Perspektiven Philosophischer Praxis: Eine Profession zwischen Tradition und Aufbruch 9783495999844, 9783495999837


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German Pages [273] Year 2022

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil I: Präludium
1. (Wieder-)Geburt: Die Philosophische Praxis bei Gerd B. Achenbach
2. Antike Orientierungen: Diskurspraxis und Lebensform
3. Positionen zur Philosophischen Praxis
4. Bemerkungen zur Begrifflichkeit
Teil II: Praxis zwischen Engagement, Begegnung, Kritik und Transformation
5. Praxis als Weltöffnung: Der Praxisbegriff bei Hannah Arendt
6. (Proto-)Politische Praxis im Lichte sokratischer Pluralität und Subversion
7. Praxis im Geiste nicht-doktrinären und kritischen Philosophierens
8. Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur
9. Ausblick I: Philosophische Praxis als transformative Praxis?
10. Ausblick II: Die Frage nach Philosophischer Praxis als Institution
Teil III: Philosophische Praxis im Kontext von Haltung und Lebensform
11. Philosophische Praxis im Spannungsfeld spätmoderner Subjektkultur
12. Ethos, Haltung und Vermögen
13. Am Konnex von Lebensform und Weltweisheit
14. Das Transformatorenwerk Leipzig: Ein Ein- und Ausblick
Resümee und Ausblick
Literaturverzeichnis
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Perspektiven Philosophischer Praxis: Eine Profession zwischen Tradition und Aufbruch
 9783495999844, 9783495999837

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Grundorientierungen Philosophischer Praxis

Jirko Krauß

Perspektiven Philosophischer Praxis Eine Profession zwischen Tradition und Aufbruch

https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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Jirko Krauß

Perspektiven Philosophischer Praxis Eine Profession zwischen Tradition und Aufbruch

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Jirko Krauß Perspectives of Philosophical Practice. A profession between tradition and departure There lays great potential in philosophical practice in many regards – both for advice seeking individuals or groups and organisations as interlocutor, for society as value-based institution, for philosophy as an academic field and a source of experience and finally, as way of living, profession and a vocation for philosophers. Here, being presented as a self- and world-opening practice as well as being engaged, non-dogmatic, protopolitic at least, sometimes connecting, sometimes differentiating and positioning, but still encountering and critically-emancipatory. The author: Jirko Krauß is a philosophical practitioner & mediator, lecturer & initiator. He studied political and social sciences and completed his doctorate in them, has a master‘s degree in philosophy as well as in mediation and philosophical practice (University of Vienna). Since 2012 he has been working with individuals, groups and organisations on existential and social issues. He is a freelance lecturer at various universities, colleges and academies as well as an organiser and coorganiser of various events (e.g. Leipzig denkt). His focus is on philosophical practice (dialogue, attitude, transformation, mediopassive and medial forms of action, corporeality, strangeness, self-care), ethics (attitude, art and skill of living, leadership and business ethics, mindfulness) and social philosophy (critique, critical freedom, resonance) as well as mediation research. Since 2017, he has been on the board of the International Society for Philosophical Practice as well as a lecturer in the educational course Philosophical Practice of the professional association. In the Transformatorenwerk Leipzig project, of which he is the first chairman, he tries to make philosophical practice work interdisciplinarily and to try it out as a way of life.  

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Jirko Krauß Perspektiven Philosophischer Praxis Eine Profession zwischen Tradition und Aufbruch In Philosophischer Praxis steckt in vielerlei Hinsicht großes Potential – sowohl für ratsuchende Menschen, Gruppen und Organisationen allgemein als Dialogpartner, für Gesellschaft als wertvolle Institution, für Philosophie als Disziplin als Erfahrungsbasis und Forschungsfeld und letztlich für Philosophen selbst als Beruf, Berufung und Lebensform. Sie wird hier vorgestellt als eine selbst- und weltöffnende und -erschließende Praxis, die sich als eine engagierte, mindestens protopolitische, nicht-dogmatische, manchmal verbindende, manchmal differenzierende und positionierende, trotzdem begegnende und zugleich emanzipativ-kritische zu zeigen vermag. Der Autor: Jirko Krauß ist Philosophischer Praktiker & Mediator, Dozent & Initiator. Studium der Staats- u. Sozialwissenschaften (Dipl.-Staatswiss.; Promotion Dr. phil.), Philosophie (M.A.) u. Mediation (M.M.) sowie Philosophische Praxis (Uni Wien). Seit 2012 arbeitet er mit Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen an existenziellen und gesellschaftlichen Themen. Er ist freiberuflicher Dozent an verschiedenen Universitäten, Hochschulen und Akademien sowie Veranstalter und Mitorganisator verschiedener Events. Seine Schwerpunkte liegen in der Philosophischen Praxis (Dialog, Haltung, Transformation, Mediopassiv und mediale Handlungsformen, Leiblichkeit, Fremdheit, Selbstsorge), der Ethik (Haltung, Lebenskunst und -könnerschaft, Führungs- und Unternehmensethik, Achtsamkeit) und der Sozialphilosophie (Kritik, kritische Freiheit, Resonanz) sowie der Mediationsforschung. Seit 2017 ist er im Vorstand der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis sowie Dozent im Bildungsgang Philosophische Praxis des Berufsverbandes. Im Projekt Transformatorenwerk Leipzig, dessen erster Vorsitzender er ist, versucht er, Philosophische Praxis interdisziplinär wirken zu lassen und als Lebensform zu probieren.

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Das Copyright für das Umschlagbild liegt bei Ralf Menzel aus Dresden.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99983-7 (Print) ISBN 978-3-495-99984-4 (ePDF)

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1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Für meinen Bruder

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Teil I: Präludium 1.

(Wieder-)Geburt: Die Philosophische Praxis bei Gerd B. Achenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

2.

Antike Orientierungen: Diskurspraxis und Lebensform . .

33

3.

Positionen zur Philosophischen Praxis . . . . . . . . . . .

43

4.

Bemerkungen zur Begrifflichkeit

57

. . . . . . . . . . . . .

Teil II: Praxis zwischen Engagement, Begegnung, Kritik und Transformation 5.

Praxis als Weltöffnung: Der Praxisbegriff bei Hannah Arendt

65

6.

(Proto-)Politische Praxis im Lichte sokratischer Pluralität und Subversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Praxis im Geiste nicht-doktrinären und kritischen Philosophierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

100

Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

Ausblick I: Philosophische Praxis als transformative Praxis?

155

7. 8. 9.

10. Ausblick II: Die Frage nach Philosophischer Praxis als Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

9 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Inhaltsverzeichnis

Teil III: Philosophische Praxis im Kontext von Haltung und Lebensform 11. Philosophische Praxis im Spannungsfeld spätmoderner Subjektkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Ethos, Haltung und Vermögen

. . . . . . . . . . . . . . 211

13. Am Konnex von Lebensform und Weltweisheit . . . . . . 14. Das Transformatorenwerk Leipzig: Ein Ein- und Ausblick Resümee und Ausblick

191

228

. 249

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Wenn unter einer Vorstellung von Philosophie allgemein der Versuch verstanden wird, begriffliches Licht in wichtige Erfahrungen des menschlichen Lebens zu bringen, kann dies wohl insbesondere als ein Credo Philosophischer Praxis angesehen werden. Weil hier zumeist wichtige Erfahrungen aus dem Leben im Zentrum stehen, geht es dabei um etwas, das für die Erfahrenden irgendwie auf dem Spiel steht. Will man aber über diese überaus allgemein gehaltene Bestimmung hinaus etwas konkreter fassen, was es mit Philosophischer Praxis auf sich hat, stößt man sehr schnell auf erhebliche Schwierigkeiten. Philosophische Praxis tritt uns in einer Fülle höchst unterschiedlicher Erscheinungsformen gegenüber, ein Umstand, dem das vorliegende Buch Rechnung zu tragen versucht. Perspektiven Philosophischer Praxis – dieser Titel lässt bereits erahnen, dass es um verschiedene Blickwinkel auf etwas geht, das als Bezeichnung verschiedene Dinge meinen kann. Und je nach Gemeintem ändert sich wiederum die Perspektive auf diesen immer wieder neu auszuleuchtenden Raum. Es macht einen Unterschied, ob ich von einer Dienstleistung spreche oder einem Setting, einem Beratungsgespräch oder einer ganzen Reihe von Formaten, einem Ort oder einer besonderen Weise der Begegnung, ob damit ein Beruf oder eine mit einem besonderen Ethos bzw. einer Lebensform verbundene Berufung gemeint ist. Auf all das kann die Bezeichnung zutreffen. In dieser Arbeit wird Philosophische Praxis vor allem als eine Idee gedacht. Dabei soll keine systematische Theorie geliefert werden – aus einer gewissen Skepsis heraus darf gefragt werden, ob und inwiefern es überhaupt einer solchen bedarf. Reflexionen und Auseinandersetzung braucht es hingegen schon. Entspricht der Charakter Philosophischer Praxis nicht eher dem offener als systematisierender Denkformen? Die Ausführungen sind daher eher essayistisch gehalten. Die Bezeichnung Perspektiven scheint dafür aus vielerlei Gründen geeignet zu sein. Um eine Per11 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Einleitung

spektive einnehmen zu können, ist jeweils ein konkreter Standort nötig, von dem aus geblickt wird. Sowohl dieser selbst als auch dessen Wahl bedürfen eines Blickenden 1 – was auch für den Standortwechsel und den damit verbundenen Perspektivenwechsel gilt. Es kann nicht der Anspruch des Blickenden sein, jegliche Perspektive auf den Gegenstand einzunehmen, um nur möglichst alles zu beleuchten. Das ist nicht die Absicht des Blickenden. Es geht vielmehr um die Wahl der Standorte, also darum, möglichst interessante Perspektiven bieten zu können – was vielleicht nicht immer gelingen mag. Die einzelnen Abschnitte des Buches blicken aus einer je etwas größeren Entfernung auf den Gegenstand Philosophische Praxis – Distanz schafft Klarheit. Es handelt sich dabei um Versuche, die vor allem zum Denken und zur Auseinandersetzung mit dem Gedachten anregen sollen. Die Frage nach der Philosophischen Praxis wird für Philosophen gerade deswegen, weil sie hier nicht in Gänze beantwortet werden soll und aufgrund eines immer auch offenen und dynamischen Charakters wohl nicht beantwortet werden kann, zu einem je individuellen kreativen Schlüsselimpuls. Philosophische Praxis, so könnte gesagt werden, ist daher vor allem aufgegeben. Das Aufmachen verschiedener Perspektiven soll einzelne Aspekte sichtbar und verstehbar machen, bisweilen den Horizont weiten und Möglichkeiten eröffnen. Immer wieder wird der entfernte Standort aber verlassen, um einzelne Gesichtspunkte ein wenig näher zu betrachten. Viele dieser Aspekte können als Ausgangspunkte verstanden werden, natürlich für die Praxis, aber ebenso für eine Vertiefung, also fürs Weiterdenken und die fachliche (auch wissenschaftliche) Auseinandersetzung. Philosophische Diskussionen werden dabei bisweilen angerissen, können aber nicht weiter vertieft werden. Auch ein kritisches Beleuchten von Theorieansätzen sowie den einzelnen hier als Komplizen aufgerufenen Denkern hätte den zur Verfügung stehenden Rahmen gesprengt. In erster Linie geht es stets darum, wie die vorgebrachten Ideen, Gedanken, Fragen usw. zur Orientierung über Philosophische Praxis beitragen können. Insofern ist nicht eine erschöpfende Darstellung einzelner Aspekte beabsichtigt, sondern vielmehr eine kursorische Sichtung – auch unter Auslassung

In diesem Buch wird in der Regel das generische Maskulinum verwendet, das gleichwertig alle biologischen Geschlechter meint.

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Einleitung

wichtiger Aspekte wie etwa konkreterer Fragen nach dem Methodischen. 2 Neben einem einführenden ersten Teil, der einen fragmentarischen Blick auf die Landschaft Philosophischer Praxis, auf antike Referenzen und begriffliche Überlegungen werfen möchte, stehen zwei eher positionierende Skizzen im Zentrum. Die Arbeit möchte nicht in Gänze klären, was Philosophische Praxis sei. Dazu gibt es einen mittlerweile fast 40-jährigen Diskurs. Die Bandbreite ist hier, wie Philosophie selbst, recht groß. Es gibt aber nicht nur diese Vielfalt von einzelnen Positionen, Verständnissen und Praktikern selbst, das Spektrum kann auch innerhalb der je eigenen Praxis eine gewisse Breite haben. Und das ist wohl weitgehend gut so. Michael Hampe (2016) hat in seinem Buch Die Lehren der Philosophie zwei große Stränge der Philosophie nachgezeichnet: Der erste Strang, heute der dominante und vor allem an der Universität maßgebliche, zeichne sich dadurch aus, dass hier wie in den Wissenschaften Behauptungen über die Welt aufgestellt würden und er daher, stark vereinfachend dargestellt, einen doktrinären Charakter besitze. Demgegenüber gebe es einen zweiten Strang, der schon bei bzw. mit Sokrates beginne und eine Art Reaktion auf das Aufstellen von Behauptungen sei. Diese nicht-doktrinäre Form, die sich bereits in den sokratischen Gesprächen deutlich zeige, sei geprägt vom kritischen und vom experimentellen Nachdenken über mögliche Bedeutungen. Die vorliegende Arbeit sieht sich vorwiegend in dieser letzteren Tradition verortet. Ziel dieser Arbeit soll es daher weniger sein, Behauptungen über die Philosophische Praxis aufzustellen oder gar, um es zu wiederholen, eine Theorie über sie anbieten zu wollen. Vielmehr wird es darum gehen, einige Aspekte aufzuzeigen und zu reflektieren. Hier braucht es keinen Dogmatismus, die notwendige Lernwilligkeit sowie -fähigkeit aber schon. Der Begriff der Philosophischen Praxis wird in dieser Arbeit als ein Sammelbegriff für verschiedene Formen, Praktiken bzw. Formate verwendet, was genauer auszuführen sein wird. Außerdem soll mit der steten Weglassung des Artikels deutlich gemacht werden, dass es die Philosophische Praxis nicht gibt. Wenn in dieser Arbeit von Philosophischer Praxis die Rede ist, dann ist oft eine Idee gemeint, die Siehe dazu stattdessen die überaus wertvollen Bücher von Thomas Stölzel: Staunen, Humor, Mut und Skepsis (2012), Fragen – Lösen – Fragen (2014) und Die Welt erkunden (2015), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Einleitung

breiter ist und deren Ränder nicht klar zu erkennen sind, nicht ein konkretes Format oder eine konkrete Dienstleistung. Wenn es um dieses Letztere gehen soll, werden andere konkretisierende Bezeichnungen verwendet, etwa philosophische Lebensberatung (oder nur Lebensberatung). Mit der Großschreibung von Philosophischer Praxis im Gegensatz zur philosophischen Praxis wird hier der Tradition gefolgt. Es ließe sich vielleicht am besten mit Ran Lahav (2017, 18) sagen, dass Philosophische Praxis eine »aktuelle Bewegung [sei, JK], die von der Vision beflügelt ist, dass die philosophische Reflexion für unseren Alltag relevant ist«. Philosophische Re-flexion kann hier vor allem im Sinne einer Umwendung des Blicks verstanden werden, gerichtet auf den Grund einer Fragestellung, ansetzend sowohl an den Wurzeln als auch an den Grenzen, um diese zu überschreiten. In diesem Buch soll es um eine Weise des Philosophierens gehen, aus deren Diskussion heraus gegen Ende auch eine Art zu leben aufscheint – und immer geht es dabei nicht nur um die Art und Weise, sondern um ein Selbstverständnis von Tätigkeit und Person, die sich in einer Haltung zeigt. Hierzu gehört auch die Frage nach der Rolle und einem Selbstverständnis von Philosophischen Praktikern (und damit von Philosophie). Und immer wieder geht es auch um ein kritisches Hinterfragen der Praxis selbst. Die Arbeit verfolgt dabei insgesamt mehrere Ziele und ist dementsprechend aufgebaut. Im ersten Teil sollen einige allgemeine Aspekte beleuchtet werden, die im Diskurs eine Rolle spielen. Dies kann als eine einführende Perspektive verstanden werden. Bezugspunkt sind dabei zunächst die grundlegenden Ausführungen von Gerd B. Achenbach, die auch immer wieder als Referenz für den weltweiten Diskurs über das Thema dienen. Hinzu kommt eine seit jeher immer wieder genannte zweite Referenz, nämlich der Ursprungsort westlicher Philosophie in der griechischen Antike. Die vorliegende Untersuchung ist allerdings keine Arbeit über den Diskurs zur Philosophischen Praxis, der weltweit mittlerweile kaum noch überschaubar ist. Trotzdem soll ein wiederum fragmentarischer Blick auf die Landschaft einen kleinen Eindruck vermitteln. Bisweilen werden einige Aspekte kurz diskutiert – dies geschieht allerdings nicht systematisch, sondern in einer den Interessen des Autors folgenden Weise. Der erste Teil schließt mit einer kurzen begrifflichen Reflexion, die als keinesfalls abgeschlossen gelten, sondern als Diskussionsgrundlage dienen soll.

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Einleitung

Im zweiten Teil werden Gedanken zu einer Idee von Philosophischer Praxis angestellt, die sich aus verschiedenen Elementen speist, etwa einem Verständnis von Philosophie überhaupt sowie von der möglichen Rolle, Bedeutung und möglichen Funktion einer solchen Praxis für die Menschen. Lässt sich Philosophische Praxis in diesem Sinne als eine förderliche Praxis dessen ausweisen, was Michael Hampe (2018) in einem Essay als Dritte Aufklärung fordert? Eine solche hält er eindringlich für geboten, weil sich große Teile der Menschheit trotz des technischen Fortschritts und der Vermehrung des Wohlstands von einer aufgeklärten Lebensform entfernten, um sich scheinbar »zunehmend in Neigungen zu Gewalt, Täuschung, Intransparenz und Unmündigkeit zu verstricken.« (Ebd., 42) 3 Philosophische Praxis zielt auf Selbstaufklärung, ohne dabei aber bloß Ausdruck und Instrument einer hyperindividualistischen Gesellschaft zu sein. Hampe (2018, 31) ist beizupflichten, wenn er schreibt: »Doch ein aufgeklärtes Leben ohne Solidarität, ohne eine Basis geteilter Wahrheiten ist unmöglich.« Auch dieser Frage, was das für den Gegenstand der Untersuchung bedeuten kann, soll in diesem Buch immer wieder nachgegangen werden. Dies beginnt beim Nachzeichnen eines Praxisbegriffs, der sich, so der Verdacht, als eine fruchtbare Orientierung für Philosophische Praxis erweisen kann, die sich als eine engagierte versteht. Ein solcher Begriff lässt sich bei Hannah Arendt ausmachen, auch wenn diese vom Handeln spricht, kaum von Praxis. Es ist hinlänglich bekannt, dass sich Arendt für ein Engagieren in der bzw. für die Welt einsetzt, aber es ist eben nicht klar, welche konkrete Rolle Philosophische Praxis dabei spielen könnte. Dieser Frage nachzugehen ist ebenfalls Gegenstand der Arbeit, die immer wieder auch aus praxeologischer Perspektive untersucht. Dass es dabei nicht um eine abschließende Antwort gehen kann, versteht sich angesichts der Problematik eigentlich von selbst. Auch hier geht es eher um Impulse zur Eröffnung einer Diskussion. Zu einer ähnlichen Diagnose kommt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot (2020, 16 f.): »Das libertär-liberale Konzept von Freiheit als Ungebundenheit und Selbstbestimmung ist am Ende. Und das (globale) Gemeinwohl ist eine Chimäre. Die neue narzisstische Kränkung, die sich aus dieser Erkenntnis ergibt, wird nicht leicht zu verdauen sein. Der Mensch als Herr der Schöpfung hat versagt (…) Das heutige ›Heute‹ ist anti-aufklärerisch, insofern es nur nach technologischen Lösungen verlangt und überhaupt keinen aufklärerischen, eben der Vernunft inhärenten Anspruch formuliert, uns als Personen oder als Gesellschaft besser zu machen.«

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Einleitung

Was kann also diese besondere Weise des praktischen Engagements für die Welt sein? Dies hat etwas, so die Vermutung, mit der zu erhellenden und klärenden Rolle von Philosophischer Praxis dieser Lesart zu tun. Sie kann, das wird zu zeigen sein, als die Idee einer Räume öffnenden Praxis ausgewiesen werden, die auf eine besondere dialogische, nicht-dogmatische Art des Miteinander-Sprechens und Miteinander-Philosophierens auf verschiedene Weise wirken kann. Sie kann sich zeigen als welterschließend und -öffnend, mindestens proto-politisch und ethisch, manchmal verbindend, manchmal differenzierend und positionierend, als orientierend, verstehend und ergründend, unter Umständen sogar als transformierend. »Philosophie«, schreibt Merleau-Ponty (1966, 18), »heißt in Wahrheit, von neuem lernen, die Welt zu sehen«. Diskutiert werden soll zunächst die Weise einer mindestens proto-politischen Praxis, die, zunächst wieder ausgehend von Hannah Arendt, Bezug nimmt auf Sokrates. Diese Weise, die vor allem eine dialogische ist, könnte vielleicht als Erhellung und Erfahrung der Pluralität des sowie der Menschen bezeichnet werden. Sie vermag es, so die These, auch Basisarbeit für ein gelingenderes Zusammenleben in heterogenen Gesellschaften zu leisten, weil durch ihre Praxis, insbesondere jene im öffentlichen Raum, Arbeit an der Meinungstoleranz betrieben sowie Wahrhaftigkeit in der Öffentlichkeit gefördert wird. Dies tut sie schon im Schaffen vertrauensvoller und angstfreier Atmosphären öffentlichen Miteinander-Sprechens, aus denen auch offene und kritische Debatten erwachsen können. Der Übergang vom Proto-Politischen zum Politischen ist hier fließend. 4 Als politisch lässt sich bei einer derartigen sokratischen Praxis aber nicht nur die Pluralität ausweisen, sondern auch das subversive Moment – womit sich eine so verstandene Weise Philosophischer Praxis nicht nur an konsensorientierte liberale Ansätze politisch-philosophischer Theorie anbinden lässt, sondern auch an solche radikaler DemokratieGrundsätzlich ist hier vom Politischen im Unterschied zur Politik die Rede, ohne allerdings tiefer in die Diskussion über deren Verhältnis einzusteigen. Es sei darauf verwiesen, dass es verschiedene Weisen gibt, diese Differenz zu deuten. Diese Differenz jener beiden Verständnisse dient verschiedenen poststrukturalistischen und postmarxistischen Autoren als Ausgangspunkt der Reflexion, etwa bei Rancière oder Nancy, Badiou, Laclau und Mouffe sowie Derrida, Agamben oder Latour. Das Politische meint bei Arendt »nicht eine Regeln oder Gesetze erfindende, steuernde Tätigkeit, sondern das ›aktive In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens‹«. (Bedorf 2010, 17) Dies wird zu zeigen sein.

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Einleitung

theorien, denen es um Umgestaltung und das Herausheben von Dissensen geht. Allerdings darf hier eine Praxis im theoretischen Feld, der es um Theoriebildung geht, nicht mit der hier zu untersuchenden Praxis in der Lebenswelt verwechselt werden. Auch wenn in dieser Sache die Rede vom Politischen bzw. Proto-Politischen ist, soll die hier untersuchte Praxis ohnehin eher unter einem etwas umfassenderen sozialphilosophischen Blickwinkel gesehen werden. Diese Aspekte können und sollen in der vorliegenden Arbeit lediglich anregend als Ausgangspunkt für die weitere Überlegung, Diskussion und Forschung verstanden werden. Als sokratische Praxis kann auch jene Weise Philosophischer Praxis verstanden werden, die im Geiste nicht-doktrinären und emanzipativ-kritischen Philosophierens skizziert werden soll. Das damit untrennbar verbundene praktische Engagement für die Welt läuft dabei im Grunde (fast?) immer über den Menschen selbst, über Bewusstmachung, Einsichten, Erfahrung. Auch in dieser Perspektive kann die Tätigkeit als ein Beitrag zur kulturellen Bildung – und damit zu einer aufgeklärten Kultur – verstanden werden. Bei der Untersuchung des dieser Praxis zugrundeliegenden Verständnisses von Philosophie wird vor allem auf das 2014 veröffentlichte Werk Die Lehren der Philosophie von Michael Hampe (2016) sowie auf verschiedene Arbeiten von Karl Jaspers Bezug genommen. 5 Auch diese beiden beziehen sich teils auf Sokrates selbst, der für Philosophische Praxis ohnehin immer wieder als Referenz angegeben wird. Insofern ist hier Karl Jaspers (1957, 124 f.) zuzustimmen und für die je individuelle Perspektive für die eigene Praxis zu bedenken bzw. aufgegeben: »Kein Philosophieren heute ohne Sokrates, und sei er nur als ein blasser Schimmer aus ferner Vergangenheit fühlbar! Wie einer Sokrates erfährt, bewirkt einen Grundzug seines Denkens.« Diesbezüglich geht es fast ausschließlich um die immer wiederkehrende Frage, was uns unterschiedliche Perspektiven und Deutungen der Figur Sokrates (Böhme) sagen können. Auf die Philosophie von Jaspers, insbesondere in Bezug auf Philosophische Praxis, bin ich zuletzt gemeinsam mit Damian Peikert hier eingegangen: dies.: (1) Bewahre dir den freien Raum des Umgreifenden! Mit Karl Jaspers zur philosophischen Praxis der Stunde, sowie (2) Sag mir, wie hältst Du Wahrheit? Eine Bildbetrachtung, in: Bennent-Vahle, Heidemarie; Miller, Andreas; Schmalfuß-Plicht, Dietlinde (Hg.): »Sag, wie hältst Du’s mit der Wahrheit?« Philosophische Praxis zwischen Dogmatismus und Beliebigkeit (= Jahrbuch der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis, Bd. 9), Berlin/Münster: LIT Verlag (i. E.).

