psychologische Teil wurde nun aber kritisiert, auch von Rudolph Goclenius. Die Kommentare von Viktorin Strigel (1590) und Johannes Magirus (1603, Anthropologia 1613) mussten sich mit Melanchthons Unklarheit im Blick auf den Ursprung der individuellen Vernunftseele (und auf die Einheit der Seelenteile) auseinandersetzen (De Angelis 2010, 31– 63; Stiening: Bauer ²2000, 315 – 343). Denn die nicht „platonisch“ gesinnten, gegen dualistische Anthropologien argumentierenden Lutheraner votierten mit FC Art. 1 und Aristoteles gegen die kreationistischen Katholiken und Calvinisten für den Traduzianismus (Salatowsky 2006a, 104– 106. 323 – 329; Friedrich: Mulsow 2009, 211– 249). Noch zwischen 1640 und 1670 stritten Daniel Sennert und Johannes Sperling in Wittenberg gegen den Jenenser Johannes Zeisold, der zur Begründung der Unsterblichkeit der Seele zur kreationistischen These gewechselt war und sich noch 1666 auf Melanchthon berief (Roling: Frank/Mundt 2012, 173 – 199); dieser Streit war noch nach Gottfried Wilhelm Leibniz erinnerlich (Walch, Philosophisches Lexicon [1733], 2345 – 2348). Melanchthon und seine Schüler hatten allerdings kein naturphilosophisches Monopol inne. So orientierte sich der Tübinger Philosoph und Mediziner Jakob Schegk, wie in der Logik, so auch in der Physik und der Anthropologie (1538, 1550, postum 1590) genauer an Aristoteles. An Melanchthon kritisierte auch er, dass seine Interpretation sich methodisch unklar auch von platonischen, ciceronianischen und galenischen Theoremen bestimmen lasse. Eine jetzt rezipierte, auch im 17. Jahrhundert und auch von Theologen konsultierte aristotelische Autorität war der italienische Poet, Mediziner und antiramistische Aristoteliker Julius Caesar Scaliger mit Exotericae exercitationes de subtilitate (1557). Gerichtet gegen den hermetisch-platonischen Philosophen, Mediziner und Astrologen Girolamo Cardano (De subtilitate, 1550) präsentierte Scaliger aristotelische Physik und Psychologie, einschließlich des Votums für den Traduzianismus; noch 1656 publizierte Johannes Sperling einen Kommentar zu Scaliger. Außer von (wenigen) averroistischen Aristotelikern und von materialistischen oder empiristischen Neuerern wurde allerdings Melanchthons philosophisch und theologisch unentwegt eingeschärfte Annahme nirgendwo bestritten, dass die ersten Erkenntnis- und Handlungsprinzipien (ideae innatae, notitiae naturales, notiones communes) der Geistseele natürlich und also unverlierbar angeboren sind. Dieser ciceronianisch-neuplatonische „Innatismus“ (Frank 2003, 52– 78) wurde psychologisch expliziert, bibeltheologisch unterlegt und anthropologisch mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen gekoppelt. Als erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt der „natürlichen Gotteserkenntnis“, das heißt des philosophischen Gottesbegriffs, war er
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die Basis der praktischen Philosophie und der darin ethisch und politisch artikulierten Begriffe von Gesetz und Recht. Es ist strittig, ob man diesen Innatismus als Korrektiv zu Luthers Sündenlehre und auch in Einzelelementen auf die optimistische Anthropologie der Neuzeit hinweisen sieht (Frank 1995, 140 – 158; Ders.: Beyer/Wartenberg 1996, 313 – 326; Groh 2003,599 – 639). Ebenso ist unklar, ob man ihn als Schritt zur Abtrennung des natürlichen Rechts vom göttlichen Gesetz und frühe Subjektivierung des Naturrechtsgedanken einschätzen oder spätmittelalterlichen Prämissen zurechnen darf (Kern: Wartenberg 1999, 147– 160; Strohm: Frank 2000, 339 – 356; Stiening: Frank/ Mundt 2012, 115 – 146). Melanchthons Psychologie als solche wurde nach 1600 aus dem Unterricht und aus den Leseempfehlungen herausgenommen; in Wittenberg schon 1606. Ein Grund dafür war, dass Kompendien den aktuellen Erwartungen an methodische und philologische Präzision nicht mehr genügten; auch wurden humanistisch-platonische oder pythagoräische Muster als nicht-aristotelisch abgewiesen. Speziell Melanchthons Begriff einer „Endelechie“ der Seele und sein Konzept der Einheit des Intellekts wurden jetzt als in sich widersprüchlich und der darauf gebaute Beweis der Unsterblichkeit der Seele als unhaltbar angesehen – wenngleich dies zunächst nur wenige gegen den Präzeptor selbst wandten (Salatowsky 2006a, 69 – 131. 283 – 372). Im Übrigen begann sich die Naturphilosophie von metaphysischen Kategorien wie der Form- und der Zielursache von Dingen zu trennen und neue Begriffe von Materie und Bewegung zu bilden. In der Diskussion über Korpuskulartheorie und Atomismus, die an protestantischen Schulen geführt wurde (Hamburg: Joachim Jungius 1629; Wittenberg: Daniel Sennert 1633) stand der durchaus noch physikotheologische Zweck der Rede vom „Buch der Natur“ in keiner sachlichen Beziehung mehr zu Melanchthon (Wollgast 1988, 423 – 470; Meinel: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 920 – 935). Die zeitweise wichtige Alternative zur neuen Naturwissenschaft, die „mosaische“ oder „christliche Physik“, verstand die Schöpfung im Licht platonisch-hermetischen Urwissens und paracelsischer magia naturalis (Meier-Oeser: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 1– 18); sie rückte mit Chaostheorie und Weltseele weit von Melanchthon ab. Der mit jener Alternative sympathisierende reformerische Spiritualismus seit Valentin Weigel und seinen Rezipienten (Johann Arndt, Rosenkreuzer, Jakob Böhme) wollte vom „Scholastiker“ Melanchthon ohnedies nichts wissen (Wollgast 1988, 499 – 740). Länger blieb der Rückbezug auf Melanchthon in der physikaffinen Astrologie erhalten. Die qualitative Deutung astronomischer Messungen wurde von allen Renaissance-Humanisten Europas betrieben, zum Beispiel von Cardano, aber auch von Scaliger (Grafton 1999; Oestmann et al. 2005). Auch Melanchthon, der eine astrologische Schrift des Ptolemaios ins Lateinische übersetzte, feierte die Astrologie in Rede oder Poem und stellte Horoskope auf der Basis der (alten) These, dass die Sterne nicht determinieren, sondern nur geneigt machen (können). Trotz der (nicht konsequenten) Astrologiekritik Luthers gehörten Melanchthon und Schüler wie Martin Chemnitz (1548), Caspar Peucer (1553, 1591) und Christoph Pezel (Praecepta genethliaca, Sive de prognosticandis hominum nativitatibus Commentarius, postum 1607), zum europa-
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weiten Netz der Astrologie. In oft gut bezahlten Horoskopen wurden familiäre und dynastische Entscheidungshilfen, Ratschläge für die Zeitwahl einer Medikation und in Jahreskalendern meteorologische Orientierung angeboten (Brosseder 2004; Grell 2014). Die Anfälligkeit der Astrologie für Aberglauben und Betrug veranlasste Reformversuche, prominent die von Johannes Kepler (1602, 1610).Weil Kepler, wie Galileo Galilei, die kopernikanische Kosmologie mit der Astrologie besser verbinden konnte als mit der ptolemäischen, versuchte der Altdorfer Mathematiker, Physiker und Astronom Abdias Trew noch 1643 und 1651, sie ohne Keplers platonisch-pythagoräische Annahmen, ohne geometrisch-harmonische Himmelskausalität also, vielmehr im Sinne Melanchthons und Galileis strikt an die physikalische Astronomie zu binden (Gaab 2011, 251– 343).
c) Moralphilosophie Wegen ihrer engen Korrelation mit der Theologie ist es schwierig, die Nachwirkungen der philosophischen Ethik Melanchthons säuberlich von denen seiner theologischen Ethik zu trennen. Zwar stand die Autorität der theologischen Lehre von den „guten Werken“ oder vom „neuen Gehorsam“ über der philosophischen Lehre vom „guten Leben“, aber die Emphase des „Ethikers der Reformation“ galt der Konvergenz von allem, was dazu diente, „das Leben zu bessern“ (Frank: Frank/Mundt 2012, 45 – 77). Die Konvergenz bestand fort, solange auf beiden Seiten die Voraussetzung der notitiae innatae beziehungsweise lex naturae in Geltung stand. Die theologische Grundlage dafür war die Annahme eines tertius usus legis in renatis, das heißt die belehrende Notwendigkeit des göttlichen Gesetzes auch bei Christen sowie die politisch wie biblisch-theologisch begründete Dreiständelehre, wonach alle Gesellschaften notwendigerweise im politischen, ökonomischen und geistlichen Stand verfasst sind. Auch dies markierte definitiv die Grenzen menschlicher Handlungsfreiheit; Melanchthon wurde nicht müde, individuelle Willkür und sittliche Passivität, „epikureischen“ Indeterminismus und „stoischen“ Fatalismus, philosophisch und theologisch zu ächten. In Statuten waren dementsprechend die Lektüre von Ciceros De officiis und Aristoteles‘ Ethica Nicomachea und Politica und die der Loci theologici aufeinander bezogen. Wie diese wurden Melanchthons Kommentare und die Ethicae doctrinae elementa (1550) bis 1600 reichsweit aufgelegt. Auch seine Schüler schrieben Kommentare, wie Joachim Camerarius d.J. (1578) oder Ethiken wie zuerst David Chytraeus (Regulae vitae, 1555, 4 1587). Die Ethiken Chytraeus‘, Christoph Pezels,Viktorin Strigels, Niels Hemmingsens, Paul von Eitzens sind im Blick auf ihre Grundlage in der natürlichen Erkenntnis Gottes und seines Gesetzes zum Teil untersucht worden (Scattola 1999). In der Ethik der frühen Reformierten wurde Melanchthon besonders intensiv rezipiert, beginnend mit Ethices Christianae libri tres (1577) des Genfer Lambert Daneau (Strohm: Frank/Selderhuis 2005, 135 – 157). An Strigels Paraphrasen zu Melanchthon (1564, publiziert 1580) und an Abraham Scultetus (1593) ist gezeigt worden, dass hier die Methode bekräftigt wurde, die Systematik Aristoteles‘ topisch zu fragmentieren und unter
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theologisch basierten Begriffen neu zu ordnen (Frank: Strohm et al. 2006, 153 – 167). Hier gab es auch Verbindungen zur Jurisprudenz, wie bei dem Heidelberger Johann Kahl (Calvus), dessen Themis Hebraeo-Romana (1595), mit Rekurs auf das naturrechtliche „Licht der Vernunft“ Melanchthons, eine rationale Rechtsbegründung (noch) parallel zum mosaischen Recht anbot (Strohm: Strohm et al. 2006, 325 – 358, hier 348 – 355). Neuere Forschungen haben die späthumanistische Entwicklung der philosophischen Ethik „von Melanchthon zu Pufendorf“ in drei (nicht ganz trennscharfe) Varianten gegliedert (Seifert: Hammerstein/Buck 1996, 226 – 229; Dreitzel: Mulsow 2009, 321– 398). Das sind der „anthropozentrische Aristotelismus“, der eine ganz auf die irdischen Aufgaben beschränkte philosophische Ethik ausbildete, vor allem in lutherischen Schulen; dann die als „theonomes Naturrecht“ auf selektiv-ciceronianischer Grundlage aufgebaute Ethik, vertreten zumal von reformierten Philosophen; der am wenigsten schulmäßige „christliche Platonismus“, zu dem man ramistisch oder hermetisch beeinflusste Denker beider Konfessionen zählen kann. Am häufigsten wurde Melanchthons Ethik in der mittleren Variante rezipiert, ihre innatistische Fundierung schien ja natürlich- und offenbarungstheologisch plausibel. Weniger klar ist der Bezug auf Melanchthon bei den Reformaristotelikern; doch auch hier blieb es bei der engen Verknüpfung von Moral und Recht aufgrund der Verbürgung der göttlichen Verbindlichkeit des Naturgesetzes durch die angeborenen Ideen. In der dritten Variante wurde die Annahme natürlich-praktischen Wissens im Rekurs auf den platonischen Geistbegriff philosophisch verselbständigt. Übrigens erlaubte schon allein die Annahme einer naturrechtlichen Basis der Ethik, sich auf Melanchthon zu berufen. Das tat der Reformierte Johann Heinrich Alsted in der Ethica seiner lullistisch inspirierten Encyclopaedia (1630), und noch 1660 lehrte der Philosoph und Jurist Samuel Rachel in Helmstedt (wo beide Fächer von Reformaristotelikern angeführt wurden) die Nikomachische Ethik als Naturrechtslehre unter Berufung auf die Annahme von notiones communes bei Cicero und Melanchthon. Früher konnte die fraglose psychologische und rechtslogische Plausibilität dieses Konzepts noch platonisch fundiert werden, wie in den Exercitationes et disquisitiones ethicae et politicae (1601) des vielseitigen Marburger Reformierten Rudolf Goclenius. Er hatte in Wittenberg studiert und suchte nun mithilfe der notitiae naturales Melanchthons die platonische Ethik stark zu machen (Stiening: Bauer 22000, 757– 787). Dagegen lehnten Lutheraner wie Balthasar Meisner (Dissertatio de legibus, 1616, Pars I) oder Johann Gerhard (Loci theologici, loc. XII) die platonische und katholische Interpretation der lex aeterna, das heißt einen materiellen Überschuss des Naturrechts über das im Dekalog offenbarte Gesetz ab. Die Rezeption der Ethik Melanchthons brach aber gerade in lutherischen Schulen um 1600 weitgehend ab, wie die Lektüre-Empfehlungen der Lehrbücher zeigen. In Balthasar Meisners Dissertatio de summo bono (1614) wird unter anderen auch das Kompendium Philippi als nützliche Einführung genannt und das Studium von Aristoteles‘ Text stark gemacht. Als ältere Kommentatoren sind Averroes und Thomas Aquinas genannt, als neuere Joachim Camerarius und Johannes Magirus. Auch
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empfiehlt Meisner solche Ethiker, die „einer besonderen Ordnung folgen“: die Calvinisten Lambert Daneau (Ethices Christianae libri tres, 1577) und Bartholomäus Keckermann (Systema ethicae, 1607, ³1619) sowie den Katholiken Francesco Piccolomini (Universa philosophia de moribus, 1583, 71627) (Strohm 1996). Von Melanchthon wird also nur wenig erwartet, mehr von Ethikern anderer Konfessionen, selbst wenn sie den Schritt zur neuen Methodologie noch nicht wie Keckermann gegangen waren. Auch Meisner verstand Ethik als praktische (mit kontingenten Dingen befasste) Disziplin, die zuerst das Ziel des Handelns bestimmt („Eudämonologie“), dann seine Prinzipien und endlich die Mittel, es zu erreichen („Aretologie“). Er folgte damit dem analytischen ordo resolutivus (im Unterschied zum synthetischen ordo compositivus theoretischer Disziplinen), sodass Ethik nur sekundär doctrina ist, wesentlich aber prudentia: ein praktisch-intellektueller habitus, den jedermann einüben kann und muss (Salatowsky 2006b). Die Ethik wurde damit deutlicher aristotelischer, das heißt auf das äußere Handeln im Diesseits beschränkt; auch dass Meisner Tugendhaftigkeit nicht wie Aristoteles als „mittleres Maß“, sondern als normenkonforme „Richtigkeit“ bestimmt, diente der klareren Unterscheidung der philosophischen von den theologischen Tugenden. Immerhin tadelte auch der calvinistische Antonius Walaeus (Compendium ethicae Aristotelicae ad normam christianae veritatis redactum, 1620) nicht nur an Lambert Daneau, sondern auch an Melanchthon eine biblische Überlagerung der philosophischen Ethik. Ähnliches gilt für die Politiktheorie, die um die Jahrhundertwende von Juristen und Ethikern angesichts der Labilisierung der (religions‐)politischen Lage als analytische Disziplin verselbständigt wurde. Obwohl Melanchthon eine naturrechtliche Begründung des Staats gegeben und auch das Staatsziel von der aristotelischen felicitas zur irdischen utilitas verschoben hatte, schienen ihre aristotelischen und ciceronianischen Grundlagen nicht mehr ausreichend (Dreitzel: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 609 – 611. 639 – 672; Frank: Frank/Speer 2007, 325 – 352, hier 343 – 350). Die erste calvinistische Politik-Konzeption entwarf der ramistische Herborner Johannes Althusius (Politica methodice digesta, 1603, ³1614). Nur beim Recht der „Ephoren“ auf Widerstand gegen tyrannische Oberherrschaft schloss sie an Melanchthon (locker) an, nicht dagegen beim föderaltheologischen Hintergrund und bei Annahmen wie der Volkssouveränität und des Herrschaftsvertrags; die Begründung der Lebensgemeinschaft analog zu der des Alten Testaments aus dem (biblisch präjudizierten) Naturrecht unterlief die Unterscheidung des Gesetzes vom Evangelium. Dem widersprach ebenfalls stilbildend der reformaristotelische Lutheraner Henning Arnisaeus (Doctrina politica, 1606; De republica, 1615). In Helmstedt hatte er die Moralphilosophie Melanchthons präsent, aber gegen sie entflocht er Staat und Gesellschaft programmatisch und begrenzte die politische Aufgabe auf den Erhalt von Gerechtigkeit und Frieden. Mit seiner antimachiavellistischen aber zugleich auch antikonfessionalistischen Politiktheorie war Arnisaeus mehr Schüler Bodins als Schüler Melanchthons. Die protestantischen Politik- und Rechtsdoktrinen des weiteren Jahrhunderts zitierten Melanchthons Definitionen, diskutierten aber Jean Bodin, Petrus Gregorius Tolosanus, Justus Lipsius und Francisco Suarez (De legibus ac Deo legislatore, 1612).
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Seit 1625 wurde Hugo Grotius wichtig, dem man zuschrieb, das ciceronianische und melanchthonische Konzept des Naturrechts fortzuentwickeln (so noch Samuel Rachelius, De jure naturae et gentium, 1676); man konnte ihn aber auch neben spanische Rechtstheoretiker wie Francisco Suarez (Stiening: Schmidt-Biggemann/Vollhardt 2016, 83 – 112) stellen. Die nicht christlich präjudizierte Konzeption des Naturrechts als „säkulare“ philosophische Ethik, die methodische Ablösung der lex naturalis von der lex divina durch Samuel Pufendorf (1672) also, berief sich zwar auch auf Melanchthons innatistischen Begriff des Gesetzes, löste diesen aber aus der Korrelation mit der imago Dei und dem Dekalog. Damit war, wie der Lutheraner Valentin Alberti feststellte, Melanchthon verabschiedet; die Jurisprudenz rückte zum Paradigma von Wissenschaft auf (Dreitzel: Mulsow 2009, 386 – 398; De Angelis 2010, 338 – 342). In dieser Situation wurde die biblisch-theologische Begründung des Naturrechts durch Melanchthon, ähnlich wie in der Debatte über die Unsterblichkeit der Seele, zum einzigen Argument; so in den seit 1650 verfassten politischen Trauerspielen Andreas Gryphius‘ (Bach 2014, 139 – 142. 259 – 322). Ob die vom politischen Aristotelismus abgelehnte,weil die Differenz von Gesetz und Evangelium nivellierende Ethica christiana, zum Beispiel die Biblische Policey Dietrich Reinkingks (1653), sich mit Melanchthon auseinandersetzte, bleibt zu untersuchen (Dreitzel: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 673 – 693; Ders.: Mulsow 2009, 331– 334). Auch ist unbekannt, ob neuplatonisch-hermetische Politiktheoretiker, die bei ihren naturrechtlichen, aber zugleich utopischen Staatskonstruktionen ideae innatae voraussetzten (Dreitzel: ebd. 688 – 693), Melanchthon der Diskussion für wert befanden. Ähnlich verhält es sich mit der politischen Theologie im Übergang von der Apokalyptik zum Chiliasmus (Schmidt-Biggemann 2007, 141– 228).
d) Wissenschaftslehre Die beiden Schritte des definitiven Abschieds vom Philosophiekonzept Melanchthons um 1600 waren der Wechsel von der rhetorisch-dialektischen Logik zur reformaristotelischen Wissenschaftslehre sowie die Wiedereinführung der Metaphysik. Deren aristotelische Quelle, 1596 neu ediert, wurde 1597 erstmals in Helmstedt, gleich danach in Wittenberg und Jena, bald überall kommentiert und in eine allgemeine Ontologie transformiert. Darin kamen zur Geltung humanistische Initiativen, die in der Logik auf die aristotelische Quelle zurückgingen, die zabarellistische Methodologie, auch sprachlogische Überlegungen wie die Julius Cäsar Scaligers, aber auch Anregungen der jesuitischen Spätscholastik, vor allem bei Benito Pereira, Pedro da Fonseca und Francisco Suarez (Lewalter 1935; Wundt 1939; Leinsle 1985; Darge: Frank/Speer 2007, 17– 42). So nahm der in Marburg anfänglich philippo-ramistisch lehrende Rudolf Goclenius nicht nur Initiativen Zabarellas und Scaligers auf, sondern ließ sich seit 1598 von Pereira anregen, die „Ontologie“ von anderen Aspekten der aristotelischen Metaphysik auch terminologisch zu unterscheiden (Leinsle 1985, 87– 96. 175 – 196; Lammana 2013).
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Im Blick auf Melanchthon sind besonders interessant die vorangehenden Versuche des Tübingers Jakob Schegk und seines Schülers Nikolaus Taurellus, die Metaphysik zu restituieren (Frank 2003, 89 – 175). Da sie eine humanistisch-platonische Geistmetaphysik entwickelten, spielte auch für sie der Innatismus eine konstitutive Rolle, jedoch korrelierten sie philosophische Theologie und Ontologie so, dass Melanchthons christlich-theologische Konstellation von Philosophie und Theologie gesprengt wurde. Obwohl Lutheraner, legte Schegk der Ersten Philosophie das thomasische Konzept der analogia entis zugrunde. Taurellus sah die Harmonie philosophischer und theologischer Wahrheit – mit Melanchthon und Viktorin Strigel – in der Teilhabe des menschlichen Geistes am göttlichen Geist begründet, verstand dies jedoch als Möglichkeit, philosophisch die Kompatibilität der Allmacht Gottes mit der menschlichen Freiheit darzulegen und einen trinitarischen Gottesbegriff zu entwickeln. Weil Taurellus überdies „Theologie“ auf die christliche Heilslehre beschränkte, konnte er Philosophie als Fundament auch der Theologie ansehen (Philosophiae triumphus, 1573, 81617). Damit war der (offenbarungs‐)theologische Vorbehalt Melanchthons aufgehoben. Die schulphilosophisch sich durchsetzende Metaphysik wandte sich dezidiert gegen eine solche methexis platonica und erklärte zu ihrem Gegenstand das Sein alles Seienden als solches (ens quatenus ens); die philosophische Theologie wurde in die systematische Ontologie integriert, die in ihrem speziellen Teil als species entis zuerst Gott thematisierte. Dieses Programm wurde in Helmstedt (Cornelius Martini) und Wittenberg (Jakob Martini) realisiert (Wundt 1939, 34– 69; Leinsle 1985, 206 – 239; Sparn: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 554 – 562. 501– 507). Seine humanistische Wurzel blieb in der Altdorfer Schule so stark, dass sie bei der Form von Kommentaren blieb, systematische Ontologie und ramistische Einheitswissenschaft dagegen ablehnte; so etwa der Enkelschüler Melanchthons Michael Piccart (Isagoge in lectionem Aristotelis, 1605, ³1665). Die philosophische Theologie blieb hier näher bei Melanchthon, auch die Rückbindung der Metaphysik auf Physik und Logik, die dann mit Christian Dreier in Königsberg auftrat (Sapientia seu prima philosophia, 1644). Diese Gruppe trennte sich von Melanchthon jedoch mit der Bestreitung angeborener (propositioneller) Ideen, also mit der Annahme der tabula rasa (Leinsle 1985, 196 – 205; Leinsle 1988, 127– 139; Sparn: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 565 – 574). Diese Wendung kennzeichnet auch die Erkenntnistheorie, die in den 1620er Jahren in Wittenberg der Metaphysik an die Seite gestellt wurde. Die epistemische Erklärung des Entstehens der intelligentia, das heißt des Habitus der Ersten Erkenntnisprinzipien übernahm die Funktion, die bei Melanchthon ideae innatae hatten (Wundt 227– 263; Sparn: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 504– 507. 582– 585). Allerdings schaffte die systematische Ontologie das Problem nicht aus der Welt, das Melanchthon zum Verzicht auf die Metaphysik bewegt hatte: die philosophische Theologie in ihrem Verhältnis zur offenbarungsbasierten Theologie. Darüber entwickelte sich auch die Metaphysik an lutherischen und an reformierten Hohen Schulen ein Stück weit auseinander, dort zur theoria transcendentalis, hier zur sapientia. Bei den Reformierten blieb das stets mit Melanchthon und Ramus benannte
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christlich-neuplatonische Wissenschaftsmodell attraktiv (Schmidt-Biggemann: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 392– 397). Ein Bartholomäus Keckermann trennte die philosophische Theologie von der allgemeinen Metaphysik als „Theosophie“ (1609) – und berief sich dabei auf die „Philosophen“ Luther, Zwingli und vor allem Melanchthon[!] (Frank 2003, 159 – 169. 180 – 192). Auf lutherischer Seite gab die weitere Entwicklung Melanchthon auf eine paradoxe Weise doch Recht. Der univoke Seinsbegriff führte zur Reduktion der Metaphysik auf bloße Begriffswissenschaft, also auf topische Logik; das machte sie unspezifisch, wie das Vade mecum sive Manuale philosophicum (1654, 51704) des Leipziger Johann Adam Schertzer belegt, das protestantische, vorreformatorische und jesuitische Quellen reichlich ausschrieb (Leinsle 1988, 10 – 26; Sparn: Holzhey/Schmidt-Biggemann 2001, 520 – 522). Der gegen 1700 in Altdorf und Halle beginnende Übergang vom Schularistotelismus zur „eklektischen Methode“ behandelte die Metaphysik lediglich als „Kenntnis philosophischer Begriffe“; hier wurde Melanchthon gelobt, dass er, kaum anders als Ramus(!), die Metaphysik mit der Logik verbunden habe (Budde 1703, 75 – 76. 78). Was von ihm tatsächlich noch gelernt wurde, dokumentiert etwa die 1698 in Leipzig offiziell edierte lateinische Grammatik Melanchthons, die ohne weiteres Regeln von Julius Cäsar Scaliger, Petrus Ramus, Joseph Justus Scaliger oder Nikodemus Frischlin einfügt. Im 18. Jahrhundert wurde der Philosoph Melanchthon nicht mehr philosophisch diskutiert, sondern philosophiehistorisch platziert. Im Geltungsbereich der „eklektischen“, das heißt nicht schulgebundenen Denkweise wurden seine Verdienste für die Philosophie so erinnert: „[Er hat] fast alle Theile derselben in eigenen Schrifften, ob wohl nach der Aristotelischen Lehr-Art, vorgetragen, womit aber sein Amts-Gehülffe Lutherus[!] nicht allerdings zufrieden gewesen ist“; so das weit verbreitete, noch 1779 aufgelegte Philosophisches Lexicon von Johann Georg Walch, des Schülers Johann Franz Buddes (Walch 1733, Anhang 111). Das allerdings einschränkende „ob wohl“ verstärkt das Standardwerk des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die Historia critica Philosophiae (1742– 1744) von Johann Jakob Brucker, Pfarrer und Schüler Buddes und Walchs. Auf 20 Seiten lobt er Melanchthons Arbeit an den reinen aristotelischen Quellen und sein pädagogisches Können; er bedauert nur, dass Melanchthon seine Maxime: ex optimis optima selige nicht auch in freiem Selbstdenken realisiert habe. Geschuldet sei das seinem praejudicium sectae [Aristotelicae] und den Zeitumständen – zu ihnen gehörte vor allem Luther, die reformatorische Hauptfigur (Brucker 1743, 266 – 286). Die wolffianische und die nachkantische Systemphilosophie waren an diesem Melanchthon gar nicht mehr interessiert; Hegel schließlich blendete Melanchthon ganz aus – was umso schwerer wiegt, als er seine Kenntnisse von Brucker bezog.
2 Theologie Seit Wilhelm Dilthey (1883, vgl. Blum 2003) und Ernst Troeltsch (1891; vgl. Rieger 2003) ist unbestritten, dass Melanchthons Theologie grundsätzlich nicht positivistisch
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auftrat, sondern das Besondere der reformatorischen religio vera und das Allgemeine der sana ratio, zumal in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit, korrelierte. Die hier geforderte Klärung des theologischen Erkenntnisprinzips, der theologischen Methode und der theologischen Kommunikation, betrieb er in Gestalt philologisch genauer Exegese, der Kommentierung theologischer Loci und der Didaktik des theologischen Studiums (zu letzterem vgl. Mager: Sträter 1999, 105 – 126). In alledem blieb Melanchthon bis Ende des 16. Jahrhunderts auch als theologischer Autor in den protestantischen Diskursen und Institutionen präsent, allerdings in zunehmend strittiger Weise. Dabei handelte es sich nicht um einfaches Pro oder Contra: Die Kontroversen der 1550er Jahre um und mit Melanchthon (Lohse: HDThG 2, 102– 138) spielten sich ab in wechselnden Konstellationen, zugleich aber im Netzwerk meist gemeinsamer Schülerschaft; für einige Jahrzehnte war die Gesamtsituation durch flüssige Komplexität gekennzeichnet (Dingel 1996, 17– 19; Wenz: Frank/Köpf 2003, 43 – 68). Die Nachwirkung des Theologen Melanchthon lässt sich daher nur teilweise entlang von (oft polemisch) zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeiten nachzeichnen: „Philippisten“ (Koch: Schilling 1986, 60 – 77), „Gnesiolutheraner“ (Keller: TRE 13, 512– 519), „Flacianer“ (Olson: TRE 11, 206 – 214), „Kryptocalvinisten“ (Junghans: TRE 20, 123 – 129) und „Calvinisten“ (Eßer: TRE 28, 404– 419; Frank/Selderhuis 2005, 7– 8). Melanchthon wurde in der Vielgestaltigkeit seiner Rezeptionen ein wichtiger Faktor der theologischen Pluralisierung des Protestantismus. Es lassen sich vier diskursive, teils überlappende teils auch institutionell distinkte Kontexte unterscheiden: a) Akkomodation der Theologie Melanchthons durch Schüler, die sich beim „lutherischen“ Konkordienwerk engagierten; b) Modifikation durch „philippistische“ Schüler, die dann zum Teil die (unterschiedlich calvinismusnahe) reformierte Konfession im Reich mitgestalteten; c) Transformation im reformaristotelischen aber konfessionalismuskritischen Späthumanismus, dem ein fideistisches Luthertum kontrastierte. Diese Kontexte verbinden, überschreiten aber auch d) Nachwirkungen, die Melanchthons Theologiebegriff und die darin begründete Korrelation von Theologie und Philosophie betrafen.
a) Akkommodation In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wirkte Melanchthon theologisch nach durch seine Beteiligung an dem Um- und Neubau von Gymnasien und theologischen Fakultäten, durch seine dort tätigen Schüler und durch die Rezeption seiner doktrinalen Schriften, zum Teil in territorialkirchlicher Verbindlichkeit. Unter anderem in Kursachsen, Pommern, Bremen, Schlesien und Anhalt wurde das 1560 von Melanchthon lateinisch und deutsch zusammengestellte Corpus doctrinae christianae verbindlich. Es enthielt außer den altkirchlichen Symbolen nur Schriften Melanchthons, statt der Confessio Augustana von 1530 die CA emendata von 1540 (daher „Corpus Philippicum“). Es provozierte allerdings zahlreiche alternative Lehrcorpora, die statt der Loci Schriften Luthers enthielten. Das hinderte aber nicht die Rezeption der Apologia der CA (1530),
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des Examen ordinandorum (1552), der Ennaratio Symboli Nicaeni (1550/1561) und die Kommentierung der Loci praecipui theologici in der dritten Fassung (1543/1559). Über sie lasen Melanchthon selber, Johann Pfeffinger, Martin Chemnitz, Nils Hemmingsen und, nach dem Tod des Lehrers, Paul Crell (Hasse: Scheible 1997b, 427– 464) Nikolaus Selnecker (1565, 1573) oder Abdias Praetorius (1569). Gelegentlich auch in Tabellenform gebracht, wurden sie bis 1595 in über 60 lateinischen und über 30 deutschen Auflagen gedruckt. Allerdings wurden die Loci durch das Corpus doctrinae Christianae auch relativiert, und ihr Gebrauch scheint im lutherischen Bereich weniger intensiv gewesen zu sein als im Bereich der reformierten Konfessionalisierung, wo Viktorin Strigel 1581 bis 1584 den umfänglichsten Kommentar publizierte. Apologien wurden nötig: 1579 erschien De Locorum Theologicorum D. Philippi Melanchthonis orthodoxa puritate et untilitate von Georg Rollenhagen; die der zweiten kryptocalvinistischen Phase zugehörige Wittenberger Universitätsordnung von 1588 machte, um Melanchthons Autorität zu erneuern, die Loci (erstmals) obligatorisch. Trotz Rückkehr zur alten Ordnung von 1580 wurden auch nach 1591 in Wittenberg und Leipzig die Loci erklärt, wenn auch nur vom dritten theologischen Lehrstuhl (Töpfer: Huber-Rebenich 2012, 127– 143). Leonhard Hütter, der bald das neue offizielle Lehrbuch verfassen sollte, begann seine Tätigkeit in Wittenberg 1595 mit der Erklärung der Loci und der Formula concordiae von 1577 (Junghans: Wartenberg 1999, 9 – 30). Diese Verbindung hatte die FC selber möglich gemacht, die sich wieder stärker an Luthers Theologie orientierte, die aber nicht nur dezidiert auf die CA zurückging und auch melanchthonische Positionen integrierte. Dies ist, wie allgemein konzediert, vor allem in den anthropologisch-ethischen Art. IV – VI (gute Werke, Gesetz und Evangelium; tertius usus legis) und den Art. II und XI (Willensfreiheit, Erwählung) der Fall. Der soteriologisch zentrale Art. III (Gerechtigkeit des Glaubens) folgt der forensischen Engführung des späten Melanchthon. Die FC stellt eine so komplizierte (und sprachlich-begrifflich problematische) Verschränkung von Luthers und von Melanchthons Theologien dar, dass sie als „melanchthonisches Luthertum“ erscheint (Lohse: HDThG 2, 143 – 164, zit. 263; Wenz 1998, 465 – 749). Ein Architekt der Konkordie war Martin Chemnitz, der von Zeitgenossen „zweiter Philippus“ genannte Schüler Melanchthons (Kaufmann: Scheible 1997b, 183 – 254; Kaufmann 1997). Seine eigenen Loci theologici traten schon im Titel als Erklärung der Loci auf (1554– 1573), er war gleichwohl ein Mitverfasser der FC und ihrer offiziellen Apologia (1583). Chemnitz‘ Loci wurden, authentisch (einschließlich des Textes Melanchthons) und mit weiteren Schriften ergänzt, 1591 von seinem Nachfolger Polykarp Leyser ediert und bis 1690 nachgedruckt. Auf diese Weise waren die Loci Melanchthons im am weitest verbreiteten Lehrbuch bis ins frühe 18. Jahrhundert im protestantischen Reich präsent – freilich auch der Widerspruch gegen sie. Chemnitz erweiterte sie nicht nur erheblich, sondern modifizierte sie auch methodisch und dogmatisch, auch im Kontrast zur Kommentierung durch Viktorin Strigel. Seit 1561 modifizierte Chemnitz die melanchthonische Abendmahlslehre und Christologie (die er aber nicht zum „neuen Dogma“ fortentwickelte, dessen Johannes Brenz beschuldigt wurde); was seit 1571 seine Gegnerschaft zu den Wittenberger Philippisten bedeutete.
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Seit 1567 maß er allen „Schriften Luthers“ überlegene Autorität zu, grenzte die CAInterpretation auf „Luthers Lebzeiten“ ein, ließ in neuen Kirchenordnungen das Corpus Philippicum nicht zu und verwarf das Examen ordinandorum zwar nicht, ersetzte es aber durch einen eigenen Text. Überdies führte Chemnitz die Dreiständelehre – als Modell einer christlichen Gesellschaft in der Korrelation von weltlicher und geistlicher Gewalt – pointiert auf Luther zurück (Elert 1931, 49 – 65) und stellte die Rezeption der melanchthonischen, im majoristischen Streit bekräftigten Figur des tertius usus legis in renatis (Elert 1948; Richter: Sträter 1999, 25 – 37) als lutherisch im konfessionellen Luthertum sicher. „Melanchthons Theologie wird als nicht mehr eigenständige Lehrnorm diesem [‚lutherischen‘] Konzept unter- und bleibt als Wissenschaftsverfahren ihm zugeordnet“ (Mahlmann: TRE 7, 718). Eine „lutherisch“ modifizierende Version der Theologie Melanchthons vertrat auch Nikolaus Selnecker (Koch: TRE 31, 105 – 108), dem sein Lehrer 1554 doch die Erklärung des Examen ordinandorum übertragen hatte. Mit Chemnitz kooperierte er seit 1570 in Braunschweig-Wolfenbüttel und dann beim Zustandekommen der FC und deren Apologia. An Chemnitz scheiterte sein Versuch, das Corpus doctrinae Philippicum (auf das er Lobgedichte schrieb) in die neue Kirchenordnung aufzunehmen. In der Abendmahlslehre und in der Christologie votierte er aber wie jener, pointiert auch in der Anthropologie, das heißt der Frage christlicher Ethik und des tertius usus legis. Während er in exegetischen und katechetischen Arbeiten Melanchthon wohl näher blieb als Chemnitz, vertrat sein De auctoritate Lutheri et Philippi die Zusammengehörigkeit Melanchthons mit Luther, jetzt: die Unterordnung unter dessen Autorität, ähnlich auch in der Historia Lutheri (1575, dt. 1578). Er „akkomodierte“ das Examen ordinandorum „an das wahre Bekenntnis“, das heißt an die FC (1582, ³1592). Dass David Chytraeus, Melanchthons Hausgenosse, zugleich als „(konzilianter) Gnesiolutheraner“ und als „milder Linksmelanchthonianer“ bezeichnet werden kann (Barton: TRE 8, 88 – 89), zeigt die Schwäche solcher Zuordnungen, es ist aber ein Hinweis auf die Spannung, der die Protagonisten des Konkordienwerks sich aussetzen. Bei Chytraeus wurde sie produktiv in seiner vielfältigen historischen Arbeit, auch in der Historia Augustanae Confessionis (1578), in der Catechesis (1556 u. ö.) und insbesondere in seinem Konzept des Theologiestudiums (1560, 1572). Dies stellte das Motto pietas et eruditio in der akademischen Theologie des Protestantismus auf Dauer: „Melanchthons Geist im Luthertum“ (Keller: Scheible 1997b, 361– 371; Kaufmann 1997, 285 – 338). Zunächst tönte auch hier das Lob des Reformators der Schule und der Kirche, wie es die Nachrufe des Wittenberger Gräzisten Veit Örtel (1560 u. ö. bis 1614, dt. 1561) und des württembergischen Schülers, Jakob Heerbrand (1560), sowie die Lebensbeschreibung durch den nächsten Freund, Joachim Camerarius (1566, noch 1604, 1655, 1696), belegen. Sie alle markierten die Zäsur von 1546, betonten aber zugleich die Kontinuität seiner Theologie und seine Loyalität gegenüber Luther auch nach dessen Tod; der stets zugleich geäußerte Tadel wird auf ängstliches Schweigen, Nachgiebigkeit gegen Widersacher und übergroße Milde bezogen – nimia lenitas wird für lange Zeit die Kennmarke. Die Gegner des Weimarer Konfutationsbuches (1558) kämpften
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aber dagegen, dass man die beiden „Propheten“ und „Helden“ Deutschlands auseinanderreißen, den einen „canonisieren, den andern stinckend machen“ wolle; so etwa die anhaltinischen Theologen (Castan 1999; Hasse: Dingel/Wartenberg 2002, 87– 112). Aber noch um 1690 wurde die Szene kolportiert, dass Leonhard Hütter 1596 das Bild Melanchthons vom Katheder gerissen und zertrampelt habe – ein vermutlich erfundener Ikonoklasmus (Slenczka 2016). Der Abschnitt De Philippo Melanchthone, ejus scriptis et authoritate in nostris ecclesiis in Hütters Concordia concors von 1614 (³1690) stellt eine Würdigung, aber zugleich eine unzweideutige Kritik an Melanchthons „Abweichungen“ von Luther dar. Aber jene Szene illustriert richtig die absichtsvolle Delegitimation, deren Ergebnis auch ein Zeitgenosse wie Johann Matthäus Meyfart als ein bösartiges Zerrbild empfand. Ein vor 1559 vom kurfürstlichen Arzt Matthäus Ratzenberger verfasster Text über den „Verräter“ an Luther, am Landesherrn und am Evangelium wurde 1618 veröffentlicht (Wartenberg: Wartenberg 1999, 183 – 185). Dessen ungeachtet wurde die methodische Bedeutung der Loci-Form als ars disserendi, Reflexions-und Kommunikationsform reformatorischer Theologie nirgendwo ernstlich bestritten (Töpfer: Huber-Rebenich 2012, 127– 147). Sie wurde von Melchior Cano 1653 in die tridentinische Theologie eingeführt, wo er aber der geschichtlichen Rückvergewisserung der Argumentation der Heiligen Schrift nur einen (den ersten) Platz in der Reihe von zehn verbürgenden Autoritäten zubilligt (Körner: LThK 2, 924– 925; Frank: Frank/Meier-Oeser 2011, 67– 88). Schon Chemnitz arbeitete an der Loci-Form aufgrund ihres Funktionswandels seit 1535 und 1543 (Kaufmann: Scheible 1997b, 183 – 254) und stellte der Ordnung von 1543 Texte über den Schriftbeweis, die Argumentationsmethode und die Bedeutung der Geschichte, speziell der (alt)kirchlichen Tradition, voran. Doch wurde die Schrifthermeneutik, in der die Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium hätte erklärt werden können, in dieser methodologischen Orientierung nicht selbständig thematisiert. Die 1578 publizierte konkordistische Fassung des Compendium theologiae Jakob Heerbrands (1573) änderte am Loci-Aufriss nichts. Einen Schritt weiter gingen (1600) ³1603 die Loci theologici des Württembergers Matthias Hafenreffer, die erstmals certa methodo ac ratione zu verfahren angeben. Über Melanchthon hinaus ging auch die Gliederung der Loci in drei Bücher, der geistigen Hierarchie von Gott, Engeln und Menschen folgend, und die anthropologische Perspektivierung der Dogmatik im dritten Buch am Leitfaden der vier heilsgeschichtlichen Status des Menschen. Unbeschadet seines Titels blieb auch Leonhard Hütters Compendium locorum theologicorum ex Scripturis S. et Libro Concordiae (1610, dt. 1613) nahe an Melanchthons forma doctrinae; die katechetische Form war nach Schwierigkeitsgraden noch weiter entwickelt. Als offizielles gymnasiales, lange auch akademisches Lehrbuch in sehr vielen lutherischen Ländern wurde es bis ins 18. Jahrhundert gebraucht; die lateinische Fassung wurde noch 1772 (Wittenberg), die deutsche 1735 (Gotha) gedruckt (Junghans: Wartenberg 1999, hier 21– 29; Steiger: Hütter 1610, 747– 848). Der erste Locus thematisiert mit der FC die Heilige Schrift unter dem Gesichtspunkt des Schriftbeweises, als norma ac judex controversiarum Ecclesiasticarum. Das Leser-
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Vorwort gibt Rechenschaft über die „Kette“ der zu behandelnden Glaubensartikel auf der Grundlage ihrer „wechselseitigen Verwandtschaft“; deshalb bilden sie ein doctrinae Christianae corpus sive systema perfectum absolutumque. Er beruft sich auf die „einfachere Methode“ Melanchthons (Hütter 1610, 19 – 20), der in der Tat den Begriff des systema, auch übersetzt als ordo, gebraucht hatte. Neu war jedoch, dass sichergestellt werden sollte, dass diese Ordnungsleistung sich nur sekundär dem Theologen verdankt, konstitutiv jedoch der Kohärenz der Glaubensartikel selbst; eben dies sichert der Schriftbeweis (Hornig: HDThG 3, 77– 86). Diese Kopplung von Schriftbeweis und System erforderte die methodologische Klärung der Art und der Zielsetzung theologischen Wissenserwerbs und die dafür nötige Disposition der Lehre; das deutet Hütter nur an. Die Klärung, dass Theologie ein praktisch-intellektueller Habitus ist, wurde von Balthasar Meisner (1611/1623), Georg Calixt (1619) und Johann Gerhard (Methodus studii theologici, 1620) vollzogen. Gerhards Loci theologici (1610 – 1622) führen für diese theologia accurata zwei Neuerungen ein. Die von Worterklärungen getrennte Sacherklärung jedes Locus wird mit den aristotelischen Fragen nach den vier Ursachen eines Sachverhalts durchgeführt, das heißt, es wird dessen Warum vollständig dargestellt. Noch wichtiger war, dass die Exegesis (1625) der Loci theologici dem Locus I über die Heilige Schrift ein Prooemium de natura theologiae voranstellt; es entfernt sich weit von Melanchthons Theologiekonzept. Eine dritte Neuerung, die in der reformaristotelischen Methodologie vorgesehene analytische Disposition praxisorientier Lehre, führte Gerhard allerdings nicht durch, sondern behielt die Lokalmethode bei. Noch Abraham Calov, der auch dies änderte (siehe unten), zitierte Melanchthon im Titel seines Systema locorum theologicorum (1655 – 1677).
b) Modifikation Unstreitig litt Melanchthons theologisches Ansehen schwer infolge des dissimulierenden Verhaltens seiner „philippistischen“ Schüler und Freunde. Der „Sturz des Kryptocalvinismus“ in Kursachsen 1574 bewies endgültig die Irrlehre die Wittenberger Konkordie (1536) und der (gnesiolutherisch so genannten) CA variata (1540); die Wittenberger Edition der Werke und Briefe Melanchthons kam zum Erliegen. So kann man in Melanchthon einen „Vorläufer des Wittenberger Kryptocalvinismus“ sehen (Mahlmann: Frank/Selderhuis 2005, 173 – 230). Der Versuch Paul Crells, sich als „echter“, das heißt nicht „sakramentiererischer“ Schüler von einem Caspar Peucer zu unterscheiden und antiflacianisch die dulcissima symphonia Luthers und Melanchthons zu propagieren, misslang. Seine dafür gedachte Vorrede zu den 1550 nicht gedruckten Teilen der Enarratio Symboli Nicaeni durfte wie diese selbst nicht gedruckt werden – letztere waren dann, mit Gegen-Kommentierung, in den MelanchthonEditionen Christoph Pezels 1588 und 1600 zu lesen (Hasse: Scheible 1997b, hier 446 – 458). Hatte doch Calvin Melanchthons Loci übersetzt, und Petrus Martyr Vermigli oder Lambert Daneau kommentierten sie in ihren eigenen Loci communes (1580 beziehungsweise 1583). Reformierte Konfessionalisierung zielte – unter dem bleibend be-
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anspruchten Schutz des Augsburger Religionsfriedens 1555 – auf die „Verbesserung“ der Reformation Luthers; die Nachwirkung Melanchthons bei deutschen Reformierten war daher besonders stark. Der Kommentierung der Loci widmeten sich Wolfgang Musculus (1560, 51591), Zacharias Ursinus (1564, 1612) und Viktorin Strigel (1581– 1584, 1591). Melanchthons Autorität ging hier mit der Calvins eine (variable) Verbindung ein (Althaus 1914; Frank/Selderhuis 2005). Das wird durch den Wechsel vom Terminus „Zweite Reformation“ zur „Reformierten Konfessionalisierung“ nicht infrage gestellt (Schilling 1985, 7– 9. 379 – 437; Rublack 1992). Das Dokument der Anfänge der reformierten Konfessionalisierung, der bald auch europaweit verbreitete Heidelberger Katechismus (1563), steht auch für eine anderthalb Jahrhunderte währende Nachwirkung Melanchthons (Bierma: Frank/Selderhuis 2005, 29 – 43). Sein Verfasser Zacharias Ursinus hatte mit seinem Lehrer am Wormser Kolloquium (1557) teilgenommen und hatte nach dessen Scheitern mit einem Brief Melanchthons Zürich und Genf besucht. Im Abendmahlsstreit seiner Heimatstadt Breslau votierte er danach anders als die dortigen Lutheraner. Auf Anraten unter anderem von Caspar Peucer wurde er als Nachfolger Caspar Olevians auf die Loci-Professur in Heidelberg berufen: Er brachte „Melanchthons Geist im Heidelberger Katechismus“ zur Geltung. So pflanzte er das Naturrechtskonzept des Lehrers (und die späte Fassung der Korrelation von Gesetz und Evangelium) in die von Olevian artikulierte Bundestheologie ein (Visser: Scheible 1997b, 373 – 390). Als treuer Schüler schrieb er gegen die „Flaciobrentiani“, kritisierte nach 1580 David Chytraeus (ohne Namen) wegen seiner Abendmahlslehre und widersprach Nikolaus Selnecker („Judas“) wegen der Unterordnung der Autorität Melanchthons unter die Luthers. Gegen die FC-Lutheraner verteidigte Ursinus die (von Luther gebilligte) Arbeit Melanchthons an der CA bis 1540 (De Libro Concordiae […] Adminitio Christiana, 1581, dt. 1581). Führender Philippist in Kursachsen war Christoph Pezel, der nach seiner Ausweisung 1574 die reformierte Konfessionalisierung in Nassau-Dillenburg, Herborn und seit 1580 in Bremen betrieb. Pezel verteidigte hier die melanchthonische Lehre gegen spätzwinglianische Ideen (Consensus Bremensis, 1595). Der Bürgermeister, selber Schüler Melanchthons, gewährte auch Urban Pierius Zuflucht, dem Opfer der zweiten Vertreibung der Kryptocalvinisten aus Kursachsen 1586, ebenso dem Rostocker Nathan Chytraeus, Bruder Davids. Pezels Wirken ist seit Jürgen Moltmanns Monographie (1958) im Blick auf seine Sorge um Melanchthons Erbe als „Editor, Epitomator und Apologet“ erforscht worden.Wie Ursinus verteidigte er die CA emendata (1591) und gab zwischen 1589 und 1600 Texte Melanchthons heraus: Briefe an den Bremer Domprediger Albert Hardenberg, die Fortsetzung der 1574 abgebrochenen Peucerschen Briefedition, vier Teile Postillen und theologische Consilia und Bedenken. Editorisch nicht immer einwandfrei, verbürgten diese Ausgaben doch lange Zeit die Lektüre von Texten Melanchthons selbst. Pezels Vorreden und Kommentare sind interessant als Beobachterperspektive auf die Konfessionalisierung des Luthertums und noch mehr als „Propagandatexte der ‚Zweiten Reformation‘“ (Wetzel: Scheible 1997b, 465 – 566). Als Strategie darf man es auch sehen, dass Pezel die Hinterlassenschaft von Viktorin Strigel aufgriff, dessen Weg „von Jena nach Heidelberg“ geführt hatte (Koch:
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Scheible 1997b, 390 – 404). Strigel sah sich selbst als treuen Schüler Melanchthons, über dessen Loci (und Rhetorik) er in den philosophischen Fakultäten Jena (1547, Ethikprofessor 1558), Leipzig (1563) und Heidelberg (1567) las. Sein melanchthonisches Verständnis des freien Willens wurde als synergistisch getadelt; seinen „lutherischen“ Widerspruch gegen Georg Majors These ermäßigte er im Konflikt mit Flacius wieder melanchthonisch; 1558 lehnte er das Konfutationsbuch ab. Das anschließende Studium Augustins bewirkte, dass Strigel seine zeitweise an Luther orientierte Begründung der Realpräsenz aufgab zugunsten des späten Melanchthon. Pezel edierte und kommentierte seit 1581 Strigels Vorlesungen über die Loci, Dialektik, Ethik und De anima Melanchthons in der Absicht, philippistische Theologie zu legitimieren. Unkommentierte Editionen von Texten des frühen Strigel (1576, 1588) wollten ihn dagegen als „lutherischen“ Schüler Melanchthons erscheinen lassen. „Phönix“ wurde Melanchthon in Heidelberg genannt, vom Hofprediger Bartholomäus Pictetus in der Schrift Ausfürlicher Bericht, was die reformirten Kirchen in Deutschland gleuben oder nicht gleuben (1608). In der Tat war die Kurpfalz auch nach 1576 beziehungsweise 1583 und bis zu ihrer Besetzung 1622 der wichtigste Bereich der Rezeption Melanchthons auch in der Theologie: als eine Luther und Calvin verbindende Figur (Selderhuis: Frank/Selderhuis 2005, 45 – 59). Die damit zugleich beanspruchte Unabhängigkeit verkörperte etwa Bartholomäus Keckermann, der Melanchthon seinen geistlichen Vater nannte, gleichwohl dessen Lokalmethode hinter sich ließ und als erster protestantischer Dogmatiker in seinen Systema theologiae (1602) den Stoff analytisch anordnete, einer praktischen Disziplin angemessen. Der aus Marburg gekommene Georg Sohn(ius), der bitter das „zweite Begräbnis Melanchthons“ (in der FC) beklagte, verfasste eine Synopsis corporis doctrinae Philippi Melanchthonis (1588) und repräsentierte philippistische Hermeneutik in der Idea locorum communium theologicorum und in einem Methodus theologiae (postum 1591; Maclean: Frank/MeierOeser 2011, 147– 171). Sohn vertrat die These, dass in der Prädestinationslehre Melanchthon, Calvin und Luther einig seien, während die Heidelberger insgesamt sich von Melanchthons Begründung des in ihr liegenden Trostes zur Auslegung Luthers und Calvins, das heißt zum „Recht Gottes“ bewegten (Selderhuis: Strohm et al. 2006, 227– 253; Mahlmann: ebd. 255 – 291). Zu diesen Heidelbergern gehörte auch Quirin Reuter, der Schüler und Editor Zacharias Ursinus‘, der auch die Verbindung zu den melanchthonisch-reformierten Schlesiern hielt, und der von eben dort kommende David Pareus, Schüler des Ursinus und Kommentator des Heidelberger Katechismus aus dessen Werken. Nach dem Vorgang des zeitweise in Heidelberg lehrenden Hebraisten Franciscus Junius (Eirenicum, franz. Le paisible Chrétien, 1593) griff Pareus mit einem Irenicum sive de unione et synodo evangelicorum liber votivus (1614, dt. 1615) in die dramatische Phase der Konfessionalisierungen im Reich ein. Die Begründung der These, dass zwischen den „leider“ „lutherisch“ und „calvinistisch“ genannten Kirchen kein fundamentaler Dissens bestehe, ging manchen Reformierten zu weit, während Lutheraner diese Auffassung fast durchweg als grundsätzlich bekenntniswidrigen „Synkretismus“ und religionspolitische Dissimulation ansahen. Die konfessions- und politikhistori-
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sche Bedeutung dieses Streits ist schon längere Zeit bekannt (Leube 1928, 59 – 191); neuerdings wird er auch als Meilenstein in der Herausbildung eines gemeinsamen „protestantischen“ Selbstbewusstseins gewürdigt (Witt 2011, 19 – 120). Ob der sich bis zur reichsrechtlichen Anerkennung der reformierten Konfession (1648) hinziehende Streit mehr als nur formale Bezüge auf Melanchthon aufwies, ist noch undeutlich. Weiterer Untersuchung bedarf auch die Frage, wie die 1618 zur Synode in Dordrecht entsandten Heidelberger (Abraham Scultetus, Heinrich Alting, Paul Tossanus) sich dazu verhielten, dass dort Remonstranten wie Kontraremonstranten sich auf Melanchthon beriefen. Der anwesende Gisbert Voetius nannte noch um 1650 Melanchthon, von dem er viele Werke besaß, Lehrer nicht nur Deutschlands, sondern auch der ganzen reformierten Gemeinschaft (Beck: Frank/Selderhuis 2005, 317– 342; vgl. auch Abschnitt D., „Niederlande“).
c) Transformation Ein dritter, erst seit der Gründung der Universität Helmstedt 1576 sich herausbildender, aber umso länger anhaltender Kontext der Nachwirkung Melanchthons war die durch seine dortigen Schüler realisierte Verbindung von reformaristotelischem Humanismus und nichtkonkordistischem Luthertum (Hornig: HDThG 3, 86 – 88). Zunächst konnten Martin Chemnitz, Timotheus Kirchner und David Chytraeus eine Hohe Schule auf der Basis melanchthonischer Grundsätze und gleichzeitiger Verpflichtung auf die FC einrichten, besser als Chytraeus das in Rostock vermocht hatte (Bollbuck: Asche et al. 2015, 313 – 342). Seit aber Herzog Julius 1582 vom Konkordienbuch abrückte, sich auf das Corpus doctrinae Julium (1575) zurückzog und sich der Unterstützung Helmstedter Professoren in der Ablehnung der christologischen „Ubiquität“ vergewissern konnte, entwickelte sich die Universität ungestört in den Vorgaben Melanchthons. Seit 1589 fiel der Eid auf die FC weg, es konnten Philosophen um Johannes Caselius aus Rostock berufen werden. Allerdings gab es gegen die damit verbundene Verdrängung des Ramismus durch die reformaristotelische Logik und die Erneuerung der Metaphysik starken Widerstand. In dessen Hintergrund stand Tilemann Heshusen, auch Schüler Melanchthons, der schon 1559 von dessen Abendmahlslehre abgerückt war und erst recht deren christologische Untermauerung durch Johannes Brenz ablehnte (Mager: Scheible 1997b, 341– 360). Sein Schüler Caspar Pfaffrad, Professor der Theologie seit 1593/1598, war erklärter Ramist und schon deshalb Gegner von Cornelius Martini. Daniel Hof(f)mann, der in Jena unter anderem bei Viktorin Strigel studiert hatte und seit 1576 Theologieprofessor in Helmstedt war, radikalisierte Heshusens Position. Er war zwar nicht Ramist, aber dezidierter Gegner der neuen, szientifischen Gefährdung der Theologie. Im akademischen (und politisch beeinflussten) Streit, der zwischen neuerlichem Ramismusverbot (1597) und der (zeitweisen) Absetzung Hofmanns 1602 währte, diffamierten Pfaffrad und Hofmann in flacianischer Weise die Philosophie pauschal als ein „Werk des Fleisches“; letzterer rief Luthers duplex veritas auf und bestritt die Möglichkeit einer natürlich-vernünftigen Gotteserkenntnis ebenso wie die
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einer natürlich-vernünftigen Ethik. Dies bedeutete die Trennung von der melanchthonischen Korrelation von Theologie und Philosophie (Friedrich 2004, 19 – 141. 222– 288). Der von der Obrigkeit aufgrund der Universitätsstatuten entschiedene Streit schwelte freilich bis 1621 weiter, im Gegenüber zur wissenschaftstheoretischen Neuorientierung der Theologie als theologia accurata aber auch im Kontext spiritualistisch-mystischer Initiativen (Valentin Weigel, Jakob Böhme), wo Melanchthon wegen Einführung der „aristotelischen Scholastik“ kritisiert wurde. Auch die Kritik der wissenschaftlichen Lehre, die es am frommen Leben fehlen lasse, durch die zeitgenössische Erbauungsliteratur meinte auch den Scholastiker Melanchthon. So stellte, auch wenn der Name nicht fiel, das „Buch der Natur“ in den Vier Bücher(n) vom wahren Christentum Johann Arndts (1610) eine seinerzeit durchaus erkannte hermetisch-paracelsische Alternative zur Physik Melanchthons dar (Neumann 2004; zu den Rosenkreuzern siehe Wels: Schmidt-Biggemann/Vollhardt 2016, 173 – 207). Arndts Apologet Heinrich Varenius disputierte 1616 De Philippismo fugiendo. In seinem 1618 in Magdeburg publizierten Dialogus de Christianismo meinte Valentin Weigel, Melanchthon sei „kein Theologus, sondern nur ein Grammaticus Graecus, aristotelischer Philosophus gewessen“. Seit 1616 agierten in Magdeburg Schüler Pfaffrads und Hofmanns um den aus Helmstedt verwiesenen Wenzel Schilling; sie arbeiteten schulreformerisch zusammen mit Johann Andreas von Werdenhagen und Wolfgang Ratke (Kordes 1999, 74– 92; Friedrich 2000, 180 – 193). Schilling ließ 1616 eine Kritik der notitiae naturales und eine Visitatio Ecclesiae metaphysicae drucken; mit beiden war auch der Wittenberger Jakob Martini gemeint, der als zeitweiliger Schüler Johannes Caselius‘ und Cornelius Martinis die methodologische Reform konsequent betrieb. Er publizierte 1618 gegen die „neuen enthusiastischen Vernunftstürmer und Philosophieschänder“ einen „Vernunfftspiegel“ von 1300 Seiten in Quart. Er präsentierte Luther in De servo arbitrio als metaphysicus und dokumentierte Melanchthons theologische Korrelation von Philosophie und Theologie in allen Disziplinen: Nicht nur die gesellschaftlich nötige Bildung, sondern auch die christliche Frömmigkeit nähme schweren Schaden, wenn man vernünftig-natürliche Gotteserkenntnis und Ethik in Abrede stellte. Martini ließ sich seine leitende Annahme der ideae innatae beziehungsweise der lex naturae eigens von der Fakultät bestätigen (Friedrich 2004, 142– 149. 336 – 377). In Helmstedt waren es Cornelius Martini und Georg Calixt, seit 1603 Schüler von Johannes Caselius und Cornelius Martini, die Schilling scharf widersprachen. Calixt wurde von seinem Vater, einem Schüler Melanchthons, und von Cornelius Martini theologisch unterrichtet; der „Autodidakt“ stand der konkordistischen Orthodoxie stets fern. Er folgte Cornelius Martini auch philosophisch in der antiramistischen, reformaristotelischen Wendung der Wissenschaftstheorie (was ihm das Ansehen eines überlegenen Disputators eintrug). Sein darauf beruhendes Theologiekonzept (Apparatus theologicus, 1628) verstand, wie andere Lutheraner auch, die Theologie als analytisch verfahrende praktische Wissenschaft. Es war aber konsequenter innovativ mit der Unterscheidung der Theologie als Wissenschaft vom Glauben des Theologen
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und mit der Verselbständigung der Ethik als besonderer Disziplin der theologischen Enzyklopädie (Theologia moralis, ed. 1634). Auch wenn die (im 18. Jahrhundert dann weithin akzeptierte) Unterscheidung von Theologie und Glaube die Konzeption Melanchthons sprengt, kann man ihn den „Erneuerer des Melanchthonianismus“ im Luthertum des 17. Jahrhunderts nennen (Wallmann: TRE 7, 552– 559). Das gilt zumal im Blick auf die theologische Bedeutung der Geschichte und auf die ökumenische Zielsetzung der Theologie, die über die Irenik der Reformierten noch weit hinausging. Georg Calixts Epitome theologiae (1619, 51661) wurde von Konkordienlutheranern dann auch verdächtigt zu „calvinisieren“; sie hatte eine Wurzel aber auch in der erasmischen Friedensidee, die ihm der (calvinistische) Gräzist Isaac Casaubon in London noch persönlich nahebrachte. Als Professor für Kontroverstheologie (seit 1614) bekämpfte Calixt die tridentinischen Doktrinen noch schärfer als die calvinistische Prädestinations- und Abendmahlslehre oder die Tübinger Ubiquitätslehre. Er erklärte solche konfessionellen Propria jedoch für nicht heilsnotwendig und somit für nicht kirchentrennend: Alle fundamentalen Glaubensartikel sind schon im Apostolicum benannt. Calixts Ziel war daher die Wiederherstellung der christlichen Universalkirche; als nächsten Schritt schlug er die Befriedung der westlichen Konfessionen durch Kolloquien auf der Basis gegenseitiger Anerkennung als wahre Christen vor, zwischen Lutheranern und Katholiken, dann zwischen Lutheranern und Reformierten. Dafür rekurrierte er seit 1629 auf die (noch) allgemeine Annahme des consensus antiquitatis (der ersten fünf Jahrhunderte). Er affirmierte diesen Konsens jedoch nicht nur als historisches Faktum, wie das Melanchthon und verstärkt Chemnitz und die FC taten, sondern auch als dogmatische Norm, an der spätere Theologie sich bestätigen (oder verwerfen) lassen muss. Die Stellung der Historie als Norm theologischer Erkenntnis neben der Heiligen Schrift ließ Melanchthons Beanspruchung der Historie freilich weit hinter sich. Sie wurde von den Protestanten, soweit sie das Schriftprinzip konfessionell beanspruchten (noch die übergroße Mehrheit) als auch von den Katholiken abgelehnt, denen die Ambivalenz ihres Traditionsprinzips ohnedies klar war – Calixt selbst bot ja den altkirchlichen Konsens gegen die Häresien des Papsttums auf (Böttigheimer 1996; Witt 2011, 159 – 200). Trotz des Scheiterns der seit 1631 unternommenen Religionsgespräche blieb das Konzept Calixts und damit die positive Wertung Melanchthons präsent in Helmstedt (Konrad Hornejus, Hermann Conring, Georg Calixt seit 1650; auch Herzog August d.J. ), in der calixtinisch geprägten Fakultät in Rinteln und in Schülern zum Beispiel in Königsberg, auch bei Samuel Pufendorf. Es konvergierte nun mit Unionbestrebungen, in denen die ältere reformierte Irenik fortgesetzt wurde, auch mit denen von John Durie seit 1639 und nach 1648 mit denen der brandenburgischen Reformierten. Auf „gegenseitige Brüderlichkeit und Toleranz“ zielend, wurde Calixt allerdings zum Agenten absolutistischer Religionspolitik. Diese löste 1648 und wieder ab 1662 den Synkretistischen Streit aus, in dem „orthodoxe“ Lutheraner, prominent Abraham Calov (auch nach seinem theologiepolitischen Scheitern 1655), den calixtinischen „Synkretismus“ als dem lutherischen Bekenntnis völlig widersprechend bis gegen 1690 zäh bestritten. Der Kern des Bekenntnisses war die (qua Schwabacher
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Artikel Luther zugeschriebene) CA invariata, die gegen die Irrlehren der CA variata (einer rein privaten Schrift Melanchthons!) durch die FC bekräftigt wurde und also die Reformierten aus dem „deutschen Religionsfrieden“ definitiv ausschloss (Leube 1928, 322– 350; Witt 2011, 115 – 121. 159 – 201). In dieser Argumentation wurde Melanchthon zur negativen Figur im Kontrast zum Lob Melanchthons durch die Unionsgesinnten. Der aus Wittenberg kommende Johann Friedrich Mayer, dessen Bibliothek noch reicher mit Melanchthoniana ausgestattet war als die Calovs, ließ in Kiel Nimiam lenitatem Philippi Melanchthonis haereses promoventem propriamque prodentem (1696) disputieren. Doch berücksichtigte er 1707 und 1710 in Pommern das dort seit 1564/65 geltende, 1593 um FC VII, VIII, XI erweiterte Corpus doctrinae insoweit, als er Melanchthon auch als Verteidiger der Lehre Luthers anerkannte und das (seit 1563 obligate) Studium der Loci in der Sicht Chemnitz‘ und nach den Richtlinien Leonhard Hütters gelten ließ. Er sprach sich aber nach wie vor gegen die bloß „melanchthonische“ CA variata und für die „lutherische“ CA invariata aus – im Widerspruch gegen die geltende Lehrbindung (Gummelt: Sträter 1999, 93 – 104). Die Stilisierung Melanchthons in Hütters Concordia concors von 1614 wurde 1690 in Leipzig nochmals gedruckt, und sie begegnet noch in der Historia der Augsburgischen Konfession des Gothaers Salomon Ernst Cyprians von 1730. In der Kritik an Melanchthon wurden die Orthodoxen noch überboten von radikalen Pietisten, freilich aus anderen Gründen. Gottfried Arnold warf ihm den Rückfall in Scholastik und Klerikalismus vor und machte vor allem ihn verantwortlich für die Korruption der biblisch-reformatorischen Theologie durch dogmatische Argumentation und die Integration von heidnischen Poeten und platonischer Philosophie (Wallmann: Sträter 1999, 11– 24; Witt 2011, 201– 256). Aufklärerisch-protestantische Theologie lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass dieses negative Bild Melanchthons positiv gewendet wird. Insbesondere wurde der Versuch, Wittenberger und Genfer Reformation zusammenzuhalten, nunmehr historisch beschrieben und pragmatisch erklärt, seine religiöse, moralische und politische Motivation aber durchaus in die eigene Unionsgesinnung rezipiert. Das lässt sich gut beobachten bei Johann Lorenz von Mosheim, dessen Lehrer in Kiel calixtinisch geprägt waren, der selber in Helmstedt lehrte und in Göttingen 1747 als Ireniker antrat, indem er an des „guten und milden“ Melanchthon Leiden am odium theologicum erinnerte. Mosheims Kirchengeschichte (1741/1755), deren Nutzen er ganz wie Melanchthon als Orientierungshilfe für die Gegenwart bestimmte, stellte Melanchthon als Gegenbild zu Luther dar und zeichnete ihn so differenziert, dass auch seine lenitas, die der „neuen Kirche“ schadete, das irenische Motiv nicht desavouiert. Von dem nachgiebigen Ireniker Melanchthon hebt sich Mosheim im Gefolge Calixts als – im Blick auf die römisch-katholische Kirche – realistischer Ireniker ab (Fitschen: Frank/ Köpf 2003, 95 – 109). Jüngere Aufklärer bezogen Melanchthons Stärke auf seine philosophische Erudition (die Stärke Luthers: freiheitsbewusste Religion); den Theologen schätzten sie als Ethiker der guten Werke, verwarfen jedoch seine Erbsündenlehre. Der nun optimistischen Anthropologie entsprach ein Begriff des gottgegebenen Naturrechts, der mit Melanchthons notitiae innatae nur noch die Annahme der Natürlichkeit
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beziehungsweise Vernünftigkeit von Religion und Moralität gemein hatte. Dem Theologiekonzept Melanchthons standen sie näher als dem Luthers, aber in Calixts Modifikation; so prominent mit Johann Salomo Semlers grundsätzlicher Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Theologie und Empfindung des Glaubens.