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Einleitung

Philosophische Praxis hat sich von Beginn an, zumindest in Teilen, als eine Praxis mit solch einem Philosophieverständnis gezeigt – vor allem deshalb, weil in ihr genuin das Gespräch im Mittelpunkt steht. Das diesen Ausführungen zugrundeliegende Verständnis geht, wie erwähnt, über das meist übliche und auf ein spezielles dialogisches Beratungsformat bezogene hinaus. Trotzdem bleibt der darin enthaltene Kern erhalten: Die sprachliche Verständigung – an sich essentiell für den Menschen – nimmt hier im besten Falle die besondere Form des gemeinsamen Philosophierens als einer speziellen Form zwischenmenschlicher Verständigung an, die am Ende implizit oder explizit auf das Leben selbst bezogen ist. So meint etwa Lars Leeten (2019, 12), der sich mit dem antiken Gespräch als Teil einer Lebensform auseinandergesetzt hat: »Obwohl es nicht immer gleich erkennbar ist, lässt sich die moderne Idee von der ›Kraft des besseren Arguments‹ in die Traditionslinie einer alten Lehre des guten Lebens einordnen: Wenn sich die Art und Weise, wie wir leben, im Zuge von diskursiven Praktiken ausformt, dann müssen diese Praktiken, recht verstanden, ein Gegenstand der Reflexion über das rechte oder gelingende Leben sein. Die Frage, ›wie zu reden ist‹, fällt in den Bereich der Frage, ›wie zu leben ist‹.«

Dass das Argumentieren dabei nur eine von mehreren Weisen ist, wird zu zeigen sein. Philosophische Praxis tritt nicht als eine Lehre auf. Im Gespräch geht es nicht um die Behauptungen der Praktiker. Überhaupt geht es um verschiedene Weisen des Sprechens. Zentral ist dabei das Miteinander-Sprechen. Dabei stellt sich die Frage, welche Rolle Philosophische Praxis in bzw. für eine allgemeine Gesprächskultur einnehmen kann. Die Arbeit Philosophischer Praxis kann demnach darin bestehen, Menschen in ihrer Sprach- und Sprechfähigkeit zu unterstützen, ihnen also zu helfen, eine Sprache für die je eigenen Erfahrungen, für diejenigen inneren Bewegungen zu finden, für die sie bisher keine richtigen Worte hatten, also Gedanken und Gefühle, Gespürtes, Bedeutungen, Bilder und Erinnerungen sowie Beziehungshaftes. Das kann in vielen Fällen schon genügen. Kann es aber auch darüber hinausgehen und in Transformation münden? Was soll das heißen? Wie kann dies verstanden werden? Stand und steht vielleicht der überwiegende Teil Philosophischer Praxis in der Traditionslinie, die Michel Foucault (2009) als Hermeneutik des Subjekts bezeichnet hat, so stellt sich die Frage, welche Rolle diese Hermeneutik spielen 18 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Einleitung

könnte, wenn sie in Richtung einer Ästhetik der Existenz, um hier bei Foucault (1986) zu bleiben, gedacht, wenn sie also stärker gestaltend, transformierend vorgestellt wird. Merleau-Ponty (1966, 86) meint, es genüge nicht, »Philosophie zu treiben, es bedarf des Bewußtseins der Verwandlung, die die Philosophie selbst im Anblick der Welt und in unserer Existenz vollbringt«. Schon bei Sokrates scheint es um Selbsttransformation zu gehen, die sich im Laufe von Erkenntnisund Erfahrungsprozessen vollzieht. Philosophieren, die bestimmte Art und Weise des Nachdenkens, des Infragestellens und des Prüfens, kann zu Veränderungen führen, die die Menschen selbst zu jemand anderem machen. Inwieweit dies merklich geschehen kann, hängt wohl von verschiedenen Faktoren wie Regelmäßigkeit der Tätigkeit oder der individuellen Tiefe der Einsicht ab. Der zweite Teil schließt mit einem Ausblick darauf ab, was als eine Konsequenz des Aufgeworfenen einmal untersucht werden könnte. Es geht dabei um die konkrete Frage nach der gesellschaftlichen Rolle von Philosophischer Praxis. Lässt sich diese als eine potenzielle oder werdende besondere Institution verstehen, gar eine proto-politische, kritisch-freiheitliche? Wenn in diesem Buch versucht wird, einige allgemeine sowie spezielle Züge von Philosophischer Praxis aufzuzeigen, so geht es dabei immer wieder um eine Idee, die sich je konkret auf unterschiedliche Weise zeigen kann, etwa in diversen Formaten, Settings und Angeboten, aber ebenso abseits dieser konkreten Angebote, im alltäglichen Auftreten bzw. der allgemeinen Erscheinung Philosophischer Praktiker. In solch einer theoretischen Darstellung kann übersehen werden, dass das, was sich zeigt, in einem nicht geringen Maße von den individuellen Persönlichkeiten der Praktiker abhängt – und damit auch von den jeweiligen Verständnissen von Philosophie überhaupt. Oder anders formuliert: Was Philosophische Praxis ist und wie sie sich zeigt, hängt stark von der Person und deren Vorstellungen sowie individuellem Vermögen ab. Auf besondere Weise zeigt sich dies in den jeweiligen Haltungen, im Ethos, verstanden als die Gesamtheit der Haltungen, und in der Lebensform. Mit einer Perspektive auf diese Fragen beschäftigt sich der letzte Teil der Arbeit. Er beginnt, ausgehend von einer Verhältnisbestimmung zwischen Philosophischer Praxis und Coaching, mit einem Nachdenken über die Problematik der Rolle und des Selbstverständnisses von Praktikern in unseren heutigen spätmodernen Gesellschaften. Dabei wird auf Andreas Reckwitz’ (2006/2019) Ausführungen zur spätmodernen Sub19 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Einleitung

jektkultur zurückgegriffen. Dies eröffnet eine Problematik, die sich auf die Person des Philosophischen Praktikers bezieht, auf die Themen Haltung und Lebensform. Haltungen nehmen im Zusammenhang mit der Tätigkeit und dem Leben insgesamt eine herausragende Rolle ein. Da es nicht die Absicht dieser Arbeit ist, einen Katalog darüber aufzustellen, was eine gute Haltung für die Philosophische Praxis sei, kann dieses Thema lediglich im Rahmen eines Exkurses behandelt werden, der, so die Überlegung, für das Verständnis des hier Gemeinten hilfreich sein kann. Wenn nun Philosophieren heißen kann, sich die Frage nach dem guten Leben zu stellen, und wenn in dieser Arbeit gleichzeitig behauptet wird, Philosophische Praxis fange in erster Linie bei einem selbst an, dann kann die Frage nach der eigenen Art zu leben nicht ausgeblendet werden. Sie ist schlicht zentral. Philosophieren kann dann etwa mit Jaspers als ineins Lebenlernen und Sterbenkönnen verstanden werden oder mit Wittgenstein, Foucault und Deleuze als Arbeit an einem selbst. Zusammen bzw. stark verwoben mit dem Ethos spielt daher noch eine andere Orientierungshilfe eine Rolle, nämlich die der Lebensform, die sich etwa als Ensemble sozialer Praktiken auffassen lässt. Der Kommunikation kommt dabei in einer Lebensform, die mit Philosophischer Praxis verbunden ist, eine herausgehobene Stellung zu. »Indem jedes Sprechen von seiner inneren Grundverfassung her auf Welt- und Selbstverhältnisse, praktische Orientierungen und soziale Formationen hinwirkt, ist es eine Form der Lebensgestaltung.« (Leeten 2019, 265) Es stellt sich schließlich die Frage danach, ob und wie diese Beschäftigung mit Praktiken im heutigen Verständnis von Philosophischer Praxis aussehen kann. Das ist eine der Fragen, der der Verfasser in einer größeren Unternehmung nachgehen möchte. Im letzten Abschnitt wird diese Unternehmung vorgestellt. Es handelt sich dabei um den gemeinnützigen Verein Transformatorenwerk Leipzig. Bei den Aktivitäten des Vereins geht es nicht nur um die Frage, welche Rolle Philosophische Praxis in einem interdisziplinären Projekt spielen kann. Das Transformatorenwerk ist selbst ein Lebens-Experiment, ein Vehikel einer möglichen Lebensform, ein Raum des experimentellen Sprechens, anderen Denkens – und das vor allem in Interaktion und im Dialog mit anderen. Vielleicht kann das vorliegende Buch als ein von verschiedenen Dichotomien geprägtes charakterisiert werden. Verschiedene Stränge lassen sich ebenfalls im Transformatorenwerk Leipzig ausmachen, das in verschiedene Richtungen 20 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Einleitung

wirken möchte – das Ziel ist am Ende aber immer der Mensch, ob nun direkt oder indirekt über das Gesellschaftliche. Eine für Welt engagierte und eine transformative Philosophische Praxis schließen sich nicht aus, teils bedingen sie sich, teils stehen sie in Spannung zueinander. Diese Dichotomien spielen in dieser Arbeit immer wieder eine Rolle und spiegeln im Grunde die Situation und das Interesse des Verfassers an dieser Thematik wider. Mit einem Zitat aus Karl Jaspers’ (1984, 107) letzter Vorlesung (1961) sei dazu am Schluss dieser Einleitung schon vorwegnehmend und in Bezug auf die potenzielle Bedeutung der Philosophischen Praxis für das Leben Folgendes gesagt: »Das Philosophieren hat gleichsam zwei Flügel, der eine schlägt in die Anstrengung des mitteilbaren Denkens, in der Lehre eines Allgemeinen, der andere schlägt mit solchem Denken in die Existenz des Einzelnen. Nur beide Flügel gemeinsam gewinnen den Aufschwung. In der Besinnung denkender Aneignung wird Klarheit gewonnen für das, was Wirklichkeit nur hat in der Lebenspraxis.«

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Teil I: Präludium

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1. (Wieder-)Geburt: Die Philosophische Praxis bei Gerd B. Achenbach

Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts führt Gerd B. Achenbach die Philosophische Praxis als neue professionelle Form der Lebensberatung ein. Mit diesem unbesetzten Begriff knüpft er an alte Traditionen an – insbesondere an die, wie er später sagen wird, »anfängliche Tradition einer an praktischer Bewährung interessierten Philosophie, die sich um eine anerkennungsfähige Lebensform bemühte« (Achenbach 2010 VII, 105). Auch wenn es schon vor Achenbach dialogisch-philosophische Praktiken in verschiedenen Gruppen sowie philosophisch orientierte Formen der Psychotherapie gab (vgl. etwa de Haas 2013, Staude 2010), so wurde hier doch etwas Neues geschaffen. Zu diesem Neuen gehört auch, wie der norwegische Praktiker Anders Lindseth (2005, 175) in einer Rede 2001 im Hinblick auf Achenbach gesagt hat, ein »neuer Diskurs der Philosophie« selbst: »Als Philosophen können wir jetzt in Gesprächen mit ratsuchenden Menschen philosophieren, und darin einen Gewinn, nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Philosophie sehen.« Die Einführung geschieht teils in Abgrenzung bzw. als Alternative zu den gesellschaftlich gut etablierten Psychotherapien. Philosophische Praxis ist, der ursprünglichen Idee nach, die »philosophische Lebensberatung in der Praxis des Philosophen« (Marquard 1989, 1307 f.; Achenbach 2010 I, 15). Allein die Formulierung in der Praxis, was sowohl die Räumlichkeiten in Anlehnung an eine Psychotherapie- oder Arztpraxis als auch eine spezielle Vorgehensweise oder Tätigkeit (und noch viel mehr) meinen kann, verweist auf eine heute geführte Diskussion über verschiedene Formate, die Praktizierende außerhalb eben jener konkreten Praxisräume (auch dieser Ausdruck ist selbstverständlich doppeldeutig) anbieten. Das sei an dieser Stelle kurz vermerkt, geht es doch hierbei auch um den Kern dieser Arbeit, nämlich die Beteiligung der Philosophischen Praxis an Projekten außerhalb des sonst üblichen Einzelgespräches. Philosophische Praxis als Lebensberatung war damit von Anfang an als eine Dienstleistung 25 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

(Wieder-)Geburt: Die Philosophische Praxis bei Gerd B. Achenbach

gedacht, mit deren Angebot Philosophen außerhalb universitär-wissenschaftlicher Sphären ihr Leben bestreiten können sollten. Achenbach (2010 I, 15) sieht den Grund für die Notwendigkeit der Philosophischen Praxis als neue (alte) Form der Lebensberatung in dem Bedürfnis mancher Menschen, statt behandelt oder kuriert zu werden, sich Klarheit über sich selbst zu verschaffen und sich Rechenschaft über das eigene Leben zu geben. Achenbach geht es dabei um »eine Einrichtung für Menschen, die Sorgen oder Probleme quälen, mit ihrem Leben ›nicht zurechtkommen‹ oder meinen, sie seien irgendwie ›steckengeblieben‹ ; die von Fragen bedrängt werden, die sie weder lösen noch loswerden; die sich in der Prosa ihres Alltagslebens zwar bewähren, in vorerst unbestimmter Weise aber ›unterfordert‹ fühlen – weil sie etwa ahnen, daß ihre Lebenswirklichkeit ihren Möglichkeiten nicht entspricht. In der Philosophischen Praxis melden sich Menschen, denen es nicht genügt, nur zu leben oder bloß so durchzukommen, die sich vielmehr Rechenschaft zu geben suchen über ihr Leben und sich Klarheit zu verschaffen hoffen über dessen Kontur, sein Woher, Worin, Wohin. Ihr Anspruch ist nicht selten, einmal über die besonderen Umstände, die oftmals sonderbaren Verstrickungen und den seltsam uneindeutigen Verlauf ihres Lebens nachzudenken. Kurz: Sie suchen die Praxis des Philosophen auf, weil sie verstehen, und verstanden werden wollen. Dabei ist es fast nie die Kantische Frage ›Was soll ich tun?‹, die sie bewegt, häufig hingegen die Frage Montaignes – und die lautet: ›Was tue ich eigentlich?‹«

Philosophische Reflexion diene dazu, »unserem Dasein Gewicht, unserem Hiersein Bedeutung und unserer Gegenwart Sinn« zu verleihen (Achenbach 2010 I, 16). Die je persönlichen Anlässe, bei denen sich diese Bedürfnisse zeigen, sind verschiedenster Art, Konflikte etwa, Schicksalsschläge oder unerwartete Erfahrungen – also, wie Achenbach (etwa 2010 IV, 59) es ausdrückt, »Verstrickungen« oder »Nicht-zurecht-Kommen«. Er beruft sich u. a. immer wieder auf den Philosophen Robert Spaemann, der darauf hingewiesen hat, dass es nicht Sache der Philosophie sei, die Dinge leichter zu machen, sondern sie zu vertiefen. Einen Grundsatz philosophischer Gesprächskönnerschaft bestimmt Achenbach (2010 VIII, 124) dann auch folgendermaßen: »Die tatsächliche Tiefe der Probleme ausloten; eventuell auch und sogar ihre Abgründigkeit, zu der kein Senkblei hinab reicht, entdecken; sie in ihrer Vertracktheit verstehen, etwa weil sie sich nur als

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(Wieder-)Geburt: Die Philosophische Praxis bei Gerd B. Achenbach

verheddert mit anderen Problemen begreifen lassen oder als Abkömmlinge vorausgegangener Schwierigkeiten; oder auch schlicht als Fragen, die es eben ›in sich haben‹, ohne uns ihr Innerstes preiszugeben.«

Schon hier wird deutlich, wie sich dieses Verständnis von Philosophischer Praxis, keine »Erleichterungs- oder Entlastungs-Praxis« zu sein, in Opposition zu vielen gegenwärtigen Gesprächsansätzen setzt, die Vereinfachung und Leichtigkeit versprechen oder sich als lösungsorientiert verstehen. Philosophische Praxis soll, terminologisch an den jungen Novalis angelehnt, »dephlegmatisieren« und »vivifizieren« (Achenbach 2010 X, 205). Verstehen und Verstanden-Werden werden als zentrale Aspekte genannt. Beide Aspekte sollen durch den Grundcharakter der Gespräche zur Geltung kommen, der durch eine besondere Weise des Zuhörens, für Achenbach (2010 VIII) Seele und Grundlage des Gesprächs, geprägt ist: die sog. Eingelassenheit. Zuhören sei als eine Aktivität zu begreifen und gutes Zuhörenkönnen als ein Vermögen, ja eine Tugend, die es zu entwickeln und zu kultivieren gelte, weil beide untrennbar mit dem Verstehen und einem Verstehenkönnen verbunden seien. Dabei gehe es darum, die Gäste so zu verstehen, wie sie sich selbst verstehen – was eben keine selbstverständliche Angelegenheit sei. Wie ein Spiegel sei diese Verstehensweise zu sehen: »Den Anblick des andern, wie ich ihn unmittelbar vis-à-vis vor mir habe, soll das Gespräch – wie ein Spiegel eben – »reflektieren«, was mir in einem gewissen Rahmen – wie auch der Spiegel gerahmt ist und nur einen Ausschnitt bietet –, also sagen wir: was mir in Grenzen erlaubt, das ›Selbstverständnis‹ meines Besuchers zu erahnen.« (Achenbach 2010 VIII, 117 f.)

Zuhörenkönnen meint: beim Anderen sein, bei der Sache sein, eben bei der Sache des Anderen sein – das Eigene nicht aufdringlich dazwischen kommen lassen. Allerdings ist Achenbach (2010 I, 16) insgesamt methodenkritisch, warnt vor »Methodengehorsam«, der nicht Sache der Philosophie sei: »Philosophisches Denken bewegt sich nicht in vorgefertigten Bahnen, es sucht den jeweils ›richtigen Weg‹ vielmehr jeweils neu; es bedient sich nicht der Denkroutinen, sondern sabotiert sie, um über sie aufzuklären.« Statt Methodengehorsam also dialogische Tugend, die bei Achenbach Gesprächskönnerschaft heißt, Einübung in Nachdenklichkeit, Besonnenheit in der Begegnung. In einem Vortrag über 27 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

(Wieder-)Geburt: Die Philosophische Praxis bei Gerd B. Achenbach

eben jene Gesprächskönnerschaft zitiert Achenbach (2010 VIII, 125) aus der Abschiedsvorlesung des Philosophen Herbert Schnädelbach an der Humboldt-Universität zu Berlin 2002, in der Schnädelbach sich dem »Gespräch der Philosophie« widmet. Dieses sei »… eine Kultur der Nachdenklichkeit. Sie ist das Gespräch der Nachdenklichen, d. h. derer, die nicht nur denken, sondern ihren Gedanken nach- oder hinterherdenken, um sie zu klären, zu verbessern und auf die Probe zu stellen. Die Anlässe für dieses Nachdenklichwerden stammen in der Regel nicht aus dem Denken selbst, sondern aus dem Bereich vorphilosophischer Erfahrungen mit Problemsituationen, die uns zum Nachdenken nötigen. Unser Stammvater Sokrates hat uns dies vorgelebt; auf ihn führen wir das kritische Nachdenken über unsere Gedanken im Gespräch zurück, das wir Aufklärung nennen. Philosophie als Aufklärung ist eine gedankliche Reaktion auf den Verlust lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten, auf Verunsicherungen und Erschütterungen des Gewohnten, die die nachdenklichen Nachfahren des Sokrates nicht bloß spüren wie viele Zeitgenossen, sondern zu analysieren und zu bewältigen versuchen.«

Diese Idee der gemeinsamen Nachdenklichkeit im Gespräch gehöre zentral zur Philosophischen Praxis. Damit wird deutlich, dass es dort gerade nicht darum gehe, »den Gast der Philosophischen Praxis auf eine – philosophisch vorbestimmte – Bahn zu bringen, sondern darum, ihm auf seinem Weg weiterzuhelfen« (ebd.). Es gehe nicht um Belehrung, um Rat-Erteilen oder um standardisierte Theorien. Dementsprechend sei sie keine »Anwendung« einer speziellen Philosophie auf einen konkreten Fall, beispielsweise keine »Behandlung« einer Angelegenheit mit Hegel oder Platon. Vielmehr zeige sich, »ob der Philosoph seinerseits durch seine Lektüre klug und verständnisvoll und aufmerksam wurde, ob er sich auf diesem Wege ein Sensorium für das sonst wohl Übersehene erworben hat und ob er gelernt hat, auch in abweichendem ungewöhnlichem Denken, Empfinden und Urteilen heimisch zu werden, denn nur als Mitdenkender und Mitempfindender vermag er seinen Besucher aus dessen Einsamkeit – oder Verlorenheit – zu befreien und ihn so vielleicht zu anderen Einschätzungen des Lebens und seiner Umstände zu bewegen.« (Ebd., 17)

Nicht Rat-erteilen-Wollen schließt hierbei jedoch gerade nicht aus, gemeinsam an einer Sache eine reflektierte Beratschlagung im Sinne einer Erwägung vorzunehmen, vor allem dann, wenn Besucher gerade aufgrund einer gewissen Rat-Losigkeit in die Praxis kommen.

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»Während der psychologische Blick darauf trainiert ist, Besonderes, Spezielles in spezieller Weise wahrzunehmen, vor allem psychogene, also psychisch bedingte Fatalitäten – der Psychologe oder Psychotherapeut ist Spezialist, und dort, wo er nicht Spezialist ist, ist er Dilettant –, ist paradox gesagt der Philosoph Spezialist fürs Nichtspezielle, sowohl fürs Allgemeine und Übersichtliche (auch für die reiche Tradition des schon vernünftig Gedachten), ebenso aber fürs Widersprüchliche und Abweichende und mit besonderem Nachdruck: fürs Individuelle und Einmalige.« (Ebd., 17)

Die heute in vielen Kontexten fast schon zur Phrase gewordene Formulierung, der Mensch stehe im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wird auch von Achenbach in Anspruch genommen: »Er wird nicht theoriegeleitet – d. h. schematisch – verstanden, überhaupt nicht als ›Fall einer Regel‹, sondern als der einzige, der er ist. Kein ›Maßstab‹ befindet über ihn (auch nicht der einer ›Gesundheit‹), sondern die Frage ist, ob er sich selbst angemessen lebt – mit Nietzsches berühmt gewordenem Wort: ob er wurde, der er ist.« (Ebd., 17)

Wenn es der Philosophie, wie Achenbach (etwa 2010 II, 36) meint, nicht um die Deckung von Bedürfnissen gehen kann, sondern um deren Kultivierung, so steht auch die philosophische Lebensberatung »quer zu dem Bedürfnis« der Besucher: Dieses dürfe weder ignoriert noch einfach bedient, sondern »im Gespräch entwickelt, differenziert, ›amplifiziert‹« werden. Diese Arbeit sei dann »Arbeit an den Interessen« und das »Bedenken der Motive«. Diese Aspekte streifen immer auch Aufgabe und Möglichkeit von Philosophie selbst. Für Achenbach (2010 V, 85) besteht die Rolle der Philosophie im Verhältnis zu den Wissenschaften in der Förderung grundlegender gedanklicher Rückbesinnung auf ihr ursprüngliches Movens, also darin, »Theorien zur Bewegung des Gedankens zurück [zubringen], der sie sich selber verdanken«. Im Feld persönlicher Angelegenheiten soll Philosophie für gedankliche Bewegung sorgen: »Im Grunde nichts anderes geschieht auch dort, wo Philosophie in der Praxis den alltäglichsten Fragen begegnet, Problemen aus der Prosa des Lebens, Schwierigkeiten, die in vielfältigster Weise verstrickt sind in Üblichkeiten, Gewohnheiten, eintrainierte Wertschätzungen und unbemerkte – da allgemein gewordene – Denkverordnungen. In diesem Durcheinander taucht der philosophische Gedanke wie ein Neuling auf, der sich umsieht, als sei für ihn der erste Tag; der zueinander ordnet, nachvollzieht; Fragen einwirft, die am konkreten Fall Erklärungen und Theorien überprüfen; Vorangegangenem geht er noch

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(Wieder-)Geburt: Die Philosophische Praxis bei Gerd B. Achenbach

einmal nach, um wegkundig zu werden; bis dahin ignorierte Nebenwege werden – als sei es nur aus Neugier – eingeschlagen; ungelebte Möglichkeiten werden durch gedankliche Explikationen auf den halben Weg zur Wirklichkeit gebracht, begutachtet, erwogen; unsere Richtigkeiten werden derart von der Seite angeleuchtet, daß an ihnen das Moment des Irrtums aufgeht, was sie verfeinert, vervielfältigt und vorsichtiger stimmt; Selbstverständliches, indem es tatsächlich verstanden werden soll, erweist sich unversehens als noch keineswegs verstanden – was anderem, was bisher für unverständlich galt, die Chance einräumt, jedenfalls bedacht zu werden.« (Ebd., 85)

In der Herausbildung der Idee von Philosophischer Praxis war nicht nur die Therapie Ziel von Kritik, sondern auch eine im akademischen Lehrbetrieb weit verbreitete, auf »reine Theorie« verkürzte und von der konkreten Lebenswirklichkeit entfremdete Art von Philosophie (vgl. Achenbach 2010 II, 31). Auch hier, für die Philosophie selbst, wollte sich Philosophische Praxis von Anfang an als eine Alternative, Ergänzung, ja Herausforderung empfehlen. »Philosophie, sie vor allem und vor allen andern Wissenschaften, gedeiht nicht in der keimfreien Luft universitärer Denklabore […] Praktisch wird Philosophie im Philosophen als dem gemeinsam mit anderen dialogisch denkenden Wesen« sei Achenbach (ebd. 204/206) hier exemplarisch zitiert. Philosophische Praxis sei, so Achenbach, der Ernstfall der Philosophie. An anderer Stelle heißt es im Zusammenhang mit dem Maßstab, an dem sich Philosophische Praxis ausrichten solle, und mit den Fragen Was ist Philosophie? und Wer ist Philosoph?: »Die konkrete Gestalt der Philosophie ist der Philosoph: und er, der Philosoph als Institution der Philosophie in einem Fall, ist die Philosophische Praxis.« (Achenbach 2010 IX, 138) Es geht hier auch ein wenig um die Frage nach der Zuständigkeit: Lässt sich aus jeder Angelegenheit, aus jedem Problem, eine philosophische Angelegenheit, ein philosophisches Problem machen? Ja, möchte sofort entgegnet werden, denn Philosophie hat bzw. ist ein universelles Interesse. Achenbach (etwa 2010 V, 80 ff.) betont, dass es in der Philosophischen Praxis darauf ankäme, die Sache, um die es in einem Gespräch gehe, in eine philosophische Frage verwandeln zu können. Jede Frage sei »philosophisch zu würdigen, d. h. als Frage an die Philosophie zuzulassen – was die Anforderung enthält, Fragen an die Philosophie als Fragen der Philosophie oder als philosophische Fragen zu würdigen«. Damit möchte er landläufigen Einwänden 30 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

(Wieder-)Geburt: Die Philosophische Praxis bei Gerd B. Achenbach

über mögliche fehlende Zuständigkeiten Philosophischer Praxis von Anfang an den Wind aus den Segeln nehmen. Ein Vermögen von Praktizierenden kann daher darin gesehen werden, aus einem Problem ein philosophisches Problem machen zu können. Das mag auf den ersten Blick selbstverständlich anmuten, doch im Hinblick auf die verschiedenen Arten und Weisen Philosophischer Praxis, die mit teils recht differierenden Vorstellungen, aber auch mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen und Vor-Ausbildungen der Praktizierenden zusammenhängen, scheint das nicht immer ganz so klar zu sein. Mit Achenbach ließe sich für den hier fokussierten Kontext, der ja über das individual-beraterische Gespräch hinausgeht, sagen, dass es insgesamt darauf ankomme, dass sich Philosophische Praxis auf die ihr begegnenden und zugetragenen Fragen einlassen könne. Sie beginne dann jeweils mit diesen Fragen und eben nicht mit der Philosophie selbst. Um was es Achenbach nicht geht – und wovor er ausdrücklich warnt –, das ist eine vom Praktiker angestrebte Veränderung beim Besucher bzw. des Besuchers insgesamt, wie er in einem Grundsatz seiner Arbeit deutlich macht: »Wolle den Besucher, der um deinen Rat nachsucht, nicht verändern!« (Achenbach 2010 VI, 99) Das »philosophisch aufmerksame und besonnene Gespräch« solle nicht »Instrument im Dienste einer (obendrein grundsätzlich zweifelhaften) Absicht« sein. Auf diesen Punkt wird im Zusammenhang mit der Transformation noch zurückzukommen sein. Eine Idee, die Achenbach erst später in den Kontext Philosophischer Praxis stellt, eröffnet m. E. einen neuen Horizont. Scheinbar entgegen all der ursprünglichen Intentionen führe Philosophische Praxis, wie Achenbach (2010 VII) bekanntlich eröffnet, die »Lebenskönnerschaft im Schilde«. Hier knüpft er an die Annahme an, dass das individuelle Leben grundsätzlich gelingen, aber genauso misslingen könne. Achenbach kontrastiert den Begriff der Lebenskönnerschaft, die »lebenspraktisch bewährte Welterkenntnis« sei, ein wenig seltsam gegenüber dem der Lebenskunst, teils gegenüber dem der Lebensklugheit. »Der Lebenskünstler gibt auf die Frage des Lebens die Antwort, während der Lebenskönner die Frage sucht, auf die das Leben die Antwort wäre« (Achenbach 2001, 88). In der Achenbach’schen Beschreibung der Lebenskönnerschaft (ebd., 107 f.) lässt sich eine Aufklärung, ja eine gewisse Widerständigkeit herauslesen, nämlich widerständig gegen gewisse Phänomene der Zeit zu sein: Erfolg, dem alle Mittel recht sind, ein Paktieren mit der »schlechten 31 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

(Wieder-)Geburt: Die Philosophische Praxis bei Gerd B. Achenbach

Wirklichkeit« oder dem Wabern von Meinungen. Achenbach ist die Problematik natürlich bewusst, dass Philosophische Praxis mit der Orientierung an der Idee der Lebenskönnerschaft eine neue Richtung einschlägt bzw. einschlagen kann. Er fragt nicht ohne Grund: »Ist Lebenskönnerschaft in der Beratung zu vermitteln?« (ebd., 108) Es lässt sich streiten, inwiefern sich mit dieser Orientierung die Rolle der Praktiker verändert. Sind die neuen Fähigkeiten, die von diesen verlangt werden, etwa das Aufmerksam-machen-Können der Gäste auf etwas Falsches, Verworrenes, Fehlgeleitetes, gar keine neuen? War nicht all dies schon immer im Konzept Philosophischer Praxis enthalten?

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2. Antike Orientierungen: Diskurspraxis und Lebensform

Es ist schon geraume Zeit »modern« geworden, wieder stärker auf die Zeit weit vor der Moderne zu blicken – vielleicht ist das aber auch nie wirklich anders gewesen. Aber in Zeiten einer zumindest universitär dominierenden analytischen Philosophie scheint das schon bemerkenswert. Oder vielleicht auch nicht, verrät uns doch Peter Bieri (2007) in seinem vieldiskutierten Aufsatz Was bleibt von der analytischen Philosophie? die motivationalen Gründe dafür. Eindrücklich ist vor allem die geschilderte Enttäuschung und Abschreckung vieler Studierender angesichts überbordender Mathematik-orientierter Logik und Formalisierung sowie der Art und Weise des Umgangs miteinander: »Studenten wurden dadurch abgeschreckt. Nicht, weil sie die formalen Dinge nicht verstanden. Der Grund war ernster: Sie erkannten sich mit ihrer Motivation, die sie zur Philosophie gebracht hatte, in den Texten nicht mehr wieder. Mir selbst ging es nicht anders. Man war auf die Suche nach einem umfassenden Verständnis der Welt und unserer Stellung in ihr gegangen und fand sich plötzlich in den Händen partikularistischer Techniker. Und die zweite unangenehme Konsequenz: Es griff eine Rhetorik Platz, in der sich die Überzeugung spiegelte, dass es in der Philosophie darum gehe, Andere durch beweisendes Argumentieren niederzuringen. Es war viel von ›k.o.-Argumenten‹ die Rede, und auch sonst war der Wortschatz oft unangenehm militärisch. In dieser Provinz der analytischen Philosophie herrschte und herrscht noch immer die überwertige Idee des outsmarting: Es kommt stets darauf an, noch einen Tick scharfsinniger zu sein als der andere. Sportliche Konkurrenz, die, weil sie am falschen Ort angewandt wird, einen Mangel an Intelligenz verrät.« (Ebd., 337 f.)

Trotz aller Kritik hält Bieri die Klarheit und gedankliche Übersicht in positiven Beispielen analytischer Philosophie für Errungenschaften, hinter die nicht zurückgegangen werden sollte. Insofern ist Bieri in seinem Abschlussstatement nur zuzustimmen: 33 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Antike Orientierungen: Diskurspraxis und Lebensform

»Als gebildete Menschen, die mit der Geistesgeschichte auf ganz selbstverständliche Weise vertraut sind, lassen wir uns auf die neuesten Gedanken zu den Fragen ein, die uns interessieren, gleichgültig, in welcher Sprache sie daherkommen. Weil das Universum philosophischer Gedanken ausgesprochen endlich ist, finden wir natürlich Vorläufer für viele dieser Überlegungen, und wir finden auch Möglichkeiten der Kritik, die die Zeitgenossen übersehen. Doch diese Beobachtung lässt in uns keinen Antagonismus entstehen zwischen zwei Bewegungen oder Lagern. Historisch informiert suchen wir die beste Orientierung im Denken, die wir bekommen können. Dann machen wir Philosophie. Weder analytische noch kontinentale. Einfach Philosophie.« (Ebd., 343 f.)

Im Hinblick auf die vorliegende Thematik sind im Hinblick auf antike Orientierungen sicherlich Autoren wie Pierre Hadot (1999/2011) oder der späte Michel Foucault (1986/2002/2004/2009) zu nennen. Bei beiden Autoren spielen konkrete Einzelpraktiken, also Übung (áskēsis) sowie Haltungen und ganze Lebensformen eine zentrale Rolle. Für sie ist es ein markantes Merkmal antiker Philosophie, dass diese durch gemeinschaftliche Denk- und Lebensformen ausgezeichnet war. Philosophie als Tätigkeit zeigt sich hier als lebendiger und gelebter Lebensvollzug. Zudem ist dabei die existentielle Entscheidung für eine solche Art und Weise zu leben sowie die damit verbundene Haltung von großer Relevanz – ein Aspekt, der darauf verweist, dass es sich bei dieser Art von Philosophie nicht bloß um einen theoretischen Diskurs handeln könne. Auch Christoph Horn (1998, 232/ 234) hat in seiner Untersuchung antiker Lebenskunst gezeigt, dass sich Philosophie dort in weiten Teilen als eine »orientierende, beratende und handlungsleitende Disziplin« mit einem »lebenspraktischmoralischen Charakter« verstanden hat. 6 Jüngst hat Lars Leeten (2019) die Diskursivität antiker Lebenspraxen untersucht. All diesen Autoren geht es dabei nicht bloß um die Darstellung antiker Verhältnisse, sondern um einen teils expliziten, zumindest aber immer impliziten Verweis auf die Gegenwart. Alle genannten Autoren stellen außerdem den zentralen Bezug zur Ethik her – oder, genauer ausgedrückt, sie verweisen auf das umfassendere Verständnis antiker Ethik und deren untrennbare Verbindung zur Philosophie: Sokrates, immer wieder erster Bezugspunkt, Vgl. dazu auch den 2016 von Gerhard Ernst herausgegebenen Sammelband Philosophie als Lebenskunst. Antike Vorbilder, moderne Perspektiven, Berlin: Suhrkamp.

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Antike Orientierungen: Diskurspraxis und Lebensform

auch in der Philosophischen Praxis, setzt die Frage nach einer bzw. die Entscheidung für eine Lebensweise bekanntlich an den Anfang philosophischer Tätigkeit. Philosophie sei weder die Weisheit selbst, mahnt Hadot (1999, 18), noch lässt sich theoretischer philosophischer Diskurs der Weisheit als stumme Lebensweise gegenüberstellen: »Sie [Philosophie, JK] ist zugleich und unauflöslich Diskurs und Lebensweise, die beide zur Weisheit tendieren, ohne sie jemals zu erreichen.« Auch theoretischer Diskurs, genauer diskursives Denken, kann praktisch wirksam werden, also auf ein Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln verweisen. Insofern ist philosophischer Diskurs hier Teil der Lebensweise (bios) selbst. Auf einige Aspekte antiker Diskurspraktiken soll an dieser Stelle kurz eingegangen werden. Rolf Elberfeld (2017, 28 ff.) hat jüngst auf die Verflechtungsgeschichte des Denkens im afroeurasischen Raum aufmerksam gemacht, die zeigt, dass sich das griechische Denken aus vielfältigen Einflüssen heraus entwickelt hat. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. u. Z. gab es rege intellektuelle Aktivitäten im griechischen Raum, vor allem am Rande des griechischen Einflussgebietes (vgl. Hadot 1999, 25 ff.). Der Übergang vom Mythos zum Logos, der durch rationale Erklärungsversuche der Welt gekennzeichnet gewesen sei und zu einem veränderten Weltverhältnis führte, wird bisweilen als ein Wendepunkt des Denkens bezeichnet, geprägt also von Entmythologisierung und der Entdeckung der Vernunft. 7 Naturwissenschaftliche und naturphilosophische Deutungsversuche kamen auf (etwa Thales, Anaximander, Anaximenes, Heraklit, Parmenides, später Anaxagoras, Leukipp, Demokrit, Empedokles). Damit einher ging auch ein Hinterfragen der tradierten Lebensform. Das Theater gewann stark an Bedeutung, insbesondere die Tragödie, und brachte das Selbstverständnis der Athener und Griechen zum Ausdruck. Das Theater vereinte die dithyrambische Lyrik der Chöre nebst musikalischer Untermalung mit dem Auftreten von Schauspielern, die im Dialog miteinander handelnd agierten. Wolfgang Pleger (2020, 24) macht deutlich, welche Relevanz dies für die Zeitgenossen besaß:

Ob solche Schlagworte und Deutungen, die vor allem auf einem überhöhten und idealisierten Bild der Griechen fußen, die historische Situation adäquat kennzeichnen, wird in der aktuellen Forschung aber eher relativiert, vgl. dazu überblicksartig Elberfeld (2017).

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Antike Orientierungen: Diskurspraxis und Lebensform

»Dem Dialog kommt in der Tragödie keineswegs nur die Funktion einer in der Form der Wechselrede vorgetragenen Heldensage zu, sondern aus der mythischen Vergangenheit entsteht die in die Gegenwart transponierte, konfliktreiche Auseinandersetzung über eine menschliche Grundsituation.«

Womöglich kann die Tragödie sogar als eine Vorstufe der philosophischen Dialektik gesehen werden. Auch die Handlung selbst vollzieht sich wesentlich in Form des Dialogs, was auch für die Wahrheit bzw. Wahrheitsfindung gilt. Die Probleme, Beschränktheiten und Möglichkeiten werden dem Publikum vor Augen geführt – ein Publikum, in dem sicherlich auch Sokrates anzutreffen war (vgl. Pleger 2020, 27). Mit den politischen Umwälzungen der Zeit, vor allem mit dem Aufkommen demokratischer Tendenzen und konkret der attischen Demokratie nach dem Peloponnesischen Krieg (431–404) im 5. Jahrhundert v. u. Z., kommt immer stärker das sprachliche Vermögen, um es hier zunächst ganz allgemein zu formulieren, zunehmend in den Blick der Zeitgenossen. Nicht von ungefähr wird heute diese Zeit, die vom Entstehen des politischen Bewusstseins geprägt ist, mitunter als erste Aufklärung bezeichnet (vgl. etwa Hampe 2019). Das beginnt bereits mit der politischen Aufklärung durch Vorsokratiker wie Solon oder Heraklit und zeigt sich etwa bei Perikles, wird Schwerpunkt bei den Sophisten wie Protagoras, Gorgias oder Kritias und mündet in das Wirken von Sokrates, Platon und Aristoteles (vgl. Demandt 2000, 21 ff.). Das Sprach-, besser vielleicht: das Sprechvermögen gewann zunehmend an Bedeutung: »In der klassischen Antike begegnet dann die Idee, dass der Mensch das tierische Dasein überwinden kann, indem er die zivilisierende Kraft des Logos auf die rechte Weise nutzt: Weil der Mensch sprachfähig ist, ist er auch politikfähig; und dies bedeutet gleichzeitig, dass er erst wird, was er eigentlich ist, indem er ›reden lernt‹.« (Leeten 2019, 11)

Öffentliche Rede und Gegenrede wurden zunehmend Gegenstand der Erziehung – das, was die Griechen paideia nannten –, zunächst der jungen Knaben und Männer aus dem Adel, später aller männlichen Bürger der polis. Der politische Erfolg hing gerade in der Zeit der attischen Demokratie mit ihren Mehrheitsbeschlüssen der Volksversammlung davon ab, ob die Sprecher die Menge mit ihren Ausführungen überzeugen konnten.

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Auf dieses Bedürfnis nach rhetorischer Schulung reagierte bekanntlich vor allem die sophistische Bewegung, deren Bildungsziel in der politischen Vortrefflichkeit gesehen werden kann. Die vorplatonische Bedeutung der sophistai war eine positive, gemeint waren nämlich kenntnisreiche, erfahrene Männer mit besonderen Fähigkeiten und Erfahrungen (vgl. Taureck 1995, 7 f.). Die lange Zeit vorherrschende negative Konnotation im Verständnis der Sophisten geht schon auf antiintellektuelle Stimmungen vor Platon zurück, wird aber gerade durch seine Ausführungen die überwiegende Deutung dieser Strömung in der Philosophiegeschichte maßgebend beeinflussen. An dieser Stelle geht es allerdings weniger um die Frage nach der Beurteilung der Sophisten als vielmehr um die diskursiven Praktiken. Wichtig ist der Sachverhalt, dass es sich um Beispiele eines bewussten und, wenn man so will, professionellen Umgangs mit der Sprache und der Ausbildung derartiger diskursiver Fähigkeiten handelte, die für das Wirken und die Lebensführung der betreffenden Individuen eine wichtige Rolle spielten. Insofern können die Sophisten zur angesprochenen damaligen Aufklärungsbewegung gezählt werden, in der die Gestaltbarkeit des Lebens deutlich in den Blick geriet. Lars Leeten (2019, insbes. 125 ff.) hat auf die sich schon bei den Sophisten, insbesondere bei Protagoras und Gorgias, herausbildende Kultivierung diskursiver Praktiken aufmerksam gemacht. Die Annahme, es handelte sich dabei bloß um technisierende Gebrauchsformen der Rede, sei nicht zutreffend, denn schon dort lassen sich Bezüge zu den Idealen staatsbürgerlichen Gutseins (aretē) ausmachen – Vorstellungen, die eine nachhaltige Wirkung erzielten. Die sonst eher übliche Darstellung einer unversöhnlichen Gegenposition von sophistischen (rhetorischen) und philosophischen (wissenschaftlich-ethischen) Praktiken entspräche damit nicht den historischen Tatsachen. Und trotzdem: Eine etwas andere Richtung als die vorgeblich rhetorisch-praktische Linie der Sophisten nahm der Weg der paideia durch die Wendung des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens mit Sokrates, Platon und Aristoteles. Vielleicht ließe sich, im Sinne Leetens, diesbezüglich besser von einer Weiterentwicklung sprechen. Hannah Arendt (2019, 35) hat in einem Aufsatz zu Sokrates gleich zu Beginn bemerkt, dass diese Protagonisten auftraten, »als das lebendige politische Leben Griechenlands schon seinem Ende entgegenging« 8. Sokrates, der unter Zeitgenossen (bis auf wenige, aber eben 8

»In der gesamten Tradition des philosophischen und insbesondere des politischen

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wirkmächtige Ausnahmen wie Platon) selbst wohl weitgehend als Sophist betrachtet wurde, kann diesbezüglich vielleicht als eine Art Schnittstelle gesehen werden. Karl Jaspers nennt ihn einen »großen« oder »maßgebenden« Menschen und stellt ihn, in Absetzung zu all den Philosophen nach Sokrates, auf eine Stufe mit Buddha, Konfuzius und Jesus. Sokrates wollte, wenn wir Gernot Böhme (1992, 130) folgen, kein Philosoph sein, sondern ein Weiser – und hat damit Philosophie als Weisheitslehre maßgeblich geprägt: »Philosophie ist ein Weg zur Weisheit, der wesentlich über die sprachliche Auseinandersetzung führt, und zwar durch Frage und rationale Argumentation. Philosophie ist öffentlich, nicht exklusiv, also nicht esoterisch.« Die Besonderheit in dieser sprachlichen Auseinandersetzung ist die dialogische Suche nach dem »besten Logos« (Platon, Kriton 46b). Sokrates stand als athenischer Bürger direkt in der Öffentlichkeit. Die vielbeschworene Agora, zentraler Fest-, Versammlungsund Marktplatz einer Polis, war Ort des Politischen, damit des Austauschs, des Gesprächs, des Diskurses. Zu dieser Zeit, der Zeit des Aufstiegs Athens zu seiner Blüte, also etwa in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts, gehörten nur ca. 40.000 von ca. 300.000 Einwohnern zu den Bürgern, den freien, erwachsenen Männern, zu denen nicht die Fremden (Metöken) zählten. Der Bürgerstatus hatte nicht nur eine große Bedeutung, sondern war zugleich Verpflichtung: »Bürger zu sein ist für den Athener nicht eine Auszeichnung, die ihm – was er auch sonst sei – nur anhängt, die ihm allenfalls den Genuß besonderer Rechte gewährte, sondern eine Aufgabe, ein Beruf, ein Lebensinhalt.« (Böhme 1992, 37) Die Notwendigkeit der genannten Sprech- und Diskursfähigkeit im öffentlichen Raum wird damit ersichtlich. Hannah Arendt (2010, 40) hat diesen Raum der Polis, dem als Gegenpart der Raum des privaten Haushalts (oikos) gegenüberstand, als »das Reich der Freiheit« bezeichnet – ein Aspekt, auf den im Diskurs der Philosophischen Praxis immer wieder Bezug genommen wird (vgl. etwa Polednitschek 2013, zuletzt Eder-Seela 2017). Doch Sokrates’ Art des Gesprächs, so zumindest die lange Zeit vorherrschende Auffassung, war eine andere als die der Sophisten. Denkens ist vielleicht kein Umstand von solcher Bedeutung und von so großem Einfluss gewesen wie der, dass Platon und Aristoteles im vierten Jahrhundert schrieben – also unter dem massiven Einfluss einer politisch verfallenen Gesellschaft.« (Arendt 2019, 35).