d) Transformationen Eine schwierige, erst in jüngerer Zeit wieder angegangene Aufgabe der Forschung sind die Aspekte der Nachwirkung Melanchthons, die in allen genannten Kontexten zu beobachten sind und diese mit den übergreifenden Diskursen verband, die der Geschichte der Frühen Neuzeit zugehören. Es handelt sich um zwei Aspekte der Korrelation von Philosophie und Theologie, die Melanchthons Theologiekonzept explizierte. Ein Aspekt ist der Charakter, die Methode und die Hermeneutik von Theologie – Melanchthon hatte den Begriff „Theologie“ nur selten gebraucht. Der andere Aspekt ist die epistemische Grundlage der Anthropologie, die philosophische Theologie und theologische Ethik naturrechtlich zu verknüpfen erlaubte. Die Aufgaben, die Melanchthons Theologiekonzept stellte, wurden überall als solche wahrgenommen und in Gestalt philologisch sorgfältiger Bibelexegese, doktrinaler Reflexion ihrer reformatorischen Loci und in der Organisation theologischen Lehrens und Lernens auch bearbeitet. Wegen der darin stets mit zu bearbeitenden Korrelation von religio vera und sana ratio wurde in allen Kontexten der Rezeption Melanchthons das Ziel verfolgt, reformatorische Theologie methodisch zu profilieren und zu stabilisieren. Auf diesem Weg wurden innerhalb der sich bildenden protestantischen Konfessionen und zwischen ihnen spezifische Lösungen ausgebildet, aber gemeinsam blieb die Aufgabe, das reformatorische Erkenntnisprinzip, die Heilige Schrift, in der Theologie und in den (inter)konfessionellen Diskursen zur Geltung zu bringen (Schmidt-Biggemann 2007, 23 – 78). Auf protestantischer Seite war die Wahrheitsfrage nicht durch Verschiebungen in der Hierarchie der Autoritäten zu lösen, sondern nur durch den Rekurs auf auch nur eine Verbürgungsinstanz; das verlangte die methodische Sicherung des Schriftbeweises. Das war Melanchthon selbst in der aristotelesaffinen Fortentwicklung der Dialektik seit den Loci von 1535 angegangen. Sie zielte auf argumentative Stringenz und systematische Kohärenz der Loci, zum Schriftverständnis anzuleiten, hier auch, zum Schriftbeweis zu befähigen. Dies an den methodischen Standards zu orientieren, die für diese Absicht geeignet schienen, nötigte zur Revision der Topik Melanchthons im Interesse einer szientifisch akzentuierten Theologie, nötigte erst recht zur Distanzierung vom ramistischen Methodenmodell. Die Rezeption des reformaristotelischen Modells des Erwerbs und der Sicherung von Wissen in der Theologie verschob deren diskursiven Charakter auf eine beweisende theologia accurata. Das spiegelte sich seit 1600 in eigenen Traktaten De natura theologiae, die meist den methodologischen Weg „von Melanchthon zu Zabarella“ gingen (Rohls: Frank/Selderhuis 2005, 75 – 105; Wallmann 1961, 5 – 84; 1995, 287– 291). Die Fortentwicklung der Studiendidaktiken seit Melanchthons Brevis di-
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scendae theologiae ratio (1537) über David Chytraeus‘ Oratio de theologiae studio recte inchoando (1560, 91590) bis zu Johann Gerhards Methodus studii theologici (1617/1620) spiegeln diesen Weg (Leinsle 1995, 284– 291; Nieden 2006). Auch die Entwicklung der akademischen Kommunikationsformen lässt sich so charakterisieren, zumal die im Disputationswesen (Appold 2004; Friedrich 2004, 135 – 141; vgl. Leppin: Huber-Rebenich 2012, 115 – 126). Auf diesem Weg wurde Melanchthon in seiner Auffassung bestätigt, dass Theologie eine praktische Disziplin sei; aber sie wurde als ausschließlich praktisches Wissen definiert. Speziell die Lutheraner setzten die Theologie nicht mehr zur (intransitiven) ethischen Praxis in Analogie, sondern zur Praxis der (transitiven) Führung anderer Menschen, analog zur Praxis der Medizin (Steiger 2005). Das hatte zwei erhebliche Veränderungen gegenüber Melanchthon zur Folge. Zum einen war die Theologie nur sekundär, abstrakt genommen, doctrina; primär und konkret war sie ein praktisches Können, ein habitus practicus. Zum andern war die Lehre nicht synthetisch, ausgehend von (bekannten) Prinzipien hin zum (weniger bekannten) Einzelnen, sondern analytisch zu disponieren, ausgehend vom Ziel der Praxis über deren Gegenstand (subjectum tractationis) zu den bei diesem wirksamen Mitteln, das Ziel wirklich zu erreichen. Der Inbegiff der Mittel, soweit sie im Menschen wirken, heißt „Religion“. Man kann hier „eine Absage an den doctrina-Begriff Melanchthons“ konstatieren (Mahlmann: Büttgen et al. 2009, 199 – 264). Auch die reformierte Orthodoxie ordnete nun die Lehre der Schrift unter (Selderhuis: ebd. 265 – 282). Allerdings meinte ein Keckermann, die bei Melanchthon nur galenisch angedeutete Methodenlehre ganz in deren Sinn zabarellistisch ausführen zu sollen. Näher an Melanchthon blieb er auch darin, dass er die theologische Praxis als die der moralischen analoge Glaubenspraxis verstand. Sein analytisches Systema umfasste nur die soteriologia, und er setzte dieser eine (synthetisch-theoretische) Theologie voraus. Wo man Theologie als Darstellung der zeitlichen Ausführung des ewigen göttlichen Dekrets verstand, ist die synthetische Methode ja auch angezeigt; ihr folgte die reformierte Orthodoxie insgesamt (Althaus 1914; Rohls: Frank/Selderhuis 2005, 95 – 100; Goudriaan: Selderhuis 2015, 27– 63). Wie Keckermann lobte auch der Anticalvinist Abraham Calov den analytisch aufgebauten Heidelberger Katechismus, als er als erster Lutheraner den gesamten dogmatischen Stoff nach dieser Methode systematisierte (Tractatus de methodo docendi et disputandi, 1632; Systema locorum theologicorum, 1655 – 1677; Theologia positiva, 1682). Eine frühe Initiative des Gießener Balthasar Mentzer (1610) machte nicht Schule, Calixts Epitome (1619) verfuhr analytisch nur in ihrem soteriologischen Teil, nicht im zweiten Teil, der eine Ekklesiologie abtrennte. Dagegen realisierte Calov konsequent den praktischen Charakter der gesamten Theologie als geistliche Medizin und baute die Gotteslehre in soteriologischer Perspektive (fruitio Dei) in ihre Zweckbestimmung, die Ekklesiologie in ihre Mittelbestimmung ein (Leinsle 1995, 291– 295; Appold 1998, 11– 70; Rohls: Frank/Selderhuis 2005, 100 – 105). Man könnte auch von Calov sagen, dass er sich wie alle Anhänger der reformaristotelischen Methodologie „als wahren Erben Melanchthons“ (Rohls: ebd., 105) betrachten könnte, wenn er nicht
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von ihm, abgesehen von der schon unoriginellen Kritik an seiner Verfälschung der CA und seinem Abgleiten in Synergismus, fast betont geschwiegen hätte. Sogar die Paidia theologica (1552), die philologisch und rhetorisch unvermeidlich Melanchthonisches tradiert, erwähnt ihn nie, nicht einmal im Kontext des Terminus Loci communes. Sein Vorgänger Johannes Hülsemann (Methodus studii theologici, 1638, 51667) und der jüngere Kollege Andreas Quenstedt (1678) hielten das nicht anders (Appold: Sträter 1999, 81– 92). Wie Calov beklagte auch der Straßburger Johann Conrad Dannhauer die charakterliche Schwäche und die theologische Unfähigkeit Melanchthons, den „Wundermann“ Luther vor häretischen Verfälschungen zu schützen; Dannhauer steht seinerseits für den methodischen Bruch auf dem Weg „von Melanchthon zu Calov“: in der Hermeneutik. Noch als Philosoph konzipierte Dannhauer 1629 eine logische Disputationstheorie, 1630 die erste allgemeine Hermeneutik: Idea boni interpretis (1630, 6 1670). Die bibelhermeneutischen Regeln Melanchthons und deren explizierte Formulierung durch Matthias Flacius (Diebner: Scheible 1997b, 157– 182) wurden um 1600 von Lutheranern (Michael Piccart; Johann Gerhard 1610) und Reformierten (Bartholomäus Keckermann, Clemens Timpler) bedeutend erweitert und in einer Theorie der philologia sacra, der Interpretation der Heiligen Schrift zusammengefasst (Steiger 2001). Dannhauer erschien diese für einen zwingenden Schriftbeweises noch nicht genügend, weil der modus catacheticus und der modus mysticus der Auslegung nicht methodisch getrennt waren. Um den vom Autor intendierten propositionalen Sinn eines Textes von jeglicher applikativen Gebrauchsweise eindeutig zu unterscheiden, konzipierte er eine für jeglichen sinntragenden Text geltende und nicht bloß Regeln aggregierende, sondern systematische Logik aller hermeneutischer Operationen. Die (auch) theologisch wichtigste Innovation war hier der nicht rhetorische oder persuasive, sondern strikt demonstrativische Charakter der allgemeinen Hermeneutik. Dannhauer nahm dazu auch Elemente der vorreformatorischen Sprachtheorie und Logik auf, die Melanchthon abgelehnt hatte; es war nun möglich, zum Beispiel den Gebrauch der Tropenlehre in der Abendmahlsfrage hermeneutisch auszuhebeln (Alexander 1993; Sdzuj 1997; Keßler 2002; Meier-Oeser: Frank/Meier-Oeser 2011, 337– 335; Sdzuj: ebd. 355 – 378). Während im Blick auf Methode und Hermeneutik die Nachwirkungen des Theologen Melanchthon im 17. Jahrhundert marginal wurden, ist das im Blick auf einen zweiten Aspekt seiner Korrelation von Theologie und Philosophie anders, in schwierig zu beschreibender Weise: die anthropologisch–naturrechtliche Axiomatik, auf deren Grundlage Melanchthon philosophische Theologie und theologische Ethik verband. Nicht nur, dass die natürliche Theologie in der naturrechtlichen Ethik durchaus unterschiedlich beansprucht wurde, im 17. Jahrhundert wurde sie zunehmend gelöst von ihrer biblischen Erstbegründung und als rationales Wissen autonom gerechtfertigt, wie in deistischen Philosophien und im neuen Naturrecht. Es ist zwar richtig zu sagen: „Aus der offenbarungstheologischen Verankerung gelöst […] wirken [Melanchthons] Gedanken über Naturrecht und Vernunft hinüber in die Aufklärung“ (Scheible: TRE 22, 395) – aber steht diese Kondition nicht ganz und gar gegen Melanchthon? Selbst beim
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Rückbezug von calvinistischen Theologen, die nach 1650 vom Schularistotelismus zum Cartesianismus wechselten, auf Melanchthons Texte und auf deren Heidelberger Rezeption (Hornig: HDThG 3, 94– 96; De Angelis 2010, 318 – 322) lässt sich schwer sagen, ob Melanchthons Konzept solche Prozesse selber ermöglichte oder sogar begünstigte (Anticartesianer wie Valentin Alberti sahen sie durch Melanchthon nicht gedeckt). In der bisherigen Forschung wurde eine solche „Nachwirkung“ im Blick auf zwei Themen bejaht, um dann allerdings konträr bewertet zu werden: als Abweg zur „Säkularisierung“ oder aber als zeitgemäße „Transformation“ reformatorischer Impulse. Die lutherische Lehre von der Prädestination im Sinne einer electio praevisa fide, die im späten 16. Jahrhundert voll ausgebildet wurde, akzentuierte noch deutlicher als FC Art. XI das melanchthonische Erbe (Elert 1931, 103 – 123; Matthias 2004, 119 – 158). Es wurde noch wichtiger angesichts der auf der Synode von Dordrecht 1618/1619 fixierten calvinistischen Lehre eines ewigen Dekrets doppelter Prädestination; seither galt dies als kontradiktorischer Gegensatz und, bis ins 18. Jahrhundert, als Ausweis eines fundamentalen konfessionellen Dissenses. Im Gegenüber zum „muhametanischen“ Tyrannengott berief sich die lutherische Seite auf die allgemeine Philanthropie Gottes und brachte dafür nicht nur biblische Zeugnisse, sondern auch solche der natürlichen Vernunft bei. In dem Maß, in dem die Heilige Schrift ihre hermeneutische Priorität gegenüber dem naturrechtlichen Gottesbegriff verlor, mutierte die lutherische Doktrin zur Theodizee. So konnte sich Gottfried Wilhelm Leibniz‘ Theodicée leicht in die „lutherische“ Tradition stellen, der zufolge Gottes Providenz und Präszienz den kontingenten Freiheitsgebrauch nicht aus-, sondern einschließt – aber Leibniz berief sich zurecht auch auf den jesuitischen Freiheitsbegriff (Sparn: Selderhuis et al. 2013, 127– 150). Deshalb war es wenig nützlich, dass in den 1930er Jahren Hans Emil Weber eine Art Verfallsgeschichte „Reformation, Orthodoxie, Rationalismus“ zeichnete, in der Melanchthon eine fatale Rolle spielt (Weber 1937, 151– 192; 1940, 73 – 103. 290 – 313; 1951, 98 – 184); er wird, zur damaligen theologischen Situation passend, mit dem „schönen Bekenntnis“ zitiert, er sei „von Natur weniger mutig, als es nötig sei“ (Weber 1937, XI). Ähnlich problematisch ist die dogmatische Überformung der Historiographie auch im Falle des zweiten Themas, dem tertius usus legis (in renatis). Diese Lehre Melanchthons, die über die FC (Art. VI) auch im Konkordienluthertum tradiert wurde, war eng verflochten mit seinen epistemologischen (idea innatae), anthropologischen (libertas hominis) und ethischen Überzeugungen (Dreiständelehre) und in seiner Konstellation von theologischem und von philosophischem Wissen; hier: in der Autorisierung der naturrechtlichen Moral durch die im Dekalog offenbarte lex divina. Als diese Konstellation sich durch die Verselbständigung des Naturrechts verschob, verlor der Topos des tertius usus seine bisherige Plausibilität und musste neu konzipiert werden. Daher kann man nur in einem vagen Sinne von einer Nachwirkung Melanchthons sprechen, wenn Johann Franz Budde in seiner Moraltheologie (1711, erw. ³1727) die an universalen göttlichen Gesetzen ausgerichtete Lebensführung der Wiedergeborenen in einer jurisprudentia divina behandelt, und als Leitunterscheidung nicht
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etwa die von „Gesetz und Evangelium“, sondern von „Natur und Gnade“ anwendet (Budde 1727, 26 – 43). Anders als bei Melanchthon ist es nur die materielle Entsprechung des Naturrechts und des Dekalogs, die hier nötig ist; Buddes Definition des philosophisch und theologisch gleichermaßen gültigen Oberbegriffs der lex divina rekurriert dann auch nicht auf Melanchthon, sondern auf Hugo Grotius und Samuel Pufendorf (Budde 1727, 345 – 363). Budde repräsentiert die Zeit, in der die Nachwirkung Melanchthons zur historischen in dem Sinne wurde, dass die normativen Ansprüche seiner Theologie nicht fallweise (wie bei Luther), sondern durchweg individualisiert und kontextualisiert, mithin historisch relativiert wurden. Buddes Institutiones theologiae dogmaticae (1723) nennen Melanchthon zwei Mal: Er sei des Synergismus beschuldigt worden; in der Abendmahlsfrage schwankend habe er sich ausweislich der (eigenmächtig) veränderten CA den Dissentierenden zugeneigt; beide Male habe die FC den richtigen Mittelweg zwischen den (calvinistischen und tridentinischen) Extremen festgelegt. Diese konkordienlutherische Kritik an Melanchthon referierte auch die das theologiehistorische Gedächtnis lange prägende Isagoge historico-theologica (1727, ²1730), aber im Rahmen der Behandlung seiner Schriften, aufgeteilt auf die theologischen Disziplinen, als Daten der historia litteraria und als Debatten ihrer literarischen Akteure. In der „thetischen“ („dogmatischen“, „systematischen“) Theologie verteidigt Budde (gegen pietistische Zeitgenossen) Melanchthons Überzeugung, dass die methodisch-systematische Bearbeitung des theologischen Wissens, also seine Loci theologici, für die theologische Ausbildung nötig seien, auch wenn sie dann mit scholastisch-metaphysischen Subtilitäten wieder verdunkelt wurden und erst jetzt(!) wieder ihre ursprüngliche Gestalt annähmen. So erscheint Melanchthon wie in der philosophischen so auch in der theologischen Genealogie als Erneuerer der bonae literae (und als Verfasser des Nachrufs auf Luther 1546), wogegen die emendatio ecclesiae einzig(!) Luther zugerechnet wird (Budde 1730, 343 – 362. 836 – 853; vgl. von Seckendorff 1688; pietistisch-antiaristotelisch Zierold 1700; Stieber 1712). Man kann daher sagen, dass die Theologie nunmehr „Melanchthons Randständigkeit dogmenhistorisch kompensierte“ (Schneider: Frank/Köpf 2003, 111– 131, zit. 117).
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Skandinavien 1 Einleitung Die skandinavischen Kirchenhistoriker sind sich darin einig, dass eine von Melanchthon geprägte Theologie im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert sowohl in Dänemark (und Norwegen) als auch in Schweden (und Finnland) eine sehr wichtige Rolle gespielt hat (Grane 2001). Ein Blick durch die Bestände von Melanchthon-Drucken aus der Zeit vor ca. 1630 in der Universitätsbibliothek Uppsala und in den königlichen Bibliotheken von Stockholm oder Kopenhagen zeigt, dass die Schriften Melanchthons in dieser Zeit eine sehr wichtige Rolle im lutherischen Norden gespielt haben. In diesen Bibliotheken findet man zahlreiche Melanchthon-Drucke aus den Jahrzehnten der Reformation und aus der unmittelbaren nachreformatorischen Zeit. In der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen sind zum Beispiel 25 vor 1630 herausgegebene Ausgaben der Loci theologici vorhanden. Und man findet dort nicht nur theologische Texte: Alle Themenbereiche seiner Verfasserschaft sind in den genannten Bibliotheken reichlich vertreten. Neben den lateinischen Originalausgaben findet man in den dänischen wie auch in den schwedischen alten Bibliotheksbeständen viele deutsche und auch englische Übersetzungen. In skandinavische Sprachen wurden in den ersten Jahrzehnten aber nur wenige Texte übersetzt. 1555 wurde Traktat om de Dødes Opstandelse in Kopenhagen gedruckt, und 1561 erschien dort auch Ith allmideligt Scrifftemaal och bekendelse vdi vor Herris Hellige Budord. Erst 1622 erschienen dazu noch die Loci communes in einer ausführlichen dänischen Übersetzung in: Loci communes Philippi, De fornemmeste HoffuetArtickle i den Christne Religion: Fordum af Philippo Melanchtone sammenskreffne, oc aff hannem flitteligen igennem seete, som de til Vitenberg ere tryckte, 1535, 1536, 1538, 1541, paa Dansk udsætte aff N. M. A., [i. e.: Niels Mikkelsen Aalborg]. Kopenhagen 1622. Allerdings sind Bibliotheksbestände kein zuverlässiger Indikator für die Rezeption und Bedeutung von Melanchthons Schriften im Norden in dieser Zeit (Czaika 2008, 424). Zur Ergänzung könnte auf Ergebnisse der neueren digitalen Kataloge für frühneuzeitliche Drucke hingewiesen werden. Diese können aber für die skandinavischen Länder bisher nur Teilergebnisse erfassen. So findet man zum Beispiel in dem von der Universität St. Andrews herausgegebenen Universal Short Title Catalogue (http://ustc.ac.uk/index.php, in dem sich viele Einträge für Dänemark finden, nicht aber für Schweden), dass bis 1600 in Kopenhagen sieben Melanchthon-Texte verlegt wurden. Solche Informationen sind aber auch nicht allzu aufschlussreich, weil die meisten frühen Melanchthon-Schriften, die in Skandinavien verbreitet waren, in Deutschland gedruckt waren.
DOI 10.1515/9783110335804-046
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2 Der politische Kontext Während in Skandinavien im Spätmittelalter seit dem 14. Jahrhundert eine weitgehende Unionspolitik geführt wurde, kann man mit der Reformation eine ganz andere Entwicklung beobachten (Asche und Schindling 2003). Die dänische Königsmacht, die während der Unionszeit eine führende Rolle hatte, musste den Anspruch auf Schweden aufgeben. Nach dem „Blutbad von Stockholm“ im Jahr 1520, als der dänische König Christian II. versucht hatte, die nationale schwedische Opposition mit Gewalt zu erledigen, erhob sich in Schweden Gustav Wasa zum König. Damit war auch die Unionspolitik zu Ende. Während seiner Regierungszeit konnte die lutherische Reformation in Schweden immer deutlicher Fuß fassen. In Dänemark wurde 1534 Christian III. zu König gewählt, und mit ihm wurde auch hier die Reformation eingeführt. Die Kalmarer Union war damit endgültig Geschichte, und Schweden und Dänemark befestigten sich als zwei eigenständige und in vieler Hinsicht sehr unterschiedliche Königreiche im europäischen Norden. Deutliche Unterschiede zwischen West-Norden (Dänemark und Norwegen) und Ost-Norden (Schweden und Finnland) kamen auch in der Religionspolitik und im Umgang mit den Erneuerungsimpulsen der Reformation deutlich zum Ausdruck. In Dänemark wurde schon 1537 festgelegt, dass das Reich im Sinne der reformatorischen Theologie und in enger Zusammenarbeit mit Wittenberg lutherisch-protestantisch reformiert werden sollte. Zu diesem Zweck wurde auch die Universität in Kopenhagen grundsätzlich reformiert, und konnte seit Mitte des 16. Jahrhunderts zu den wichtigsten Universitäten des Luthertums gerechnet werden. Einerseits waren dabei Wittenberg und die Wittenberger Universität das Vorbild für die Reformen in Dänemark. Andererseits konnte Melanchthon aus seiner Wittenberger Perspektive um 1560 Dänemark als ein lutherisches Musterland loben (Skovgaard-Petersen 1998, 114). Norwegen war seit dem 10. Jahrhundert ein eigenständiges Königtum, die Königsmacht war allerdings im Laufe des Spätmittelalters erheblich geschwächt worden, und seit 1536 gehörte Norwegen zur dänischen Krone und hatte seitdem auch keinen eigenen Reichsrat. In Schweden wurden die reformatorischen Änderungen in einer ganz anderen Weise durchgeführt. Gustav Wasa (1523 – 1560) hatte zwar reformatorische Bestrebungen unterstützt, anfangs vor allem in politischer und ökonomischer Hinsicht, indem seit 1527 kirchlicher Besitz enteignet und der Krone zugefügt wurde. Protestantische Theologen, wie Olaus und Laurentius Petri, die beide in Wittenberg studiert hatten, wurden vom König auch unterstützt und gefördert. Aber die Änderungen kamen in Schweden trotzdem langsamer voran. Erst mit dem Uppsalamøtet wurde 1593 die endgültige Entscheidung getroffen, die schwedische Kirche theologisch und liturgisch im Geist der lutherischen Reformation zu erneuern. Zuvor hatte König Johann III. (1568 – 1592) auch versucht, dem alten Glauben neben dem neuen wieder Raum zu schaffen. Diese ambivalente religionspolitische Lage hatte sich auch im akademischen Bereich ausgewirkt. An der 1477 gegründeten Universität von Uppsala (der ältesten in
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Skandinavien), hat man sich erst nach 1593 eindeutig und mit Kraft für die Reform der Universität mit dem Aufbau einer lutherisch-theologischen Fakultät eingesetzt. In der Zwischenzeit gingen viele schwedische Studenten immer noch nach Deutschland, um Theologie zu studieren. So wie Norwegen zu Dänemark gehörte, gehörte Finnland zu Schweden; hatte aber – im Gegensatz zu Norwegen – im Mittelalter keine Geschichte als eigenständiges Reich gehabt. Anders als in Norwegen wurde die Reformation in Finnland Anlass für das Erwachen eines nationalen finnischen Bewusstseins.Verantwortlich dafür waren vor allem die Bibelübersetzungen des finnischen Theologen Mikael Agricola, der bei Luther und Melanchthon in Wittenberg studiert hatte (Sarasti-Wilenius 1996, 76– 78). In Norwegen hatte man keine vergleichbare theologische Kraft, die norwegische Angelegenheiten im Rahmen einer reformatorischen Theologie zur Geltung bringen konnte.
3 Hauptwege der Melanchthonrezeption in Skandinavien Seit den 1520er und 1530er Jahren sind Studenten aus den skandinavischen Ländern an die Universität Wittenberg gegangen. Von ihnen sind auch die ersten entscheidenden reformatorischen Impulse in ihren Heimatländern ausgegangen. Das trifft sowohl für das schwedische als auch für das dänische Reich zu. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts änderte sich dies allmählich. In Kopenhagen erhielt die nach Wittenberger Vorbild reformierte Universität Kopenhagen eine zunehmend wichtige Position, und viele dänische und norwegische Studenten erhielten dann dort ihre Ausbildung. Hier spielte der bedeutende Melanchthon-Schüler Niels Hemmingsen nicht nur für die Theologieausbildung, sondern für die ganze Universität eine entscheidende Rolle. Im schwedischen Reich gelang eine entsprechende frühe Reform der Universität Uppsala nicht. Kopenhagen war nach dem Stockholmer Blutbad auch keine Alternative. Eine bedeutende Anzahl schwedischer und finnischer Studenten gingen bis zu Melanchthons Tod 1560 immer noch nach Wittenberg. Danach wurde Rostock der bevorzugte Studienort. Hier war der Melanchthon-Schüler David Chytræus der dominierende Lehrer.
3.1 Dänemark: Die Melanchthonrezeption durch Niels Hemmingsen In Dänemark (und Norwegen) übten die theologischen und pädagogischen Schriften Melanchthons schon früh einen wichtigen Einfluss aus. Der erste lutherische Bischof von Sjælland (Kopenhagen), Peder Palladius, hatte von 1531 bis 1537 in Wittenberg studiert, hatte von dort einen theologischen Doktorgrad, und kannte sowohl Luther als auch Melanchthon. Schon 1537 wurde er als Bischof eingesetzt und wurde gleichzeitig
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auch Professor an der Universität. In beiden Ämtern sowie in seinen Bestrebungen, ein allgemeines Schulwesen zu fördern, waren Melanchthons Schriften für ihn eine wichtige Hilfe. Als Palladius 1557 eine Auslegung des Katechismus besonders für die Gemeinden in Norwegen geschrieben hatte, erschien das Buch (in Wittenberg gedruckt) mit einer Praefatio von Melanchthon (Palladius 1557). Allerdings war es für Palladius nicht wichtig, zwischen Luther und Melanchthon zu unterscheiden. Die zwei bildeten für ihn theologisch eine Einheit. Niels Hemmingsen hatte seine Studien in Wittenberg in dem Jahr angefangen, als Peder Palladius nach Kopenhagen zurückkehrte (Lausten 2013). Fünf Jahre bis 1542 hat er dort vor allem unter Melanchthon studiert. 1553 wurde er als theologischer Professor an der Universität in Kopenhagen angestellt und lehrte dort bis zu seiner Entlassung im Jahr 1579, als er mit dem Vorwurf des Kryptocalvinismus angeklagt wurde. Während seiner Zeit als Professor und auch danach hat er eine Vielzahl von Schriften und Büchern mit Themen nicht nur aus den verschiedenen Bereichen der Theologie, sondern auch aus den Bereichen der Philosophie (Rasmussen 2015), der Rechtslehre, der Rhetorik, der Philologie, der Geschichtswissenschaft und der Naturlehre herausgegeben. Manche von diesen Büchern wurden auch in andere europäische Sprachen übersetzt, vor allem ins Englische. Im Blick auf das breite Spektrum seiner Publikationen könnte man hier durchaus eine Parallelität zu seinem großen Lehrer Melanchthon erkennen, und nicht von ungefähr wurde Hemmingsen von seinen Zeitgenossen præceptor universalis Daniæ genannt. 1557 wurde sein bekanntestes Buch Enchiridion Theologicum, praecipue verae religionis capita breviter et simpliciter explicata continens zum ersten Mal gedruckt. Dieses Buch erschien innerhalb von wenigen Jahrzehnten in 14 Ausgaben und hat die zweite Generation von dänischen und norwegischen Pfarrern als ihr wichtigstes Lehrbuch in der Dogmatik maßgeblich geprägt. In diesem Buch ist auch der theologische Anschluss an Melanchthon ganz besonders deutlich. Hemmingsen stellt in der Vorrede sein Werk als eine Einführung zum Studium von Melanchthons Loci dar, und lobt seinen praeceptor Philippus Melanchthon als eine ganz besonders gelehrte und hervorragende Gestalt des Christentums. Er behauptet auch, dass die Studenten, nachdem sie das Enchiridion studiert haben, mit größerem Gewinn die Loci Theologici (und auch andere Schriften Melanchthons) lesen könnten, „aus denen (wie ich gern gestehe) vieles, was in diesem Buch (= dem Enchiridion) zusammengestellt ist, entnommen ist“ (Hemmingsen 1557, Praefatio). Keine andere einzelne Schrift hat für die Rezeption von Melanchthons Theologie in Dänemark und Norwegen im 16. Jahrhundert eine wichtigere Rolle gespielt. Es könnte sich deshalb lohnen nachzufragen, wie die Theologie der Loci im Enchiridion im Einzelnen rezipiert und weitergeführt wird. In einer immer noch interessanten Studie hat E. Munch Madsen (1942) nachgewiesen, dass sich im Enchiridion nur wenige tatsächliche Abschriften oder genaue Übernahmen von Aussagen oder Formulierungen aus Melanchthons Loci finden. Es wird zwar – nicht nur in der Einleitung, sondern auch weiter im Text – immer wieder auf Melanchthon hingewiesen, und Gedankengänge und theologische Gesichtspunkte scheinen auch weithin mit Melanchthon
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übereinzustimmen. Gleichzeitig belegt Munch Madsen aber auch, dass in Hemmingsens Text Calvin eine ebenso wichtige theologische Autorität ist. Obwohl Calvin nicht mit Namen erwähnt wird, spielen nicht nur Gedankengänge, sondern auch direkte Zitate aus der Institutio in Hemmingsens Text eine wichtige Rolle. Einen calvinistischen Einfluss könnte man auch im allgemeinen Aufbau von Hemmingsens Text sehen. Während Melanchthon in seinen Loci die Sünde und das Gesetz vor dem Evangelium behandelt, fängt Hemmingsen im ersten Teil des Enchiridion mit dem Evangelium an: mit den Fragen danach, wie der Mensch ein Kind Gottes werden und am Reich Gottes teilhaben kann. Die drei weiteren Teile befassen sich dann mit dem Gesetz, und zwar vor allem im Sinne des tertius usus legis in renatis. Hemmingsen behandelt das Gesetz im zweiten Teil zunächst durch eine allgemeine Einführung in dieses Thema, dann im dritten Teil durch eine Diskussion der Ethik im Regimen ecclesiasticum, und schließlich im vierten Teil durch eine Diskussion der Ethik im Regimen politicum et oeconomicum. – Dieser Befund zeigt, wie kompliziert die Beantwortung der genauer gestellten Frage nach Rezeption oder Wirkung von Melanchthons Theologie und Melanchthons Schriften sein kann. Nicht genannt ist Calvins Name im Enchiridion natürlich deshalb, weil seine Theologie im dänischen Reich unerwünscht war. Charakteristisch für die dänische Religionspolitik im 16. Jahrhundert war es, dass man sich schon früh (1537) auf eine eindeutige lutherische Linie mit der Confessio Augustana als konfessioneller Richtschnur festgelegt hatte, und dass man weiterhin an dieser eindeutigen Linie ohne unnötige konfessionelle Streitigkeiten festhalten wollte. Die theologischen Herausforderungen der „zweiten Reformation“ und die Auseinandersetzungen mit der calvinistischen Lehre im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert wollte man fernhalten, und ebenso wollte man die weiteren innerlutherischen Diskussionen, die zur genaueren Festlegung der lutherischen Lehre in der Konkordienformel führten, vermeiden. Aus diesen Gründen wurde die Konkordienformel in Dänemark-Norwegen nicht als Bekenntnisschrift angenommen, und Hauptpunkte der calvinistischen Theologie wurden 1569 implizit in den sogenannten „Fremmedartiklene“ als Irrlehre abgelehnt. – Niels Hemmingsen war für diese Religionspolitik mitverantwortlich. Er hatte im Auftrag von König Friedrich II. (1559 – 1588) den Text der „Fremmedartiklene“ konzipiert, und war sich auch bewusst, dass explizite positive Hinweise auf die Theologie Calvins einen hohen Preis haben könnten. Hemmingsens Interesse an calvinistischen Gedanken kam im Laufe der Jahre unverhüllter zum Ausdruck. Das geschah vor allem in seinem Werk Syntagma Institutionum Christianarum, ein Werk, dass 1574 immer noch cum Gratia & Priuilegio, serenissimi Danorum Regis gedruckt wurde. Nur wenige Wochen nach dem Erscheinen des Buches wurde Hemmingsen zum König im Schloss Frederiksborg gerufen, und er erhielt hier ein Verbot, zukünftig über das Thema des Abendmahls zu schreiben oder zu disputieren. Im Syntagma hatte er nämlich ganz offen eine calvinistische Position in der Frage der Realpräsenz vertreten. Dies bedeutete nicht, dass Hemmingsen sein ausdrückliches theologisches Vorbild Melanchthon mit Calvin eingetauscht hatte. Immer noch hat er sich zu Melanchthon als seinem Lehrer bekannt, nun aber zu
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theologischen Positionen des späten Melanchthon, die schon in Deutschland als „Kryptocalvinismus“ abgelehnt worden waren, und die somit auch schwer in den Rahmen der dänischen Religionspolitik hineinpassten. Fünf Jahre dauerte der Streit um Hemmingsens Theologie am dänischen Hof und an der theologischen Fakultät in Kopenhagen. 1579 musste er seine Professur aufgeben. Eine wichtige Rolle im Streit um Niels Hemmingsen spielte in diesen Jahren Kurfürst August von Sachsen, der mit Anna, der Schwester des dänischen Königs Friedrich II., verheiratet war. Sowohl der sächsische Kurfürst als seine Kurfürstin drängten den dänischen König dazu, die calvinistische „Irrlehre“ in seinem Land viel aktiver zu bekämpfen. Der bedeutendste und kreativste philippistische Theologe Dänemarks war entlassen, weil der König dem politischen Druck von Sachsen nachgegeben hatte. Dies alles bedeutete aber nicht, dass jeder Einfluss von Melanchthon am dänischen Hof und an der Universität von Kopenhagen ab jetzt unerwünscht war. August von Sachsen bemühte sich zwar auch weiterhin, seinen dänischen Schwager weiter in die Richtung des wahren und orthodoxen Luthertums zu bewegen. Unter anderem lag es ihm am Herzen, dass man auch in Dänemark die Konkordienformel als Bekenntnisschrift annehmen sollte. Für Fredrik II. war dies aber ausgeschlossen. Eine philippistische Theologie, so wie Hemmingsen sie in seinen früheren Jahren vertreten hatte, sollte immer noch als Maßstab für die rechte Lehre im dänischen Reich gelten, und die Konkordienformel wurde als eine unerwünschte Zuspitzung des konfessionellen Profils der dänischen Religionspolitik gesehen. Auch in der ersten Generation nach Hemmingsen dominierte eine philippistische Theologie an der Universität von Kopenhagen. Erst mit Hans Poulsen Resen, der 1597 als Professor berufen wurde, kam die Periode des Philippismus zu seinem Ende. Zuerst als Professor (und zeitweise auch Rektor) an der Universität Kopenhagen (1591– 1615), und später als Bischof von Sjælland (Kopenhagen) (1615 – 1638) hat er sich kräftig und erfolgreich gegen Philippismus und Kryptocalvinismus eingesetzt. Das bedeutete aber wiederum nicht, dass Melanchthons Werke nicht mehr gelesen wurden. Ein interessantes Zeugnis für die fortdauernde Melanchthon-Rezeption auch nach der Jahrhundertwende ist die dänische Übersetzung der Loci von 1622.
3.2 Humanistische Studien in Dänemark in der Nachfolge Melanchthons Melanchthon hat auch das allgemeine Schulsystem und die Gedankenwelt der humanistisch gebildeten Kreise in Dänemark und Norwegen maßgeblich beeinflusst. Dieser Einfluss umfasste sowohl die Organisation des Schulsystems als auch die Wahl der Lehrbücher in den verschiedenen artes liberales im niederen und höheren Schulsystem des Reiches nach der Reformation (Grane 1987, 90 – 91). Ein besonderes Beispiel in diesem Zusammenhang: Der Adelige Herluf Trolle, ein Freund von Peder Palladius, zeigte sich nach einem Aufenthalt in Wittenberg 1536– 1537 von Melanchthon und seiner Pädagogik
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stark beeindruckt. Kurz vor seinem Tod hat er deshalb nach dem Vorbild der sächsischen Eliteschulen Schulpforta und Meißen (wo Melanchthon die Aufsicht hatte) die dänische Schule Herlufsholm errichten lassen (Jansen 1991, 104). Aber auch in den gelehrtesten humanistischen Kreisen des Reiches war Melanchthons Einfluss vor allem während der letzten Hälfte des 16. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung. Die Forschung hat sich mit ausgewählten und besonders interessanten Leistungen dieser studia humanitatis in Dänemark wie auch in Norwegen beschäftigt. Ein dänischer Gelehrter, der von Melanchthon selbst besonders geschätzt wurde, war Jens Andersen Sinning (Lausten 2010, 312). Er studierte seit 1534 in Wittenberg und kehrte nach einigen Jahren als Magister der Philosophie mit warmen Empfehlungen von Melanchthon nach Dänemark zurück, wo er Professor für Dialektik und Hebräisch wurde. Nur eine Schrift von ihm ist erhalten: eine Oratio, die er an der Universität gehalten hat. Hier betont er im Sinne Melanchthons die Bedeutung der philosophischen Studien als notwendige Grundlage für das Theologiestudium (Sinning 1991). Ein anderer dänischer Humanist war Rasmus Glad (lateinischer Name: Erasmus Laetus).Von ihm sind mehrere Schriften erhalten, und er kann als Beispiel für mehrere vergleichbare humanistische Karrieren in Dänemark gelten. Er war von 1560 bis 1572 Professor für Theologie an der Universität Kopenhagen, ist aber trotzdem vor allem als Poet und Historiker bekannt. 1560 kam er direkt von Wittenberg, wo er unter Melanchthon studiert hatte, zu seiner Professur in Kopenhagen. Und als er 1560 in Wittenberg vor seiner Abreise einen Gedichtband mit dem Titel Bucolica herausgab, hatte Melanchthon selbst – nur Wochen vor seinem Tod – eine Vorrede dazu geschrieben (Skovgaard-Petersen, 113 – 114). Melanchthon wendet sich in dieser Vorrede an den neuen König, Friedrich II., der ein Jahr zuvor seinem Vater nachgefolgt war, und ordnet ihn in eine Ahnenreihe von hervorragenden Herrschern und Wahrern des Glaubens ein, die alle zu dieser Aufgabe besonders von Gott berufen worden seien: von David, Josaphat, Ezechias, Josias und Kyros gehe die Reihe weiter über Konstantin und Theodosius zu Friedrichs Vater Christian III., der die Reformation in Dänemark eingeführt hatte. Nicht nur die heilsame Reformation der Kirche, sondern auch die Förderung der gelehrten Studien sei bei diesen Fürsten – und besonders bei den zwei Dänen – wichtig und lobenswert gewesen. Melanchthon nennt mehrere Beispiele von gelehrten Dänen, die auch die Reformation unterstützen, und sieht Dänemark als einen Zufluchtsort der wahren Kirche in der Welt, und zugleich als eine wahre Heimat für die frommen Gelehrten und die Musen. Auch Laetus redet in seinen späteren Werken vom reformatorischen Dänemark als einem bevorzugten Land der Zivilisation. Diese historische Bedeutung habe das dänische Reich bisher nicht gehabt; mit der Einführung der Reformation und dem Aufbau einer protestantischen Herrschaft im Lande habe sich die Lage geändert. Während in vielen anderen Ländern politische und religiöse Unruhe herrsche, finde man in Dänemark ein geordnetes Reich, gemäß den politischen Idealen Melanchthons, nach denen die wichtigste Aufgabe der Herrscher die cura religionis und das höchste politische Ziel der Frieden seien, damit die wahre Religion im Reich wachsen und blühen könne.
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Man findet die weiteren Ausführungen von Laetus zu diesen Themen vor allem in seinem großen Geschichtswerk von der Taufe Christians IV.: De nato baptisatoque primo FRIDERICI II potentissimi Danorum regis FILIO CHRISTIANO […] deque istius inaugurationis magnificentia, plausu et solennitate, historiam libri IIII von 1577, in dem die Situation im gegenwärtigen Dänemark ausführlich geschildert und Friedrich II. .als der ideale König gelobt wird. Unter diesem König habe Dänemark eine ganz neue historische Position erreicht (Skovgaard-Petersen, 118 – 121). Man findet die Wertschätzung Melanchthons aber auch in einer laudatio, die Laetus 1572 an die Stadt Nürnberg nach einer zweijährigen Europareise drucken ließ, wo er offenbar von der Lobrede des Eobanus Hessus an Nürnberg von 1532 beeinflusst und inspiriert wurde. Nürnberg wird hier nicht nur für die gute politische und religiöse Führung des Gemeinwesens gelobt, sondern auch, weil die Stadt so viele hervorragende Gelehrte und Künstler angezogen habe, die meistens auch Bekannte oder Freunde von Melanchthon gewesen seien. Melanchthon selbst wird dabei panegyrisch gelobt: Seit Jahrhunderten habe es niemand wie ihn gegeben, und seinesgleichen werde die Welt auch nicht in Zukunft erleben können (Skovgaard-Petersen, 116). Das humanistische Zentrum Nürnberg ist für Laetus dann auch ein Spiegel für Dänemark: auch Dänemark lebe unter dem Einfluss desselben Melanchthon: die cura religionis werde von einem guten König aufrechterhalten, und die Künste und die studia humanitatis würden blühen wie nie zuvor. Implizit liegt in diesen Ausführungen sowohl bei Eobanus Hessus als auch bei Laetus eine Erwiderung der Kritik der italienischen Humanisten an Deutschland und den Deutschen als Barbaren. Auch Luther hatte sich bekanntlich in seinen frühen Schriften immer wieder – oft auch ziemlich scharf – mit einer solchen Kritik auseinandergesetzt, – sehr deutlich und ausführlich zum Beispiel in De librum Ambrosii Catharini von 1521. Nach reformatorischer Sicht hatte sich das Zentrum der Zivilisation im 16. Jahrhundert von Italien nach Norden, nach Wittenberg bewegt. Dieses neue Weltbild, mit Wittenberg als Zentrum einer neuen lutherisch geprägten Zivilisation, ist auch für Laetus ein wesentliches Anliegen. Melanchthon gilt als das wichtigste gelehrte Vorbild und die wichtigste Inspirationsfigur dieser protestantischen Zivilisation, und Dänemark befindet sich nicht mehr in der Peripherie, sondern ist ganz in die Nähe des neuen Zentrums der Zivilisation gerückt. Dänemark ist bei Laetus fast noch wichtiger als Deutschland selbst, – insbesondere in einer Zeit, in der in Deutschland Unruhe herrsche, in Dänemark dagegen eine stabile und vorbildliche protestantische Herrschaft (Jensen 1993). Nicht nur in Dänemark, sondern auch in Norwegen ließen sich humanistische Kreise schon früh von Melanchthon inspirieren. Inger Ekrem hat sich mit einem der führenden Oslo-Humanisten, Halvardus Gunarius, beschäftigt. Er hatte in Rostock, Wittenberg und Kopenhagen studiert, war Lektor in Oslo von 1577 bis zu seinem Tod 1608, und Verfasser von mehreren Büchern. Dazu zählten eine Bearbeitung des Chronicon Carionis Philippicum in zwei Bänden (1596 und 1601) und ein Chronicon Regum Norwegiæ (1606) (Ekrem 1996, 207– 208).
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Zu den weniger erforschten Themen der Melanchthonrezeption in Dänemark wie auch in Schweden gehört die Jurisprudenz. Die Neuordnung des Rechts war in beiden Ländern von den Idealen der Reformation und auch vom Rechtsdenken Melanchthons mitbestimmt. Zwei wichtige Ansätze zur näheren Erforschung dieser Themen liegen bei Tamm (1981) und Pihlajamäki (2006) vor.
3.3 Die schwedische Melanchthonrezeption durch Gustav Norman Die Kenntnis Melanchthons und seines Werks verbreitete sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor allem über die Universität Rostock nach Schweden (und Finnland). Die politischen Auseinandersetzungen mit Dänemark, die 1520 mit dem Blutbad in Stockholm und später mit der Vertreibung des dänischen Königs aus Schweden zu Ende gingen, hatten dazu beigetragen, dass Kopenhagen für die schwedische Jugend keine bevorzugte Universität mehr war. Und auch die Universität Uppsala war in dieser Zeit keine Alternative. König Gustav Wasa hatte zwar schon 1538 den Versuch gemacht, den Lehrbetrieb der Universität Uppsala mit Unterstützung von Wittenberg neu zu beleben. Der schwedische Humanist Nicolaus Magni (Student in Wittenberg seit 1524), der zu dieser Zeit in Wittenberg lehrte, wurde vom König gebeten, nach Schweden zurückzukehren um beim Wiederaufbau der Universität mitzuhelfen. Er weigerte sich jedoch und sandte an seiner Stelle den Adelsmann und Theologen Georg Norman aus Rügen, der seit 1529 ebenfalls in Wittenberg studiert hatte, bevor er 1534 nach Greifswald gegangen war, um dort an der philosophischen Fakultät zu lehren (Montgomery 1998, 106). Georg Norman kam mit Empfehlungsschreiben von Luther und Melanchthon nach Stockholm und wurde schon 1539 vom König zum „Ordinator und Superattendent über Bischöfe, Pfarrer und alle geistliche und religiöse Angelegenheiten“ ernannt. Zugleich war es seine Aufgabe, die Prinzen am Hof zu unterrichten. Normans Tätigkeit hat schon bald dazu beigetragen, Einflüsse von Melanchthon sowohl in der schwedischen Kirche als auch im schwedischen Erziehungssystem stärker zur Geltung zu bringen. Sein Kirchenordnungsentwurf Articuli Ordinantiae von 1541 stützt sich deutlich auf Melanchthons Sächsische Schulordnung (1528) wie auch auf die Brevis discendae theologiae ratio (1530). Melanchthons Loci und seine Römerbriefvorlesung werden hier ebenfalls als Lektüre empfohlen. Schon 1558, also viel früher als in Dänemark, gab es in Schweden auch eine Version der Loci in der Nationalsprache. In diesem Jahr hatte Bischof Erik Falck in Skara eine schwedische Bearbeitung von Spangenbergs Margarita theologica herausgegeben, die sich wiederum an Melanchthons Loci sehr eng anschließt. Mit dieser Übersetzung sollte Melanchthons Zusammenfassung der Theologie auch den weniger gebildeten Pfarrern auf dem Land zugänglich gemacht werden (Montgomery 1998, 108). Georg Normans Bildungsreform hat sich nicht nur auf die Pfarrer bezogen. Ein starker Einfluss Melanchthons ist auch für das gesamte schwedische Schulsystem nachweisbar.
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Nicht nur die Loci, sondern auch Melanchthons pädagogische Schriften und seine Grundbücher der artes liberales fanden große Verbreitung, und Melanchthon ist der bei weitem am häufigsten anzutreffende Verfasser in den schwedischen Bibliotheksbeständen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts (Czaika 2008, 423– 425).
3.4 Schwedische und finnische Studenten in Wittenberg bis 1560 Otfried Czaika hat festgestellt, dass 38 Studenten aus dem schwedischen Reich in den Jahren 1546 bis 1560 an der Academia Leucorea eingeschrieben waren (Czaika 2009, 68). 16 von ihnen konnten später als geistliche Amtsinhaber im schwedischen Reich identifiziert werden, nachdem die meisten zuerst eine Zeit lang als Schulmeister im Rahmen von Gustav Normans Bildungsreform gedient hatten. Czaika hat betont, dass es unter diesen 16 mehrere Geistliche gab, die während der Regierungszeit von Johann III. (1568 – 1592) die Politik des Interims unterstützt haben. Der König, der mit der katholischen Katharina Jagiellonica verheiratet war, hatte sich in einem gewissen Rahmen für konfessionelle Kompromisse eingesetzt, und diese Politik konnte auch in Schweden von Melanchthon-Schülern Unterstützung finden.
3.5 Schwedische und finnische Studenten in Rostock David Chytræus hatte seit seiner Anstellung als Professor 1563 die theologische Fakultät in Rostock in einer Weise beeinflusst, die mit der Rolle Hemmingsens in Kopenhagen zu derselben Zeit verglichen werden kann. Janis Kreslins hebt hervor, dass der große Erfolg der Rostocker Universität und des Unterrichts von Chytræus vor allem mit der Pädagogik und der praktischen Einrichtung des Lehrbetriebs zu tun hatte (Kreslins 1996). Im Gegensatz zur Wittenberger Universität, wo der Zugang der Studenten zu den berühmtesten Lehrern in dieser Zeit sehr begrenzt war, war Rostock ein Studienort, der vielen Studenten einen direkten Kontakt zu den Professoren ermöglichte. Man bemühte sich auch intensiv darum, die Studien nach Wittenberger Vorbild praktisch und pädagogisch effizient zu organisieren – unter ausdrücklicher Berücksichtigung von Melanchthons pädagogischen Ideen und Entwürfen. Der Unterricht war von Melanchthons Loci-Methode geprägt: Ein wichtiges Ziel war es, das Wissen möglichst übersichtlich in ein Loci-System einzuordnen. Eine derartige systematische Übersicht, in der verschiedene Fragen und Erkenntnisse eingeordnet werden konnten, hatte Vorrang vor der Vertiefung in ein bestimmtes Thema. Dieser Lehrbetrieb produzierte nach Kreslins vor allem Generalisten, die dann auch in verschiedenen Berufen gut eingesetzt werden konnten. Diese Einschätzung erschließt auch die Besonderheit der Melanchthon-Rezeption in Schweden. Viele schwedische Studenten, die unter Chytræus in Rostock ihre Studienzeit verbrachten, kehrten mit einer ebenso praktisch orientierten wie lutherisch geprägten Ausbildung in ihre Heimat zurück. Diese Bildung war im Blick auf die
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Pädagogik und die Organisierung des Wissens stark von Melanchthon beeinflusst, hielt sich aber gleichzeitig theologisch-inhaltlich fern von den calvinisierenden Tendenzen einer Melanchthon-Rezeption, die zur gleichen Zeit von Hemmingsen in Kopenhagen verkörpert wurde. Chytræus vertrat in theologischer Hinsicht eher eine „orthodoxe“ Richtung der Melanchthon-Rezeption. Er verteidigte dabei auch die Konkordienformel und hatte sich nicht für das Interim eingesetzt. Insofern liegt es nahe anzunehmen, dass man im schwedischen Reich gegen Ende des 16. Jahrhunderts deutliche Spannungen zwischen verschiedenen theologischen Traditionen der Melanchthon-Rezeption vorfinden konnte, davon abhängig, ob man in Wittenberg vom späten Melanchthon oder in Rostock von Chytræus seine wichtigsten Impulse erhalten hatte. In Dänemark, wo die interkonfessionellen Herausforderungen ferner waren, sah dies anders aus. Hier ging es weniger um die Frage nach der einen oder der anderen theologischen Linie der Melanchthon-Rezeption, sondern eher darum, ob der Philippismus mit Hemmingsen als Hauptvertreter unterstützt und gefördert werden sollte.
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1 Einleitung Als bedeutender Humanist und Reformator und bekannter Kollege Martin Luthers wurde Melanchthon auch in England früh zur wichtigen Figur, sowohl für die englischen Humanisten als auch für die Befürworter einer englischen Reformation. Der für den englischen Kontext wichtigste Fürsprecher Melanchthons während der 1530er Jahre war König Heinrich VIII., der von 1509 bis 1547 regierte. (Jahreszahlen werden so angegeben, als ob das neue Jahr ab dem 1. Januar gezählt wurde; im 16. Jahrhundert begann in England das neue Jahr allerdings am 25. März zum Fest Mariä Verkündigung.) Er hat Melanchthon mehrmals eingeladen, nach England zu kommen. Dabei konkurrierte Heinrich mit König Franz I. von Frankreich, der Melanchthon ebenfalls in sein Land zu holen versuchte. Ende der 1530er Jahre gab Heinrich Melanchthon sogar die Schuld für das Scheitern der theologischen Verhandlungen zwischen England und dem Schmalkaldischen Bund, weil er nicht mit der fürstlichen Gesandtschaft nach England gereist sei. Melanchthon besuchte England nie, ging jedoch zum Teil auf die Angebote des Königs ein. In der Hoffnung, Heinrich für die causa evangelii zu gewinnen, führte er einen Briefwechsel mit Heinrich, nahm an Beratungen teil und widmete ihm die zweite Ausgabe der Loci communes. Unter Heinrichs Sohn, König Edward VI. (regierte 1547– 1553) wurde Melanchthon erneut von Thomas Cranmer, Erzbischof von Canterbury (amtierte 1533 – 1556), nach England eingeladen. Verzweifelt betrachtete er die Wiedereinführung des Katholizismus in England sowie die Hinrichtung führender englischer Reformatoren unter Maria I. (regierte 1553 – 1558). Als Elisabeth I. (regierte 1559 – 1603) den englischen Thron übernahm, unterstützte Melanchthon noch im letzten Jahr seines Lebens ihre protestantischen Anliegen. Melanchthons Einfluss in England wird im Folgenden ausgehend von seinem Briefwechsel mit König Heinrich VIII. (ab 1534 gleichzeitig Oberhaupt der Kirche) sowie mit führenden Akteuren der englischen Reformation wie Thomas Cromwell und Thomas Cranmer dargestellt. England schließt hier Wales mit ein, das zum englischen Königtum gehörte. Schottland war ein unabhängiges Land. Ab 1603 wurde der schottische König Jakob VI. gleichzeitig als Jakob I. König von England. Die schottische Reformation nahm einen ganz anderen Verlauf als die englische und wurde über John Knox, der enge Beziehungen zu Calvin hatte und pflegte, eher von Genf aus beeinflusst. Melanchthon hatte kaum oder gar keine Beziehungen zu den schottischen Reformatoren. Generell darf nicht übersehen werden, dass Melanchthon nicht nur durch seine theologisch-diplomatischen Beziehungen Einfluss auf die englische Reformation nahm. Seine lateinischen Werke waren auch im englischen Buchhandel zugänglich und wurden zum Teil sogar ins Englische übersetzt. Die Einwirkung der Theologie DOI 10.1515/9783110335804-047
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Melanchthons auf die englische Theologie der späteren englischen Reformation – beispielsweise auf John Jewel und Richard Hooker – wurde bisher nicht ausreichend erforscht, wäre allerdings sicher einer genaueren Betrachtung wert.
2 Melanchthon und England in der Forschungsliteratur Der Kontakt zwischen Heinrich VIII. und Melanchthon kann als maßgebend auch für die Beziehung zwischen England und dem Schmalkaldischen Bund betrachtet werden. Dieser Themenkomplex ist schon in zwei Monographien sowie mehreren Aufsätzen untersucht worden. John Schofield hat 2006 seine – nicht unproblematische – Studie Philip Melanchthon and the English Reformation veröffentlicht (vgl. die durchaus kritischen Rezensionen von Wengert 2007, Lowe 2009 und Wabuda 2007), in der er sich hauptsächlich den Bestrebungen Heinrichs, Melanchthon nach England zu locken, widmet. Schofield behauptet, Melanchthons Auslegung der Rechtfertigungslehre habe auf Heinrich einen positiven Eindruck gemacht, da er – zumindest Heinrichs Meinung nach – anders als Luther auf die guten Werke eingegangen sei. Auch Melanchthons Betonung der Wichtigkeit menschlicher Verantwortung trotz des unfreien Willens und die damit verknüpfte Lehre des tertius usus legis habe Heinrich angezogen (Schofield 2006, 51– 52; zum tertius usu legis vgl. auch Scheible 2002a, 73 – 74). Es ist dagegen äußerst unwahrscheinlich, dass Heinrich die Theologie Melanchthons im Detail kannte. Schofield scheint auch zu übersehen, dass Melanchthon seine Theologie und die Ausdifferenzierung Luther gegenüber erst im Laufe der 1530er Jahre entwickelte. Der Schwerpunkt von Rory McEntegerts schon 2002 veröffentlichter Untersuchung Henry VIII, the League of Schmalkalden, and the English Reformation liegt auf den diplomatischen Beziehungen zwischen England und dem Schmalkaldischen Bund. Klar wird dabei, dass Melanchthon in diesen Verhandlungen eine zentrale Rolle spielte. So fanden im Frühjahr 1538 im Rahmen einer von Edward Foxe geleiteten englischen Gesandtschaft zum Schmalkaldischen Bund theologische Verhandlungen statt, an denen Melanchthon wochenlang beteiligt war. Als 1539 eine theologische Delegation vom Bund nach England gesandt wurde, war Heinrich zutiefst enttäuscht – sogar wütend – dass Melanchthon nicht dabei war. McEntegart (2002, 8) betrachtet das Ringen um den richtigen Glauben als „Schlüsseldynamik“ dieser diplomatischen Verhandlungen. Als der eher traditionelle Act of Six Articles im Sommer 1539 vom englischen Parlament verabschiedet wurde, ging es in fünf dieser sechs Artikel um genau die theologischen Punkte, bei denen im Frühjahr 1538 keine Einigung hatte erzielt werden können (ebd. 55 – 58, 114, 133, 166). Heinrich behauptete (und McEntegart scheint seine Behauptung für glaubwürdig zu halten), dass das Scheitern der Verhandlungen im Jahr 1539 darauf zurückzuführen sei, dass Melanchthon nicht dabei gewesen ist. Dabei wird offensichtlich die Wichtigkeit der durch die Schmalkaldischen Artikel definierten Glaubensgrundsätze für das Selbstverständnis der Führung des
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Schmalkaldischen Bundes unterschätzt. Bei vielen Themen hätte auch Melanchthon nicht ausweichen können. Armin Kohnle (2011) hat Melanchthons Rolle bei der früheren Phase dieser Verhandlungen betrachtet und dabei das Ergebnis McEntegarts bestätigt, dass Melanchthons Engagement vom König durchaus befürwortet wurde. Johannes Wischmeyer (2011) hat Melanchthons Briefwechsel mit englischen Theologen – Humanisten sowie Reformatoren – ausgewertet und die Verbreitung seiner Schriften in englischer Übersetzung erforscht. Dabei wurde deutlich, dass außer der zweiten, Heinrich VIII. gewidmeten Auflage der Loci communes hauptsächlich Melanchthons polemische Schriften – ein Brief gegen die Six Articles sowie sein von Hans-Otto Schneider (2011) untersuchtes Gutachten zum Augsburger Interim – übersetzt worden sind. Anhand der Bücher- und Bibliothekslisten von Wissenschaftlern in Oxford und Cambridge hat Sachiko Kusukawa (2002) gezeigt, dass Melanchthons lateinische Werke in England bis in die 1570er Jahre weit verbreitet waren. Diese Studien bestätigen sowohl die Auffassung Alec Ryries, dass alle Versuche, Heinrich eine distanzierte Haltung zum Schmalkaldischen Bund zuzuschreiben, „keiner genaueren Untersuchung standhalten können“ (Ryrie 2002, 67 Anm. 8. Ryrie wendet sich gegen die Argumentation von Bernard 1998 [344], die dieser 2005 [433 – 522] erneut vertrat) als auch seine Darstellung der theologischen Entwicklungen während der englischen Reformation: Die reformierte Theologie, die für die Reformation unter Edward VI. kennzeichnend wurde, „kam eher spät“; während der Herrschaft Heinrichs VIII. war „die herrschende Gattung englischer evangelischer Theologie in der Lehre großenteils lutherisch und in der Politik eher auf Frieden und Ausgleich ausgerichtet“ (Ryrie 2002, 68). Aus seinem Briefwechsel geht hervor, dass auch Melanchthon bis in die Mitte der 1540er Jahre immer wieder gehofft hatte, dass die Reformation in England auf einen erkennbar und eindeutig evangelischen Weg gebracht werden könne. Dies war auch der Grund, warum er den Briefwechsel mit Heinrich aufrechterhielt, obwohl andere Wittenberger der theologischen Einstellung Heinrichs und dessen Vorhaben mit der Reformation in England schon länger misstrauten. Erst ab 1540, als Thomas Cromwell, der Hauptbefürworter der Verhandlungen mit dem Schmalkaldischen Bund, zunächst festgenommen und kurz darauf hingerichtet wurde, gab Melanchthon die Hoffnung auf, einen König evangelisch beeinflussen zu können, den er nun als „englischen Tyrann“ verurteilte (M. an Johannes Weinlaub, 16. 8.1540: MBW 2473; CR 3, 1989). Er pflegte zwar auch nach 1540 Kontakt zu den englischen Reformatoren, der ab 1547 unter Edward VI. wieder etwas aufblühte. Allerdings war Melanchthon während der Regierungszeit Edwards eher mit den theologischen Auseinandersetzungen nach Luthers Tod sowie mit der komplexen politischen Situation Sachsens beschäftigt. Dazu kam, dass die theologische Entwicklung Thomas Cranmers – und damit sein Einfluss auf die Reformation in England – ab spätestens Mitte der 1540er Jahre eher von Heinrich Bullinger in Zürich und Martin Bucer in Straßburg geprägt wurde. Nach Edwards frühem Tod am 6. Juli 1553 folgten in England sechs katholische Jahre. Melanchthon schrieb zwar 1558 an Elisabeth I. anlässlich ihrer Thronbesteigung, konnte aber persönlich nicht mehr auf die Entwicklung der religiösen Verhältnisse Englands
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einwirken. Die Frage des weiteren Einflusses Melanchthons in England bleibt zunächst offen. Die Forschung ist sich zwar zunehmend darin einig, dass in der englischen Kirche unter Elisabeth ein „calvinistischer Konsens“ geherrscht habe (Gehring 2014, 835 – 836, 838 [Zitat], 841– 842); Meyer (1966/1967), von Friedeburg (2010) und Wallace (1983, 357), den jedoch die Argumentation Meyers nicht vollständig überzeugt, behaupten aber, Melanchthons Theologie sei in England weiterhin rezipiert worden.
3 Der Einfluss von Melanchthons Werken in England Der Name Melanchthons wurde früh in Zusammenhang mit Luther gebracht, nicht nur unter englischen Anhängern der evangelischen Theologie, sondern auch unter denjenigen, die diese Theologie zu unterdrücken versuchten (Kusukawa 2002, 234; Wischmeyer 2011, 304). Aus den Unterlagen des königlichen Geheimrates (Privy Council) geht hervor, dass der Besitz von Melanchthons theologischen Werken schon in den 1520er Jahren als kennzeichnend für eine reformatorische Haltung betrachtet wurde. Im Dezember 1528 brachte ein Händler, „Dymanus“ genannt, aus Antwerpen Bücher nach England, unter anderem: „Melanchthon über den Römerbrief und das Matthäusevangelium, und Luthers De Servo Arbitrio. Melanchthon über das Johannesevangelium, und die zwei Korintherbriefe, zusammen mit Franziskus Lambert über die Minoritenregel.“ (LP 4, 5094,4407,4861) Der Reformator Hugh Latimer verteidigte eine Predigt in dem er seinem Gesprächspartner versicherte, er habe „in seiner Predigt nichts von Luther oder Melanchthon übernommen“ (LP 5, 629). Als sich in der ersten Hälfte der 1530er Jahre die religiöse Stimmung Englands veränderte, wurde Melanchthon weiterhin aber inzwischen positiv als Beispiel evangelischer Lehre genannt: Ein Herr King,Vikar in St Albans, kam in Schwierigkeiten, weil er seine Gemeinde unter anderem vor den Büchern von Luther, Melanchthon, Tracy, Tyndale und Frith gewarnt hatte (Thomas Skypwyth an Cranmer, 18. 3.1535: LP 8, 406). Auch Melanchthons Loci communes gewannen in England eine große Bedeutung. Schofield vertritt die Meinung, die Bedeutung des Werkes sollte für die Verhandlungen zwischen den Wittenberger und den englischen Theologien „nicht unterschätzt werden“ (2006, 63). Eine englische Übersetzung der Confessio Augustana sowie der Apologia wurde 1536 gedruckt, bald danach erschien eine englische Übersetzung der König Heinrich VIII. gewidmeten 1536er Ausgabe der Loci communes (Wischmeyer 2011, 307). Melanchthon wurde allerdings im durchaus humanistisch geprägten England – dessen König bekanntlich auch humanistisch gebildet war – nicht nur wegen seiner theologischen Werke geschätzt. Schon 1532 wurde ein Teil seiner Institutiones rhetoricae von Leonard Cox ins Englische übertragen und unter dem Titel The art or crafte of rhetoryke veröffentlicht (Wischmeyer 2011, 306). Im Jahr 1535 schrieb die revidierte Fassung der Statuten der Universität Cambridge vor, „dass Studierende der Artes in Logik, Rhetorik, Arithmetik, Erdkunde, Musik und Philosophie zu belehren seien, und dass sie Ari-
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stoteles, Rudolphus Agricola, Melanchthon, Trapezuntius etc. lesen sollen, und nicht die leichtfertigen Fragen und undurchsichtigen Glossae von Scotus, Burleus, Anthony Trombet, Bricot, Bruliferius etc.“ (LP 9, 615). Zu dieser Zeit erschienen insbesondere Melanchthons Dialektik oft in den Bücherinventaren von Studenten und Gelehrten sowohl in Cambridge als auch in Oxford. Später werden auch seine Bibelkommentare des Öfteren erwähnt. In Cambridge wurden Melanchthons Bücher häufiger aufgelistet als die Werke Luthers und jedes anderen Reformators. Anhand von Bücherlisten aus den Jahren zwischen 1535 und 1576 behauptet Kusukawa (2002, 243 – 244), dass Melanchthon mit Erasmus, Cicero und Aristoteles, dicht gefolgt von Vergil und Augustin, in diesen Jahren zu den sechs am meisten verzeichneten Autoren zählte. In Oxford dagegen waren Melanchthon, Luther, Bucer und Calvin weniger populär als die Werke von Erasmus, Cicero, Ovid, Vergil, Terenz, Augustin und Horaz (Wischmeyer 2011, 305). Zweifellos war Melanchthons doppelter Ruf – als Humanist und als vermittelnder Reformator – der Hauptgrund, warum Heinrich VIII. ihn nach England einladen wollte.