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Ihm sei es nicht darum gegangen, anderen beizubringen, wie man heute alltagssprachlich sagen würde, wie man sich möglichst gut verkaufen könne. Nach der Deutung »platonischer Tradition« ging es den Sophisten wohl primär um die Stärkung der Überzeugungskraft, die durch die Verfeinerung der rhetorischen Fähigkeiten generiert werden sollte. Wahrheit (alētheia), das Gute (agathon) bzw. das »Gutsein« im staatsbürgerlichen Sinne (aretē) spielte dabei keine oder bloß eine untergeordnete Rolle. Ob diese starke Gegenüberstellung der Sophisten und Sokrates, von Sophistik und Sokratik, von Rhetorik und Philosophie, tatsächlich so stark war wie lange behauptet, lässt sich sicherlich hinterfragen (vgl. ausführlich Pleger 2020, 175 ff., Eder-Seela 2017, 48 ff.). Leeten (2019, 125 ff.) hat dies zumindest relativiert und gezeigt, dass Wahrheit, Tugend und das gelingende Leben insbesondere schon bei Gorgias von Leontinoi in den Blick kommen, wobei wohl der gorgianische Diskurs mehr an Selbststeigerung und der sokratische stärker an Selbstmäßigung orientiert waren. Der große Theoretiker der Postmoderne Jean-François Lyotard (2004) hat mit Bezug auf Nietzsche darauf verwiesen, dass sich mit Sprache nur Wahrscheinlichkeiten greifen ließen. Dementsprechend dürfe gegen die Sophisten nicht zwangsläufig der Vorwurf der unbegründeten Relativität erhoben werden, auch wenn etwa die gängige sophistische Praxis der Verkehrung der Rede (Retorsion) nicht unproblematisch sei. Dieser Ausflug in antike Gefilde ist für Philosophische Praxis, ihr Verständnis und ihre gesellschaftliche Rolle m. E. eminent wichtig, weil er Sicht- und Deutungsweisen anbietet, die für die Orientierung des eigenen Selbstverständnisses gerade in der heutigen Zeit einen etwas größeren Spielraum eröffnen. Die Fragen des Sokrates zielen insgesamt auf eine innere Prüfung, die zumindest auf eine spezielle Wahrheit hin orientiert war – eine Prüfung nicht nur des eigenen Denkens und Verständnisses von Begriffen, sondern von sich selbst und der eigenen Lebenspraxis. Es geht dabei um grundsätzliches Hinterfragen von bislang wenig hinterfragten, also ungeprüften Annahmen. Es gibt einen klaren Vorrang von Selbstsorge und Selbsterkenntnis sowie der eigenen Vervollkommnung der sittlich-charakterlichen Verfassung vor allem Streben nach Ruhm oder Reichtum. Vermittelt wird diese Selbsterkenntnis im Gespräch, wie an späterer Stelle noch auszuführen sein wird. Der Weg der antiken Redepraxis lässt sich nachzeichnen als einer, der stets auf gewisse Weise mit einer Lebenspraxis verbunden 39 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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war. Lars Leeten vertritt diesbezüglich die These, dass diese Redepraxis selbst als Praxis gelingenden Lebens entwickelt werden könne: »Sie [die Praxis, JK] begreift Diskurse als eine ethische Praxis sui generis, in der stets auch praktische Haltungen ausgeformt und zur Geltung gebracht werden. In jedem diskursiven Handeln manifestiert sich ein Ethos, und jeder diskursive Prozess wirkt auf das Ethos zurück. Diese Prämissen, so die These weiter, prägen letztlich auch das Verständnis davon, was Prozesse der Argumentation sind, was es also heißt, jemanden mit Worten zu überzeugen. Zur antiken Ethikreflexion gehört wesentlich eine diskursive Kultur, die mehr ist als zeitgeschichtliches Beiwerk.« (Leeten 2019, 13) 9

Die Rede dürfe nicht einseitig auf einen Teil ihrer Funktionen reduziert werden. Sie sei mehr als Argumentation, Begründung oder Analyse. Diskurs wäre demnach keine bloße Methode, die den Weg für die gute Lebensführung bereitet. Die Rede wäre nicht bloß die Grundlage, auf der sich ein philosophisches Leben führen ließe, sondern sei vielmehr selbst ein zentraler Teil davon, weil sie sowohl in sachlicher als auch in ethischer Hinsicht richtig zu sein habe. 10 All dies sind offensichtlich Gesichtspunkte, die für die später zu erörternde Frage nach einer Haltung Philosophischer Praxis von grundlegender Bedeutung sein werden. Schließlich soll an dieser Stelle noch die für die nachklassischen (hellenistische, römische, spätantike) Phasen so wichtige Übungspraxis (áskēsis) angesprochen werden. Bekanntlich gab es in diesen rund tausend Jahren verschiedene Philosophie- bzw. Weisheitsschulen und Bewegungen: Platons Akademie, Aristoteles’ Peripatos, die von Zenon gegründete Stoa, die auf Diogenes zurückgehenden KyniLeeten (2019, 12, FN) beschränkt sich dabei nicht auf rein sprachliche bzw. wörtliche Aspekte, sondern schenkt seine Aufmerksamkeit auch den »Erscheinungen und Begleiterscheinungen des sprachlichen Sinngeschehens in ihrer phänomenalen Fülle, ihrer medialen Verschiedenheit sowie in ihrer Verflochtenheit mit nichtsprachlichen Praktiken«. Das ist überhaupt ein wichtiger Hinweis auf die Komplexität des hier behandelten Gegenstandes, der in theoretischen und auch experimentellen Untersuchungen bis in die heutige Zeit hinein nicht immer im Blick zu sein scheint. Für die PP, insbesondere auch für die Betrachtung der PP als einer Haltung und Teil einer Lebenspraxis, der ein persönliches Ethos zugrunde liegt, scheint dies m. E. von deutlicher Relevanz zu sein. 10 Auch wenn heute im philosophischen Diskurs bisweilen das gute vom gelingenden Leben unterschieden wird, war dies in der Antike wohl überwiegend dasselbe. Die Orientierung der Praxis am Guten bezog sich eben darauf, wie es zu leben und wie es zusammenzuleben galt. 9

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ker, Epikureer, Skeptiker und Neuplatoniker. Viele davon berufen sich auf Sokrates. Insbesondere bei den ersten drei genannten Schulen unterlagen die Unterweisungen bzw. der Unterricht einer doppelten Zweckbestimmung, »nämlich direkt oder indirekt Mitbürger und, wenn möglich, politische Führungskräfte, aber auch Philosophen zu formen. Die Ausbildung zum Leben in der Polis zielt darauf, durch zahlreiche rhetorische und vor allem dialektische Übungen Beherrschung der Sprache zu erlangen, und im Unterricht des Philosophen die Prinzipien der Regierungswissenschaft kennenzulernen.« (Hadot 1999, 126)

Die philosophische Ausbildung war zugleich Übung in der Weisheit, dazu bestimmt, sich selbst zu regieren. Dabei spielten hier ebenfalls Dialog und Diskussion, die Abfolge von Fragen und Antworten, eine zentrale Rolle. Die Praktiken waren aber eben nicht nur auf das Erlangen eines Wissens hin angelegt, sondern zielten auf die Lebenspraxis selbst. Das bedeutete, die existentielle Entscheidung für die eigene Lebensform durch intellektuelle und geistige Aneignungen der »implizierten Denk- und Lebensprinzipien« zu realisieren. Insofern folgten sie dem Ideal einer Übereinstimmung von Rede und Leben. »Die Praxis der Wahrheit geht der diskursiven Kultivierung nicht als ihr Prinzip vorher, sondern ist selbst in deren Ethik verankert.« (Leeten 2019, 22) Leeten betont im Hinblick auf die hellenistischen und römischen Philosophien, dass diese Diskursverfahren dabei nicht bloß Mittel für die Herausbildung des Ethos waren, »noch als rationale Grundlage einer sekundären askēsis [dienten, JK], sondern als Feld von ethischen Übungen sui generis begriffen« werden müssten. So konnte sich ein konkreter dialogischer Habitus herausbilden, »der sich z. B. als tägliche Sorge um die Fähigkeiten des Zuhörens oder um die rechte Balance zwischen Sprechen und Schweigen zu erkennen gibt, als sorgfältige Auswahl und Dosierung der Lektüre, als schriftlich organisierte Selbstprüfung oder als gepflegtes Selbstgespräch, das auf das Gespräch mit Anderen vorbereitet. Als Redepraxis, die auf ein philosophisches Ethos hinwirkt, realisiert sich der philosophische Logos in einer diskursiven Ökonomie, die jeden Tag gepflegt werden will. Während die Auslegung des Logos als ratio diese diskursive Ökonomie unsichtbar macht, gibt seine Auslegung als Rede einen Eindruck von der konkreten Ethik, die der philosophischen Erkenntnispraxis zugrunde liegt.« (Leeten 2019, 22 f.)

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Antike Orientierungen: Diskurspraxis und Lebensform

Das sind ganz offensichtlich Praktiken, die für die Haltung bzw. das Ethos von Philosophischen Praktikern von herausragender Bedeutung sind – aber eben nicht bloß instrumentell verstanden als Skills, weil sie, wie Mall und Peikert (2017, 124) herausstellen, von einer »Bedeutung und Dankbarkeit gegenüber einer freundschaftlichen Zwischenmenschlichkeit« gekennzeichnet sind: »Der Dialog, das freundschaftliche Gespräch zum Zwecke der eigenen und gemeinsamen Besserung und die Kultivierung der Verzichtsleistung durch Selbstbeherrschung und Selbstzurücknahme sind die Botschaft des antiken Denkens.« Das scheint mir der Geist zu sein, von dem Philosophische Praxis, wie sie hier vorgestellt wird, geleitet wird. Das ist weder selbstverständlich noch unter den herrschenden Verhältnissen einfach zu bewerkstelligen – ein erster Hinweis darauf, Philosophische Praxis im Kontext einer Lebensform zu denken.

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3. Positionen zur Philosophischen Praxis

In dieser Arbeit soll es nicht darum gehen, Philosophische Praxis abschließend zu definieren und ihr Feld umfassend abzustecken. Auch ihre unterschiedlichen Ansätze, Sichtweisen, Beurteilungen und Herangehensweisen sind nicht Gegenstand einer eingehenden Untersuchung. Einige wichtige werden, in Ergänzung zu den grundlegenden Ausführungen von Achenbach, aber zumindest aufgeführt. Schließlich werden nicht wie sonst üblich die Verhältnisse zu verschiedenen Professionen wie Psychotherapie, psychologische oder systemische Beratung, Seelsorge oder Coaching näher beleuchtet werden können. Es wird also weder eine negative noch eine positive Bestimmung in Gänze vorgenommen. Insofern ist dies keine systematische Arbeit. Die folgenden Seiten sollen eher kaleidoskopartig eine gewisse Bandbreite von Positionen aufzeigen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit, um die es hier eben gar nicht gehen soll. Zur Herangehensweise an die Beantwortung der Frage, was Philosophische Praxis sei, hat Daniel Brandt (2017) zwei unterschiedliche Zugänge unterschieden, nämlich eine philosophisch-theoretische Innensowie eine teleologisch-pragmatische Außenperspektive. Schwerpunktmäßig soll es an dieser Stelle zunächst um die zweite, also die Außenperspektive, gehen. Zu Beginn soll ein Definitionsversuch von Philosophischer Praxis aufgezeigt werden, der sich in seiner Allgemeinheit vorerst eignet, um die darauffolgenden Ansätze und Ideen einzubetten – wobei an dieser Stelle freilich anzumerken ist, dass es einen allgemeingültig akzeptierten Begriff aktuell nicht gibt und vermutlich auch künftig nicht geben wird. Peter Heintel und Thomas Macho (1991, 67) haben Philosophische Praxis positiv bestimmt als »den organisatorisch geregelten Versuch, philosophische Kompetenzen im Umgang mit Menschen zu bewähren, die kein professionelles Interesse an Philosophie nehmen«. Diese Definition hat sich freilich nicht wirklich durchsetzen können (wie im Übrigen auch jede andere nicht), viel43 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Positionen zur Philosophischen Praxis

leicht auch deswegen, weil in ihr fehlt, wozu eine solche Praxis eigentlich dienen soll. Werden da wildfremde Menschen einfach von Philosophischen Praktikern auf der Straße überfallen und mit philosophischen Kompetenzen drangsaliert? Nun, warum eigentlich nicht? Wie war das denn bei Sokrates? Das Fehlen einer konkreten Zielangabe könnte einerseits als etwas Beliebiges aufgefasst werden, andererseits schließt sie im Grunde keine »Anwendung philosophischer Kompetenzen im Umgang mit Menschen« aus. Doch wozu sollen diese nun angewendet werden? Dazu zunächst ein paar summarische Notizen, die auf verschiedene Weisen an Achenbach anknüpfen. Detlef Staude hat in einem Aufsatz aus dem Jahr 2010 die damals rund drei Jahrzehnte alte Geschichte Philosophischer Praxis sowie deren weltweite Verbreitung skizziert und dabei einen kleinen Eindruck von ihrer Vielfalt vermittelt. Sie sei anfangs vor allem in ihrer individualberaterischen Gestalt Gegenstand von Praxis und theoretischer Reflexion gewesen, wofür oft die Bezeichnung philosophische Lebensberatung (oder bloß philosophische Beratung) und im englischen Sprachgebrauch philosophical counseling verwendet wird. Der Begriff der Beratung ist nicht unumstritten und wird von manchen Praktikern abgelehnt. So spricht etwa Thomas Polednitschek (2013, 69) von verweigerter philosophischer Beratung. Die Problematik mit diesem Begriff der Beratung liegt wohl darin, dass er in einem weiteren und einem engeren Sinne gebraucht werden kann. In diesem weiteren Sinne ist er einfach Sammelbegriff für alle möglichen Formate, in denen ratsuchende Menschen gewisse Fachleute (auch in einem weiten Sinne) aufsuchen, weil sie in einer konkreten Sache Unterstützung (ebenfalls in einem weiten Sinne) benötigen. Darunter fallen alle möglichen Professionen: Bankberater, Steuerberater, aber etwa auch Mediierende, Supervidierende, systemische Berater und Coaches. Hendrik Wahler (2013) hat sich im Zusammenhang mit Philosophischer Praxis auf den Begriff der Beratung aus dem Feld helfender Berufe und hier auf eine Definition von Brem-Gräser 11 gestützt: »Beratung im hier verstandenen Sinne ist eine professionelle, wissenschaftlich fundierte Hilfe, welche rat- und hilfesuchenden einzelnen und Gruppen auf der Basis des kommunikativen Miteinander vorbeu-

Brem-Gräser, Luitgard (1993): Handbuch der Beratung für helfende Berufe, Bd. 1, München: Reinhardt.

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Positionen zur Philosophischen Praxis

gend, in Krisensituationen sowie in sonstigen Konfliktlagen aktuell und nachbetreuend, dient.« (Brem-Gräser, zit. nach Wahler 2013, 53)

In diesem Sinne handelt es sich bei Beratung also um eine wissenschaftlich fundierte Hilfe, die vorbeugend, begleitend und nachsorgend mit dem Mittel der Kommunikation bei verschiedenen Anliegen erfolgen kann. Beratung ist in diesem Falle aber weder Therapie noch Unterweisung. Insofern falle Philosophische Praxis, was diese erste Form der Lebensberatung betrifft, klar in das Feld der Beratung in einem weiten Sinne. Die Verwendung des Begriffs im engeren Sinne ist durch verschiedene Merkmale geprägt, die hier nicht ausführlich erläutert werden sollen. Genannt werden soll aber das besondere Fachwissen eben jener aufgesuchten spezialisierten Fachleute, das in einem diesbezüglich charakteristischen Wissensgefälle angewendet oder vermittelt wird – dort wird, um es einfach zu sagen, Ratschlag gegeben. Hans Krämer (1995, 324) spricht im Hinblick auf diese Weise der (engeren) Beratung von einem asymmetrischen, nichtparitätischen »Kompetenz-, Erfahrungs- und Autoritätsgefälle vom Ratgeber zum Ratnehmenden«. 12 Während etwa der genannte Steuerberater hier deutlich hinzugezählt werden muss, trifft dies beispielsweise für Mediierende nicht zu. Gleiches kann für einen Teil der Coachingpraxis angenommen werden, die zumindest in diesem Punkt verwandt mit Philosophischer Praxis gedacht werden kann. Coaching sieht sich als eine Beratungsform im weiten Sinne und betont immer wieder, dass es hier nicht um Beratung im engeren Sinne gehe, ein Coach seinen Klienten nicht mit Ratschlägen begegne, sondern partnerschaftlich auf Augenhöhe mit ihm zusammenarbeite (vgl. etwa Migge 2014). In diesem Sinne sind auch die Positionen von Achenbach, Polednitschek oder Lindseth (2009) und m. E. der großen Mehrzahl der Praktiker (zumindest im deutschsprachigen Raum) zu verstehen (vgl. dazu auch Hack 2015, 46–48). Beratung kann am Ende aber auch heißen, zusammen zu Rate zu gehen, also gemeinsam eine Beratschlagung im Hinblick auf eine Sache vorzunehmen. Der kooperativ-diskursive Charakter ist hier also zentral. Der Begriff der Begleitung könnte hier alternativ oder spezifizierend verwendet werden. Nach Krämer wäre aber die »konsiliatorische Grundstellung Praktischer Philosophie und Ethik« ebenfalls unter diesen engeren Beratungsbegriff zu fassen, siehe demgegenüber etwa Heintel/Macho (1991, 73).

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Seit längerer Zeit haben sich andere Formate entwickelt und etabliert, vor allem, was das Philosophieren in der Öffentlichkeit betrifft, etwa philosophische Cafés, angelehnt an die Idee des 1998 verstorbenen französischen Philosophen Marc Sautet, sowie philosophische Salons. Eine große Bedeutung hat auch das Philosophieren mit Kindern, das weltweit verbreitet ist und innerhalb sowie außerhalb des Bildungssystems angeboten wird. Philosophische Seminare für Laien, Wanderungen und Reisen gehören mittlerweile ebenso ins Repertoire verschiedener Praktiker. Hinzu kommen neo-sokratische Gespräche, die etwa in verschiedenen Organisationen zum Einsatz kommen können, um gemeinsam über Begriffe nachzudenken. Immer wieder wird auch von Philosophischer Praxis in Unternehmen und Organisationen gesprochen, wobei oft nicht klar ist, wie umfangreich dieses Angebot tatsächlich ist und ob es eigentlich angenommen wird. Als ein besonderer Bereich ist hier der medizinische anzugeben, wo beispielsweise die Ethikberatung eine Rolle spielt. Insofern kann der Begriff Philosophische Praxis hier als eine Sammelbezeichnung für verschiedene Formate dienen. Caroline Hack (2015) hat dieses Arbeitsfeld in einer 2015 veröffentlichten Dissertation zwischen den drei Bereichen Therapie, Beratung und Bildung aufgemacht und die verschiedenen Aktivitäten umfangreich recherchiert und kommentiert. Sie kommt zu dem Schluss, dass therapeutische, beraterische und bildende Elemente fast überall in der Praxis anzutreffen sind, je mit unterschiedlicher Gewichtung, und dass diese Elemente sich einander permanent, produktiv und wechselseitig beeinflussen. Daraus leitet Hack (2015, 42) ab, worauf Philosophische Praxis eigentlich ziele: »Mit dieser Wechselwirkung ist ein Spezifikum der philosophischen Praxis angesprochen: Sie zielt auf eine umfassende Verbesserung der Lebenspraxis ab. Dabei gehören beispielsweise Selbsterkenntnis, Persönlichkeitsentwicklung, eine verbesserte Lebens- und Weltorientierung sowohl im individuell-persönlichen Bereich als auch als Teil der Gesellschaft oder im Kontext des Berufs zusammen – und wirken aufeinander ein.«

Eine Standortbestimmung hat jüngst auch Donata Romizi (2019) vorgenommen, die an der Universität Wien zusammen mit Konrad Paul Liessmann die einzige universitäre Aus- bzw. Fortbildung zur Philosophischen Praxis im deutschsprachigen Raum begründet hat und leitet. In diesem Beitrag skizziert Romizi u. a. verschiedene »Schu46 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Positionen zur Philosophischen Praxis

len«, die sich meist rund um eine bekannte Persönlichkeit herausgebildet haben und die sich je durch eine spezifische Arbeitsmethodik auszeichnen – Schulen, die miteinander im Diskurs sind und bisweilen auch im Widerstreit miteinander liegen. Zwei dieser Schulen werden als Beispiele genannt, nämlich die des französischen Praktikers Oscar Brenifier und die des israelisch-amerikanischen Praktikers Ran Lahav. Bei Brenifier komme dem Philosophieren als Tätigkeit eine zentrale Rolle zu, wobei in diesem Verständnis vor allem logische, argumentative, analytische, kritische sowie selbstkritische Aspekte im Fokus liegen. »Brenifier knüpft auf seine Weise an die sokratische Tradition des Überprüfens von Meinungen an und führt sehr eng getaktete Gespräche, in denen die Behauptungen des Gegenübers ›gnadenlos‹ und fern von jeglichem Versuch eines hermeneutischen Verstehens oder einer empathischen Teilhabe auf ihre argumentative Konsistenz und Klarheit geprüft werden. Der spezifische Inhalt des Gesprächs wird dabei meistens nebensächlich. Die Inhalte und die Fragen bieten vielmehr bloß die Materie, an denen das Denken und die Haltung geübt werden – wobei die Art und Weise, wie die Gesprächspartner auf seine Überprüfung reagieren, von Brenifier im existentiellen Sinne gedeutet wird.« (Romizi 2019, 87)

Ran Lahav ist wohl einer derjenigen, die im Laufe ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit und theoretischen Auseinandersetzung eine stete Weiterentwicklung der Idee von Philosophischer Praxis verfolgt haben. Ihm geht es dabei ganz allgemein um die Beschreibung der Tätigkeit und des Settings, in deren Zentrum der philosophische Zugang zum Menschen steht (vgl. Lahav/Tillmanns 1995). Außerdem bezieht er sich immer wieder auf die philosophische Tradition: »Sie [die PP, JK] kann als moderner Versuch angesehen werden, die Mission der alten philosophischen Lebensschulen unter Vermeidung ihres Dogmatismus wieder zu beleben. Sie strebt danach, Einzelnen beim Nachdenken über sich selbst zu helfen, ihre Zwangslagen zu untersuchen, ein besseres Selbstverständnis zu entwickeln und ihre grundlegenden Lebensaspekte tiefgründiger zu behandeln.« (Lahav 2017, 18)

Er macht aber auch deutlich, was sich hinter seinem Philosophieverständnis verbirgt. Heute ziele er in seiner Art, so Romizi, eben nicht auf die banalen, alltäglichen Probleme, sondern auf die »radikale Änderung der Weltanschauung und der Lebensform«. Dieser Ansatz 47 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Positionen zur Philosophischen Praxis

geht von einer »transformativen Kraft« der Philosophie aus (vgl. Krauß 2022). Als besondere Formen seiner experimentellen Praxis haben sich seit einigen Jahren seine philosophischen Kameradschaften entwickelt (vgl. Lahav 2016). Romizi unterscheidet diese konkret fassbaren Schulen von allgemeineren Richtungen Philosophischer Praxis, innerhalb derer verschiedene Praktiker unterschiedlich und unabhängig voneinander arbeiten. So gibt es etwa eine Richtung, in der besonders die Idee der Selbstbildung relevant sei – Romizi bezeichnet diese in Anlehnung an die oben erwähnte paideia als »paideutisch«. Der Mensch werde hier holistisch betrachtet – fußend auf einem Vernunftbegriff, »der weit über das logisch-argumentative Vermögen hinausgeht«. Als eine wichtige Figur wird hier der spanische Praktiker und Philosophieprofessor (Universität Sevilla) José Barrientos-Rastrojo genannt. Im Sinne einer Selbst-Bildung, aber weniger im pädagogischen Kontext, werden noch die israelische Praktikerin Lydia Amir, die beiden ehemaligen Präsidenten der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis (IGPP) Heidemarie Bennent-Vahle und Thomas Gutknecht sowie die in Norwegen tätige Praktikerin Guro Hansen Helskog und der ebenfalls in Norwegen tätige Praktiker Michael Noah Weiss (beide lehren Philosophie an der University of South-East Norway) genannt. Der Philosophischen Praxis wird also bisweilen eine gewisse Entwicklungsaufgabe beigemessen, die vor allem darin bestehe, die leiblichen und geistigen Voraussetzungen zu schaffen, zu entwickeln und zu pflegen. Freiheit wäre hier, wie der Bildungsphilosoph Roland Reichenbach (2000, 187) schreibt, eine »kontrafaktische Selbstzumutung, die das Individuum auf der Oberfläche seines Lebensflusses in widrigen Umständen zum ethischen Subjekt werden läßt«. Nicht um das Selbst einer Selbstverwirklichung geht es in erster Linie, sondern um das Subjekt und seine Transformation (in der Terminologie von Polednitschek das Ich als Person und seine Bildung). Schließlich erwähnt Romizi noch eine phänomenologische Richtung, zu der vor allem Anders Lindseth zu zählen ist, einer der frühen Praktiker im Anschluss an Achenbach und langjähriger Philosophieprofessor in Norwegen. In dieser Ausrichtung von Philosophischer Praxis spielen vor allem auch leibliches Erleben und vortheoretische Erfahrungen eine wichtige Rolle. Ute Gahlings, aktuell erste Vorsitzende der IGPP und Lehrende an der TU Darmstadt, bei der vor allem das Thema Leiblichkeit eine große Rolle spielt, ist hier ebenfalls zu nennen. 48 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Positionen zur Philosophischen Praxis