4 Melanchthon und Heinrich VIII. Wann Heinrich VIII. auf Melanchthon aufmerksam wurde, ist nicht bekannt. Einige Hinweise deuten darauf hin, dass Melanchthons Werke schon Anfang der 1530er Jahre in engeren Kreisen des Königs im Umlauf waren. So schrieb z. B.Vaughan an Cromwell (19.6.1531: LP 5, 303): „Ich habe große Schwierigkeiten, das Buch Luthers zu bekommen. Nur ein einziges Exemplar hat diese Stadt erreicht. Ich habe ein anderes von Melanchthon erworben, auf Latein, die Confessio Fidei, &c. in comitiis Augustae. Ich würde solche Werke gerne dem König schicken, höre aber, dass er sie nicht selbst anschaut, sondern anderen überlässt.“ Cranmer wird von Melanchthon und seinem Ruf schon gehört haben, als er 1533 zum Erzbischof von Canterbury ernannt wurde: Er befand sich nämlich zu dem Zeitpunkt in Nürnberg und hatte gerade eine Nichte von Andreas Osiander, Margarete, geheiratet (MacCulloch 1996, 69 – 73). Auch Thomas Cromwell, von Heinrich im Januar 1535 zum Generalvikar für England bestimmt, kannte Melanchthons Werke: Die Apologie hatte er schon 1532 erhalten (LP 5, 911). Aber der Name Melanchthons war Heinrich VIII. wohl schon früher bekannt, da Melanchthon zu den Gutachtern gehörte, die Heinrich VIII. und seine Berater ab 1530 um ihre Meinung zur „großen Sache des Königs“ („the King’s Great Matter“) heranzogen, nämlich seine Scheidung von Katharina von Aragon. Um die Ehe mit Katharina zu ermöglichen, die mit Arthur, dem älteren Bruder Heinrichs, schon 1501 verlobt wenn nicht vermählt war, besorgte sich Heinrich 1509 einen päpstlichen Dispens. Als von den sechs Kindern, die Katharina ihm gebar, lediglich seine Tochter Maria, geboren am 18. Februar 1516, das Kleinkindalter überlebte, begann Heinrich zu befürchten, diese Ehe sei doch gegen den Willen Gottes geschehen. In dieser Zeit lernte er Anne Boleyn kennen, die Tochter des humanistisch gesinnten Thomas Boleyn und jüngere Schwester von Heinrichs Mätresse Mary Boleyn. Heinrich beschloss, sich von Katha-
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rina von Aragon scheiden zu lassen, um Anne Boleyn zu heiraten. Da der Papst sich gerade im Konflikt mit Kaiser Karl V., dem Neffen der Katharina von Aragon, befand, war an einen weiteren päpstlichen Dispens kaum zu denken. Heinrich wandte sich den Universitäten, Gelehrten und Theologen Europas zu, um Gutachten für die Scheidung einzuwerben. In dieser Frage waren sich Melanchthon und Luther einer Meinung: Diese Scheidung sei nicht zu verantworten. Im Dezember 1531 erwähnte Eustace Chapuys, spanischer Botschafter am englischen Hof, in einem Bericht an Karl V. Briefe, „die der König kürzlich von Philipp Melanchthon erhalten hat, der sich gegen die Scheidung ausgesprochen hat“ (4.12.1531: LP 5, 563). Seine Bemühungen um eine Scheidung brachten Heinrich – und mit ihm sein ganzes Königreich – in die Gefahr der Exkommunizierung. Zunehmend stellte Heinrich die Autorität des Papstes in Frage. Anfang der 1530er Jahre begann er, parlamentarische Maßnahmen gegen den englischen Klerus einzuleiten: Er beschuldigte die Geistliche des Hochverrats, da sie einen Eid einem ausländischen Fürsten, nämlich dem Papst, geschworen hätten. 1531 trennte er sich von Katharina von Aragon. Zum Jahreswechsel 1532/33 wurde Anne Boleyn schwanger, am 25. Januar 1533 fand eine geheime Trauung statt. Am 23. Mai wurde die Ehe zwischen Heinrich und Katharina durch den inzwischen nach England zurückgekehrten Erzbischof Cranmer annulliert. Elisabeth, die Tochter von Heinrich und seiner neuen Königin Anne, wurde am 7. September 1533 geboren.Wenige Monate später erklärte der Act of Succession die aus katholischer Sicht uneheliche Elisabeth zur Thronnachfolgerin Heinrichs und gleichzeitig Maria, die Tochter Katharinas, für unehelich: Maria wurde nicht mehr Prinzessin, sondern „Lady“ genannt. Heinrich wurde wieder mit der Exkommunikation bedroht. Er behauptete, „im eigenen Königreich sowohl Papst als auch Kaiser“ zu sein. Im November 1534 verabschiedete das Parlament den Act of Supremacy, den Suprematsakt, der den König zum Oberhaupt der englischen Kirche ernannte und die Autorität des Papstes ablehnte (Text in Bray 2004, 113 – 114). Während Heinrich die kirchlichen Autoritätsstrukturen im eigenen Land neu definierte, suchte er neue politische Bündnispartner im Ausland. Es lag nahe, sie unter den Herrschern zu suchen, die sich ebenfalls von der päpstlichen Autorität gelöst und zum Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossen hatten. Die Bedeutung des Bundes für Heinrich kann an der Tatsache erkannt werden, dass in dem Zeitraum 1533 – 1540 sieben englische Delegationen zum Schmalkaldischen Bund gesandt wurden (McEntegart 2002, 16). Nach Meinung McEntegarts zeigen die vielen Gesandtschaften nicht nur ein deutliches Interesse an diplomatischen Beziehungen zum Bund unter den evangelischen Beratern Heinrichs VIII., hier vor allem von Thomas Cromwell, sondern auch den eigenen Wunsch des Königs, engere religiöse sowie politische Beziehungen zum Bund aufzubauen (ebd. 6). Trotz der Ablehnung seiner Scheidung seitens der Wittenberger Reformatoren hatte Heinrich spätestens im Winter 1532/33 angefangen, Beziehungen mit dem kurfürstlichen Sachsen aufzubauen. Im Januar 1533 berichtete Chapuys über Gerüchte, Heinrich habe Philipp Melanchthon, Simon Grynaeus und andere Lutheraner nach England bestellt (Chapuys an Karl V., 25.1.1533: LP 6, 89). Ende Februar behauptete er,
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Melanchthon sei schon angekommen: „Es wird gesagt, dass Melanchthon seit acht Tagen in einem der Häuser des Königs untergebracht sei, es wird aber so streng geheim gehalten, dass ich niemanden finden kann, der dies bestätigen kann.“ (Chapuys an Karl V., 23. 2.1533: LP 6, 180) Thomas More gab dieses Gerücht an Erasmus weiter, versicherte ihm jedoch: „Der König geht noch strenger als die Bischöfe mit den Häretikern um.“ (März 1533: LP 6, 303) Die religiöse Lage Englands war zu der Zeit dermaßen verwirrend, dass von völlig unterschiedlichen – sogar sich widersprechenden – Gründen berichtet werden könnte, weshalb Heinrich einen Besuch von Melanchthon herbeiführen wollte. Chapuys erhielt die Auskunft, Heinrich habe von einem katholischen deutschen Fürsten einen Brief bekommen, der ihm mitteilte, Melanchthon wolle nach England reisen, und bat Heinrich „ihn gut zu behandeln, damit er zum katholischen Glauben zurückkehre“ (Chapuys an Karl V., 25.1.1533: LP 6, 89). In diesem Brief wird Heinrich eher als katholisch eingeschätzt. Andere glaubten, Heinrich hätte radikalere Gründe, Melanchthon nach England einzuladen. So schrieb Chapuys: „Ich weiß, dass Paget, der letztes Jahr Melanchthon und die anderen lutherischen Gelehrten besucht hatte, auf Befehl des Königs ihnen geschrieben hat, um sie dazu zu drängen, nach England zu kommen. Manche sagen, sie sollten kommen, damit sie gegen die Königin Partei ergreifen; andere, wegen der Reformation der Kirche, besonders in Bezug auf die Beschlagnahmung der weltlichen Güter.“ (Chapuys an Karl V., 25.1.1533: LP 6, 89; gemeint sind die Landgüter der Bischöfe und Klöster)
In der Tat hoffte Heinrich darauf, vom Schmalkaldischen Bund eine Bestätigung sowohl der Annullierung seiner Ehe mit Katharina von Aragon als auch der Schließung seiner Ehe mit Anne Boleyn zu bekommen. Diese Hoffnung wurde allerdings nicht erfüllt. Gleichzeitig scheint er zu diesem Zeitpunkt ernsthaft über die theologische Richtung der englischen Kirche nachgedacht zu haben. Zwar hatte er 1521 in Zusammenarbeit mit einer Gruppe englischer Bischöfe gegen Luthers De captivitate babylonica ecclesiae die Schrift Assertio septem sacramentorum veröffentlicht, wofür er vom Papst Leo X. die Auszeichnung defensor fidei bekam. Trotzdem scheint Heinrich Anfang der 1530er Jahre gehofft zu haben, mit Hilfe von Melanchthon und anderen deutschen evangelischen Theologen eine neue theologische Linie für die englische Kirche ausarbeiten zu können (McEntegart 2002, 6 – 7, 167– 177). Im Jahr 1533 reiste Melanchthon zwar nicht nach England, er war aber zunehmend als theologischer Berater gefragt,vor allem von denjenigen Fürsten und Stadträten, die überlegten, die Reformation in das eigene Herrschaftsgebiet einzuführen oder die sich mit der evangelischen Theologie auseinandersetzten. Im Laufe des Jahres 1534 wurde Melanchthon mehrmals „nach England gerufen“, wie er seinem Freund Joachim Camerarius schrieb (9. 3.1534: MBW 1417; CR 2, 1172). Er wurde auch vom Herzog Ulrich von Württemberg gedrängt, dass er ihn zur Einführung der Reformation in seiner schwäbischen Heimat berate, und König Franz I. von Frankreich suchte ebenfalls seinen Rat (siehe z. B. Melanchthon an Camerarius, 6.9.1534: MBW 1489; CR 2, 1215; M. an Friedrich Myconius, April 1535: MBW 1570; CR 2, 1271; vgl. Schofield 2006, 61). Im Oktober 1535 berichtete Melanchthon, er sei von den Engländern „nicht nur über
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Briefe, sondern über Gesandte eingeladen worden“ (M. an Camerarius, 4.10.1535: MBW 1638; CR 2, 1339). Und er gab zu: „Die englischen Angelegenheiten beschäftigen mich sehr.“ (M. an Camerarius, 6.9.1534: MBW 1489; CR 2, 1215) Im Sommer und im Herbst 1535 versuchte Heinrich mehrmals, Melanchthon für England zu gewinnen und ihn davon abzubringen, die Einladung des französischen Königs anzunehmen. Im Juli 1535 wurde Robert Barnes mit einer Botschaft für Melanchthon nach Wittenberg gesandt (wo er sich, um unerkannt zu bleiben, Dr. Antonius nannte): „Fordere ihn auf, nach England zu kommen, wo er Zustimmung zu seinen Lehren vorfinden und freundlich empfangen werden wird.“ (Thomas Howard, Duke of Norfolk, und George Boleyn, Viscount Rochford, an Cromwell, 19.7.1535: LP 8, 1062) Gleichzeitig reiste eine zweite Delegation mit Simon Heynes und Christopher Mont nach Paris. Der gebürtige Kölner Mont wurde früh zum Anhänger Thomas Cromwells und sollte später als Teilnehmer mit allen sieben englischen Gesandtschaften zum Schmalkaldischen Bund reisen (McEntegart 2002, 15 – 16). Falls sich Melanchthon schon dort aufhielt, sollten Heynes und Mont ihn dazu überreden, seinen Aufenthalt in Frankreich abzubrechen und ihn dazu verlocken, nach England zu reisen (Norfolk und Rochford an Cromwell, 19.7.1535: LP 8, 1062). Bei der Ankunft in Paris berichteten Heynes und Mont: „Melanchthon ist noch nicht nach Frankreich gekommen. Es ist zweifelhaft, ob er dies überhaupt will, und, auch wenn er es will, ob er kommen wird.“ (Heynes und Mont an Heinrich VIII., 8. 8.1535: LP 9, 54) In der letzten Augustwoche war Barnes in Wittenberg. Seine Bemühungen, mit Melanchthon Kontakt aufzunehmen, wurden allerdings dadurch erschwert, dass die Universität wegen eines Ausbruchs der Pest aus Wittenberg weggezogen war (Barnes an Cromwell, 22.8. 1535: LP 9, 153). Luther schrieb an Spalatin: „Keine Nachrichten, außer dass Dr. Antonius hier angekommen ist, dieser schwarze Engländer [ille niger Anglicus], der von seinem König zu unserm Herrn gesandt wurde, und er lädt Philipp nach England ein, um mit dem König zu beraten.“ (6.9.1535: WA Br 7, 2235) Mitte September versuchte Barnes immer noch, sich mit Melanchthon zu treffen, obwohl der sächsische Kurfürst Johann Friedrich schon klar geäußert hatte, dass er nicht beabsichtigte, Melanchthon eine Reise nach England oder anderswohin zu erlauben (vgl. z. B. den Briefwechsel zwischen Kurfürst Johann Friedrich und seinem Kanzler Brück, 18.9.1535, und die Briefe des Kurfürsten an Heinrich VIII., 21.9.1535 [von Robert Barnes übermittelt], und am 28.9. [von Melanchthon entworfen]: CR 2, 1328, 1329, 1330; MBW 1631). Anfang September berichtete Mont Heinrich, dass König Franz für Melanchthon einen Geleitbrief ausgestellt und ihm zugeschickt hatte, da er „sein Kommen [nach Frankreich] sehr begehrt.“ Auch der Kaiser hatte eingegriffen, den Lutheranern geschrieben und versprochen, zu einem Generalkonzil aufzurufen, vielleicht in England oder in Frankreich (Mont an Heinrich VIII., 5.9.1535: LP 9, 281). Mont hatte wenig Hoffnung, Melanchthon könne dazu überredet werden, eine Reise nach England zu bevorzugen, glaubte eher, dass er nach Frankreich gehe (Mont an Cromwell, 7.9.1535: LP 9, 29; LP 9, 300). Der König von England befand sich somit in einem diplomatischen Wettkampf um die Gunst und Aufmerksamkeit Melanchthons.
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Ab September 1535 bereiteten Heinrich und Cromwell eine diplomatische Mission an die Fürsten des Schmalkaldischen Bundes vor, vor allem Johann Friedrich von Sachsen. Die Delegation wurde von Edward Foxe geführt, der im selben Monat als Bischof von Hereford ordiniert wurde,wahrscheinlich um ihm den dazu nötigen Status zu verleihen (McEntegart 2002, 31– 32). Hauptziel der Gesandtschaft war die Anerkennung der Ehe zwischen Heinrich und Anne Boleyn durch den Schmalkaldischen Bund. Foxe wurde allerdings auch beauftragt, mit Melanchthon zu verhandeln, dem Heinrich persönlich geschrieben hatte, und sollte ihm im Auftrag des Königs ein Geldgeschenk übergeben: „300 Cr. oder £70“ (LP 9, 217,219). Wahrscheinlich war Heinrich schon davon unterrichtet, dass Melanchthon ihm die überarbeitete Ausgabe seiner Loci communes gewidmet hatte (zum Widmungsbrief siehe CR 2, 1311, und CR 21, 333 – 340). Melanchthon ließ zwei Exemplare – für den König und für Cranmer – von dem schottischen Theologen Alexander Alesius nach England bringen, zusammen mit einem Brief an Heinrich sowie einem Empfehlungsbrief an Cranmer für Alesius, der nach einem längeren Aufenthalt in Wittenberg sich nun in England niederzulassen hoffte (M. an Heinrich VIII. und an Cranmer, August 1535, MBW 1606, 1607; CR 2, 1310). Um diese Zeit ließ ein „Jas. Nycolson, Glasier“ Cromwell ein Exemplar der Loci communes „neu durchgesehen und dem König gewidmet“ zukommen (LP 9, 226). In seiner Antwort, die Melanchthons Einschätzung nach „viele erfreute“ (M. an Heinrich VIII., 1. 12.1535: MBW 1668; CR 2, 1368), begrüßte Heinrich Melanchthon nicht nur als Theologen, sondern auch als geschätzten Freund – „sacrae theologiae professori eximio amicoque nostro plurimum dilecto“ –, bestätigte den Empfang mehrerer Briefe und bedankte sich bei ihm für die Widmung (Heinrich VIII. an Melanchthon, 1.10.1535: MBW 1637; CR 2, 1335). Das, was Heinrich aber wirklich erreichen wollte, war die Anwesenheit Melanchthons in England. Im Sommer und Herbst 1535 hatte Heinrich Melanchthon umworben. Was aber dachte Melanchthon über den König? Zeitgenössische Beobachter waren sich unsicher. 1535 berichtete der Bischof von Faenza, dass Heinrich eine Gesandtschaft nach Deutschland geschickt habe, um Melanchthon und andere Gelehrte zu einer Reise nach England zu bewegen. Sie sollten „aufpassen, dass der König [Franz I.] sie nicht verbrenne.“ Kommentierend fügt er allerdings hinzu: „Es wird gesagt, dass die Lutheraner ihn [Heinrich VIII.] verabscheuen.“ (Bischof von Faenza an M. Ambrogio, 20.7.1535: LP 8, 1076) Luther stand in der Tat der von Foxe geleiteten englischen Gesandtschaft skeptisch und vorsichtig gegenüber, auch wenn er zugab, wie er dem sächsischen Kanzler Gregor von Brück schrieb, dass er vielleicht zu pessimistisch sei: „Vielleicht plant Gott etwas Besseres und Höheres, als wir wissen.“ (Luther an Brück, 12.9.1535: WA Br 7, 2241) Aus Melanchthons Briefwechsel geht hervor, dass er über die Situation in England recht gut informiert war. Auch die zwiespältige Haltung des Königs zur Reformation und zur evangelischen Theologie war ihm durchaus bewusst. Im März 1534 erwähnte er in einem Schreiben an Pfarrer Friedrich Myconius in Gotha: „Der König von England hat gegen den Papst Artikel veröffentlicht, in denen er dessen Autorität leugnet und ihn zu einem Konzil (synodum) einlädt.“ (12. 3.1534; vgl. auch M. an Camerarius, 17. 3.1534: MBW 1419, 1421; CR 2, 1173, 1174) Ein Jahr später berichtete er
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allerdings, dass Heinrich, seitdem er die Ehe mit Anne Boleyn geschlossen hatte, sich nicht mehr um kirchliche Fragen kümmern würde, obwohl er bestätigte, in England würden „diejenigen, die sich eifrig für die bessere Lehre einsetzen, nicht grausam verfolgt“ (M. an Camerarius, 11. 3.1535: MBW 1551; CR 2, 1263). Vielen Beobachtern war aber klar, dass die englischen Geschehnisse nicht mit einer lutherischen Reformation gleichzusetzen waren. Antonius Musa behauptete: „Der König ist insofern lutherisch geworden, als dass er, weil der Papst sich geweigert hat, seine Scheidung zu sanktionieren, bei Todesstrafe befiehlt, dass jeder glauben und predigen sollte, dass nicht der Papst, sondern er selber Oberhaupt der universalen Kirche sei. Dabei werden alle andere papistische Gebräuche, Klöster, Messen, Ablässe sowie Fürbitten für die Verstorbenen hartnäckig beibehalten.“ (Musa an Stephen Rothe, 16.1.1536: CR 3, 1389) Musas Meinung nach hatte Heinrich die Delegation gerade deshalb nach Wittenberg gesandt, „um die Messe zu verteidigen“ (Musa an Rothe, 16.1.1536: CR 3, 1389). Es war für Melanchthon und Luther in Wittenberg deutlich zu erkennen, dass Englands Ablehnung der päpstlichen Autorität keine Einführung der Reformation im deutschen Sinne bedeutete. Scheible hat sicherlich Recht, dass Melanchthon zu diesem Zeitpunkt die englischen Reformen als „zu konservativ“ einschätzte (Scheible 1997a, 122). Heinrich für die Reformation zu gewinnen hätte dennoch geheißen, einen bedeutsamen Herrscher auf der evangelischen Seite zu wissen. Melanchthon scheint dieses Ziel für erstrebenswert gesehen zu haben. Gerade zwei Tage, nachdem er Camerarius gegenüber sein Misstrauen an Heinrichs Position zum Ausdruck gebracht hatte, schrieb er Heinrich direkt, um die hohe Stellung der „litterae“ – der freien Künste – in England zu loben. Melanchthon beteuerte, dass es in England „noch nie so viele begabte Männer“ gegeben habe, und drückte seine Hoffnung aus, dass der König „seinen Einfluss zum Guten verwenden möge, da sich bestimmte Missbräuche in die Kirche eingeschlichen hätten“; notwendig sei deshalb eine ebenso „einfache wie überzeugende Form der Lehre“, die auch vom König unterstützt werde (M. an Heinrich VIII., 13. 3.1535: MBW 1552; CR 2, 1264). Sein Brief stimmte mit dem Duktus des Widmungsbriefs zur 1535er Ausgabe der Loci communes überein, in dem Heinrichs Schriftkenntnisse, seine Liebe zur Philosophie, seine gerechte Regierung, seine Sorge für Frieden, seine Frömmigkeit und sein Studium der christlichen Religion gelobt wurden (CR 2, 1311; CR 21, 339). Außerdem bekräftigte Melanchthon, unter Heinrich würde „keine Grausamkeit gegen die guten Menschen, die sich für eine reinere Lehre eifrig einsetzen, ausgeübt.“ Deshalb sollte der König denjenigen weisen und guten Fürsten, „die ihren Nachkommen eine beständige und ruhige Kirche übergeben wollen“, als Beispiel dienen (CR 2, 1311; CR 21, 339 – 340,335; siehe auch Schofield 2006, 61– 63). Wahrscheinlich hoffte Melanchthon, Heinrich von der Wichtigkeit einer „reinen Lehre“ überzeugen zu können, wie es Kusukawa (2002, 236) behauptet. Er strebte jedoch eine friedliche Einigung in religiösen Fragen nicht nur mit England an, sondern für ganz Europa. Er sei sowohl vom König von Frankreich als auch vom König von Anglus (England) eingeladen worden, schrieb er an Konrad Heresbach im November 1535; sein eigener Wunsch sei es jedoch, alle „diejenigen, die sich unermüdlich für
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Harmonie in der Kirche einsetzen, zu unterstützen“ (MBW 1667; CR 2, 1360). Als der Papst überlegte, ein Konzil einzuberufen, sprach sich Melanchthon dafür aus, dass die Protestanten daran gleichberechtigt teilnehmen sollten; und er glaubte, dass Heinrich zur Erreichung dieses Ziels ein nützlicher Verbündeter sein könnte – insbesondere in dem Fall, dass in England eine tiefgreifende Reformation eingeführt würde (M., evtl. an Johannes Bugenhagen, 5.10.1535: MBW 1643; CR 2, 1334). Karl V. war allerdings der Meinung, dass weder Heinrich VIII. noch die Wittenberger Theologen wirklich ein Konzil wollten (vgl. den Brief des Kaisers an seinen französischen Botschafter, 23.10. 1535: LP 9, 674). „Es gibt Hoffnung, dass in England die reine Lehre angenommen und propagiert wird“, schrieb Melanchthon an Martin Bucer im Dezember 1535 (11.12.1535: MBW 1675; CR 10, 7129). Der Besuch einer englischen Gesandtschaft ermutigte ihn zu glauben, dass die Engländer „durch unser Beispiel eine reinere Art der Lehre annehmen werden“ (M. an Camerarius, 22.12.1535: MBW 1678; CR 2, 1381). Solange diese Hoffnung bestand, schien es sowohl ihm als auch Luther opportun, auf Heinrichs Angebote einzugehen. Melanchthon und den anderen Wittenberger Reformatoren waren aber die tragischen Konsequenzen bewusst, die den Gegnern Heinrichs – oder auch von König Franz I. in Frankreich – widerfahren könnten. Im August 1535 schrieb er in tiefer Sorge an Camerarius: „Dieses Jahr ist für unsere Bewegung fatal. Ich höre, dass More und andere hingerichtet worden sind. Auch ich bin in großer Gefahr. In den französischen Religionsangelegenheiten zeigt sich ebenfalls teilweise großer Hass.“ (31.8.1535: MBW 1616; CR 2, 1309) More war kein Reformator – als katholischer Märtyrer wurde er sogar 1935 heiliggesprochen –, er war aber ein berühmter Humanist. Sein Beispiel bezeugt somit die komplizierten religiösen Verhältnisse zu dieser Zeit. Sein Verbrechen bestand darin, dass er sich geweigert hatte, den Suprematseid zu schwören, und sich gegen die Scheidung des Königs ausgesprochen hatte – eine Meinung, die Melanchthon mit ihm ausdrücklich teilte. Im April 1537 richtete Melanchthon an Veit Dietrich einen Empfehlungsbrief für einen Engländer, der wegen seiner Ablehnung der Scheidung Heinrichs von Katharina von Aragon aus England verbannt wurde: „Sein Exil währt lang, ebenso sein Unglück, und er scheint ein anständiger Mann zu sein.“ (M. an Veit Dietrich, 6.4.1537: MBW 1881; CR 3, 1553) Wie er gegen Ende 1535 gestand, war Melanchthon weiterhin vom Schicksal Mores betroffen, obwohl er beschloss, sich „nicht in diese Angelegenheiten einzumischen“ (M. an Camerarius, 22. 12.1535: MBW 1678; CR 2, 1381).
5 Die englische Gesandtschaft in Wittenberg und die Schmalkaldische Gesandtschaft in England Heinrichs Gesandtschaft zum Schmalkaldischen Bund wurde von den Fürsten sowie von Melanchthon und den anderen Wittenberger Theologen zwar empfangen, aber mit Vorsicht und Zurückhaltung. Die von Foxe geleitete Delegation kam Anfang Dezember
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in Sachsen an. Erst Mitte Januar erhielt Melanchthon den offiziellen Auftrag, die theologische Disputation mit den englischen Gesandten zu beginnen. Luther musste zunächst Kurfürst Johann Friedrich dazu überreden, Melanchthon teilnehmen zu lassen (vgl. Johann Friedrich an Luther, 9.1.1536: WA Br 7, 2282; CR 3, 1387; Luther an Johann Friedrich, 11.1.1536: WA Br 7, 2283). Luther ging davon aus, dass die Gespräche voraussichtlich drei Tage dauern würden, sie wurden allerdings bis in die zweite Aprilhälfte hinein fortgesetzt. Ein Streitpunkt war die Scheidung des englischen Königs: Die deutschen Theologen waren nicht bereit zuzugeben, dass Heinrich das Recht hatte, sich von Katharina von Aragon scheiden zu lassen. Diese Frage verlor allerdings nach Katharinas Tod im Januar 1536, der in Wittenberg spätestens Mitte Februar bekannt wurde, deutlich an Brisanz: Am 14. Februar teilte Melanchthon mit, „die ehemalige Königin Englands und Tante des Kaisers“ sei tot (M., evtl. an Franz Burkhard, 14. 2.1536: MBW 1700; CR 3, 1402). In weiteren Fragen der Theologie und Lehre sah Melanchthon die Verhandlungen zum Teil nicht so aussichtslos wie bei der Scheidungsproblematik. Obwohl er feststellen musste, dass „dem englischen Bischof die deutsche Philosophie nicht zu gefallen scheint“ (M. an Veit Dietrich , 9. 3.1536: MBW 1707; CR 3, 1405), berichtete er auch, dass die Mitglieder der Gesandtschaft „dem Studium der reinen Lehre nicht abgeneigt zu sein scheinen“ (M. an Georg von Anhalt, 10. 3.1536: MBW 1708; CR 3, 1406), weshalb gewisse Fortschritte erzielt werden konnten. „Alle sind der Meinung, dass sich die englischen Botschafter hier zu lange aufhalten“, schrieb er jedoch Ende März an Camerarius. Das Ergebnis sei nicht überzeugend: Es hätte keine Einigung über die Scheidung gegeben, und trotz mancher Einigung blieben „keine kleinen Unterschiede in Hinsicht auf anderen Glaubensartikel“ (29. 3.1536: MBW 1714; CR 3, 1409). Die erzielten Einigungen fanden ihren Niederschlag in den sogenannten Wittenberger Artikeln, die auf der Confessio Augustana basierten (für den Text mit englischer Übersetzung siehe Bray 2004, 118 – 161; für den eher geringen Einfluss in England vgl. McEntegart 2002, 58 – 60). Differenzen mit der englischen Gesandtschaft blieben bestehen in Bezug auf Privatmessen, die Priesterehe, das Mönchsgelübde und den Empfang der Kommunion in beiderlei Gestalt (McEntegart 2002, 55 – 58, 60). Die englischen Botschafter hatten nur den theologischen Punkten zugestimmt, denen nach ihrer Einschätzung auch Heinrich zugestimmt hätte. Gleichzeitig betonten sie seinen Wunsch nach „einer wahren Reformation der Kirche“ und bekräftigten die Ehre, die ihrem König dadurch verliehen worden sei, dass ihn die Führung des Schmalkaldischen Bundes zum „Beschützer ihrer Religion“ berufen hätte (CR 3, 1407). Heinrich war der Meinung, ein Abkommen zwischen England und dem Bund sollte die Verpflichtung zur gegenseitigen militärischen Unterstützung begrenzen. Auch sollte es beiden Seiten verbieten, ohne Rücksprache der Einberufung eines Konzils zuzustimmen. McEntegart (2002, 26) glaubt jedoch, dass ab dem Winter 1535/36 weder Heinrich noch die Führer des Schmalkaldischen Bundes ein Konzil auf päpstlichem Gebiet wollten, obwohl alle bereit waren, an einem Konzil auf neutralem Boden teilzunehmen. Die gegenseitige Beistandspflicht und ein mögliches Konzil waren allerdings nicht die Hauptstreitpunkte. Um überhaupt ein Abkommen zu erreichen, hätte eine
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theologische Vereinbarung erzielt werden müssen. Der Kurfürst von Sachsen wies darauf hin, dass ein politisches Bündnis nur auf der Grundlage eines theologischen Konsenses aufgebaut werden könne. Grundlage dieses Konsenses böten die Schmalkaldischen Artikel, über deren Inhalt keine Verhandlung möglich sei: Wenn der König das Evangelium nach dem Bekenntnis der Bündnispartner nicht zustimmen kann, das die Botschafter mit Luther und Melanchthon diskutierten, oder wenn er bei der Antwort bleibt, die er über die Schmalkaldischen Artikel neulich dem Kurfürsten in Wittenberg gegeben hat, sieht er [der Kurfürst] nicht welchen Sinn es hat, einen Vertrag abzuschließen oder Botschafter zu senden. (CR 3, 1415. Die ursprüngliche Fassung des Briefs des Kurfürsten an Heinrich findet sich in LP 9, 1016, zum Teil auch in CR 2, 1379)
Die evangelische Theologie prägte das Selbstverständnis des Schmalkaldischen Bundes und dessen Selbstdefinition den katholischen Fürsten gegenüber. McEntegart scheint die Wichtigkeit dieser theologischen Vereinbarung unterschätzt zu haben. Auch wenn es theologische Unterschiede zwischen den führenden Persönlichkeiten gab, vor allem zwischen Philipp von Hessen und Johann Friedrich von Sachsen, wie Gury Schneider-Ludorff (2006) gezeigt hat, waren für Philipp von Hessen die Schmalkaldischen Artikel eher nicht reformatorisch genug und gerade nicht wie für Heinrich zu radikal. Die Einstellung Heinrichs, der eine eher konservative Theologie vertrat und bei vielen zentralen Fragen der Reformation nicht mit den Reformatoren übereinstimmte, blieb für die Führer des Bundes nicht nur theologisch, sondern auch politisch problematisch. Diese Tatsache wird auch Melanchthon klar gewesen sein. Die Verhandlungen wurden auch durch die Tatsache verkompliziert, dass im Frühjahr 1536, als die Botschafter des englischen Königs noch in Sachsen waren, sich die Situation in England schnell und dramatisch veränderte. Katharina von Aragon starb am 7. Januar. Wenig später erlitt Anne Boleyn die Fehlgeburt eines Sohnes. Der zutiefst enttäuschte Heinrich behauptete, seine Entscheidung, Anne Boleyn heiraten zu wollen, sei die Folge von Hexerei gewesen. Im Mai wurde Melanchthon über die dramatischen Ergebnissen dieser Entwicklungen informiert: „Die Berichte aus England sind mehr als tragisch. Die Königin ist wegen Ehebruchs mit ihrem Vater, ihrem Bruder, zwei Bischöfen und anderen ins Gefängnis gekommen.“ (M. an Justus Jonas, 29. 5.1536: MBW 1745; CR 3, 1430; vgl. auch Brief an Johannes Agricola, 7.6.1536: MBW 1751; CR 3, 1438) Gerade sechs Wochen nach der Abreise der Gesandtschaft erhielt er Anfang Juni die Nachricht von der Hinrichtung Annes – „des Ehebruchs eher beschuldigt als schuldig“ – und eine Warnung von Robert Barnes, er sollte nicht nach England reisen (M. an Justus Jonas, 9./10.6.1536: MBW 1753; CR 3, 1439; M. an Camerarius, 9.6.1536: MBW 1752; CR 3, 1437). Melanchthons lang in Betracht gezogene Reise nach England fand auch in der Tat nie statt. Die intensivste Phase seines Kontakts mit dem König Englands war vorbei. Dennoch pflegte Melanchthon weiterhin einige Kontakte nach England. Er führte einen Briefwechsel mit Robert Barnes, mit Thomas Cromwell und gelegentlich sogar mit Heinrich VIII. Die Hinrichtung von Anne Boleyn wurde als Rückschlag für die englische evangelische Bewegung wahrgenommen; ein Eindruck, der durch die in
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Wittenberg im Januar 1537 angekommene Nachricht bestätigt wurde, auch Robert Barnes sei im November 1536 „auf Befehl des Königs“ festgenommen worden (M. an Veit Dietrich, 20.1.1537: MBW 1839; CR 3, 1518). Bald danach weckte Heinrichs hartnäckige Weigerung, an einem vom Papst einberufenen Konzil in irgendeiner Form teilzunehmen, wieder die Hoffnungen der deutschen Reformatoren, dass er vielleicht doch noch als Bündnispartner gewonnen werden könnte. Kurfürst Johann Friedrich, wohl nach einer Konsultation mit Luther und Melanchthon, brachte seiner Freude darüber zum Ausdruck, „dass Heinrichs Meinung seiner eigenen so ähnlich sei“ (Johann Friedrich an Heinrich VIII., 14.11.1537: CR 3, 1626). Diesem Brief folgte eine gemeinsamen Mitteilung von Johann Friedrich und Philipp von Hessen, die Heinrichs Haltung lobte und bestätigte, dass seine „Frömmigkeit und sein Eifer in ganz Deutschland von allen Anhängern der wahren Religion begrüßt wurden“ (Johann Friedrich und Philipp, Landgraf von Hessen, an Heinrich VIII., 14.11.1537: CR 3, 448 – 450, Anm. zu 1629). Heinrich war allerdings weniger an diesen Lob interessiert: Er wünschte den Gegenbesuch einer vom Schmalkaldischen Bund nach England gesandten Delegation, an der auch Melanchthon teilnehmen sollte. Dieser Wunsch sollte ihm aber unerfüllt bleiben. Stattdessen kündigte Kurfürst Johann Friedrich die von ihm und Philipp von Hessen ernannten Botschafter Francis Burchardt und Friedrich Myconius an und sprach die Hoffnung aus, dass im Gespräch mit Heinrich „eine feste und dauerhafte Vereinbarung“ erzielt werden könne (M. an Heinrich VIII., 12. 5.1538: MBW 2030). Die Gesandtschaft erreichte England im Juni 1538 und blieb bis Oktober desselben Jahres. Diese Verhandlungen fanden zu einem entscheidenden Zeitpunkt für die englische Kirche statt. Melanchthon blieb im Briefkontakt mit den Botschaftern und gab deren zunächst positive Einschätzung an seinen Freund Veit Dietrich weiter: Myconius berichte über „die vielen Gelehrten in England, die die Lehre des Evangeliums verbreiten wollen und unsere Männer bei dieser Zusammenkunft zu unterstützen versuchen“ (M. an Veit Dietrich, 22.7.1538: MBW 2067; CR 3, 1700). Im September 1538 teilte er Johannes Brenz mit: „Es gibt Hoffnung, dass die englische Kirche sich verändern lässt und fromme Lehre und Riten wieder hergestellt werden.“ (MBW 2092; CR 3, 1723) Die ersten Nachrichten schienen in der Tat auf einen positiven Fortgang der Reformation hinzudeuten: Die „abergläubischen Wallfahrten“ wären abgeschafft und die Heiligenschreine für Thomas Becket in der Kathedrale zu Canterbury und für Maria im Pilgerort Walsingham seien zerstört worden (M. an Veit Dietrich, 1.11.1538: MBW 2111; CR 3, 1745). Heinrich war jedoch zutiefst unglücklich, dass Melanchthon nicht mit nach England gereist war. Er räumte trotzdem ein, dass die entsandten Botschafter „eine solche solide Gelehrsamkeit und christliche Frömmigkeit“ gezeigt hätten, dass er sicher sei, dass gute Ergebnisse erzielt werden könnten, betonte aber zugleich, dass „wir hoffen, dass ihr Philipp Melanchthon und andere Gelehrten zu uns sendet, um die Sache abzuschließen“ (Heinrich VIII. an Johann Friedrich, 1.10.1538: LP 13/2, 497). Im Frühjahr 1539 schickten Heinrich beziehungsweise Cromwell Christopher Mont wieder nach Deutschland in einem weiteren Versuch, den Schmalkaldischen Bund dazu zu
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überreden, eine gewichtigere Gesandtschaft – einschließlich Melanchthon – für England zu benennen (siehe z. B. M. an Justus Jonas, 5.4.1539: MBW 2185; CR 3, 688; McEntegart 2002, 142 – 149). Gegen Ende März schrieb Melanchthon Heinrich einen Brief, in dem er seinen „Eifer für die Religion“ lobte und seinen eigenen Wunsch auf „eine allgemeine Übereinkunft in der Lehre unter den Kirchen, die die Tyrannei von Rom verleugnen“ zum Ausdruck brachte, und Heinrich dazu ermutigte, nachdem er angefangen hatte „einige abergläubischen Praktiken aus der Kirche zu entfernen,“ weitere Maßnahmen zu ergreifen, um „die noch verbleibenden Missstände“ zu beheben (26. 3.1539: MBW 2167; CR 3, 1788). Doch wenig Tage später verfasste er ein weiteres Schreiben, um zu protestieren, dass Heinrich – wie er gehört habe – die Einhaltung von „gewohnten Ritualen“ gefordert habe, wie Fasten, „zum Kreuz kriechen“, das Zölibat und die Ordensgelübde (1.4.1539: MBW 2175; CR 3, 1792). Cranmer schrieb er wiederum ganz offen: Er wünsche sich, dass […] Britannien [sic!], nachdem es die Tyrannei des Bischofs von Rom beendet hat, auch die Missstände behebt, die sich von Rom aus in die Kirchen verbreitet haben. Wie sind diese Dinge zu klären? Behaltet ihr die gottlosen Gesetze Roms, nachdem ihr den Autor entmachtet habt? Warum treibt ihr nicht das Gift mit dem Autor aus? (M. an Cranmer, 30. 3.1539: MBW 2170; CR 3, 1790)
Melanchthon scheint schon geahnt zu haben, was im Juni durch das Gesetz der Sechs Artikel zur Tatsache wurde, dass die theologische Richtung Englands eine ehe traditionelle Richtung einschlagen würde. Der Act of Six Articles bestätigte die Transsubstantiationslehre (die explizit beschrieben wurde, auch wenn der Begriff „Transsubstantiation“ nicht verwendet wurde), bekräftigte die Notwendigkeit des Zölibats, erklärte Ordensgelübde für auf Lebenszeit verbindlich (auch für diejenigen, deren Klöster aufgelöst wurden), bestritt die Notwendigkeit des Empfangs des Abendmahls in beiderlei Gestalt, erklärte die Ohrenbeichte für wünschenswert und behauptete, die Rechtfertigung sei eine Folge von Glauben und Werken (Bray 2004, 222– 232, Zusammenfassung 224). Im Juli 1539 erhielten die deutschen Reformatoren Nachricht über das im Juni vom Parlament verabschiedeten Gesetz. Melanchthon befürchtete, dass dieser – seiner Meinung nach – Rückschritt als Hinweis darauf zu verstehen sei, dass Heinrich sich dynastisch wieder stärker mit den Habsburgern verbinden wolle: „In England wird die fromme Lehre wieder unterdrückt und unsere Gegner siegen. Einige vermuten, dieses hängt mit den Beratungen über die Hochzeit von Kaiser Karl mit der Tochter des Königs von England zusammen. Ich habe gehört, viele seien in großer Gefahr: Möge Gott sie schützen!“ (M. an Wenzeslaus Link, 6.7.1539: MBW 2242; CR 3, 1828) In der Tat berichtete Caspar Cruciger, dass mehrere englische Reformatoren aus dem Land geflohen waren: Barnes war nach Hamburg gereist „und wagt es nicht, in das Königreich zurückzukehren, obwohl er des Königs Botschafter ist. Viele gute Männer stehen in Gefahr“ (Cruciger an Myconius, 7.7.1539: CR 3, 1830).
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Gemeinsam schrieben Luther, Melanchthon, Justus Jonas und Johannes Bugenhagen dem Kurfürsten von Sachsen, um ihn vor Heinrichs Unberechenbarkeit zu warnen: Dass Heinrich VIII. gegen sein eigenes Gewissen handelt, ist klar, denn er weiß, dass unsere Lehre und unsere Bräuche zumindest nicht gegen das Wort Gottes sind. Doch in seinen Artikeln und in seinem Edikt sagte er, einige unserer Lehrsätze sind gegen das Gesetz Gottes. […] Wir haben auch gehört, dass er über diese Lehre oft gesprochen hat und Frankreich dafür verurteilt hat, dass unsere Lehre dort verfolgt wurde, denn er wusste, dass sie richtig war. Auch hat er viele fromme Prediger wie den entmachteten Bischof Latimer […]. Doch nun verunglimpft er diese Lehren noch schlimmer als der Papst und droht mit dem Tod denen, die diese Artikel nicht akzeptieren. Eine schreckliche Verfolgung hat begonnen, viele liegen im Gefängnis und erwarten die Bestrafung. Doch eine Zeit lang verwendete er gerade diese Lehre, die er nun verfolgt, zu seinem eigenen Vorteil. (M. an den Kurfürst von Sachsen, 23.10.1539: MBW 2293; CR 3, 1865)
Heinrich – so die Einschätzung der Reformatoren – sei wankelmütig und opportunistisch: er würde lediglich versuchen, das Evangelium für seine eigenen Zwecke zu nutzen. Franciscus Burchardt, der sich als Mitglied der Schmalkaldischen Gesandtschaft in England zu dem Zeitpunkt befand, als der Act of Six Articles verabschiedet wurde und maßgeblich an den damit zusammenhängenden theologischen Auseinandersetzungen beteiligt gewesen war, schickte Melanchthon einen Bericht über diese Ereignisse (Ende Oktober 1539: MBW 2295; CR 3, 1744). Er schätzte das Handeln des Königs als auch weiterhin unberechenbar ein: Das gottlose Gesetz des Parlaments, das ihr gesehen habt, ist in der Tat verabschiedet worden, auf Betreiben vor allem der Bischöfe von London und Winchester, von denen der eine tot ist und der andere vom Hof und dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Die Bischöfe Latimer und Salisbury verweigerten die Unterschrift und traten von ihren Bistümern zurück, darüber hinaus ist aber noch nichts geschehen, denn die Inkraftsetzung wurde zunächst aufgeschoben, und der König scheint schon mit der Verhängung des Gesetzes unzufrieden zu sein und wenig Gefallen zu haben an denjenigen, die die Verabschiedung desselben so raffiniert betrieben haben.
Burkhardt betrachtete das Gesetz als Versuch, Cromwell und Cranmer zu stürzen, war aber der Überzeugung, dass Heinrich sich gegen diesen Entmachtungsversuch stellen werde: „Auch bezweifle ich nicht […], dass dieses Gesetz in Kürze wieder abgeschafft wird (wie alle guten Menschen, und vor allem die Amtsbefugten, bestätigen).“ Er berichtete von den Verhandlungen über eine Ehe zwischen Heinrich und Anna von Kleve, der Tochter des protestantischen Herzogs von Kleve, und gab sich sicher, dass diese Eheschließung dazu führen würde, dass „nicht nur das Gesetz außer Kraft gesetzt, sondern auch die wahre Lehre der Religion entgegengenommen wird.“ Vielleicht auf Grund dieses Briefes verfasste Melanchthon einen Protestbrief an Heinrich über die Sechs Artikel (1.11.1539: MBW 2298; CR 3, 1868). Er habe gehört, schrieb er, dass Latimer und andere Männer „von ausgezeichneter Gelehrsamkeit und Frömmigkeit“ verhaftet worden seien; er wünsche ihnen Kraft, wolle aber auch nicht, dass „der König sich mit dem Blut von solchen Männern beflecke, den Leuchten seiner
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Kirche, zum Triumph des römischen Antichrists.“ Das Verhalten Heinrichs beeinträchtige – so Melanchthon – auch seinen Ruf unter den Reformern: „Viele gute Menschen in Deutschland haben gehofft, dass die Regierung Heinrichs auch andere Könige dazu veranlassen würde, ihre unwürdige Grausamkeit abzulegen und Missbräuche zu bekämpfen; diese Hoffnung hat aber nun einen schweren Schlag erlitten, viele Könige sehen sich in ihrer Wut bestätigt, die Verwegenheit der Gottlosen nimmt zu, und die alten Fehler werden festgeschrieben.“ Unklar ist, ob Heinrich im Sommer 1539 wirklich unschlüssig in Religionsfragen war. Er wandte sich auf jeden Fall im Frühjahr 1540 nach seiner unglücklich arrangierten Ehe mit Anna von Kleve gegen die Reformpartei in England und insbesondere gegen Thomas Cromwell, der ihm diese Ehe vorgeschlagen hatte. Cromwell fiel dem königlichen Unmut zu Opfer. Mitte August bekam Melanchthon die erschreckende Nachricht über den Prozess gegen Cromwell und seine Hinrichtung. Er war entsetzt: „In England wurde Cromwell, der den höchsten Einfluss beim König hatte, gehängt, gevierteilt und verbrannt. Der englische Tyrann erwägt weitere Gräueltaten, von denen du in Kürze hören wirst“, schrieb er an Johannes Weinlaub (16. 8.1540: MBW 2473; CR 3, 1989). Zu diesen „Schandtaten“ gehörte auch die Scheidung von Anna von Kleve. Inzwischen bereute Melanchthon, die zweite Ausgabe der Loci communes dem englischen König gewidmet zu haben: Lass uns aufhören, den englischen Nero zu lobpreisen. Ich weiß nicht, ob du schon über seine Grausamkeit der Königin gegenüber gehört hast. Wenn du irgendetwas darüber weißt, wirst du wissen, mit welcher Haltung unsere Menschen diese Lobrede lesen werden. Ich werde das Vorwort in den Loci communes ändern und das Lob widerrufen, auch wenn es nicht sehr extravagant war. (M. an Johannes Stigel, 17. 8.1540: MBW 2474; CR 3, 1990)
In einem Brief an Myconius wiederholte er sein Entsetzen: „Darf nichts über den englischen Nero schreiben. Möge Gott dieses Monster zerstören!“ (28. 8.1540: MBW 2483; CR 3, 1996) Und an Camerarius schreibt er wenige Tage später: „Schlimme Verbrechen werden aus England berichtet. Die Scheidung von der Dame von Juliers [= Jülich bzw. Kleve, d.Vf.] wurde bereits durchgeführt und eine andere wurde geheiratet. Gute Männer unserer religiösen Auffassung wurden ermordet.“ (1.9.1540: MBW 2484; CR 3, 1997) Heinrich war nun in Wittenberg und in anderen deutschen evangelischen Kreisen zur persona non grata geworden, Melanchthon ging es allerdings in England ebenso. Im Sommer 1540 wurde ein Brief an Heinrich, in dem er die Priesterehe verteidigt hatte, ins Englische übersetzt und gedruckt. Diese Schrift verbreitete sich rasch (1.11.1539: MBW 2298; für ein Verzeichnis der englischen Ausgaben siehe MBW.T 8, 579 – 580). Ab Januar 1541 gab es eine Reihe Anklagen und Verhaftungen von Personen, die beschuldigt worden waren, das „freche Buch von Philipp Melanchthon gegen des Königs Gesetze zur christlichen Religion“ in ihrem Besitz zu haben oder es an andere verkauft zu haben. In den Berichten des königlichen Geheimrates finden sich: Verhör von Thomas Walpole (24.12.1540: LP 16, 349); Verhör von Henry Dabbe, „Schreibwarenhändler in London“ (28.12.1540: LP 16, 361); Verhör von Richard Grafton (3.1.1541: LP
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16, 422); Verhör der „Ehefrau von Blage, Lebensmittelhändler in Chepe, die [das Buch] von Richard Grafton hatte“ (4.1.1541: LP 16, 424). Melanchthon war in der Sicht der englischen Obrigkeit wieder zum Ketzer geworden. Sein Ruf unter den englischen Reformatoren wurde zudem beschädigt, als im Herbst 1540 die Doppelehe Philipps von Hessen sowie die beratende Rolle Luthers und Melanchthons bekannt wurden. Die immer stärker bedrängten englischen Anhänger der Reformation waren zutiefst irritiert. Im Dezember schrieb Cranmer an Andreas Osiander über seine Missbilligung dieser Doppelehe und fragte nach, aus welchen Gründen Melanchthon sie unterstützte. Er gab zu, sein Vertrauen zu den deutschen Theologen sei erschüttert: Wenn eine solche Doppelehe „den Früchten ihres prahlerischen neuen Evangeliums [gehöre], das bisher von englischer Seite zum Teil unterstützt worden war“, schienen ihm gerade diese Frucht nicht schriftgemäß zu sein (Cranmer an Osiander, 27.12.1539: LP 16, 357). Dieser Zwischenfall kann Cranmer darin bestärkt haben, nicht in Wittenberg, sondern in Straßburg und Zürich Vorbilder für seine Reformideen zu suchen. Mitte der 1530er Jahre weckte der Briefwechsel zwischen Heinrich VIII. und Melanchthon sowohl unter den deutschen Reformatoren als auch unter den englischen Anhängern der evangelischen Theologie die Hoffnung, dass Heinrich vielleicht doch für die protestantische Sache gewonnen werden könnte. Ab 1540 war diese Hoffnung erloschen. Heinrich bestritt zwar weiterhin jegliche Autorität des Papsts über die englische Kirche, er ließ weiterhin Klöster schließen und beschlagnahmte ihr Einkommen und ihren Besitz, auch das Verbot von Bildern und von bestimmten Altarleuchten blieb bestehen (Bray 2004, 179 – 183, bes. 180). Es wurden zudem Maßnahmen für die Auflösung von Votivkapellen und kleineren Stiftungen vorbereitet, aber keine weiteren Schritte zur Einführung der Reformation nach lutherischem oder Schweizer Vorbild. Auch der Zugang zur englischen Bibel wurde ab 1543 eingeschränkt. Die liturgische und sakramentale Praxis der englischen Kirche blieb weitgehend traditionell und der Klerus hatte zölibatär zu leben. Die Ehefrau von Cranmer floh mit ihren Kindern nach Deutschland. Eine Reformation im Sinne der deutschen und schweizerischen Reformatoren wurde erst unter Heinrichs Sohn, dem noch minderjährigen Edward VI., durch seine Regenten und Berater eingeführt.
6 Melanchthons Beziehungen zu englischen Theologen nach dem Tod Heinrichs VIII. Am 28. Januar 1547 starb Heinrich VIII. im Alter von 55 Jahren und im 38. Jahr seiner Regierungszeit. Seine theologische Politik während der letzten fünf Jahre seines Lebens hatte den Reformatoren wenig Hoffnung gegeben, auch wenn seine sechste und letzte Frau, Katharina Parr, als evangelische Sympathisantin bekannt war. Heinrichs Sohn und Erbe, Edward, der bei der Thronsteigung gerade neun Jahre alt war, wurde schon zu Lebzeiten Heinrichs von protestantischen Tutoren erzogen. Dass Melan-
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chthon über die Situation in England nach Heinrichs Tod recht schnell informiert wurde, wird aus einem Brief vom März 1547 ersichtlich, in dem Melanchthon berichtet, dass Heinrich den jungen König Edward in die Obhut von „siebzehn evangelischen Erziehungsberechtigten“ gegeben habe, darunter Cranmer (M. an Johannes Aepinus, 12. 3.1547: MBW 4647, siehe auch Schofield 2006, 153). Melanchthon gab in diesem Brief auch das Gerücht weiter, dass Heinrich „im wahren Glauben“ gestorben sei, in einem weiteren Schreiben wurde er allerdings vorsichtiger und meinte, dass Heinrich vor seinem Tod lediglich befohlen hatte, „die wahre Lehre nicht zu behindern“ (M., evtl. an Alexander Alesius, 25. 3.1547: MBW 4659; CR 6, 3797). Im Oktober 1547 erhielt Melanchthon schon wieder eine Einladung nach England, diesmal nicht vom König, sondern vom Erzbischof von Canterbury, Thomas Cranmer. Cranmer dachte auch nicht an eine politische oder theologische Gesandtschaft, sondern an ein protestantisches Konzil (Schofield 2006, 154). Unter der Regentschaft von Edwards Onkel, Edward Seymour, positionierte sich England nun klar evangelisch. Noch war jedoch nicht klar, welche Richtung der evangelischen Theologie von der englischen Kirche übernommen werden sollte. Im Januar 1548 schrieb Melanchthon an den jungen König, um ihm Gottes Segen zu wünschen: Gott möge „das Gemüt des jungen Königs so regieren, damit Gottes Herrlichkeit verherrlicht wird und sich Seelen zu ihm bekehren“ (M. an Edward VI. , 13.1.1548: MBW 5027; CR 6, 4124; Schofield 2006, 156). Er ermutigte Cranmer dazu, eine klare theologische Linie für England zu entwickeln, ohne „zweideutige Formulierungen“ wie „die des Konzils von Trient“ (Januar 1548: MBW 5103; CR 6, 4142). Im Frühjahr 1548 berichtete Melanchthon Camerarius jedoch von „schwierigen Verhandlungen“ über die Lehre, die gerade in England geführt wurden (10. 3.1548: MBW 5078; CR 6, 4168). Im Mai 1548 fanden aber ähnlich schwierige Verhandlungen über das Interim in Sachsen statt. Während Melanchthon seine Bereitschaft zur „kollegialen Einbindung“ der englischen Reformation versicherte (M. an Cranmer, 1. 5.1548: MBW 5144; CR 6, 4225), wurde seine versöhnende Einstellung zum Interim ins Englische übersetzt und in England veröffentlicht. Es entstanden Gerüchte, Melanchthon habe seine evangelische Theologie aufgegeben (Schneider 2011, mit einer von John Rogers verfassten englischen Übersetzung von Melanchthons Schrift). Trotzdem blieb Cranmer weiterhin daran interessiert, Melanchthon für England zu gewinnen. Er forderte Johannes a Lasco, Albert Hardenberg und Franciscus Dryander auf, Melanchthon zu schreiben und ihn zu bitten, nach England zu kommen (Johannes a Lasco an M., 4. 8.1548: MBW 5248; CR 7, 4316; Franciscus Dryander an M., 10. 8.1548: MBW 5254; Albert Hardenberg an M., 13. 8.1548: MBW 5259; vgl. Schofield 2006, 156). Gleichzeitig pflegte Cranmer enge Kontakte zu anderen führenden Reformatoren, vor allem Bucer in Straßburg und Bullinger in Zürich. Inzwischen war auch Cranmers theologische Einstellung eher von Zürich aus geprägt. In der eucharistischen Theologie vertrat er spätestens seit 1547 nicht mehr die lutherische Lehre von der Realpräsenz, sondern die von den Züricher Reformatoren und zum Teil auch von Bucer vertretene Auffassung von der geistlichen Präsenz Christi im Abendmahl (MacCulloch 1996, 354– 355, 379 – 383, 614– 617). Schließlich reisten an Stelle von Melanchthon
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Martin Bucer, Peter Martyr Vermigli, Paul Fagius und Bernardino Ochino nach England: Als das Interim auch in Straßburg eingeführt wurde, nahmen sie die Einladungen von Cranmer an. Bucer wurde 1549 Regius (königlicher) Professor für Theologie in Cambridge, Vermigli Regius Professor in Oxford, Fagius Dozent für Hebräisch in Cambridge und Ochino Chorherr an der Kathedrale von Canterbury sowie Prediger an der italienischen Gemeinde (MacCulloch 1996, 380 – 381). Melanchthon blieb in Wittenberg, wo er angesichts der politischen Umwälzungen in Sachsen und der theologischen Auseinandersetzungen nach Luthers Tod versuchte, die lutherische Reformation zu konsolidieren (Scheible 1997a, 170 – 205, vgl. auch Kolb 2005, 244– 270). In den nächsten drei Jahren wurden in der englischen Kirche ein neues Gebetbuch und somit ausschließlich volkssprachliche liturgische Handlungen eingeführt. Die erste Ausgabe erschien 1549, und die zweite, stark überarbeitete Fassung im Jahr 1552. Kirchen wurden weiß getüncht, Steinaltäre entfernt und traditionelle Bräuche wie das Segnen von Kerzen bei der Lichtmesse am 2. Februar, die Verwendung von Asche am Aschermittwoch sowie das Knien vor dem Kreuz am Karfreitag verboten. Währenddessen hielten Melanchthon und Cranmer eine sporadische Korrespondenz aufrecht, von der manche Briefe wohl nicht mehr vorhanden sind. Immer wieder kam von Cranmer der Vorschlag, die englische Kirche könnte ein evangelisches Konzil veranstalten, bei dem unter anderem auch Melanchthon anwesend sein sollte (Schofield 2006, 162– 164, 170 – 172). Als Bucer im Februar 1551 in Cambridge starb, schlug Cranmer vor, Melanchthon zu seinen Nachfolger als Regius Professor zu ernennen. Die endgültige Einladung dazu wurde allerdings erst am 7. Juni 1553 an Melanchthon geschickt. Cranmer ermutigte ihn dazu, nach England zu kommen und bot ihm sogar £100 für seine Reisekosten an (M. an Melanchthon, 7.6.1553: MBW 6852; vgl. dazu MacCulloch 1996, 538 – 539; Beer 1987, 185; Alsop 1990). Am 4. Juli antwortete Melanchthon eher ablehnend, schickte aber zwei Mathematikbücher als Geschenk für den inzwischen fünfzehnjährigen König Edward. Schon bevor der Brief in England ankam, war der junge König vermutlich an Tuberkulose gestorben. Nach einem neuntägigen Zwischenspiel unter der Herrschaft der von Edward bestimmten protestantischen Nachfolgerin Lady Jane Grey, übernahm am 15. Juli Edwards ältere katholische Halbschwester Maria den Thron. Zunächst erhielt Melanchthon irrtümlicherweise die Nachricht, dass Edward ermordet worden sei (M. an Albert Hardenberg, 31.10.1553: MBW 7013; CR 8, 5491). Er machte sich große Sorgen um das Schicksal von Cranmer und a Lasco und fürchtete, dass England „dem Kaiser übergeben“ worden sei und dass Karl V. vorhatte, Maria zu heiraten (M. an Georg von Anhalt, 28.7.1553: MBW 6916; vgl. Schofield 2006, 172– 173). Maria heiratete 1554, allerdings nicht Karl V., sondern dessen Sohn, Philipp von Spanien. Im Frühjahr 1554 schrieb Melanchthon Peter Martyr Vermigli, der inzwischen wieder in Straßburg angekommen war, er sei erleichtert, über seine erfolgreiche Flucht zu hören (29. 5.1554: MBW 7199); über die Nachricht von der Verhaftung und Hinrichtung von Hugh Latimer, Nicholas Ridley, John Hooper und Thomas Cranmer war er aber zutiefst beunruhigt (M. an Camerarius, 7.7.1554: MBW 7230; CR 8, 5635; an Paul Eber, 19.9.1554: MBW 7286; CR 8, 5668; an Johann von Brandenburg-Küstrin, 8. 5.1556: MBW 7813). Das Schicksal der englischen
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Reformation und ihrer Anhänger beschäftigte ihn sehr. Als er mitbekam, dass in Frankfurt und Wesel die englischen Flüchtlinge eher unfreundlich aufgenommen wurden, weil sie eben nicht Lutheraner waren, versuchte er zu intervenieren. Diese seien keine Anhänger Servets; man sollte mit ihnen verhandeln und sie über die Wahrheit belehren anstatt sie auszuweisen (Schofield 2006, 181– 184). Die 1550er Jahre waren für Melanchthon eine schwierige Zeit. Als sich die politische Lage in Sachsen stabilisierte, wurde er in eine Reihe von theologischen Streitigkeiten verwickelt: über die Adiaphora, die Rechtfertigungslehre, die Bedeutung des Gesetzes und guter Werke und über die Eucharistie. Schließlich wurde er sogar des „Kryptocalvinismus“ verdächtigt und fürchtete, ins Exil gehen zu müssen (Heinrich Bullinger an M., 1.11.1556: MBW 8013). Es blieben ihm wenig Zeit und Energie, um sich mit den Ereignissen in England oder anderen Ländern zu beschäftigen. Als er von Marias Tod im November 1558 erfuhr, hoffte er jedoch, dass unter ihrer Nachfolgerin, der protestantischen Elisabeth, das Land wieder eine protestantische Verfassung bekommen würde (M. an Johannes Stigel, 13. 5.1557: MBW 8821; CR 9, 6248; und an Albert Hardenberg, 26.1.1559: MBW 8842; CR 9, 6689; vgl. Schofield 2006, 188). Im März 1559 teilte er Elisabeth seine Hoffnung auf eine friedliche Lösung der konfessionellen Streitigkeiten mit und forderte sie auf, eine Synode über Lehre und Zeremonien zusammenzurufen, um „der kranken Kirche“ zu helfen (1. 3.1559: MBW 8880). Bald danach hörte Melanchthon, dass sich Elisabeth dem Augsburger Bekenntnis anschließen wolle. Im Oktober 1559 schickte Kurfürst August von Sachsen Elisabeth einen wahrscheinlich von Melanchthon mitverfassten Brief, in dem er diese Entscheidung lobte und sie dazu ermutigte, ein internationales theologisches Colloquium einzuberufen (Kurfürst August von Sachsen an Elisabeth I., 1.10.1559: MBW 9082). Dazu kam es nicht, Melanchthon konnte in dieser Hinsicht auch nichts mehr erreichen. Er erkrankte bald nach diesem letzten Briefkontakt und starb ein halbes Jahr später am 19. April 1560. Aus Melanchthons Briefwechsel mit und über England geht deutlich hervor, mit welchem Interesse, mit welcher Verwirrung und mit welchem Entsetzen in Wittenberg die Ereignisse in England verfolgt wurden. Seit den 1530er Jahren hofften die deutschen Reformatoren, auch Melanchthon, darauf, Heinrich VIII. wäre für die Reformation zu gewinnen. Immer wieder wurden sie enttäuscht. Trotz der vielen Einladungen setzte Melanchthon nie einen Fuß auf englischen Boden. Direkten Einfluss auf die englische Reformation nahm er auch nicht. Dennoch prägte sein Ruf als Humanist und als gemäßigter Reformer einige Aspekte der englischen Reformation. Wahrscheinlich überschätzt McEntegart die Möglichkeiten Melanchthons zur Einflussnahme auf die englischen Verhältnisse der 1530er Jahre, wenn er eine der vielen Einladungen Heinrichs VIII. akzeptiert hätte und nach England gereist wäre. Trotzdem besteht kein Zweifel, dass er mehrmals dazu aufgefordert wurde, in England zu wirken. Heinrich hätte Melanchthon auch gerne als Reformator Englands gewonnen, und man könnte spekulieren, dass damit der weitere Verlauf der Reformation unter Heinrich ein anderer gewesen wäre.
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Deutlich ist auch, dass Cranmer während der Regierungszeit Edwards VI. ebenfalls versuchte, den praeceptor Germaniae nach England zu bringen, um der englischen Reformation seine Autorität zu verleihen. Schließlich waren es aber Cranmers reformierte Freunde und Kollegen, die er für eine Übersiedlung nach England gewinnen konnte, sodass die englische Reformation stärker von einer reformierten und weniger durch eine lutherische Theologie beeinflusst und gestaltet wurde. Dennoch wurden Melanchthons Werke weiterhin in England gekauft und wohl auch gelesen. Tredwell (2006) und Kusukawa (2002) haben gezeigt, dass unter Elizabeth I. und ihrem Nachfolger, Jakob VI. (von Schottland) und I. (von England) Melanchthons naturphilosophische Werke in England einen nicht unerheblichen Einfluss hatten. Es bleibt noch zu untersuchen, ob und inwiefern Melanchthons theologische Werke weiterhin Einfluss auf die zunehmend reformierte englische Reformation nahmen.
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Herman J. Selderhuis
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Das Thema „Melanchthon und die Niederlande“ ist bisher kaum untersucht (Selderhuis 2002).* Zwar wurde schon der Einfluss Melanchthons auf die Niederlande konstatiert (Schultz Jacobi 1862, 4), aber noch nicht ausführlich nachgezeichnet. Für ein Handbuch kann hier nur eine kurzgefasste Übersicht der Melanchthonrezeption in den Niederlanden gegeben werden. Diese beschränkt sich zudem auf das 16. und 17. Jahrhundert, weil die Rezeption in der Folgezeit noch wenig erforscht ist (Beck/Van der Pol 2011, 291– 322).
1 Die Periode der frühen Reformation (bis 1566) 1.1 Schriften Die Schriften Melanchthons wurden in der Periode der frühen Reformation heimlich importiert sowie in den Niederlanden neu aufgelegt und in manchen Fällen auch übersetzt. Es geht bei diesen Schriften zum Beispiel um Melanchthons Verteidigung Luthers gegen die Pariser Theologen (Melanchthon 1522; NK 3513; Kronenberg 1948, 59), seine Randbemerkungen zur Genesis (Melanchthon 1524a; NK 4488), zu Johannes (Melanchthon 1524b) und zu Matthäus (Melanchthon 1524c; NK 4490), die Conclusiones (Kronenberg 1948, 68), die Theologica hypotyposes (Melanchthon 1523; NK 4519), die Visitationsartikel (Melanchthon 1527; NK 4518), die Syntaxis (Melanchthon 1526a; NK 4521), die Institutiones rhetoricae (Melanchthon 1527b; NK 4520) und andere rhetorische (Melanchthon 1535; Melanchthon 1532/1537; Melanchthon 1526b; NK 3514, 3516, 3517, 3518, 3520), grammatische (Melanchthon 1527c; NK 3515) und pädagogische (Melanchthon 1536; NK 3521) Schriften. In einer niederländischen Übersetzung erschien Melanchthons Kommentar zum Kolosserbrief (Melanchthon 1559; Valkema Blouw 1998, I:3402) und ein Teil der Loci über die Aufgabe der Obrigkeit, gegen kirchliche Missstände vorzugehen (Melanchthon 1553/1554; Valkema Blouw 1998, I:3403). In den kaiserlichen Erlassen gegen die reformatorische Bewegung werden Melanchthons Bücher im Beschluss vom 24. September 1525 zum ersten Mal erwähnt. Zusammen mit Johannes Bugenhagen, Andreas Bodenstein genannt Karlstadt, Johannes Oecolampadius, Franziskus Lambertus und Justus Jonas wird er als Autor häretischer Schriften aufgeführt (Kronenberg 1948, 16). Aus der in früheren Erlassen
* Dieser Aufsatz ist eine leicht überarbeitete Fassung meines Beitrags „Melanchthon und die Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert.“ In Melanchthon und Europa, 2. Teilbd. Westeuropa. MSB 6/2, hg.v. Günter Frank und Kees Meerhoff, 303 – 324. Stuttgart/Bad Cannstatt. DOI 10.1515/9783110335804-048
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noch nicht genannten Verordnung, dass es verboten ist, sich insgeheim oder öffentlich mit der Absicht zu treffen, diese Schriften zu lesen und zu diskutieren, könnte man ableiten, dass wahrscheinlich auch die Werke von Melanchthon gemeinschaftlich studiert wurden. Ab 1525 begegnen wir dem Namen Melanchthons immer wieder auf diesen Erlassen (Kronenberg 1948, 19; 22– 23). In der von der Universität Löwen aufgestellten Liste, die auf Befehl Karls V. 1550 erlassen wird, begnügt man sich mit der Vermeldung „aller Bücher von Philippus Melanchthon“ (Bakhuizen van den Brink et al. 1960, I:80). Neben den kaiserlichen Erlassen finden sich auch noch örtliche Verordnungen gegen eine Lektüre reformatorischer Schriften. Bemerkenswert ist hier der Beschluss der Stadt Leiden vom 8. Januar 1530, weil hier die Werke Melanchthons nicht wegen ihres Inhalts, sondern nur wegen ihres Autors verurteilt wurden. Die Grammatica, Dialectica und Rhetorica Melanchthons seien inhaltlich zwar nicht verwerflich, aber die Vorbilder, die er hier anwende, könnten zur Irrlehre verführen und außerdem lobe der Autor Luther. Die Leidener Obrigkeit ist der Meinung, dass der Gebrauch dieser Werke an sich ohne Gefahr ist, aber sie fürchtet die andere Gefahr, dass die jungen Leser auch Melanchthons verurteilte theologische Werke lesen würden (Knappert 1908, 114). Der Umfang der Verbreitung von Melanchthons Schriften wird aus Listen über beschlagnahmte Publikationen einigermaßen deutlich. So werden im Dezember 1526 bei einem Buchhändler in Amsterdam Melanchthons Annotationes zum Johannesevangelium und zum Matthäusevangelium beschlagnahmt (Kronenberg 1948, 44). Schultheiß Jan Huybrechtsz hat von Amts wegen eigentlich die Aufgabe, Maßnahmen gegen die neue Lehre durchzuführen. Er weigert sich jedoch, einen Führer der Täufer festzunehmen, anti-päpstliche Schriften und Bücher zu konfiszieren und muss überdies noch gestehen, die Schriften Melanchthons selber gelesen zu haben. Im Jahr 1534 wird er deshalb seines Amtes enthoben (Evenhuis 1965, I:25). 1527 kann man in Amsterdam unter anderem Melanchthons Auslegung von Johannes, Matthäus und des Galaterbriefs kaufen. Diese Tatsache ist einer der Gründe für die Klage des Vorsitzenden der Staatenversammlung am 11. März 1527, dass „besonders Aemstelredamme zeer swaerlick beswaert was vol Luthery te zijn ende zoe langer zoe meer lutherde“ (Pont 1911, 144– 145; Frédéricq 1903, V:162). Petrus Dathenus hat in Frankfurt für Godfried van Wingen in London Bücher auf der Frankfurter Messe gekauft – unter anderem einiges von Melanchthon (Hessels 1889, II:154– 156). In Emden erscheint 1559 eine niederländische Übersetzung von Melanchthons Kommentar zum Kolosserbrief (Melanchthon 1559a; Pont 1911, 265). In einem Brief vom 6. September 1563 schreibt Margarethe von Parma aus Brüssel an ihre Offiziere in Amsterdam, Löwen und Antwerpen, sie habe gehört, dass sich darunter auch eine Übersetzung der Loci communes befindet. Die Herzogin mahnt ihre Diener zu mehr Wachsamkeit und fordert tatkräftigeres Auftreten gegen eine Übertretung der Verbote (Gachard 1851, II:499). Gerard Rijm, Kämmerer im Rat von Flandern, erhält – als er noch in Löwen studiert – vom dortigen Rektor die Erlaubnis, Melanchthons Loci zu kaufen, obwohl der
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Verkauf dieses Werkes verboten ist. Rijm kauft aus reinem Interesse und möchte nur Kenntnis von der neuen Lehre nehmen. Dass diese Erlaubnis in seinem Falle gefahrlos war, zeigt sich aus der Tatsache, dass er dem Papst die Treue hielt und 1566 und 1567 in seiner Funktion als Ratsherr gegen die Bilderstürmer vorging (DeCavele 1975, I:75).