Es wären sicherlich noch andere Richtungen zu ergänzen, auch wenn sich deren Konturen nicht so deutlich abzeichnen mögen wie die von Romizi genannten. Vielleicht ließe sich hier auch von Verständnissen reden. Ein solches entwickelt etwa Damian Peikert (2019a) unter dem Begriff der klinischen Philosophie, die sich im Grenzbereich zwischen Philosophischer Praxis und Psychotherapie bewegt. Peikert spricht hier von einer medizinisch informierten Form Philosophischer Praxis mit dem Fokus auf der konkreten IchDu-Beziehung. Ein weiteres Verständnis soll an dieser Stelle zumindest noch genannt werden, weil es für den Fortgang dieser Arbeit noch von Bedeutung sein wird. Es lässt sich auf einfache Art zeigen, dass all die genannten Schulen und Richtungen auf antike Grundlegungen zurückführbar sind, vor allem auf die Schlüsselfigur Sokrates. Ein dort genannter grundlegender Gesichtspunkt ist allerdings noch nicht genannt worden, nämlich die politische Bedeutung. Der simple Umstand, dass sich antike Polis-Verhältnisse nicht einfach auf heutige hochkomplexe und sehr heterogene Gesellschaften übertragen lassen, macht »die Sache« aber gerade erst besonders spannend. Polednitschek weist der Philosophischen Praxis klar einen gesellschaftlichen Bildungsauftrag zu, insbesondere als politische Bildung: Sie stärke den Citoyen, der Verantwortung übernimmt, und zwar im öffentlichen Raum. Das kann als eine Spezifizierung der Verantwortung der Gäste in der Philosophischen Praxis gelten, denen es nach Achenbach allgemein darum geht, sich Rechenschaft über ihr Leben zu geben, und die sich Klarheit zu verschaffen hoffen. Während es bei Achenbach eher um ein gemeinsames Verstehen und Prüfen des eigenen Lebens geht, kommt die erweiterte Verantwortung – nämlich nicht nur für sich selbst – bei Polednitschek deutlicher zum Vorschein. Vielleicht ließe sich dabei besser von einer Arbeit am politischen Bewusstsein als von Bildung sprechen. Thomas Polednitschek, für den Philosophische Praxis politische Philosophie ist, hat an verschiedenen Stellen immer wieder angemahnt, den ursprünglichen Ort des philosophischen Wirkens, die für die Öffentlichkeit sinnbildliche Agora, nicht zu vergessen. Diese, so Polednitschek (2013, 84), sei der Ort, wo »private Probleme in die Sprache öffentlicher Anliegen ›übersetzt‹, ›transformiert‹ werden«. Philosophische Praxis sei diesbezüglich als Übersetzungsarbeit zu verstehen – ganz in Analogie zur Figur des »politischen Bürgers Sokrates«: 49 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Positionen zur Philosophischen Praxis

»Dieser Bürger ist für mich aber nicht nur der Philosophische Praktiker, sondern ebenso das ›politische‹ Ich der Gäste eines Praktikers. Wenn und wo für das ›politische‹ Ich der öffentliche Raum als der philosophische Ort des Philosophierens zum faktischen Ort seines politischen Denkens und Handelns wird, haben wir den Citoyen vor uns. Das Gegenteil zu dem Citoyen ist der Bourgeoise oder eben das ›entpolitisierte‹ Ich unserer Tage, dem die öffentlichen Angelegenheiten überhaupt kein persönliches Anliegen sind.«

Die gesellschaftskritische und aufklärerische Nuance ist hier unüberhörbar und soll später wieder aufgegriffen werden. Festzuhalten bleibt, dass es eine ganze Reihe von Praktikern gibt, die nach eigenem Bekunden eine ähnliche Position beziehen, etwa der vor Kurzem leider verstorbene Leon de Haas oder Cornelia Mooslechner-Brüll. Der von Romizi skizzierte Überblick enthält keine strikte Kategorisierung und zeugt von einer gewissen Unübersichtlichkeit der Landschaft. Sie spricht nicht von Zielen Philosophischer Praxis, sondern von Schulen und Richtungen, was der Beobachtung entspricht, dass dort jeweils andere markante Momente zur Geltung kommen. Manchmal stehe das Ziel von Philosophischer Praxis im Zentrum, manchmal gehe es primär um den methodischen Zugang in der Arbeit, mitunter seien theoretische Überlegungen im Vordergrund. Was nun Philosophische Praxis sei, wird durch die Autoren auf verschiedene Weisen beantwortet. Am Ende könnte doch wieder auf Marquard und Achenbach mit ihrer oben bereits genannten Formulierung, Philosophische Praxis sei philosophische Lebensberatung in der Praxis eines Philosophen, zurückgegriffen werden. Doch an dieser Stelle sollen zumindest noch ein paar andere exemplarische Positionen vorgestellt werden, die sich etwas intensiver mit dieser Frage befasst haben. Eine theoretische Auseinandersetzung mit Philosophischer Praxis hat beispielsweise Daniel Brandt (2017) unternommen. Einige markante Punkte seiner Arbeit sollen hier angerissen werden. Bei Brandt geht es einerseits um das Verhältnis zur Psychotherapie, wobei er hier keine stärkere Differenzierung der einzelnen Therapieschulen vornimmt. Ferner kommt das Verhältnis zur Philosophie selbst in den Blick. Brandt versucht sich an der oben genannten philosophisch-theoretischen Innenperspektive, also an der Herleitung der Antwort auf die Frage, was Philosophische Praxis sei, über die Philosophie selbst und kommt zu folgendem Schluss:

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»So wie die Philosophie als das, was sie ist, per definitionem definitionslos ist, so kann es auch keine allgemein bestimmbare Philosophie des Philosophierens geben. Zu fragen, was Philosophieren heißt, ist ein Sich-Üben in Philosophie; und das (Aus- und Ein-)Üben von Philosophie heißt zu philosophieren. Insofern nun Philosophische Praxis ebenso eine Weise des Philosophierens und damit eine Institution der Philosophie ist, kann es auch von ihr keine allgemeine Theorie geben. Was Philosophie ist, was es heißt zu philosophieren und worum es sich bei der Philosophischen Praxis handelt, kann nicht allgemein-theoretisch bestimmt, sondern nur im konkreten Vollzug gezeigt werden, indem man eben: philosophiert.« (Brand 2017, 83)

Mit Achenbach stellt Brandt (83 f.) für Philosophische Praxis fest, dass es keine sonst übliche Trennung zwischen Theorie und Metatheorie gebe; sie wird selbst zur praktizierenden Metatheorie, die Gespräche werden zu Metalogen: »Die Theorie Philosophischer Praxis – die Philosophie des Philosophierens – ist: zu philosophieren. Theorie und Praxis sind Momente des Philosophierens […] Es gibt nicht ›das Philosophische‹ der Philosophischen Praxis, weil diese Philosophieren – Denken von Wirklichkeit – und Philosophieren das Philosophische selbst ist –: nämlich das Wirkliche als Gedachtes, als wahrer Gedanke. Im begrifflichen Erfassen der Wirklichkeit, nimmt man Abstand von ihr, behält sie aber zugleich als Mitte, als Inhalt des Begriffs. Daher ist Philosophieren, die Bewegung des Denkens, das als philosophische Praxis – als Übung des Philosophierens – geschieht, immer ein Pendeln zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen einer Frage – einem ausgesprochenen Problem, das als solches, als sprachlich-begrifflich verhandeltes Phänomen, immer ›überindividuell‹ ist – und dem konkreten Involviertsein des Einzelnen, dem sich die Frage stellt bzw. der ›von der Frage gestellt‹ – in Frage gestellt – wird, weil er von ihr betroffen ist.« (Brandt 2017, 84 f.)

Brandt verweist also auf die Unmöglichkeit einer genauen bzw. allgemeingültigen Definition, weil sich der besondere Gegenstand erst in der Praxis selbst zeige, ihr Charakter sich erst dort offenbare. Auf Basis seines eigenen Verständnisses von Philosophie arbeitet er zwei verschiedene Momente heraus: Im Hinblick auf das erste spricht er von der »Rettung aus er Unverständlichkeit des Selbstverständlichen«, was im Grunde wieder auf das Staunen verweist. Er knüpft dabei sowohl an Achenbach selbst an als auch an Philosophen wie Heidegger, Wittgenstein, Adorno oder Marquard. Dabei kommen Aspekte wie die philosophische Sensibilität gegenüber den vermeint51 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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lichen Klarheiten sowie die erhöhte Empfindlichkeit gegenüber den selbstverständlichen Bedingungen des Lebens zur Sprache. Aus den Überlegungen zu diesen Grundfragen schält sich die Funktion des Philosophischen der Philosophischen Praxis allmählich heraus: »In der schrittweisen Erhellung des Frageraums, worin auch mögliche Antworten, aber vor allem die Beziehungen der Fragen zueinander sichtbar werden, liegt die Leistung des Philosophierens. Das zunächst selbstverständliche, philosophierend in Frage gestellte und nachfragend in Bewegung versetzte Dasein des Menschen soll in seiner Fraglichkeit und Fragwürdigkeit verständlich werden […] einen Ort des Verstehens, ein Verständnis für den Sinn des Fragens, der Bewegung des Denkens und dessen Wahrheit zu erringen, ist die Sache der Philosophie. Daher ist sie die Rettung aus der Unverständlichkeit des Selbstverständlichen.« (Brandt 2017, 98)

Er kommt auf das überaus interessante und immer wieder von verschiedenen Praktizierenden angesprochene Verhältnis vom Allgemeinen zum Besonderen bzw. Individuellen, das er bereits an anderer Stelle (Brandt 2008) näher ausgeführt hat. Das Allgemeine der Philosophischen Praxis wurzle im Konkreten des philosophischen Gesprächs. Interessant ist dabei die Analogie zum Menschen selbst, der bei Brandt (2008, 87) »essenziell als sich objektivierendes Subjekt – als konkrete Allgemeinheit – zu verstehen« sei. Neben diesem ersten, dem »selbstverständlichkeitserschütternden, gewissheitszersetzenden« Moment von Philosophie gibt er ein zweites an, nämlich den Gedanken, Philosophie sei zugleich Pathogen als auch Therapeutikum: »So wie ein Symptom immer bereits Ausdruck eines Kampfes ist, des Widerstands des Leibes gegen die Krankheit, von der er befallen ist, und also eigentlich das Ringen um Gesundheit anzeigt, so stellt das Philosophieren die Auseinandersetzung des Menschen mit seinem Menschsein – dem Dasein in der Welt – und den Versuch der Heilung seiner Angegriffenheit, der Verwundung durch das Dasein, das Denken seines Seins, dar.« (Brandt 2017, 114)

Schließlich lehnt sich Brandt (ebd., 134) an die eingangs vorgestellte Idee der Lebenskönnerschaft von Achenbach an und macht auf den Umstand aufmerksam, dass Probleme, Schwierigkeiten und Leiden genauso zum Leben gehören wie die Freuden und daher grundsätzlich nichts seien, was »primär zu behandeln und schnellstmöglich zu beseitigen wäre, sondern die Fülle der Existenz, die zu leben ist«. Für

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den Menschen hieße das, die eigene Lebenswirklichkeit zu reflektieren und die eigenen Möglichkeiten im Leben zu bedenken, um daraus Orientierung für den eigenen Weg gewinnen zu können. Hier komme Philosophische Praxis als Beratungsformat zum Tragen, weil sich in ihr Aufklärung des eigenen Möglichkeitsraumes ereigne und die Bewertung dieser Möglichkeiten im Hinblick auf das eigene Leben vorgenommen sowie die möglichen Wege zu deren Verwirklichung beleuchtet werden können. Dass Philosophische Praxis gar als »Ort der Bewährung von Weisheit« firmieren kann, womit Brandt (mit Achenbach) wieder an die antike Tradition anknüpft, kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Wichtig scheint dabei insgesamt die Perspektive zu sein, »den Menschen und dessen Blick auf sein Leben aus der Engführung und Beschränktheit der vorherrschend gewordenen medizinisch-therapeutischen Perspektive herauszuführen.« (Ebd., 134) Dezidiert mit der Frage nach dem Begriff, einer Theorie und den Methoden von Philosophischer Praxis hat sich auch Hendrik Wahler (2013) beschäftigt. Er attestiert den bisherigen Positionen in dieser Arbeit ein »auffälliges Defizit an philosophischer Substanz und theoretischer Fundierung«, das er zum Anlass für seine Überlegungen angibt. Insgesamt beschränken sich seine Ausführungen auf die individualberaterische Form, also die philosophische Lebensberatung. Außerdem übernimmt er die von Brandt vorgenommene Scheidung zwischen einer außen- und einer innenperspektivischen Begriffsbetrachtung. Beide müssten, so Wahler (2013, 92), in eine begriffliche Herleitung integriert werden. Ein rein aus der Außenperspektive entwickeltes Verständnis liefe Gefahr, den Charakter der Philosophie und der philosophischen Ethik unangemessen zu berücksichtigen, ja die Philosophie könne »sogar bis zur Unkenntlichkeit für äußere Zwecke instrumentalisiert« werden. Demgegenüber würde ein rein aus der Innenperspektive heraus entwickeltes Verständnis dem praktischen Wesen nicht gerecht werden, weil hier die Gefahr bestünde, »die Philosophische Lebensberatung für eine Realität und einen Beratungsbedarf zu entwickeln, den es faktisch nicht gibt«. Dieser Einschätzung kann ich mich aus Erfahrung anschließen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die begriffliche Herleitung, sondern auch für die praktische Ausrichtung eigener Tätigkeit selbst: Einerseits lässt sich nämlich nur schwerlich völlig am Markt vorbeiagieren, andererseits lässt sich so manche philosophiefremde Vernutzung von Philosophie

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ausmachen. Mitunter mag dies ein Spagat sein, eine mesotische Orientierung scheint m. E. vor allem eine Sache der Haltung zu sein. Es scheint mir ein Verdienst von Wahler (2013, 62–84) zu sein, verschiedene Ziele und Anwendungsgebiete Philosophischer Praxis zusammengetragen und jeweils kurz beleuchtet zu haben. Da eine ausführliche Diskussion dieser Punkte an dieser Stelle nicht erfolgen kann, sollen diese zumindest summarisch genannt werden. In der Diskussion um einen transformativen Ansatz wird darauf aber zurückzukommen sein. Wahler zählt also folgende Anwendungsgebiete bzw. Ziele auf: Orientierung und Identitätsfindung, Sinnstiftung (durch Perspektivenwechsel), individuelle Glücksverfolgung, Aufklärung und Klärung moralischer Fragen, Aufklärung über die Bedingungen menschlicher Existenz, Selbstbestimmte Lebensführung und Selbstverwirklichung, Aufklärung und Klärung fachphilosophischer Fragen. Diese Ziele und Anwendungsgebiete ordnet er drei verschiedenen Ethik-Ansätzen zu, nämlich der Pragmatischen Ethik (Strebensethik), der Normativen Ethik (Moralphilosophie) sowie der Existenziellen Ethik (Bewusstseinsethik). Diese Aufzählung verweist außerdem darauf, dass nicht auf alle Motive, Anliegen, Probleme und Ziele, die Grund für das Aufsuchen einer Philosophischen Praxis sind, auf die eine Art und Weise begegnet werden kann. Bei aller Unterschiedlichkeit der verschiedenen Ansätze: Menschen suchen eine Philosophische Praxis mit sehr unterschiedlichen Anliegen und Motiven auf, auf welche die einzelnen Praktiker auf verschiedene Weise antworten. Wahler, der in seiner Arbeit zur theoretischen Fundierung der Philosophischen Praxis auch sehr verschiedene Formen von Psychotherapie skizziert und mit der philosophischen Lebensberatung verglichen hat, hat dabei insgesamt überzeugend zeigen können, dass die pauschale Kritik an der Psychotherapie, die es so eben gar nicht gibt, in Teilen überholt und nicht gerechtfertigt ist. Allerdings geht er im Hinblick auf die Frage, was Philosophische Praxis soll, schon von Vorannahmen aus, die im Diskurs nicht unbedingt Konsens sind. Auf analytische und kritische Weise 13 hat er den Begriff der Philosophischen Lebensberatung wie folgt bestimmt: Die Herleitung der Definition erfolgt über verschiedene Schritte: So zeigt er anhand verschiedener Definitionen durch unterschiedliche Praktiker deren mehr oder weniger defizitäre Bestimmungsversuche – zu vage Bestimmungen ex negativo, zu unscharf usw.

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»Die Philosophische Lebensberatung ist eine Beratung in Lebensfragen auf philosophische Weise. Eine Beratung ist eine von einer ausgebildeten Person (Berater) ausgehende und an eine ratsuchende Person (Klient) gerichtete kommunikative Hilfe zur Selbsthilfe auf der Grundlage von Theorie und Methode mit dem Ziel, das die Beratung initiierende Anliegen des Klienten zu einer gemeinsam zu definierenden und vom Klienten zu evaluierenden Lösung zu führen. Lebensfragen sind Fragen (Probleme, Krisen, Anliegen) des Klienten, die so allgemein sind, dass sie über ihren situativen Entstehungskontext hinausweisen in das Ganze des Lebens – d. h. sie sind in der Regel Fragen nach Lebensorientierung, grundlegenden Lebensweisen, Lebensplanung, wegweisenden Entscheidungen, dem Sinn eines Ereignisses oder des Lebens als Ganzem. Philosophisch ist diese Lebensberatung einerseits durch die philosophische Ausbildung des Beraters, andererseits dadurch, dass sie sich kritisch und flexibel gegenüber ihrer eigenen Theorie und Methode verhält, was sich in der Möglichkeit eines methodologischen Diskurses während der Beratung niederschlägt.« (Wahler 2013, 152)

Auch diese Definition ist trotz ihrer Klarheit nicht allgemeingültig überzeugend, insbesondere deswegen, weil etwa von einem Teil der Praktizierenden bestritten wird, dass es in der Arbeit immer (oder überhaupt) um das Finden von Lösungen gehe. Der in verschiedenen Kontexten (Psychologie, Soziale Arbeit, Pädagogik usf.) häufig gebrauchte Begriff Hilfe zur Selbsthilfe, den in den Diskurs zur Philosophischen Praxis meines Wissens erstmals Michael Zdrenka im Jahre 1997 einführte, zeugt bereits von einer Zielperspektive, einer Problembewältigungsperspektive, die zumindest ein Teil der Praktiker nicht ohne Weiteres teilen würde. In diesem Punkt gibt es durchaus gegenteilige Positionen, beispielhaft sei hier (neben Achenbach) Ran Lahav (2017, 26 ff.; 110 ff.) genannt, für den solch ein Denkansatz eher in den Bereich der psychologischen Beratung falle: »Statt unser normales Leben zu hinterfragen und uns anzuspornen, es zu transzendieren, will er, dass wir uns zurück in die Normalität begeben. Anstatt uns aus der ›Höhle‹ unseres kleinen Lebens zu wecken, will er uns helfen, unsere Höhle auszuschmücken und sie gemütlicher zu machen.« (Lahav 2017, 111) Philosophie dürfe nicht bloß Instrument persönlicher Problemlösung oder Bedürfnisbefriedigung sein. 14 »Da»Natürlich ist nichts falsch dabei, den Menschen zu helfen, sich besser zu fühlen, dies ist jedoch nicht mehr Philosophie im ursprünglichen Sinne von Philo-sophia, von Liebe zur Weisheit und von Suche nach Wahrheit und Verständnis. Die Philosophie in ihrer tieferen Bedeutung ist eine Kritikerin unserer empfundenen Bedürfnisse, keine

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mit kommt das Ziel der Kundenzufriedenheit einem Verrat an der Philosophie als einer Suche nach Verständnis und Weisheit gleich.« (Ebd.) Über die Marktgängigkeit und all die damit verbundenen Problematiken wird immer wieder diskutiert.

Befriedigerin von Bedürfnissen. Sie zielt darauf ab, Unzufriedenheit zu erwecken, nicht, Zufriedenheit anzubieten. Sie strebt danach, Vielschichtigkeit und Erstaunen zu wecken, nicht, Lösungen und Selbstzufriedenheit zu erzeugen; die Wertschätzung für die Kompliziertheit und den Reichtum des Lebens zu fördern, nicht, das Leben zu Lösungen und Faziten zu vereinfachen. Wahre Philosophische Praxis bemüht sich darum, all das zu hinterfragen, was ›normal‹ ist, nicht, die Menschen in die Normalität zu führen.« (Lahav 2017, 112).

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4. Bemerkungen zur Begrifflichkeit

Viele Begriffe, mit denen wir es im Kontext Philosophischer Praxis zu tun haben, etwa Philosophie, Ethik, Philosophische Praxis usf., sind mit der Problematik konfrontiert, bisweilen als Containerbegriffe gebraucht zu werden. In diesen Container können alle möglichen Attribute hineingeworfen werden – aus guten und weniger guten Gründen. Das ist oftmals auch gar nicht problematisch – so funktioniert das alltägliche Sprechen einigermaßen gut. Doch birgt das nicht selten auch Potenzial für Konflikte, vor allem, wenn die Begriffe nicht selbst erhellt, sondern als gegenseitig selbstverständlich gebraucht werden. Die mitunter diametrale Bedeutung, die in der Verwendung nicht offen zur Geltung kommt, aus dem Verborgenen heraus aber eine bestimmte Wirkung erzielt, kann nicht wirklich erkannt und bearbeitet werden, wenn dafür nicht eine gewisse Bewusstheit vorhanden und ein entsprechendes Sensorium ausgebildet worden ist. In Philosophischer Praxis selbst, die in weiten Teilen Arbeit am Begriff ist, ist dieser Umstand nicht selten Ausgangspunkt für die gemeinsame philosophierende Tätigkeit. Für den Diskurs über Philosophische Praxis selbst scheint dies nicht immer zu gelten, auch wenn es sehr viele verschiedene Versuche gab, Begriffsverwendungen zu erhellen. Dieser Abschnitt stellt einen knappen Versuch dar, begrifflich nachzuforschen und ggf. zu schärfen. Beim Begriff der Philosophischen Praxis selbst ist es m. E. sinnvoll, sich zunächst an der Wortbedeutung im alltäglichen Sprachgebrauch zu orientieren. Es hat seine Gründe, warum die Idee heute, nach vierzig Jahren, gesellschaftlich betrachtet noch immer so unbekannt ist – diese Gründe liegen sicherlich nicht nur in der Begrifflichkeit, aber es wird wohl kaum jemand behaupten, dass sie hier nicht auch eine Rolle gespielt hat und noch immer spielt. Dazu ein unprätentiöser Gedankengang, der aus der begrifflichen Möglichkeit erwächst, all die verschiedenen Tätigkeiten und Anwendungsfelder unter den Begriff der Philosophischen Praxis 57 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Bemerkungen zur Begrifflichkeit

(philosophical practice) zu fassen. Die schematische Darstellung in Abbildung 1 soll bei diesem Gedankengang ein wenig unterstützen.

Performative Philosophie?

Wanderungen Reisen u.Ä.