1.2 Schriften In der Zeit zwischen dem Antritt Melanchthons als Professor 1518 bis zu seinem Tod 1560 waren mehr als 250 Studenten aus den Niederlanden an der Wittenberger Universität immatrikuliert, 90 von ihnen studierten in der Periode nach Luthers Tod 1546 (Schultz Jacobi 1862, 22– 31). Selbstverständlich gab es in dieser Zeit auch Studenten, die in Wittenberg die medizinische und juristische Fakultät besuchten, die meisten waren jedoch Studenten der Theologie. Ohne Zweifel werden diese Studenten Kontakte mit Melanchthon gehabt haben (Moll 1857, 271– 273), und diese Kontakte werden auch nicht ohne Auswirkung gewesen sein. Eine genauere Erforschung ihrer Biographien und des Briefwechsels mit Melanchthon könnten hierzu mehr Einzelheiten ans Licht bringen. Einer der niederländischen Studenten, die mit Melanchthon in Kontakt kommen, ist Abel Eppens. Eppens ist ein gebildeter Bauer aus Groningen, der als Vorbereitung auf die Landwirtschaft eine peregrinatio academica unternimmt und auf dieser Reise auch Wittenberg besucht. In den letzten zwei Lebensjahren Melanchthons ist Eppens in Wittenberg und er berichtet selbst, an der Beerdigung Melanchthons teilgenommen zu haben (Bergsma 1988, 25). Offensichtlich hat der Unterricht Melanchthons bei Eppens gefruchtet, denn in seiner Chronik unterstreicht er eine eigene Aussage mit den Worten: „We ock Philippus Melanthon plegede tseggen in sijn lectiën.“ (Bergsma 1988, 24) Olivier de Bock (Bockius) aus Allst beginnt 1554 das Studium bei Melanchthon. Einige Jahre später wird er Rektor des Heidelberger Paedagogiums (DeCavele 1975, 114). Deutlich erkennbar ist der Einfluss Melanchthons auf Anastasius Veluanus, einen Pfarrer aus dem Dorf Garderen, der einen wesentlichen Beitrag zur Reformation der nördlichen Niederlande lieferte. In seiner Entwicklung vom alten Glauben zu einer evangelischen Überzeugung hat das Werk Melanchthons eine bedeutende Rolle gespielt (Morssink 1986, 66 – 70). Der Biograph des Anastasius Veluanus gibt als möglichen Grund an, dass Veluanus Schüler bei Lambert Ludolph Helm genannt Pithopoeus war, bei dem Rektor der Lateinschule in Amersfoort, der mit Melanchthon im Briefwechsel stand (Morssink 1986, 66). Das bekannteste Werk von Veluanus Der Leken Wechwyser zeigt einen starken Einfluss von Melanchthons Loci (Morssink 1986, 52– 55). In seiner Zurückweisung der lutherischen Abendmahlslehre zitiert Veluanus sogar drei Mal den Rat Melanchthons an Friedrich III. in Heidelberg, dafür Sorge zu tragen, dass der Abendmahlsstreit beendet werde. Veluanus pflichtet Melanchthon in seiner vermittelnden Position und in seiner Zurückweisung der Ubiquitätslehre bei (Morssink 1986, 147). Er hofft zugleich, dass Melanchthon die Richtigkeit der reformierten Abendmahlslehre noch erkennen wird (Morssink 1986, 139 – 140). Melanchthon ist
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außerdem Veluanus’ „geistlicher Vater“ für dessen Verständnis des sogenannten „kleinen freien Willens“ (Morssink 1986, 82).
1.3 Weitere Beziehungen Eloi Pruystinck, geboren in Antwerpen und Führer der niederländischen Libertiner, wollte seine Bewegung mit der Reformation Luthers vereinigen. Im Jahr 1525 macht er eine Reise nach Wittenberg, wo er mit Melanchthon disputiert. Luther, der dieser Disputation beiwohnt, schreibt sofort einen Brief mit deutlicher Ablehnung an die Protestanten in Antwerpen (Mack Crew 1978, 56). Sehr direkt muss Melanchthon sich mit Gläubigen aus den Niederlanden beschäftigen, als es um die Position der Flüchtlingsgemeinden geht (Scheible 1997a, 237– 240). Die vier Gemeinden, die in London entstanden sind und zum großen Teil aus Flüchtlingen aus den Niederlanden bestehen, werden in Folge des Vorgehens von Königin Maria I. Tudor, die 1553 an die Macht gekommen war, gezwungen, England zu verlassen. Eine Gruppe englischer und niederländischer Flüchtlinge erreicht Wesel und möchte in dieser Stadt eine selbständige Gemeinde bilden. Seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 fordert der Rat der Stadt Wesel jedoch auch von dieser Gruppe eine Zustimmung zur Confessio Augustana. Weil die geflüchtete Gruppe damit nicht einverstanden ist, entsteht eine Diskussion über das Abendmahl, in der auch Melanchthon um ein Gutachten gebeten wird (Neuser 1968b, 28 – 49). In diesem Gutachten vom 13. November 1556 behauptet er, dass diese Gläubigen nicht vertrieben werden dürften, da sie keine Ketzer wie zum Beispiel die Täufer seien. Seine Schlussfolgerung ist, dass die Flüchtlinge eine selbständige Gemeinde bilden dürften. Obwohl der Weseler Rat dieses Gutachten akzeptiert, erreichen die lutherischen Prediger, dass die Flüchtlinge dennoch aus der Stadt ausgewiesen werden. Von dort zieht die Gruppe nach Frankfurt a.M. Weil auch hier der Rat positiv urteilt, die lutherischen Prediger aber negativ zur Sache stehen, wird Melanchthon erneut um eine Stellungnahme gebeten. Erneut schreibt der Wittenberger, dass es nicht erlaubt sei, diese Flüchtlinge zu vertreiben, nur weil sie in der Abendmahlsfrage eine andere Meinung verträten und weiterhin völlig mit der lutherischen Lehre übereinstimmten. Melanchthon schlägt vor, die Flüchtlinge auf eine Synode einzuladen und mit ihnen zu reden. Es ist dann Sache der Obrigkeit, dafür zu sorgen, dass es zu einer gemeinschaftlichen Abendmahlslehre und Praxis komme. Ein Jahr nach dem Tod Melanchthons werden die Flüchtlinge auch aus Frankfurt vertrieben. Eine ausführliche Korrespondenz darf als Beweis für die intensiven Kontakte zwischen Albert Hardenberg und Melanchthon gelten (Janse 1994). Wie sein Name schon andeutet, wurde Hardenberg im Osten der nördlichen Niederlande geboren und erzogen. Dieser Theologe gilt aber – obwohl er Student in Wittenberg war – nicht so sehr als Schüler, sondern vor allem als Freund und Kollege von Melanchthon. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht gerade die Tatsache, dass Hardenberg in der Abendmahlsfrage sehr wahrscheinlich Melanchthon beeinflusst hat (Janse 1994, 483).
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Es ist behauptet worden, dass die Lutheraner in den Niederlanden überwiegend melanchthonianisch waren (Knappert 1908, 247). Diese Behauptung ist aber nicht unwidersprochen geblieben; die zukünftige Forschung sollte deshalb zu einer näheren Bestimmung des Melanchthonianismus führen (Pont 1929). Als beispielhaftes Modell eines „melanchthonianischen Luthertums“ könnte der Amsterdamer Kaufmann Adriaan Pauw gelten, der das einzige nicht aus dem Osten kommende Mitglied der deutschsprachigen, reformatorisch orientierten Handelszunft Hamburger Koor war.Von dieser Zunft ist die melanchthonianische Gesinnung bekannt (Loosjes 1921; Koenen 1842). Eine Erklärung hierfür könnte die geographische Nähe des Rheinlands sein, wo der Lutheranismus ebenfalls stark von Melanchthon geprägt wurde und wo man sich vom strengen Lutheranismus distanzierte (Pont 1929, 180). Zugleich aber muss gesagt werden, dass im Ganzen der Einfluss von Melanchthon in dieser Periode beschränkt war, weil überhaupt der lutherische Einfluss in den Niederlanden nur gering war. Attraktiv war Melanchthon noch am meisten wegen seiner theologischen Verwandtschaft mit Calvin. Das aber ist zugleich auch die Erklärung für die Tatsache, dass man dem Namen Melanchthons in den Niederlanden der frühen Neuzeit so wenig begegnet. Der Abstand zwischen Melanchthon und Calvin ist nicht so groß und wenn man die kirchlichen und politischen Entwicklungen in den Niederlanden betrachtet, so war der Übertritt der Melanchthonianer zum Calvinismus eine naheliegende Konsequenz. So sind zum Beispiel die Studenten aus Friesland, die nach dem Tode Luthers in Wittenberg studierten und zu Schülern Melanchthons wurden, nach ihrer Rückkehr in die Niederlande größtenteils zum Calvinismus übergetreten (Loosjes 1921, 32). Dieser Sachverhalt zeigt beispielhaft, warum die Spurensuche nach dem Einfluss Melanchthons in den Niederlanden generell so schwierig ist. Der Calvinismus absorbierte einen Großteil derjenigen Theologen, die sich anfänglich an Melanchthon orientierten.
2 Die Periode bis zum Ende der Synode von Dordrecht (1619) 2.1 Der Heidelberger Katechismus Erkennbar, aber nicht abschließend zu klären ist der Einfluss, den Melanchthon auf die Niederlande über den Heidelberger Katechismus ausgeübt hat. Der Heidelberger Katechismus wurde schon kurz nach seinem Erscheinen 1563 ins Niederländische übersetzt und diente sofort als Lehrbuch für Kirche und Schule (Nauta 1963, 39 – 62; Graffmann 1963, 63 – 77). Die Diskussion über die Autorenschaft des Heidelberger Katechismus hat zu dem Konsens geführt, dass der größte Teil des Inhaltes von Zacharias Ursinus verfasst wurde und dass – obwohl Ursinus theologisch auch eigene Wege ging – der Katechismus deshalb eine melanchthonianische Prägung hat (Apperloo und Selderhuis
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2013; Visser 1997, 379). In diesem Zusammenhang wird vor allem auf die Bundeslehre mit ihrem Nachdruck auf die Heilszusage hingewiesen und auf das Faktum, dass die Prädestination nicht separat besprochen wird. Diese Merkmale werden als Zeichen des Einflusses von Melanchthon gedeutet (Visser 1997, 388 – 389), obwohl auch klar ist, dass es Einflüsse von Heinrich Bullinger, Calvin und Ulrich Zwingli gibt (Bierma 2005a, 102). Der Kommentar, den Ursinus zu dem Heidelberger Katechismus schrieb (Ursinus 1591), wurde nach seinem Tode von Festus Hommius übersetzt und veröffentlicht unter den Titel Het Schat-Boeck der Christelyke Leere ofte Uytlegginghe over den Catechismus. Dieses Werk des Melanchthonschülers Ursinus erfreute sich in den Niederlanden einer großen Beliebtheit, es erschien im Jahr 1650 bereits in der neunten Auflage. Der Einfluss Melanchthons auf die niederländische Föderaltheologie zieht seine Spur aus Heidelberg sowohl über Ursinus als auch über Kaspar Olevianus (Schrenk [1923] 1985). Ursinus arbeitet die Bemerkungen Melanchthons über ein von Natur her allen Völkern bekanntes Gesetz weiter aus zu seiner Lehre eines Naturbundes. Franciscus Gomarus, der in Heidelberg bei Ursinus studierte, spricht in seiner Inaugurationsrede 1594 in Leiden von einem foedus naturale und einem foedus supernaturale. Diese zwei Begriffe werden seitdem zum Beispiel auch von Johannes Coccejus verwendet (Van Asselt 1997, 189). Coccejus beruft sich außerdem nachdrücklich auf Olevianus (Van Asselt 1997, 102), der seinerseits klar die Methode und Terminologie Melanchthons verwendet (Bierma 1996).
2.2 Die Synode von Dordrecht (1618 – 1619) Person und Werk Melanchthons werden eingehend in den Streit zwischen Remonstranten und Kontraremonstranten hineingezogen. Melanchthon wird von den Remonstranten als ein Theologe angeführt, der zwar reformiert gewesen sei, aber dennoch nicht die gleiche Auffassung über die Prädestination gehabt hätte wie Theodor von Beza. So wird vom deutschen Theologen Johannes Holmannus (De Bie en Loosjes 1931, IV:176 – 178), der in Wittenberg bei Melanchthon studiert hatte und im Jahr 1582 zum Professor an der Leidener Universität ernannt wurde, berichtet, dass er in der Lehre der Erwählung kein Nachfolger von Calvin und Beza, sondern von Melanchthon war. Die Theologie Melanchthons muss – wie Holmannus sagt – auch als die „ausgezeichnetste und meist erbauliche (de bequaemste en stichtelijkste)“ gewertet werden (Brandt 1671, I: 558). Diese Entscheidung für die „Melanchthonische Theologie“ (Brandt 1671, I:558) war kein Hinderungsgrund für seine Berufung nach Leiden. Seine Anstellung diente einige Zeit später den Leidener Kuratoren als Begründung dafür, Jacobus Arminius auf die seit dem Tode von Holmannus 1586 offene Stelle zu berufen, gegen die Kritik an Arminius’ Auffassung von der Erwählung. Unter Verweis auf die Anstellung von Hollmannus wurde behauptet, dass Arminius in der Prädestinationsfrage zwar nicht der gleichen Meinung sei wie Gomarus, aber trotzdem Professor sein könnte (Brandt 1674, I:558; Brandt 1704, II: 47– 48; Van Itterzon [1930] 1979, 90). Eine Meldung wert ist übrigens, dass die Opera Omnia von Melanchthon in die Lei-
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dener Universitätsbibliothek gerieten, weil sie Bestandteil der Bibliothek von Holmannus waren. Der Professor hatte testamentarisch bestimmt, dass seine Bücher nach seinem Tode der Universität von Leiden geschenkt werden sollten (Hulshoff Pol 1975, 399; 422). Wiederholt wird auf Melanchthon hingewiesen, um mit ihm das Recht einer von Calvin abweichenden Prädestinationslehre zu verteidigen. So benutzt der Leidener Prediger Johannes Corvinus Melanchthon als Zeuge gegen Gomarus und pro Arminius (Itterzon 1979, 162). Als 1619 die Synode von Südholland genau Bescheid wissen will, wie der Leidener Gerardus Vossius zur Erwählungslehre steht, antwortet er, die Beschlüsse von Dordrecht akzeptieren zu können, wenn diese in Übereinstimmung mit den Positionen Melanchthons zur Erwählung in seinen späteren Werken ausgelegt würden (Brandt 1704, III:896 – 899; Rademaker 1967). Auch Johannes Arnoldus Rodingenus, Pfarrer in Hoorn, erklärt in einer Sitzung der Deputierten der Partikularsynode Nordhollands in Hoorn 1618, „dat hy int poinct van de predestinatie niet met de Confessie der Nederlantsche kercken strictelyk ghenoomen maer met MELANCHTHONE ghevoelde, midtsgaders in alle poincten daeraen cleevende.“ (Reitsma und Van Veen 1893, II: 57) In der Diskussion über den freien Willen wird oft darauf verwiesen, dass Melanchthon hierzu eine andere Meinung als Calvin gehabt hätte, Calvin aber trotzdem eine Vorrede zur französischen Ausgabe der Loci theologici geschrieben hätte, und dass außerdem Beza voller Bewunderung für Melanchthon gewesen sei (Grotius 1613, 149, par. 59; Wtenbogaert 1615, 143 – 145). Zur Unterstützung der remonstrantischen Auffassung über den freien Willen erschien 1611 eine niederländische Übersetzung des Kapitels über die Sünde aus den Loci theologici (Melanchthon 1611). Simon Goulart verteidigt sich ebenfalls mit Melanchthon gegen den Vorwurf, er sei nicht reformiert. Die Meinung, dass ein Mensch ohne seinen eigenen Willen in Gnade angenommen werde, stehe im Widerspruch zum Wort Gottes und zur menschlichen Vernunft, aber auch zur „Lehre der reformierten Kirche, welche lehrt in den allgemeinen theologischen Verhandlungen Melanchthons, gedruckt in Genf, mit denen die von Genf gut bekannt waren, dass es drei Ursachen gibt für die Bekehrung des Menschen. 1. Der Heilige Geist. 2. Das Wort Gottes. 3. Der Wille des Menschen.“ (Brandt 1704, II:271) Die Loci communes von Melanchthon gelten also als die reformierte Lehre, und das wird noch einmal unterstrichen durch die Tatsache, dass die Loci in Genf veröffentlicht wurden. Die Provinzsynode von Geldern und Zutphen erklärt noch ein halbes Jahr vor der Eröffnung der nationalen Synode, dass die Auffassung von Melanchthon – genauso wie die Heinrich Bullingers – ganz und gar reformiert sei (Reitsma und Van Veen 1895, IV:301). Diese Auffassung wird ebenfalls von Adrianus Joannis in einer Schrift vertreten, die er 1618 als einen letzten Versuch, die Eskalation des Konfliktes zu verhindern, veröffentlicht (Joannis 1618; Hammer 1967, 799). Joannis präsentiert Calvin und Melanchthon als Theologen, die bezüglich der Prädestination nicht ganz gleicher Meinung waren und sich dennoch weder vollkommen zerstritten noch gegenseitig verketzert hätten. Auch Johannes Wtenbogaert argumentiert, dass „Calvinus und
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Melanchthon beide die Prädestination lehrten, der erste die absolute und der zweite die konditionale Prädestination, und ungeachtet dieses Unterschieds den christlichen Frieden und Freundschaft behalten hatten.“ (Brandt 1704, II:327) Trotz dieser kirchlichen Verlautbarungen und gelehrten Stellungnahmen erhöht sich allmählich die Spannung zwischen beiden Strömungen in einem Ausmaß, dass einige – und dies verdeutlicht eine Notiz von Fredericus Sande, Bürgermeister von Arnheim und später Rat in Geldern und Zutphen – „mit einem derartigen Hass gegen Neuigkeiten erfüllt sind, dass sie sogar diejenigen nicht ertragen können, die Melanchthons Darstellungsweise (tractandi methodo) vor derjenigen Calvins bevorzugen.“ (Van der Woude 1963, 448) In der Diskussion zwischen Remonstranten und Kontraremonstranten wird von remonstrantischer Seite behauptet, dass die calvinistische Auffassung zur Prädestination eine radikalere und vor allem neuere Ansicht darstellt als die ursprünglich in den Niederlanden gängige, wie zum Beispiel diejenige Melanchthons (Brandt 1704, II:248). Auch was den Aufgabenbereich der Obrigkeit angeht, wird Melanchthon für die remonstrantische Sache beansprucht. Wtenbogaert zum Beispiel beruft sich auf den Wittenberger wegen dessen Auffassung, dass die Obrigkeit das Recht habe, die kirchlichen Versammlungen einzuberufen (De Visser 1926, 345). Dies wird auch der Grund dafür sein, dass 1619 eine niederländische Übersetzung von Melanchthons Traktat über die Aufgaben der Obrigkeit erscheint (Melanchthon 1619, 381). Schließlich werden all diese Hinweise auf Melanchthon und seine Beziehung zu Calvin noch einmal in dem Brief, den die Remonstranten ihren fünf Artikeln hinzufügen, offiziell in Worte gefasst. Man erklärt, „dass es zwischen Calvinus und Melanchthon keinen anderen Unterschied gibt, als nur in der Reihenfolge; dass außerdem Melanchthon in seinen ersten Schriften nichts verbessert und nichts geändert hat als nur die Art der Darstellung.“ (Brandt 1704, III: 516) Man fühlt sich mit Melanchthon verbunden, auch weil er „sich einige Jahre lang derselben üblen Nachrede unterworfen sah, der wir unterworfen sind, als ob er mit den Papisten Korrespondenz geführt hatte.“ (Brandt 1704, III: 517) Aus der Sicht der Remonstranten sind die Kontraremonstranten die „Flacianer“, die eine blühende Kirche lieber vernichten, als dass sie die Meinung der Remonstranten hätten ertragen wollen. Wahrscheinlich hegte man mit diesem Vergleich die Hoffnung, die Obrigkeit, an die dieser Brief adressiert war, hinsichtlich der drohenden Gefahr einer Eskalation alarmieren zu können. Wenn die Remonstranten die Philippisten sind und die Kontraremonstranten die Flacianer, sollte auch für die Obrigkeit nach Meinung der Remonstranten absolut klar sein, welche Gruppe recht habe. Den Kontraremonstranten wird vorgeworfen, dass sie „sogar mit Gewalt, wie mit den Haaren Melanchthon auf ihre Seite zu ziehen versuchen.“ (Brandt 1704, III:518) Sie bemühen sich nämlich, glauben zu machen, dass er genauso über die Prädestination gelehrt habe wie Calvin und Beza. Ihrer Meinung nach hat Melanchthon in der Frühzeit der Reformation den „eigenen Willen“ als Reaktion auf die päpstliche pelagianische
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Lehre von den guten Werken so kräftig bestritten (Brandt 1704, III: 518). Später aber sei Melanchthon dann zur Einsicht gekommen: Jedoch als er mit mehr Licht der Wahrheit durchleuchtet war, hat er,wie es einem untertänigen und getreuen Diener Gottes geziemt, sich sein ganzes Leben schwer bemüht auszurotten, was er in Unvorsichtigkeit übel angepflanzt hatte, sogar ohne dass es Luther missfiel, und da folgte er dem lobwürdigen Exempel von Augustin, der seine Irrtümer hat verbessert, und man würde wünschen, dass diese seine Offenherzigkeit, Aufrichtigkeit und Sittlichkeit heutzutage mehr Nachfolger haben würde. (Brandt 1704, III:519)
Melanchthons frühe Aussagen zum freien Willen als „üble Unvorsichtigkeit“ und als „Irrtum“ zu deuten, wird wahrscheinlich nur wenige überzeugt haben. So bleibt diese Ansicht nicht unwidersprochen. In einer anonymen Flugschrift, die im Januar des Jahres 1618 veröffentlicht wurde, wird Melanchthon als Zeuge gegen die remonstrantische Auffassung von der Macht der Obrigkeit angeführt (N.N. 1618; Hammer 1967, 797). Ebenfalls bestreitet der Autor, „dass Bullinger und Melanchthon, Calvin und Beza nicht einer Meinung gewesen wären.“ (N.N. 1618, 7). Titel und Inhalt der Schrift sollen verdeutlichen, dass beide Parteien sich für ihre Ansichten auf denselben Zeugen berufen könnten. Die Schlussfolgerung ist demzufolge, dass es wegen der zur Debatte stehenden Themen zu keiner Kirchenspaltung kommen sollte. Ungeachtet dieser Bemühungen läuft die Synode von Dordrecht doch auf einen Bruch der reformierten Kirche hinaus. Die remonstrantische Inanspruchnahme Melanchthons bedeutet aber nicht, dass Melanchthon bei den calvinistischen Reformierten keine Rolle mehr spielte. Das wird im Fall des Johannes Arnoldus Rodingenus deutlich. Wie schon gesagt, hat sich der Pfarrer aus Hoorn für seine Prädestinationslehre auf Melanchthon berufen. Nach Abschluss der nationalen Synode wird er erneut zu einer kirchlichen Anhörung geladen und macht die Aussage, bei der Interpretation Melanchthons bleiben zu wollen und die Canones von Dordt nicht akzeptieren zu können. Die Provinzsynode von Nordholland erklärt aber, dass Arnoldus sich zu Unrecht auf Melanchthon berufen und sich die Interpretation von dessen Theologie nur zurechtgelegt habe (Reitsma und Van Veen 1893, II:76). Die Synode spricht damit aus, dass Melanchthons Prädestinationslehre ihrer Ansicht nach dem reformierten Bekenntnis entspricht.
3 Die Periode seit 1619 bis zum Ende des 17. Jahrhunderts 3.1 Melanchthon im Urteil der Historiker In dieser Periode setzt sich die Auffassung durch, dass die calvinistische Reformation eigentlich ein Fremdkörper in der Reformation der Niederlande gewesen sei. Zu Beginn habe es die Linie Erasmus–Melanchthon–Bullinger gegeben, mit Vertretern einer
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gemäßigten Erwählungslehre. Als Folge der Beschlüsse von Dordrecht habe sich dann die Genfer Linie der Reformation durchgesetzt. Ein Vertreter dieser Meinung ist der Rechtsgelehrte Hugo Grotius, der die Loci communes von Melanchthon zu den Büchern zählt, die bis zu der Synode von Dordrecht in den Niederlanden mit Gefallen („aanghenaamheyt“) gelesen worden seien (Grotius 1622, 31– 32; Grotius 1613, 27). Franciscus Burmann, reformierter Theologe, übernimmt am 12. November 1662 sein Amt mit einer Inaugurationsrede über die Schicksale der christlichen Lehre. Auffallend in seiner Übersicht sind drei Punkte. Er redet mit keinem Wort über die Synode von Dordrecht, er erhebt Zwingli zum Haupt der Reformatoren und er stuft Melanchthon höher ein als Calvin. Burmann erklärt, dass Theologie nicht betrieben werde, um haargenau komplizierte Fragen zu lösen – das ist ein deutlicher Hinweis auf Dordt –, sondern um sich mit dem zu beschäftigen, was dem Aufbau des kirchlichen Lebens diene (Cramer 1932). Der remonstrantische Historiker Geeraerdt Brandt versucht in seiner Beschreibung der Reformation in den Niederlanden klarzustellen, dass es vor der Synode von Dordrecht eine deutliche Linie von Melanchthon zur Reformation in den Niederlanden gegeben habe und von dort zu den Remonstranten (Zilverberg 1968 – 1969, 37– 58). Brandt ist voller Lob über Melanchthon und sagt er, sei „ein Mann, der mit seinem großen Verstand und Urteil, seiner Gelehrtheit und Liebe für den Frieden viele seiner Zeitgenossen und Brüder überstieg, […].“ (Brandt 1674, I: Anm. 3) Statt wie Luther in der Diskussion über den freien Willen scharf gegen Erasmus von Rotterdam zu schreiben, habe Melanchthon die Ausführungen von Erasmus auf eine gute Weise verarbeitet und sei deshalb in der Lage gewesen, viel vorsichtiger und vernünftiger über die Prädestination zu sprechen (Brandt 1674, I:98 – 99). Erasmus – der Niederländer – habe Melanchthon gedanklich neue Horizonte eröffnet, und diese Linie sei dann von den niederländischen Theologen aufgenommen und weitergeführt worden. Die andere Linie sei die Richtung Calvins; und diese Linie sei, noch radikaler als bei Augustin, über Beza, Ursinus und Johannes Piscator fortgesetzt worden. Brandt verweist außerdem darauf, dass Beza seine Position in Genf gelehrt und Ursinus und Piscator sie in Deutschland verbreitet hätten (Brandt 1704, II:55). Brandt will hiermit verdeutlichen, wie „ausländisch“ und damit fremd diese Lehre in den Niederlanden eigentlich ist. Als Beispiel für den frühen Widerstand gegen Calvins Prädestinationslehre erwähnt er die Erklärung von Clement Maertens, dem ersten reformierten Pfarrer in Hoorn, „dass er von Anfang seines Dienstes an, was die Prädestination anbelangt, keine andere Auffassung entweder gehabt noch gelehrt hatte als diejenige Melanchthons.“ (Brandt 1674, I:550) Diese Inanspruchnahme Melanchthons wird von Jacob Trigland, Historiker der Kontraremonstranten, bestritten (Trigland 1650). Trigland möchte eine eigene, objektive Beschreibung der Geschehnisse in Bezug auf Dordrecht geben. Mit diesem Ziel vor Augen geht er kritisch auf die remonstrantische Darstellung der Tatsachen ein, wie diese von Wtenbogaert gegeben ist. So stellt er auch den remonstrantischen Rekurs auf Melanchthon zur Diskussion. Trigland wirft Wtenbogaert und Hugo Grotius vor, dass sie Melanchthon zum Arminianer machen wollen (Trigland 1650, 66). Mit ausführli-
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chen, übersetzten Zitaten aus Melanchthons Werken will Trigland gerade das Gegenteil beweisen, dass nämlich der Wittenberger mit Calvin übereinstimmte und demnach eindeutig reformierte Positionen vertreten habe. Trigland verneint die Existenz zweier Traditionen und sagt dazu, dass der Unterschied – was Melanchthon anbelange – rein methodisch sei und sich nicht auf einen materiellen Unterschied in der Erwählungsfrage beziehe. Trigland bestreitet die remonstrantische Behauptung, Melanchthon würde genau wie sie die allgemeine Gnade und den freien Willen als Wahl für oder gegen den Glauben lehren (Trigland 1650, 340). Melanchthon wähle für die Darstellung der Erwählungslehre nur andere Begriffe, um damit zu vermeiden, dass Gott als Autor der Sünde aufgefasst werde, und um damit gleichzeitig zu verhindern, dass die Menschen die Erwählung untersuchen würden, anstatt sich auf den Glauben an Christus zu richten (Trigland 1650, 66 – 67). Diese Unterschiede in der Darstellung und im Vokabular würden aber keineswegs einen Unterschied in der Sache bedeuten (Trigland 1650, 69). Bemerkenswert ist, dass Trigland den Unterschied so beschreibt, dass Melanchthon die Erwählung „von hinten“ und Calvin diese „von vorne“ behandele (Trigland 1650, 69). Calvin beginne beim Geber des Glaubens, Melanchthon dagegen beim Glauben und komme von daher erst danach zur Erwählung. Melanchthon stimme in der Prädestination mit Calvin überein und wolle nur verhüten, dass der Satan sich der Prädestination bedienen und versuchen könnte, die Menschen von Glauben abzuziehen (Trigland 1650, 79). Auch von Trigland wird Melanchthon ausdrücklich zur reformierten Tradition gerechnet und so eng wie möglich an Calvin herangezogen.
3.2 Scholastik und Pietismus Melanchthon ist auch von großer Bedeutung für das Aufkommen des niederländischen Pietismus. Obwohl die Bedeutung Melanchthons für die „Nähere Reformation“ – wie der niederländische Pietismus gedeutet wird – noch untersucht werden muss, ist dennoch klar, dass seine Lehre des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium äußerst einflussreich war. Für viele Repräsentanten der „Näheren Reformation“ war besonders wichtig, dass nach ihrer Interpretation bei Melanchthon mit dem Verhältnis von Gesetz und Evangelium eine chronologische Reihenfolge definiert wurde (Graafland 1986, 85 – 125). Konkret greifbar wird Melanchthons Einfluss durch den Heidelberger Katechismus: Die Dreiteilung „Elend, Erlösung und Dankbarkeit“ wird dann allerdings in den Kreisen des niederländischen Pietismus nicht mehr als eine pädagogische Ordnung betrachtet, sondern als eine zeitliche Abfolge, bei der die Kenntnis der Sünde der Kenntnis Christi vorangehen muss. Dass Melanchthon zur Zeit der remonstrantischen Streitigkeiten von den Remonstranten als Zeuge für ihre Auffassung zur Prädestination herangezogen wurde, bedeutete keineswegs, dass er dadurch bei den Kontraremonstranten aus dem Blickfeld verschwunden war. Der Leidener Professor Andreas Rivetus verteidigt Melanchthon und dessen Confessio Augustana ausführlich gegen die kritischen Rand-
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bemerkungen, die Hugo Grotius dazu schrieb (Rivet 1660, 925 – 978). Auch die Schriften der Vertreter der „Näheren Reformation“ zeigen, dass Melanchthon immer wieder in der Reihe empfehlenswerter Theologen erwähnt wird. Es ist deshalb nur eine Ausnahme, wenn bei Simon Oomius die Warnung gegen die „Melanchthonianer“ gehört wird, die in ihrer Auffassung über Glauben und Erlösung den Remonstranten zu nahe kommen würden (Exalto 1989, 157). Gisbertus Voetius, der wichtigste und bekannteste Theologe der „Näheren Reformation“ und der reformierten Scholastik, scheint mit Anerkennung die Werke Melanchthons gelesen zu haben. Der Auktionskatalog von Voetius’ Bibliothek weist eine große Zahl von Melanchthonschriften auf (Voetius 1996, 593 Anm. 414). Für seine eigene Bildung liest Voetius Melanchthons Commentarius De Anima (Duker [1897] 1989, I:55). Mit Zustimmung weist er in seinem De euthanasia auf Melanchthons bekannten Satz hin, dass wir den Tod nicht zu fürchten brauchen, und bezeugt mit dem Wittenberger den positiven Aspekt der mit dem Sterben verbundenen Freude über die Erlösung von der „rabies theologorum“ (Voetius 1659, 682). In Voetius’ Praxis der Gottesfurcht verwendet er dieses Zitat erneut, jetzt aber mit der Erklärung, dass mit diesen „rasenden“ Theologen „hauptsächlich einige undankbare Schüler von ihm, oder Menschen, die seine Gunst genossen hatten“, gemeint wurden (Voetius 1996, II:437). Auch weist er unter Beifall ausführlich auf Melanchthons Examen theologicum hin (Voetius 1996, II:571; 576). Vor allem zur geistlichen Erbauung und für die persönliche Frömmigkeit wird die Lektüre von Melanchthons Schriften empfohlen: An vielen Stellen in seinen Allgemeinen Lehrstücken [gemeint sind die Loci, d.Vf.], in seiner Chronik, in Briefen, Gutachten und anderen Werken hat Melanchthon gottselige Vertröstungen und Ermahnungen aufgenommen, und außerdem Gebete, Gelübde und gottselige Verseufzungen. Es wäre zu wünschen, dass alle Prediger und Theologen ihn in diesem nachfolgen würden. (Voetius 1996, II:593)
Es sind vor allem die pädagogischen Werke Melanchthons, die in den Niederlanden benutzt wurden. Sehr wahrscheinlich wurde seine griechische Grammatik, die Institutiones Linguae Graecae (1518, 44. Auflage 1622), an der Universität Leiden als Textbuch verwendet (Waszink 1975, 172). Die Synode von Middelburg (1581) beauftragte zwei Deputierte, mit den Professoren von Leiden über die Reformation der Schulen zu reden. In diesen Gesprächen sollte auch die Frage nach guten Lehrbüchern für die Lateinschulen zur Diskussion gestellt werden, und die Synode wies dabei namentlich auf die Bücher Melanchthons hin (Rutgers [1899] 1980, 466). 1655 veröffentlicht Olferd Hendriks Belida, Rektor des Gymnasium in Harlingen (Friesland), ein kleines Buch mit dem Titel: Melanchthon Graecissans sive syntaxis Latino-Graeca. Die friesische Synode von 1666 nimmt das Buch zur Kenntnis und empfiehlt es nachdrücklich als Lehrbuch (Kalma 1990, 296). Lucas Trelcatius (1542– 1602) ist der erste Professor, der in Leiden mit einer Vorlesung über die Loci communes beginnt (Petit 1894; Molhuyzen 1913, I). Weiterhin zeigt sich ein deutlicher Einfluss Melanchthons auf das theologische Denken im 17. Jahrhundert, wenn es um die Problematik der Gottesbeweise geht. Bei
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bedeutenden Theologen wie Franciscus Junius und Franciscus Gomarus ist dieser Einfluss konkret nachweisbar (Platt 1982, 139 – 140; 144). Es bleibt für die zukünftige Forschung eine wichtige Aufgabe, insgesamt ein genaueres Bild von dem Einfluss Melanchthons auf die niederländische Theologie des 17. Jahrhunderts zu zeichnen.
3.3 Die Biographie Melanchthons Die umfangreichste Biographie, die im 17. Jahrhundert über Melanchthon veröffentlicht wird, ist eine niederländische Produktion. 1662 erscheint in Amsterdam Het Leven, ende Dood, van den seer Beroemden D. Philipps Melanchthon, geschrieben von Abraham Van den Corput (1599 – 1670) (Hammer 1967,840; Glasius 1853, II:271). Der zweite Teil enthält eine umfassende Beschreibung der Gefangenschaft von Caspar Peucer, Melanchthons Schwiegersohn (Van den Corput 1662). Van den Corput wird 1626 Pfarrer, muss aber wegen Gesundheitsproblemen sein Amt schon 1639 aufgeben. Er zieht in seine Geburtsstadt Dordrecht und beginnt mit einem intensiven Studium der Kirchengeschichte. Die Biographie Melanchthons widmet er seiner Frau, um sie für ihr weiteres Leben in ihrem Glauben zu bestärken (Van den Corput 1662, 3 – 4). Melanchthon, der trotz der vielen Feinde, die ihn im Glauben angefochten hätten, in diesem Glauben geblieben sei, könne ihr und anderen Lesern als Beispiel und zur Ermutigung dienen. Die Biographie wurde 1728 und 1764 neu aufgelegt. In seinem Vorwort zeigt Van den Corput sich als ein gemäßigter Kontraremonstrant, der davor warnt, menschliche Aussagen mit göttlichen zu identifizieren. Prediger sollten nicht den Eindruck erwecken, sie wüssten genauso viel wie Gott selber (Van den Corput 1662, 6 – 17). Aus Titel und Text des Buches geht hervor, dass Van den Corput die Biographie, die Joachim Camerarius 1566 über Melanchthon veröffentlichte, als Hauptquelle benutzt hat.Van den Corput wusste jedoch, dass über die Biographie von Camerarius hinaus noch mehr über das Leben Melanchthons berichtet werden kann. Eigene Forschungen scheint Van den Corput nicht angestellt zu haben. Eine besondere Bedeutung gewinnt sein Werk durch die Auswertung der vielen Briefe, die ihm zur Verfügung standen und aus denen er ausführlich in Eigenübersetzung zitiert. Die Biographie von Van den Corput ist eine klare Apologie von Melanchthons Leben und Wirken. Er möchte seinen Lesern zeigen, dass der Reformator nach dem Tode Luthers völlig zu Unrecht schwer unter den Ultralutheranern gelitten habe. Den Bericht von der Gefangenschaft Peucers fügt Van den Corput auch deshalb hinzu, um zu belegen, dass dieser stellvertretend für Melanchthon bestraft worden sei, den man nach seinem Tod nicht mehr habe belangen können (Van den Corput 1662, 713). Van den Corput sagt über den Wittenberger, dass er ein großer Lehrer der Kirche gewesen sei und dass man seiner ständig gedenken solle (Van den Corput 1662, 189). Scharf werden Melanchthons positive Charaktereigenschaften von denen des Matthias Flacius Illyricus abgehoben,
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[…] der einen sehr aufgeblasenen und ehrgeizigen Charakter hatte und es nicht ertragen konnte, dass Melanchthon eine solch hohe Achtung genoss bei fast allen Arten von Menschen, wegen seiner ungewöhnlichen und ausgezeichneten Gelehrtheit in allen Wissenschaften und Sprachen, Bescheidenheit, Besonnenheit, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, Mildtätigkeit, Gottesfrucht und anderen auffallenden Tugenden. (Van den Corput 1662, 528)
Nach Abschluss der Lebensbeschreibung in drei Büchern lässt Van den Corput noch ein viertes Buch folgen (Van den Corput 1662, 665 – 712), in dem er anhand vieler Beispiele zeigen will, wie gastfreundlich, fleißig, selbstlos und bescheiden Melanchthon in seiner Lebensführung gewesen sei. Die Absicht dieses vierten Buches ist evident: „[…] so können wir es nicht unterlassen, noch einige Denkwürdigkeiten über ihn zu erzählen, damit der unparteiische Leser daraus erkennen kann, wie wenig Ursache seine Feinde gehabt haben, um ihn nach seinen Tod so schändlich zu lästern und anzuschwärzen.“ (Van den Corput 1662, 665 – 666) Den letzten Bericht, der von den Niederlanden im 17. Jahrhundert über Melanchthon gegeben wird, findet man in der Encyclopédie von Pierre Bayle, dem französischen Gelehrten, der seit 1681 in Rotterdam wohnte. Sein Dictionnaire historique et critique erscheint zwischen 1695 und 1697 in Rotterdam und enthält auch eine Kurzbiographie von Melanchthon (Dingel 1999, 229 – 246; Paganini 1998, 399 – 491). Von Melanchthons Charakter sagt Bayle Folgendes: Er hielt den Kopf kühl und erwog in seinem scharfsinnigen Geist das Für und das Wider; und weil er den Frieden liebte und die Streitigkeiten, die den kirchlichen Riss verursachten, bedauerte, war er eher geneigt günstig zu urteilen über unterschiedene Lehrauffassungen, die von den feurigen Geistern als Grund für das Schisma gedeutet wurden und von denen er gerne wollte, dass man sich damit zufrieden gegeben hätte, um so eine Wiedervereinigung zu erleichtern […]. Er lebte inmitten von Menschen, die ihm von Leidenschaft besessen schienen und allzu sehr geneigt, menschliche Mittel und die Macht der weltlichen Obrigkeit mit den Angelegenheiten der Kirche zu vermischen […]. Warum ist er denn bei dieser Partei geblieben, so fragen sie, wenn er absolut keine positive Sicherheit hatte, dass es die Sache Gottes war? Wo wollten sie denn, dass er hingehen sollte, wird man ihnen antworten. Würde er in der römischen Kirche nicht viel mehr Tadelhaftes vorgefunden haben, nicht noch mehr Schwärmerei und mehr Gewissenszwang? (Bakhuizen van den Brink 1962, II:1– 2)
Das Bild, das Bayle hier zeichnet, ist das eines Mannes, der in keiner Kirche, in keiner Partei zu Hause ist. Melanchthon, der Mann, der eine Partei wählt, nur um nicht der anderen angehören zu müssen. Es wundert nicht, wenn dies das Bild ist, das man von Melanchthon hat, bei dem Melanchthon selbst jedoch von der Bildfläche zu verschwinden scheint. Ob dieser Eindruck den Tatsachen entspricht, ist auch heute noch Gegenstand weitergehender Forschung.
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Nicola Stricker
Frankreich
An den Universitätsregistern Wittenbergs lässt sich der Einfluss Melanchthons auf Frankreich nicht ablesen. Nicht viele französische Studenten fanden den Weg nach Wittenberg. Selbstverständlich waren aber Melanchthons Schriften, die unter anderem in Lyon und Paris gedruckt wurden, auch in Frankreich verbreitet, allen voran seine Kommentare zu lateinischen und griechischen Texten, seine Bücher über Dialektik, Philosophie, Rhetorik und seine Latein- und Griechisch-Grammatiken. Melanchthons lateinische Grammatik wird in Paris zwischen 1526 und 1532 fünfmal aufgelegt. Die Auseinandersetzung mit dem Reformator konnte dabei auch kritischer Natur sein (Strohm 2005). Es sollte Calvin selbst sein, der den Theologen Melanchthon in Frankreich erst richtig bekannt machte, indem er eigenhändig ein höchst wohlwollendes Vorwort zur französischen Ausgabe der Loci Melanchthons von 1546 (verbesserte Auflage 1551) verfasste (CO IX, 847– 850): Melanchthon beschränke sich auf das Wesentliche (das Heilsnotwendige) und lasse alles Überflüssige weg, das nur zum respektlosen Disput anrege. Politik, Theologie und Philosophie sind die drei Bereiche, in denen sich das vielfältige Echo von Melanchthons Wirken in Frankreich am besten nachzeichnen lässt.
1 Melanchthons gescheiterter Beitrag zur religiösen und politischen Versöhnung Melanchthon stand im Briefwechsel mit den Reformerkreisen. Margarete von Navarra, die den refomatorischen Ideen sehr zugetane Schwester des Königs Franz I., die der Reformgruppe von Meaux um den Bischof Briçonnet und Faber Stapulensis nahestand und an deren Hof in Nérac der Kirchenreformer Faber Stapulensis seine Bibelübersetzung vollenden durfte, schätzte an Melanchthon besonders dessen auf Versöhnung gerichtetes Denken: „Dieser gute und heilige Mann, ganz Gott ergeben und sehr friedliebend, der den heftigen Leidenschaften Luthers und Zwinglis abgeneigt ist und der sich nichts mehr wünscht, als den großen Streit der Konfessionen zu schlichten.“ (übersetzt von Rhein 1997, 56; Originalzitat bei Seidel 1970, 136 Anm. 1) Erasmus’ Ahnung, dass der französche Hof „versteckt luthert“ (Erasmus, Epistola secretissima an Conrad Goclenius in Löwen, zit. nach Polenz 1857, 129), wird im Fall Margaretes zur deutlichen Gewissheit, ohne dass es jedoch zum Bruch mit der Kirche kommt. Melanchthons Streben nach Versöhnung und Dialog auf religiöser Ebene machte sein Denken auch politisch interessant. Franz I. versprach sich von einer Mitwirkung Melanchthons bei der religiösen Einigung nicht in erster Linie eine Bewahrung der DOI 10.1515/9783110335804-049
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Kirche in Frankreich vor dem drohenden Schisma, sondern vor allem Schützenhilfe beim Bündnis mit den seit Schmalkalden 1531 politisch organisierten protestantischen deutschen Fürsten. Durch das seit 1516 bestehende Konkordat von Bologna war das Machtverhältnis von Krone und Kirche klar geregelt. Der König besaß kirchenpolitisch entscheidenden Einfluss (z. B. bei der Ernennung der Bischöfe). In den Auseinandersetzungen zwischen Reformanhängern und der Sorbonne in den 1520er Jahren, die zur Verurteilung der Übersetzung des Neuen Testaments von Faber Stapulensis und der Ideen Luthers durch die Sorbonne sowie zur Verfolgung insbesondere von konvertierten Priestern und Mönchen führten, hatte er sich nicht für die Protestanten (die man „luthériens“ nannte) eingesetzt. Im Widerspruch mögen dazu sein humanistisches Interesse und sein Verhalten gegenüber Faber Stapulensis stehen, den er 1526 aus dem Exil zurückrief und zum Prinzenerzieher machte, sodass man ihm durchaus eine gewisse Unberechenbarkeit im Umgang mit den Reformern zusprechen mag (Dingel 1998, 107). Einige moderate Vertreter refomerischer Ideen lassen sich sogar im Staatsrat nachweisen: Sie werden das Konzilsvorhaben und die Idee der kirchlichen Einheit vorantreiben. Ein Bündnis mit den Fürsten des Schmalkaldischen Bundes war aufgrund der politischen und militärischen Auseinandersetzungen mit Karl V., der statt seiner Kaiser geworden war, ein wichtiges außenpolitisches Ziel von Franz I. Das gute Verhältnis zu Papst Clemens VII. wollte Franz I. dann aber doch nicht aufs Spiel setzen, wie die Unverbindlichkeit seiner Reaktion auf die Bitte der evangelischen Reichsstände, ihr Gesuch nach Einberufung eines Konzils zu unterstützen, unterstreicht (MBW 1153, 1156 – 1158). Er stimmte lediglich, um den Fürsten entgegenzukommen, einem Religionsgespräch zu, für das vorbereitend Gutachten eingeholt werden sollten (bei den Schweizer Theologen sowie bei Hedio und Bucer und eben Melanchthon). Als „Chefdiplomat fur Deutschland und damit auch für die Religionsfrage“ (Scheible 2002b, 198) wurde der Humanist Guillaume du Bellay auserkoren. Du Bellay schickte 1534 den Straßburger Chelius nach Wittenberg, den Melanchthon seit dessen Studienzeiten in Wittenberg kannte. Melanchthon gab ihm zunächst ein – leider verschollenes – Schreiben zur Frage des Konzils und zur Religionsfrage mit (MBW 1418), bevor er ihm ein umfangreiches Gutachten darüber, wie der Religionsstreit beizulegen sei, aushändigte (MBW 1467). Letzteres kursierte auch unter Melanchthons Freunden, wurde aber nie gedruckt. Wie Irene Dingel hervorhebt, zeigt ein Vergleich dieser in der Bibliothèque Nationale aufbewahrten Handschrift nur sehr geringe Unterschiede zu der in CR 2 abgedruckten ersten Textfassung A (Dingel 1998, 110, Anm. 16). Die zweite Textfassung A ist eine von Peucer veröffentlichte Fassung, die auf eine im Umlauf befindliche verkürzte und verkürzende Fassung (CR 3, 830 – 838) reagiert. Die Textfassung B des Melanchthon zugeschriebenen Gutachtens (CR 2, 765 – 775) ist ein von du Bellay erstelltes Amalgam aus Melanchthons, Hedios und Bucers Gutachten. In seinem Begleitbrief an Guillaume du Bellay teilt Melanchthon dem Humanisten seine Gewissheit über eine mögliche Einigung im Religionsgespräch aufgrund der wenigen schwerwiegenden Unterschiede mit (Melanchthon an Guillaume du Bellay,
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1. 8.1534: CR 2, 740; MBW 1469: „Nec dubito, quin de omnibus istis articulis facile conveniri posset“). Es gehe nicht um einen grundsätzlichen Wandel der Kirche, deren überkommene Form soweit wie möglich bewahrt werden solle (Melanchthon an Guillaume du Bellay, 1.8.1534: CR 2, 740; MBW 1469: „Non hoc agitur, ut politia ecclesiastica aut potestas Pontificum aboleatur; non hoc agitur, ut veteres ordinationes sine discrimine mutentur. Praecipui ex nostris maxime cupiunt usitatam ecclesiae formam conservare quantum possibile est“). Das dem Religionsfrieden verpflichtete Consilium ad Gallos beabsichtigt und verspricht geradezu größtmögliche Annäherung. Wie das Augsburger Bekenntnis soll es aufzeigen, wie sehr die evangelische Lehre der wahren katholischen Lehre entspricht. Die kirchlichen Misstände – Melanchthon spricht von „abusus“ (Consilium ad Gallos, CR 2, 743) – sind auf die Schwäche der Menschen zurückzuführen, die sich auf die Kirche selbst auswirkt: Alles, was „sine impietate“ (Consilium ad Gallos, CR 2, 744) sei – und dazu gehören alle äußeren Dinge, zu denen nicht nur Adiaphora wie Messgewänder und Zeremonien, sondern sogar die Beichtpraxis – sofern sie das Gewissen nicht unterjocht – und die Ämter der Bischöfe und der Papst selbst zählen – stünden einer Einigung nicht im Weg. Die wahrhaft wichtigen – sozusagen neuralgischen – Punkte aber beträfen das Gewissen und den Gottesdienst. Melanchthon nennt vier: Rechtfertigung, Messe mit Abendmahl in beiderlei Gestalt, Heiligenverehrung sowie Gelübde und Zölibat. Die evangeliumsgemäße Lehre, die mit den Attributen „veram“ und „sanam“ gemeint ist (Consilium ad Gallos, CR 2, 745), darf nicht aufgegeben werden. Hier dürfen Bischöfe und Papst ihr Amt nicht missbrauchen. Diese Ämter sind vielmehr der Förderung der wahren Lehre verpflichtet und dienen im Falle des Papstes – so Melanchthons Neuinterpretation (vgl. Dingel 1998, 111) – sogar der Erhaltung des Lehrkonsensus unter den Völkern. Melanchthons positive Bewertung des Bischofsamtes im Consilium (anders als im Augsburger Bekenntnis) ist der konkreten Situation der Bischöfe in Frankreich geschuldet, deren weltliche Macht ja aufgrund des Konkordats sehr eingeschränkt war. Wenn Melanchthon die neuralgischen Punkte gegenüber dem Augsburger Bekenntnis auf vier reduziert, dann um des Eindrucks der möglichen Einheit willen. Dennoch kommen fast alle Hauptthemen des Augsburger Bekenntnisses vor, also auch der freie Wille, die Erbsünde, die Sündenvergebung und die guten Werke. Melanchthon sieht sogar die Möglichkeit, dass bezüglich der Rechtfertigungslehre im Religionsgespräch Einigkeit erzielt werde. Ein guter Anfang sei bereits die Verurteilung der absurden Werkgerechtigkeit und die Betonung der Bedeutung des Glaubens durch die „boni viri et prudentes“ (Consilium ad Gallos, CR 2, 747– 748). Damit sind wohl kaum die Theologen der Sorbonne gemeint, sondern die wie Faber Stapulensis den reformatorischen Ideen aufgeschlossen gegenüberstehenden französischen Gelehrten (Dingel 1998, 112). Heiligenverehrung schließt Melanchthon aus, wobei er es jedoch für möglich hält, Heiligen als Vorbildern im Glauben zu gedenken (Consilium ad Gallos, CR 2, 755 – 759). Was das Mönchtum betrifft, so sieht er Möglichkeiten der Einigung, besteht aber darauf, dass monastische Regeln dem Gewissen nicht schaden dürften, und empfiehlt, Klöster in Schulen zu verwandeln (Consilium ad
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Gallos, CR 2, 759). Über den Zölibat müsse der Papst entscheiden. Melanchthon begnügt sich damit zu betonen, dass es nur wenige wahrhaft keusche Menschen gebe (Consilium ad Gallos, CR 2, 765). Allein die Frage der Messe könne nur durch ein Konzil (Consilium ad Gallos, CR 2, 751: „Ecclesiae Synodo“) beantwortet werden, das durch ein Gelehrtengespräch vorzubereiten sei. Privatmessen und Opfergedanken lehnt er ab. Die Messe solle bis zum Konzil eine freiwillige Angelegenheit sein, was de facto eine Anerkennung der evangelischen Gottesdienste bedeutet hätte (Scheible 2002b, 201). Was den Abendmahlsempfang betrifft, so zeigt sich Melanchthon konziliant: Der Laienkelch ist kein Muss. Das Abendmahlsverständnis wird erst gar nicht diskutiert. Melanchthon begnügt sich mit einem Verweis auf die bevorstehenden Gespräche mit Bucer, die den innerprotestantischen Dissensus beseitigen sollen, damit letzlich – mit Christi Hilfe – die Kirche zur „piam et sanctam Concordiam“ (Consilium ad Gallos, CR 2, 751) geführt werde. Die Konkordie blieb aus. Das geplante Religionsgespräch war in erster Linie eine Konzession an die Fürsten des Schmalkaldischen Bundes. Es ist daher zutreffend, das zu diesem Zweck eingeholte Gutachten als reines „Instrument“ (Dingel 1998, 107) seiner Politik gegen Habsburg zu bezeichnen. In der Folge sollte sich zeigen, wie sehr sich Franz I. in der Religionsfrage von politischen Motiven leiten ließ und wie wenig er sich dem theologischen Ziel der konfessionellen Versöhnung verschrieben hatte. Bevor die eingeholten Gutachten Wirkung zeigen konnten, kam es in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1534 zur sogenannten Plakataffäre. In Paris, Orléans, Blois und Amboise wurden Plakate aufgehängt und verteilt, die sich scharf gegen die katholische Messe richteten: Diese sei Hexerei und der gesamte Klerus der Lüge und Gotteslästerung schuldig. Der protestantische Exilfranzose Antoine Marcourt hatte die Plakate in Neuchâtel drucken lassen. Sie trugen den Titel: Articles véritables sur les horribles, grands et insupportables abus de la messe papale, inventée directement contre la sainte cène de notre Seigneur, seul Médiateur et seul Sauveur Jésus Christ (Wahrhafte Artikel über die schrecklichen, großen und unerträglichen Missbräuche der päpstlichen Messe, die genau gegen das Abendmahl unseres Herrn, einzigen Mittlers und Erlösers Jesus Christus erfunden wurde). Auch Melanchthon sollte später eines dieser Plakate zu Gesicht bekommen (MBW 1525.3). Der König, in dessen eigenen Gemächern ein solches Exemplar angebracht wurde, war empört über diesen innenpolitischen Affront und beschloss, sein Reich vor den „Ketzern“ (lies: Aufrührern) zu bewahren. Es kam zu Verhaftungen und Hinrichtungen. Verstärkt flohen Kirchenkritiker aus Frankreich, während Guillaume du Bellay und sein Bruder Jean du Bellay, Bischof von Paris, deutsche Protestanten wie Johannes Sturm – den Befürworter des Unionsgedankens, der 1538 Rektor der Hohen Schule in Straßburg werden sollte – vor Repressalien in Schutz nahmen. Auf Melanchthons Bitte, sich für die Protestanten und die Kirchenreform einzusetzen, antwortete der Bischof und Kardinal von Paris – mit dem Melanchthon auch noch zwanzig Jahre später Kontakt haben wird (MBW 4629, 7510, 7706) – vor allem der König, wünsche ein Ende des Religionskonflikts (MBW 1563 und 1578). Franz I., der immer noch eine Allianz mit den protestantischen deutschen Fürsten anstrebte, lud
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Melanchthon 1535 zunächst indirekt mündlich (über einen Boten und nach Kontaktaufnahme durch Johannes Sturm) und wenig später offiziell ein, zum Zwecke der religiösen Einigung Gespräche mit Theologen der Sorbonne über eine Kirchenreform zu führen (MBW 1564 und 1579) – zumal Ende 1534 ein neuer Papst, Paul III., gewählt wurde, der einem Konzil weniger feindlich gegenüber stand. Johannes Sturm selbst beurteilte die Bereitschaft des Königs zu Reformen positiv und seine Einladung Melanchthons als ernstgemeintes Ratsuchen des Königs angesichts der Konflikte (MBW 1585). Die Einladung bewegte Melanchthon sehr (sogar in seinen Träumen: vgl. MBW 1597), und er ersuchte Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen darum, angesichts der Verfolgung der französischen Protestanten und des positiven Einflusses der Du-BellayBrüder die Reise zu genehmigen (MBW 1603). Die Reise wurde allerdings vom Kurfürsten aus politischen Gründen (zum jetzigen Zeitpunkt sei eine Verhandlung mit dem Feind des Kaisers ungünstig) nicht genehmigt. Betrübt und erbost musste Melanchthon absagen, sah aber wenig später ein, dass der Kurfürst die politisch richtige Option gewählt hatte, weil aufgrund der geplanten Verhandlung des Kurfürsten mit König Ferdinand kein Kontakt mit dem französischen König möglich war. War Melanchthons Gutachten zunächst auf Zustimmung von Seiten Bucers, Hedios und südwestdeutscher Theologen gestoßen, gingen seine Zugeständnisse an die Katholiken vielen Protestanten seiner Zeit zu weit. Das Gutachten hat das Melanchthonbild durchaus negativ geprägt, zumal bald mehrere verkürzte und verfälschende Varianten im Umlauf waren, von denen insbesondere das Luther aus Soest zugespielte Exemplar Melanchthon und die Evangelischen diskreditiert. Es beginnt mit dem in Bezug auf seine Intention aussagekräftigen Satz: „Luther, Melanchthon, Bugenhagen samt ihren verwandten Predigern zu Wittenberg lassen zu, daß ein geistlich Polizei, Ordnung und Regiment, der römische Bischof der oberst und unter ihm alle anderen Bischöfe und die Priesterschaft sein sollen, und das sei von Nöten, denn diese Ordnung wird erfordert zur Förderung der gesunden Lehre Christi […].“ (WA 38, 393,3 – 8) Gerade wegen seiner Varianten wird das Consilium zu einem „der umstrittensten Dokumente der Reformationszeit“ (Rhein 1997, 57). Politisch und als Ökumeniker war Melanchthon in Frankreich gescheitert.
2 Die Akademie von Saumur: eine Stätte melanchthonischer Theologie? Hinsichtlich der Rezeption Melanchthons im Frankreich des 17. Jahrhunderts lässt sich eine Akzentverschiebung konstatieren, die Irene Dingel bereits für das Lebenswerk des Reformators hervorgehoben hat, nämlich von der „Überbrückung des Gegensatzes zwischen der altgläubigen und der evangelischen Seite auf den notwendigen Ausgleich der nach dem Interim enstandenen innerprotestantischen Gegensätze“ (Dingel 1998, 105). Diese Gegensätze betreffen in Frankreich allerdings das reformierte Lager selbst.
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1599 gründete Philippe Duplessis-Mornay die protestantische Akademie von Saumur, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine der drei führenden protestantischen Akademien Frankreichs war (die anderen beiden waren Montauban und Sedan). 1618 wurde der liberale schottische Theologe John Cameron berufen, der bis 1620 und noch einmal 1623 in Saumur lehrte. Er sollte die orthodoxe Lehre gegen den Protest des Arminianers Tilenus verteidigen, der sich als Professor an der protestantischen Akademie von Sedan gegen die Annahme der Canones von Dordrecht durch die französischen reformierten Kirchen stark machte. Die französischen Protestanten hatten ja an der Synode von Dordrecht nicht teilnehmen dürfen, übernahmen aber 1620 auf der Nationalsynode in Alès die Lehre der Canones. Jedes Mitglied der Synode musste einen Eid schwören, mit dem die Lehre der Arminianer zurückgewiesen wurde. Gegen eine universelle Erlösung, wie sie die Arminianer vertreten, proklamieren die Canones den Partikularismus des göttlichen Heilswillens. Der Standpunkt der zu verurteilenden Minderheit der Remonstranten sollte auf der Synode als absolute Marginalposition dargestellt werden, weshalb auch ausländische Delegierte eingeladen wurden, von denen man wusste, dass sie mit der zu verurteilenden Position nicht sympathisierten. Unter diesen Theologen befanden sich neben englischen Delegierten unter anderem Vertreter aus Bremen und Hessen. Die Bremer hatten von ihrem Senat den Auftrag bekommen, die moderata doctrina (gemäßigte Lehre) zu vertreten, sich als Augsburgische Konfessionsverwandte zu bekennen und keine Zugeständnisse an die rigorosen Reformierten zu machen. Zusammen mit den Engländern und den Nassauern bildeten sie eine „Mittelpartei“ (Moltmann 1953/54, 276), die die Schroffheit der Prädestinationsthesen mäßigen wollte, indem sie auf das Angebot der Gnade an alle, die sie suchen, hinwies. Die Bremer Theologen betonten die allen geltende Verheißung der Sündenvergebung und des ewigen Lebens „pourvu qu’ils croient“ (Actes 1624, 146) – eine Formel, die für die Lehre des Cameron-Schülers Moïse Amyraut charakteristisch ist.
2.1 Moïse Amyraut Moïse Amyraut, ab 1626 Professor in Saumur, übernahm die Lehre Camerons, nach der Gott den bedingten Willen habe, alle zu erlösen, die glauben, und ihnen die glaubensnotwendigen äußeren Mittel dazu geben (Predigt des Evangeliums, Bezeugung Gottes durch Schöpfungswerke); er habe aber auch den absoluten Willen, nur den Erwählten das glaubensnotwendige innere Mittel zu geben, die Gnade.
2.1.1 Die via media in der Prädestinationslehre In seiner Schrift zur Prädestinationslehre, dem Brief traitté de la predestination et de ces principales dependances, vertritt Amyraut 1634 einen hypothetischen Universalismus: Gott will das Heil aller Menschen. Alle Menschen sind bedingt, das heißt sub
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conditione fidei (Amyraut 1634, 89 – 90: „pourveu qu’ils croyent“) zum Heil prädestiniert. Aber nur die Erwählten sind absolut zum Glauben prädestiniert. Auf den Vorwurf hin, ein Kryptoarminianer zu sein, beteuerte Amyraut, der sich nie anders als in der Nachfolge Calvins sah, auf der Nationalsynode von Alençon 1637 ausdrücklich seine Orthodoxie. Seine Lehre bezeichnete er als genuin calvinisch und ließ zu seiner Verteidigung gerne die Reformatoren selbst zu Wort kommen, die auch die Berufung aller Menschen zum Heil und die universelle Bedeutung des Todes Christi gelehrt hätten. Seinem Melanchthon-Zitat (aus den Loci, über das Evangelium) fügt Amyraut allerdings kritisch hinzu, dass Melanchthon, was die Prädestinationslehre betrifft, etwas weniger „accuratus“ (Amyraut 1648, 88) war als nötig. In der bereits bei Cameron vorgezeichneten Mischung zwischen Universalismus und Partikularismus erkennt Amyraut die via media (aaO. 9) zwischen der gomaristischen und der arminianischen Lehre. Er verweist auf die Nähe seiner Lehre zur via media der Delegierten Englands und Bremens auf der Synode von Dordrecht, in denen er in gewisser Weise Vorläufer seiner Lehre sieht. Moltmann, der Moïse Amyraut seine Dissertation gewidmet hat, bestätigt, dass sich in den Schriften des Bremers Matthias Martinius, dem Rektor der Hohen Schule, fast wörtlich die Lehre Amyrauts ankündigt, etwa in seinen Aussagen über die Menschenliebe (philanthropia) Gottes. Die Bremer Theologen Martinius und auch Crocius stehen, wie es Moltmann ausdrückt, „ersichtlich unter dem Banne der melanchthonischen Theologie“ (Moltmann 1953/54, 302). Crocius betont in einem Brief an Combach, „man könne nicht anders auf der Kanzel zu Bremen reden, als in mild-melanchthonischem Sinne, wenn man nicht wolle, dass die Leute allgemach fast alle in den Dom laufen sollten, der 1638 wieder eröffnet worden war“ (zit. nach Veeck 1909, 71). Wie Amyraut nach ihm ist der deutsche Reformator an einer Milderung der Prädestinationslehre interessiert. Dass alles, was geschieht, notwendig gemäß der göttlichen Vorherbestimmung eintrifft, wie Melanchthon ebenfalls unter anderem unter Berufung auf das 11. Kapitel des Römerbriefs festellt, ist ein Satz, vor dem „das Urteil des Fleisches oder der menschlichen Vernunft“ (LC 21997, 1,26) zurückschaudert und der nur durch das von Liebe geprägte Urteil des Geistes erfasst werden kann. Melanchthon wie Amyraut ein Vertreter der via media? Im Kommentar zum Römerbrief von 1532 behauptet er, die Barmherzigkeit Gottes sei die wahre Ursache der Erwählung, aber derjenige, der das Versprechen (promissio) annimmt, ist auch Ursache, insofern er die angebotene Verheißung nicht zurückstößt. Daher kann Melanchthon so reden, als folge die Prädestination aus dem Glauben (vgl. den Brief an Johannes Brenz: 30.9. 1531, CR 2, 547). Sub conditione fidei? Der Glaube ist nicht Ursache, sondern vielmehr Zeugnis der Erwählung, so Melanchthon in der secunda aetas der Loci; die Ursache der Erwählung ist das Mitleid Gottes. Die einzige Leistung des Menschen besteht darin, sich dem Erlösung verheißenden Wort nicht entgegenzusetzen. Bei der Bekehrung wirken Wort, Geist und menschlicher Wille zusammen. Auch in der Ausgabe von 1559 heißt es: Gott beginnt durch Wort und Geist, aber wir müssen hören und lernen, das Versprechen ergreifen und zustimmen. Melanchthon betont die Unbedingtheit und Universalität der für alle durch die Kirche bereitgehaltenen vocatio. Verwerfung
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gründet allein auf dem hartnäckigen Widerstand gegen den Sohn. Ihr Grund ist daher in den Verworfenen selbst zu suchen. In der letzten Ausgabe der Loci betont er zudem, es sei falsch, das Seligwerden von einem ewigen Ratschlusse abhängig zu machen, da die Erkenntnis Christi erst in der Zeit möglich sei. Rechtfertigung und Prädestination fallen zusammen, was Melanchthon in die Nähe des geschichtlichen Denkens Amyrauts rückt.
2.1.2 Föderaltheologie Cameron und Amyraut vertreten die einzigartige Lehre der drei Bünde Gottes. Anders als etwa ihre reformierten Zeitgenossen Coccejus, Gomarus und Spanheim unterscheiden Cameron und Amyraut nicht zwischen einem beidseitigen foedus operum (d. h. foedus generale oder naturale) und einem einseitigen foedus gratiae (d. h. foedus speciale oder supernaturale) im Sinne der Gnadenwahl, sondern nehmen drei Bünde Gottes an, die den drei Stufen beziehungsweise Zeiten der Heilsgeschichte entsprechen, in denen Gott seine Güte immer offenbarer werden lässt: den Naturbund, foedus naturae oder foedus naturale, den Gesetzesbund, subserviens foederi gratiae beziehungsweise foedus legale, und den Gnadenbund, foedus gratiae beziehungsweise foedus evangelicum (vgl. Cameron 1642, 544). Letzterem liegt nicht die Erwählung, sondern die Erlösung durch Christus zugrunde. Für die Erfüllung der Verheißung ewigen Lebens ist allein die Antwort des Glaubens oder Unglaubens auf die allen Menschen – also universal – angebotene Gnade entscheidend. Es geht Amyraut nicht um Gottes Ratschluss an sich, „sondern stets und allein um das, was Gott innerhalb des Bundes mit dem Menschen beschließt, und um das, was der Mensch auf Grund dieses geschichtlichen Bundes ist und wollen kann“ (Moltmann 1951, 102 – 103), also um den Bund als mutua pactio, wie er auch im Methodus Theologiae des für die reformierte Melanchthonrezeption wichtigen reformierten Melanchthonschülers Georg Sohnius charakterisiert wird (vgl. Strehle 1988, 161). Aus der Betonung der Geschichtlichkeit der Offenbarung heraus resultiert für Moltmann bei Amyraut ein „historisierender Offenbarungsempirismus“ (vgl. Moltmann 1951, 111), welcher der empiristisch ausgerichteten Dekretelehre von Sohnius ähnele, auf den sich Amyraut häufiger berufe. Beide betonen die Nichterkennbarkeit der Absichten Gottes in seinen Dekreten; nur die Ausführung der Dekrete kann erkannt werden. Der Gnadenbund ist somit erkennbar, nicht aber die Gnadenwahl. Überhaupt sieht Moltmann bei Cameron und Amyraut eine „eigentümliche Rezeption ‚deutsch-reformierter‘ Föderaltheologie“ am Werk: „Nicht in Genf oder Leiden, den Hochschulen des orthodoxen Calvinismus, sondern in Heidelberg und Herborn liegen die Ursprünge der Saumurer Theologie.“ (Moltmann 1953/54, 271) Für Moltmann steht fest: „So sehr, wie der französische Calvinismus im 16. Jh. von der Genfer Schule bestimmt worden ist, wird er über die Akademie von Saumur im 17. Jh. von dem deutsch-reformierten Melanchthonianismus beeinflusst.“ (aaO. 302) Und Moltmann geht sogar so weit (zu weit), die Theologie von Saumur als „legitime Fortsetzung“ (aaO.