(Fach-) Publikationen

Existentielle Lebensberatung (resp. Philosophische Lebensberatung

Außeruniversitäres Schreiben

Philosophische Beratung

Phil. Beratung in Organisationen/ Unternehmen

Vorträge Philosophische Gesprächskreise/ Cafés/Salons

Philosophische Praxis

Universitäre Lehrveranstaltungen



Philosophieren mit Kindern

Außeruniversitäre Seminare, Workshops u.Ä. Bekannte bestehende Formate

Coaching Super- bzw. Intervision

Street Philosophy



Abb. 1: Erscheinungsformen Philosophischer Praxis zur Diskussion, eigene Darstellung JK im Dialog mit Damian Peikert

Philosophische Praxis kann in diesem Sinne als eine Idee oder als eine besondere Weise des Philosophierens betrachtet werden, die an dieser Stelle zunächst einfach als eine dialogische bezeichnet werden soll – erst im Anschluss erfolgt dann eine nähere Bestimmung. Philosophische Praxis steht daher im Zentrum der Betrachtung. Alle anderen hier genannten Bezeichnungen stellen dann mehr oder weniger konkrete Erscheinungsformen Philosophischer Praxis dar. In manchen der hier genannten Beispiele, in der Darstellung etwas heller gezeichnet, kann besser davon gesprochen werden, wo die Weisen Philosophischer Praxis wirken oder wo sie zur Geltung kommen können – etwa in der performativen Philosophie. Führt man diesen Gedanken 58 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Bemerkungen zur Begrifflichkeit

weiter, heißt das freilich auch, dass sich Philosophische Praxis auch in der universitär-akademischen Lehre und andere Tätigkeiten zeigen kann. Insofern könnte von einer universitären und einer außeruniversitären Philosophischen Praxis gesprochen werden. Allerdings stellt sich hier die Frage, wozu diese Gegenüberstellung dienen soll – statt einer Trennung steht vielmehr eine integrative Idee im Vordergrund. Es könnte aber auch erneut als ein Statement gegen eine Verkürzung der Philosophie auf ihre analytisch-akademische Variante verstanden werden. Philosophische Beratung (philosophical counseling) meint hier einen Ober- oder Sammelbegriff für verschiedene konkrete Formate wie die Lebensberatung (= Individual- oder Paarberatung) oder die Beratung von bzw. in Organisationen und Unternehmen. Erst bei der Lebensberatung handelt es sich um eine konkrete Dienstleistung, die auch nach außen hin am Markt leichter verständlich angeboten werden kann. Andere Erscheinungsformen bzw. Formate wären daneben etwa Philosophische Salons, Cafés, Seminare etc. Im vierzig Jahre andauernden Diskurs dazu wurde solch eine begriffliche Schärfung bisweilen bereits vorgenommen, hat sich aber, warum auch immer, nicht wirklich durchsetzen können. Problematisch ist es allerdings dann, wenn im Diskurs über Philosophische Praxis der Begriff Philosophische Praxis tatsächlich nur für das Format der Lebensberatung in den Blick genommen wird, denn das führt m. E. zu einer verengenden Perspektive im Hinblick auf die Möglichkeiten, Potentiale und Lebenswirklichkeiten von Philosophischer Praxis insgesamt – und damit für die Akteure selbst. Eine klare Verengung ist es offensichtlich dann, wenn die Antwort auf die Frage Was ist Philosophische Praxis? inhaltlich deckungsgleich mit der Antwort auf die Frage Was ist philosophische Lebensberatung? ist. Statt also den allgemeineren Begriff der Philosophischen Praxis einzuengen, gilt es vielmehr, so die hier vertretene Position, den Begriff der Lebensberatung (oder eines alternativen Begriffs) zu schärfen, um letztere in der Öffentlichkeit als eine einigermaßen klar verständliche Dienstleistung zu positionieren. Um die besondere Weise der Lebensberatung begrifflich klarer zu machen, wird hier existentielle oder wie gehabt philosophische Lebensberatung vorgeschlagen. Diese Deutung hat also in ihrer Intention einen öffnenden Fokus: Statt sich in negativer Selbstdefinition an anderen Angeboten abzuarbeiten, ergibt sich für die Praktizierenden stattdessen die Perspektive, Philosophische Praxis in bekannte bestehende Formate wie Super- bzw. 59 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Bemerkungen zur Begrifflichkeit

Intervision, Mediation oder Coaching zu bringen. Auch dies wurde im aufgeführten Schema kenntlich gemacht. Praktizierende können dann dort in einer Weise Philosophischer Praxis arbeiten, wo sie sich persönlich wohlfühlen und wo sich jeweils Chancen ergeben. Das scheint m. E. praktikabler und realistischer zu sein. Folgt man dieser Einteilung, dann hieße das im Grunde, dass die Bezeichnung Philosophischer Praktiker für alle genannten Felder gelten würde, weil sich Philosophische Praxis eben auf alle möglichen Felder erstrecken kann, universitär und außeruniversitär. So gibt es auch eine ganze Reihe von Kollegen, die gar keine philosophische Lebensberatung anbieten, sich aber explizit als Philosophische Praktiker verstehen wollen. In dem Feld, das im internen Diskurs zumeist gemeint ist, wenn von Philosophischer Praxis und von Philosophischen Praktikern die Rede ist (siehe 3), nämlich philosophische (Lebens-)Beratung, könnte einfach das Adjektiv philosophische/r verwendet werden: philosophischer (Lebens-)Berater. 15 Ob an dieser Stelle der Anfangsbuchstabe klein oder groß geschrieben werden soll, müsste sicherlich noch festgelegt werden. Es gäbe in dieser Einteilung freilich noch andere Aspekte, Unterscheidungen bzw. Einordnungen zu beachten, etwa eine Unterscheidung von performativer Philosophie und dialogischer Philosophie, die hier aber nicht näher ausgeführt werden können. Wird der Tätigkeitsbereich Philosophischer Praxis auf alle möglichen Felder ausgeweitet, weil sie eben in diesen Feldern wirken kann, dann taucht aber freilich die Frage auf, worin der Unterschied zwischen Philosophischem Praktiker und Philosoph bestehen würde. Eine Konsequenz könnte sein, auf die Bezeichnung Philosophischer Praktiker einfach zu verzichten und stattdessen einfach nur Philosoph zu verwenden, wie es Kollegen bisweilen bereits tun. Denn es lässt sich doch fragen: Was spricht eigentlich gegen die (Berufs-)Bezeichnung Philosoph? Dies könnte ja als ein Statement verstanden werden – dieses Mal in zweierlei Richtung: Einerseits richtet es sich gegen ein anachronistisches elitäres und überhöhtes Verständnis von dem Philosophen und der Philosophie überhaupt. 16 Andererseits richtet es sich, wie bereits ausgeführt, gegen die Dominanz von PhiloDie österreichische Besonderheit, dass der Begriff der Lebensberatung dort rechtlich geschützt ist, muss freilich bedacht werden. 16 Es gibt tatsächlich Lehrstuhlinhaber in Philosophie, die sich aus einem solchen Verständnis heraus nicht als Philosophen bezeichnen. 15

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Bemerkungen zur Begrifflichkeit

sophie in ihrer analytisch-akademischen Ausprägung – Peikert (2020, 34) spricht diesbezüglich davon, dass ein »Studium der Philosophie heute mit nichts anderem zu entlassen scheint als der Befähigung zum konfrontativen, denunzierenden und ›welterklärenden‹ Argumentieren, was im Leben zumeist eines nur sicher zu leisten vermag: die Vermeidung und Verhinderung eines Dialoges.« Etwas überspitzt und im Sinne einer Diversifizierung formuliert, könnte das allgemeine Bild vom Philosophen erweitert werden: vom Universitätsprofessoren durch den Philosophen in eigener Praxis. Das haben Gerd Achenbach und andere bereits vorgemacht. Hinter einer Skepsis, sich schlicht als Philosoph zu bezeichnen, scheint andererseits auch die Vermutung zu stecken, dass ein Philosophiestudium für die Praxis, je nach Auffassung, wünschenswert oder notwendig sei, aber vermutlich nicht hinreichend. Das liegt einerseits an der Art und Weise universitärer Ausbildung bzw. an dem vorwiegenden Fokus universitärer Philosophie, andererseits an der Notwendigkeit des Erwerbs dialogischer und anderer Vermögen, die über Philosophie bzw. ein Philosophiestudium hinausgehen. Die beiden oben genannten Bildungsgänge in Philosophischer Praxis (Berufsverband für Philosophische Praxis und Universität Wien) zeugen davon. Für die Bezeichnung Philosophischer Praktiker spricht aber nicht nur letztere Vermutung. Achenbach hatte gute Gründe, sich mit einer neuen Bezeichnung abzuheben. Damit kann nicht nur auf konkrete Unterschiede aufmerksam gemacht werden, die Chancen stehen auch besser, dass gewisse ungünstige Assoziationen, die der Sache nicht gerade dienlich wären, nicht sofort alles Interesse im Keim ersticken. Denn es ist keine Kleinigkeit, dass etwas mit den Attributen abgehoben, nutzlos, unverständlich oder weltfremd assoziiert wird, wenn es bei der Suche nach Unterstützung gerade in Lebensfragen danach geht, an die richtige Stelle zu geraten. Ja, die Bezeichnung mag vergleichsweise noch recht unbekannt und etwas sperrig sein, aber es ist ja gerade dieses Sperrige, über das man stolpern kann, das aufmerken lässt. Wichtig ist dann aber, dass dies als Chance wahrgenommen und auch genutzt wird. Ein gutes Branding ist gefragt. In dieser Arbeit wird Philosophische Praxis sowohl als eine im Zentrum stehende Idee bzw. Weise als auch im Rahmen spezieller Formate thematisiert. Die philosophische Lebensberatung ist in diesem Sinne eine spezielle Erscheinungsform – für viele wohl die Kern61 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Bemerkungen zur Begrifflichkeit

tätigkeit –, die gleichzeitig eine konkrete Dienstleistung darstellt. Damian Peikert (2020, 22) hat dazu alternativ den Begriff der existentiellen Beratung vorgeschlagen, der allgemein scheinbar besser verstanden wird und mehr Offenheit auslöst, weshalb »die ›Einstiegshürde‹ wesentlich niedriger ausfällt als mit ›Philosophie‹« 17. Es fragt sich allerdings, inwieweit hier die Verwechslungsgefahr und Assoziation mit der Existenzgründung ein Problem darstellen würde. Insofern ist vielleicht die Bezeichnung existentielle Lebensberatung ein pragmatischer Kompromiss. Die hier vorgeschlagene Variante besitzt m. E. den oben bereits aufgeführten Vorteil der Öffnung: eine Öffnung hin zu einem integrativen und eine Brücke schlagenden Verständnis, ohne dass dabei das Philosophische verlorengeht – denn angeboten wird die existentielle Lebensberatung eben von einem Philosophischen Praktiker. Die hier vorgeschlagenen Bezeichnungen und Denkweisen haben sicherlich, sollten sie Beachtung finden, Auswirkungen auf das Berufspolitische. Am Ende soll hier insgesamt aber für einen entspannteren Umgang mit dem Begriff der Philosophischen Praxis plädiert werden. Dies mag zwar von der analytischen Perspektive her wenig befriedigend sein – ebenso von der berufspolitischen her. Beide möchten eine klare Definition. Nach außen hin soll eine kommunizierbare Definition stehen, die denjenigen Menschen, die sich mit all der Begrifflichkeit und den damit verbundenen Problemen wenig bis gar nicht befasst haben (und das auch gar nicht wollen), einen Eindruck vermitteln sollen, was sie von Philosophischer Praxis erwarten können und was nicht. Aber das ist eben der Punkt: Nicht Philosophische Praxis soll ein klares Angebot beschreiben, philosophische und existentielle Lebensberatung als eine Dienstleistung schon.

Peikerts Ausführungen konzentrieren sich zwar auf einen universitären Kontext und einen Bezug zum Klinischen, aber es darf getrost angenommen werden, dass sich dies verallgemeinern lässt.

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Teil II: Praxis zwischen Engagement, Begegnung, Kritik und Transformation

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5. Praxis als Weltöffnung: Der Praxisbegriff bei Hannah Arendt

Zur Einordnung: Philosophien der Praxis In diesem Abschnitt soll es unter anderem um gedankliche Reflexionen gehen, die sich mit der Begrifflichkeit der Philosophischen Praxis auseinandersetzen. Dazu soll an dieser Stelle zunächst ein Ausflug in die Denkart der Philosophien der Praxis gemacht werden, die möglichst schlanke und nüchterne Theorien sein wollen. Das Denken von Praxis ist in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem in den Sozialund Kulturwissenschaften unter dem Begriff der Praxeologie oder des practical turn zur Geltung gekommen. Es ist mit Namen wie Theodore Schatzki und – im deutschsprachigen Raum – Thomas Alkemeyer, Andreas Reckwitz, Hilmar Schäfer oder Frank Hillebrandt verbunden. In der Philosophie selbst sind die Praxisphilosophien ein offenes Forschungsfeld. An dieser Stelle soll eruiert werden, ob die philosophischen Grundlagen des Praxisansatzes für den Gegenstand der Philosophischen Praxis fruchtbar gemacht werden können. Als Bezugspunkte und Beispiele solcher Philosophien können etwa die Geistphilosophie Hegels sowie die sich daran anschließende linkshegelianische Tradition bis hin zum dialektischen Materialismus, der Pragmatismus, die pragmatistische Sprachphilosophie Wittgensteins oder die Praxistheorie Pierre Bourdieus genannt werden. Es zählen aber auch phänomenologisch-leibliche Ansätze im Anschluss an Husserl dazu, etwa der Ansatz Merleau-Pontys oder poststrukturalistische Ansätze bis hin zu Foucault. In der Theorie zur Philosophischen Praxis sind einige dieser Zugänge bereits thematisiert worden, etwa im Hinblick auf den Pragmatismus (Hack, Brandt) oder auf Wittgenstein (De Haas). Als gemeinsamer Bezugspunkt der verschiedenen Ansätze, ob implizit oder explizit, kann dabei der aristotelische Praxisbegriff gesehen werden. Aristoteles hat in seiner Nikomachischen Ethik und in seiner Politik bekanntlich eine Differenzierung der menschlichen Tätigkei65 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Praxis als Weltöffnung: Der Praxisbegriff bei Hannah Arendt

ten vorgenommen: Poiesis, Praxis und Theoria. Allen dreien ist ein Moment der Bewegung eigen. Die Poiesis bezieht sich auf die Herstellung und beschreibt daher die hervorbringende Tätigkeit, deren Zwecke außerhalb ihrer selbst liegen. Die Praxis hingegen ist sittliches Handeln bzw. handelndes Leben. Sie trägt ihre Zwecke in sich selbst und antwortet auf die Anforderung einer Situation in besonderer Weise, nämlich geleitet durch die phronēsis, die Klugheit. Sie geht demnach aus einer guten charakterlichen Verfasstheit (Tugend) hervor. Ihre Wirkung liegt dabei in erster Linie im Vollzug selbst. Insofern ist sie normativ als richtiges bzw. gutes Handeln (eupraxis) zu verstehen. Matthias Perkams (2019, 13) hat die Besonderheit aristotelischer Praxis, die für den weiteren Verlauf des Gedankengangs eine zentrale Rolle spielen wird, auf den Punkt gebracht: »Eine Aktivität, die konstant das gute menschliche Leben realisiert, indem sie für die menschliche Gemeinschaft direkt wirkt, und zwar, unter Leitung einer ihr angemessenen Rationalität, sowohl im Hinblick auf das Individuum selbst als auch im Hinblick auf politische Gemeinschaften.«

Thomas Bedorf und Selin Gerlek (2019) haben im Hinblick auf die Frage, was eine Philosophie der Praxis sein könne, was sie bedeuten könne – es müsse ja im Grunde eine besondere Art von Philosophie sein – darauf verwiesen, dass hier wohl von Philosophien der Praxis gesprochen werden müsse. Philosophie ist in vielerlei Hinsicht Klärungsarbeit. Sie sei »Reflexion darauf, was mit einem Sprachgebrauch gemeint ist. Sie versucht sich an der Klärung dessen, was überhaupt ein bestimmter Begriff bedeutet und wie er sich von anderen unterscheidet. Man darf daher sagen, dass Philosophie überhaupt und in der Hauptsache Arbeit am Begriff ist.« (Bedorf/Gerlek 2019, 1)

Eine Philosophie der Praxis ordne sich, so Bedorf und Gerlek (ebd., 2), nicht unter das übliche Schema einer Trennung von theoretischer und praktischer Philosophie ein, weil sie den Anspruch erhebe, »mehr als eine Teildisziplin der Philosophie zu sein. Sie ist keine Unterabteilung, sondern vielmehr eine bestimmte Weise, die Philosophie selbst zu verstehen; nämlich von der Praxis her.« Philosophie der Praxis denke auch das Verhältnis von Theorie und Praxis neu, sie nehme diese Unterscheidung in verschiedene Zuständigkeiten nicht fraglos hin, sondern schlägt »eine alternative Perspektive

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Zur Einordnung: Philosophien der Praxis

vor, in der die Fragen und Probleme der Philosophie sich anders stellen lassen«. Die bisherigen Ausführungen dieser Arbeit zeugen mitunter von dieser klassischen Trennung, die aus Sicht der Praxisphilosophien infrage gestellt wird. Das betrifft etwa die begrifflichen und kontingenten Voraussetzungen, von denen unhinterfragt ausgegangen wird, vor allem im Gebrauch von Gegenüberstellungen wie Individuum oder Gesellschaft. »Bisweilen unterstellt eine Philosophie der Praxis daher den klassisch neuzeitlichen dichotomischen Theorien eine Substantialisierung von Kategorien, die doch selbst sozial oder kulturell erzeugt worden und somit eben nichts ahistorisch Essentielles sind. Statt mit Begriffen zu beginnen, die Voraussetzungen machen, die wir nicht einholen können oder die sich dichotomisch gegenüberstehen, plädieren Theorien der Praxis dafür, mit einem mittleren Begriff zu beginnen, der gewissermaßen zwischen den beiden Polen steht: eben dem Begriff der Praxis […] Die Pointe des Praxisbegriffs liegt hingegen darin, dass er die Erzeugung sozialen und kulturellen Sinns weder monistisch noch in der Setzung von Abbildverhältnissen oder Parallelisierungen sehen will, sondern in performativen Vollzügen materiell-habitueller Ensembles.« (Bedorf/Gerlek 2019, 2 f.)

Diese Überlegungen führen zu dem Verständnis von Praxis als performativer Vollzug, wie es in diesem Kontext verstanden wird: »Eine Praxis wird dann verstanden als Vollzug von Körperbewegungen, die sich in einem Setting sozialen Sinns abspielen, durch Wiederholung eingeübt und als sinnhafte wiedererkennbar werden, aber sich dadurch zugleich von anderen unterscheiden.« (Ebd., 2) Praxis (oder Praktiken) sei demnach auch als »eine Form kollektiven Vollzugs zu verstehen, der sich nicht aus einzelnen zweckgerichteten Handlungen zusammensetzt: Praxis ist prinzipiell offen.« Als Performanz sei sie »nicht reduzibel auf die Bedingungen ihrer Hervorbringung oder die AkteurInnen und Strukturen, die verantwortlich für Form und Inhalt der jeweiligen Praxis sind, sondern ihre Bedeutung liegt in ihr selbst«. Das Ergebnis des Sprechens über eine bestimmte Praxis, das selbst eine Praxis sei, müsse dabei auf die Vorbedingungen dieses Zugriffs auf die Praxis hin untersucht werden.

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Handeln als Praxis bei Hannah Arendt

Handeln als Praxis bei Hannah Arendt Vor dem Hintergrund des hier vorgestellten Ansatzes eignet sich Hannah Arendt m. E. aus zwei Gründen in besonderer Weise, im Hinblick auf den Praxisbegriff bedacht zu werden: Zum einen denkt sie das Politische in einer Weise, wie es auch fruchtbar für die vorliegende Deutung von Philosophischer Praxis gedacht werden kann, zum anderen war ihr bekanntlich ebenso am Verstehen von Denkund Handlungsweisen gelegen wie an einer denkerischen Erschließung der Welt. Außerdem zeichnet sich Arendt als eine Denkerin aus, bei der weniger Theorie und stärker das Denken selbst sowie eine besondere Haltung zur Welt – sie nennt das öfters Liebe zur Welt bzw. Amor Mundi (vgl. Weißpflug 2019, 10 f.) – zentral sind. Obwohl sich in Arendts Werk das Wort Praxis selbst nicht so häufig ausmachen lässt, rekurriert sie diesbezüglich allerdings in dekonstruktiven, kritischen und weiterführenden Gedanken inhaltlich auf eine lange Tradition zwischen Platon und Marx (vgl. Schües 2019). Im Fokus steht bei ihr, stets vor dem Hintergrund der Grunderfahrungen der Moderne, vor allem die gemeinsame Welt der menschlichen Angelegenheiten, insbesondere der Politik als gemeinsamer Handlungsraum. In ihrer Schrift Was ist Politik? meint Arendt (1993, 24): »Im Mittelpunkt der Politik steht die Sorge um die Welt« – eine Welt, die es ohne Andere nicht gäbe: »Will ein Mensch die Welt, so wie sie ›wirklich‹ ist, sehen und erfahren, so kann er es nur, indem er sie als etwas versteht, was Vielen gemeinsam ist, zwischen ihnen daher nur in dem Maß verständlich wird, als Viele miteinander reden und ihre Meinungen, ihre Perspektiven, miteinander und gegeneinander austauschen. Erst in der Freiheit des Miteinander-Redens entsteht überhaupt Welt als das, worüber gesprochen wird, in ihrer von allen Seiten her sichtbaren Objektivität.«

Welt ist für sie etwas Sinnliches, sie ist Erscheinung, die von den empfindenden Wesen (Menschen und Tiere) je auf eigene Weise wahrgenommen wird. Gemeint ist dabei allerdings nicht, dass unterschiedliche Perspektiven auf eine objektive Realität schauen, die von einem absoluten Standpunkt aus erkannt werden könne, denn das Zwischen der Welt konstituiere sich überhaupt erst aus den verschiedenen Blickwinkeln heraus (vgl. Weißpflug 2019, 225). Welterschließung enthält daher zwei Momente, die in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen müssen, nämlich das Vor-Finden einer 68 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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bereits vorhandenen Welt (Welt-Findung) und ein Er-Finden von etwas Neuem (Welt-Erfindung). 18 Vor dem Hintergrund totalitärer Erfahrungen und dem »Kollaps der Welt« geht es ihr letztlich um die Frage nach den menschlichen Bedingtheiten und der Versöhnung mit der Welt, also um die Frage, wie wir wieder in der Welt zuhause sein können. Christina Schües (2019, 181) hat das Anliegen Arendts wie folgt charakterisiert: »Es geht ihr also sowohl um ein Verstehen der menschlichen Bedingtheit und Verfasstheit (conditio humana) als auch um eine Versöhnung mit der Welt, die mit dem Verstehen der weltlichen Bedingtheit und Verfasstheit – ich nenne sie die conditio mundana – verknüpft ist. Verstehen und Versöhnung sind verbunden mit der Möglichkeit der Gestaltung einer gemeinsamen Lebenswelt der mitmenschlichen Angelegenheiten und – im engeren Sinne eines Praxisbegriffs – mit einer Neukonstitution eines politischen Raums durch ein politisches Handeln und Sprechen miteinander.«

Verstehen des Menschen, Verständigung und Engagement – dies charakterisiert auch die Anliegen der hier vertretenen Idee von Philosophischer Praxis. An dieser Stelle kann allerdings nicht auf die historischen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen eingegangen werden, die Arendt diesbezüglich analysiert, um daraus verschiedene modernitätskritische Beobachtungen zu gewinnen. Hier ist nur ein knapper Blick auf die mit der hier behandelten Thematik verbundenen Ausführungen möglich. In ihrem Buch Vita activa (2016), das im englischen Original The Human Condition 1958 erschienen war, geht sie auf die Grundfrage ein, was wir tun, wenn wir tätig sind. Die Weisen des Tätigseins können dabei als Antworten auf die conditio humana verstanden werden, wobei Arendt insoweit die grundlegenden Bedingtheiten menschlicher Existenz im Leben, in der Natalität und der Mortalität sowie in der Weltlichkeit und der Pluralität ausmacht. Dieses Tätigsein selbst teilt sie in die drei Weisen der Arbeit, des Herstellens und des Handelns (Praxis) ein, weil ihnen je eine Grundbedingung entspräche, »unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf

Maike Weißpflug (2019, 226) bemerkt diesbezüglich, dass für erstere, also die Weltfindung vor allem die philosophische Hermeneutik (v. a. Heidegger und Gadamer) steht, hingegen für die zweite Form der Neu-Erfindung idealtypisch Richard Rorty, der das kreative Moment des radikal Neuen in den Prozessen der Welterschließung betont.

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der Erde gegeben ist« (Arendt 2016, 16). Jede Art des Tuns eröffnet uns dabei andere Erfahrungshorizonte. Folglich handelt es sich dabei nicht bloß um einfache »Schubladen«, das sei an dieser Stelle vorausgeschickt, mit denen wir konkrete Tätigkeiten kategorisieren können. Sophie Loidolt (2020) spricht diesbezüglich von Sinnräumen, die uns durch verschiedenartiges Tun jeweils eröffnet bzw. angeboten werden. Wir sind leibliche Wesen und das Tun strukturiert jeweils situativ den Raum um uns herum auf eine gewisse »raumzeitlich-leiblichsoziale Logik«: »Indem wir also tätig sind, erleben wir eine gewisse Zeitlichkeit, eine bestimmte Räumlichkeit, eine Kausalität, Formen der Interaktion, alles, was uns mit der Welt in Beziehung setzt und uns verortet. Wenn wir etwa in einem Raum zusammen Musik machen, dann ist dieser automatisch dadurch orientiert, dass die Akustik hier besser und dort schlechter ist; dass wir so und so sitzen, um uns Zeichen des Einsatzes geben zu können. Der Rhythmus des Stückes gibt uns die Phasen unserer Zeitlichkeit vor; das Beherrschen oder Nicht-Beherrschen des Instrumentes ist, unter anderem, auch ein leibliche Erfahrung. Diese Strukturierung zum Beispiel einer Musik-Welt, die durch die Tätigkeit des Musik-Machens entsteht, nenne ich einen Sinnraum.« (Loidolt 2020, 174)

Arendt verweist hinsichtlich dieser Tätigkeitsweisen auf das antike Griechenland, in dem die Arbeit vorwiegend Sache der Sklaven war, das Herstellen sich neben dem Handwerk auch auf alle künstlerischen Tätigkeiten bezog und das Handeln alle politischen Tätigkeiten umfasste. Erst in der Moderne fielen all diese Tätigkeiten zunehmend unter den Begriff der Arbeit. Daneben stand das geistige Leben, die Vita contemplativa. Zentral ist in dieser Kategorisierung die an Aristoteles anknüpfende Vorstellung einer Praxis, die auf den Bereich zwischen den Menschen ausgerichtet sei und eine gemeinsame (Zwischen-)Welt konstituiere. Dieses selbstzweckhafte Handeln stellt für Arendt deshalb die höchste Form menschlicher Tätigkeit dar. Damit geht eine Kritik einher, welche die heutige deutliche Fokussierung auf Arbeit kritisiert, die sogar mit einer Weltentfremdung einhergehe. Während die Grundbedingung der Arbeit dem biologischen Prozess des menschlichen Körpers, also dem Leben selbst, entspräche, weil Arbeit die dafür notwendigen Naturdinge erzeuge und zubereite, komme im Herstellen das Produzieren von künstlichen Dingen hinzu. Grundbedingung sei hier die Weltlichkeit, also die »Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Gegenständlichkeit und Objektivität« 70 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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(ebd., 16). Das Handeln (inklusive des Sprechens) vollziehe sich im Gegensatz zur Arbeit und zur Herstellung zwischen den Menschen selbst, ganz ohne die Vermittlung von Material und Dingen. Die Grundbedingung sieht Arendt in der Pluralität der Menschen, die gerade in Zeiten des Totalitären nicht zum Tragen komme. Pluralität sei dabei »nämlich der Tatsache [geschuldet], daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Erde bevölkern […] Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.« (Ebd., 17)

Das Handeln sei jene höchste Form der Vita activa, die auf besondere Weise mit der Vita contemplativa, der auf Denken, Wollen und Urteilen ausgerichteten geistigen Form des Lebens, verbunden sei. Christina Schües (2019, 200 f.) macht allerdings darauf aufmerksam, dass es eine Fehlinterpretation des arendtschen Praxisbegriffs sei, diesen bloß bzw. überhaupt normativ zu verstehen. Es sei keine optimistische, moralisch notwendig zum Guten führende Theorie der Praxis. Dies beziehe sich vor allem auf das Moment des Anfangens und die erkenntnistheoretischen Grenzen: »Wir können die Konsequenzen einer Handlung nicht voraussehen. Wenn wir es könnten, dann würde die Möglichkeit des Handelns selbst vernichtet werden.« Die Bedeutung des Bezugs auf die den Menschen gemeinsame Welt wird durch die begriffliche Unterscheidung zur umgebenden (Um-)Welt deutlich, weil erstere im Gegensatz zur letzteren überhaupt erst durch handelnde und sprechende Interaktion entstehe. Das Augenmerk wird also auf die zwischenmenschliche, beziehungshafte Praxis gelegt. Aus dem wandelbaren Charakter dieser gemeinsamen Welt geht die Möglichkeit ihrer Veränderbarkeit hervor, aber auch die Notwendigkeit der handelnden, sprechenden und urteilenden Interaktion. Dies gilt für verschiedenste Dimensionen bzw. Räume der gemeinsamen Welt, also nicht nur für das Politische, wie etwa Schües (2019, 180) im Hinblick auf Arendt betont: »Die gemeinsame Welt ist nicht gleich dem politischen Raum. Sie mit ihm zu identifizieren, würde sie auf den Aspekt des politischen Organisierens und Verhandelns reduzieren, was dem pluralen und vielschichtigen Bereich der menschlichen Existenz, den unterschiedlichen

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Tätigkeiten und der Weise, wie jemand als eine Person erscheint, nicht gerecht würde.«

Arendts Diagnose, die sie durch ihre historischen und gesellschaftskritischen Untersuchungen gewonnen hat, ist der Verlust von Welt zwischen den Menschen. Ihr Anliegen besteht demnach in einer Wiedergewinnung einer gemeinsamen und einer öffentlich-politischen Welt durch menschliche Praxis. Diese sei aufgrund der Pluralität der Menschen nicht auf Gleichschaltung und Konformität ausgerichtet – so ihre Kritik an der Massengesellschaft –, sondern auf Freiheit. Und letztere hat eben ihren Ort im Raum des Zwischen. Ähnliches gilt für die Kritik an der Arbeitsgesellschaft, die eigentlich eine Jobgesellschaft sei, weil es in ihr bloß um ein automatisches Funktionieren gehe, »als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig ›beruhigt‹ desto besser und reibungsloser ›funktionieren‹ zu können. Das Beunruhigende an den modernen Theorien des Behaviorismus ist nicht, daß sie nicht stimmen, sondern daß sie im Gegenteil sich als nur zu richtig erweisen könnten, daß sie vielleicht nur in theoretisch verabsolutierender Form beschreiben, was in der modernen Gesellschaft wirklich vorgeht. Es ist durchaus denkbar, daß die Neuzeit, die mit einer so unerhörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller menschlicher Vermögen und Tätigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.« (Arendt 2016, 410 f.)

Zur genannten Wiedergewinnung einer öffentlich-politischen Welt durch menschliche Praxis knüpft Arendt an Karl Marx an, der den Praxisbegriff im Sinne einer kritischen Tätigkeit verwendet. »Hatte Platon den Bereich der menschlichen Angelegenheiten strikt von der Philosophie unterschieden, was die abendländische Philosophie nachhaltig prägte, so hebe Karl Marx diese Unterscheidung wieder auf, indem er die Philosophie in den Bereich der menschlichen Angelegenheiten hinein brachte.« (Schües 2019, 187)

Auch Arendt teilt dabei die Beobachtung einer Entfremdung des Menschen, allerdings deutete sie diese, anders als Marx, nicht als Selbstentfremdung, die sich im Produktionsprozess ereignet, sondern 72 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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als Weltentfremdung. Ähnliches gilt für die unterschiedliche Bewertung der Arbeit. »Marx versteht den gesellschaftlichen Arbeitsprozess als Entäußerung der menschlichen Gattungskräfte, während Arendt Arbeit in Anlehnung an das antike Verständnis als biologische Notwendigkeit der Reproduktion menschlichen Lebens auffasst.« (Schües 2019, 188) Die Kritik beziehe sich vor allem auf eine undifferenzierte Begrifflichkeit im Hinblick auf die Praxis, die Einebnung der Begriffe Herstellen und Arbeit, die am Ende zu einer widersprüchlichen Deutung von Arbeit führe: Einerseits nehme Marx eine Aufwertung der Arbeit vor und bestimme den Menschen als Animal laborans, andererseits sei das Ziel aller revolutionären Bestrebungen, den Menschen von der Arbeit zu befreien. 19 Entscheidend scheint diesbezüglich zu sein, dass Arendt Arbeit eben nicht für die höchste Form menschlicher Tätigkeit hält und sie daher, anders als Marx, nicht als zentral für die politische Praxis auffasst. Eine von der Arbeit befreite Gesellschaft würde nach diesem Vorbild letztlich auf eine politikfreie Gesellschaft hinauslaufen, wie Schües (2019, 192) in Bezug auf Arendt meint: »Die Sorge hier wäre also, das mit dem Sprung aus der Theorie in die Praxis diese letztendlich ent-leert und ent-wirklicht wird. Damit wäre das politische Handeln und die politische Erfahrung an ihr Ende gekommen.« (Schües 2019, 192) Das entspräche allerdings nicht der von Arendt als zentral erachteten Pluralität der Menschen und dem damit einhergehenden pluralen Charakter des Politischen. In der Unterscheidung eines Praxisbegriffs im weiteren Sinne als Vita activa und im engeren als politisches Handeln knüpfe Arendt nicht nur an Aristoteles an, sondern auch an Kants Begriff der Urteilskraft sowie an Heideggers Weltbegriff, aus dem Arendt den Begriff der Zwischenwelt konzipiert. Diese wird dabei als Raum für Begegnung und Gespräch zwischen den Menschen gedacht. In Rückgriff auf die bereits erwähnte aristotelische Unterscheidung von schauender Theorie und tätiger Praxis, von theoretisch-philosophischer und praktischer Lebensform, lässt sich ein weiter Begriff bzw. ein Oberbegriff von Praxis gewinnen, der verschiedene Tätigkeitsformen entDie Utopie einer durch eine Freiheitspraxis geprägten Gesellschaft, in der menschliche Tätigkeit nicht wie bei der Arbeit an den Zwang äußerer Zwecke gebunden sei, bleibt zwar auch für Arendt ein gedanklicher Bezugspunkt, gleichwohl hält sie dies für eine Illusion, weil die überschüssige Zeit, so Arendts Ansicht, für konsumistische Bestrebungen der Menschen verwendet werden würde. Eine Emanzipation vom Konsum selbst hält sie anscheinend nicht für realistisch.

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hält. Aristoteles unterscheidet die tätige Praxis auf der darunterliegenden Ebene noch in die handelnde Praxis und die hervorbringende Poiesis. Hier übernimmt Arendt den normativen Bezug der Praxis, nämlich die Ausrichtung auf die Gutheit bzw. Trefflichkeit sowie den Bezug auf das Leben der handelnden Person (bios), deren Bio-graphie. Genau dieser Lebensbezug sei nun ausgerichtet auf die zwischenmenschliche Welt. Dazu Arendt (2016, 116): »Das Hauptmerkmal des menschlichen Lebens, dessen Erscheinen und Verschwinden weltliche Ereignisse sind, besteht darin, daß es selbst aus Ereignissen sich gleichsam zusammensetzt, die am Ende als eine Geschichte erzählt werden können, die Lebensgeschichte, die jedem menschlichen Leben zukommt und die, wenn sie aufgezeichnet, also in eine Bio-graphie verdinglicht wird, als ein Weltding weiter bestehen kann. Von diesem Leben, von dem βίος [bíos] zum Unterschied von ζωή [zôē´], hat Aristoteles gemeint, daß es eine πρᾶξις [prâxis] ist.«

Leben ist dieser Idee nach vorwiegend Handeln bzw. Praxis in einer gemeinsamen Welt mitmenschlicher Angelegenheiten; Produzieren und Arbeit können also nicht die Kategorien auf dem Weg der Wiedergewinnung einer gemeinsamen Welt zwischen den Menschen sowie eines politischen Raumes sein. Arendt knüpft in ihrer Konzeption zwar an Aristoteles an und übernimmt dessen Bezug auf das Subjekt selbst, also die Relevanz der Einzelhandlung für das Subjekt, auch im gesellschaftlichen Kontext. Allerdings geht sie über ihn hinaus, weil für sie Handlung, also Praxis, erst dann stattfindet, wenn das Einzelhandeln sich selbst überschreitet und mit einem öffentlichen Erscheinungsraum gemeinsamer Welt – sie nennt dies Zwischenraum – verschränkt. Es ließe sich hier wohl auch mit Jaspers (1973a, 116) von der »sich verwandelnde[n] Selbsterzeugung des Menschen« sprechen. 20 Welteröffnung gelinge über die Kategorien von Handeln (praxis) und Sprechen (lexis) – in ihnen komme gerade die Einzigartigkeit

Genauer heißt es hier bei Jaspers (1973a, 116): »Jedoch ist Handeln nicht nur technisches Machen, sondern auch Pflegen und Erziehen und politisches Handeln als Handeln in Gemeinschaft und im Kampf von Vernunftwesen, Verändern der Welt ist nicht nur technisches Hervorbringen, sondern die sich verwandelnde Selbsterzeugung des Menschen. Handeln orientiert sich daher nicht nur an dem in der Kausalkategorie Gewußten, sondern an jeder Form des Bestandes, wie ihn Weltorientierung zur Klarheit bringt.«

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und Pluralität der Menschen zum Ausdruck. 21 Dies gilt auch für die Freiheit selbst, wie sie etwa in ihrem Essay Die Freiheit, frei zu sein (2018, 22) ausführt: »Die öffentliche Freiheit ist eine handfeste lebensweltliche Realität, geschaffen von Menschen, um in der Öffentlichkeit gemeinsam Freude zu haben – um von anderen gesehen, gehört, erkannt und erinnert zu werden. Und diese Art von Freiheit erfordert Gleichheit, sie ist nur unter seinesgleichen möglich.«

Die Zusammengehörigkeit von Handeln und Sprechen sowie die Verortung im Bereich der menschlichen Angelegenheiten übernimmt sie von Aristoteles bzw. von Platon – politisches Handeln ist in diesem Sinne sprachlich gefasst. Wir schalten uns sprechend und handelnd »in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen«. (Arendt 2016, 215) Im Handeln und Sprechen webt der Mensch seine eigenen (Lebens-)Fäden in das bereits vorgefundene Gespinst der Welt auf einmalige Weise ein, die am Ende als Lebensgeschichten erzählbar werden. Der persönliche Lebensbezug wird an dieser Stelle deutlich. Die Person enthüllt sich genau hier, in ihrem Handeln und Sprechen. 22 Diese geben Antwort auf die Frage: »Wer bist du? Aufschluß darüber, wer jemand ist, geben implizit sowohl Worte wie Taten« (ebd., 217). Christina Schües (2019, 196) nennt dies die performativ-kommunikative Funktion von Praxis. Durch sie tritt jemand als jemand und mit jemandem in Erscheinung. Insgesamt zeigt sich, dass Praxis bei Arendt eine Sache ist, die zwischen Menschen verwirklicht wird, bei der sich die Pluralität zeigt

»Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart. Dies aktive In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens beruht, im Unterschied von dem Erscheinen des Menschen in der Welt durch Geburt, auf einer Initiative, die er selbst ergreift, aber nicht in dem Sinne, daß es dafür eines besonderen Entschlusses bedürfte; kein Mensch kann des Sprechens und des Handelns ganz und gar entraten, und dies wiederum trifft auf keine andere Tätigkeit der Vita activa zu.« (Arendt 2016, 214) 22 Gleichzeitig verhüllt sie sich aber auch, und zwar nicht (nur) aus Berechnung, sondern aus existentieller Notwendigkeit, wie Plessner darlegt (sh. dort »homo absconditus«). 21

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und bei der ein Zwischen eröffnet wird. Dies gelte, so Schües (2019, 196) für den Bereich des Inter-esses zwischen den Menschen, »der sich aus den konkreten Beziehungen miteinander hinsichtlich eines Themas, über das gesprochen wird, oder eines gemeinsamen Interesses an einer Sache, die Menschen miteinander verfolgen, ergibt. Dieser Zwischenraum als Praxis wird durch ein weltlich Gegebenes, auf das sich die Handelnden und Sprechenden beziehen, nachweisbar und sichtbar.«

Es gibt aber noch einen zweiten Aspekt dieses Zwischen, den Arendt als »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« bezeichnet und der sich aus dem genannten Aufschluss darüber ergibt, wer jemand ist: Es ist das unverwechselbar Einmalige des Wer-einer-ist – im Gegensatz zum Was-einer-ist –, das sich jedem Versuch entzieht, es eindeutig in Worte zu fassen. Arendt nennt dies auch Selbstoffenbarung. »Produkt« dieses Handelns seien Geschichten bzw. Lebensgeschichten, wobei nicht behauptet werden solle, dass die »Helden« souveräne Autoren dieser Geschichten seien. In ihrem Tun würden sie vielmehr in Praxen mit anderen hineingeraten. 23 Dies könne auch in Aporien enden. Damit geht einher, dass Praxis sich durch ein Weiterführen (prattein) ihrer selbst charakterisiert. Das muss freilich nicht immer gelingen und kann zudem unvorhersehbare, teils irreversible Folgen haben, weil aus der begonnenen Einzelhandlung heraus durch die Involviertheit in eine gemeinsame Praxis nicht absehbar ist, was aus der ursprünglichen Intention des Begonnenen wird. »Im Gegensatz zu allen Herstellungsprozessen, deren Gang vorgezeichnet ist durch die Vorstellung oder das Modell, in deren Besitz der Herstellende sein muß, bevor er sein Werk beginnt, erhellen sich Handlungsprozesse – gleich welchen Inhalt und Charakter sie haben, ob sie im Privaten oder im Öffentlichen sich abspielen, ob viele oder wenige an ihnen beteiligt sind – erst dann, wenn das Handeln selbst an seinen Abschluß gekommen ist, oft wenn alle Beteiligten tot sind. Es »Kein Mensch kann sein Leben ›gestalten‹ oder seine Lebensgeschichte hervorbringen, obwohl ein jeder sie selbst begann, als er sprechend und handelnd sich in die Menschenwelt einschaltete. Obwohl also erzählbare Geschichten die eigentlichen ›Produkte‹ des Handelns und Sprechens sind, und wiewohl der Geschichtscharakter dieser ›Produkte‹ dem geschuldet ist, daß handelnd und sprechend die Menschen sich als Personen enthüllen und so den ›Helden‹ konstituieren, von dem die Geschichte handeln wird, mangelt der Geschichte selbst gleichsam ihr Verfasser. Jemand hat sie begonnen, hat sie handelnd dargestellt und erlitten, aber niemand hat sie ersonnen.« (Arendt 2016, 227).

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gibt keine Ereignisse, die eindeutig in die Zukunft weisen, so sehr sie auch immer ihr Licht auf das Vergangene werfen mögen. Darum kennen die volle Bedeutung dessen, was sich handelnd jeweils ereignete, nicht diejenigen, die in das Handeln verstrickt waren und direkt von ihm betroffen, sondern derjenige, der schließlich die Geschichte überblickt und erzählt.« (Arendt 2016, 240)

Da die Praxis konstitutiv für die (Zwischen-)Welt sei, müsse sie aber aufrechterhalten werden. Darin kann freilich ebenfalls eine Gefahr liegen, dann nämlich, wenn die Aufrechterhaltung zur sinnentleerten Routine wird. Dann bedarf es des Neuanfangs, müssen Zwischenund politische Räume wieder neu geöffnet werden. 24 Schließlich ist im Hinblick auf den vorliegenden Kontext noch die Verknüpfung von Handeln und Verantwortung zu erwähnen, die bei Arendt verschiedentlich eine Rolle spielt. Die Praxis des einmischenden Handelns in die Angelegenheiten der Zeit und des Antwortens auf die gesellschaftlichen Herausforderungen sei für Arendt zwar keine moralische Verpflichtung, so die Einschätzung von Schües (2019, 205 f.), basiere aber auf einer existentiellen Verantwortung und einer Liebe bzw. Sorge für die Welt, für die Beziehungen und Verhältnisse zwischen den Menschen: »Zum einen kann amor mundi als Liebe zur Welt, als Sorge um und Verantwortung für die Welt gedeutet werden und zum anderen als die Sorge in der Welt, d. h. der Zwischenwelt, der Beziehungsnetze, die uns tragen, in die wir hineingeboren werden, in denen wir leben, handeln und sprechen und in denen auch wir Verantwortung, Sorge oder Liebe für uns erfahren.« (Schües 2019, 206)

Ein besonderer Beitrag, der im Hinblick auf die Liebe zur und in der Welt geleistet werden kann, sei der Einbezug der Urteilskraft in die

»Insofern uns die Fähigkeit zum Handeln und Sprechen – und Sprechen ist nichts weiter als eine andere Form des Handelns – zu politischen Wesen macht und da Agieren seit jeher bedeutet, etwas in Bewegung zu setzen, das zuvor nicht da war, ist Geburt, menschliche Gebürtlichkeit als Entsprechung zur Sterblichkeit des Menschen, die ontologisch conditio sine qua non aller Politik.« (Arendt 2018, 37) Thomas Meyer bemerkt im Nachwort zu Die Freiheit, frei zu sein: »Hannah Arendts Idee, dass mit der Geburt eines jeden Menschen, eines jeden Gedankens ein ebenso kleiner wie radikaler, jedwede historische Erfahrung und jede Form des Pessimismus widerlegender Neuanfang gemacht ist, gehört zum Unerhörtesten, was die moderne Geschichte des Denkens zu bieten hat.« Auf den philosophisch wichtigen Aspekt der Natalität bzw. Gebürtlichkeit des Menschen (im Gegensatz zu seiner Sterblichkeit) bei Arendt kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.

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bzw. deren Zur-Geltung-Bringen in der Praxis. Diese spielt für den Prozess der Meinungsbildung eine zentrale Rolle – übrigens ein Prozess, der im Hinblick auf politische Meinungen anders funktioniere als im Hinblick auf philosophische (im Sinne von wissenschaftlichphilosophischen). Während bei letzterer Meinungsbildung der Fokus aufs Allgemeine gerichtet ist, die Meinungen also aus einer übergeordneten Perspektive gewonnen werden, seien politische Meinungen »vielmehr grundsätzlich von unseren Vorstellungen bezüglich Fragen des Guten eingefärbt«, so Steffen Herrmann (2019, 264). »Damit will Arendt freilich nicht sagen, dass politische Meinungen beliebige Geschmacksfragen sind, sondern vielmehr, dass sie einer anderen Rationalität gehorchen als wissenschaftliche Meinungen.« Arendt rekurriert an verschiedenen Stellen auf Kants ästhetische Theorie, insbesondere die Vorstellung einer reflektierenden Urteilskraft, und verweist somit auf die Zusammengehörigkeit von Denken und Urteilen. In einem Aufsatz über den Zusammenhang von Denken und Moral aus dem Jahr 1971 heißt es bei Arendt (1994, 154 f.), die Urteilskraft sei das politischste unter den geistigen Vermögen. In ihr zeige sich eine besondere Weise des Denkens. Denken ist für Arendt nicht per se gesellschaftlich oder politisch gut, wie es ein kritisches, gegen konformistisches Mit-Laufen gerichtetes und damit befreiendes Denken sei, das sich deutlich bei Sokrates zeige: »Wenn jeder nicht-denkend hinweggefegt wird von dem, was alle anderen tun und glauben, werden diejenigen, die denken, aus dem Versteck herausgezogen, weil ihre Weigerung, sich allen anzuschließen, auffällt und deshalb zu einer Art Tat wird. Das reinigende Element im Denken – Sokrates’ Hebammenkunst, die die verborgenen Bestandteile unerforschter Meinungen, also Werte, Lehren, Theorien und selbst Überzeugungen, an die Oberfläche befördert und sie dadurch zerstört – ist durch Implikation politisch.« (Arendt 1994, 154)

Denken und Urteilen gehören zwar auf gewisse Art zusammen, unterscheiden sich aber in ihrem jeweiligen Bezug auf die Dinge. Dabei sei Urteilskraft »die Fähigkeit, Besonderheiten zu beurteilen, ohne sie unter jene allgemeinen Regeln zu subsumieren, die gelehrt und gelernt werden können, bis sie sich zu Gewohnheiten entwickeln, welche von anderen Gewohnheiten und Regeln ersetzt werden können. Das Vermögen, Besonderheiten zu beurteilen (wie Kant es entdeckt hat), die Fähigkeit zu sagen: ›das ist schlecht‹, ›das ist schön‹ etc., ist nicht das gleiche wie das Vermögen zu denken. Das Denken befaßt sich mit Unsichtbarem,

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mit Repräsentationen von Dingen, die abwesend sind; das Urteilen bezieht sich immer auf Besonderheiten und Dinge, die zum Greifen nahe liegen. Doch beide hängen zusammen, und zwar ähnlich wie Bewußtsein und Gewissen. Wenn das Denken, das Zwei-in-Einem des stummen Dialogs, innerhalb unserer Identität den Unterschied, wie er im Bewußtsein gegeben ist, aktualisiert und dabei das Gewissen als sein Nebenprodukt hervorbringt, dann gilt für das Urteilen, das Nebenprodukt der befreienden Wirkung des Denkens, daß es Denken verwirklicht und in der Welt der Erscheinungen, in welcher ich niemals allein und immer zu beschäftigt bin, um denken zu können, manifest macht. Der Wind des Denkens offenbart sich nicht in Erkenntnis und Wissen, sondern in der Fähigkeit, Richtiges vom Falschen, Schönes vom Häßlichen zu unterscheiden. Und damit mögen in der Tat Katastrophen verhindert werden, zumindest für mich selbst – in jenen seltenen Augenblicken, in denen alles auf dem Spiel steht.« (Arendt 1994, 155)

Um was es hier geht – und das müsste an anderer Stelle noch vertieft werden 25 – ist das Artikulieren-Können von zunächst subjektiven Meinungen in Analogie von Geschmacksurteilen, die nicht an einem Allgemeinen, sondern an einem Besonderen gemessen werden. »Unser Urteil kommt in diesem Fall nicht aus dem Reich der Vernunft auf die Niederungen der Erde, sondern es ist der sozialen Welt selbst entnommen. Es ist daher ein Urteil unter den Bedingungen nicht von abstrakten, sondern von konkreten Möglichkeiten.« (Herrmann 2019, 266) Arendt verweist im Prinzip auf einen zweistufigen Prozess, der zunächst in der Wahl exemplarischer Beispiele für die zu besprechende Sache besteht und danach in eine Vermittlung der jeweiligen Positionen durch ein Werben um Zustimmung mündet. Die Aufgabe dieser Versprachlichung, die im Prozess ein Angeben von Gründen für diese oder jene Meinung bzw. Urteil nach sich zieht und fordert, ist orientiert auf Kommunizierbarkeit und damit wechselseitiges Ansinnen. Da es Philosophischer Praxis, wie sie hier gedacht wird, immer auch und vor allem um Artikulierbarkeit und Orientierung im Denken geht, kann es durchaus von Interesse sein, Eine vertiefende Betrachtung ist nicht Anliegen dieser Arbeit, der es eher um das Eröffnen und Zeigen von Perspektiven geht. Im Hinblick auf die mit Arendts Ausführungen verbundenen Probleme hat Steffen Herrmann (2019) auf Lösungsversuche im Anschluss an Arendt etwa von Seyla Benhabib oder Linda Zerilli hingewiesen. Für Philosophen, denen Philosophische Praxis sowie eine in diese Richtung gehende Praxis am Herzen liegt, lohnt sich sicherlich eine tiefergehende Beschäftigung mit diesen Lektüren.