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276) der vor allem durch „die Macht des Melanchthonianismus in der Kirche“ (Heppe 1857, 140) beeinflussten deutsch-reformierten Tradition zu betiteln. Unklar ist, wie Moltmann die Linie von Melanchthon zum föderalen Denken Amyrauts ziehen will. Sollten tatsächlich deutsch-reformierte Theologen für die Ausprägung von Camerons und Amyrauts heilsgeschichtlich-föderalem Denken verantwortlich sein, so bedeutet dies zugleich eine zumindest sehr indirekte Verbindungslinie zu Melanchthon, für den zwar der Begriff des Naturgesetzes eine tragende Rolle spielt, der aber den Begriff des foedus auf Gottes Geschichtshandeln nicht anwendet. Ist Melanchthon mit seinem lexnatura-Denken der Schlüssel zum Usprung der Föderaltheologie, wie es die von Heppe und Geiger vertretene Melanchthonthese – nach van Asselt eine der sieben Thesen zum Anfang der Föderaltheologie (van Asselt 2001, 325 – 331) – nahelegt? Danach lägen der Föderaltheologie zwei wesentliche Ideen Melanchthons zugrunde: die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium – eine Idee, die sich nicht bei Amyraut findet – und die später von Ursinus zum foedus operum ausgearbeitete Verbindung zwischen Dekalog und Naturgesetz. Aber die von Moltmann befürwortete enge Verbindung Saumurs zur deutsch-reformierten Theologie (Moltmann 1953/54, 276) ist nicht zuletzt in diesem Punkt umstritten. Die Genese von Camerons Theorie des dreifachen Bundes ist unklar. Für eine Beeinflussung Camerons spricht die Tatsache, dass er seine Disputation De triplici Dei cum homine foedere 1608 in Heidelberg vorgetragen hat. Er kann seine Lehre vom dreifachen Bund aber auch in Auseinandersetzung mit dem Tractatus de vocatione efficaci des schottischen Theologen Robert Rollock (Edinburgh, 1597) entwickelt haben, der einen zweifachen Bund annnimmt (Armstrong 1969, 48 Anm. 139). Die Frage der Herkunft von Camerons Föderaltheologie ist noch nicht abschließend geklärt.
2.1.3 Die Trinitätslehre Moltmann konstatiert bei Amyraut eine „heilsgeschichtliche Auflösung der Immanenztrinität“ (Moltmann 1953/54, 289). Die Trinität wird in der Heilsgeschichte offenbar, sodass alle drei Personen ihre Zeit der Sichtbarkeit haben, in der sie die Kirche lenken. Die für den Menschen an sich nicht erfahrbare Immanenztrinität ist nicht von Belang und verschwindet hinter den ökonomischen Werken (Amyraut 1660, 33). Gegen das Prinzip der opera ad extra sunt indivisa bekräftigt Amyraut, dass die drei Personen sich in ihren Werken unterscheiden und es eine Offenbarungszeit des Vaters (Naturund Gesetzesbund), des Sohnes (konditionale Ökonomie des Gnadenbundes) und des Heiligen Geistes (nach der Himmelfahrt) gebe. Angeklagt, eine unerhörte triplicitas zu lehren, sieht Amyraut sich mit seiner Methode der Betrachtung des Wesens Gottes in eventu „quatenus a nobis consideratur“ (Amyraut 1648, 463) laut Moltmann in bester Gesellschaft: „Der Ursprung dieser Methode liegt deutlich in der melanchthonischen Theologie.“ (Moltmann 1953/54, 290) Betrachtet man die Ursprünge und Entwicklungen von Melanchthons Trinitätsbegriff, so mag man Moltmann hier zum Teil Recht geben. Melanchthon verzichtet in den Loci von 1521 bewusst auf den Locus De Deo und
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jegliche Ausführungen zur Trinität, da die scholastischen Theologen bereits ausreichend und nichtssagend darüber geschwatzt haben. In seinen späteren Ausführungen zur Trinität gilt der Vorrang der heilsökonomischen Betrachtung vor jeder spekulativen Herangehensweise. Das Wesen Gottes offenbart sich in seinem Handeln.
2.1.4 Das Streben nach konfessioneller Einigung Melanchthon und Amyraut verbindet das Interesse an konfessioneller Einigung. Das Consilium ad Gallos zeigt Melanchthons Bereitschaft zu Kompromissen um der Einheit der Kirche willen. Stauffer ist bemüht, Amyraut als Vorläufer des Ökumenismus zu präsentieren, dessen Prädestinationslehre dem Dialog verpflichtet ist (Stauffer 1962). Auch so ließe sich aus Amyraut ein Melanchthonschüler machen. Das hieße aber, die der Zeit Amyrauts eigenen Umstände zu missachten und seine Unionsbestrebungen gerade nicht im Rahmen einer apologetischen Rechtfertigung des synodalen Beschlusses von Charenton (1631) zu sehen. Durchaus fasziniert vom Unionsgedanken, machte sich Amyraut Hoffnung auf Kirchengemeinschaft, seit die Synode von Charenton 1631 beschlossen hatte, Lutheraner zur Taufe und Trauung in den reformierten Kirchen sowie zum Abendmahl zuzulassen, ohne dass diese abschwören müssen. 1647 erschien mit De Secessione ab Ecclesia romana deque ratione pacis inter evangelicos in religionis negotio constituenda Disputatio eine Schrift, in der Amyraut die Gründe darlegen wollte, warum eine Gemeinschaft mit den Lutheranern möglich sei. In dieser Schrift kommentiert er ausführlich die Confessio Augustana, die er sehr positiv beurteilt. So bemerkt er, die CA beweise Vorsicht und Bescheidenheit in Sachen Abendmahlslehre (Art. 10), weil sie nicht versuche, den Vorgang der Realpräsenz (Amyraut 1647, 106 – 107: „quomodo id fiat“) zu erklären. Aber nicht nur Abendmahlsgemeinschaft schien möglich für Reformierte und Lutheraner. Amyraut wollte, dass Reformierte und Lutheraner ein Bekenntnis erarbeiten, in dem die gemeinsamen Überzeugungen zum Ausdruck kommen. Er schlägt vor, die Gegenwart Christi im Abendmahl als realiter et sacramentaliter zu qualifizieren und von allen Kontroversen, welche die brüderliche Eintracht schädigen können, abzusehen. Von besonderer Bedeutung ist Amyrauts Sicht auf die Erwählungslehre: Er macht geltend, dass für Reformierte das Heilswerk Christi nicht den Nichterwählten gilt, für Lutheraner aber den Nichterwählten sub conditione fidei (Amyraut 1647, 169 – falsche Zählung 269). Die Lutheraner werden somit zu den natürlichen Verbündeten Amyrauts. In der Tat haben die Gegner von Saumur der Akademie immer wieder ihren Lutheranismus vorgeworfen (Bossuet 1770, 105).
2.2 Fazit Amyraut kannte einige Schriften Melanchthons und zitiert ihn zur Stützung seiner eigenen Ideen zur Prädestinationslehre. Unbestritten suchten sowohl Melanchthon als
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auch die Bremer und Saumurer Theologen die via media. Ein Einfluss sowie eine Inanspruchnahme der Position der Bremer ist in Saumur, insbesondere bei Amyraut, nachweisbar. Aber die Wurzeln der Saumurer Theologie liegen nicht eindeutig in der melanchthonisch geprägten deutsch-reformierten Tradition. Die ausführliche Geschichte von Melanchthons Einfluss in Frankreich muss noch geschrieben werden (so das Urteil von Meerhoff 2001, 22).
3 Melanchthon im Urteil des 18. Jahrhunderts An der Schwelle zum 18. Jahrhundert steht das Urteil des Frühaufklärers und enfant terrible des französischen Protestantismus, Pierre Bayle: Er lobt Melanchthon als einen der weisesten Männer seiner Zeit, der anders als Luther an konfessioneller Annäherung interessiert war und daher von Franz I. eingeladen wurde, um den Religionsstreit zu schlichten (Bayle 1740, 369 – 371). Allerdings wurde ihm sein friedliebendes Naturell zum Verhängnis, denn Sanftheit, Mäßigung, Irenismus und der Wunsch nach Dialog sind in religiösen Dingen von Nachteil (aaO. rem. I, vgl. rem. G). Melanchthon konnte trotz seines großen Geistes, seiner Bildung und seiner Besonnenheit nur scheitern, weil der Erfolg einer Religion nie von weisen und toleranten Theologen abhängt, sondern der Sturköpfigkeit und Intoleranz ihrer Führer geschuldet ist. Genau diese Eigenschaften schrieb man Luther zu, der in Diderots und d’Alemberts Enzyklopädie als gewalttätiger und aufbrausender, sehr eitler und von sich selbst eingenommer Mann dargestellt wird. Anders als Luther ist Melanchthon gemäßigt und tolerant – so urteilt ebenfalls Voltaire, der aber dem alten und von Bayle als übertrieben zurückgewiesenen Vorwurf (vgl. aaO. rem. I) Raum gibt, Melanchthons religiöse Toleranz sei in Wahrheit ein Ausdruck ständigen Zweifelns, ein Mangel an Überzeugung: Melanchthon konnte nicht zum deutschen Neptun werden, der die Macht der religiösen Stürme zurückhielt; vielmehr glich er in den Augen vieler dem wechselhaften und wenig fassbaren Meeresgott Proteus: zu wankelmütig und nicht konsequent genug, um Erfolg zu haben (Voltaire 18, 328 – 329). Die bei Bayle klar ausgedrückte und bei Diderot/d’Alembert und Voltaire argumentativ auf einen psychologischen Vergleich zwischen Luther und Melanchthon gründende Überzeugung, dass der Erfolg einer Religion nicht von weisen und toleranten Theologen, sondern von sturen und intoleranten religiösen Führern abhängt, kündigt die Religionskritik des 19. Jahrhunderts an.
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Mariano Delgado
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Mit Spanien hatte Melanchthon nicht zuletzt durch seine Kritik an der optimistischen Anthropologie der Salmantiner Theologen zu tun, die er aus diesem Grund „nostrorum tempori novi pelagiani“ nannte – oder ihnen ein „pelagianizein“ zuschrieb (Greshake 1999, 9 mit Verweis auf folgende Belege Melanchthons: CR 21, 99; 27, 431; Konkordienformel II: BSLK 778). Ebenso verdankt Spanien Melanchthon indirekt die erste gedruckte Übersetzung des Neuen Testamentes aus dem Griechischen, die der zum Protestantismus neigende Humanist Francisco de Enzinas nach der Edition des Erasmus erstellte. Sie wurde 1543 in Antwerpen gedruckt (El Nuevo Testamento / De nuestro Redemptor y Salvador / Jesu Christo, / traduzido de Griego en lengua Castellana, por Francisco de Enzinas, Antwerpen 1543. Moderne Ausgabe: El Nuevo Testamento de Nuestro Redentor y Salvador Jesucristo. Traducido del griego en lengua castellana por Francisco de Enzinas, 1543. Con notas bibliográficas e históricas por B. Forster Stockwell. Edición conmemorativa Cuarto Centenario 1543 – 1943, Buenos Aires 1943. Vgl. dazu Delgado 2007). Bis dahin war Spanien so gut wie das einzige europäische Land, das im Zeitalter der Reformation noch keine gedruckte Bibelübersetzung in der Volkssprache hatte. Enzinas (hellenisiert Dryander genannt) kam 1539 an die Universität Löwen und setzte im Herbst 1541 das Studium in Wittenberg fort, wo Philipp Melanchthon ihn in sein Haus aufnahm und für die Übersetzung des Neuen Testamentes begeisterte. In Spanien wurde Melanchthon als Vertreter der „deutschen Ketzerei“ wahrgenommen, wie die „Lutheraner“ allgemein genannt wurden. Ob seiner guten Feder und seiner humanistischen Bildung wurde er aber zumeist mit Respekt zitiert. Während seine philologisch-philosophischen Arbeiten vielfach bewundert wurden (Francisco de Vitoria [1932], der Begründer der „Schule von Salamanca“, zitiert z. B. lobend Melanchthons Arte grammaticae graecae), können wir von einer dreifachen Typologie in der spanischen Auseinandersetzung mit seinen theologischen Schriften bis zum Ende des Trienter Konzils sprechen: Bartolomé Carranza OP exzerpierte während der ersten Sitzungsperiode des Konzils als Arbeitsinstrument wichtige Stellen aus Melanchthons Loci, mit denen er weitgehend einverstanden war. Der Antitrinitarier Miguel Servet publizierte 1553 eine vehemente Apologie gegen die von Melanchthon geäußerte Kritik. Melchior Cano OP schließlich legte die Basis für die Erneuerung der Methode katholischer Theologie mit einem Gegenentwurf zu Melanchthons Loci.
DOI 10.1515/9783110335804-050
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1 Bartolomé Carranza: eine „katholische Lektüre“ Melanchthons Der Dominikaner Bartolomé Carranza wurde am 21. August 1559, kurz nach seiner Ernennung zum Erzbischof Toledos und somit zum Primas Spaniens, von der spanischen Inquisition aufgrund eines beim ebenfalls Dominikaner Melchior Cano bestellten Gutachtens zu seinem Werk Comentarios al Catechismo christiano (Antwerpen 1558) in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verhaftet (die spanische Version dieses Gutachtens findet sich in: Caballero 1871, 536 – 615; die lateinische Version wurde gedruckt in: Sanz y Sanz 1959, 481– 538. Das Gutachten ist auch von Canos Mitbruder Domingo de Cuevas unterzeichnet). Cano nennt Carranza nicht weniger als 50 Mal Alumbrado (Illuminierter) und 20 Mal Lutheraner. Der Prozess wurde von der römischen Inquisition zu Ende geführt, nachdem Carranza im Dezember 1566 beim Dominikaner-Papst Pius V. die Verlegung nach Rom erreichen konnte. Zum Abschluss kam der Prozess, dessen Akten über 20 Bände umfassen, erst unter Gregor XIII. am 14. April 1576. Nicht zuletzt weil Philipp II. und die spanische Inquisition ihr Gesicht wahren mussten, wurde Carranza verurteilt als „in starker Weise der Häresie verdächtigt“ („vehementer suspectus de haeresibus“, vgl. das Urteil im lateinischen Wortlaut in: Tellechea Idígoras 1976, 227; vgl. dazu auch Bermejo 2006, 163 – 190). Er sollte sechzehn Sätze „ad cautelam“ widerrufen, was er auch tat. Mit dieser Bedingung wurde er vom Papst „freigesprochen und in die Freiheit entlassen und Wir wollen nicht, dass er mit diesen Sachen in irgendeiner Weise künftig behelligt wird“ (Tellechea Idígoras 1976, 228). Nach fünf Jahren hätte er wieder sein Bistum übernehmen können. Aber nach einer Pilgerfahrt durch die großen Kirchen Roms, bei der er die Messe feierte und großzügige Almosen gab, starb er am 2. Mai desselben Jahres, 18 Tage nach der Freisprechung. War aber Carranza ein „Ketzer“ beziehungsweise ein „Lutheraner“? Aus theologischer Sicht hat der Dominikaner Juan de la Peña, ein Schüler Carranzas, der ebenfalls um ein Gutachten zu seinem Katechismus-Kommentar gebeten wurde, den Nagel auf den Kopf getroffen. Er bemerkte ironisch und scharfsinnig zugleich, das Problem scheine in der Sprache zu liegen und man dürfe nicht auf eine bestimmte geistliche Sprache verzichten, nur weil sich die Lutheraner ihrer bedienten: „Die Sprache […] dieser Ketzer ganz zu vermeiden ist unmöglich, wenn wir nun das Sprechen nicht neu erlernen und die Sprache des hl. Paulus vergessen wollen, die von den unfrommen und profanen Ketzern am meisten benutzt wird.“ (Tellechea Idígoras 1962, 278) Aber beim Prozess setzte sich die Optik Canos zumindest partiell durch, die von einer Hermeneutik des Verdachts geprägt war. So konnte nachgewiesen werden: a) dass Carranza unter seinen Arbeitspapieren handschriftlich gemachte Kopien von Zitaten Luthers, Oekolampads, Bucers und Melanchthons hatte, und diese zu wissenschaftlichen Zwecken gemachten Notizen nicht sorgfältig genug aufbewahrte, sodass sie in die Hände seiner Schüler und gar einiger Frauen gelangen konnten; b) dass er sich in seinem Werk vielfach der protestantischen Sprache bediente; c) und
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schließlich, dass er sich über einige Kontroversfragen, in denen die katholische Kirche ihre Position klar definiert hatte, nicht ausführlich genug und dazu noch ambivalent äußerte (Tellechea Idígoras 1976, 206 – 207). Unter den Papieren Carranzas wurde eine Mappe mit Texten Melanchthons gefunden, und dies spielte beim Inquisitionsprozess im Herbst 1562 eine wichtige Rolle. Denn Carranza musste zugeben, dass er diese Texte 1546 – 1547 während seiner Teilnahme an der ersten Sitzungsperiode des Trienter Konzils selbst exzerpiert beziehungsweise von einem spanischen Laienmitarbeiter namens Cegama hatte kopieren lassen. Es handelt sich um Textausschnitte aus der Confessio Augustana und den Loci (Ausgaben von 1533, 1535 und 1543). Carranzas Absicht dürfte gewesen sein, Textmaterial für seine Arbeit als Konzilstheologe zu sammeln. Die Inquisition unterstellte ihm aber eine gedankliche Affinität zu den „Lutheranern“, zumal Carranza sich in seinem Katechismus-Kommentar von 1558 an einigen Stellen, wenn auch ohne Quellenangabe, ähnlich äußerte. Dank des minutiösen Vergleichs von José Ignacio Tellechea Idígoras (1979) zwischen den Texten Melanchthons und den Exzerpten, Auslassungen und Veränderungen Carranzas lässt sich heute die These aufstellen, dass es Carranza um eine „katholische Lektüre“ des Reformators ging. Tellechea Idígoras stellt die Texte Melanchthons und Carranzas synoptisch gegenüber und kommt zu folgendem Ergebnis: (1) Carranzas Exzerpt De differentia Novi et Veteris Testamenti ist von Melanchthons De discrimine Veteris et Novi Testamenti in den Loci von 1533 deutlich abhängig (Tellechea Idígoras 1979, 36 – 42; CR 453 – 456). Aber Carranza lässt einiges aus, nicht nur Bibelstellen, sondern auch das, was als antikatholisch verstanden werden könnte, wie etwa Melanchthons Parallelisierung der Riten Israels und der katholischen Messe. Ansonsten bleibt der rote Faden Melanchthons erhalten, weil dies auch katholisches Gedankengut ist: die Differenz und zugleich die Einheit beider Testamente. Es ist also kein Wunder, dass die subtilen Qualifikatoren der Inquisition an diesem Exzerpt Carranzas nichts Verwerfliches fanden. (2) Während Melanchthons Abschnitt in den Loci von 1533 De Evangelio heißt, steht Carranzas Exzerpt unter dem Titel De discrimine legis et Evangelii (Tellechea Idígoras 1979, 50 – 60; CR 413 – 420). Wiederum ist hier die Abhängigkeit von Melanchthon augenscheinlich, aber Carranza vermeidet typische protestantische Ausdrücke, lässt viele Stellen aus, darunter manche biblische Verweise und Melanchthons Angriffe auf seine (katholischen) „adversarii“, und nimmt hier und da katholische Klarstellungen in den Text auf. Man hat den Eindruck, das Carranza eine „Expurgation“ und Ergänzung von Melanchthons Text betreibt, damit dieser „katholisch“ klingen kann. (3) Carranzas Exzerpt De spiritu et littera stimmt im Titel gänzlich mit dem Text Melanchthons in den Loci überein (Tellechea Idígoras 1979, 84– 86; CR 456 – 457). Aber Carranzas Vorgehensweise ist auch hier die bereits bekannte einer „katholischen Lektüre“ Melanchthons mittels Expurgation und Ergänzung. Carranza ist bemüht, Altes und Neues Testament, Gesetz und Evangelium, Geist und Buch-
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staben bei allen Differenzen zusammen zu halten und keine „protestantischen“ Einseitigkeiten aufkommen zu lassen. (4) Wiederum stimmt der Titel von Carranzas Exzerpt De libertate christiana mit dem Text Melanchthons in den Loci von 1533 überein (Tellechea Idígoras 1979, 97– 112; CR 458 – 466). Und ebenso finden wir hier die typische Vorgehensweise Carranzas: Er unterlässt Ausdrücke, die nach der Rechtfertigungstheologie des „sola fide“ klingen könnten, dazu noch Anspielungen auf die Täufer, die Kritik der mosaischen Gesetze, den Vorwurf an die Katholiken, den Verdienst Christi auf die Riten zu übertragen, die Kritik am Mönchtum sowie die vielen Verweise Melanchthons auf die Unmöglichkeit und Bedeutungslosigkeit der Gesetzeserfüllung. Besonders interessant ist, wie vehement Carranza im vierten Freiheitsgrad („Der vierte Grad lehrt, was von den kirchlichen Zeremonien zu halten ist, die von Bischöfen oder anderen Menschen eingesetzt wurden“) Melanchthon widerspricht. Dieser stellte – wenn auch nicht so radikal wie Luther – die moralische Verpflichtung der Kirchengebote in Frage, weil man im Prinzip nur den göttlichen Geboten folgen solle. Die Kirchengebote solle man höchstens zum Wohle der sozialen Ordnung und zur Vermeidung von Ärgernis einhalten. Aber im Grunde stellten sie immer eine potentielle Gefahr für die christliche Freiheit dar. Carranza bezeichnet diese Lösung als für jeden Katholiken „frivol und unfromm“, sodass es überflüssig sei, die Nichtigkeit der Argumente zu beweisen („Aber kein Katholik wird ignorieren, wie frivol und unfromm diese Lösung ist, und es ist überflüssig, die Banalität ihrer Argumente zu beweisen“ [Tellechea Idígoras 1979, 110]). Mit Melanchthon (und Luther) als Negativfolie im Hintergrund begründet Carranza in seinem Katechismus-Kommentar die Sinnhaftigkeit der Kirchengebote und ihre Konformität mit der wahren christlichen Freiheit ausführlicher (Tellechea Idígoras 1979, 149; Carranza de Miranda, 1972– 1999, I, 532– 559 und II, 11– 14). (5) Carranzas Exzerpt Regnum Christi est Spirituale hat zwei Texte aus den Loci von 1535 zur Grundlage: Quod regnum Christi sit spirituale und De afflictionibus seu de cruce toleranda (Tellechea Idígoras 1979, 160 – 179; CR 519 – 536). Carranza lässt aber vieles aus, nicht zuletzt ausführliche biblische Zitate, und macht am Anfang des Textes eine einführende Bemerkung mit Verweis auf Prophetentexte und auf das Neue Testament. Die grundlegende Übereinstimmung zwischen Melanchthon und Carranza liegt in der Verteidigung des fundamental geistlichen Charakters des Reiches, das von den Propheten angekündigt und von Christus eröffnet wurde. In dieser Welt könne es jedoch nicht zur Vollendung gelangen, und schon gar nicht gewaltsam herbeigeführt werden (wie manche Täufer meinten). Vielmehr gehöre die „Drangsal“ (tribulatio) wesentlich zur christlichen Existenz. Anlässlich der Glosse der Vaterunser-Bitte „Dein Reich komme“ in seinem Katechismus-Kommentar unterstreicht Carranza den spirituellen Charakter des Reiches (Carranza de Miranda 1972– 1999, II, 415 – 418). Ohne Melanchthon wörtlich zu zitieren, finden sich hier die grundlegenden Gedanken aus dem Exzerpt in katholischer Aneignung.
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(6) Unter den Papieren Carranzas aus der ersten Sitzungsperiode des Trienter Konzils fand man auch einen kleinen Text mit dem Titel Contra protestantes de iustificatione fidei. Es handelt sich um acht für die katholische Position repräsentative Argumente, die Carranza aus den achtzehn Argumenten der Gegner (De argumentis adversariorum) Melanchthons nach den Loci von 1543 exzerpiert hat (Tellechea Idígoras 1979, 204– 205). Wir wissen nicht, aus welchem Grund Carranza sich bemüht fühlte, die katholische Position in der Sicht Melanchthons festzuhalten. Vermutlich fand er in der Fremdwahrnehmung eine treffende Sicht derselben, wie er sie gegenüber den Protestanten verteidigen wollte. Zusammenfassend können wir zunächst das Faktum festhalten, dass Carranza 1547 einige Texte aus den Loci exzerpiert hat, manchmal ziemlich genau, andere Male mit erheblichen Abweichungen, Ergänzungen und Kommentaren, in denen er seinen Dissens bekundete. Aus heutiger Sicht kann man ohne Weiteres annehmen, dass diese Exzerpte zum wissenschaftlichen Gebrauch bei seiner Arbeit als Konzilstheologe erfolgten, und so begründete er dies auch bei seinem Prozess, indem er darauf hinwies, dass man ihm und den anderen Theologen bei der ersten Sitzungsperiode des Konzils Ausgaben der Confessio Augustana und der Loci zu deren Studium übergeben hatte. Die Inquisitoren meinten, in Carranzas Katechismus-Kommentar Anspielungen auf einige Texte Luthers zu finden, aber sie kamen nicht auf den Gedanken, dass es sich oft um Melanchthon handelte. Mit wenigen Ausnahmen geht es bei den genannten Exzerpten um Texte, bei denen Carranza – ausgehend von der Bibel und der theologischen Tradition – eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den von Melanchthon vertretenen protestantischen Positionen und der katholischen Sicht feststellen konnte. Mit seiner „katholischen Lektüre“ versuchte Carranza aus dem Protestantismus das zu retten, was darin „wahr und heilig“ ist, um die neue Hermeneutik der nicht-christlichen Religionen des II.Vatikanums (Nostra aetate 2) zu zitieren. Aber Ende der 1550er Jahre, als der Prozess gegen Carranza aufgerollt wurde, war für solche konzilianten Ansätze kein Platz. Die enge Sicht, vor der Kardinal Reginald Pole in seiner Konzilsrede vom 21. Juni 1546 gewarnt hatte („Id Lutherus dixit, ergo falsum est“, Concilium Tridentinum: Diaria [1901], I, 83; hier zitiert nach Tellechea Idígoras 1979, 212), hatte sich nun im katholischen Lager durchgesetzt.
2 Miguel Servet: eine „Apologie“ gegen Melanchthon Als Sekretär des späteren kaiserlichen Beichtvaters Juan de Quintana war der junge Servet bei den Debatten anwesend, die 1527 zu Valladolid über Erasmus geführt wurden. Die spanischen Scholastiker nahmen dabei unter anderem an Erasmus’ These Anstoß, „der Trinitätsglaube komme in der Schrift nicht unmittelbar zum Ausdruck,
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weder in Schriftworten selbst noch in zwingenden Gedankenfolgen aus dem Text“ (Gauss 1966, 419). Er sei vielmehr eine Schöpfung der Theologie der östlichen Kirchenväter auf dem Boden der hellenistischen Philosophie. Erasmus antwortete darauf in seiner 1529 in Basel gedruckten Apologia adversus articulos aliquot per monachos quosdam in Hispaniis exhibitos. Nachdrücklich betont Erasmus darin, dass er kein Unitarier oder Arianer, also kein Verächter des Trinitätsglaubens sei; gleichwohl hält er auch fest, es gebe kein anderes Argument gegen die Arianer „als den Vernunftbeweis“ (Gauss 1966, 421). Servet, der nach dieser Debatte von Quintana zu Rechtsstudien nach Toulouse geschickt wurde, nutzte diese Zeit, um sich in das Bibelstudium zu vertiefen. In Toulouse kam er vermutlich auch mit dem Geist der Reformation in Verbindung, denn Melanchthons Loci-Ausgabe von 1521 war dort im Umlauf. Angenommen wird ebenfalls, dass Servet beim Augsburger Reichstag 1530 anwesend war und dort Melanchthon persönlich kennenlernte, denn in der Apologia, die er etwa 20 Jahre später schrieb und 1553 als Anhang zu seiner Christianismi restitutio unter dem Titel De mysterio trinitatis et veterum disciplina ad Philippum Melanchthonem et eius collegas Apologia (Servet 2011, II [1551– 1691]; im Folgenden wird die Apologia nach dem lateinischen Originaltext dieser Ausgabe zitiert) drucken ließ, spricht er den Reformator mit einer gewissen Vertrautheit an. Es kann sich aber auch um die übliche humanistische Rhetorik handeln. Sicher ist, dass Servet im Winter 1529/30 kaum neunzehnjährig sein theologisches Frühwerk De trinitatis erroribus geschrieben hat, in dem seine Hauptthese bereits enthalten ist: Der nizänische Trinitätsglaube sei nicht schriftkonform, sondern stelle einen Traditionsbruch dar; man müsse daher den Christenglauben auf seine nicht-trinitarische biblische Grundlage zurückführen, um so die monotheistische Einheit deutlicher zu zeigen – nicht zuletzt in der Hoffnung, dass sich dadurch die Glaubensgegensätze zwischen Christen, Juden und Muslimen überbrücken ließen. Servet stand bereits mit seinem Frühwerk auf derselben Linie wie die jüdisch-islamische Kritik an der Trinitäts- und Inkarnationslehre: „Über das religiöse Argument war er sich ganz klar: Die Juden halten uns für ,schismatisch‘, die Mohammedaner werfen uns Blasphemie vor“. (Gauss 1966, 419) Ein folgerichtiges Durchdenken der Dreifaltigkeitslehre führe zum Glauben an drei Götter, also zum Tritheismus und Polytheismus. Servets Frühwerk war zugleich ein reformatorisches und ein missionarisches Programm, denn vom biblisch erneuerten Christentum versprach er sich die Gewinnung der Juden und der Türken. Und dies in einer Zeit, die politisch durch die Türkengefahr und die Zwietracht in der Christenheit geprägt war und theologisch durch die gemeinsame Front von reformatorischen und katholischen Theologen gegen die Unitarier oder Antitrinitarier. Luther nannte solche Christen bereits 1524 schlichtweg „Türken“ (Gauss 1966, 455). 1527, im selben Jahr der ErasmusKontroverse zu Valladolid, schritten die Unitarier in Nikolsburg dazu, ein antitrinitarisches Glaubensbekenntnis aufzustellen. Im Sommer 1530 kommt Servet nach Basel, wohl in der Absicht, sein Manuskript über die Irrtümer des Trinitätsglaubens zu drucken. Etwa zehn Monate hat er in Basel die Gastfreundschaft von Oekolampad genossen. Als Servet ihm aber ein eigenes
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Glaubensbekenntnis vorlegt, das den Trinitätsglauben abschwächt, kommt es zum Bruch. Servets Glaubensbekenntnis betont die Einzigartigkeit Gottes, des Vaters, den er über den Sohn und den Heiligen Geist stellt, und verzichtet auf die Nennung von Christi Passion und Kreuzestod. „Ich sehe klar genug, wie weit du von uns abweichst – dass du mehr wie ein Jude denkst als die Ehre Christi verkündest“ (Gauss 1966, 457) – stellte Oekolampad fest. Und in zwei Briefen warf er Servet vor, dieser verneine, „dass Christus der wesensgleiche Sohn Gottes sei“ (Gilly 1985, 286). Nachdem auch Bucer, der Straßburger Reformator, mit seinen Thesen nicht einverstanden war, blieb Servet nichts anderes übrig, als 1531 einen Druck in Hagenau aus eigenem Antrieb zu organisieren. Die Reaktion auf das Erscheinen des Bandes war im katholischen wie im reformatorischen Lager äußerst negativ. Sein früherer Schutzherr Quintana nannte ihn einen Sophisten, Erasmus wollte ihn nicht empfangen, Oekolampad, Bucer und Zwingli distanzierten sich ausdrücklich von ihm, später auch Calvin. Und auch Melanchthon nahm im Brief an einen Freund kritisch Stellung: „Ich finde Servet scharfsinnig und subtil im Disput, aber nicht sehr solide. Ich habe den Eindruck, dass er an Verwirrungen und Halluzinationen leidet […]. Ich lese intensiv Servet. Er verfälscht sehr Tertullian […] und bringt Irenäus durcheinander.“ (CR 2, 630 – 640) In einem weiteren Brief heißt es: „In Servet gibt es viele Anzeichen eines fanatischen Charakters […]. Mir missfällt, dass er Christus nicht für den wahren natürlichen Sohn Gottes hält: dies ist der Kern der Kontroverse […]. Ich werde eine neue Ausgabe der ‚Loci‘ drucken lassen“. (CR 2, 660 – 661) In den Loci-Ausgaben ab 1535 ist dann auch von Servet die Rede, auch noch in der letzten Ausgabe von 1559, die nach dem Ketzertod Servets (1553) erschien. Hier nannte ihn Melanchthon – neben Paul von Samosata und Photinus von Sirmium – „schlau und auch unfromm“ (MSA 2/1, 189 [CR 2, 619]). Ebenso ist Servet unter anderem in einem Brief Melanchthons vom Januar 1539 an die evangelischen Glaubensgenossen in Venedig (MBW.T 8, 283 – 289 [CR 3, 745 – 750]), die vor seinen Irrtümern eindringlich gewarnt werden, sowie in seinem Testament vom 12. November desselben Jahres ein Thema (MBW.T 8, 597– 601 [CR 3, 825 – 828]). Und in der Formula consensus de quibusdum articulis controversis von 1557 anlässlich des Wormser Religionsgesprächs werden die „Lästerungen Servets gegen den Sohn Gottes“, die einige Irrgeister nach seinem Tod weiter verbreiten, verurteilt sowie deren Urheber als „offensichtliche Werkzeuge Satans“ bezeichnet (MBW 8425 [CR 9, 365 – 372]). Ausführlicher setzte sich Melanchthon mit Servet in der Schrift De Ecclesia et de autoritate verbi Dei (MSA 1, 323 – 386), vor allem aber im Traktat Refutatio errorum Serveti et Anabaptistarum (MSA 6, 365 – 377) auseinander. Am 14. Oktober 1554 hatte Melanchthon Calvin für die Hinrichtung Servets beglückwünscht: „Ich bin mit Dir ganz einverstanden. Und ich sage außerdem, dass die Räte beim Tod des Gotteslästerers ganz gerecht vorgegangen sind.“ (CR 8, 362– 362 [MBW.T 3, 7306,241], vgl. auch CO 15, 268 – 269) Der Vorwurf an Servet lautet im Wesentlichen, dieser verwechsele die zentralen trinitarischen Begriffe (Logos-Wort, Person, Hypostase) beziehungsweise verstehe sie nicht richtig, leugne daher die Wesensgleichheit zwischen Vater und Sohn und berufe sich dabei zu Unrecht auf Irenäus und Tertullian. Melanchthon hat vielleicht Servets
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Traktat von 1531 überflogen, aber das Spätwerk von 1553 mit Servets Apologia gegen ihn vermutlich nicht gelesen, denn darauf geht er nirgendwo ein. Die Forschung hält diese Apologia, die bei Melanchthon ohne Echo blieb, für „die vollkommenste und systematischste Zusammenfassung von Servets Lehre“ (Alcalá 1971, 57). Die Kritik des von ihm bewunderten Melanchthon, den er in seiner Apologia „einen herzlichen und frommen Menschen“ nennt (Servet 2011, II, 1567/677), muss Servet tief getroffen haben. Das erklärt die Vehemenz seiner Apologia, aber auch dass diese weitgehend in einem „kerygmatisch-paränetischen“ Stil gehalten ist. Servet weist die Vorwürfe zurück und hält Melanchthon und den anderen Kritikern vor, dass sie selber die trinitätstheologischen Begriffe nicht verstünden, ebenso wenig Irenäus und Tertullian; darüber hinaus interpretierten sie die Bibel falsch und könnten nichts besser tun, als ihre Irrtümer anzuerkennen, das heißt die eigene Medizin zu trinken: „Denke nun mal, Philipp, über die Tatsache nach, dass ich keinerlei neue Begrifflichkeit einführe, dass ich keine Sophisma benutze, dass ich keineswegs die Worte der Heiligen Schrift missbrauche, wie ihr es tut. Ich verdrehe keine Stelle der Schrift, ich tue ihr keine Gewalt an. Für mich ergibt sich alles auf ehrliche, einfache und offene Weise.“ (Servet 2011, II, 1567/676) Servet belässt es aber nicht dabei, die trinitätstheologische Kontroverse auszutragen, sondern diskutiert mit Melanchthon auch über den freien Willen und die guten Werke, den Antichrist und das tausendjährige Reich, den Totenkult, die Verehrung der Bilder, das Fasten, die Kirchenordnung, den Brauch, sich zu bekreuzigen, die Bluttaufe des Martyriums und die reinigende Feuertaufe beim Gericht, und schließlich auch über die Beichte. Seine Apologie schließt Servet mit einer doxologischen Bekräftigung seiner Sicht ab: „Gebenedeit sei er [Christus] in aller Zeit und in Ewigkeit, derjenige, der uns die Kenntnis seiner selbst schenkte, indem er uns seine Weisheit eingoss. Gebenedeit seien in ihm diejenigen, die wirklich glauben, dass er der Sohn Gottes ist, der seit Ewigkeit in Gott glänzt und ewig herrscht.“ (Servet 2011, II, 1691/734) Melanchthons Vorwürfe und Servets Apologia zeigen, dass der Dialog zwischen beiden – und so auch zwischen Trinitariern und Antitrinitariern – nicht möglich war, weil man von beiden Seiten sich nur darauf beschränkte, die eigene Sicht zu bekräftigen und die der anderen zu disqualifizieren.
3 Melchior Cano: die katholischen „Loci theologici“ Der hochrangige Dominikanertheologe Melchior Cano war zunächst Professor an der humanistisch geprägten Universität Alcalá. 1546 folgte er seinem Lehrer Francisco de Vitoria auf den Prima-Lehrstuhl in Salamanca und 1551– 1552 nahm er als kaiserlicher Theologe an der zweiten Sitzungsperiode von Trient teil. 1559 verfasste er das oben behandelte minutiöse und äußerst kritische Gutachten gegen den KatechismusKommentar seines Mitbruders Carranza und spielte eine entscheidende Rolle bei dessen Verhaftung sowie bei der Verurteilung der „Kryptoprotestanten“ von Sevilla und Valladolid im selben Jahr. Ebenso hat er den Generalinquisitor Fernando de
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Valdés 1559 bei der Publikation des Index der verbotenen Bücher beraten, in dem unter anderem nicht nur Werke protestantischer Autoren, sondern auch des Erasmus und einiger geistlicher Autoren aus Spanien genannt werden, die in der Volkssprache erschienen waren. Hier interessiert er vor allem, weil er sich spätestens seit seiner Lehrtätigkeit in Salamanca vorgenommen hatte, eine katholische Methoden- oder Erkenntnislehre zu verfassen. Aufgrund seines frühen Todes mit nur 51 Jahren ist das Werk leider unvollendet geblieben. Von den vierzehn geplanten Büchern fehlen die letzten zwei, die besonders interessant gewesen wären, da sie von der Verwendung der Loci bei der Auslegung der Heiligen Schrift (Buch XIII) sowie gegenüber den Ketzern, den Heiden, den Juden und den Sarazenen (Buch XIV) handeln sollten. Das Werk wurde 1563 als De Locis Theologicis Libri duodecim posthum in Salamanca gedruckt – nicht zuletzt mit Unterstützung des genannten Generalinquisitors, der Testamentsvollstrecker Canos war und in diesem Werk eine für das „Sicherheitsdenken“ der Inquisition nützliche katholische Denkform sah (das Werk findet sich in der lateinischen Originalversion am besten in: Melchioris Cani Opera 1746; neuerdings ist eine gut zugängliche spanische Übersetzung erschienen: Cano 2006. Die arabischen Seitenzahlen beziehen sich hier immer auf die spanische Ausgabe, während Buch und Kapitel auch auf die lateinische verweisen, hier: Cano 2006, XII, 4, 708 – 709. Zu den „Loci“ Canos vgl. außerdem: Lang 1925, Klinger 1978, Horst 1989, Körner 1994, Walter 2002). Mit Melanchthons Loci, die Cano gut kannte, hat sein Entwurf nur den Namen gemeinsam. Denn anders als Melanchthon, den er zusammen mit Calvin als „sehr eloquente, wenn auch unfromme Männer“ bezeichnet (Cano 2006, 9 [I, 3]), geht es Cano nicht um eine Sichtung der wichtigsten Fragen der Theologie als Schwerpunktbereiche der Heiligen Schrift oder als „Materialdogmatik“ (so Melanchthon in der letzten Ausgabe seiner Loci 1559) in konfessioneller Färbung, sondern um eine Klarlegung der „Methode“ oder „Erkenntnislehre“ katholischer Theologie – nicht zuletzt angesichts der protestantischen Art, Theologie zu betreiben. Cano selbst meint, er möchte für die Theologie etwas Ähnliches leisten wie Aristoteles mit seiner Topik, das heißt allgemeine Fundorte begründen, aus denen man für jedwede theologische Frage die Argumente zur Beweisführung oder zur Widerlegung gewinnen könnte: „Denn eines ist, Argumente zu häufen beziehungsweise sie zu zerstreuen und zu vergeuden, und etwas anderes ist, sie mit Methode und technischem Wissen zu beherrschen.“ (Cano 2006, 681 [XII, 2]) Melanchthon wird darin, oft mit Calvin und den „Lutheranern“ gemeinsam, etwa zehn Mal genannt, aber immer punktuell, wenn es Cano gerade passt und ohne eine systematische Auseinandersetzung mit ihm zu intendieren. Typisch ist zum Beispiel seine Warnung vor der Täuschung Calvins, „Philipps“ (wie er Melanchthon oft nennt) und Gefährten, die dazu neigen, „das Denken der Väter, dem eigenen Empfinden anzupassen“ (Cano 2006, 114 [II, 13]) – also ohne genau nachprüfbare Quellenangaben zu zitieren. Cano ist sich bewusst, dass er mit seinem Werk als erster die Methode katholischer Theologie systematisiert. Er übernimmt diese Aufgabe „ohne jede Unterstützung, sozusagen ‚auf eigene Faust‘“ (Cano 2006, 680 [XII,2]). Thomas von Aquin, den Cano
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„den tüchtigsten und vollkommensten Theologen“ (Cano 2006, 678 u. 679 [XII, 2]) nennt, sprach nur von einigen Fundorten der Theologie „kurz und bündig“ und klammerte die Frage nach dem methodischen Umgang mit ihnen „völlig“ aus (Cano 2006, 679 [XII, 2]). Und Francisco de Vitoria, der andere Theologe, den Cano ehrfürchtig betrachtet, habe auch keinen methodischen Umgang mit den theologischen Fundorten begründet: „So hat es niemanden gegeben, der die Fundorte klug nach Gattungen einteilte und ordnete, niemanden, der mit einem rationalen Kriterium diesen vernachlässigten und zerstückelten Teil der Theologie verband und zusammen hielt.“ (Cano 2006, 681 [XII, 2]) Das Werk zeigt, dass Melchior Cano ein humanistisch gebildeter Theologe war: Er zitiert so gut wie alle relevanten Autoren der heidnischen Antike (vor allem Aristoteles, Cicero und Plato) und schrieb ein elegantes Latein, das dem der Humanisten in nichts nachstand. Aber er war kein Humanist im Sinne des „theologischen Humanismus“ seiner Zeit, der mit Erasmus identifiziert wurde. Denn er hatte seine Mühe mit den Erasmianern und deren philologisch orientierter Exegese sowie mit der der spanischen Gräzisten und Hebraisten in Salamanca und Alcalá oder der jüdischen Schriftgelehrten (zu den Problemen der Dominikanertheologen Salamancas mit Hebraisten und Gräzisten vgl. Domínguez Reboiras 1998). Er empfahl zwar das Studium der biblischen Sprachen, beteuerte aber, dass in allen den Glauben betreffenden Dingen die lateinischen Bibelausgaben nicht durch hebräische oder griechische korrigiert werden dürfen: „Er betont unter Berufung auf Trient, dass in Glaubens- und Sittendingen die Vulgata als Basis sämtlicher Lehrentscheide in Schule und Kirche zu gelten hat, wobei ein notwendiger Rekurs auf ursprachliche Versionen außer Betracht steht.“ (Horst 1989, 337) Canos Hauptwerk richtet sich auch gegen die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache und gegen die neuen Formen von Spiritualität und geistlicher Literatur. Mehr noch: In Buch XII, Kapitel 9, das parallel zum Gutachten über Carranza entstanden sein dürfte, liefert uns Cano eine Kriteriologie, um die Methode in rigore ut iacent zu praktizieren, sodass dieses Buch sich auch als Anleitung für die Arbeit der Qualifikatoren der Inquisition lesen lässt. Im genannten Gutachten werden demnach etwa 200 Sätze Carranzas als Anstoß erregend, waghalsig, missverständlich, nach Häresie riechend, irrtümlich und sogar echt „häretisch“ eingestuft (Caballero 1871, 536 – 615; Cano 2006, 763 – 776 [XII, 9]). Seine theologische Methode besteht in der Suche nach positiven Autoritäten oder Fundorten für die Glaubensaussagen. Die Reihenfolge der Fundorte wird so bestimmt: Heilige Schrift, Überlieferung, Lehramt der Katholischen Kirche, Lehramt der Konzilien, Lehramt der Römischen Kirche, Lehramt der Kirchenväter, Lehramt der scholastischen Theologen (zu denen auch die Kanonisten gezählt werden), natürliche Vernunft, Autorität der Philosophen, Autorität der Geschichte (Cano 2006, 9 – 10 [I, 3]). Canos Methode wird dem katholischen Selbstverständnis gerecht, etwa in der Aussage, dass die Heilige Schrift, jedenfalls das Neue Testament, im Schoße der Kirche entstanden ist, also nicht vor der Kirche da war, weshalb die Kirche, repräsentiert durch die verschiedenen Stufen des Lehramtes, die legitime Interpretin der Schrift ist: „Das selbe Verständnis der Kirche ist das genuine Verständnis der Schrift, aus dem
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man – auch wenn der Ketzer knirscht – nicht nur ein gewisses Zeichen der ‚katholischen Wahrheit‘ erlangen wird, sondern auch die Unterscheidung dieses wahren Argumentes, das wir suchen, um die theologischen Schlüsse zu beweisen […]. Die Kirche hütet also beides und wird immer beides hüten: sowohl das Wort als auch den Geist des Wortes.“ (Cano 2006, 717 [XII, 5]) Aber Canos Methode klingt in manchen Aspekten auch sehr modern: (1) So etwa, wenn er betont, dass die ersten zwei Loci, also Schrift und Tradition, von einer ganz anderen Qualität als die restlichen sind. Sie sind vielmehr das Fundament des gesamten theologischen Gebäudes: „Jene sind die Fundamente der theologischen und kirchlichen Lehre, die Christus durch die Apostel setzte; die anderen [Loci, d.Vf.], gleich ob es sich um die Konzilien, die Päpste oder die heiligen Kirchenlehrer handelt, bauen lediglich darauf.“ (Cano 2006, 690 [XII, 2]) Mit anderen Worten: „[…] von den zehn theologischen Fundorten enthalten die ersten zwei die ‚eigentlichen und legitimen Prinzipien‘ der Theologie, während die letzten drei die ‚externen und fremden‘ enthalten und die fünf mittleren entweder die Interpretation der eigentlichen Prinzipien oder die Schlüsse, die aus ihnen entstehen und gezogen werden, enthalten.“ (Cano 2006, 692 [XII, 2]) (2) Modern ist auch die Etablierung einer „Hierarchie der Wahrheiten“ unter den christlichen Glaubensaussagen. So unterscheidet Cano zwischen den „ersten Prinzipien des Glaubens“ – gemeint sind „die wichtigsten Glaubensartikel“ –, die er „erste und eigentliche Aussagen der Theologie“ nennt und ohne deren Annahme „der Theologe keinen Schritt vorangehen kann“, und den „nachgeordneten Prinzipien“, die als „Hypothesen“ der Theologie bezeichnet werden. Von denen heißt es, dass der Theologe selbstverständlich imstande ist, „diese irgendwie zu beweisen oder zumindest dem Schüler zu erklären“. (Cano 2006, 690 – 691 [XII, 2]) (3) Modern ist ebenfalls seine Wertschätzung der natürlichen Vernunft, der Philosophie und der Geschichte als fremde Quellen der Theologie, auch wenn sie noch nicht in der ihnen gebührenden Autonomie betrachtet werden. (4) Modern ist ebenso das Festhalten an einer gewissen „Rationalität“ des Christentums, sodass wir „auf Christus, wie auf einen unterweisenden Lehrer, nicht wie auf einen betrügerischen Zauberer hören“ sollten. Daher sollten wir auch „die Ursachen und Gründe“ der christlichen Lehre darlegen (Cano 2006. De Locis, 700 [XII, 3]). (5) Modern ist auch das Selbstbewusstsein, mit dem Cano das Recht des Theologen auf seinen eigenen Weg reklamiert: „Der Theologe hat keinen Anlass, auf die Gesetze eines anderen zu schwören. Denn die Sache, mit der er sich persönlich befasst, ist zu groß und zu wichtig, als dass er immer auf den Spuren des (Schul‐) Magisters wandern muss; zumindest wenn er wirklich zu einem vollkommenen Theologen werden möchte.“ (Cano 2006, 668 [XII, Prolog]) (6) Von bleibender Aktualität ist schließlich Canos Ermahnung, der Theologe sollte „alberne und substanzlose Fragen“ vermeiden und sich auf wirklich „theologische Fragen“ konzentrieren, das heißt auf solche, die mit den eigentlichen Prinzipien der Theologie zu tun haben (Cano 2006, 702– 703 [XII, 4]).
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Die Methodenhierarchie Canos ist sicherlich eine katholische Antwort auf die reformatorische Überbetonung der Schrift bei gleichzeitiger Geringschätzung von Überlieferung, Lehramt und Vernunft. Aber Canos Methode ist auch Ausdruck eines negativen Tutiorismus, einer extremen Angst vor Irrtümern und Abweichungen; um solches zu vermeiden, müsse man in der Theologie den sichersten Weg gehen, und der bestehe eben darin, von den Glaubensaussagen auszugehen und diese nach allen Seiten hin abzustützen: „Das ‚Sicherheitsdenken‘, das ein theologisches, historisches und pastorales Risiko um beinahe jeden Preis auszuschließen gewillt war, sollte ein Merkmal der nachtridentinischen Theologie werden.“ (Horst 1989, 92) So ist die „positive“ katholische Theologie nach Trient entstanden, die eine Konzentration auf die sicheren Fundamente des Glaubens befürwortet und so auch eine scholastische Erneuerung auslöste. Aber in den Phasen des Selbstdenkertums (Welte 1965, 386 – 387) und der kreativen Auseinandersetzung mit neuen Fragen der Zeit, wie etwa bei der Tübinger Schule, dem Modernismus oder der nouvelle théologie, wurden die Grenzen einer solchen Theologie schmerzlich sichtbar, da sie – gegen den Protestantismus gebaut – zur Festigung der katholischen Schultheologie nützlich war, aber als hermeneutisches Instrumentarium zum Verstehen neuer geistiger Herausforderungen unzureichend ist. Bei allem Unterschied in der Konzeption ihrer Loci sieht Peter Walter zwischen Cano und dem „späteren“ Melanchthon (ab der Epistola ad lectorem nach der LociAusgabe von 1543; vgl. z. B. die letzte Ausgabe von 1559 als Loci praecipui theologici, MSA 2/1, 165 – 167) auch „gewisse Analogien“ (Walter 2002, 79 – 84). Diese sind zunächst die Distanz zum „Biblizismus“ und die Betrachtung der Kirchenlehre als „hermeneutischen Schlüssel“ (bei Melanchthon die Lehre der Wittenberger Kirche, bei Cano die allgemeinen Konzilien): „Der gravierende Unterschied besteht darin, dass Melanchthon diese Funktion an die (humanistische) Erudition bindet, während für Cano die amtliche Beauftragung der Bischöfe beziehungsweise des Papstes maßgebend ist.“ (ebd. 80) Weitere Analogien sind die Rationalität der kirchlichen Lehre, die daher eines Begründungsverfahrens bedarf, wenn auch anders als die Philosophie. Bei aller Betonung der Bedeutung der Heiligen Schrift hält sie Cano „nicht nur im Hinblick auf die einfachen Gläubigen für auslegungsbedürftig“ und sieht „in der rechten Interpretation der Heiligen Schrift die Hauptaufgabe des kirchlichen Lehramtes und der Theologen“ (ebd. 82). Gemeinsam ist beiden „der Glaube daran, dass die Schriftauslegung primär ein von Gottes Geist geleitetes Geschehen ist, welcher die Wahrheit der Auslegung verbürgt“ (ebd. 84).
4 Ausblick Die drei vorgestellten Typologien zeigen die vielfältige Rezeption Melanchthons bis zum Ende des Konzils von Trient. Danach ist eine Verengung zu beobachten: Melanchthon wird von den spanischen Theologen kaum mehr zitiert, es sei denn, dass man sich in der Gnadenkontroverse auf ihn berufen konnte, um die jeweils andere
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Seite – etwa im Verständnis des freien Willens – der Nähe zu den „Lutheranern“ zu bezichtigen, oder dass dies nötig war, um die Falschheit eines solchen Vorwurfs zu entlarven. Im letzteren Sinne wird Melanchthon zum Beispiel 1594 im Gutachten von Sancho Dávila sowie im Gutachten von Pedro Gavilán und Antonio Hernández (Beltrán de Heredia 1968, 473 – 528, 537– 572; 675 zu den Verweisen auf Melanchthon im Autorenverzeichnis) über das Werk des Dominikaners Domingo Báñez und des Merzedariers Francisco Zumel zitiert, denen die „Molinisten“ aus der Jesuitenschule eine Nähe zu den „Lutheranern“ unterstellt hatten.
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Anders als Martin Luther hat Melanchthon Italien nie bereist. Dennoch zeichnet er sich unter den Wittenberger Reformatoren der ersten Generation durch die kritische Rezeption des italienischen Humanismus und intensive Korrespondenz mit italienischen Briefpartnern aus. Ferner wurde er in Italien als bedeutender Vertreter der Reformation wahrgenommen, kritisiert und, wo die Bereitschaft dazu bestand, rezipiert.
1 Der Einfluss des italienischen Humanismus auf Melanchthon Als Verwandter und vor allem Schüler von Johannes Reuchlin wuchs Melanchthon in die Kenntnis des italienischen Frühhumanismus hinein. Bereits während seiner Tätigkeit als Reuchlins Amanuensis beim Tübinger Verlag Anshelm war er beteiligt an der Drucklegung von Werken italienischer Humanisten, die vor allem auf die Beherrschung der lateinischen Sprache abzielten: des Osci et Volsci dialogus des Mariangelo Accursio, der Grammatik des Aldo Manuzio sowie des sechsbändigen Werks von Maffeo Vegio zur Erziehung der Kinder. Die besondere Aufmerksamkeit Melanchthons galt der florentinischen Renaissance. Während aber Reuchlin Neuplatoniker wie Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola in der Hoffnung auf eine Wiedergewinnung der antiken Weisheit und einer universalistischen Religiosität rezipierte, ist Wilhelm Maurers These einer intensiven Neuplatonismus-Rezeption durch Melanchthon inzwischen grundlegend in Frage gestellt worden. Vielmehr stand bei ihm von Anfang an eine philologische Perspektive im Vordergrund. Aus Melanchthons Sicht ist die Schlüsselrolle von Florenz in der Vermittlung des klassischen Griechisch, das heißt der Aufnahme griechischer Gelehrter wie Manuel Chrysoloras, Johannes Argyropulos und Janus Lascaris begründet. Neben Florenz gilt ihm Rom als humanistisches Bildungszentrum, nämlich als Ort der Kunst und besonders gut bestückter Bibliotheken – was ihn sogar dazu bewegt, vor Maßlosigkeit in der antipäpstlichen Polemik zu warnen (Rhein 1996, 372– 375, 383). Unter den Auswirkungen des italienischen Humanismus auf Melanchthons Denken und Handeln ist an erster Stelle die Wittenberger Universitätsreform zu nennen, in der er ab 1518 eine Schlüsselfunktion innehat. Allgemein ist die von ihm geforderte Orientierung an den klassischen Quellen humanistischen Vorbildern verpflichtet. Darüber hinaus verweist Melanchthon bei der Neuordnung der juristischen Fakultät auf die Aufnahme griechischer Rechtstexte beim italienischen Juristen Andrea Alciati. Inhaltlich fällt bei Melanchthons Humanismus-Rezeption das Interesse an der Astrologie als praktisch „nützlicher“ Beschäftigung mit den Himmelsphänomenen ins Auge. Im Jahre 1532 bewirtete er den italienischen Astrologen Luca Gaurico DOI 10.1515/9783110335804-051
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in Wittenberg, und in der Einleitung seiner Physik-Vorlesung wandte sich Melanchthon gegen Giovanni Pico della Mirandola, der in seinen letzten Lebensjahren unter dem Einfluss Savonarolas einen Traktat gegen die Astrologie veröffentlicht hatte (Rhein 1996, 379 – 383). Schließlich stellt Melanchthon auch seine Haltung zur Willensfreiheit unter Rückgriff auf den italienischen Humanismus dar. Während Luther zeitlebens seine Ablehnung der Willensfreiheit mit Verweisen auf Lorenzo Valla schmückt, ist bei Melanchthon parallel zu seiner paränetisch motivierten Höhergewichtung des freien Willens ein Übergang von der Verteidigung Vallas in der ersten aetas der Loci communes zur Kritik an dessen deterministisch gedeuteter Position in der zweiten aetas festzustellen (Grosse 2002, 278). Bei seiner Neubewertung der Willensfreiheit greift Melanchthon allerdings nicht auf den florentinischen Neuplatonismus zurück, sondern entwickelt seine Sicht im Rahmen einer grundsätzlichen Zurückweisung metaphysischer Spekulation über Determinismus und Kontingenz. Ferner kritisiert Melanchthon Valla im Laufe der Zeit immer häufiger als „Epikuräer“, das heißt als areligiös (Rhein 1996, 386 – 387).
2 Beziehungen Melanchthons nach Italien Melanchthons Briefwechsel bezeugt zahlreiche Beziehungen zu Universitätskollegen und Glaubensgeschwistern in Italien. Empfehlungsschreiben belegen, dass er bis in die 1550er Jahre hinein mit den Universitäten von Padua, Pavia, Ferrara und Bologna den Austausch von Studenten organisierte und förderte. Das fachliche Schwergewicht lag dabei auf der Jurisprudenz. Als wichtige Ansprechpartner Melanchthons erscheinen Andrea Alciati, der seit 1533 in Ferrara lehrte, sowie der in Bologna als Lehrstuhlnachfolger Alciatis tätige Jurist Mariano Sozzini, der Vater des späteren Antitrinitariers Lelio Sozzini, für dessen Studien in Deutschland Melanchthon noch 1551 Empfehlungen verfasste. Studenten, die auf Melanchthons Empfehlung hin in Italien studierten, ließen ihm ihrerseits Nachrichten aus ihren Studienorten zukommen. In diesen wird wiederholt auf die Verfolgung evangelischer Glaubensgenossen verwiesen. Ohne dass man sich vorstellen darf, dass die aus Deutschland stammenden Studenten an diesen Universitäten so etwas wie evangelische Auslandsgemeinden gebildet hätten, verraten ihre Berichte doch eine von der Reformation geprägte religiöse Sensibilität. Neben die Kommunikation in Hochschuldingen tritt bei Melanchthon der briefliche Kontakt mit Anhängern der Reformation in Italien. In dieser Hinsicht stellen Venedig und die venezianische Terraferma den Schwerpunkt seines Beziehungsnetzwerkes dar. Der Wittenberg-Besuch des Priesters Michele Braccetto, der von Evangelischen in Venedig erzählte und zugleich Melanchthon für den Katholizismus zurückzugewinnen suchte, veranlasste ihn im Januar 1539, den Evangelischen in der Lagunenstadt, deren gemeindlich konsolidierten Charakter er voraussetzte, einen Brief zuzusenden (MBW 2135). Seinen Empfängern legt er die Reinheit der evangeli-
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schen Lehre ans Herz. Zur Abgrenzung vom Katholizismus zählt er drei Kernelemente auf: die Bußlehre (Exklusivität der „Wohltat“, beneficium, Christi), die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium sowie eine gereinigte Liturgie; ebenso warnt er vor dem Antitrinitarismus des Miguel Serveto. Was hingegen die Ethik betrifft, so mahnt Melanchthon zur Toleranz. Drei Jahre später erhielt Melanchthon,wie Luther, ein in offiziellem Ton gehaltenes Schreiben der „Brüder der Kirchen von Venedig, Vicenza und Tarvisio“, das durch Baldassare Altieri, den Bevollmächtigten der englischen Krone beim venezianischen Senat, abgefasst worden war und die Wittenberger zur Annahme der Abendmahlslehre Martin Bucers aufforderte. Es liegt daher nahe, diese Gruppe den „italienischen Brüdern“ zuzurechnen, die seit 1526 im Briefwechsel des Straßburger Reformators belegt sind. In gleichem Ton wandte sich 1545 aus Rom der Spanier Jaime de Enzinas an Luther. Dass allerdings nicht alle Mitglieder der venezianischen Kongregation auf der Seite Bucers standen, geht aus einem Brief des aus Bamberg stammenden Philologen und Alchemisten Matthias Guttich an Melanchthon vom Februar 1544 hervor. In diesem Brief, der zugleich das letzte Zeugnis der Gemeinde ist und von Verfolgung, Verhaftung und Flucht ihrer Mitglieder berichtet, kritisiert der Verfasser die Abendmahlslehre verschiedener Glaubensgenossen als „schwach“ und stellt sich dabei auf die Wittenberger Seite (MBW 3456). Melanchthons Beziehungen zu reformatorischen Tendenzen im Veneto spiegeln sich auch darin, dass er zum Bericht Matteo Gribaldis über den Anwalt Francesco Spiera in Cittadella Stellung nahm. Spiera war 1547/48 nach einem durch die Inquisition erzwungenen Widerrufs seines evangelischen Glaubens zur Überzeugung gelangt, zur Verdammnis prädestiniert zu sein, und in Depressionen verfallen, um bald darauf zu sterben. Gribaldis Publikation, die breite Aufmerksamkeit fand, präsentierte Spiera zur Warnung vor dem Rückfall in den Katholizismus. Nach der Narratio von Camerarius vermisste Melanchthon in diesem Bericht den Verweis darauf, dass der Gottessohn in die Welt gekommen sei, um den Sündern das Heil zu bringen, das heißt er bemängelte die implizite Zustimmung Gribaldis zur Prädestinationsvorstellung Spieras und forderte in Entsprechung zur secunda aetas der Loci communes eine Konzentration auf den offenbarten universalen Heilswillen Gottes – auch als Ausweg aus einer derartigen Anfechtung. Im Jahre 1549 wurde Gribaldis Text in Wittenberg ohne Herausgeberangabe in deutscher Übersetzung gedruckt. Dabei wurde allerdings ein Nachwort angefügt, das im Sinne Melanchthons die Universalität der göttlichen Verheißung und ihre Überlegenheit gegenüber der Sünde hervorhob und sich deshalb von Prädestinationsvorstellungen abgrenzte, die als stoisch-deterministische „fantaseyen“ definiert wurden (was argumentativ der Abgrenzung des späteren Melanchthon von Valla entspricht). Im Corpus Reformatorum (Bd. 20) wird Melanchthon (unter irrigem Verweis auf Georg Theodors Strobels Ausgabe der Narratio von Camerarius von 1777) sogar als Herausgeber des Berichts identifiziert. Gewiss entspricht das Nachwort seiner theologischen Position und eine Veröffentlichung in Wittenberg zu diesem Zeitpunkt ist ohne seine Billigung kaum vorstellbar. Dennoch bleibt diese
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Zuweisung hypothetisch und steht in Spannung zu dem bei Camerarius überlieferten kritischen Urteil Melanchthons über diese Schrift. Neben der venezianischen Kongregation tritt in Melanchthons Briefwechsel auch eine an der Akademie in Siena beheimatete Gruppe von Reformationsanhängern um den Erasmianer Aonio Paleario hervor (MBW 3764), der in seinem aus Rom gesandten Schreiben von 1544 ein aus dem „Volk“ gewähltes Konzil als Gegenveranstaltung zu der nach Trient gerufenen Versammlung anregte. Auffällig ist schließlich das Fehlen von Belegen für briefliche Kontakte zwischen Melanchthon und dem in Neapel ansässigen Spanier Juan de Valdés, dessen Schriften eine Rezeption von Luther-Schriften aufweisen, und seinem Schülerkreis (z. B. Bernardino Ochino). Auch mit dem ebenfalls aus dem Valdés-Kreis stammenden Pietro Martire Vermigli hatte Melanchthon erst lange nach dessen Flucht aus Italien brieflichen Kontakt.
3 Die Rezeption Melanchthons in Italien Um die Rezeption Melanchthons in Italien zu verstehen, muss man beachten, dass sich die „Reformation in Italien“ – abgesehen von rasch unterdrückten Ausnahmen – zu Lebzeiten Melanchthons durch individuelle Lektüren, Briefverkehr, freundschaftliche Zirkel und Schüler-Lehrer-Beziehungen, das heißt im privaten, nicht im öffentlichen Raum vollzog und damit ein historisch schwer greifbares Phänomen darstellt. Daneben bemühten sich Vertreter des kirchlichen integrierten „Evangelismus“ um eine Aufnahme dessen, was sie als die particula veri der Reformation betrachteten.
3.1 Melanchthon-Schriften in Italien Die Verbreitung der Schriften Melanchthons in Italien erfolgte durch den Verkauf von in Deutschland gedruckten Exemplaren und durch ihre Übersetzung ins Italienische. Was den ersten Aspekt betrifft, so ist seine Wittenberger Antrittsvorlesung von 1518 bereits im Dezember 1519 in Como von einem Buchführer verkauft worden, der generell reformatorisches Schriftgut anbot. Für die Folgezeit belegen die Akten der Inquisition das Vorhandensein der Loci communes (in allen Auflagen) und des Augsburger Bekenntnisses. Ein Verzeichnis der Mailänder Inquisition von 1538 nennt dazu verschiedene Annotationes Melanchthons zu biblischen Büchern. In Venedig verkaufte 1544 ein Buchhändler die in Basel gedruckte fünfbändige Ausgabe seiner Werke von 1541. In humanistischen Kreisen war zudem Melanchthons Hesiod-Ausgabe anzutreffen. Unter den Übersetzungen von Melanchthon-Werken ins Italienische sind zuerst die Loci communes zu nennen, deren italienische Version ohne Jahres- und Verlagsangabe mit dem leicht erschließbaren Pseudonym „Ippophilo da Terra negra“ in einer nicht sicher zu ermittelnden venezianischen Druckstätte produziert wurde. Der erste Beleg für das Vorhandensein des Drucks stammt aus dem Jahre 1537. Weil die Aus-
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gabe die prima aetas (mit einer Emendation des Jahres 1529) wiedergibt, dürfte die Übersetzung bis spätestens 1535 entstanden sein. Sie wurde in erheblicher Stückzahl gedruckt und auch handschriftlich verbreitet. Noch 1565/66 soll sie in Rom verkauft worden sein. In nur einer einzigen Handschrift liegt hingegen die Übersetzung von Melanchthons De ecclesiae auctoritate et de veterum scriptis libellus aus dem Jahre 1539 vor. In dem erhaltenen Textzeugen ist sie ausdrücklich dem Literaten Ludovico Castelvetro zugewiesen, der einem in Modena beheimateten Humanistenzirkel angehörte. Ferner wurde der Text nach der Flucht Castelvetros aus Rom 1560 von der Inquisition in seiner Unterkunft aufgefunden. Per Analogieschluss hat Salvatore Caponettos auch die Übersetzung der Loci Castelvetro zugewiesen – ein Urteil, das bereits von Zeitgenossen geäußert wurde (Jossa 2008, 116). Allerdings ist diese These kürzlich aufgrund des Mangels an Nachweisen und anhand philologischer Beobachtungen in Frage gestellt worden (Garavelli 2007). Schließlich erschien 1543 in Venedig auch eine durch den ebenfalls zu den Modeneser Humanisten gehörigen Pietro Lauro erstellte italienische Übersetzung des Chronicon Carionis im Druck.
3.2 Rezeption durch römisch-katholische Theologen Als Gefolgsmann Luthers wurde Melanchthon in Italien seit 1521 wahrgenommen, als er unter dem Pseudonym „Didymus Faventinus“ auf die gegen den Wittenberger Reformator gerichtete Polemik des Dominikaners Tommaso Radini Todeschi antwortete und anschließend durch diesen ebenfalls angegriffen wurde. Spätestens seit 1530 ist die italienische Melanchthon-Wahrnehmung jedoch durch das Leitbild des humanistisch geprägten und tendenziell gesprächsbereiten Reformators bestimmt. Besonders im benediktinischen Mönchtum fand Melanchthon nun Aufmerksamkeit. Mitte der 1530er Jahre veröffentlichte der dem Konvent von Monte Cassino angehörende Gregorio von Bornate eine Schrift zur Bußlehre, die implizit auf Melanchthon zurückgriff, allerdings umgehend eine polemische Gegenveröffentlichung auslöste; im Jahr 1538 wurde Melanchthon durch einen weiteren Benediktiner, Luciano degli Ottoni, für seine nunmehr modifizierte Sicht der Willensfreiheit gelobt (Prosperi 2000, 42 und 80). 1543 ließ der spanische Ordensbruder Alonso de Zorilla in Rom eine Predigtanleitung drucken, die erst von der neueren Forschung als Sammlung von Reformatorenzitaten, auch Melanchthons, erkannt worden ist (Prosperi 2000, 143). Angesichts der päpstlichen Konzilsberufung richtete der zur Kongregation von Monte Cassino gehörige Benediktinermönch Isidoro von Chiari 1536 an Melanchthon eine Adhortatio ad concordiam, die die Kenntnis der ersten sowie der zweiten aetas der Loci communes voraussetzte und zu dem Urteil gelangte, dass der Autor in der zweiten Edition zu größerer Reife und modestia gelangt sei. Hoffnung auf eine Einigung leitete er zudem aus dem an König Heinrich VIII. gerichteten Vorwort ab, in dem Melanchthon seine Bereitschaft erklärte, sich dem Urteil der „katholischen Kirche“ zu unterwerfen. Dabei dissimulierte Isidoro von Chiari allerdings, dass dieser Begriff von beiden Seiten unterschiedlich gefüllt werden konnte. Die Vorstellung von Melanchthon als versöh-
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nungsbereitem Humanisten beherrscht auch ein an ihn gerichtetes Schreiben des Kardinals Jacopo Sadoleto von 1537 (MBW 1913) und einen Brief des Bischofs Girolamo Negri von 1543; dieser hatte zuvor für den Kardinal Gasparo Contarini die Diözese Belluno verwaltet (MBW 3348a). Wie labil die Grenzziehung zwischen kirchlich integrierter und „reformatorischer“ Rezeption sein kann, geht schließlich aus der im Jahre 1547 in Venedig gedruckten,von Bernardino Tomitano erstellten italienischen Übersetzung der Matthäus-Paraphrase des Erasmus von Rotterdam hervor. Die Widmung, gerichtet an die in der venetianischen Terraferma residierende Reformationsfreundin Caterina Sauli, enthält zwar dezidiert antireformatorische Elemente wie die Verteidigung des Verdienstbegriffs, zugleich aber ist für diesen Text der Rückgriff auf Luther und Melanchthon (im letzteren Falle auf den Affektbegriff der ersten aetas der Loci) festgestellt worden.
3.3 Rezeption durch Vertreter der „Reformation in Italien“ Der derzeitige Forschungsstand zur Reformation in Italien erlaubt es nicht, ein vollständiges Bild der in diesem Bereich erfolgten Melanchthon-Rezeption zu geben. Ein Problem ist auch, dass die Einflüsse der verschiedenen Reformatoren nur dann voneinander geschieden werden können, wenn sich klare Rückbezüge auf einzelne Schriften herausarbeiten lassen. Rückgriffe auf Melanchthon treten in den italienischen Bibelübersetzungen des florentinischen Humanisten Antonio Brucioli auf. Bereits das an den französischen König Franz I. gerichtete Widmungsschreiben des Alten Testaments von 1532 betont den von der Heiligen Schrift ausgehenden Gewissenstrost. Brucioli fordert auf, „zu sehen, dass uns durch dieses ganze allergöttlichste Buch hindurch das Heil versprochen ist“. Noch deutlicher ist der Bezug in der Widmung an die 10-jährige Anna von Este, die Tochter Renates von Frankreich (der Korrespondentin Calvins in Ferrara) in seiner Neuauflage des Neuen Testaments von 1538. Dieser Text, der die Praxis der Bibelübersetzung verteidigt und die Suffizienz der Schrift hervorhebt, definiert das Evangelium als „Verheißung der Gnade, des Segens und des Wohlwollens Gottes“ und greift damit auf den Paragraph Quid evangelium der Loci communes zurück, ohne sich allerdings in der Formulierung mit deren italienischer Übersetzung zu berühren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit, was den Einfluss Melanchthons auf die Reformation in Italien betrifft, stehen zwei in recht hoher Auflage gedruckte anonyme Traktate, die beide die Rechtfertigung allein aus Glauben und nicht aus Werken hervorheben und den Begriff des beneficio, das heißt der „Wohltat“ Christi verwenden. Salvatore Caponetto (1972, 471– 474) sah in dem Begriff als solchem einen Rückgriff auf Melanchthons in den Loci communes geprägte Formel, nach der die Erkenntnis Christi mit der seiner beneficia identisch ist. Carlo Ginzburg und Adriano Prosperi (1974) haben allerdings darauf hingewiesen, dass der Begriff beneficium Christi in der religiösen Literatur so weit verbreitet war, dass er allein eine Abhängigkeit von Melanchthon nicht zu belegen vermag. Der erste an dieser Stelle zu erwähnende Traktat ist
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das Sommario della Sacra Scrittura („Summarium der Heiligen Schrift“), die italienische Version der niederländischen Summa der Godliker Scrifturen, die erasmianische und wittenbergisch-reformatorische Elemente verknüpft. Der italienische Druck des im Original 1524 belegten Textes ist nicht datiert, wird aber im Jahre 1537 erstmals erwähnt. Diese Schrift führt bereits im Prolog die in der Bulle Exsurge Domine verurteilte Spitzenaussage an, dass gute Werke als solche sündhaft seien. Anschließend entwickelt sie die Dialektik zwischen dem anklagenden und zur Verzweiflung führenden Gesetz und dem Evangelium, das Hoffnung und Zutrauen zu Gottes Verheißung stiftet, um daraus die Rechtfertigung nicht aus Werken, sondern aus dem Glauben an diese Verheißung abzuleiten. Wenn auch diese Gedankenfigur in verschiedenen Schriften belegt ist, hat sie doch in Melanchthons Loci communes eine weit verbreitete Ausarbeitung gefunden. Zudem ist dort auch die Themenabfolge Gesetz – Evangelium – Rechtfertigung aus Glauben systematisch vorgegeben. Schließlich entwickelt der Traktat (Kap. 13) einen vierstufigen Glaubensbegriff (zwischenmenschliches Zutrauen – „historische“ Kenntnis – Glaube der Dämonen – christlicher Glaube), für den Melanchthons Absetzung des heilsrelevanten Glaubens von der fides historica als Vorlage benannt worden ist (Peyronel Rambaldi 1997, 98). Erörtert worden ist auch der Einfluss Melanchthons auf den Traktat Del Beneficio di Giesù Cristo („Die Wohltat Jesu Christi“), der 1543 in Venedig gedruckt wurde und der verschiedene eindeutige Reformatorenzitate, vor allem Luthers und Calvins, enthält. Selbst wenn der im Titel erscheinende Schlüsselbegriff beneficio allein einen Einfluss Melanchthons nicht zu belegen vermag, so wird doch auch in diesem Text der soteriologisch relevante Glaube in einer noch enger als im Sommario an den Loci communes orientierten Weise von der fede istorica abgegrenzt. Hinzu kommt, dass der Traktat Del Beneficio vom spanischen, nach Neapel ausgewichenen Reformtheologen Juan de Valdés die Beschreibung des Evangeliums als Verkündigung eines perdono generale („allgemeine Vergebung“) übernimmt. Dadurch wird in diesem Text eine Soteriologie entwickelt, die der zweiten Auflage der Loci communes von 1535 mit ihrer Hervorhebung der Universalität des göttlichen Heilswillens – bei gleichzeitigem Festhalten am sola fide – weitgehend entspricht. Bemerkt sei, dass bereits 1544 Ambrogio Catarino Politi in seiner gegen den Traktat gerichteten Polemik einen spezifischen Einfluss Melanchthons erkennen zu können glaubte. In explizit antipäpstlicher Perspektive greift die 1566 vollendete Actio in pontifices Romanos des Aonio Paleario bei der Darstellung der Rechtfertigungslehre auf die secunda aetas der Loci communes zurück. Dass Melanchthon – ohne dass persönliche Beziehungen belegt wären – auch in den Kreis der Valdesianer hineinwirkte, geht aus einem Zeugnis des Girolamo Zanchi hervor, der in einem Brief an Melanchthon von 1557 die Loci communes als entscheidenden Wegweiser zu seiner vollkommenen Christuserkenntnis bezeichnete (MBW 8326). Sogar Lelio Sozzini berief sich in seinem Kampf gegen die Lehre von der ewigen Präexistenz des Gottessohnes auf Melanchthons Auslegung des Johannes-Prologs, die der Spekulation über die Inkarnation Grenzen zu setzen sucht (Vogel 2011, 397).Was die radikale Reformation betrifft, so sei auch erwähnt, dass gegen Ende der 1550er Jahre der aus Mantua stammende, in-
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zwischen aber nach Polen emigrierte Francesco Stancaro Melanchthon des Arianismus beschuldigte, um seine Sicht der auf die menschliche Natur beschränkten Mittlerschaft Christi zu verteidigen (Urban 1990).
3.4 Rezeption im Bereich der Philosophie Auch im Bereich der artes liberales ist Melanchthon in Italien rezipiert worden. Eindeutig belegt ist dies bei Lorenzo Romano, der in seiner im Jahre 1549 in Piedimonte bei Caserta eröffneten Schule Melanchthons Logik sowie das Chronicon Carionis verwendete. Bereits wenige Jahre später wurde Romano allerdings als Häretiker verurteilt. Ferner gab im Jahre 1558 in Venedig der aus Kreta stammende Gräzist Francesco Porto vor der Inquisition zu, neben anderen protestantischen Büchern auch Melanchthons De anima gelesen zu haben (Vogel 2011, 387), und 1560 griff der Turiner Mediziner Bartolomeo Viotti Melanchthons Topik in einem Atemzug mit Petrus Ramus an (Pozzo 2002, 57). Diskutiert wird schließlich, ob die Paduaner Aristoteliker Francesco Piccolomini, Francesco Patrizi und Jacopo Zabarella philosophische Texte Melanchthons gekannt haben. Auch wenn dieser von ihnen nie erwähnt wird, ist vorgeschlagen worden, dass Zabarella seine Unterscheidung von ordo (d. h. Anordnung der Lehre) und methodus in kritischer Auseinandersetzung mit Melanchthon entwickelt hat (Pozzo 2002, 62– 63).
4 Melanchthon in der italienischen Geschichtsschreibung Eine eigenständige italienische Geschichtsschreibung zu Melanchthon hat es bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein nicht gegeben. Aus philosophiegeschichtlicher Sicht stellte im Jahre 1968 Cesare Vasoli die Bedeutung Melanchthons für die Diskussionen des 15. und 16. Jahrhunderts um Topik und Logik heraus. In den 1980er Jahren hat der Mailänder Historiker Attilio Agnoletto Melanchthon in Italien bekanntgemacht. Parallel dazu hat im waldensisch-reformierten Kontext Salvatore Caponetto sich der Rolle Melanchthons in der italienischen Reformation gewidmet und damit auch weitergehende Forschungen angestoßen. Seit 2009 besteht beim Claudiana-Verlag in Turin die Reihe Filippo Melantone – Opere scelte („ausgewählte Werke“). In zweisprachiger Edition sind bislang Melanchthons Physik-Vorlesung (hg.v. Dino Bellucci) sowie das Augsburger Bekenntnis (hg.v. Paolo Ricca) erschienen.
Literatur Agnoletto, Attilio. 1984. „Il ‚successo‘ di Melantone in Italia (un caso di deformazione storica).“ In Martin Lutero e il protestantesimo in Italia. Bilancio storiografico: atti del convegno
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internazionale in occasione del quinto centenario della nascita di Lutero (1483 – 1983). Milano, marzo 1983, hg. v. Attilio Agnoletto, 98 – 117. Mailand. Caponetto, Salvatore, Hg. 1972. „Nota critica.“ In Benedetto da Mantova. Il Beneficio di Cristo: con le versioni del secolo XVI. Corpus Reformatorum Italicorum 4, 467 – 532. Florenz/Chicago. Caponetto, Salvatore. 1986. „Due opere di Melantone tradotte da Ludovico Castelvetro: ‚I principii de la Theologia di Ippophilo da Terra Negra‘ e ‚Dell’autorità della Chiesa e degli scritti degli antichi‘.“ Nuova Rivista Storica 70: 253 – 274. Caponetto, Salvatore. 1992. La Riforma protestante nell’Italia del Cinquecento. Turin. Caponetto, Salvatore. 2000. Melantone e l’Italia. Turin. Caserta, Nello. 1960. Filippo Melantone (dall’Umanesimo alla Riforma). Rom. Garavelli, Enrico. 2007. „Gli scritti ‚religiosi‘ di Lodovico Castelvetro.“ In Autorità, modelli e antimodelli nella cultura artistica e letteraria fra Riforma e Controriforma. Atti del Seminario internazionale di studi, Urbino, 9 – 11 novembre 2006, hg. v. Antonio Corsaro, Harald Hendrix und Paolo Procaccioli, 257 – 285. Rom. Gilly, Carlos. 1983. „Juan de Valdés. Übersetzer und Bearbeiter von Luthers Schriften in seinem Diálogo de Doctrina christiana.“ ARG 74: 257 – 305. Ginzburg, Carlo und Adriano Prosperi. 1974. „Le due redazioni del ‚Beneficio di Cristo‘.“ In Eresia e Riforma nell’Italia del Cinquecento. Miscellanea I, 135 – 204. Florenz/Chicago. Grosse, Sven. 2002. „Renaissance-Humanismus und Reformation. Lorenzo Valla und seine Relevanz für die Kontroverse über die Willensfreiheit in der Reformationszeit.“ KuD 48: 276 – 300. Jossa, Stefano. 2008. „Muratori e Fontanini interpreti della contesa tra Castelvetro e Caro.“ In Ludovico Castelvetro. Letterati e grammatici nella crisi religiosa del Cinquecento. Atti della XIII giornata Luigi Firpo. Torino, 21 – 22 settembre 2006, hg. v. Massimo Firpo und Guido Mongini, 113 – 130. Florenz. Maurer, Wilhelm. 1961. „Melanchthon als Humanist.“ In Philipp Melanchthon: Forschungsbeiträge zur vierhundertsten Wiederkehr seines Todestages, dargeboten in Wittenberg 1960, hg. v. Walter Elliger, 116 – 132. Göttingen. Peyronel Rambaldi, Susanna. 1997. Dai Paesi bassi all’Italia. „Il Sommario della Sacra Scrittura“. Un libro proibito nella società italiana del Cinquecento. Studi e testi per la storia religiosa del Cinquecento 8. Florenz. Pozzo, Riccardo. 2002. „Melanchthon and the Paduan Aristotelians. The Shift from the Topics to the Analytics.“ In Melanchthon und Europa, 2. Teilbd. Westeuropa. MSB 6/2, hg. v. Günter Frank und Kees Meerhoff, 53 – 65. Stuttgart/Bad Cannstatt. Prosperi, Adriano. 2000. L’eresia del Libro Grande. Storia di Giorgio Siculo e della sua setta. Mailand. Rhein, Stefan. 1996. „‚Italia magistra orbis terrarum‘: Melanchthon und der italienische Humanismus.“ HuWR: 367 – 388. Rozzo, Ugo und Silvana Seidel Menchi. 1990. „Livre et Réforme en Italie“. In La Réforme et le livre. L’Europe de l’imprimé (1517 – v. 1570), hg. v. Jean François Gilmont, 327 – 374. Paris. Rummel, Erika. 1992. „Epistola Hermolai nova ac subditicia: A Declamation Falsely Ascribed to Philipp Melanchthon.“ ARG 83: 302 – 305. Urban, Wacław. 1990. „Die großen Jahre der stancarianischen ‚Häresie‘ (1559 – 1563).“ ARG 81: 309 – 318. Vasoli, Cesare. 1968a. La dialettica e la retorica dell’Umanesimo. ‚Invenzione‘ e ‚Metodo‘ nella cultura del XV e XVI secolo. Mailand. Vogel, Lothar. 2011. „Melanchthons Einfluss auf reformatorische Tendenzen in Italien.“ In Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas. LStRLO 13, hg. v. Irene Dingel und Armin Kohnle, 379 – 398. Leipzig.
Karin Maag*
Schweiz
Im ersten Band seiner Histoire de la Réformation beschreibt der Schweizer Historiker Jean-Henri Merle d’Aubigné Charakter und Wirken des deutschen Reformators Philipp Melanchthon durch einen Vergleich zwischen Melanchthon und Luther: „Luther war heißblütig, energisch, stark. Melanchthon war klar, klug und sanftmütig. Luther regte Melanchthon an, während Melanchthon Luther mäßigte […]. Ohne Melanchthon wäre Luthers Temperament oft übergeschäumt. In Abwesenheit Luthers verhielt sich Melanchthon zögerlich und nachgiebig, und versäumte es hartnäckig zu bleiben, wenn es darauf ankam.“ (d’Aubigné 1842– 59, 1: 492) D’Aubigné empfand Melanchthon als zu versöhnlich und unentschlossen. Obwohl d’Aubigné ausdrücklich auf Melanchthons Talente hinweist, wie zum Beispiel seine herausragenden intellektuellen und pädagogischen Fähigkeiten, bleiben der evangelisch-reformierten Geschichtsschreibung aufgrund des Schweizer Historikers d’Aubigné jedoch hauptsächlich Melanchthons Schwächen in Erinnerung. In Band vier seiner breit gefächerten Studie über die Begegnungen zwischen Lutheranern und Schweizer Reformierten am Marburger Gespräch von 1529 notiert d’Aubigné beinahe beiläufig, dass die ablehnende Haltung Melanchthons gegenüber der schweizerischen Auffassung vom Abendmahl ironisch war, da „er später fast die Position von Zwingli übernahm“ (d’Aubigné 1842– 59, 4:138 – 139). Abermals unterstreicht d’Aubigné damit einen Aspekt von Melanchthons Einfluss, den reformierte Gelehrte, besonders schweizerische, mit fortwährender Anstrengung als einen der ihren darzustellen versuchten. Melanchthons hervorragender intellektueller Ruf, moderater Ton und friedliebender Ansatz verleitete einige Schweizer dazu zu hoffen, Melanchthon würde sich ihnen persönlich anschließen oder zumindest ihre theologische Perspektive unterstützen. Letztlich wurden alle diese Hoffnungen enttäuscht. Die heutige wissenschaftliche Überzeugung besagt, dass die Schweizer Melanchthons Schweigen als potenzielle Unterstützung für ihren Ansatz missverstanden. Dies erklärt, warum schweizerische Meinungen zum deutschen Reformator von hohen Hoffnungen bis hin zu tiefer Frustration reichten. Im Folgenden wird Philipp Melanchthons Einfluss auf dem Gebiet der Schweizer Kantone und vereinigten Territorien, einschließlich Genf, während als auch nach der Reformationszeit dargestellt. Da die theologischen Berührungspunkte zwischen Melanchthon sowie verschiedenen reformierten Theologen, einschließlich Heinrich Bullinger und Johannes Calvin, an anderer Stelle in diesem Buch Erwähnung finden, wird sich dieser Beitrag in erster Linie auf den Einfluss des deutschen Reformators in den schweizerischen Ländern außerhalb des theologischen Bereichs konzentrieren. Einer der Gründe für das seit der Reformationszeit fortwährende Interesse der Schweizer an der Person Melanchthons war die stürmische Beziehung zwischen den
* Für Übersetzungshilfe danke ich Herrn David Campi. DOI 10.1515/9783110335804-052
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Schweizern und Luther. Seit dem Marburger Gespräch von 1529, in dem die theologischen Differenzen zwischen Lutheranern und Schweizern bezüglich des Abendmahls deutlich sichtbar wurden, begegnete Luther den Schweizern mit Feindseligkeit und Vorbehalt. Demgegenüber insistierten die Schweizer seit der Reformationszeit, dass Zwingli nicht in Nachfolge von Luther, sondern unabhängig von ihm zu seinen reformatorischen Erkenntnissen kam. Beispielsweise führt Rudolf Steck in seinem 1917 erschienenen Artikel in der Zwingliana an, dass Luthers Einfluss auf die Schweizer Reformation und auf Zwinglis Person von Beginn an nur eine untergeordnete Rolle spielte; insbesondere da die Kluft zwischen den beiden Reformatoren nach 1529 immer größer wurde. Steck hielt allerdings fest, dass Melanchthon später einen Ansatz verfolgte, der dem der Schweizer ähnlicher war (Steck 1917, 314). Die Auffassung, Melanchthon stünde sowohl theologisch als auch persönlich den Schweizer Reformierten näher als sein älterer deutscher Kollege, beeinflusste die Sicht der Schweizer auf Melanchthon entschieden. Bereits 1534 bot ihm der Baseler Drucker und Publizist Johannes Herwagen an, von Wittenberg nach Basel umzuziehen. In seinem Brief pries Herwagen die ruhiger Baseler Atmosphäre, bot Melanchthon an, in Erasmus′ ehemaligem Haus zu logieren und sicherte ihm, nebst einem guten Salär, Unterstützung bei den Umzugskosten zu. Laut Beat Jenny war dieser Brief nicht alleine Herwagens Idee gewesen, sondern wurde von Baseler Ratsherren mitinitiiert, die versuchten, nach dem Tod des Erasmus einen humanistischen Gelehrten mit einem ähnlich hohen Ansehen für die Stadt zu gewinnen (Jenny 2005, 149 – 151). Obwohl Melanchthon nie auf die Einladung antwortete, zeugt die Tatsache, dass Basels Elite nach einem Weg suchte, Melanchthon in ihre Stadt zu holen, vom Respekt der Stadt gegenüber dem deutschen Reformator. Diese unter den Schweizern verbreitete positive Sichtweise auf Melanchthon kam nach 1540 wiederholt zum Tragen, als Melanchthon aufgrund seiner moderaten Haltung unter seinen radikaleren lutherischen Kollegen zunehmend isoliert wurde. Wilhelm Neuser hebt zwei Zeitpunkte hervor, zu denen Melanchthon die meisten Einladungen erhielt, in die reformierte Schweiz zu gehen: Die Jahre 1544/45 sowie von 1554 bis 1557 während des zweiten Abendmahlsstreits (Neuser 1975, 35). Seine wissenschaftlichen Talente und seine herausragende Reputation anerkennend, lud unter anderem Heinrich Bullinger Melanchthon ein, nach Zürich zu ziehen. Wie Bruce Gordon in Wary Allies: Melanchthon and the Swiss Reformers festhält, wurde nichts aus den Einladungen (Gordon 1999, 54– 55). Als Melanchthon 1557 die Verurteilung von Zwinglis Theologie am Colloquium von Worms unterzeichnete, schwand alle Hoffnung, dass Melanchthon sich in der Schweiz niederlassen könnte, mehr noch, jegliche theologische Übereinkunft mit dem deutschen Reformator schien von nun an unmöglich zu sein (Neuser 1975, 53). Obwohl Melanchthon nie einen Fuß auf Schweizer Territorium setzte, pflegte er stets rege Korrespondenz mit den Schweizer Reformatoren. Wie Ulrich Gäbler in seinem Beitrag zu Melanchthon und den Schweizern festhält, sind ungefähr 120 Briefe zwischen Melanchthon und seinen Schweizer Korrespondenzpartnern überliefert, darunter alleine 25 zwischen Melanchthon und Calvin sowie Melanchthon und Bullinger, ein Dutzend zwischen Melanchthon und dem Baseler Reformator Johannes
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Oecolampadius, und weitere zehn zwischen Melanchthon und Erasmus aus dessen späten Baseler Jahren. Gäblers umfassende Analyse der Korrespondenz zeigt, dass trotz des warmen Tons zahlreicher Briefe, besonders von schweizerischer Seite, der theologische Graben zwischen Melanchthon und den Schweizer Reformern zu groß geworden war, um überwunden werden zu können (Gäbler 2000, 235 – 242). Nach einer gründlichen Analyse der Korrespondenz zwischen Johannes Calvin und Melanchthon kam auch Timothy Wengert zu derselben Schlussfolgerung. Wengert hebt den humanistischen Charakter von Johannes Calvins Briefwechsel mit Melanchthon hervor, warnt aber zeitgenössische Gelehrte davor, Calvins Äußerungen über die Freundschaft zwischen den beiden Männern nur vom äußeren Anschein her zu betrachten (Wengert 1999b; Berg 1998, 2009). Calvins Zorn über Melanchthons Brief an Sebastian Castellio (damals in Basel) vom November 1557, in dem er ihre gemeinsamen humanistischen Interessen hervorhebt, erlaubt es mit großer Sicherheit zu sagen, dass Calvins Wertschätzung für den deutschen Reformator arg darunter litt, dass Melanchthon mit jemandem in Kontakt stand, den Calvin als Erzfeind betrachtete (Gordon, 1999, 58 – 60). Calvins letzter Brief an Melanchthon datiert auf November 1558 (Wengert 1999b). Während weiterhin Briefe zwischen Wittenberg und den schweizerischen Ländern zirkulierten, weigerte sich Melanchthon in seiner Korrespondenz, Ansichten zu vertreten, die von den lutherischen Standpunkten abwichen. Ein zweiter Berührungspunkt zwischen Melanchthon und den Schweizern entstand durch schweizerische Studenten, die in Wittenberg studierten.Von Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen und St. Gallen her kommend, verbrachten diese jungen Männer mehrere Monate oder Jahre an der Universität Wittenberg und überreichten Melanchthon dabei Empfehlungsschreiben von Schweizer Pfarrern, von denen sie entsendet wurden (Gäbler 2000, 229 – 232). Einer von ungefähr hundert Schweizer Studenten, die nach Wittenberg gingen, war Heinrich Bullingers Sohn, ebenfalls Heinrich genannt. Bullinger bat Melanchthon damals, den jungen Mann bei sich zu Hause aufzunehmen, was der deutsche Reformator zusagte (Gäbler 2000, 232; Gordon 1999, 52– 53). Bei einer anderen Gelegenheit schrieb der Baseler Student Philipp Bechi an den Baseler Antistes, um ihm mitzuteilen, dass er an Melanchthons Tisch gegessen habe und ihm dieser Ratschläge für seine zukünftigen Studien erteilt habe (Jenny 2005, 152– 154). Solche Briefe zeigen, dass Melanchthon ein persönliches Interesse gegenüber diesen jungen Schweizer Studenten zeigte, ungeachtet der theologischen Unterschiede, die sie von ihrem lutherischen Gastgeber trennten. Aus dieser Tatsache lässt sich jedoch nicht schlussfolgern, dass Melanchthon in irgendeiner Hinsicht Schweizer Studenten gegenüber Studenten aus anderen Regionen bevorzugte. Ferner gibt es keinen Beleg dafür, dass die jungen Männer aus der Schweiz auch nach ihrer Wittenberger Studienzeit mit Melanchthon weiter in brieflichem Kontakt gestanden haben. Gäbler (2000, 232) schließt daraus, dass der Philippismus auf Schweizer Gebiet keine nennenswerte Anhängerschaft hatte. Einen besonderen Einfluss auf die Schweizer Gebiete übte Melanchthon mit seinen Schriften aus, besonders mit denen, die – vorwiegend in den 1520er Jahren – von Baseler Druckereien produziert und vertrieben wurden. Schätzungen über die Ge-
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samtzahl der von Baseler Druckern publizierten Werke Melanchthons variieren zwischen 150 und 200, je nachdem, ob allein die durch Melanchthon verfassten Werke gezählt werden, oder auch solche von anderen Autoren, zu denen er ein Vorwort schrieb oder Material beitrug. Amy Burnetts präzise Quellenanalyse zeigt, dass Melanchthons Werke besonders oft um 1520 in Basel publiziert wurden, die Anzahl danach jedoch auf jährlich fünf bis sechs Titel im Jahr 1550 sank (Burnett 1999, 72– 82). Baseler Druckereien konzentrierten sich hauptsächlich auf Melanchthons theologische Werke der 1520er Jahre und begannen danach mit der Verbreitung seiner pädagogischen Schriften, was angesichts der großen Nachfrage nach akademischen Textbüchern an der Universität Basel in dieser Zeit keine Überraschung ist (Burnett 1999, 75 – 78). Nach Bruce Gordon (1999, 61– 65) hat Melanchthon mit seinen Schriften, besonders mit seinen Loci communes, einen starken Einfluss auf Didaktik und Lehre von führenden Schweizer Professoren und Theologen während der Reformationszeit ausgeübt, darunter auf Wolfgang Musculus in Bern, und auf Conrad Gesner, Ludwig Lavater und Rudolf Gwalter in Zürich. Melanchthons Bedeutung für die Schweiz kann auch durch einen Blick auf die Beurteilung des Wittenberger Reformators durch eidgenössische Theologen erhellt werden. Bis 1529 war die schweizerische Sicht auf Melanchthon mehrheitlich positiv, dies auf Grund seiner einerseits exzellenten Reputation als Humanist, andererseits wegen der Schweizer Hoffnungen, Melanchthon würde sich in seinem Verständnis des Abendmahls der Schweizer Sichtweise annähern (Kobler 2004, 119 – 121). Nach dem Scheitern des Marburger Religionsgesprächs prüften die Schweizer Theologen seine dort dargelegten Positionen, kamen aber immer häufiger zu dem Urteil, dass Melanchthon zu schüchtern und nicht willens sei, seine wahren Überzeugungen in Bezug auf das Abendmahl offen zu legen (Kobler 2004, 555). In einem Brief an Guillaume Farel hielt der Baseler Humanist Ambrosius Blarer 1556 fest, Melanchthon wäre im Stande, die protestantischen Kirchen aufgrund seiner persönlichen Autorität zusammen zu bringen, wenn er nur seine Schüchternheit ablegen könnte und offen sprechen würde (Jenny 2005, 167). Calvins Blick auf Melanchthon blieb längere Zeit positiv, vielleicht weil der Genfer Reformator nicht direkt vom Verhandlungsabbruch 1529 in Marburg betroffen war. Nachdem Calvin Melanchthon beim Frankfurter Colloquium 1539 persönlich kennenlernte, schrieb er Farel lobend von Melanchthons Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit und betonte fortan theologische Fragen, bei denen er die Möglichkeit einer Übereinkunft mit Wittenberg sah (Stolk 2005, 30 – 31). Seit dieser Zeit forderte Calvin allerdings auch Melanchthon wiederholt auf mehr Mut zu zeigen und bereit zu sein, sich von katholischen und extremen lutherischen Positionen zu distanzieren (Wengert 1999b, 26 – 44). Dieses Ersuchen wurde drängender, als sich die politische Situation für die Reformierten im Heiligen Römischen Reich zusehends verschlechterte. Vom Augsburger Religionsfrieden von 1555, der Lutheranern und Katholiken rechtliche Anerkennung zusicherte, wurden die Reformierten dann auch ausgeschlossen (Gauss und Stucki 1990, 247– 253).
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Wie Bruce Gordon (1999, 45 – 47) betont, hat die Kritik an Melanchthons vermuteter Schüchternheit mehr mit dem Verlangen der schweizerischen Reformierten zu tun, Melanchthon für die eigenen theologischen Positionen zu gewinnen, als mit der Ängstlichkeit Melanchthons. Die Schweizer haben letztendlich erfolgslos versucht, Melanchthon auf ihre Seite zu bringen. Amy Burnett kommt zu dem Schluss, dass „Melanchthon für Basel weitaus wichtiger war als Basel für Melanchthon“ (Burnett 1999, 83). Bezieht man diese Aussage auf das gesamte Territorium der damaligen Schweiz, wird nachvollziehbar, weshalb die eidgenössischen Reformatoren so viel Energie investierten, gute Verbindungen zu Melanchthon aufzubauen und zu pflegen. Die Notwendigkeit, Melanchthon zur Unterstützung der Schweizer Reformation zu bewegen, um die breitere Bedeutung der reformierten Bewegung auf europäischer Ebene zu unterstreichen, hilft zu verstehen, wieso sich die Schweizer so hintergangen fühlten, besonders nachdem Melanchthon das zwinglianische Verständnis des Abendmahls auf dem Colloquium von Worms 1557 formell abgelehnt hatte. Die Forschung zum Verhältnis Melanchthons zu den Schweizer Ländern umfasst verschiedene Berührungspunkte zwischen dem deutschen Reformator und den Eidgenossen. Wissenschaftler analysierten die Korrespondenz, untersuchten Interaktionen zwischen Melanchthon und Schweizer Studenten und schätzten den Einfluss von Melanchthons in der Schweiz gedruckten Werken ein. Der Spielraum für zukünftige Forschung auf diesem Gebiet scheint minimal, da in der jüngsten Zeit mit den detailreichen Studien von Gordon, Gäbler und Jenny die Schweizer Wahrnehmung Melanchthons in den komplexen reformiert-lutherischen Beziehungen ab 1540 umfassend untersucht wurde. Seit dem späten 16. Jahrhundert konzentrierten sich die Schweizer und besonders die Genfer Theologen dann mehr auf das Vermächtnis ihrer eigenen Reformatoren und betrachteten Melanchthon zwar weiterhin als begabten Gelehrten und Wissenschaftler, jedoch als einen Theologen, der die Schweizer Erwartungen nicht zu erfüllen vermochte.
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Karin Maag
Jenny, Beat. 2005. „Helvetische Streiflichter auf den Praeceptor Germaniae.“ In Dona Melanchthoniana. Festgabe für Heinz Scheible zum 70. Geburtstag, hg. v. Johanna Loehr, 145 – 169. Stuttgart/Bad Cannstatt. Kobler, Beate. 2004. Die Entstehung des negativen Melanchthonbildes: Protestantische Melanchthonkritik bis 1560. BHTh 171. Tübingen. Neuser, Wilhelm H. 1975. „Die Versuche Bullingers, Calvins und der Straßburger, Melanchthon zum Fortgang zu bewegen.“ In Heinrich Bullinger 1504 – 1575. Gesammelte Aufsätze zum 400. Todestag. Bd. 2, hg. v. Ulrich Gäbler und Erland Herkenrath. Zürich. Steck, Rudolf. 1917. „Luthers Bedeutung für die Schweizerische Reformation.“ Zwingliana 10: 306 – 314. Stolk, Marteen. 2005. „Calvin und der Frankfurter Konvent.“ Zwingliana 32: 23 – 38. Wengert, Timothy J. 1999b. „‚We Will Feast Together in Heaven Forever‘: The Epistolary Friendship of John Calvin and Philip Melanchthon.“ In Melanchthon in Europe: His Work and Influence Beyond Wittenberg, hg. v. Karin Maag, 19 – 44. Grand Rapids MI.
Andreas Müller
Ungarn und Südosteuropa Der Wittenberger Professor Philipp Melanchthon hat bekanntlich weit über die Grenzen seiner Region hinaus gewirkt. Dies gilt auch für Ungarn und Südosteuropa. Dabei haben insbesondere die Studenten aus diesen Gegenden die Verbreitung melanchthonischer Lehren gefördert. In seiner Gedächtnisrede vom 15. Mai 1560 auf den Praeceptor Germaniae hielt Jakob Heerbrand dies mit beeindruckenden Worten fest. Er vergleicht den Wittenberger dabei sogar mit Titus Livius, den Sehern von Memphis oder Archytas von Tarent, wenn er einen noch größeren Einfluss Melanchthons festhält: Um aber unseren Melanchthon zu hören, sind nicht nur einige wenige und nicht aus der einen oder anderen Region zusammengeströmt, sondern aus allen Gegenden Deutschlands, was sage ich Deutschlands, vielmehr aus fast allen Provinzen und Königreichen Europas: aus Frankreich, aus England, aus Ungarn, aus Siebenbürgen, aus Polen, aus Dänemark, aus Böhmen, selbst aus Italien, ja auch aus Griechenland. Zu allen Zeiten und in sehr großer Zahl kamen sie nach Wittenberg, weil sie vom Ruf seines Namens angelockt wurden. Wieviel Tausend Schüler wird er also nach unserer Meinung zeit seines ganzen Lebens gehabt haben? Schüler, die ihn, nachdem sie seine Vorlesungen gehört hatten, dankbar als ihren Lehrmeister anerkennen, und die, in alle Winde verstreut, die Schätze, die sie in Wittenberg erworben haben, anbieten und verteilen. (Beyer et al. 1997, 11– 37, hier 21– 22; lat. Nr. 7140 in CR 10, 293 – 313, hier 301)
Auch wenn die Äußerungen Heerbrands enkomiastische Züge tragen, so ist doch die Bedeutung Melanchthons für die Verbreitung der Reformation selbst in Ungarn und dem Südosten Europas kaum zu überschätzen. Kein anderer der Wittenberger Reformatoren hat so stark in diesen Raum hineingewirkt wie der sogenannte Praeceptor Germaniae, der aus guten Gründen auch Praeceptor Europae genannt werden kann. Melanchthons Interesse an der Region lässt sich bereits früh feststellen. Den Ungarn/Magyaren war er wie auch den Slawen dementsprechend zugewandt. Noch kurz vor seinem Tod betonte er die „süße Freundschaft“, die ihn mit vielen gelehrten Männern in Polen und Ungarn verband (MBW 8943). Durch die Eroberungszüge der Osmanen wurden seine Kontakte intensiviert. In seinen Briefen drückte er sein Mitgefühl für das ungarische Volk mehrmals aus. Auch brachte er seine Sorge um dessen Schicksal immer wieder zum Ausdruck. Dabei hielt er sich aber auch mit einer Perspektive der Hoffnung auf die Befreiung des ungarischen Volkes aus der Knechtschaft nicht zurück (Daniel 2001, 270). Melanchthon war bereits früh mit Ungarn in Kontakt gekommen. Erste Informationen über den ungarischen Raum dürfte er schon durch seinen Pforzheimer „Lateinschulfreund“ Simon Grynaeus erhalten haben. Dieser arbeitete seit 1521 als Schulrektor in Buda (Scheible 1985b, 37). Grynaeus studierte jedenfalls in den Jahren 1523/1524 in Wittenberg. Dort hatte er sicher intensiven Austausch mit Melanchthon. Neben jenem nahmen auch weitere Mitglieder des Ofener Humanistenkreises Kontakte DOI 10.1515/9783110335804-053
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zu Melanchthon auf: Veit Örtel (auch Winsheim genannt), Johannes Kresling und Conrad Cordatus sind hier zu nennen. Auch sie studierten ab 1523/24 in Wittenberg (Scheible 1985b, 38 – 39). Selbst den Hofprediger der ungarischen Königin Maria namens Johannes Henckel lernte Melanchthon auf dem Augsburger Reichstag 1530 kennen (Scheible 1985b, 40).
1 Melanchthons Studenten aus Ungarn und Südosteuropa Kontakte nach Ungarn und Südosteuropa entwickelte Melanchthon vor allem durch die intensive Betreuung seiner Studenten sowohl in Wittenberg als auch durch Briefkontakte. Sein gesamtes Netzwerk lässt sich kaum noch rekonstruieren, da eine ganze Zahl von Studenten in Wittenberg wohl gar nicht offiziell eingeschrieben war. Im Folgenden sollen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – die noch bekannten Studenten aus Ungarn (vgl. u. a. Sólyom 1961, 178 – 188) vorgestellt werden. Studien über die Kontakte zum Balkan fehlen bis heute weitgehend. Daher muss im vorliegenden Beitrag darauf verzichtet werden, zum Beispiel die von Heerbrand genannten Studenten Melanchthons aus Griechenland näher zu behandeln. Melanchthon hat 442 Studenten allein aus Ungarn in Wittenberg gehabt (Tempfli 2001, 207). Auch über deren weitere Karriere ist einiges bekannt: Ágnes Ritoók-Szalay (2001, 284) hält fest, dass immerhin 86 der zwischen 1529 und 1560 in Wittenberg immatrikulierten Studenten ungarischer Herkunft Pfarrer geworden sind, 32 hingegen nachweislich einen weltlichen Beruf ausgeübt haben. Von den „ungarischen“ Studierenden ist etwa die Hälfte aus Transsylvanien/Siebenbürgen gekommen (RitoókSzalay 2001, 274). Albert de Lange (2007, 96) geht genauer von 227 Studenten aus Siebenbürgen aus. Nur 22 von ihnen haben den Magistergrad erworben (Ritoók-Szalay 2001, 283). Als erste Studenten aus Ungarn immatrikulierten sich 1522 Martin Cyriacus aus Levoča/Leutschau und Georg Baumheckel aus Neusohl/Banská Bystrica (Daniel 2001, 259).Viele Ungarn wohnten in Melanchthons Haus. Da sie die deutschsprachigen Gottesdienste in Wittenberg nicht verstanden, wohl aber des Lateinischen meist sehr gut mächtig waren, legte Melanchthon insbesondere für diese Studentengruppe sonntags die Bibel auf Latein zunächst in seinem Haus aus. Die Auslegungen, die auch von deutschsprachigen Studenten besucht wurden, wurden gesammelt und 1544 publiziert (CR 14, 161– 528; MBW 3546). Einer der bekanntesten Studenten aus Ungarn, der in Wittenberg studiert hat, war der ehemalige Franziskaner Mátyás Dévai (vgl. zu Dévai: Tempfli 2001, 209; Daniel 2001, 259). Er kam 1529 zum ersten Mal hierher (Scheible 1985b, 41– 42). Weitere ungarische Studenten sind namentlich bekannt. Zu erwähnen sind etwa Joseph Macarius (= Józsa Bódog; in Wittenberg 1540 – 1544; vgl. Scheible 1985b, 59 – 60; Ritoók-Szalay 2001, 282), Paul Scipio (seit 1536 in Wittenberg; vgl. Scheible 1985b, 60 – 61), András Batizi (in Wittenberg von 1542– 1543; vgl. Scheible 1985b, 61), Bartholomäus Georgiević
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(in Wittenberg 1544; vgl. Scheible 1985b, 61– 62), Paulus Rubigallus (in Wittenberg von 1536 – 1545; vgl. Scheible 1985b, 62), Johannes Farkas (seit 1536 in Wittenberg; vgl. Scheible 1985b, 63), Johannes Hartler (um 1544 in Wittenberg; vgl. Scheible 1985b, 63), Martin Valkentkovits (in Wittenberg um 1546; vgl. Scheible 1985b, 63), sowie Benedikt Abádi (seit 1543 in Wittenberg; vgl. Scheible 1985b, 63), Imre Ozorai, István Gálszécsi und letztlich auch Johannes Sylvester (Ritoók-Szalay 2001, 278). Von diesen Studenten wirkten später im türkisch besetzten Ungarn Benedikt Abádi in Szegedin, Stefan Szegedi Kis in Cegléd/Zieglet (vgl. u. a. Ritoók-Szalay 2001, 280), Emericus Sigetinus in Tolna/Tolnau (MBW 4107). Darüberhinaus sind zahlreiche ungarische Studenten in Wittenberg namentlich nicht bekannt (vgl. u. a. Scheible 1985b, 63). Über András Batizi und Mátyás Dévai hinaus sind dabei aus dem sogenannten Partium weitere Schüler Melanchthons bekannt. Dazu gehören der bereits erwähnte István Gálszécsi (in Wittenberg 1542), ferner Balázs (= Máté?) Felnémethi (in Wittenberg ab 1542), Miklós Gyulai (in Wittenberg 1543), János Kolocsai Fábri (in Wittenberg 1544), István Kopávsi (in Wittenberg 1542), Ferenc Mohi (in Wittenberg 1543) sowie Péter (= Simon?) Egri und Domokos (= Demeter?) Batizi (Tempfli 2001, 208 – 210). Melanchthons Schüler waren auch als Gründer der ungarischen reformierten Kirche tätig. Zu nennen sind hier etwa Kaspar Károlyi, Stefan Szegedi Kis (s.o.), Paul Thuri, Péter Méliusz Juhász und auch Ferenc Dávid, der letztlich allerdings zu den Sabbatariern konvertierte (Daniel 2001, 260). Melanchthon wirkte nicht nur durch seinen Unterricht unmittelbar auf Studenten aus dem ostmittel- und südosteuropäischen Raum ein. Er war vielmehr auch durch seinen ausgeprägten Briefwechsel in der Region einflussreich. Durch seine Schüler ist außerdem Melanchthons Literatur in diesem Raum verbreitet worden. Sowohl Editionen als auch Übersetzungen der Melanchthon-Werke lassen sich in großer Zahl nachweisen. Ferner ist seine Theologie und sein Denken auch in den Werken seiner Schüler wieder zu entdecken. Und schließlich hat es auch Versuche gegeben, Melanchthons reformatorische Ansätze und Ideen in die politische Realität umzusetzen.
2 Melanchthons Briefwechsel mit Schülern und Sympathisanten der Reformation In seinen Briefen ging es Melanchthon oft um ganz konkrete Projekte. Insbesondere die Bildung versuchte er in Ostmitteleuropa zu stärken, weil er darin ein Bollwerk gegen die Osmanen sah (vgl. etwa MBW 8943, aber auch MBW 9281). Dementsprechend argumentierte er zum Beispiel gegenüber dem ungarischen Magnaten Thomas III. Nádasdy in einem Empfehlungsschreiben für seinen Schüler Mátyás Dévai vom Oktober 1537 (MBW 1949). In diesem lobt Melanchthon deutlich den Schulbau in UjSziget bei Sárvár/Kotenburg. Die Nachrichtenströme liefen zum Teil über Nürnberg und Breslau, die wichtige Handelszentren für Ostmitteleuropa darstellten (Scheible 1985b, 43). Darüber hinaus
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verfügte Melanchthon neben seinen Schülern auch über Briefpartner direkt in der Region. Dazu gehörte zum Beispiel der Kremnitzer Korrespondent Wolfgang Guglinger (MBW 2008, 2867). Melanchthon wusste jedenfalls auch um die aktuellen Ereignisse, etwa in Ungarn nach dem Tod Johann Zápolyas im Jahr 1540 (Scheible 1985b, 45).
3 Verbreitung von Melanchthon-Literatur in Ungarn und Südosteuropa Melanchthon war im 16. Jahrhundert in Ungarn der ausländische Autor, der am meisten gedruckt worden ist. Nach Ádám Dankanits (1982) kann er im Siebenbürgen dieser Zeit überhaupt als der am meisten gelesene Autor gelten. David Daniel (2001, 265) hält fest, dass auch die neueste historische Forschung davon ausgeht, „dass die Wirkung Melanchthons auf die Reformation größer war als die der anderen bedeutenden Reformatoren […].“ Dabei haben dort besonders seine Schriften zum Abendmahl starke Spuren hinterlassen. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Abendmahlsfrage gerade in Gebieten wie Siebenbürgen stark umstritten gewesen ist. Manche Druckwerke Melanchthons haben ihren Weg bis ins südöstlichste Europa gefunden. So findet sich eine im Auftrag Melanchthons herausgegebene griechische Bibel sogar auf dem Berg Athos. Der 1545 bei Johannes Herwagen in Basel hergestellte Druck existiert gleich zweimal in der Bibliothek des Klosters Xiropotamou. Wann sie genau dorthin gekommen sind, lässt sich allerdings nicht mehr ermitteln. Einer der beiden Bände ist nachweislich von einem griechischen Leser genutzt worden. Es handelt sich um die Bände Xiropotamou 592 θ I und 593 θ I (Müller 1998, 133). Auch Melanchthons Bibelkommentare haben ihre Verbreitung bis hin zum Athos gefunden. So findet sich dort eine späte Edition seines Commentarius in epistolam D. Pauli ad Romanos von 1596 in der Klosterbibliothek Iviron (Signatur Iviron A 136). Es ist zunächst von westlichen Benutzern verwendet worden – daher ist auch hier unklar,wann das Buch genau auf den Berg Athos gekommen ist (Müller 1998, 134). Melanchthon-Schriften fanden nicht nur ihre Verbreitung in Ungarn und Südosteuropa. Sie wurden hier auch – wie bereits erwähnt – gedruckt. Allein in Siebenbürgen wurden elf Melanchthonschriften zwischen 1548 und 1570 publiziert, davon acht in Brașov/Kronstadt und drei in Cluj-Napoca/Klausenburg (De Lange 2007, 96). Diese Schriften sind keineswegs in erster Linie theologischen Inhalts. Vielmehr sind sechs der in Siebenbürgen veröffentlichten Melanchthonschriften eher pädagogisch ausgerichtet. Melanchthon wurde hier jedenfalls keineswegs nur als Theologe, sondern auch als Humanist sehr geschätzt. 1555 gab Valentin Wagner in Brașov/Kronstadt Melanchthons Definitiones multarum appellationum, quarum in ecclesia usus est von 1553 (CR 21, 1075 – 1106; 23, 101– 102) heraus, ein Werk zur Vermittlung religiösen Elementarwissens an der Schule. Möglicherweise sollte das Büchlein aber auch Schützenhilfe bei den Diskussionen bieten, die sich in dieser Zeit in Siebenbürgen um die Göttlichkeit der zweiten und der
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dritten Hypostase Gottes immer mehr zuspitzten. So hatte man sich zum Beispiel in der ersten Hälfte der 1550er Jahre mit der antitrinitarischen Lehre des Franciscus Stancarus auseinanderzusetzen, der Jesus Christus nach seiner göttlichen Natur die Mittlerschaft zwischen Gott und den Menschen absprach (Reinerth 1979, 211– 215). Zu der Bekämpfung von dessen Lehren veröffentlichte Valentin Wagner eine Publikation Melanchthons 1554 in Kronstadt, nämlich die Responsio de controversiis Stancari scripta (RMNy 104 = Borsa 1971, 64; vgl. Daniel 2001, 261). Als Argumentationshilfe diente eindeutig auch die kleine Zusammenstellung von Kirchenväterzitaten aus Kyrill von Jerusalem, Johannes Chrysostomos, Vulgarius, Hilarius von Poitiers, Cyprian von Karthago und Irenäus von Lyon zum Abendmahl, die Melanchthon zum ersten Mal 1530 ediert hatte (Sententiae vetervm de coena Domini, CR 23, 727– 752; MBW 863; RMNy 133 = Borsa 1971, 93) und die Wagner 1556 herausgab. Diese Edition steht in eindeutigem Zusammenhang mit dem Abendmahlsstreit, der in Siebenbürgen vor allem nach dem Tod Wagners seinen Höhepunkt erreichte (zum Abendmahlsstreit in Siebenbürgen vgl. Gündisch/Reinerth 1979, 1– 15; Reinerth 1979, insbesondere 229 – 289). Zu den Auseinandersetzungen äußert sich Melanchthon auch in einem Brief an Johannes Crato vom 9. Februar 1558 (MBW 8522). Bei der Kirchenväter-Edition ging es nicht nur um den Beweis einer genuin lutherischen Haltung Melanchthons (so Neuser 1973, 58), sondern auch um hilfreiche Argumente aus den Kirchenvätern zur Untermauerung der Abendmahlslehre Wagners selber sowie seiner Parteigänger. Béla Holl (1966, 376 – 385, 381) hat darüber hinaus vermutet, dass die Schrift ein deutliches Zeichen der Berufung der Kronstädter auf (den 1556 allerdings bereits anders über das Abendmahl denkenden) Melanchthon darstellt. Viele der in Melanchthons Schrift angeführten Kirchenväterstellen tauchen jedenfalls in der späteren Diskussion über das Abendmahl in Siebenbürgen, wie sie bei Karl Reinerth (1979, 235 – 289) dargestellt ist, wieder auf. Melanchthons Bücher, ja sein Denken überhaupt, wirkten stark auf die Schulen in Ostmittel- und Südosteuropa ein. Selbst die Organisation zahlreicher Schulen geht auf Melanchthons Anregungen zurück. Beispielhaft dafür ist die Schulreform in Bardejov/ Bartfeld durch Leonhard Stöckel (Daniel 2001, 260). In Ungarn gab es während des 16. Jahrhunderts mehr als 125 evangelische Schulen. Diese wurden dem Drei-KlassenModell der melanchthonischen Schulordnung von 1528 entsprechend entweder gegründet oder umgestaltet (Daniel 2001, 269). Auch die Druckwerke, die an solchen Schulen benötigt wurden, kamen aus dem Umfeld des Reformators. Die älteste Grammatik des Ungarischen, das erste Wörterbuch, die ersten historischen ungarischen Schriften und das erste ungarisch geschriebene Buch stammten ebenfalls aus der Feder von Melanchthons Schülern oder Korrespondenten (Daniel 2001, 270).
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4 Auseinandersetzungen im melanchthonischen Umfeld Melanchthons Schüler waren keineswegs alle einer Meinung. Vielmehr haben sie sich sehr unterschiedlich positioniert. Dadurch ist es auch zu Konflikten zwischen den verschiedenen „Philippisten“ gekommen. So hat es zum Beispiel Auseinandersetzungen um die Abendmahlslehre Mátyás Dévais gegeben. Möglicherweise hat der Kronstädter Bartholomäus Bogner, der ab 1542 in Wittenberg studiert hatte und schließlich als Pfarrer in der slowakischen Stadt Levoča/Leutschau tätig war, Dévai des Sakramentariertums verdächtigt. In die Diskussion war der Melanchthonschüler Leonhard Stöckel im ebenfalls slowakischen Bardejov/Bartfeld involviert (zu Stöckel vgl. Haiduk 1977, 171– 180; Schwarz 1995, 279 – 298; Suda 1996, 50 – 66; Petrasko 2005, 69 – 80; Schwarz 2010, 52– 69; Daniel 2001, 259 – 260). Auch dieser hatte ein womöglich durch gemeinsame biographische Stationen bedingt inniges Verhältnis zu Melanchthon (Scheible 1985b, 48). Möglicherweise sorgte die Attraktivität der von Stöckel geleiteten Schule in Bartfeld sogar dafür, dass die Ungarn nicht mehr in Krakau studierten (Ritoók-Szalay 2001, 276). Auf Synoden wurde um die Positionierung auch zwischen den MelanchthonSchülern gerungen. Dafür ein Beispiel: Die Synode im heute nordwestrumänischen, in der frühen Neuzeit zum sogenannten „Partium“ gehörenden Erdőd am 20. September 1545 war von Melanchthons Geist beziehungsweise der Confessio Augustana Variata stark beeinflusst (Tempfli 2001, 205). Melanchthon hatte generell den Hof Gáspár Drágfis in Erdőd stark geprägt. Seine Schüler haben auch sonst die Reformation im „Partium“ wesentlich vorangetrieben (Tempfli 2001, 207– 210). Die Synode von Erdőd diente wohl der Definition einer eigenen Lehre und der Erstellung einer unabhängigen Kirchenordnung (Tempfli 2001, 214). Ähnliches gilt für die oberungarischen Bekenntnisse, die stark von der Confessio Augustana respektive Melanchthon beeinflusst sind. Oberungarn umfasst im Wesentlichen die heutige Slowakei. Es handelt sich bei den dort verfassten Bekenntnissen um die Confessio Pentapolitana, die Confessio Heptapolitana und die Confessio Scepusiana (Suda 2001, 185 – 201). Max Josef Suda hat die Einflüsse der Confessio Augustana und Melanchthons vor allem auf die von Leonhard Stöckel redigierte Pentapolitana untersucht. Trotz der starken Prägung durch Melanchthon fehlen hier allerdings die kirchenkritischen Tendenzen aus CA XXII – XXVIII gänzlich (Suda 2001, 200). Melanchthon hat auch in die Lehrstreitigkeiten eingegriffen, die nach der Durchsetzung der Reformation auftraten. Davon zeugt unter anderem der Briefwechsel, den er im Jahr 1559 mit Matthias Hebler, den in Sibiu/Hermannstadt versammelten Pfarrern und Gáspár Heltai in Cluj-Napoca/Klausenburg geführt hat (Scheible 1985b, 36 – 37). Gáspár Heltai selber hatte 1543 bei Melanchthon studiert (Scheible 1985b, 53).
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5 Melanchthons Engagement in Siebenbürgen Melanchthon hat durch seine Briefe und die Begleitung seiner Schüler in Siebenbürgen reformatorische Maßnahmen aktiv gefördert. Nach der Einführung der Reformation in Brașov/Kronstadt im Jahr 1542 schrieb Melanchthon sogar eine Vorrede für den Nachdruck der von Johannes Honterus verantworteten Kronstädter Kirchenordnung (MBW 3310). Er meldete die Ereignisse auch an andere Korrespondenten erfreut weiter (MBW 3364, 3427). Er stand ferner mit dem Siebenbürger Reformator Johannes Honterus in direktem Kontakt (MBW 3473, 3602). Vertieft worden war das Interesse an Siebenbürgen wohl durch eine Gesandtschaft aus Sibiu/Hermannstadt, die sich in Wittenberg im August 1543 nach den Zielen der Reformation und nach einer Beurteilung der Kronstädter Maßnahmen erkundigte. Dabei wurde Melanchthon mit differenzierteren Informationen aus Siebenbürgen versorgt (Scheible 1985b, 54; vgl. ebenfalls MBW 3767). Ein Antwortschreiben an den Hermannstädter Pfarrer Matthias Ramser aus demselben Jahr ist noch erhalten (MBW 3309). Die Hermannstädter Reformation scheint somit unmittelbar durch Melanchthon beeinflusst worden zu sein. Kontakte zu Siebenbürgern hatte Melanchthon allerdings sicherlich schon zuvor. Martin Heinz aus Kronstadt hatte zum Beispiel ab dem Wintersemester 1936/37 in Wittenberg studiert. Dort wurde er 1543 auch für Kronstadt ordiniert. In den Auseinandersetzungen um das Abendmahl hielt er sich deutlich an Melanchthon, dessen Abendmahlsgutachten er besaß (MBW 3124). Georg Kakas wurde sogar von den Kronstädtern nach Wittenberg geschickt, um dort die reine Lehre kennenzulernen (Scheible 1985b, 53). Weitere in Kronstadt tätige Theologen, die bei Melanchthon studiert hatten, waren der Mediascher Magister Jonas Tauber und Valentin Wagner, der 1542 in Wittenberg immatrikuliert worden ist (Scheible 1985b, 53). Dieser hielt sich 1554 noch einmal in Wittenberg auf, um dort zum Magister promoviert zu werden. Dabei lag ihm besonders die Beratung mit Melanchthon am Herzen (Scheible 1985b, 57). Auch Albert Kirschner aus Valea Viilor/Wurmloch, später Pfarrer in Bistrița/ Bistritz (MBW 4129) und Lucas Schifflich aus Kronstadt hatten bei Melanchthon studiert (MBW 3472.3). Ferner war Christoph Lippai, der also aus Lipova/Lippa stammte, bei Melanchthon und berichtete über seine siebenbürgische Heimat (MBW 3691, 3693). Besonders nah stand Melanchthon letztlich Sigismund Gelous aus dem Dorf Gelau im Komitat Klausenburg, der 1539 nach Wittenberg gekommen war (Scheible 1985b, 63 – 64). Melanchthon hoffte, dass die Reformation in Siebenbürgen Einfluss auf die griechische orthodoxe Kirche habe (MBW 3760). Jedenfalls waren ihm die Versuche Valentin Wagners, die orthodoxen Christen mit einem griechischen Katechismus zu erreichen, bekannt (MBW 3602, 3917). Informiert war er auch über den ersten expliziten Versuch, die reformatorische Lehre rumänischen Orthodoxen nahezubringen. Dazu war es bereits ein Jahr nach dem Erscheinen der ersten reformatorischen Schriften in Kronstadt 1543 in Hermannstadt gekommen. Jedenfalls wird vom Beginn
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dieser Versuche der Verbreitung der reformatorischen Lehre bereits am 8. Januar 1544 von Melanchthon in einem Brief an Burkhard Mithoff in (Hannoversch‐)Münden berichtet (MBW 3427). Es ist nicht auszuschließen, dass Melanchthon sogar die Drucklegung eines Katechismus für rumänische orthodoxe Leser in Hermannstadt gefördert hat, nämlich des von Filip Moldoveanul/Philippus Pictor 1544 gedruckten Katechismus, so Jakó (1966, 44). Bei diesem verschollenen Werk handelte es sich wahrscheinlich um den ersten Druck in rumänischer Sprache (Suttner 1978, 212).
6 Jakobos Basilikos Herakleides Despota und Melanchthons Einfluss in die Moldau Melanchthons Wirken in Südosteuropa hatte auch unmittelbare politische Folgen. In der rumänischen Moldau war von 1561 bis 1563 versucht worden, die Reformation mit Gewalt durchzusetzen. Verantwortlich war dafür der Melanchthon-„Schüler“ Jakobos Basilikos Herakleides Despota, der sich als „Despot von Samos“ bezeichnete (vgl. Benz 1949, 34– 58). Dieser hat Melanchthon zweimal in Wittenberg besucht und ihm mindestens zwei Briefe geschickt (MBW 7639, 7850). Melanchthon schickte ebenfalls am 10. März 1556 einen Brief an ihn und seinen Vetter Jakobos Diassorinos, in dem er beiden tatkräftige Unterstützung zusagte (MBW 7735).Wohl im Rahmen seines zweiten Wittenberg-Aufenthaltes, der relativ bald nach Erhalt von Melanchthons Brief 1556 datiert werden muss, empfahl dieser ihn an den dänischen König Christian III. Dies geschah mit einem Empfehlungsschreiben, das Melanchthon an den Hofgelehrten Henricus Buscoducensis am 1. Juni 1556 schickte (MBW 7845). Darüber hinaus stellte Melanchthon ein Handschreiben an den dänischen König aus, das Jakobos Basilikos selbst zu überreichen hatte (MBW 7846). Der „Heraklide“ zog nun in den Jahren 1556 – 1559 zunächst an den dänischen Hof, dann an denjenigen Herzog Albrechts von Preußen. Dieser empfahl ihn an Nikolaus Radziwill von Litauen und Sigismund II. August von Polen. So lernte Jakobos Basilikos die reformatorischen Kreise in Polen kennen. Schließlich wurde er von dort an den moldauischen Fürsten Alexandru IV. Lăpușneanu weiterempfohlen, den er 1558 aufsuchte. Bald schon sammelten sich aufständische Kreise um ihn, die eine Verschwörung gegen den Fürsten planten. Nach deren Aufdeckung floh Jakobos Basilikos ins siebenbürgische Kronstadt und reiste schließlich auch nach Wien zu Maximilian II., der seine Unterstützung von Plänen zur Eroberung der Moldau zusagte. Gemeinsam mit Albert Laski in Kežmarok/Käsmark bereitete Jakobos Basilikos nun die Eroberung der Moldau vor, die ihm mit der Schlacht bei Verbia 1561 schließlich gelang. In der Folge versuchte er, das Land im Sinne von Humanismus und Reformation zu erneuern. Sogar ein (polnisch-reformierter) Bischof namens Johannes Lusinius wurde eingesetzt, der antitrinitarische Tendenzen verfolgte und wohl bereits 1562 ermordet wurde (Bryner 1992, 68). Gerade an der Religionsfrage scheiterte die Herrschaft des Jakobos Basilikos aber schließlich. Auf besonders intensive Ablehnung stießen dabei seine
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Kontakte zu den polnischen Antitrinitariern (Benz 1949, 51).Vor allem die Hochzeit mit der Tochter des polnischen Adeligen und Antitrinitariers Martin Zborowski lösten schließlich den Aufstand gegen den Despoten aus, der zum raschen Ende seiner Herrschaft 1563 führte. Er wurde am 15. November 1563 ermordet.
7 Melanchthons Einfluss auf die theologische Literatur in Ostmittel- und Südosteuropa Melanchthon hat nicht nur durch eigene Werke in Ungarn gewirkt. Vielmehr hat er auch Publikationen anderer beeinflusst oder sogar unterstützt. Stark von melanchthonischer Theologie geprägt sind außergewöhnliche Werke wie die 1550 vom Kronstädter Reformator Valentin Wagner auf Griechisch verfasste Katichisis. Diese macht deutlich, dass die im 20. Jahrhundert hitzig geführte Debatte, ob die Kronstädter Reformation eher ein Zeugnis reformiert-oberdeutscher oder lutherisch-Wittenberger Theologie darstellte, zu keinem eindeutigen Ergebnis führt. Vielmehr ist der Katechismus eher Ausdruck einer humanistisch orientierten Stadtreformation, die im Sinne Melanchthons zwischen den sich herausbildenden konfessionellen Lagern zu verorten ist. Mit seiner Katichisis bemühte sich Wagner um die Schaffung einer christlichen und humanistisch gebildeten Gesellschaft, die mit ihrem Gottesdienst die salus publica befördert und den osmanischen Truppen somit auch geistlichen Widerstand entgegensetzt. Wagners katechetische Tätigkeit entsprach also den Forderungen, wie sie Melanchthon in einem Brief an den Hermannstädter Pfarrer Matthias Ramser am 3. September 1543 formuliert hatte: „Es lodert der ganze Erdkreis in allgemeinem Feuer, in dem Gott doch nicht zuläßt, daß seine Kirchen gänzlich vernichtet werden, und das öffentliche Leid mildern wird, wenn wir ihn wieder anzurufen lernen und den Aberglauben ablegen. […] Unsere hauptsächliche Sorge aber sei, dem Volke die Lehre unverfälscht und heilsam zu überliefern.“ (MBW 3309; zitiert nach Groß 1927, 50) In diesem Sinne ermahnte Valentin Wagner zu wahrer Religiosität, die eng mit Bildung und einer ausgeprägten Ethik verbunden war. Der theologische Einfluss Melanchthons auf südosteuropäische Theologen lässt sich an Wagners Lehre vom „freien Willen“ demonstrieren (Müller 2000, 234 – 274). Mit dieser geht er noch über die bis zum Erscheinen der Katichisis 1550 in den Loci Melanchthons veröffentlichte Argumentation hinaus. Melanchthon hatte bei seiner Abhandlung des Themas „freier Wille“ unter Rückgriff auf Basilius und Johannes Chrysostomos die Möglichkeit zur freiwilligen Ablehnung des Evangeliums herausgearbeitet (Loci 1535, CR 21, 376; Loci 1544, CR 21, 658 unter Zitierung von PG XXXI 1480 – 1481 und PG LI 143,33). Zumindest nachlaufend ist der menschliche Wille also von nicht zu vernachlässigender Bedeutung (vgl. u. a. Melanchthon Catechismus von 1548, abgedruckt in Cohrs 1915, 360 – 361).Wagner übernahm die beiden Väterzitate in seinen Kontext (WK 6) und fasste schließlich deren Inhalt mit einem weiteren Zitat aus
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Stobaeus (Stob. III 29, 21) zusammen, das sich bei Melanchthon nicht findet. Er spricht vom συσπεύδειν Gottes mit dem, der sich bemüht. Er behauptete darüber hinaus – ohne Differenzierung zwischen dem Urzustand im Paradies und der jetzigen Situation des Menschen – unter Rückgriff auf eine Formulierung des Epiphanius von Salamis (Epiph. haer. Bd. II, 447, Z.7) noch klarer die Möglichkeit der Entscheidung für das Evangelium (WK 108). Wenn es sich dabei auch nur um die Kehrseite der melanchthonischen Medaille handelt, so geht er doch noch einen Schritt weiter in Richtung Pelagianismus, den auch später die sogenannten „Philippisten“ gingen. Dementsprechend hat Wagner an anderer Stelle nochmals in Anlehnung an das Chrysostomos-Zitat von συνέργεια und συμμαχία Gottes mit dem Menschen beim Kampf gegen Überlegungen und Begierden, also auf dem Weg in die geistliche Existenz, gesprochen (WK 7). Trotz solcher Formulierungen zumindest dem Gnadenakt folgender Synergie hielt freilich auch Wagner daran fest, dass die freiwillige Ausführung der Gebote Gottes nur mit Hilfe des göttlichen Geistes möglich sei (WK 7). Melanchthonisch orientierte Katechismen wie jene Wagners blieben nicht auf Siebenbürgen beschränkt. So gab auch der Bartfelder Schulmeister und Schüler Melanchthons, Leonhard Stöckel, 1556 einen Katechismus für den Schulgebrauch heraus, die sogenannte Catechesis pro juventute Bartphensis composita (Bucsay 1977, 71. Ähnliches gilt für den in Sárospatak/Patak am Bodrog tätigen Melanchthon-Schüler Johannes Vitus Balsaráti, der 1571 einen Katechismus ediert hat (Ritoók-Szalay 2001, 283). Wie schwer einzelne Texte eindeutig konfessionell zuzuweisen sind, macht unter anderem ein in Cluj-Napoca/Klausenburg gedruckter, vermeintlich calvinistischer Katechismus deutlich. Es handelt sich um die für Ungarn, allerdings noch in lateinischer Sprache gedruckte, über 220 Seiten umfassende Catechesis scholae Claudiopolitanae ad pietatis studiosam iuventutem in doctrina Christiana fideliter exercendam Gregor Molnárs (RMNy 201; Borsa 1971, 130). Sie wurde in der Offizin Gáspár Heltais 1564 gedruckt und diente vor allem der Vermittlung notwendiger Informationen über den rechten Glauben an die Schüler (Murdock 2002, 87). Dem Druck vorausgegangen war die Teilnahme des Klausenburger Schulrektors, der ebenfalls in Wittenberg studiert hatte, gemeinsam mit Ferenc Dávid und Gáspár Heltai auf der Synode der Reformierten in Oradea/Großwardein. Dort hatten sie die Abendmahlslehre des reformierten Péter Méliusz Juhász kennengelernt. Dementsprechend ist die Abendmahlslehre in Molnárs Katechismus nun auch calvinistisch geprägt. Der Katechismus ist allerdings eher eklektizistisch gehalten. Nach den Untersuchungen von Barna Nagy (1967, 193 – 301) lehnt sich der Text über weite Passagen an Melanchthons Examen ordinandorum von 1554 an. Selbst Gebetstexte Melanchthons sollen verarbeitet worden sein. Die Prädestinationslehre hingegen ist von Zwingli geprägt. Texte wie die Ungarischen Katechismen machen deutlich, dass Melanchthon nicht nur persönliche Kontakte nach Ungarn und Südosteuropa pflegte, sondern durch seine Theologie die ungarische und südosteuropäische Kultur nachhaltig beeinflusst hat.
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Polen-Litauen 1 Fragmentarische Forschungsergebnisse Bereits vor gut fünfzig Jahren wies der polnische Forscher Oskar Bartel auf den fragmentarischen Charakter der Studien hin, die sich mit der Wirkung Melanchthons in Polen-Litauen befassten. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Trotz der Hypothese von Bartel, dass der Einfluss des Wittenberger Humanisten auf das kulturelle Leben der polnisch-litauischen Adelsrepublik denjenigen Martin Luthers oder Johannes Calvins übertroffen habe und dass Melanchthon nach dem Tod des Erasmus von Rotterdam in Polen-Litauen einer der einflussreichsten westeuropäischen Gelehrten gewesen sei (Bartel 1961, 73), fehlt immer noch eine eingehende Untersuchung. Immerhin füllten die in jüngerer und jüngster Zeit erschienenen Aufsätze die Forschungslücke mit einigen Elementen, welche die vielschichtige Rezeption des Erbes dieses außergewöhnlich vielseitigen Gelehrten und ihre Konstellationen andeuteten. Beleuchtet wurden nämlich die Kontakte Melanchthons zu den polnisch-litauischen Studenten, sein bruchstückhaft erhaltener Briefwechsel mit den Eliten in Polen-Litauen und die Verbreitung seiner Werke inklusive seines theologischen Gedankenguts (Nir 1980; Stupperich 1980; Tazbir 2001; Daugirdas 2011; Jürgens 2014). Das in der Forschung gezeichnete Bild von der (Nach‐)Wirkung Melanchthons in Polen-Litauen bleibt somit zwar immer noch skizzenhaft, aber es erlaubt inzwischen einige gesicherte Einblicke in die komplexen Rezeptionsprozesse, die sich bis weit in die Zeit nach dem Tod des Wittenbergers erstreckt haben. Im Folgenden werden diese Rezeptionsprozesse anhand der Verbreitung des theologischen Gedankenguts Melanchthons und seiner nicht-theologischen Lehrbücher verdeutlicht.
2 Die theologische Rezeption Melanchthons Ein Spezifikum der theologischen Rezeption Melanchthons in der polnisch-litauischen Adelsrepublik bestand darin, dass nicht wenige der protestantisch gesinnten Polen und Litauer, die in den 1540er und 1550er Jahren bei ihm studiert hatten, zu zentralen Akteuren des sich in Polen-Litauen herausbildenden Reformiertentums geworden sind. Zu erwähnen sind hier vor allem die in Kleinpolen tätigen Christoph Thretius, Stanislaus Sarnicki, Jakob Niemojewski und Andreas Trzecieski d.J., die allesamt den Praeceptor Germaniae in Wittenberg aufgesucht hatten (Tazbir 2001, 160 – 161), bevor sie sich in der zweiten Hälfte der 1550er Jahre immer mehr den Genfer und Zürcher Einflüssen öffneten. Hinzu kommen weitere für die Entwicklung des theologischen Profils der entstehenden reformierten Kirche bedeutende Personen, die mittelbar oder unmittelbar unter dem Einfluss des Gedankenguts Melanchthons standen. Im GroßDOI 10.1515/9783110335804-054
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fürstentum Litauen erwies sich etwa der königliche Sekretär Andreas Volanus, der in Königsberg in die Lehre bei dem Schwiegersohn von Melanchthon, Georg Sabinus, gegangen war, als eine Säule der an dem theologischen Denken Melanchthons und Calvins festhaltenden trinitarischen Orthodoxie. In den ausgebrochenen theologischen Richtungskämpfen mit dem antitrinitarischen Flügel wurde Volanus seinerseits von dem Melanchthonschüler Georg Weigel unterstützt, der sich in den 1560er Jahren in Polen-Litauen aufhielt und zu reformierten Ansichten tendierte (Wotschke 1922; Daugirdas 2008, 23 – 25, 63 – 66; Dingel 2013, 12, 349). Angesichts des Übergangs der von Melanchthon beeinflussten Denker und Lenker des polnisch-litauischen Protestantismus zum Reformiertentum sprach die Forschung gelegentlich davon, dass der Wittenberger Gelehrte den künftigen Nachwuchs nicht für die eigene Kirche ausgebildet habe (Tazbir 2001, 161). Eine solche Einschätzung ist allerdings nur bedingt zutreffend, denn sie setzt voraus, dass Melanchthon der „lutherischen“ Kirche angehört habe, ohne die Differenzen wahrzunehmen, die seine Theologie von derjenigen Luthers unterschieden und die bisweilen den Übergang in das reformierte Lager begünstigt haben. Richtig ist auf jeden Fall, dass in theologischer Hinsicht die meisten der erwähnten Personen Philippisten gewesen sind. Insbesondere in christologischen und trinitätshermeneutischen Fragen folgten sie häufig Melanchthon, der sich bei der Lehre von der communicatio idiomatum für eine wechselseitige Zuweisung der Prädikate der beiden Naturen Jesu Christi nur an das Konkretum der Person des Herrn und das patristikbetonte Bibelverständnis in trinitarischen Belangen ausgesprochen hatte (CR 23, 341; CR 21, 837). Es waren denn auch vornehmlich diese Punkte, die in den theologischen Debatten in Polen-Litauen eine wichtige Rolle spielten und in die man Melanchthon persönlich zu involvieren suchte. Besonders intensiv befasste man sich mit christologischen und trinitätshermeneutischen Grundsätzen Melanchthons in den späten 1550er Jahren und zu Beginn der 1560er Jahre, als in Polen-Litauen die humanistisch gebildeten, antitrinitarisch gesinnten Gelehrten auftraten, welche die trinitarischen und christologischen Entscheidungen der Alten Kirche problematisierten. Indem sie das reformatorische Schriftprinzip biblizistisch-rationalisierend handhabten, lehnten jene Gelehrten das von den mittel- und westeuropäischen Reformatoren bejahte Trinitätsdogma in seiner zu Nizäa (325) und Konstantinopel (381) festgelegten Form sowie die auf dem Konzil zu Chalcedon (451) dogmatisch fixierte Zwei-Naturen-Lehre ab. Wenige Jahre vor seinem Tod wurde auch Melanchthon mit den antitrinitarischen Entwicklungen in der polnisch-litauischen Reformation konfrontiert. Im Frühjahr 1556 schickte man zu ihm, der unter den protestantisch gesinnten Polen und Litauern als eine Autorität galt, Petrus Gonesius, den Vorreiter des polnisch-litauischen Antitrinitarismus. So entschied die kleinpolnische Synode zu Secemin am 23. Januar 1556 nach vergeblichen Versuchen, Gonesius zu widerlegen, diese Aufgabe an Melanchthon zu delegieren: Der Wittenberger möge das antitrinitarische Bekenntnis des Gonesius überprüfen und beurteilen; mit der Beurteilung Melanchthons solle Gonesius zu den theologisch Verantwortlichen in Polen und Litauen zurückkehren und vor ihnen ein Zeugnis für seine Sinnesänderung ablegen (Akta 1966, 47). Es ist überliefert, dass Gonesius auf jene Aufforderung
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hin im Februar 1556 nach Wittenberg kam, wo Melanchthon ihn jedoch abwies, als er erfuhr, über welche Ansichten sein Gegenüber mit ihm verhandeln wollte (Górski 1949, 63; Daugirdas 2011, 355 – 356). Die Begegnung mit Melanchthon bot für Gonesius den Anlass, um dessen theologische Ansichten tiefer zu durchdringen, die er in der Folgezeit in den zunächst handschriftlich verbreiteten und 1570 im Sammelband Doctrina pura et clara de praecipuis christianae religionis articulis gedruckten Traktaten mehrfach einer Kritik unterzog. In seinem um das Jahr 1560 entstandenen einflussreichen Traktat De Deo et Filio eius spielte er den Personenbegriff Melanchthons, den dieser im Sinne der unteilbaren und nicht-mitteilbaren Substanz dem Boethius entlehnt hatte, gegen den relationalen Personenbegriff Calvins aus. Als ein Verfechter des subordinatianischen Tritheismus bezichtigte Gonesius beide Reformatoren einer ungenügenden Unterscheidung Gott des Vaters von dem Sohn Gottes (Dingel 2013, 54; Daugirdas 2008, 185, 187, 191). In dem nicht wesentlich später verfassten Traktat De unigenito Filio Dei wandte sich Gonesius auch gegen die Christologie des alten Melanchthon, die er den in Polen-Litauen bestens bekannten Loci der tertia aetas entnahm und die in seinen Augen auf eine letztlich „nestorianische“ Auffassung der beiden Naturen Christi hinauslief (Daugirdas 2011, 356). Die Angriffe des Gonesius blieben insbesondere im Großfürstentum Litauen, wo der Antitrinitarier schwerpunktmäßig wirkte, nicht unbeantwortet. Sie riefen die Verfechter der traditionellen Trinitätslehre und Christologie auf den Plan, die sich dem Erbe des Wittenbergers verbunden fühlten. Am eindrücklichsten und deutlichsten sprach sich Volanus für Melanchthon aus. In seinem am 1. April 1565 abgeschlossenen ausführlichen trinitätstheologischen Brief an den der Reformation zuneigenden Kiewer Bischof Nikolaus Pac zitierte er aus den Loci der tertia aetas, um mit den eigenen Worten des als einzigartige Zierde der Theologie und der artes humanae bezeichneten Wittenbergers die von Gonesius erhobene Kritik der unzureichenden Unterscheidung der göttlichen Personen zu widerlegen. Volanus führte Passagen aus den Abschnitten De tribus personis divinitatis und De filio an, aus denen die seiner Meinung nach vollkommen ausreichende Unterscheidung Gott des Vaters von dem Sohn Gottes und dem Heiligen Geist deutlich hervorging. Darüber hinaus bevorzugte Volanus eine eindeutig melanchthonisch gefärbte Christologie, indem er für die saubere Unterscheidung der Prädikate der beiden Naturen Christi und ihre wechselseitige Zuweisung nur an das Konkretum der Person des Herrn plädierte (Dingel 2013, 232– 234, 244). Diese sachlichen Entscheidungen gingen bei Volanus mit der Rezeption der trinitarischen Hermeneutik des Wittenbergers einher. Wie aus seiner Äußerung, Melanchthon beweise seine Trinitätslehre mit den Belegen aus der Schrift und aus den ältesten Vätern, ersichtlich wird, nahm er in dem genannten Brief an Pac auf die entsprechende Vorgehensweise des Wittenbergers explizit Bezug (Dingel 2013, 233,13 – 16; CR 21, 616 – 616). Dies verdient insofern Beachtung, als Volanus in den eigenen, anschließend vorgetragenen Argumentationsgängen die traditionelle Trinitätslehre in zwei analogen Schritten verteidigte. Zunächst bewies er die zureichende Unterscheidung der göttlichen Personen mit Verweisen auf Gen 1,26, Joh 1,3 und Ps 104,30, und
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mit Rekurs auf Joh 8,29, 14,9 etc. strich er ihre unzertrennbare, substantielle Verbindung heraus. Im zweiten Schritt wurde alsdann mit Zitaten aus den Schriften der Kirchenväter operiert, von denen Volanus besonders Tertullians Adversus Praxean heraushob (Daugirdas 2008, 197– 198). Bei seinen Bemühungen um die rechte Lehre orientierte sich Volanus somit in hermeneutischer Hinsicht an der Richtlinie, die er Melanchthons Loci entnahm. Seine Vorgehensweise entsprach ganz genau den theoretischen Überlegungen des Wittenbergers in dem Loci-Abschnitt De ecclesia, die besagten, dass sich die Gläubigen in der Auseinandersetzung mit den Antitrinitariern und Täufern nach dem Wort Gottes, das heißt der Heiligen Schrift, und der Lehre der Alten Kirche zu richten hätten (CR 21, 837). Sehr ähnlich wie Volanus verfuhr ein Jahr später auch der von ihm angeschriebene, mit der Wittenberger Reformation sympathisierende Kiewer Bischof Nikolaus Pac. In seiner im Frühsommer 1566 entstandenen richtungweisenden Orthodoxa fidei confessio – die Dedikation unterzeichnete Pac am 22. Juli in Brest Litowsk – wurde die traditionelle Trinitätslehre aus der Bibel und aus den Schriften der Kirchenväter ausgiebig bewiesen. Was die Letzteren anbelangt, so stellte Pac eine stattliche Anzahl trinitarischer Belegstellen aus den Schriften von Justin, Origenes, Cyprian von Karthago, Hilarius von Poitiers, Augustin und anderer zusammen. Damit suchte er zu beweisen, dass die Lehre von dem einen Gott in drei gleichrangigen Personen einen einmütigen Glaubenskonsens der Väter und keineswegs eine späte, nachbiblische Fehlentwicklung darstelle (Dingel 2013, 404– 411; Daugirdas 2008, 201– 202). In der Orthodoxa fidei confessio, deren Druck der bereits erwähnte Georg Weigel noch im Jahr 1566 in Königsberg bei Johannes Daubmann besorgte, zog Pac freilich Konsequenzen, die in dieser Form in Melanchthons Loci noch nicht zu finden, wohl aber intendiert waren. Der Kiewer Bischof steckte eine zeitliche und sachliche Grenze ab, welche die Reformation, wollte sie noch rechtgläubig bleiben, nicht überschreiten durfte. Die trinitarischen und christologischen Entscheidungen der vier ökumenischen Konzile – Nizäa, Konstantinopel, Ephesus und Chalcedon – galten ihm als unumstößlich. Bei ihrer Lehre wollte er, der in seinen christologischen Aussagen fast verbatim Melanchthon folgte, es auch bewenden lassen (Dingel 2013, 387,29 – 388,2, 389,10 – 22). Zieht man in Betracht, dass Volanus und Pac wichtige Akteure im intellektuellöffentlichen Leben Polen-Litauens waren, so wird man den bei ihnen greifbaren Niederschlag der hermeneutischen Grundsätze Melanchthons als einen nicht zu vernachlässigenden Faktor in den dortigen intellektuellen Diskussionen im Allgemeinen und in den Auseinandersetzungen um die Trinitätslehre sowie Christologie im Besonderen ansehen dürfen. Nikolaus Pac war für seine Gelehrsamkeit bekannt, und als philippistisch gesinnter Bischof, der er bis 1583 blieb, sorgte er mit seinen Äußerungen eo ipso für das öffentliche Interesse.Volanus wiederum, einer der publizistisch fruchtbarsten polnisch-litauischen Reformierten zwischen 1560 und 1600 überhaupt, verschaffte den hermeneutischen Grundsätzen Melanchthons eine bleibende Bedeutung auf seine eigene Art. In allen weiteren Auseinandersetzungen mit den herausragenden Antitrinitariern Polen-Litauens, wie etwa mit Szymon Budny, Fausto Sozzini und Johannes Licinius Namysłowski, ging er unverändert von der Annahme aus, dass
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die recht verstandene sententia patrum einen hermeneutischen Eckpfeiler der rechten Lehre bilde, der vor einer willkürlichen Auslegung der Heiligen Schrift schütze (Daugirdas 2011, 359; Daugirdas 2008, 135 – 168, 263 – 265). Diesen Grundsatz verinnerlichten jedenfalls auch die mit Volanus eng kooperierenden reformierten Gesinnungsgenossen in Kleinpolen, Christoph Thretius und Stanislaus Sarnicki. Die einstigen Schüler Melanchthons hielten insbesondere in den theologisch hochbewegten 1560er Jahren an dem Verfahren fest, die traditionelle Trinitätslehre aus der Heiligen Schrift zu beweisen, die im normierenden Einklang mit den vielfach zitierten Schriften der Kirchenväter und Konzilsentscheidungen ausgelegt wurde (Górski 1929, 134– 135).
3 Die Zirkulation der nicht-theologischen Lehrkompendien Melanchthons Einer noch breiteren und länger anhaltenden Rezeption als die Loci erfreuten sich in Polen-Litauen die nicht-theologischen Lehrkompendien Melanchthons, deren Wirkungsradius nicht auf die Protestanten beschränkt blieb. Ungeachtet der Tatsache, dass nur wenige Schriften dieser Art in Polen-Litauen selbst nachgedruckt wurden (Jürgens 2014, 118), zirkulierten dort zahlreiche Exemplare, die im Alten Reich oder in der Alten Eidgenossenschaft erschienen waren und die von den Studenten beziehungsweise Reisenden mit nach Hause genommen wurden. Einen guten Einblick in jene Zirkulation gewähren die in der Universitätsbibliothek in Vilnius aufbewahrten nicht-theologischen Werke Melanchthons, ihre Bearbeitungen und die von ihm angefertigten Übersetzungen, die folgende Titel umfassen: Claudii Ptolemaei Quadripartitum Melanthone interprete (Basel s.a.), De prosodia ab Melanchthone aucta (Straßburg 1585), De anima (ohne Titelblatt), Elementorum rhetorices libri duo (Wittenberg 1559 und 1589), Enarratio aliquot librorum Ethicorum Aristotelis (Wittenberg 1545), Epigrammatum Melanchthonis libri sex (Wittenberg 1579), Epistolae selectiores aliquot Melanchthonis (Wittenberg 1565), Erotemata dialecticae et rhetoricae Melanthonis. Per Lucam Lossium. Wittenberg 1567, Ethicae doctrinae elementa (Wittenberg 1564 und 1580), Initia doctrinae physicae, dictata in Academia Vuitenbergensi (Leipzig 1560), In Ciceronis epistolas argumenta, ex ore clariss. viri D. Melanthonis priuatim excepta. Tomus tertius (s.l. 1564), Ioannis Ludovici Vivis Valentini de anima et vita libri tres. Accesserunt eiusdem argumenti de anima, Melanchthonis commentarius (Basel 1543), Orationes ex Historia Thucydidis conuersae in latinum sermonem a Melanthone (Wittenberg 1562). Von den erwähnten Drucken fallen vor allem die Lehrbücher Ethicae doctrinae elementa, Elementorum rhetorices libri duo und De anima durch ihre gut dokumentierten, zum Teil ungewöhnlichen „Lebensstationen“ auf: Den handschriftlichen Einträgen ihrer Besitzer auf Titelblättern und Seitenrändern ist zu entnehmen, dass sie im Verlauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte mehrfach die Besitzer gewechselt haben, bis sie schließlich in den Bibliotheken der Dominikaner in Grodno und der Bern-
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hardiner (Franziskaner-Observanten) in Vilnius landeten. Auf jeden Fall deuten ihre bemerkenswerten Wege Faszination – und wohl auch: Brauchbarkeit – der breiten wissenschaftlichen Leistung Melanchthons an, die weit über die Grenzen des Reichs und weit über die konfessionellen Gräben hinaus wahrgenommen worden ist. Dass Melanchthon als ein bedeutender Wittenberger Reformator und Systematiker der evangelischen Lehre aus der offiziellen römisch-katholischen Perspektive ein tunlichst zu meidender Autor war, war zwar allen Beteiligten klar. Er stand auf dem Index, und diejenigen, die Verantwortung über die Bücherbestände an den römisch-katholischen Institutionen im polnisch-litauischen Gemeinwesen trugen, haben diese Tatsache nie vergessen: Fast alle in der Universitätsbibliothek in Vilnius aufbewahrten, im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts aus den Kloster- und Privatbibliotheken eingesammelten Drucke Melanchthons tragen auf dem Titelblatt den handschriftlichen Zusatz „Prohibitus“. Die Indizierung seiner Werke hat allerdings nicht verhindern können, dass nicht-theologische beziehungsweise nicht explizit theologische Lehrkompendien Melanchthons im Laufe der Zeit auch von römisch-katholischen Theologen und Ordensmitgliedern erworben und mit hoher Wahrscheinlichkeit gelesen wurden (Daugirdas 2011, 354, 360). Einer besonderen Beliebtheit über die konfessionellen Grenzen hinweg scheint sich das Lehrbuch der Rhetorik Melanchthons, die Elementorum rhetorices libri duo, erfreut zu haben. In der Universitätsbibliothek in Vilnius ist das Lehrbuch sogar in drei Exemplaren vertreten, von denen sich zwei als Wittenberger Nachdrucke aus den Jahren 1559 und 1589 ausweisen und bei dem dritten das Titelblatt fehlt.Vor allem der ältere, aus der Offizin Johannes Kraffts d. Ä. hervorgegangene Druck lässt aufgrund seiner Einträge eine bewegte und sehr interessante Buchgeschichte erkennen. Abgesehen von einem weiteren nicht mehr entschlüsselbaren Besitzernamen unter dem Erscheinungsjahr diente das Lehrkompendium im Jahr 1633 den Studien eines gewissen David Hempelius aus Breslau, und es gelangte – wohl anschließend – in die Hände eines Dominikaners namens Faustus Danilewicz (Danilowicz). Im 18. Jahrhundert fand das Buch jedenfalls in der Bibliothek des Philosophen und Bücherliebhabers Dominicus Siwicki eine Bleibe, was insofern pikant ist, als Siwicki nicht nur Provinzial der litauischen Dominikaner, sondern auch einer der Organisatoren der Klosterbibliothek in Grodno war. Er schenkte der Klosterbibliothek seine eigene Büchersammlung, womit das Lehrbuch Melanchthons für Rhetorik in die Bibliotheksbestände der Grodnoer Dominikaner einging. In der Bibliothek Siwickis wurde auch das zweite, 1589 gedruckte Exemplar der Rhetorik Melanchthons aufbewahrt. Das bedeutet, dass die Klosterbibliothek in Grodno nach Siwickis Schenkung das Lehrbuch ebenfalls in doppelter Ausfertigung besaß (Kisarauskas 1984, 116; Daugirdas 2011, 361– 362). Die Tatsache des Besitzes der Lehrkompendien Melanchthons durch die Dominikaner besagt als solche sicherlich noch nicht, dass diese sie auch lasen: Dominicus Siwicki kann sie lediglich aus bibliophiler Neigung erworben haben, und die Grodnoer Dominikaner haben die Bücher schlicht als Spende bekommen. Etwas anders sieht allerdings der Fall des erwähnten Ordensbruders Faustus Danilewicz aus, der die
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Lehrkompendien höchstwahrscheinlich nicht bloß aus Liebe für Antiquarisches besaß. Auf sein Interesse für Melanchthons nicht-theologische Lehrbücher hin deutet zum einen die Tatsache, dass er neben dessen Lehrbuch der Rhetorik eine weitere Schrift des Wittenbergers erworben hatte – die 1566 in Wittenberg nachgedruckten Ethicae doctrinae elementa. Zum anderen weisen ausgerechnet die beiden aus seinem zeitweiligen Besitz stammenden Lehrkompendien, die Elementorum rhetorices libri duo (1559) und die Ethicae doctrinae elementa, recht intensive Gebrauchspuren auf: Auf den Seitenrändern findet man zahlreiche handschriftliche Notizen, die den abgedruckten Text zusammenfassen. Wie dem es auch sei, zeichnen sich die drei Exemplare der Lehrkompendien Melanchthons aus den ehemals dominikanischen Beständen durch ihren guten Zustand und einen offenen Umgang ihrer Besitzer mit ihnen aus. Weder Danilewicz noch Siwicki hatten Bedenken, die Bücher eines verbotenen Autors durch die entsprechenden Einträge als ihren Besitz zu deklarieren. Ja, sie unternahmen nicht einmal den Versuch, wenigstens den Namen Melanchthons unkenntlich zu machen, was bei den weiteren in der Universitätsbibliothek in Vilnius befindlichen Drucken des Wittenbergers, so etwa bei dem unter der Signatur II 1234 aufbewahrten Physikkompendium, den Initia doctrinae physicae (Leipzig 1560), zu beobachten ist (Daugirdas 2011, 362– 363). Nicht ganz so freundlich wie von den Dominikanern wurden die Lehrkompendien des Wittenbergers behandelt, die aus dem ehemaligen Besitz der Bernhardiner in Vilnius stammen. Hier hat man den in der Universitätsbibliothek unter der Signatur II 1332 aufbewahrten, zusammengebundenen Lehrbüchern des Wittenbergers zur Rhetorik und Psychologie – Elementorum rhetorices libri duo und De anima – die Titelblätter entfernt. Mit den inhaltlichen Aussagen insbesondere aus De anima scheint man allerdings eine durchaus ausführliche und intensive Auseinandersetzung geführt zu haben: Die Seitenränder sind bisweilen voll fein ausgearbeiteter, handschriftlicher Notizen, die ein beredtes Zeugnis für einen ernsthaften Umgang mit dem Text des Wittenberger Gelehrten ablegen und die einer weiterführenden Erforschung harren (Daugirdas 2011, 363).
4 Zusammenfassung Ein Spezifikum der theologischen Rezeption Melanchthons in der polnisch-litauischen Adelsrepublik bestand darin, dass nicht wenige der protestantisch gesinnten Polen und Litauer, die unter dem Einfluss seines Gedankenguts standen, zu zentralen Akteuren des sich in Polen-Litauen herausbildenden Reformiertentums geworden sind. Vor allem in christologischen und trinitätshermeneutischen Fragen folgten sie häufig Melanchthon, der sich bei der Lehre von der communicatio idiomatum für eine wechselseitige Zuweisung der Prädikate der beiden Naturen Jesu Christi nur an das Konkretum der Person des Herrn und das patristikbetonte Bibelverständnis in trinitarischen Belangen ausgesprochen hatte. Melanchthons wichtigstes dogmatisches Werk, die Loci, war in Polen-Litauen bestens bekannt und wurde insbesondere im
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Kontext der in den 1560er Jahren ausgefochtenen antitrinitarischen Streitigkeiten vielfach thematisiert. Die in den Loci formulierten trinitätshermeneutischen Grundsätzen schlugen sich nachweislich in den richtungweisenden Werken von Andreas Volanus und dem Kiewer Bischof Nikolaus Pac nieder, die sich in christologischer Hinsicht ebenfalls nach Melanchthon richteten. Das patristikgeleitete Bibelverständnis in trinitarischen Belangen lässt sich auch bei Christoph Thretius und Stanislaus Sarnicki nachweisen, den in Kleinpolen tätigen ehemaligen Studenten Melanchthons. Einer noch breiteren und länger anhaltenden Rezeption als die Loci erfreuten sich in Polen-Litauen die nicht-theologischen Lehrkompendien Melanchthons, deren Wirkungsradius nicht auf die Protestanten beschränkt blieb. Ungeachtet der Tatsache, dass nur wenige Schriften dieser Art in Polen-Litauen selbst nachgedruckt wurden, zirkulierten dort zahlreiche Exemplare, die im Alten Reich oder in der Alten Eidgenossenschaft erschienen waren und die von den Studenten beziehungsweise Reisenden mit nach Hause genommen wurden. Die bewegten Schicksale einiger Lehrkompendien Melanchthons, wie etwa der Ethicae doctrinae elementa, Elementorum rhetorices libri duo und De anima, zeigen, dass die vielseitige wissenschaftliche Leistung dieses Gelehrten weit über die konfessionellen Grenzen zur Kenntnis genommen worden ist. Im Verlauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte sind diese Lehrkompendien durch die Hände mehrerer Besitzer, so etwa der Dominikaner Faustus Danilewicz und Dominicus Siwicki, gegangen, bis sie im 18. Jahrhundert in den Bibliotheken der Dominikaner in Grodno und der Bernhardiner in Vilnius landeten.
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Melanchthon als „größte ökumenische Gestalt der Reformationszeit“ Die Rede von Melanchthon als „größte(r) ökumenische(r) Gestalt der Reformationszeit“ geht wohl auf den skandinavischen Reformationshistoriker Jørgen Larsen zurück. In einem Beitrag aus Anlass des 400. Todestages Melanchthons im Jahr 1960 „Melanchthons oekumenische Bedeutung“ (Larsen 1961, 117– 179) hatte der Autor ein Bündel biographischer, politischer und theologischer Motive im Blick, die diesen als bedeutendste ökumenische Gestalt der Reformationszeit auszeichnen würden: seine Persönlichkeit selbst, seine Arbeit, die rechtlich-diplomatische Situation der werdenden Reformation, seine Bemühungen um alle kirchenpolitischen und theologischen Richtungen seiner Zeit in ganz Europa, seine Stilistik, seine diplomatische Handlungsbereitschaft bis hin zu einer schroffen Polemik. Zur gleichen Zeit, das heißt im Zusammenhang der ökumenischen Neuausrichtung der römisch-katholischen Kirche, wie sie dann im II. Vatikanischen Konzil zum Ausdruck kam, hatte der damalige junge Theologieprofessor Joseph Ratzinger durch seine Arbeitshypothese „durch Melanchthon zu Luther“ zu einer neuen, epochalen katholisch-ökumenischen Melanchthonrezeption geführt (Gestrich 1998, 151– 162). Ratzinger verfolgte mit dieser Intuition die Vorstellung, sich der Theologie Luthers durch die Bekenntnisschriften der evangelischen Bewegung zu nähern. Damit rückte unmittelbar Melanchthon als Autor der meisten evangelischen Bekenntnisschriften in das Zentrum des ökumenischen Interesses. Zwei seiner bedeutendsten Schüler, Vinzenz Pfnür (1970, 1975, 1976) und der spätere erste Melanchthonpreisträger Siegfried Wiedenhofer (1976) haben selbst wichtige Beiträge zur ökumenischen Melanchthonforschung beigetragen. Pfnür hatte vor allem und immer wieder die Frage einer katholischen Anerkennungsfähigkeit der Rechtfertigungslehre untersucht, aber auch durch seine luziden Kenntnisse der Ereignisse um und am Augsburger Reichstag des Jahres 1530 eine Anerkennung der Confessio Augustana als Ausdruck wahrer Katholizität eingefordert, wie dies auch Melanchthon im Beschluss des ersten Teils der CA festgehalten hatte: „Weil nun diese Lehre in der Heiligen Schrift klar begründet ist und außerdem der allgemeinen christlichen, ja auch der römischen Kirche, soweit das aus den Schriften der Kirchenväter festzustellen ist, nicht widerspricht, meinen wir, daß unsere Gegner in den oben aufgeführten Artikeln mit uns nicht uneinig sein können.“ Vor allem diese Frage einer Anerkennung der Katholizität der Confessio Augustana hatte in der Folgezeit zu umfangreichen Diskussionen geführt. So stellte 1980, im 450. Gedenkjahr der Confessio Augustana, eine gemeinsame Untersuchung lutherischer und katholischer Theologen einvernehmlich fest, „daß die Confessio Augustana (die ja vor allem Melanchthon zuzuschreiben ist) nicht nur die Intention hatte, den gemeinsamen katholischen Glauben zu bezeugen, sondern daß ihre inhaltlichen Aussagen tatsächlich in hohem Maße als Ausdruck dieser Katholizität verstanden DOI 10.1515/9783110335804-055
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werden müssen“ (Gestrich 1998, 152; diese gemeinsame Untersuchung ist abgedruckt in Meyer 1980). Dieses Urteil scheint auch durch das Ergebnis der Verhandlungen auf dem Augsburger Reichstag berechtigt. Denn – wie der Entwurf des Reichtagsabschieds vom 22. November 1530 festhielt – fand man allein in folgenden Artikeln keine Einigung: „der niessung des heiligen sacraments under beiderlay gestalt, der geistlichen personen ehe, der restitucion der geistlichen entwenten gutter und der heiligen messen halben“ (Honée 1988, 349, 26 – 29). Die Bemühungen um eine Anerkennung der Katholizität der CA blieb gleichwohl „auf halbem Wege stecken“. Auch ist die reformationsgeschichtliche Forschung bis in die Gegenwart hinein in der Bewertung der Confessio Augustana und jener Rolle, die Melanchthon als ihr Autor zukommt, umstritten. Noch immer wird das (Vor‐)urteil vertreten, Melanchthon habe auf dem Augsburger Reichstag eine ambivalente Doppelstrategie vertreten (Peters 2000) beziehungsweise er habe das ursprüngliche Bekenntnisprojekt der evangelischen Bewegung dem Versöhnungsprojekt zumindest untergeordnet (Andersen 2016). Eine solche kritische Wertung kommt der heute freilich nicht mehr vertretenen katholischen Deutung der CA als den „Einbruch dieses Bagatellisierens und Relativierens in das lutherische Christentum“ recht nahe (so Lortz 4 1962, 53; ähnlich auch Manns 1977, 439).
1 Die Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Einheit der Kirche Allerdings scheint eine bloß historische Rekonstruktion der Ereignisse um die Augsburger Bekenntnisschrift insbesondere vor dem Hintergrund der gegenwärtigen ökumenischen Gespräche nicht hinreichend, das ökumenische Potential der CA und der Rolle Melanchthons zu beleuchten. Vielmehr müssen diese Dokumente selbst einer ökumenischen Relektüre unterzogen werden. Einen solchen Versuch hatte jüngst der Paderborner Ökumeniker Wolfgang Thönissen (2011) unternommen. Den Schlüssel für eine zeitgemäße ökumenische Wertung der CA sah dieser – im Anschluss an Vinzenz Pfnür – gerade in der katholischen Intention dieses Bekenntnisses selbst, wie sie Melanchthon zum Ausdruck gebracht hatte. Denn in ihrem ursprünglichen historischen Kontext kann die CA als „Zusammenfassung des tatsächlichen Ertrags der Reformation überhaupt“ (Lohff 1980, 12) gelten. Der Artikel CA 4 über die Rechtfertigung gilt dabei als Mitte und Klammer des Bekenntnisses. Die Botschaft von der Rechtfertigung wird als ein unverzichtbares Kriterium für das neutestamentliche Zeugnis von Gottes Heilshandeln in Christus gesehen, wie es ausdrücklich in der zwischen dem Lutherischen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche vereinbarten Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 ausgedrückt wird (Nr. 17).
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2 Zur Einheit der Kirche Von größter Bedeutung sind die ekklesiologischen Implikationen eines solchen gemeinsamen Begriffs von der Rechtfertigung. Bereits der erste Satz von CA 7 bringt Melanchthons Hochschätzung der Tradition von Kirche zum Ausdruck: „Es wird auch gelehret, daß allezeit die eine, heilige, christliche Kirche sein und bleiben muß.“ Unverkennbar ist dieser Artikel von dem Gedanken der Kontinuität der Kirche beherrscht. Zugleich ist damit das Bekenntnis zur – jedoch nicht konfessionellen, sondern allgemeinen – Katholizität der Kirche verbunden. In der Apologie verdeutlicht dies Melanchthon mit seinem Hinweis, dass „eine christliche Kirche bis an das Ende der Welt auf Erden sein und bleiben werde“ (BSELK 012). Kontinuität und Katholizität zeigen sich aber auch in der materialen Bestimmung des Kirchenbegriffs, denn Kirche ist – so CA 7 – „die Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden“. Kirche als Versammlung aller Gläubigen ist aber nicht einfachhin ein Zusammenschluss gleich gesinnter Menschen, sondern sie wird durch den in Wort und Sakrament gegenwärtigen Herrn geschaffen. Die CA bringt damit zum Ausdruck, was schon der Artikel über die Rechtfertigung dargelegt hatte: Jesus Christus als Grund der Kirche. Wolfgang Thönissen spricht in diesem Zusammenhang von einer Kontinuität im Kirchenbegriff. Noch einen Schritt weiter führen Melanchthons Ausführungen über das zur Einheit der Kirche Notwendige: „Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, daß das Evangelium einmütig im rechten Verständnis verkündigt und die Sakramente dem Wort Gottes gemäß gefeiert werden.“ Zieht man noch die Ausführung in CA 5 „Vom Predigtamt“ (BSELK 100) hinzu, ergeben sich als Kriterien für die Einheit der Kirche die Verkündigung des Evangeliums, Sakramentenspendung und das von Gott eingesetzte Amt. Wort und Sakrament können gar nicht ohne ein von Gott gesetztes Amt verstanden werden. Darin gründet auch die in den jüngsten ökumenischen Gesprächen zwischen Lutheranern und Katholiken gewonnene Grundüberzeugnung, dass die Verkündigung des Evangeliums in Predigt und Sakramenten ihren Ort in der Kirche hat. Im Lichte der gegenwärtigen ökumenischen Gespräche zwischen dem Lutherischen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche erscheint Melanchthon wirklich als ein Ökumeniker seiner Zeit, der im Horizont seiner Zeit alle Möglichkeiten ausgelotet hatte, die Einheit der Kirche zu bewahren. Die Augsburger Gespräche von 1530 sind gleichwohl gescheitert. Es waren allerdings nicht theologische Grundsatzfragen, an denen der Reichstag scheiterte, sondern unterschiedliche Zeremonien und Bräuche. Man kann durchaus als wichtigstes Vermächtnis Melanchthons für die ökumenischen Gespräche der Gegenwart festhalten, dass eine Reform der Kirche und das Festhalten an der Einheit der Kirche sich keinesfalls ausschließen. Das Jahr 2030 wird zu einem neuen Prüfstein für die Frage einer ökumenischen Annäherung an die Augsburger Bekenntnisschrift.
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3 Ökumenische Annäherung an das Petrusamt In jüngerer und jüngster Zeit scheint sich noch eine weitere ökumenische Perspektive des Wirkens Melanchthons zu eröffnen. Dies hängt mit der Einladung zusammen, die Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Ut unum sint“ im Jahr 1995 ausgesprochen hatte. „Als Bischof von Rom weiß ich sehr wohl […], dass die volle und sichtbare Gemeinschaft aller Gemeinschaften, in denen kraft der Treue Gottes sein Geist wohnt, der brennende Wunsch Christi ist. Ich bin überzeugt, diesbezüglich eine besondere Verantwortung zu haben, vor allem wenn ich die ökumenische Sehnsucht der meisten christlichen Gemeinschaften feststelle und die an mich gerichtete Bitte vernehme, eine Form der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet. […] Könnte die zwischen uns allen bereits real bestehende, wenn auch unvollkommene Gemeinschaft nicht die kirchlichen Verantwortlichen und ihre Theologen dazu veranlassen, über dieses Thema mit mir einen brüderlichen, geduldigen Dialog aufzunehmen, bei dem wir jenseits fruchtloser Polemiken einander anhören könnten […].“ (UUS 95 – 96)
Diese Einladung hatte zunächst eine Gruppe skandinavischer Lutheraner aufgegriffen und mit sieben weiteren katholischen Theologinnen und Theologen ein Arbeitsgespräch im Kloster der Schwestern der heiligen Brigitta von Schweden in Farfa Sabina in der Nähe von Rom begründet. Die Studie ist kein offizielles Lehrdokument der Kirchen, sondern eine Privatinitiative von Lutheranern. Deshalb trägt die 2010 publizierte Dokumentation „Gemeinschaft der Kirchen und Petrusamt“ den Untertitel „lutherischkatholische Annäherungen“. Diese Arbeitsgruppe hatte sich zunächst noch nicht mit den Äußerungen Melanchthons zum Papstamt befasst. Von lutherischer Seite war jedoch für diese Gespräche entscheidend, dass die Abwesenheit eines Einheitsamtes im Protestantismus einen gewissen Provinzialismus und Nationalismus zur Folge hatte. Andererseits wurde festgestellt, dass die lutherischen Reformatoren grundsätzlich nichts gegen das Papsttum einzuwenden hätten, vorausgesetzt, es unterstelle sich dem Primat des Evangeliums und werde demnach theologisch interpretiert. Von katholischer Seite war entscheidend, hinsichtlich der Papstdogmen (Jurisdiktionsprimat und Unfehlbarkeit), die der eigentliche ökumenische Stein des Anstoßes sind, nicht nur die ursprünglichen Intentionen des I. Vatikanums besser zu verstehen und dieses – mindestens ebenso wichtig – im Lichte des II.Vatikanums und ihrer Communio-Ekklesiologie zu sehen. Hinsichtlich der lutherischen Seite schien es hilfreich, auch die Voten Melanchthons über das Papsttum ins Gespräch zu bringen. Dazu veranstaltete die Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte, die Europäische Melanchthon-Akademie, die Internationale Martin Luther Stiftung, der Evangelische Kirchenkreis Schmalkalden sowie die Evangelische Kirche in Kurhessen-Waldeck im Jahr 2015 das Symposium des 3. Thüringer Melanchthontages zum Thema „Melanchthon, der Papst und die Ökumene“ (Veröffentlicht 2016). Im Mittelpunkt des historischen Interesses standen
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hier die Schmalkaldischen Artikel, die Ende 1536 von Luther vorgelegt worden waren. Darüber hinaus wurde Melanchthon mit der Abfassung eines eigenständigen Traktates über das Papsttum beauftragt. Diese Schrift erhielt den Titel Tractatus de potestate et primatu papae und wurde – mit Ausnahme des erkrankten Luther – von allen anwesenden Theologen unterzeichnet. Melanchthon entfaltete in dieser Schrift eine dreifache Kritik am zeitgenössischen Papsttum: Der römische Bischof beanspruche für sich persönlich „iure divino“ (nach göttlichem Recht) über allen Priestern und Bischöfen zu stehen; daneben beanspruche er beide Schwerter (das weltliche und das geistliche) „iure divino“; und schließlich behaupte er, dies zu glauben sei heilsnotwendig (CR 271– 287). In diesen drei Punkten zeigt sich, dass Melanchthons Kritik einem maximalistischen Verständnis des Jurisdiktionsprimats gilt, wenn dieses von göttlichem Recht abgeleitet wird. Melanchthons Kritik zielt nicht anders wie die Kritik anderer Reformatoren auf den Missbrauch des Petrusamtes. Anders jedoch, wenn das Primatsamt unter dem Evangelium steht. So steht im Zusatz zu Luthers 1536 verfassten Schmalkaldischen Artikeln, der später auch Teil des Konkordienbuches wurde und damit Bekenntnischarakter erhielt, ein persönlichen Zusatz Melanchthons „Ich Philippus Melanchthon halt diese obgestallte Artikel auch fur recht und christlich, vom Bapst aber halt ich, so er das Evangelium wollte zulassen, dass ihm umb Friedens- und gemeiner Einigkeit willen derjenigen Christen, so auch unter ihm sind und kunftig sein möchten, sein Superiorität über die Bischofe, die er hat jure humano, auch von uns zuzulassen (und zu geben) sei.“ (BSELK 780) Auch Melanchthons Position – so zeigt sich – steht damit auf einer Linie mit der Annahme lutherischer Theologen der Farfa-Sabina-Gruppe. Gleichzeitig zeigt sich, dass diese Position nicht in einem grundlegenden Widerspruch zur Communio-Ekklesiologie des II. Vatikanums steht, innerhalb dessen das neuere katholische Papst-Verständnis integriert ist. Zwar ist bis heute das Verhältnis zwischen Petrusamt und CommunioEkklesiologie nicht befriedigend geklärt und scheint daher Grund für verschiedene Missverständnisse zu sein. Unbestritten dürfte jedoch sein, dass auch nach katholischem Verständnis das Petrusamt angemessen nur innerhalb einer Communio-Ekklesiologie verstanden werden kann.
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Personenregister Das Personenregister berücksichtigt Einträge bis zum Geburtsjahr 1800. Abádi, Benedikt (16. Jh.) 747 Abaelard, Peter (1079 – 1142) 211 Accursio, Mariangelo (1489 – 1546) 729 Aelius Donatus (ca. 320 – 380) 604 Aepinus, Johannes (ca. 1499 – 1553) 159, 677 Agricola, Johannes (1494 – 1566) 32, 244 f., 133 – 136, 143, 542 Agricola, Mikael (1510 – 1557) 649 Agricola, Rudolf (1443 – 1485) 18, 145, 242, 321 f., 325 – 328, 515, 517 f., 522 f., 526 f., 530, 539, 541, 579, 604, 663, 671 Aischines (390/389 – 314 v. Chr.) 599, 605 Alard von Amsterdam (1491 – 1544) 325 Albert, Johann (1488 – 1558) 572 Alberti, Valentin (1635 – 1697) 622, 639 Albertus, Laurentius (ca. 1540 – 1583) 556 Albrecht (1490 – 1568), Herzog von Preußen 91, 314, 752 Albrecht VII. (1486 – 1547), Herzog von Mecklenburg 237 Albrecht von Brandenburg (1490 – 1545), Kurfürst und Erzbischof von Mainz 164, 206, 210, 236 Alciati, Andreas (1492 – 1550) 241, 729 f. Aldegrever, Heinrich (1502 – 1555/61) 79, 92 Alesius, Alexander (1500 – 1565) 667, 677 Alexander Aphrodisias (2. Jh.) 532 Alexandru IV. Lăpușneanu (1500 – 1568), Fürst 752 Alkuin (735 – 804) 571 Alsted, Johann Heinrich (1588 – 1638) 620 Althusius, Johannes (1563 – 1638) 621 Altieri, Baldassare (ca. 1500 – 1550) 731 Alting, Heinrich (1583 – 1644) 181, 632 Ambrosius von Mailand (ca. 339 – 397) 349, 448 Amerbach, Veit (1503 – 1557) 134 f. Ammianus Marcellinus (ca. 330 – 395) 591 Ammonius, Joachim (16. Jh.) 566, 574 Amsdorf, Nikolaus von (1483 – 1565) 27, 37, 114 f., 126, 142, 174, 297 Amyraut, Moïse (1596 – 1664) 706 – 711 Anna (1532 – 1585), Kurfürstin von Sachsen 306 Anna von Este (1531 – 1607) 734 Anna von Kleve (1515 – 1557) 674 f.
Anselm von Canterbury (1033 – 1109) 383, 391 Anshelm, Thomas (ca. 1470 – 1522) 26, 538, 560, 577 Apel, Johann (1486 – 1536) 495 Apollonios Rhodios (295 – 215 v. Chr.) 599 Aquila, Caspar (1488 – 1560) 132, 134 Arat von Soloi (ca. 310 – 245 v. Chr.) 600 Archytas von Tarent (428 – 347 v. Chr.) 745 Argyropulos, Johannes (1415 – 1487) 729 Aristophanes (ca. 450 – 380 v. Chr.) 453, 600 Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) 19, 26 f., 33, 188, 242, 311, 321 – 326, 328 f., 369 – 371, 373, 402 f., 454 f., 457 – 462, 464 f., 470, 472, 483 – 486, 488, 497, 501, 522 – 527, 554, 562, 569, 579, 599, 612 f., 615, 617, 619 – 621, 663, 723 f. Arius (260 – 336) 205 Arminius, Jacobus (1560 – 1609) 688 f. Arndt, Johann (1555 – 1621) 618, 633 Arnisaeus, Henning (1570 – 1636) 621 Arnold, Gottfried (1666 – 1714) 233, 635 Arthur Tudor (1486 – 1502) 663 Aubery, Claude (ca. 1545 – 1596) 518 August (1526 – 1586), Kurfürst von Sachsen 104, 298, 580, 652, 679 August II. (1579 – 1666), Herzog zu Braunschweig-Lüneburg 634 Augustin (354 – 430) 143, 196, 246, 340 f., 349, 402, 410, 448, 452, 478, 490, 510, 584, 631, 663, 691 f., 760 Aurifaber/Goldschmidt, Johannes (1517 – 1568) 285, 572 Aurogallus, Matthäus (ca. 1490 – 1543) 234, 247, 550 Aventin, Johannes (1477 – 1534) 549, 551 Averroes (1126 – 1198) 208, 617, 620 Avicenna (ca. 980 – 1037) 208, 509 f. Bader, Augustin (ca. 1495 – 1530) 441 Báñez, Domingo (1528 – 1604) 727 Barbirianus, Iacobus (1455 – 1491) 325 Barnes, Robert (1495 – 1540) 666, 671 – 673 Bartholomäus von Usingen (ca. 1465 – 1532) 526 Basilikos Herakleides, Jakobos (ca. 1520 – 1563) 752
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Personenregister
Basilius von Caesarea (330 – 379) 349, 753 Batizi, András (* 1510) 746 f. Batizi, Domokos (16. Jh.) 747 Baumgartner, Hieronymus (1498 – 1565) 165, 308, 314 Baumgartner, Sibylle (ca. 1510 – 1566) 306 Baumheckel, Georg (16. Jh.) 746 Bayer (Bavarus), Valentin (16. Jh.) 304 Bayle, Pierre (1647 – 1706) 696, 711 Becket, Thomas (1118 – 1170), Erzbischof von Canterbury 672 Beda Venerabilis (672 – 735) 571 Bellay, Guillaume du (1491 – 1543) 298, 579, 702, 704 Bellay, Jean du (1492/98 – 1560), Kardinal 306, 704 Bernhard von Clairvaux (1090/91 – 1153) 335, 349, 448 Beyer, Christian (ca. 1482 – 1535) 34 Beza, Theodor von (1519 – 1605) 179, 184, 688 – 692 Bias von Priene (ca. 590 – 530 v. Chr.) 255 Bibliander, Theodor (1509 – 1564) 207 Bidembach, Felix d.Ä. (1564 – 1612) 300 Bindseil, Heinrich Ernst (1803 – 1876) 7, 293, 296, 317, 551 Blarer, Ambrosius (1492 – 1564) 26, 63, 158 f., 166, 742 Blarer, Thomas (1499 – 1567) 598 Bodenstein, Andreas, gen. Karlstadt (1480 – 1541) 27, 29, 109, 126 f., 131, 133, 297 f., 496, 502, 683 Bodin, Jean (1530 – 1596) 616, 621 Boethius, Anicius (480/85 – 524/26) 322 – 326, 485, 759 Bogner, Bartholomäus (16. Jh.) 750 Böhme, Jakob (1575 – 1624) 618, 633 Boissard, Jean-Jacques (1528 – 1602) 84, 86 Boissard, Robert (ca. 1570 – 1601) 85 Boleyn, Anne (ca. 1501 – 1536) 663 – 665, 667 f., 671 Boleyn, George (1504 – 1536) 666 Bonnus, Hermann (1504 – 1548) 581 Boquin, Pierre (1518 – 1582) 415 Bora, Katharina von (1499 – 1552) 31, 38 Bornate, Gregorio von (16. Jh.) 733 Braccetto, Michele (16. Jh.) 730 Bracciolini, Poggio (1380 – 1459) 537 Brandt, Geeraerdt (1626 – 1685) 688 – 692 Brassicanus, Johannes (ca. 1470 – 1514) 551
Braun, Johannes (16. Jh.) 458 Brenz, Johannes (1499 – 1570) 26, 34, 117 f., 128, 196, 201, 246, 626, 632, 672, 707 Bretschneider, Karl Gottlieb (1776 – 1848) 6, 277, 283 f., 307, 317, 540, 578 Bricot, Thomas († 1516) 524 Brucioli, Antonio (ca. 1498 – 1566) 734 Brück, Christian (1516 – 1567) 462 Brück, Gregor von (1484 – 1557) 34, 579, 666 f. Brucker, Johann Jakob (1696 – 1770) 87, 624 Bruni Aretino, Leonardo (1399 – 1444) 459 Bruschius, Caspar (1518 – 1559) 292 Bry, Theodor de (1528 – 1598) 83, 84 Bucer, Martin (1491 – 1551) 35 – 37, 41, 61 – 63, 66 – 69, 110, 118, 138, 161, 197 f., 412, 661, 663, 669, 677 f., 702, 704 f., 716, 721, 731 Budaeus, Guglielmus (1468 – 1540) 574 Budde, Johann Franz (1667 – 1729) 234, 624, 639 f. Budny, Szymon (ca. 1530 – 1593) 760 Bugenhagen, Johannes (1485 – 1558) 33, 69 f., 80, 128, 132, 134 f., 137, 163, 174, 177, 200, 236, 298 f., 572, 674, 683, 705 Bullinger, Heinrich (1504 – 1575) 61 – 67, 118, 180, 189, 661, 677, 679, 688 f., 691, 739 – 741 Burchard, Franz (1504 – 1560) 30 Burchard von Ursperg (ca. 1177 – 1230/31) 578 Burchardt, Franciscus (1518 – 1590) 672, 674 Burckhard, Peter (ca. 1461 – 1526) 507 f. Burenius, Arnold (1485 – 1566) 462 Burgensis, Paulus (1352 – 1435) 583 Burleus, Walter (1274/75 – 1344) 663 Burmann, Franciscus (1628 – 1679) 692 Buscher, Heizo (1564 – 1598) 613 Buscoducensis, Henricus (16. Jh.) 752 Caesarius, Johannes (ca. 1468 – 1550) 522, 526 Calixt, Georg (1586 – 1656) 336, 629, 633 – 637 Calov, Abraham (1612 – 1686) 300, 336, 344, 629, 634, 637 f. Calvin, Johannes (1509 – 1564) 3, 6, 36, 61 – 66, 110, 117 f., 175, 179 – 181, 183 – 189, 215, 241, 243 f., 258, 306, 314, 317, 340 f., 343 f., 395, 402, 413, 415, 439 f., 587, 629 – 631, 651, 659, 663, 687 – 693, 701, 707, 721, 723, 734 f., 739 – 742, 757 – 759 Camerarius, Anna († 1573) 41, 306
Personenregister
Camerarius, Joachim (1500 – 1574) 30 f., 41, 99, 110, 130, 133, 137, 143, 239, 247, 278 f., 303, 306 – 308, 313, 316, 460, 542, 549, 555, 572, 574, 595, 601, 620, 665 – 671, 675, 677 f., 695, 731 f. Camerarius, Joachim IV. (1603 – 1687) 303 Camerarius, Ludwig (1573 – 1651) 303, 317 Camerarius d.J., Joachim (1534 – 1598) 619 Cameron, John (ca. 1579 – 1625) 706 – 709 Campanus, Johannes (ca. 1500 – 1574) 193, 202, 389 Campeggi, Lorenzo (1474 – 1539), Kardinal 30, 109, 164, 305 Canaye, Philippe (1551 – 1610) 518 Cano, Melchior (1509 – 1560) 628, 715 f., 722 – 726 Capito, Wolfgang (1478 – 1541) 67, 459, 554 Cardano, Girolamo (1501 – 1576) 617 f. Carion, Johannes (1499 – 1537) 19, 574, 581, 583 Carlowitz, Christoph von (1507 – 1578) 309, 316 Carranza, Bartolomé (1503 – 1576) 715 – 719, 722, 724 Casaubon, Isaac (1559 – 1614) 634 Caselius, Johannes (1533 – 1613) 519, 615, 632 f. Castellio, Sebastian (1515 – 1563) 741 Castelvetro, Ludovico (1505 – 1571) 733 Castro, Alfonso de (1495 – 1558) 344 Cato, Marcus Porcius d.Ä. (234 – 149 v. Chr.) 397 Catull, Gaius Valerius (ca. 84 – 54 v. Chr.) 264, 270 f. Celtis, Conrad (1459 – 1508) 263 Chapuys, Eustace (1489 – 1556) 664 f. Chelius/Geiger, Ulrich (ca. 1500 – 1558) 702 Chemnitz, Martin (1522 – 1586) 6, 114, 613, 618, 626 – 628, 632, 634 f. Chilon von Lakedaimonien (6. Jh.v.Chr.) 255 Choeroboscus, Georgius (9. Jh.) 548 Christian II. (1481 – 1559), König von Dänemark 648 Christian III. (1503 – 1559), König von Dänemark 305, 648, 653, 752 Christian IV. (1577 – 1648), König von Dänemark 654 Christina von Sachsen (1505 – 1549) 68 Chrysoloras, Manuel (ca. 1353 – 1415) 548, 729
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Chrysostomos, Johannes (347 – 407) 753 Chytraeus, David (1530 – 1600) 247, 612, 615, 619, 627, 630, 632, 637, 649, 656 f. Chytraeus, Nathan (1543 – 1598) 630 Cicero, Marcus Tullius (106 – 43 v. Chr.) 144, 239, 256, 268, 322, 324 – 326, 328, 451, 454, 460, 485, 499, 501, 523, 525, 537, 541, 552, 593 – 595, 601, 604 f., 613, 617, 619 – 621, 663, 724 Clajus, Johannes (1535 – 1592) 556 Clemens VII. (1478 – 1534), Papst 105, 162, 579, 587, 702 Clemens von Alexandrien (150 – 215) 452 Coccejus, Johannes (1603 – 1669) 688, 708 Cochläus, Johannes (1479 – 1552) 168, 216, 344, 549 Cöler, Hieronymus d.J. (16. Jh.) 274 Combach, Johannes (1585 – 1651) 707 Conring, Hermann (1606 – 1681) 634 Contarini, Gasparo (1483 – 1542) 734 Cordatus, Conrad (ca. 1480 – 1546) 35, 236, 352, 746 Cornarius, Janus (1500 – 1558) 507 Corput, Abraham Van den (1599 – 1670) 695 f. Corvinus, Johannes (1582 – 1650) 689 Cox, Leonard (ca. 1495 – 1549) 543, 662 Cranach, Lucas d.Ä. (1472 – 1553) 77, 80, 93 Cranach, Lucas d.J. (1515 –1586) 78, 80 – 83, 87 Cranmer, Thomas (1489 – 1556), Erzbischof von Canterbury 659, 661 – 664, 667, 673 f., 676 – 678, 680 Crato, Johannes (1519 – 1585) 462 f., 749 Crell, Paul (1531 – 1579) 237, 626, 629 Crocius, Ludwig (1586 – 1653/55) 707 Crocus, Richard (ca. 1489 – 1558) 547 Cromwell, Thomas (ca. 1485 – 1540) 315, 659, 661, 663 f., 666 f., 671 f., 674 f. Cruciger, Caspar d.Ä. (1504 – 1548) 38, 200, 236, 352, 673 Cruciger, Caspar d.J. (1525 – 1597) 292 Cuspinian, Johannes (1473 – 1529) 578 Cyprian von Karthago (ca. 200 – 258) 749, 760 Cyriacus, Martin (16. Jh.) 746 Dalberg, Johann (1455 – 1503) 25 Dalton, Richard (1715 – 1791) 90 Daneau, Lambert (ca. 1535 – 1590) 179, 619, 621, 629 Dannhauer, Johann Conrad (1603 – 1666) 638 Dathenus, Petrus (1531 – 1588) 684
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Personenregister
Dávid, Ferenc (1510 – 1579) 747, 754 Dávila, Sancho (1546 – 1625) 727 Decimator, Henricus (ca. 1544 – 1615) 518 Dedeken, Georg (1564 – 1628) 300 Delphus, Aegidius (16. Jh.) 459 Demosthenes (384 – 322 v. Chr.) 593 f., 599, 605 Descartes, René (1596 – 1650) 490 Dévai, Mátyás (1500 – 1545) 746 f., 750 Diassorinos, Jakobos (16. Jh.) 752 Diderot, Denis (1713 – 1784) 711 Dietrich, Sebastian (ca. 1520 – 1574) 572 Dietrich, Veit (1506 – 1549) 304, 308, 317, 336, 669 f., 672 Diophant von Alexandria (ca. 250) 574 Donatus, Aelius (ca. 320 – 380) 548, 550 f., 554 Drachstedt, Alexander (* ca. 1495) 235 Drágfi, Gáspár (ca. 1516 – 1545) 750 Drechsel, Thomas (16. Jh.) 193 Dreier, Christian (1610 – 1688) 623 Dryander, Franciscus (1518 – 1552) 677 Duns Scotus, Johannes (1265/66 – 1308) 523, 663 Duplessis-Mornay, Philippe (1549 – 1623) 706 Durandus, Johannes (1270/75 – 1334) 523 Dürer, Albrecht (1471 – 1528) 31, 73, 75 – 77, 79, 84 – 86, 88, 92 Durie, John (ca. 1595 – 1680) 634 Dyscolus, Apollonius († 140) 548 Eber, Paul (1511 – 1569) 237, 283, 306, 586, 616, 678 Eberhard I. (1445 – 1496), Herzog von Württemberg 579 Ebner, Erasmus (1511 – 1577) 315, 560 Eck, Johannes (1486 – 1543) 27, 33, 36 f., 168, 269, 344, 524, 526, 580 Edward VI. (1537 – 1553), König von England 41, 285, 659, 661, 676 – 678, 680 Egri, Péter (16. Jh.) 747 Eisermann, Johannes (ca. 1486 – 1558) 297 Eitzen, Paul von (1521 – 1598) 619 Elisabeth I. (1533 – 1603), Königin von England 306, 659, 661, 664, 679 f. Elisabeth von Thüringen (1207 – 1231) 448 Emmel, Samuel (16. Jh.) 284 f. Enzinas, Francisco de (ca. 1520 – 1552) 715 Enzinas, Jaime de (16. Jh.) 731 Epikur (341 – 270 v. Chr.) 270
Epiphanius von Salamis (ca. 315 – 403) 754 Epithalamium 272 f. Eppens, Abel (1534 – 1590) 685 Erasmus von Rotterdam, Desiderius (1466/69 – 1536) 29 f., 141, 145, 206, 209, 234, 238 – 242, 246, 306, 325 f., 340 f., 344, 380, 395, 402, 404 f., 439 f., 452, 539, 542, 579, 591, 593, 606 f., 663, 665, 691 f., 701, 715, 719 – 721, 723 f., 734, 740 f., 757 Ernst (1497 – 1546), Herzog von BraunschweigLüneburg 161 Euklid (3. Jh.v.Chr.) 561, 567, 570, 572 Euripides (ca. 480 – 406 v. Chr.) 600, 605 Evenius, Sigismund (1587 – 1639) 614 Faber, Johann (1478 – 1541) 168 Faber Stapulensis, Jacobus (1450/55 – 1536) 241, 459, 522, 701 – 703 Fabricius, Blasius (16. Jh.) 284 – 286 Fabricius, Georg (1516 – 1571) 273 Fagius, Paul (1504 – 1549) 678 Falck, Erik (1510 – 1570) 655 Farel, Guillaume (1489 – 1565) 184, 742 Farkas, Johannes (16. Jh.) 747 Felnémethi, Balázs (16. Jh.) 747 Ferdinand I. (1503 – 1564), Kaiser 40, 98, 104 f., 114, 162, 235, 705 Ficino, Marsilio (1433 – 1499) 209, 589, 729 Fischer, Johannes (16. Jh.) 567 Flacius Illyricus, Matthias (1520 – 1575) 17, 39 f., 69 – 71, 111 – 116, 174, 227, 234, 239, 310, 351, 414, 613, 615 f., 631, 638, 695 Flock, Erasmus (1514 – 1568) 572 Fonseca, Pedro da (1528 – 1599) 622 Foxe, Edward (ca. 1496 – 1538) 660, 667, 669 Franck, Sebastian (1499 – 1543) 193 f. Franz I. (1494 – 1547), König von Frankreich 35, 305, 659, 665 – 667, 669, 701 f., 704, 711, 734 Freher, Paul (1571 – 1621) 85 f. Freigius, Johannes Thomas (1543 – 1583) 614 Friedrich der Weise (1463 – 1525), Kurfürst von Sachsen 27, 29 – 31, 80, 103, 128, 162, 266, 270, 297, 314, 571, 579 Friedrich II. (1534 – 1588), König von Dänemark 651 – 654 Friedrich III. (1515 – 1576), Kurfürst von der Pfalz 119 f., 180, 685 Frischlin, Nikodemus (1547 – 1590) 624 Frisius, Reiner Gemma (1508 – 1555) 567, 574
Personenregister
Frith, John (1503 – 1533) 662 Fröschel, Sebastian (1497 – 1570) 236 Fuchs, Leonhart (1501 – 1566) 402, 507 Fuchsperger, Ortholph (1490 – 1541) 515 Galen/Galenus, Aelius (129/131 – 199/215) 18, 208, 402, 470, 484 f., 487 f., 507 – 511, 600, 613, 617 Galilei, Galileo (1564 – 1642) 619 Gallus, Nikolaus (1516 – 1570) 111, 113 – 117, 119, 414 Gálszécsi, István (16. Jh.) 747 Gaurico, Luca (1475 – 1558) 729 Gavilán, Pedro (16. Jh.) 727 Gaza, Theodorus (ca. 1400 – 1476) 548 f. Gelous, Sigismund (1518 – 1569) 751 Gender, Antonius (16. Jh.) 572 Georg (1484 – 1543), Markgraf von Brandenburg 161 Georg III. (1507 – 1553), Fürst von Anhalt 236, 279, 311, 670, 678 Georgiević, Bartholomäus (1505 – 1566) 207, 746 Gerbel, Nikolaus (1485 – 1560) 284 Gerhard, Johann (1582 – 1637) 344, 616, 620, 629, 637 f. Gerhard, Johann Ernst d.Ä. (1621 – 1668) 300 Gerson, Jean (1363 – 1429) 397 Gesner, Conrad (1516 – 1565) 742 Gigas, Johannes (1514 – 1581) 315 Göbler, Justinus (1504 – 1567) 282 Goclenius, Rudolf (1547 – 1628) 614, 617, 620, 622 Gomarus, Franciscus (1563 – 1641) 688 f., 695, 708 Gonesius, Petrus (ca. 1530 – 1573) 758 f. Goulart, Simon (1543 – 1628) 689 Granthomme, Jacques (ca. 1560 – 1622) 83 Granvella, Nikolaus (1486 – 1550) 36 Grathusius, Hildebrand (16. Jh.) 273 Gregor der Große (ca. 540 – 604) 448 Gregor XIII. (1502 – 1585) 716 Grey, Jane (1537 – 1554) 678 Gribaldi, Matteo (1505 – 1564) 731 Gropper, Johannes (1503 – 1559) 36 f., 68 Grotius, Hugo (1583 – 1645) 622, 640, 692, 694 Grübel, Christian (1642 – 1715) 300 Grynaeus, Simon (1493 – 1541) 561, 664, 745 Gryphius, Andreas (1616 – 1664) 622
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Gryphius, Sebastian (1492 – 1556) 561 Guglinger, Wolfgang (16. Jh.) 748 Gunarius, Halvardus (ca. 1550 – 1608) 654 Günther, Owen (1532 – 1615) 615 Gustav I. Wasa (1496 – 1560), König von Schweden 305, 648, 655 Güttel, Caspar (1471 – 1542) 134 Guttich, Matthias (16. Jh.) 731 Gwalter, Rudolf (1519 – 1586) 742 Gyulai, Miklós (16. Jh.) 747 Hadrian VI. (1522 – 1523), Papst 162 Hafenreffer, Matthias (1561 – 1617) 628 Hagenauer, Friedrich (ca. 1499 – 1546) 91 f. Haid, Johann Jakob (1704 – 1764) 87 Haloander, Gregor (1501 – 1531) 496 Hardenberg, Albert (1510 – 1574) 118 f., 282, 316, 415, 630, 677 – 679, 686 Hartler, Johannes (16. Jh.) 747 Hartmann, Georg (1489 – 1564) 560 Haubitz, Asmus von (ca. 1480 – 1532) 129 Haugwitz, Asmus von (16. Jh.) 134 Hausmann, Nikolaus (1478/79 – 1538) 129 Hebler, Matthias († 1571) 750 Hedio, Caspar (1494 – 1552) 578 f.,584, 702, 705 Heerbrand, Jakob (1521 – 1600) 627 f., 745 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770 – 1831) 624 Heinrich (1533 – 1598), Herzog von Braunschweig-Lüneburg 237 Heinrich VIII. (1491 – 1547), König von England 35 f., 297, 305,314 f., 515, 659 – 677, 679, 733 Heinz, Martin (16. Jh.) 751 Helm, Lambert Ludolph (1535 – 1596) 685 Heltai, Gáspár († 1574) 750, 754 Helwig, Christoph (1581 – 1617) 555 f. Hemmingsen, Niels (1513 – 1600) 619, 626, 649 – 652, 657 Henckel, Johannes (1481 – 1539) 746 Heresbach, Konrad (1496 – 1576) 668 Hermann von Neuenahr d.Ä. (1492 – 1530) 98, 239 Hermann von Wied (1477 – 1552), Erzbischof und Kurfürst von Köln 37, 68, 138, 313 Hernández, Antonio (16. Jh.) 727 Herodot (ca. 490/480 – 424 v. Chr.) 593 f., 600 Herwagen, Johannes d.Ä. (1497 – 1557/59) 285, 570, 740, 748
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Personenregister
Herwagen, Johannes d.J. (ca. 1530 – 1564) 570 Heshusius, Tilemann (1527 – 1588) 119 f., 414 f., 632 Hesiod (8./7. Jh.v.Chr.) 453, 550, 599 f., 603, 732 Hesse/Hessus, Helius Eobanus (1488 – 1540) 31, 263, 273, 336, 654 Heynes, Simon († 1552) 666 Hieronymus (ca. 347 – 420) 239, 448 Hilarius von Poitiers (ca. 315 – 367) 749, 760 Hiltebrant, Johannes (1480/81 – 1514/15) 25, 559 Hippokrates (ca. 460 – 370 v. Chr.) 208, 470, 507 – 509 Hispanus, Petrus (ca. 1215 – 1277) 326 Hofmann, Daniel (1538 – 1611) 632 f. Holbein, Hans d.J. (1497/98 – 1543) 76 f., 85, 89, 92 Hollaz, David (1648 – 1713) 336, 373 Holmannus, Johannes (1523 – 1586) 688 f. Homer (8./7. Jh.v.Chr.) 270, 550, 593 – 599, 603 Hommius, Festus (1576 – 1642) 688 Honterus, Johannes (1498 – 1549) 751 Hooker, Richard (1554 – 1600) 660 Hooper, John (1495 – 1555) 678 Horaz (65 – 8 v. Chr.) 264, 268, 270, 272, 562, 591, 595, 598, 663 Hornejus, Konrad (1590 – 1649) 634 Howard, Thomas (1473 – 1554) 666 Hülsemann, Johannes (1602 – 1666) 638 Hütter, Leonhard (1563 – 1616) 344, 626, 628 f., 635
Johann (1468 – 1532), Kurfürst von Sachsen 163 Johann Casimir (1543 – 1592), Pfalzgraf 181 Johann d.J. (1498 – 1537), Herzog von Sachsen 161 Johann (der Beständige) (1468 – 1532), Kurfürst von Sachsen 31 – 34, 128, 132, 135, 144, 162, 196, 235, 305 Johann Ernst (1521 – 1553), Herzog von SachsenCoburg 80, 207, 210 Johann Friedrich I. (der Großmütige) (1503 – 1554), Kurfürst von Sachsen 35 f., 38, 80, 110, 161, 172, 199, 266, 305, 316, 666 f., 670 – 672, 674, 705 Johann Friedrich II. (1529 – 1595), Herzog von Sachsen 112, 311 Johann III. (1537 – 1592), König von Schweden 648, 656 Johann Wilhelm (1530 – 1573), Herzog von Sachsen-Weimar 112 Johannes Chrysostomos (347 – 407) 452, 749, 754 Johannes Damascenus (676 – 749) 379 Jonas, Justus d.Ä. (1493 – 1555) 29, 33 – 35, 41, 80, 127, 134, 137, 163, 352, 563, 671, 673 f., 683 Jonas, Justus d.J. (1525 – 1567) 563 Judex, Matthäus (1528 – 1564) 234 Julius (1528 – 1589), Herzog zu BraunschweigLüneburg 632 Julius III. (1487 – 1555), Papst 40 Jungius, Joachim (1587 – 1657) 618 Junius, Franciscus (1545 – 1602) 181, 631, 695 Justin († 165) 760
Irenäus, Matthäus (16. Jh.) 279 Irenäus von Lyon (ca. 135 – 200) 412, 721 f., 749 Isidoro von Chiari/Isidorus Clarius (1495 – 1555) 733 Isokrates (436 – 338 v. Chr.) 599
Kahl, Johann (1550 – 1614) 620 Kakas, Georg (16. Jh.) 751 Karl der Große (747/48 – 814), Kaiser 580 Karl V. (1500 – 1558), Kaiser 29, 33 f., 37 – 40, 102 – 105, 161 f., 164, 168, 244, 305, 579, 582, 584, 587, 664 – 666, 669, 678, 684, 702 Karlstadt; Siehe Bodenstein, Andreas Károlyi, Kaspar (1529 – 1591) 747 Katharina Jagiellonica (1526 – 1583) 656 Katharina von Aragon (1485 – 1536) 36, 663 – 665, 669 – 671 Keckermann, Bartholomäus (ca. 1571 – 1609) 181, 615 f., 621, 624, 631, 637 f. Kepler, Johannes (1571 – 1630) 477, 619 Kilian, Lucas (1579 – 1639) 87
Jakob I. (1566 – 1625), König von England 659, 680 Jewel, John (1522 – 1571) 660 Joachim I. (1509 – 1561), Fürst von Anhalt 40 Joachim II. (1505 – 1571), Kurfürst von Brandenburg 36, 391 Jobin, Bernhard (1545 – 1593) 82 Johann (1513 – 1571), Markgraf von BrandenburgKüstrin 678
Personenregister
Kircher, Franz (16. Jh.) 523 Kirchner, Hermann (15621620) 613 Kirchner, Timotheus (1533 – 1587) 632 Kirschner, Albert (16. Jh.) 751 Klebitz, Wilhelm (ca. 1533 – 1568) 415 Kleoboulos von Lindos (6. Jh.v.Chr.) 255 Klug, Joseph (ca. 1490 – 1552) 460, 462, 567, 574 Knox, John (1514 – 1572) 184, 659 Kobian, Valentin (ca. 1500 – 1543) 283 Koch, Johannes (ca. 1490 – 1553) 28, 310 Kolocsai Fábri, János (16. Jh.) 747 Konrad III. (1093 – 1152), König 448 Konstantin I. (ca. 280 – 337), Kaiser 653 Kopávsi, István († 1562) 747 Kopernikus, Nikolaus (1473 – 1543) 470, 476 f., 616 Krafft, Christian (1784 – 1845) 183 Krafft, Johannes d.Ä. (1510 – 1578) 285, 762 Kresling, Johannes (1489 – 1549) 746 Kromayer, Johannes (1576 – 1643) 614 Kues, Nikolaus von (1401 – 1464) 211 Kyrill von Jerusalem (313 – 386) 749 Laetus, Erasmus (1526 – 1582) 653 f. Lagus, Konrad (1500 – 1546) 614 Lambert von Hersfeld (1024 – 1088) 578 Lambertus, Franziskus (1487 – 1530) 662, 683 Lang, Johannes (1487 – 1548) 453 Languet, Hubert (1518 – 1581) 313 Lascaris, Janus (1445 – 1535) 729 Lasco, Johannes a (1499 – 1560) 677 f. Laskaris, Konstantin (1433 – 1501) 549 Laski, Albert (1536 – 1605) 752 Latimer, Hugh (ca. 1485 – 1555) 662, 674, 678 Latomus, Bartholomäus (ca. 1485 – 1570) 522, 604 Laurentius von Rom († 258) 448 Lauro, Pietro (16. Jh.) 733 Lauterbach, Anton (1502 – 1569) 173 Lauterbeck, Georg (ca. 1505 – 1570) 282 Lavater, Ludwig (1527 – 1586) 742 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646 – 1716) 490, 617, 639 Leland, John (1506 – 1552) 77 Lemnius, Simon (1511 – 1550) 273 Leo X. (1475 – 1521), Papst 29, 162, 665 Leyser, Polykarp d.Ä. (1552 – 1610) 626 Linacre, Thomas (1460 – 1524) 555 Link, Wenzeslaus (1483 – 1547) 673
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Lipsius, Justus (1547 – 1606) 621 Livius, Titus (ca. 59 v. Chr. – 17 n. Chr.) 445, 580, 745 Locher, Jakob (1471 – 1528) 551 Lombardus, Petrus (1095/1100 – 1160) 28, 333, 379 Longicampianus, Johannes (ca. 1495 – 1529) 571 Lopez de Bejar, Gil (16. Jh.) 588 Lossius, Lucas (1508 – 1582) 518 Löwenstern, Wilhelm Baron von (1.H. 19.Jh.) 89 Ludwig II. (1506 – 1526), König von Ungarn 206 Lufft, Hans (ca. 1495 – 1584) 78, 471 Lukian von Samosata (ca. 120 – 180) 591, 600, 605 Lukrez (ca. 99 – 53 v. Chr.) 270, 562 Lullus, Raimundus (1232 – 1316) 211 Lusinius, Johannes (16. Jh.) 752 Luther, Martin (1483 – 1546) 3, 6, 15 – 17, 27 – 38, 40, 42, 61 – 64, 66 f., 69 – 71, 76, 78 – 80, 86, 89, 91 – 93, 102 f., 109 f., 114 f., 117 – 120, 125 – 129, 132 – 136, 144, 148, 152 f., 155, 159 f., 163, 167, 171, 173, 179, 181, 183 – 188, 196, 198 – 200, 206, 210, 215 – 217, 219 – 223, 227, 234 f., 238, 241 f., 244 f., 247 f., 253 – 255, 257 f., 260 f., 263, 274, 297, 299 f., 304, 307 – 309, 317, 334 – 337, 340 f., 344, 347 f., 352 – 356, 360 f., 363 f., 368, 371 – 373, 377 f., 388, 395, 397 – 401, 404, 409 – 413, 419, 421 f., 426 f., 429 – 432, 439 f., 442, 444 – 446, 448, 452, 457 – 459, 464, 495 f., 501 – 503, 523, 525, 536, 539, 575, 578 – 580, 583 – 585, 587 f., 602, 618, 624 – 633, 635 f., 638, 640, 649 f., 654 f., 659 – 672, 674, 676, 678, 683 – 687, 691 f., 695, 701 f., 705, 711, 716, 718 – 720, 729 – 735, 739 f., 757 f., 767, 770 f. Lykurg (ca. 800 – 730 v. Chr.) 599, 605 Macarius, Joseph (16. Jh.) 746 Maertens, Clement († 1599) 692 Magirus, Johannes (1560 – 1626) 617, 620 Magni, Nicolaus († 1543) 655 Magnus III. (1509 – 1550), Herzog zu Mecklenburg 236 Maius, Michael (ca. 1530 – 1572) 285 f.
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Personenregister
Major, Georg (1502 – 1574) 38, 112, 114, 142, 236, 613, 631 Manlius, Johannes (ca. 1535 – 1605) 316 Manuzio, Aldo/Manutius, Aldus (1449 – 1515) 18, 729 Margarete von Navarra (1492 – 1549) 306, 701 Margarethe von der Saale (1522 – 1566) 36, 68 Margarethe von Parma (1522 – 1586) 684 Maria (1505 – 1558), Königin von Ungarn 746 Maria I. (1516 – 1558), Königin von England 659, 663 f., 678 f., 686 Marschalk, Nikolaus (ca. 1460 – 1525) 547 Martini, Cornelius (1568 – 1621) 615 f., 623, 632 f. Martini, Jakob (1570 – 1649) 623, 633 Martinius, Matthias (1572 – 1630) 707 Mathesius, Johannes (1504 – 1565) 247, 306, 445 Maurus, Bernardus (16. Jh.) 529, 541 f. Maximilian I. (1459 – 1519), Kaiser 103 Maximilian II. (1527 – 1576), Kaiser 752 Mayer, Johann Friedrich (1650 – 1712) 635 Medler, Nikolaus (1502 – 1551) 572, 574 Meisner, Balthasar (1587 – 1626) 620 f., 629 Melanchthon, Anna (1522 – 1547) 28, 37 f., 253, 307, 310 Melanchthon, Georg (1527 – 1529) 28, 310 Melanchthon, Katharina (1497 – 1557) 28, 37, 41, 304, 310 Melanchthon, Magdalena (1531 – 1576) 28, 445 Melanchthon, Philipp d.J. (1525 – 1605) 28, 37, 309 f., 445 Melanchthon, Sigismund (1537 – 1573) 309 Melissus, Paul Schede (1539 – 1602) 84 Méliusz Juhász, Péter (1532 – 1572) 747, 754 Menander (342/341 – 291/290 v. Chr.) 601 Menius, Justus (1499 – 1558) 112, 137 Mentzer, Balthasar (1565 – 1627) 637 Mercator, Gerhard (1512 – 1594) 616 Metrodorus (5./6. Jh.) 574 Meyfart, Johann Matthäus (1590 – 1642) 628 Micyllus, Jacobus (1503 – 1558) 271, 273, 555 Milichius, Jakob (1501 – 1559) 284, 570 f., 616 Milticz, Wolf (tätig 1535 – 1545) 91 Mithoff, Burkhard (1501 – 1564) 752 Mohammed (ca. 570 – 632) 205 Mohi, Ferenc († 1567) 747 Moibanus, Ambrosius (1494 – 1554) 142 Moldoveanul, Filip (16. Jh.) 752
Moller, Joachim d.J. (1521 – 1588) 237 Molnár, Gregor (16. Jh.) 754 Monau, Jakob (1546 – 1603) 304 Monner, Basilius (ca. 1500 – 1566) 114 Mont, Christopher (1496/97 – 1572) 666, 672 Montecrucis, Ricoldus de (1243 – 1320) 211 Mordeisen, Ulrich (1519 – 1579) 237 More, Thomas (ca. 1478 – 1535) 665, 669 Moritz (1521 – 1553), Kurfürst von Sachsen 38 – 40, 102 f., 110 f., 172, 174, 237, 305 Moritz (1572 – 1632), Landgraf von Hessen-Kassel 614 Moritz von Oranien (1567 – 1625) 293 Mörlin, Joachim (1514 – 1571) 113 f., 119 Moschopulos, Manuel (1265 – 1316) 548, 550 Mosheim, Johann Lorenz von (1693 – 1755) 635 Müller, Georg (16. Jh.) 285 Müller, Krafft (1503 – 1547) 242, 284, 462, 561 Müntzer, Thomas (ca. 1489 – 1525) 131 Musa, Antonius (1485 – 1547) 668 Musaeus, Johann (1613 – 1681) 336 Musculus, Wolfgang (1497 – 1563) 630, 742 Myconius, Friedrich (1490 – 1546) 137, 196, 316, 665, 667, 672 f., 675 Mylius, Martin (1542 – 1611) 248, 286 Namysłowski, Licinius († 1633/1636) 760 Nauclerus, Johannes (1425 – 1510) 26, 577 Nausea, Friedrich (1496 – 1552) 30 Negri, Girolamo (1496 – 1580) 734 Niemojewski, Jakob († 1586) 757 Nikander von Kolophon (ca. 197 – 130 v. Chr.) 600 Nonnos von Panopolis (5. Jh.) 242 Norman, Georg († 1553) 655 f. Nysaeus, Johannes (16. Jh.) 329 Ochino, Bernardino (1487 – 1564) 678, 732 Ockham, Wilhelm von (ca. 1287 – 1347) 347 Oekolampad/Oecolampadius, Johannes (1482 – 1531) 26 f., 33, 110, 184, 325, 410, 459, 549, 554, 683, 716, 720 f., 741 Oldendorp, Johannes (1486 – 1567) 614 Olevianus, Kaspar (1536 – 1587) 630, 688 Oomius, Simon (1630 – ca. 1707) 694 Origenes (ca. 185 – 254) 443, 760 Orosius, Paulus (385 – 418) 584 Örtel, Veit (1501 – 1570) 627, 746
Personenregister
Osiander, Andreas (1498 – 1552) 40, 61, 137, 237, 243, 310, 351, 360 f., 405, 663, 676 Ostermayr, Wolfgang (16. Jh.) 458 Ottheinrich (1502 – 1559), Kurfürst von der Pfalz 41, 201 Ottoni, Luciano degli († 1552) 733 Ovid (ca. 43 v. Chr. – 17 n. Chr.) 256, 264, 591, 595, 603, 663 Ozorai, Imre (ca. 1500 – 1550) 747 Pac, Nikolaus (ca. 1527 – 1585), Bischof von Kiew 759 f., 764 Paget, William (1506 – 1563) 665 Paleario, Aonio (1500 – 1570) 732, 735 Palladius, Peder (1503 – 1560) 649 f., 652 Paracelsus (ca. 1493 – 1541) 509 Pareus, David (1548 – 1622) 181, 631 Parr, Katharina (1512 – 1548) 676 Patrizi, Francesco (1529 – 1597) 518, 736 Paul III. (1468 – 1549), Papst 38, 170, 705 Paul IV. (1476 – 1559), Papst 105 Paul von Samosata (3. Jh.) 721 Pauw, Adriaan (15851653) 687 Peña, Juan de la (1513 – 1565) 716 Pencz, Georg (1500 – 1550) 76 f., 79 Pereira, Benito (1535 – 1610) 622 Perger, Bernhard († 1501) 18 Periander von Korinth († ca. 587 v. Chr.) 255 Perotti, Niccolò (1429 – 1480) 18 Petrejus, Johannes (1497 – 1550) 565 Petri, Laurentius (1499 – 1573) 648 Petri, Olaus (1493 – 1552) 648 Petrus Hispanus (ca. 1210 – 1277) 532 Peucer, Caspar (1525 – 1602) 6, 117, 237, 277, 285 f., 304, 309, 316, 476, 572, 580, 585, 615 f., 618, 629 f., 695, 702 Peuerbach, Georg von (1423 – 1462) 563, 567, 570 Pezel, Christoph (1539 – 1604) 236, 286, 293, 299 f., 304, 316, 415, 615, 618 f., 629 – 631 Pfaffrad, Caspar (1562 – 1622) 632 f. Pfeffinger, Johannes (1493 – 1573) 112, 115, 626 Pflug, Julius von (1499 – 1564) 37 Philipp (1504 – 1567), Landgraf von Hessen 30 f., 34, 36, 68, 129, 161 – 163, 193, 200, 237, 297, 305, 311, 671 f., 676 Philipp (1503 – 1548), Pfalzgraf von Pfalz-Neuburg 579 Philipp der Aufrichtige (1448 – 1508), Kurfürst von der Pfalz 25
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Philipp II. (1527 – 1598), König von Spanien 678, 716 Philoponos, Johannes (490 – 570) 523 Photinus von Sirmium († 376) 721 Piccart, Michael (1574 – 1620) 623, 638 Piccolomini, Francesco (1520 – 1604) 518, 621, 736 Pico della Mirandola, Giovanni (1463 – 1494) 209, 729 f. Pictetus, Bartholomäus (1561 – 1613) 631 Pierius, Urban (1546 – 1616) 630 Pindar (ca. 522 – 446 v. Chr.) 270, 600, 605 f. Pirckheimer, Caritas (1467 – 1532) 31 Pirckheimer, Willibald (1470 – 1530) 459, 554 Piscator, Johannes (1546 – 1625) 692 Pistorius, Johannes (1502 – 1583) 37 Pithopoeus; Siehe Helm, Lambert Ludolph Pittakos von Mytilene (ca. 650 – 570 v. Chr.) 255 Pius IV. (1499 – 1565), Papst 105 Pius V. (1504 – 1574), Papst 716 Planitz, Hans von der (1473 – 1535) 129, 137 Platon (428/427 – 348/347 v. Chr.) 18, 338, 403, 485, 527, 561 – 563, 567, 569, 579, 724 Plettener, Tilemann (1490 – 1551) 379 Plinius d.Ä. (24 – 79) 601 Plutarch (ca. 45 – 125) 591, 600, 605 Pole, Reginald (1500 – 1558), Kardinal 719 Politi, Ambrogio Catarino (1484 – 1553) 735 Pollicarius, Johannes (ca. 1515 – 1562) 292 Pontano, Giovanni (1426 – 1503) 263 Porto, Francesco (1511 – 1581) 736 Postel, Guillaume (1510 – 1581) 211 Praetorius, Abdias (1524 – 1573) 626 Priscian (6. Jh.) 548 – 551 Prosper von Aquitanien (390 – 455) 349 Pruystinck, Eloi (tätig 1525 – 1544) 686 Ptolemäus, Claudius (ca. 100 – 160) 208, 470 f., 475 f., 600, 605, 613, 618 Pufendorf, Samuel (1632 – 1694) 620, 622, 634, 640 Pythagoras (ca. 570 – 510 v. Chr.) 18, 561, 563 Quenstedt, Johann Andreas (1617 – 1688) 373, 638 Quintana, Juan de († 1534) 719 – 721 Quintilian (ca. 35 – 96) 144, 268, 523, 537, 601, 613
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Personenregister
Rachel, Samuel (1628 – 1691) 620, 622 Radziwill, Nikolaus (1515 – 1565), Fürst 752 Ramser, Matthias (16. Jh.) 751, 753 Ramus, Petrus (1515 – 1572) 516, 518 f., 555, 614 f., 623 f., 736 Ratke, Wolfgang (1571 – 1635) 555 f., 614, 633 Regiomontanus, Johannes (1436 – 1476) 279, 574 Reiffenstein, Albrecht (16. Jh.) 543 Reiffenstein, Johannes (ca. 1520 – 1575) 543, 561, 567, 569 Reiffenstein, Wilhelm (1482 – 1538) 522, 543 Reinhold, Erasmus (1511 – 1553) 476, 571 Reinkingk, Dietrich (1590 – 1664) 622 Renate von Frankreich (1510 – 1574), Herzogin von Ferrara 734 Resen, Hans Poulsen (1561 – 1638) 652 Reuber, Johannes (16. Jh.) 297 Reuchlin, Elisabeth (ca. 1475 – vor 1552) 25 Reuchlin, Johannes (1455 – 1522) 25 – 29, 149, 205 f., 239, 241, 263, 314, 459, 495, 538, 574, 577, 579, 585, 587, 589, 591, 729 Reusner, Nicolaus (1545 – 1602) 82, 84, 86 Reuter, Johann († 1508) 25, 559 Reuter, Quirin (1558 – 1613) 181, 631 Rhasis (854 – 924) 208 Rhau, Georg (1488 – 1548) 566, 572 Rhenanus, Beatus (1485 – 1547) 577 Rheticus, Georg Joachim (1514 – 1574) 476 – 478, 562, 571 Richardius, Johann (16. Jh.) 286 Ridley, Nicholas (1500 – 1555) 678 Ries, Adam (1492 – 1559) 572 Rihel, Theodosius (ca. 1526 – 1608) 286 Rivetus, Andreas (1572 – 1651) 693 Rolefinck, Werner (16. Jh.) 274 Rollenhagen, Georg (1542 – 1609) 626 Rollock, Robert (1555 – 1599) 709 Romano, Lorenzo (16. Jh.) 736 Rörer, Georg (1492 – 1557) 247 Rosheim, Josel von (1476 – 1554) 36 Rothmann, Bernd (1495 – ca. 1535) 198 Roting, Michael (1494 – 1588) 31 Rubigallus, Paulus (1510 – 1577) 747 Sabinus, Georg (1508 – 1560) 37 f., 273, 278, 307, 309, 758 Sacrobosco, Johannes de (13. Jh.) 561 Sadoleto, Jacopo (1477 – 1547) 734 Sallust (86 – 35 v. Chr.) 601
Sande, Fredericus (15771617) 690 Sarcerius, Erasmus (1501 – 1559) 518 Sarnicki, Stanislaus (ca. 1532 – 1593) 757, 761, 764 Saubert, Johannes (1592 – 1646) 304, 317 Sauli, Caterina (1519 – 1582) 734 Savonarola, Girolamo (1452 – 1498) 211, 730 Scaliger, Joseph Justus (1540 – 1609) 624 Scaliger, Julius Caesar (1484 – 1558) 555, 617 f., 622, 624 Schegk, Jakob (1511 – 1587) 617, 623 Schenck, Hans (1500 – 1566) 91 Schenk, Wolfgang (16. Jh.) 547 Schertzer, Johann Adam (1628 – 1683) 624 Scheubel, Johann (1494 – 1570) 574 Schifflich, Lucas (16. Jh.) 751 Schilling, Wenzel (um 1600) 614, 625, 630, 633 Schleich, Clemens (16. Jh.) 285 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768 – 1834) 181 – 183, 187, 335, 339 Schmidt, Bonaventura († 1597) 286 Schneegaß, Cyriacus (1546 – 1597) 316 Schnepf, Erhard (1495 – 1558) 26, 114 Schönborn, Bartholomäus (1530 – 1585) 616 Schöne, Anton (16. Jh.) 285 Schöner, Johannes (1477 – 1547) 561, 572, 574 Schurff, August (1495 – 1548) 297 Schurff/Schürpf, Hieronymus (1481 – 1554) 129, 134, 277, 286, 297, 495 Schwartzerdt, Anna (1499 – 1549/50) 25 Schwartzerdt, Barbara (1476/77 – 1529) 25, 32 Schwartzerdt, Barbara d.J. (1508 – 1542) 25 Schwartzerdt, Georg d.Ä. (1458 – 1508) 25 Schwartzerdt, Georg (1500 – 1563) 25, 41, 309 Schwartzerdt, Margarete (1506 – 1540) 25 Schwebel, Johannes (ca. 1490 – 1540) 462 Schweigger, Georg (1613 – 1690) 92 Schwenckfeld, Kaspar von (1490 – 1561) 193 f. Scipio, Paul (16. Jh.) 746 Scultetus, Abraham (1566 – 1624) 181, 619, 632 Seitz, Peter d.Ä. († ca. 1550) 566 Selnecker, Nikolaus (1530 – 1592) 616, 626 f., 630 Semler, Johann Salomo (1725 – 1791) 636 Sennert, Daniel (1572 – 1637) 617 f. Servet, Michel (1509/11 – 1553) 338, 389, 391, 679, 715, 719 – 722, 731 Setzer, Johann († 1532) 283 Seymour, Edward (ca. 1500 – 1552) 677
Personenregister
Siber, Adam (1516 – 1584) 263, 273 Sigetinus, Emericus (16. Jh.) 747 Sigismund (1538 – 1566), Erzbischof von Magdeburg 579, 586 Sigismund II. August (1520 – 1572), König von Polen 752 Simler, Georg (1476/78 – 1536) 25 f., 459, 538, 547, 549, 554, 559, 591 Simon, Richard (1638 – 1712) 234 Sinning, Jens Andersen († 1547) 653 Siwicki, Dominicus († ca. 1791) 762 – 764 Smotrickijs, Miletij (1577 – 1633) 556 Sohnius/Sohn, Georg (1551 – 1589) 181, 631, 708 Sokrates (469 – 399 v. Chr.) 397 Solon von Athen (ca. 640 – 560 v. Chr.) 255 Sophokles (497/496 – 406/405 v. Chr.) 595, 600, 605 Sozzini, Fausto (1539 – 1604) 760 Sozzini, Mariano d.Ä. (1482 – 1556) 730, 735 Sozzini, Mariano d.J. (1525 – 1562) 730 Spalatin, Georg (1484 – 1545) 34, 41, 80, 134 f., 236, 257, 571, 666 Spangel, Pallas (ca. 1445 – 1512) 25 f., 538 Spanheim, Friedrich d.Ä. (1600 – 1649) 708 Spengler, Lazarus (1479 – 1535) 137 Sperling, Johannes (1603 – 1658) 617 Spiera, Francesco (1502 – 1568) 731 Stabius, Johannes (ca. 1460 – 1522) 571 Stadian, Franz (ca. 1470 – 1530) 116, 440, 554 Stahl, Daniel (1589 – 1654) 614 Stancarus, Franciscus (1501 – 1574) 391, 736, 749 Stephanus, Henricus (ca. 1460 – 1520) 606 Stiborius, Andreas (ca. 1464 – 1515) 571 Stifel, Michael (1486/87 – 1567) 441, 565, 572, 582, 585 Stigel, Johannes (1515 – 1562) 78, 263, 273, 292, 613, 675, 679 Stimmer, Tobias (1539 – 1584) 82 Stobaeus, Johannes (5. Jh.) 754 Stöckel, Leonhard (1510 – 1560) 749 f., 754 Stöffler, Johannes (1452 – 1531) 26, 560 Storch, Nikolaus (ca. 1500 – 1536) 193 Stösser, Fabian (16. Jh.) 313 Strigelius, Victorinus (1524 – 1569) 518, 614 – 617, 619, 623, 626, 630 – 632 Strobel, Georg Theodor (1736 – 1794) 234, 247, 731
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Sturm, Johannes (1507 – 1589) 516, 520, 522, 613, 704 f. Stürmer, Gervasius (16. Jh.) 285 Suarez, Francisco (1548 – 1617) 621 f. Süleyman I. (1494/96 – 1566), Sultan 164, 206 Sylvester, Johannes (16. Jh.) 747 Szegedi Kis, Stefan (1505 – 1572) 747 Tacitus, Publius Cornelius (ca. 58 – 120) 601 Tannstetter, Georg (1482 – 1535) 567 Tartaretus, Petrus († ca. 1522) 524 Tauber, Jonas (16. Jh.) 751 Tauler, Johannes (1300 – 1361) 349 Taurellus, Nikolaus (1547 – 1606) 623 Terenz (195/184 – 159/158 v. Chr) 144, 265, 267, 538, 552, 591, 601, 603 f., 663 Tertullian (ca. 150 – 220/223) 721 f., 760 Thales von Milet (624 – 547 v. Chr.) 255 Thamer, Theobald (1502 – 1569) 109 Themistius (317 – 387) 523 Theodosius I. (347 – 395), Kaiser 653 Theognis von Megara (6. Jh.v.Chr.) 600, 605 Theokrit (3. Jh.v.Chr.) 600, 603 Thomae, Markus gen. Stübner (16. Jh.) 193 Thomas III. Nádasdy (1498 – 1562) 747 Thomas von Aquin (ca. 1225 – 1274) 211, 335, 338 – 340, 523, 583, 620, 723 Thretius, Christoph (ca. 1531 – 1591) 757, 761, 764 Thukydides (ca. 460 – 395 v. Chr.) 445, 593 f., 600, 605 Thuri, Paul (16. Jh.) 747 Tiemann, Johann (ca. 1500 – 1557) 414 f. Tilenus, David (1563 – 1633) 706 Timpler, Clemens (1563 – 1624) 638 Tischer, Friedrich Wilhelm (1767 – 1842) 309 Todeschi, Tommaso Radini (1488 – 1527) 733 Tolosanus, Petrus Gregorius (ca. 1540 – 1617) 621 Tomitano, Bernadino (1517 – 1576) 734 Tossanus, Daniel (1541 – 1602) 181 Tossanus, Paul (1572 – 1634) 632 Tracy, William († 1530) 662 Trapezuntius, Georgius (1395 – 1472/84) 515, 522, 539, 663 Trelcatius, Lucas (1542 – 1602) 694 Trew, Abdias (1597 – 1669) 619 Trigland, Jacob (1652 – 1705) 692 f. Trolle, Herluf (1516 – 1565) 237, 652
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Personenregister
Trzecieski, Andreas d.J. († 1584) 757 Tyndale, William (ca. 1484 – 1536) 662 Ubaldis, Baldus de (1327 – 1400) 295 Ulrich von Württemberg (1487 – 1550), Herzog 665 Unger, Johannes (ca. 1482 – 1553) 559, 591 Ursinus, Zacharias (1534 – 1583) 180 f., 415, 630 f., 687 f., 692 Valdés, Fernando de (1483 – 1568) 723 Valdés, Juan de (1509 – 1541) 732, 735 Valkentkovits, Martin (16. Jh.) 747 Valla, Lorenzo (1407 – 1457) 18, 522, 730 f. Varenius, Heinrich (1588 – 1635) 633 Vegio, Maffeo (1407 – 1458) 729 Veluanus, Anastasius (ca. 1520 – 1570) 685 f. Vendenhaimer, Ulrich (16. Jh.) 274 Vergilius Maro, Publius (70 – 19 v. Chr.) 144, 256, 264, 270, 552, 562 f., 565, 591, 593 – 595, 602 f., 605, 663 Vermigli, Peter Martyr (1499 – 1562) 629, 678, 732 Veronensis, Guarinus (1370 – 1460) 548 Versor, Johannes († ca. 1485) 523 f. Vesalius, Andreas (1514 – 1564) 18, 402 f., 485, 488 f., 509, 617 Villa Dei, Alexander de (1175 – 1240) 551 Viotti, Bartolomeo (16. Jh.) 736 Viret, Pierre (1511 – 1571) 184 Vitoria, Francisco de (ca. 1483 – 1546) 715, 722, 724 Vitus Balsaráti, Johannes (1529 – 1575) 754 Vives, Ludovico (1493 – 1540) 515, 522 Voetius, Gisbertus (1589 – 1676) 632, 694 Vögelin, Ernst (1529 – 1589) 176 Vögelin, Johannes (ca. 1490 – 1549) 519, 561, 567, 570 Volanus, Andreas (ca. 1531 – 1610) 758 – 761, 764 Volmar, Johannes (ca. 1480 – 1536) 571 Voltaire (1694 – 1778) 711 Vossius, Gerardus (1577 – 1649) 689 Vulgarius, Eugenius (887 – 928) 749 Wagner, Valentin (ca. 1510 – 1557) 748 f., 751, 753 f. Walaeus, Antonius (1573 – 1639) 621 Walch, Johann Georg (1693 – 1775) 617, 624
Wechel, Johann († 1593) 286 Weigel, Georg († nach 1573) 758, 760 Weigel, Valentin (1533 – 1588) 618, 633 Weinlaub, Johannes († 1558) 661, 675 Werdenhagen, Johann Andreas von (1581 – 1662) 633 Werenberg, Jakob (1547 – 1610) 614 Westphal, Joachim (1510 – 1574) 64 f., 117 – 119, 413 f. Wigand, Johannes (1523 – 1587) 234 Wild, Stephan (1495 – 1550) 297 Wilhelm (1535 – 1592), Herzog von Braunschweig-Lüneburg 237 Wilhelm Ludwig (1560 – 1620), Graf von NassauDillenburg 293 Wimpfeling, Jakob (1450 – 1528) 26, 538, 577, 602 Wingen, Godfried van († 1590) 684 Winsheim, Veit (1501 – 1570) 109 Wolff, Christian (1679 – 1754) 519, 624 Wolfgang (1492 – 1566), Fürst von Anhalt-Köthen 161 Wolfgang (1526 – 1569), Pfalzgraf und Herzog von Pfalz-Zweibrücken 237 Wtenbogaert, Johannes (1557 – 1644) 689 f., 692 Wyclif, John (1330 – 1384) 461 Xenophon (430/25 – ca. 354 v. Chr.) 605
579, 593,
Zabarella, Jacopo (1533 – 1589) 519, 614, 622, 636, 736 Zanchi, Girolamo / Zanchius, Hieronymus (1516 – 1590) 181, 735 Zápolya, Johann (1487 – 1540), König von Ungarn 748 Zborowski, Martin (16. Jh.) 753 Zeisold, Johannes (1599 – 1667) 617 Zeltner, Gustav Georg (1672 – 1738) 247 Zizanij, Lavrentij (1570 – 1633) 556 Zorilla, Alonso de (16. Jh.) 733 Zumel, Francisco (1540 – 1607) 727 Zwilling, Gabriel (ca. 1487 – 1558) 29, 127 f. Zwingli, Ulrich (1484 – 1531) 6, 33, 61, 63, 67, 110, 163, 175, 182 – 184, 189, 298, 309, 317, 365, 410, 412, 414 f., 587, 624, 688, 692, 701, 721, 739 f., 743
Sachregister Abendmahl 63, 67, 70, 109, 117 – 119, 126, 130 f., 133, 135 f., 163, 165, 174, 245, 254, 259, 298, 703 f., 710 – Gutachten 686 – Frage 62, 64, 66 f., 638, 640, 686 – Lehre 30, 33, 35, 37, 63 f., 66 f., 110, 117 – 119, 131, 133, 144, 179 f., 183 – 185, 189, 245, 387, 409, 411 – 416, 626 f., 630, 632, 634, 651, 670, 673, 677, 685 f., 710, 731, 739 f., 742 f., 748 – 751, 754 – Streit 35, 61 f., 64, 66, 180, 310, 409, 685, 749 Adiaphora 111 f., 39, 70, 114, 174, 179, 224, 227 f., 298 f., 310, 679, 703 Aemulatio 75 f. Aequitaslehre 495, 497 Affektenlehre 182, 377 Alte Kirche 389 Amt, weltliches 195 Anatomie 18, 403, 484 – 486, 488 f., 491, 617 Anthropologie 18, 149, 251, 377, 395 – 397, 399 f., 402, 404 – 406, 470, 473 – 475, 479, 483, 499, 501, 529, 617 f., 626 f., 635 f., 638 Antichrist 442, 583 f. Antinomismus 32, 130, 134, 586 Antitrinitarismus 715, 720, 731, 749, 752 f., 758 – 760, 764 Apokalyptik 207, 210 – 212, 442, 585, 622 Arianismus 211, 720, 736 Aristotelismus 187, 233, 242, 329, 343, 363, 369 f., 379, 387, 451, 454, 458 – 465, 469 – 472, 474 – 476, 483 f., 486, 488 – 490, 497, 499 – 501, 518 f., 522 – 526, 554 f., 612 f., 615, 617, 620 – 622, 624, 629, 633, 736 Arithmetik 18, 149, 517, 526 – 529, 531, 533, 559 – 563, 565 f., 569 – 571 Arminianer 692, 706 f. Artes liberales 26, 453, 592, 603, 612 Artikel – Marburger 34,163 – Schmalkaldische 431, 660, 671, 771 – Schwabacher 34,163, 635 – Torgauer 33 f., 163 – Weidaer 129 f. – Wittenberger 67 Artistenfakultät 26, 31 f., 35, 38, 592 f.
Astrologie 17 f., 265, 272, 471 – 477, 479, 560, 612, 616, 618 f., 729 f. Astronomie 17 f., 26, 149, 208, 453, 455, 470 f., 473, 475 – 477, 479, 559, 562 f., 567, 570, 572, 585, 603, 612 f., 616, 619 Auferstehung der Toten 442 Aufklärung 181, 218 Aufruhrpredigt 197 Augsburger Bekenntnis; Siehe Confessio Augustana Augsburger Interim; Siehe Interim, Augsburger Augsburger Reichstag; Siehe Reichstag, Augsburger Augsburger Religionsfrieden; Siehe Religionsfrieden, Augsburger Baccalaureus biblicus 28 Barmer Thesen 378 Barmherzigkeit Gottes 440 Bauernkrieg 31 f., 128, 195, 459, 473, 498, 502 Beichte 134, 703, 722 Bekenntnis, Augsburger; Siehe Confessio Augustana Bekenntnis – Akt 155 f., 157 f., 160 f., 165 f, – Begriff 160, 162, 172 Bernhardiner 762 – 764 Bibelkommentar 267 Biblizismus 194 Bilderstürmer 685 Bildgedicht 266 Bildrhetorik 75 Bildungsprogramm 125 Bildungsreform, humanistische 577 Bildungswesen 31, 215, 298 Bischofsamt 427 – 431 Bologna, Konkordat von; Siehe Konkordat von Bologna Briefgedicht 267, 315 Briefwechsel 5, 8, 15, 62, 66, 68, 70, 147, 205 f., 263 – 265, 267, 272, 296, 299, 446, 578, 732 Bundeslehre 688 Buße 32, 37, 113, 125, 128, 130 f., 133 – 135, 158, 167, 169, 196 f., 206, 210, 225, 228 f.,
832
Sachregister
245, 259, 261, 342, 347 f., 351, 353, 358, 435, 731, 733 Calvinismus 3, 177, 179 – 181, 185 f., 409, 414, 617, 621, 625, 634, 639 f., 651 f., 687, 690 f., 708, 754 Canones 691 Chorlyrik 606 Chrestomathie 550, 552 Christologie 110, 169, 188, 194, 241, 338, 377 f., 380, 382 f., 385 – 388, 391 – 393, 398, 409, 434, 626 f., 758 – 760, 763 Chronik 577 – 589 Chronologie (der Weltgeschichte) 584 Codex Juris Canonici 165 Communicatio idiomatum 110, 118 Conclusiones 683 Confessio Augustana 34 – 36, 40, 62, 67 f., 77, 88, 93, 99, 138, 151, 156, 161 – 172, 174 – 177, 182 f., 186, 196, 217, 219, 228, 260, 298, 309 f., 341, 344, 347 f., 384, 388, 411, 431, 585, 625 – 627, 630, 635, 638, 640, 651, 662, 670, 679, 686, 693, 703, 710, 717, 719, 732, 750, 767 – 769 – Apologie 34, 156 f., 161, 164, 166, 168 – 172, 174 – 176, 310, 351, 358 – 360, 384 f., 422, 441, 584, 769 – Confutatio 34, 168 – 170, 385 – Variata 35 f., 62, 65, 68, 180, 189, 341, 629 – Variata Secunda 161 – Variata Tertia 161 Confessio Heptapolitana 750 Confessio Pentapolitana 750 Confessio Saxonica 40, 158, 174, 176 f., 413 Confessio Scepusiana 750 Confessio Tetrapolitana 161 Consensus Tigurinus 409 Corpus Doctrinae Christianae 41, 114, 156, 158, 174, 176 Corpus Doctrinae Misnicum 177 Corpus Doctrinae Philippicum 177 Dedikation 266 Deismus 339 Dekalog 136, 209, 252 – 254, 257, 259, 261, 620, 622, 639, 709 Deklamation 30, 144, 205, 263, 277 – 283, 291, 445, 535, 537, 539 Denkschrift 296 Dessauer Bund 162
Dialektik 3, 18, 144, 146 f., 149, 182, 188, 238 f., 241 – 243, 245, 256, 321 f., 325 – 327, 395, 455, 471, 474, 478, 491 f., 515 – 533, 535, 537 – 539, 541 – 544, 559 f., 566, 572, 593, 599, 601, 612 – 615, 631, 636, 684, 701 Dichtung 18, 263 f., 266, 268 – 274, 592, 594 f., 597 – 599, 601, 603, 606 – antike 560, 591 – gelehrte 272 – griechische 263 – lateinische 263 – neulateinische 273 Didaktik 145, 612, 614, 625 Disputation 27, 33, 135, 144, 277 f., 445, 709 – Leipziger 245, 536 Dogmatik 363, 368, 371, 374 Dominikaner 761 f., 764 Donatismus 196 f., 437 Dordrecht, Synode; Siehe Synode von Dordrecht Drama 263, 265, 267 Ehegerichtsbarkeit 298 Ehegutachten 297 Eherecht 496 Eidesleistung 199 Eigentumsverzicht 199 Ekklesiologie 40, 68, 151, 215, 224, 227 – 229, 336, 342 f., 637, 769 – 771 Endzeiterwartung 442, 583, 585 Epigramm 263 – 268, 270 – 273 Epik 602 f. Epikureismus 339, 364 – 366 Epitaph 268, 580 Erbsündenlehre 170, 703 Eremitentum 452 Erlösung 158, 161, 169, 173 Erwählung; Siehe Prädestination Erzählung 263, 273 f. Eschatologie 169, 337, 363, 441 f. Ethik 15, 19, 33, 97, 179 – 182, 187 f., 207, 209, 212, 252, 255, 334, 342, 373, 403, 405, 439, 454 f., 457 – 465, 470, 473, 475, 479, 486, 495, 497, 499 – 502, 523, 569, 579, 586 – 588, 599, 606, 612 f., 615, 619 – 622, 627, 631, 633 – 636, 638, 651, 731, 753 Eucharistie 679 Evangelium 31, 109, 111, 113, 120, 150, 153, 165, 174, 196, 206, 208, 212, 220, 223,
Sachregister
225 – 229, 235, 239, 244 – 246, 251, 262, 334, 336 f., 342 f., 348, 351 f., 354, 356, 359, 372, 379, 381, 384, 390 – 392, 397 f., 403 f., 410, 419 f., 423 – 425, 427, 429 – 432, 435, 437, 440, 461, 464, 497, 499, 501 – 503, 583, 596, 651, 671, 674, 693, 734 f., 754 Evolutionismus 339 Exegese 336 Fabel 274 Fazetie 274 Fides historica 381, 389 Fiducia 381, 384 f., 389 f. Flacianer 690 Flüchtling 686 Föderaltheologie 688, 708 f. Forensische Metapher 357 Frankfurter Anstand 36 Frankfurter Fürstentag 98 Frankfurter Religionsgespräch; Siehe Religionsgespräch, Frankfurter Frankfurter Rezess 414 Franziskaner 762 Freiheit, christliche 130, 136 f. Frömmigkeit 156 f., 443 f., 447 Fürstenkrieg 40 Gebetslehre 444, 447 Gebrauchslyrik 265 Gedicht 148, 264 – 273, 447, 578, 580 f. Gegenreformation 176, 216, 220 Gelegenheitsdichtung 266, 268 – 270 Geographie 567, 616 Geometrie 18, 149, 403, 486, 519, 527 f., 559 – 562, 567, 569 f. Gericht, Jüngstes 442 Gerichtsbarkeit 295 f. Geschichte 205, 445, 448, 454 f., 560, 577, 586, 612 f., 634, 725 Geschichtsschreibung 454, 561, 589, 591, 593 f., 600 Geschöpflichkeit 397 Gesetz 115 f., 125, 128, 134, 137, 209, 235 f., 239, 243 – 245, 259, 333 f., 341 f., 348, 351, 359, 379 f., 401, 440, 464 f., 487, 587, 679, 688, 735 – mosaisches 196, 495 f., 718 – ziviles 498, 502
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Gesetz und Evangelium 29, 137, 179, 188, 211, 243 – 246, 259, 310, 333 f., 336 f., 342 f., 352, 354, 364, 371, 398, 461, 463 f., 471, 473 – 475, 487, 501 – 503, 510, 583, 587, 611, 621 f., 626, 628, 630, 640, 651, 693, 709, 717, 731, 735 Gesetzeslehre 618 f., 622, 718 Glaube 34, 84, 109, 111, 115, 117, 125, 128, 141 f., 150, 156 – 158, 167, 170, 174, 200, 202, 211, 216, 218, 221, 224, 228, 235, 241, 244, 246, 334 f., 337, 341 – 343, 348, 351 f., 354 – 356, 358 – 361, 368, 371 f., 378, 381 f., 384, 390 – 392, 398, 400, 405, 409, 416, 420, 423, 425, 433, 435, 440, 443 f., 461 f., 484, 531, 589, 660, 693 – 695, 707, 724, 726, 734 f. Glaubensbekenntnis – Apostolisches 160 – Nizänisches 165 Glaubensfreiheit 155 Glaubensgerechtigkeit 30, 183, 244, 347, 377, 381, 401 Gnade 27, 115 – 117, 128, 149, 151, 155, 169, 195, 201, 211 f., 243 – 245, 247, 333 f., 337 f., 341, 343, 347 – 349, 355, 358 f., 361, 379 f., 383 f., 397 – 399, 401 f., 410, 458, 488, 503, 569, 583, 689, 693, 734 – Lehre 182, 397 f., 400, 402, 405 Gnesiolutheraner 71, 114, 173 f., 177, 185, 412, 414 – 416, 625, 627 Gottebenbildlichkeit 141, 403, 444, 474, 478, 499 f., 617 Gottesbeweis 339 Gottesdienstordnung 128, 133, 136 Gotteserkenntnis 142, 209, 211, 260, 334, 338, 364, 371, 378, 383, 390, 443 f., 464 f., 471, 478 f., 486 f., 490, 503 – natürliche 617, 619, 633 Gotteslästerung 197 f., 202, 206, 720 Gotteslehre 169, 187 f., 336 – 338, 363 Grabepitaph 266 Grammatik 3, 18, 144, 149, 238, 256, 453, 455, 526, 535, 541, 547, 559 – 561, 593, 597, 624, 684, 694 – griechische 547 – 549, 551, 553, 555, 591, 701 – lateinische 548, 550 – 555, 559, 701 – Unterricht 594 Gutachten 97, 100 – 103, 125 f., 128 f., 133, 148, 263, 295, 686, 702, 704 f.
834
Sachregister
Gutachtenwesen 295 Gütergemeinschaft 195 – 199 Gymnasium 694 Hamartiologie 169 Häresieverfahren 295 Heidelberger Katechismus; Siehe Katechismus, Heidelberger Heiligenverehrung 171, 448, 703 Hexameter 271 Hirtendichtung 603 Historie, Siehe Geschichte Hochzeitsgedicht 269 Homiletik 146, 205, 535 Humanismus 15 f., 217 – 219 Hymne, christliche 273 Imitatio 264, 268, 270, 591, 593 Inkarnation 333 f., 338 Innatismus 617 f., 623 Inquisition 716 f., 723 f., 731 – 733, 736 Interim – Augsburger 39 f., 70, 102, 110, 173, 227, 258, 309 f., 350, 656 f., 677 f. – Leipziger 39, 70, 110 – 112, 114 – 116, 118, 173 f., 177, 299 Irrlehre 198, 200 f., 684 Islam 207, 210, 212, 584, 720 Iustitia 351 Judentum 26, 36, 205, 372, 441, 720, 723 Jurisprudenz 19, 454, 495, 497, 614, 620, 622, 730 Kalender, religiöser 447 Kasualdichtung 267, 269 Kasualpoesie 266 Katechismus 148, 253 – 255, 257 – 261, 445, 650, 716 – 719, 722, 751 – 754 – Heidelberger 180, 188, 409, 416, 415, 630 f., 637, 687 f., 693 Katholizismus 635, 659, 730 f., 767 – 769 Ketzer 17, 686 Kindergebet 255 Kindertaufe 70, 127, 193, 195 f., 198 f., 202 Kirchenbann 136 Kirchenbesitz 133 Kirchengericht 201 f. Kirchengüter 137 Kirchenlehre 202
Kirchenordnung 37, 68 f., 125, 129, 136 – 138, 176, 260, 722, 750 f. – kurpfälzische 415 – Wittenberger 30 Kirchenpolitik 97 Kirchenreform 33, 104, 125 – 128, 131, 704 f. Kirchenregiment, landesherrliches 125, 128, 136 Kirchenväter; Siehe Patristik 228 Kirchenverfassung 70, 310 Kirchenvisitation 32, 125, 144 Kirchenwesen 32, 215, 297 Klosterwesen 130, 158, 167, 169 Kölner Reformation; Siehe Reformation, Kölner Komödie 263, 601 – 604 Konfessionalismus 223, 227 Konkordat von Bologna 702 Konkordie – Leuenberger 189 – Wittenberger 35, 62, 65 – 67, 98, 110, 161, 175, 180, 310, 412 Konkordienbuch 40, 158,177 Konkordienformel 40, 158, 177, 341, 344, 413, 615, 617, 626 – 628, 630 – 632, 634 f., 639 f., 651 f., 657 Konkordienluthertum 300, 416, 634, 639 f. Konsiliensammlung 295, 300 Konsistorium 298 Konstantinopel, Fall von (1453) 206, 459, 579, 584 Kontraremonstranten 688, 690, 692 f., 695 Konzil – II. Vatikanisches 219, 226, 230 – von Trient 38, 40, 102, 151, 170, 174, 217, 226, 228, 413, 677, 715, 717, 719, 722, 724, 726, 732 Kopernikanismus 472, 475 – 477 Koran 205 – 207, 211 Kosmodizee 364 Kosmographie 562 Kosmologie 470, 619 Kryptocalvinismus 180, 316, 625 f., 629 f., 650, 652, 679 Künstlerlob 75 Laienkelch 164 f. Lateinschule 591, 685, 694 Laterankonzil 210 Lehramt, kirchliches 68, 151 f., 437, 724, 726
Sachregister
Lehrdichtung 599, 602 f. Lehrgutachten 295, 298 Lehrtraktat 296 Leipziger Interim; Siehe Interim, Leipziger Leipziger Landtagsentwurf; Siehe Interim, Leipziger Leucorea 277 – 280, 285 Leuenberger Konkordie; Siehe Konkordie, Leuenberger 189 Libertiner 686 Literatur, antike 591 – 593, 595 f. Liturgie 186, 731 Lobrede 579 Loci communes 5 f., 19, 28 f., 35, 41, 61, 145, 156 f., 180, 187, 217, 233, 242 – 245, 252 f., 251, 253, 257 f., 274, 314 – 316, 325, 333 – 336, 338 – 340, 348, 353 – 356, 363, 373, 378 – 381, 382 – 386, 389 f., 391 f., 395 f., 398, 409, 421 f., 426, 439, 441, 499, 501 – 503, 536, 539, 543, 581, 603 f., 647, 659, 661 f., 667 f., 675, 683 f., 689, 692, 694, 707, 709, 717 f., 720 f., 730 – 735, 742 Loci theologici 6, 41, 117, 150, 176, 180, 182, 184, 187, 202, 252, 260, 333, 336 f., 343 f., 349 f., 352, 355, 358, 363, 373, 377, 391 f., 401, 422, 424, 434, 440, 442, 444, 454, 500, 502, 619 f., 626, 628 f., 631, 636, 640, 647, 650, 655, 685, 689, 701, 707 f., 717, 719, 723, 726, 753, 759 – 761, 763 Logik 146, 240, 321, 469, 476 – 479, 516, 519, 522 – 524, 526 f., 554, 613 – 615, 617, 622 – 624, 632, 638, 736 Lutheraner 767, 769 – 771 Lutherbildnis 77 Lutherische Orthodoxie; Siehe Orthodoxie, lutherische Lutherporträt 76 Luthertum 3, 119 f., 177, 179, 185 – 187, 189, 218, 220, 233, 260, 300, 409, 411, 413, 463, 489, 612 f., 615 – 617, 620 – 623, 625 – 628, 630 – 634, 637 f., 648, 652, 664, 666 f., 679, 686 f., 710, 715 – 717, 723, 727, 739 f., 742, 758 Lyrik 600 Majoristischer Streit 40, 173 Manducatio oralis 110, 119 Manichäismus 340 f. Marburger Artikel; Siehe Artikel, Marburger
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Marburger Religionsgespräch; Siehe Religionsgespräch, Marburger Martyrium 199 Mathematik 18, 208, 397, 455, 469, 472 – 474, 476 – 479, 559, 612 f., 616, 619 Meditatio 383 Medizin 18, 208, 454, 473, 475, 484 – 489, 491, 507 – 511, 535, 616 f., 637 Meritum 358 Messias-Weissagung 583 Messopfer 127 Messreform 127, 297 Messritus 716 f. Metaphysik 3, 455, 483, 523, 612, 614 f., 618, 622 – 624, 632, 640, 730 Mönchtum 159, 169, 334, 452, 703, 718 Moralphilosophie 19, 454 f., 458 f., 462, 464, 501 f., 612, 619, 621 Musen 577 Musik 149, 256, 559 Nachahmung; Siehe Imitatio Naturbund 688 Naturen Christi; Siehe Zwei-Naturen-Lehre Naturgesetz 333 f., 339, 373, 397, 499 – 501, 709 Naturkunde 593 f., 597, 602 f. Naturlehre 561, 566 Naturphilosophie 17, 270, 363, 367 f., 371, 454 f., 465, 469 – 475, 477, 479 f., 483 f., 486, 488, 612 f., 616 – 618 Naturrecht 19, 207, 209, 212, 333, 372, 397, 399, 461, 463, 496, 498 – 503, 613, 618, 620 – 622, 635 f., 638 – 640 Naturwissenschaft 143 Nestorianismus 759 Neuplatonismus 340, 729 f. Nürnberger Reichstag; Siehe Reichstag, Nürnberger Obrigkeit, weltliche 125, 128, 130, 136, 193, 196 – 202, 207, 209 f., 212, 259, 498, 502, 683 f., 686, 690 f., 696 Ökonomik 457, 613 Ökumene 15 f., 150, 216, 218 – 220, 224, 226 f., 229, 634, 710, 767 – 769 Ordination 426, 430
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Sachregister
Orthodoxie 146, 181, 188, 434, 633, 637, 639, 707, 751 – lutherische 344, 634 f. Osiandrischer Streit 173, 404 – 406 Pädagogik 144 f., 182 Papisten 690 Papstkirche 422 – 424, 433 Papsttum 3, 104, 215, 223, 226, 423, 426, 431 – 433, 435, 583, 634, 690, 702 – 704, 770 f. Passauer Vertrag 40 Patristik 17, 38, 110, 219, 228, 245 f., 343, 432, 448, 452, 584, 596, 720, 724, 749, 758, 760 f., 763 Pelagianismus 691, 715, 754 Pfarrer – Besoldung 125, 137 – Versorgung 133 Philippismus 3, 71, 174, 176 f., 180, 189, 286, 415, 625 f., 631, 652, 657, 687 f., 690, 694, 741, 750, 754, 758, 760 Philosophie 554, 611 – 615, 618, 623 – 625, 632 f., 635 f., 638, 668, 701 – christliche 452 Physik 403, 469 – 476, 483 f., 486, 523, 561, 566, 612 f., 616 – 618, 623, 633, 730, 736, 763 Pietismus 181, 635, 693 Platonismus 451, 469 f., 475, 477, 484, 486, 489 f., 526, 562, 595, 599, 614, 617 – 620, 623 Poesie 268, 577, 606, 613 Poetik 454, 561, 612 f. Polygamie 198, 298 Postille 205 Prädestination 62, 179, 340 f., 343, 353, 399, 439 f., 462, 634, 626, 639, 688 – 693, 706 – 708, 710, 731, 754 – Lehre 180 f., 186 Praxis pietatis 156, 159 Prediger, lutherisch 686 Predigtamt 29, 152, 196 f., 200, 260, 312, 427 Priesterehe 164 Prolog 265, 267 Proportion, arithmetische und geometrische 569 Prosa 269 f. Prosodie 549, 551, 553
Protestantismus 37, 62, 158, 170 f., 173, 175, 177, 209, 220, 382, 420, 451, 463, 489, 496, 503, 611 f., 618, 621, 625 – 627, 632, 636, 686, 715, 719, 726, 758 Protestation, Speyerer 98 Providenz 364 – 366, 439 Provinzsynode 689, 691 Prozessrecht 496 Psalmendichtung 273 Psychologie 182, 454 f., 483, 486 – 492, 612, 616 – 618, 763 Pythagoreismus 562 Quadrivium
149, 526, 559, 561 f., 573
Ramismus 491, 555, 613 – 615, 620 – 623, 632, 636 Recht – kanonisches 496 f. – mosaisches 495, 620 – positives 463 – römisches 495 f. Rechtfertigung 15, 29, 32 f., 37, 39 f., 109, 114, 130, 135, 149, 161, 167, 169 – 171, 173, 176, 211, 219 – 221, 226, 228, 237, 239, 246, 259, 333 – 338, 342 f., 347 – 352, 357, 360 f., 363, 384, 396 – 400, 402 f., 419, 422, 425, 427, 430, 443, 453, 457, 462, 660, 673, 679, 703, 708, 718, 734 f. – Lehre 180, 184, 767 – 769 Rechtsphilosophie 19, 454 f. Rechtstheologie 497 Rechtswissenschaft 282, 291 Reformation, Kölner 66, 68 f. Reformation, Nähere 693 f. Reformationsforschung, katholische 215, 218 Reformatorenporträt 76 Reformierte Scholastik; Siehe Scholastik, reformierte Reformiertentum 17, 179 – 181, 187, 189, 300, 415 f., 612 – 615, 619 f., 623, 625 f., 629 – 632, 634 f., 637 f., 689, 705, 709 f., 739 f., 742 f., 747, 757 f., 763 Regensburger Buch 100, 310 Regensburger Reichstag; Siehe Reichstag, Regensburger Regensburger Religionsgespräch; Siehe Religionsgespräch, Regensburger Regiment, weltliches; Siehe Obrigkeit, weltliche
Sachregister
Regimentenlehre 194 Reich Christi 442 Reichsfürst 101 Reichspolitik 299 Reichsrecht 299 Reichsreligionspolitik 298 Reichsstand 101 Reichstag 160, 264, 267, 308, 310 – Augsburger 38, 41, 98 f., 101, 103, 162, 166, 221 f., 226, 308 f., 411, 429, 441, 536, 544 f., 582, 587 f., 720, 746, 767 – 769 – Nürnberger 30 – Regensburger 36, 98, 161, 587 – Wormser 138, 162 – Speyerer 32, 98, 101, 129, 137, 162 f., 239, 298, 313 Reichstagsabschied, Speyerer 102 Rekatholisierung 174 Religionsfrieden, Augsburger 40, 112, 114, 175, 298, 686, 742 Religionsgespräch 3, 97 f., 100, 105, 227 f., 269, 298, 308, 310, 315, 571, 702 – 704 – Frankfurter 742 – Hagenauer 68, 100 – Marburger 33, 61, 66, 98, 163, 410, 575, 739 f., 742 – Regensburger 68, 98, 100, 103, 161, 308 – Wormser 36, 41, 66, 68, 71, 100, 104, 193, 201, 267, 298, 308, 313, 315, 412, 587, 721, 740, 743 Religionspolitik 296, 299, 648, 651 f. Religionsunterricht 252, 256 Remonstranten 632, 688 – 694, 706 Rhetorik 3, 5, 18, 144 – 149, 234, 236, 238 – 243, 245, 247, 256, 268 f., 278, 280, 321 f., 325 – 328, 395 f., 455, 477, 515 – 519, 521 – 526, 528 – 530, 554, 559 f., 593 f., 598 f., 601, 612 f., 615, 631, 684, 701, 762 f. Ritual 109, 347 f. Rosenkreuzer 618, 633 Sabbatarier 747 Sakrament 37, 131, 136, 383 f., 388, 419 f., 422 – 425, 427, 429, 444, 769 Sakramentariertum 750 Sakramentenlehre 170, 196, 201, 228, 310, 334, 337, 343, 410, 439 Sakramentenstreit 66 Satire 274
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Schmalkaldische Artikel; Siehe Artikel, Schmalkaldische Schmalkaldischer Bund 35 f., 67, 101, 120, 162, 172, 174, 313, 659 – 661, 664 f., 667, 669 – 672, 702, 704 Schmalkaldischer Bundestag 98, 196 Schmalkaldischer Krieg 38, 69, 101 – 103, 160, 172 f., 226 f., 299, 311, 316 Scholastik 27 f., 30, 143, 146, 153, 181, 219, 239, 241, 245, 252, 334 f., 344, 377, 379, 397, 469, 471 f., 497, 499 – 501, 503, 516, 519, 522 – 526, 538 f., 543, 554, 710, 724 – reformierte 694 Schöpfung 157, 161, 209, 333, 335, 337, 339, 363 – 365, 367 – 375, 500, 502, 618 – Lehre 37, 363 f., 370, 373, 398 f. – Theologie 219, 366, 405 f. Schriftauslegung 68, 516 Schulbuch 548 Schuldogmatik 363 Schulgründung 31 Schulordnung 137, 251, 256, 263, 593 Schulvisitation 144 Schulwesen 131, 167, 182, 298, 311, 747 – 750 Schwabacher Artikel; Siehe Artikel, Schwabacher Seele, Unsterblichkeit der 403, 617 f., 622 Seelsorge 395 Semantik 554, 556 Sentenz 28, 274, 379 Sittengesetz 386 Soteriologie 180, 182 f., 185, 211, 228, 252, 392, 404, 460 f., 464, 499, 502 f., 626, 637, 735 Speyer, Reichstag zu; Siehe Reichstag zu Speyer Speyerer Protestation; Siehe Protestation, Speyerer Speyerer Reichstagsabschied; Siehe Reichstagsabschied, Speyerer Spiritualisten 193 f., 202 Sprichwort 274 Staatenversammlung, Niederlande 684 Stegreifdichtung 264 Stiftung, kirchliche 297 Stoa 339, 344, 365 f., 368, 399, 402, 404 f., 454, 470, 475, 490, 499 – 501 Studia humanitatis 592 Studienordnung 144 Studienreform 592
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Sachregister
Sünde 182, 243 f., 333 f., 338 – 343, 347 – 352, 355 – 361, 367 f., 378 – 380, 383, 390, 393, 395, 397, 399 – 403, 410, 413, 427, 432, 440, 442 f., 464, 583, 586, 651, 689, 693, 731 Sündenfall 500, 502 Sündenlehre 333, 397, 618 Sündenvergebung 381, 390, 405 Sündhaftigkeit 348 Syllogistik 520 Synergismus 173, 353 Synode 686, 689, 691, 694, 710 – Dordrechter 692, 706 f. Syntax 238, 683 Taufe 130, 136, 254, 259, 710 Täufer 131, 175, 193 – 202, 298 f., 437, 441, 459, 461, 473, 498, 502, 587, 684, 686, 718, 760 Tauflehre 169 Theater 601 Theateraufführung 267 Theaterprolog 271 Theaterstück 148 Theologenkonvent, Naumburger 98 Theologia – crucis 378 – gloriae 378 – naturalis 387 Tischgebet 445 Todesstrafe 299 Toleranz 731 Topik 19, 264, 322 – 329, 377, 517, 520, 522, 528 f., 544, 615 f., 619, 636, 736 – visuelle 74 Topos, visueller 76 Torgauer Artikel; Siehe Artikel, Torgauer Torgauer Bund 162 Traduzianismus 617 Tragödie 263, 593, 600, 605 Translationsrecht 105 Translationstheorie 104 Transsubstantiation 28, 210 Trienter Konzil; Siehe Konzil von Trient Trinität 37, 187 f., 194, 201, 211, 333, 338, 363, 371, 389, 405 f., 434, 447, 623, 709 f., 719 f., 722, 758 – 761, 763 f. Trivium 143, 149, 559 – 561, 593 Tugendlehre 458
Türken 205 – 212, 372, 442, 579, 582 – 584, 720, 745, 747, 753 Türkenkrieg 136 Tutorensystem 445 Ubiquitätslehre 634, 685 Ultralutheraner 695 Unionstheologie 181, 185 Unitarier 720 Universalgeschichte 577 f., 580, 585, 588 Universalienstreit 26 Universität 443, 445 – Gründung 298 – Lehrbetrieb 581 – Ordnung 263, 593, 607 – Reform 144, 571, 729 Vergebung 32, 115, 130, 158 f., 161, 167, 211, 334, 338, 342, 347 – 349, 351 f., 355 f., 358 – 361, 378, 381, 383, 390, 393, 398, 401, 413, 464, 703, 706, 735 Verheißung 238, 244 f., 334 f., 341 – 343, 347 f., 352 – 356, 361, 372, 383, 388, 398, 401 f., 404 f., 409 f., 413 f., 416, 435, 464, 731, 734 f. Vermittlungstheologie 181, 185, 218 Vernunft 156 f., 209, 343, 350 f., 353, 364, 366 – 368, 373, 375, 378, 388, 390, 396 f., 399, 440, 501, 503, 531, 611, 620, 638 f., 689, 724 – 726 Versöhnung 6, 211, 338, 342 f., 349, 355, 357, 360, 384, 448, 464, 479 Via antiqua 26 Via moderna 26 Visitation 125, 129 – 134, 136 f., 195, 256, 430, 571 – Artikel 134, 137, 683 – Ordnung 132 – Reise 439 Vorsehung 364 – 368, 374 Vulgata 28, 170 Weidaer Artikel; Siehe Artikel, Weidaer Weissagung – Daniel 581 – Elia 581 f. – Hesekiel 584 Welt, Greisenalter 586 Weltbild, heliozentrisches 470, 476 Weltgeschichte 19, 584, 586, 588 f.
Sachregister
Werke, gute 114, 173, 348, 351 f., 679, 691, 703 Werkgerechtigkeit 211, 703 Westfälischer Frieden 175 Widerstandslehre 299 Widerstandsrecht 100 f., 160, 297 Widmungsbrief 313 Wiederkehr Christi 441 Wiedertaufe 195, 201 f. Willensfreiheit 110, 116, 136, 149, 168, 179, 182, 186, 340, 343 f., 367, 375, 395 – 397, 401 – 406, 439 – 441, 454, 458, 462, 472, 486, 539, 626, 631, 660, 686, 689, 691 – 693, 703, 722, 727, 730, 733, 753 Willenslehre 29, 115 – 117, 184, 341, 378, 397, 399, 402, 405 f., 486, 707 Wittenberger Artikel; Siehe Artikel, Wittenberger Wittenberger Kirchenordnung; Siehe Kirchenordnung, Wittenberger
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Wittenberger Konkordie; Siehe Konkordie, Wittenberger Wormser Buch 36 f., 68, 103 Wormser Edikt 29, 32, 34, 98, 162 f. Wormser Religionsgespräch; Siehe Religionsgespräch, Wormser Wort Gottes 348, 350, 352, 354 f., 357, 359, 689, 707 Zeitalter, Abfolge 582 Zeitrechnung 585 Zensur 762 Zensurverfahren 295 Zeremonie 129 f., 136, 347 f. Zölibat 165, 673, 703 f. Zorn Gottes 206, 339, 393 Zwei-Naturen-Lehre 110, 117, 205, 211, 338 f., 361, 380, 387, 758 Zwei-Reiche-Lehre 101 Zwickauer Propheten 193, 473, 587 Zwinglianismus 66, 180
Autorenverzeichnis Bihlmaier, Sandra, M.A., Doktorandin am Institut für Philosophie des Karlsruher Instituts für Technologie. Daugirdas, Kęstutis, Dr. theol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz, Privatdozent an der Ev.-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Delgado, Mariano, Dr. theol., Dr. phil., Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Freiburg/Schweiz. Djubo, Boris, Dr. habil., Professor am St. Petersburger Lehrstuhl für Fremdsprachen der Russischen Akademie der Wissenschaften. Ehmann, Johannes, Dr. theol, apl. Professor, lehrt hauptberuflich an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Frank, Günter, Dr. theol., Dr. phil. habil., apl. Professor am Institut für Philosophie des Karlsruher Instituts für Technologie, Direktor der Europäischen Melanchthon-Akademie Bretten. Freudenberg, Matthias, Dr. theol., apl. Professor für Systematische Theologie, Landespfarrer bei der Ev. Studierendengemeinde Saarbrücken. Fuchs, Thorsten, Dr. phil., Studiendirektor an der Goetheschule Wetzlar für die Fächer Geschichte, Latein und Griechisch. Gerner-Wolfhard, Georg Gottfried, Dr. theol., Kirchenrat i.R., Honorarprofessor der Ev. Hochschule Freiburg. Gößner, Andreas, Dr. theol., Dr. phil., apl. Professor an der Theologischen Fakultät der GeorgAugust-Universität Göttingen, seit 2013 Inhaber eines Heisenberg-Stipendiums der DFG. Greschat, Martin, Dr. theol., Professor em. für Kirchengeschichte, Honorarprofessor der Ev.‐Theologischen Fakultät der Universität Münster. Grosse, Sven, Dr. theol., Professor für Historische und Systematische Theologie an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel. Helm, Jürgen, PD Dr. med., Geschäftsführer der Ethik-Kommission der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Bo Kristian Holm, PhD, Associate Professor for Systematic Theology, Aarhus University. Jung, Martin H., Dr. theol. habil., Universitätsprofessor für Historische Theologie am Institut für Ev. Theologie der Universität Osnabrück. Kolb, Robert, Ph.D., Professor emeritus of systematic theology, Concordia Seminary, Saint Louis, USA.
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Autorenverzeichnis
Krentz, Natalie, Dr. phil., akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Link, Christian, Dr. theol., Professor em. für Systematische Theologie, Ruhr-Universität Bochum. Maag, Karin, PhD, Director of the H. Henry Meeter Center for Calvin Studies and Professor of History at Calvin College, Grand Rapids, Michigan, USA. Methuen, Charlotte, PhD, Senior Lecturer in Church History, University of Glasgow. Mühling, Andreas, Dr. theol., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier. Müller, Andreas, Dr. theol., Professor für Kirchen- und Religionsgeschichte des 1. Jahrtausends an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Mundhenk, Christine, Dr. phil., Leiterin der Melanchthon-Forschungsstelle, Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Neumann, Hanns-Peter, PD Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Plathow, Michael, Dr. theol. habil., Pfarrer, Professor em., Theologische Fakultät der RuprechtKarls-Universität Heidelberg. Rahner, Johanna, Dr. theol., Professorin für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie an der Kath.-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Rasmussen, Tarald, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte, Universität Oslo. Reich, Ulrich, Prof. i.R., Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft, Fakultät für Informatik und Wirtschaftsinformatik. Schneider, Martin, Dr. theol., Pfarrer i.R. und Kirchenhistoriker. Selderhuis, Herman J., Dr. theol., Dr. h.c., Professor an der Theologischen Universität Apeldoorn, Direktor Refo500. Sparn, Walter, Dr. theol., Professor em. des Theologischen Fachbereichs der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Stössel, Hendrik, Dr. theol., Pfarrer, theologischer Referent der Ev. Landeskirche in Baden an der Europäischen Melanchthon-Akademie Bretten. Stricker, Nicola, Dr. theol., apl. Professorin am Institut Protestant de Théologie in Paris, Landespfarrerin bei der Ev. Studierenden-Gemeinde Düsseldorf. Strohm, Christoph, Dr. theol., Professor für Reformationsgeschichte und Neuere Kirchengeschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Vogel, Lothar, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte an der Facoltà valdese di teologia in Rom.
Autorenverzeichnis
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Voigt-Goy, Christopher, PD Dr. theol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Weaver, William P., Ph.D., Associate Professor of Literature in the Honors College, Baylor University, Waco, Texas, USA. Weigel, Maria-Lucia, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Europäischen MelanchthonAkademie Bretten Wengert, Timothy, J., Ph.D., Ministerium of Pennsylvania emeritus Professor of Church History, the Lutheran Theological Seminary at Philadelphia, USA. Wolgast, Eike, Dr. Dr. theol. h.c., Professor em., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Wriedt, Markus, Dr. theol., Dr. theol. habil., Professor für Kirchengeschichte am Fachbereich Ev. Theologie der Goethe Universität Frankfurt am Main.