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Der Bezug zur Philosophischen Praxis

diesem Feld ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Ob es dabei aber eher um das Angeben von Gründen oder nicht vielmehr zunächst um das Eröffnen von neuen Perspektiven geht, ist zu bedenken. Darauf wird im nächsten Abschnitt noch näher einzugehen sein.

Der Bezug zur Philosophischen Praxis Wie kann nun zusammenfassend das Skizzierte im Hinblick auf die vorzustellende Idee von Philosophischer Praxis gedacht werden? Zunächst sei daran erinnert, dass es bei den Tätigkeitsweisen vielleicht weniger um die konkrete Tätigkeit selbst als vielmehr um die damit verbundenen Sinnräume geht. Folgen wir dieser Ansicht, heißt das: Die Fokussierung von Menschen auf wenige spezielle Tätigkeitsweisen geht einher mit einem verminderten Erfahren von Sinnräumen. Dies scheint gerade für Philosophische Praxis ein durchaus interessanter Gedanke zu sein, vor allem dann, wenn durch sie der Blick für andere Sinnräume wieder oder neu ins Bewusstsein gebracht wird. In Philosophischer Praxis besteht daher die Chance, so könnte gesagt werden, dass sich für die Gäste neue Sinnräume und damit neue Orientierungen in der Welt eröffnen. Es geht dabei außerdem um die Relevanz auch der Vita contemplativa für ein aktives Leben. Das ist ein Leben, in dem das Einmischen in die Welt durch Handeln und Urteilen nicht bloß marginal ist oder gar nicht stattfindet – ein Leben, in dem dadurch Versöhnung mit der Welt, ja Heimischwerden in der Welt möglich wird. Gerade diesbezüglich könnte Philosophische Praxis eine wichtige Rolle spielen, indem sie in ihrem handelnd-kommunikativen Vollzug jenem Moment zur Geltung verhilft, indem sie etwa Anteil daran hat, Menschen im kritischen Denken und ihrer Urteilskraft, auch ihrer politischen Urteilskraft, zu stärken und zu befähigen. Sie kann dazu beitragen, gegen eine Weltentfremdung anzutreten, und helfen, Wege der Weltaneignung neu zu bahnen. Ähnliches gilt im Hinblick auf das Engagement für die zwischenmenschliche Welt, aber auch für die Erde. Philosophische Praxis lässt sich hier also als eine besondere Weise verstehen, sich an der steten Konstituierung der gemeinsamen zwischenmenschlichen Welt sowie des politischen Raumes zu beteiligen. Die von Arendt geübte Kritik des Heraushaltens aus der 80 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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Welt gilt ja ebenso für die Philosophie. Philosophische Praxis kann auch hier im Sinne einer Umkehr wirken, wenn sie sich als eine engagierte versteht und sich offen zeigt, wenn sie also aus einer Haltung der Fürsorge und Hinwendung zur Welt heraus agiert. Philosophische Praxis, wie sie hier verstanden wird, schaltet sich durch den Dialog, die Beziehung, die Arbeit mit den Mitmenschen auf besondere Weise in die mitmenschlichen Angelegenheiten ein und wird damit zu einer Praxis – besser sei hier vielleicht formuliert: Sie hat Anteil an der Praxis, indem sie sich aus der Einzelhandlung hin auf einen Zwischenort selbst durch ihr aktives Einmischen überschreitet. Die besondere Weise dieses Anteil-Habens, von der hier die Rede ist, ist m. E. die Einbindung der Vita contemplativa in die Praxis. Sie bewahrt das kluge Engagement vor bloßem Aktionismus. Sie geht mit der Muße einher und zeigt sich als kontemplatives Verweilen bei den Dingen. Sie unterbricht die fortstürzende und unaufhaltsam verrinnende Zeit heutigen Charakters (vgl. Han 2009). Dies gilt für die (Zwischen-)Welt allgemein, kann aber auch für die politische Praxis gedacht werden. Diese Weise ist getragen von einem auch auf Verständigung hin orientierten gemeinsamen Verstehen-Wollen, geht aber darüber hinaus. Die Sorge um sich, die Sorge um die Welt und die menschlichen Angelegenheiten bedürfen gerade in der durch Pluralität geprägten politischen Sphäre des Einbezugs eines kontemplativen Vermögens zu kritischem und befreiendem Denken sowie Urteilen (Urteilskraft), aber auch des grundlegenden Vermögens, andere Perspektiven einnehmen zu können. Verständigung wird ermöglicht. Damit ist eben keine bloß rationalistische Vernunft gemeint. Dass hier insbesondere Perspektivenübernahme sowie ein kluges Fühlen mit bedacht werden sollte, haben etwa Martha Nussbaum oder Heidemarie Bennent-Vahle eindrücklich aufgezeigt. 26 Dies ist zwar kein Spezifikum der Philosophie, sicherlich nicht, die besondere Weise, wie Gefühle eingebunden werden, vielleicht aber schon. Auch Achenbach (2010 I, 16 f.) spricht in Anlehnung an Hegel vom denkenden Herzen: »Die Utopie Philosophischer Praxis wäre die vernünftige Seele oder die empfindende Vernunft.« In besonderen Fällen kann die Praxis dazu beitragen, dialogisch die Horizonte politischer MögVgl. Heidemarie Bennent-Vahle: Mit Gefühl denken. Einblicke in die Philosophie der Emotionen, Freiburg/München 2013: Verlag Karl Alber; Nussbaum, Martha: Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, Berlin 2014: Suhrkamp.

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lichkeiten zu eröffnen, zu beleuchten, zu bedenken und zu erspüren. Zur kritischen Praxis gehört außerdem sowohl auf der persönlichen als auch auf der zwischenmenschlichen Ebene das Enthüllen von Praktiken, die den jeweiligen Weltbezug behindern, bedrohen oder gar zerstören. Es muss am Schluss zumindest noch angemerkt werden, dass der hier angestellte Fokus auf die Dimension des Aktiven hinsichtlich des Praxisverständnisses nicht eindimensional zu verstehen ist und nicht bedeutet, dass die passive Seite, die Seite des Pathischen, darin keine Rolle spielt. Auch dieser menschlichen Dimension kann man sich in Philosophischer Praxis zuwenden, bisweilen auch schwerpunktmäßig. Philosophischer Praxis soll sich der anthropologischen Grundlagen bewusst sein, weil sie, wie Gernot Böhme betont, gerade auf passiver Seite überhaupt erst die Voraussetzungen für das Responsive schafft: »Das Pathische ist noch fundamentaler als das Handeln-Können, weil dafür, dass ein Mensch sich ethisch oder moralisch engagieren kann, vorauszusetzen ist, dass er sich überhaupt von einer Situation betreffen lässt. Gerade für den Übergang vom Verhalten im Sinne des Üblichen, also das Man, kommt es ja darauf an, dass der Einzelne überhaupt ein Gefühl dafür bekommt: Jetzt bin ich dran, das geht mich an, das kann ich nicht einfach geschehen lassen, ohne mich zu engagieren.« (Gernot Böhme 2016, 47)

Insofern kann es gerade spannend sein, eine Praxis zu denken, die diese Aspekte im Blick hat und zu verbinden vermag – eine Praxis freilich, die über den sprachlichen Dialog hinausgeht. 27

Dieser Richtung kann in dieser Arbeit nicht weiter nachgegangen werden. Sie spielt aber zumindest im Zusammenhang mit der interdisziplinären Praxis, wie sie im Schlussteil angedacht und skizziert ist, eine Rolle. Im Grunde läuft dies, so der Verdacht, tendenziell auf eine Weisheitspraxis hinaus, die über das Philosophische im engeren Sinne hinausgeht.

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Einleitend möchte ich nochmals auf die gerade behandelte Hannah Arendt zurückkommen, genauer gesagt einen kleinen Text von ihr aufgreifen, der aus dem Jahr 1954 stammt, zumindest in diesem Jahr im Frühjahrssemester an der Universität von Notre-Dame als Teil einer Vorlesung zum Thema Philosophie und Politik. Das Problem von Handeln und Denken nach der Französischen Revolution vorgetragen wurde (vgl. Arendt 2019). Dieser Text ist nicht nur hochaktuell, er verweist auch auf eine Art des Philosophierens, die für die hier eingenommene Perspektive grundlegend ist. Insofern soll in der hier angestellten Betrachtung die Konzentration auf einigen für die Thematik wesentlichen Aspekten liegen. Der für die Publikation gewählte Titel verweist einerseits auf die Referenzfigur des Sokrates, andererseits auf einen zentralen Gedanken, nämlich die Apologie der Pluralität. Pluralität stellt für Arendt (1993, 9), wie im letzten Abschnitt angesprochen, eine existentielle Bedingtheit des Menschen dar, die so etwas wie Politik notwendig macht. Insofern stellt sie das konstitutive Prinzip für Politik dar. Letztere soll das Zusammenleben der Menschen im öffentlichen Raum möglich machen. Gemeint ist hier aber nicht ausschließlich die Pluralität zwischen den Menschen, sondern vor allem auch die je eigene Pluralität, die sich im Dialog mit anderen oder mit sich selbst offenbaren kann. Dass dies im Hinblick auf Philosophische Praxis nicht ganz irrelevant ist, braucht sicher nicht näher erläutert werden. Interessant ist zudem der gesellschaftlich-politische Bezug einer sokratischen Praxis, den Arendt vor dem historischen Hintergrund des Auftauchens der Figur des Sokrates in der griechischen Antike in den Blick nimmt. Bei Sokrates, so die These Arendts, sei das Verhältnis von philosophischen Erfahrungen und Politik noch intakt gewesen – was sich mit Platon ändert. Und schließlich führt die Kontrastierung von Sokrates und seinem Schüler Platon auf Unterschiede in der Weise des Phi-

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losophierens hin, die für Philosophische Praxis als Dialogpraxis der hier vorgestellten Lesart wegweisend sind. In diesem Text erinnert Arendt zunächst daran, dass Sokrates und Platon in einer historischen Phase auftreten, in der das lebendige politische Leben in den griechischen Poleis bereits seinem Ende entgegenging. Sie hätten demnach, so Arendt (2019, 35), »unter dem massiven Einfluss einer politisch verfallenden Gesellschaft« gestanden. Mit dem Prozess und der Verurteilung Sokrates’ hätte sich ein »Abgrund zwischen Philosophie und Politik« aufgetan, der auf gewisse Weise zu einer Desillusionierung Platons geführt hätte: »Unsere Tradition des politischen Denkens begann, als Platon angesichts von Sokrates’ Tod am Leben in der Polis verzweifelte und gleichzeitig an einigen Grundsätzen des sokratischen Denkens irre wurde« (ebd., 36). Weder hätte es Sokrates mit seiner Weise des Sprechens bzw. mit seiner Art der Argumentation geschafft, sich gegen seine Ankläger durchzusetzen und die Richter zu überzeugen, noch hätte er es bei seinen Anhängern und Freunden geschafft, sein Vorhaben des Akzeptierens der Todesstrafe plausibel zu machen. »Also wusste die Polis mit einem Philosophen nichts anzufangen und dessen Freunde nichts mit seiner politischen Argumentation.« (Ebd., 37) In der Deutung Arendts trieb dieses einschneidende Erlebnis Platon in gewisser Weise und in Teilen zu einer Abkehr von seinem Lehrer und zu einer radikalen Position gegenüber sophistischer Praxis, wie sie oben bereits skizziert wurde. Platons Schluss daraus mündete in einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen der Kenntnis des Wahren, dem echten Wissen (epistêmê), und Meinung (doxa). Arendt bemerkt, dass »überreden« nur eine schwache Übersetzung des griechischen Wortes peithein sei. Es war die spezifisch öffentliche bzw. politische Form der Rede dieser Zeit, durch welche die Dinge anders geregelt werden sollten als durch Zwang. Mit Platons Verzweiflung ging, so Arendt, eine Polemik gegen die doxa einher, die er als bloße Meinung brandmarkte – ein Aspekt, der Grundlage für den platonischen Wahrheitsbegriff wurde. 28 Das Problem des Phi»Das Schauspiel, wie Sokrates seine eigene doxa gegen die unverantwortlichen Meinungen der Athener stellt und von seiner Mehrheit niedergestimmt wird, brachte Platon dazu, Meinungen insgesamt zu verachten und sich nach absoluten Maßstäben zu sehnen. Maßstäbe, an denen sich Handlungen messen ließen und an denen das Denken eine gewisse Verlässlichkeit gewinnen konnte, waren von nun an das Hauptziel seiner politischen Philosophie; der Wunsch nach ihnen beeinflusste selbst die rein philosophische Lehre von den Ideen entscheidend.« (ebd., 38).

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losophen hätte für Platon darin bestanden, dass die Wahrheit, die er den Menschen als »Abglanz der Ewigkeit« präsentiere, durch diese Äußerung zu bloßen Meinungen unter Meinungen verkomme – es gebe für die Menschen keine sichtbaren Erkennungszeichen, die auf Meinungsebene Wahrheit von Unwahrheit unterscheide. Das hier beschriebene privilegierte Verkünden von Wahrheiten aus dem Munde bzw. aus der Feder von Philosophen scheint aus heutiger Sicht auf den ersten Blick ein wenig absurd – und trotzdem findet diese Praxis nach wie vor statt. Darauf wird noch einzugehen sein. Längst haben aber heute andere die Rolle als Verkünder und Verheißer eingenommen. Platon stellt der rhetorischen Rede der Sophisten die besondere Redeweise des Dialektischen (dialegesthai) gegenüber, was später von Aristoteles in seiner Rhetorik übernommen wird. Den Hauptunterschied macht Arendt (2019, 45) im Hinblick auf Platon darin aus, »dass die Überredungskunst sich immer an eine Menge wendet (peithein ta plēthē), während die Dialektik nur als ein Dialog zwischen Individuen möglich ist«. Überreden bedeute in diesem Sinne, die eigene Meinung aufzuzwingen – und dies sei eine Form der Gewaltherrschaft. Wahrheit und Überzeugen vs. Meinung und Überreden – dieser Gegensatz sei bei Platon zentral. Eine Praxis, die diese Logik nicht beachte, würde scheitern: Das auf die Wahrheit ausgerichtete Überzeugen treffe dort auf unfruchtbaren Boden, wo es normalerweise um bloße Meinung gehe und umgekehrt. Daran, so Platons Überzeugung, scheiterte Sokrates in seiner Verteidigungsrede. Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist Arendts Auffassung, dass Platon sich mit seiner »Tyrannei der Wahrheit« indirekt gegen Sokrates selbst wende, indem er diesen fundamentalen Gegensatz zwischen bloßer Meinung und Wahrheit einführt: Nicht das solle regieren, was zeitlich gut ist und wozu man die Menschen überreden kann, sondern die ewige Wahrheit. So weit, so gut. Interessant für den vorliegenden Kontext ist nun Arendts eigene Deutung sokratischer Praxis, die nicht die der platonischen Darstellung ist: »Obwohl es mehr als wahrscheinlich ist, dass Sokrates der Erste war, der das Prinzip des dialegesthai (das gemeinsame Durchsprechen eines Themas) systematisch anwandte, sah er darin wohl keinen Gegensatz oder auch nur ein Gegenstück zur Überredung, und es ist gewiss, dass er die Ergebnisse dieser Dialektik nicht als der doxa, der Meinung, entgegengesetzt sah. Für Sokrates war die doxa wie für seine Mit-

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bürger der sprachliche Ausdruck dessen, was dokei moi – was ›mir scheint‹.« (Arendt 2019, 47)

Es ist nicht Arendts primäres Anliegen, grundsätzlich gegen Platon und dessen Praxis des Überzeugens zu sein, gegen die philosophische Tradition des Argumentierens, gegen das Vorbringen von guten Gründen. Arendt ist die Ambivalenz von Wahrheit bewusst. Im Essay Wahrheit und Politik mahnt sie, dass es einen Ersatz für Wahrheit nicht gebe, weil diese im Bereich des Wirklichen der menschliche Orientierungssinn sei, »der ohne Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann« (Arendt 2013, 83). In diesem Sinne hält sie es ähnlich wie ihr Lehrer Jaspers, der die Suche nach Wahrheit als wesentlich ansah, aber jeglichen vermeintlichen Besitz ihrer selbst und eine damit verbundene Behauptungspraxis kritisierte, die den offenen Dialog und Diskurs bisweilen erschweren, ja verhindern kann. Vielmehr scheint es Arendt hier also um das Aufzeigen einer vorgängigen Praxis zu tun zu sein, die vorher ansetzt und für die andere Weise überhaupt erst eine gewisse Grundlage schafft. Trotzdem – oder gerade deswegen – tritt Philosophische Praxis in gewisser Weise als Partner für das Herausarbeiten der Wahrheiten des Gastes auf. Es geht dabei um die Erhellung der je eigenen Sichtweise, die sich immer auch selbstkritisch und dialogisch vollzieht, in der zunächst Zuhören wesentlicher ist als Sprechen. 29 So nehme Sokrates die doxa als das je eigene Erfassen der Welt in den Blick, als die Welt, wie sie sich mir öffnet. Er nehme es damit ernst, dass Menschen jene Welt aus einer je anderen Perspektive betrachten – bisweilen sind die Perspektiven so radikal verschieden, dass sie sich nicht ineinander übersetzen lassen. Dies sei aber nicht subjektive Fantasterei oder Willkür, also bloß beliebig, aber eben auch nichts Absolutes bzw. Allgemeingültiges. »Die Annahme war, dass sich die Welt jedem Menschen verschieden eröffnete, je nach seiner Stellung in ihr, und dass die ›Gleichheit‹ der Welt, ihre Gemeinsamkeit […], ihre Objektivität […] sich daraus ergibt, dass sich ein und dieselbe Welt jedem anders eröffnet und dass trotz aller Unterschiede zwischen den Menschen und ihren Stellungen in der Welt – und insofern ihren doxai, ihren Meinungen – ›du und ich beide Menschen sind‹.« (Arendt 2019, 47 f.)

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Zum Verständnis von Kritik siehe unten.

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Es geht um Betrachtung, aber eben auch um kritische Prüfung, etwa um die Widerspruchsfreiheit der eigenen Sichtweise. Das kann freilich heißen, ins Zweifeln zu geraten. Es eröffnet aber auch neue Perspektiven, lässt Phänomene in neuem Licht erscheinen, trägt also im Sinne eines Aspektpluralismus zum grundlegenden Vermögen des Perspektivenwechsels bei, der hier aufgrund tatsächlichen Einbezugs Anderer ein wenig anders zu gewichten ist als das, was wir aus dem Systemischen kennen. Insofern nimmt Sokrates, so ließe sich sagen, Meinungen als individuelle Sichtweisen gerade dadurch ernst, dass er im intersubjektiven Dialog die Beliebigkeit aus ihnen zu entfernen versucht. Pluralismus ist eben kein Relativismus. Dies ist entscheidend. Dieses Gespräch zu zweit (oder zwischen mehr Beteiligten) kann in einem basalen Sinne sogar als eine Anregung und Förderung des Dialogs mit sich selbst verstanden werden. Für Arendt liegt in diesem innerlichen Zwiegespräch, in dem eine Person in Distanz und damit in ein kritisches Verhältnis zu sich selbst tritt, überhaupt das Wesen des Nachdenkens. In ihm kommen so unterschiedliche Perspektiven zum Vorschein. Die Unterbrechung alltäglicher Lebensvollzüge, die dieses Denken charakterisiert, ist auch Merkmal in Philosophischer Praxis. Die in ihr aufkommenden Fragen wirken aber nach, sie bringen die Gäste für eine gewisse Zeit lang ins Nachdenken und ins reflektierende und gewissenhafte Selbstgespräch. Andersherum ist das Vermögen zum Selbstgespräch, so etwa Hadot (2011, 26), nahezu unerlässlich für das Gespräch mit einem Anderen: »Nur derjenige, der einer echten Begegnung mit dem anderen fähig ist, ist einer authentischen Begegnung mit sich selbst fähig, und das Umgekehrte ist gleichfalls wahr.« So regt etwa das Bemühen um ein Verstehen von Anderen und das Eintauchen in eine andere Gedankenwelt in uns selbstdialogische Prozesse an, die zwischen einem wiederholten Fragen und Antworten oszillieren. Und so sieht auch Arendt den Dialog mit sich selbst im Hinblick auf Sokrates und ebenso Aristoteles als die grundlegende und notwendige Voraussetzung für Pluralität: »Die Fähigkeit, zu sprechen, und die Tatsache der menschlichen Pluralität entsprechen einander nicht nur in dem Sinne, dass ich mich mit den anderen, mit denen zusammen ich auf der Welt bin, mit Worten verständige, sondern in dem sogar noch wichtigeren Sinne, dass ich, indem ich mit mir selbst spreche, mit mir zusammenlebe […] Ich muss mit mir selber zurechtkommen, und nirgendwo zeigt sich dieses Ich-mit-mir deutlicher als im abstrakten Denken, das immer ein Dia-

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log in der Gespaltenheit, zwischen den Zweien-in-Einem ist.« (Arend 2019, 56 f.)

Indem ich also in Distanz zu mir selbst lerne, meine Sichtweisen, meine Anliegen, Interessen und Wertungen kritisch zu prüfen und abzuwägen, vermag ich dies dadurch auch im Hinblick auf andere besser zu verstehen. So konstatiert auch Bennent-Vahle (2020, 66 f.): »Trotz vorübergehender Absonderung während des Denkprozesses geht es letztlich um eine radikale Hinwendung zur geteilten menschlichen Erfahrungswirklichkeit, in der vielfältige Perspektiven aufeinandertreffen und miteinander vermittelt werden müssen. Alles zielt auf einen vorbehaltlosen Austausch, welcher den Tatsachen menschlicher Verschiedenartigkeit Rechnung trägt.« 30

Für Arendt steht die sokratische Betrachtung der doxa zudem in Verbindung mit der Fähigkeit, sich zu zeigen und von anderen gehört zu werden – was auch auf die große Bedeutung des Öffentlichen verweist. Das Anliegen Sokrates’ sei es gewesen, im Sinne der Mäeutik anderen dabei zu helfen, zum Vorschein zu bringen, was sie dachten, und eine Wahrheit in ihrer doxa zu finden. »Die Bedeutung dieser Methode lag in einer doppelten Überzeugung: Jedermann hat seine eigene doxa, seine eigene Perspektive auf die Welt, und Sokrates muss daher stets mit Fragen beginnen. Er kann nicht vorher wissen, über welche Art des dokei moi, des So-scheintes-Mir, der andere verfügt. Er muss sich der Stellung des anderen in der gemeinsamen Welt versichern. Und so wie niemand vorab die doxa des anderen kennen kann, kann auch niemand aus sich selbst Was in diesem Fokus auf das Denken und Verstehen ein wenig zu kurz kommt, ist die Betonung der damit eigentlich potenziell verbundenen Dimension des Mitfühlens, die gerade für die Philosophische Praxis grundlegend ist. Auch hier spielt nämlich das Einlassen auf andere Perspektiven eine zentrale Rolle. Bennent-Vahle (2020, 188 f.) spricht in Rückbezug auf David Hume und Adam Smith von der Rolle des menschlichen Imaginationsvermögens: »Der mitfühlende Impuls ist darauf angelegt, sich in das Welterleben eines anderen hineinzubegeben, und zwar getragen von dem Gedanken, dass Erfahrungsweisen grundlegend voneinander differieren. Nach diesem Verständnis zielt Mitgefühl darauf, den unmittelbaren Situationsrahmen zu überschreiten und den Radius der Überlegungen auf Nichtgewusstes, Unbekanntes und Fremdes auszudehnen (…) Nur indem das Mitgefühl gleichsam in jeder konkreten Situation über den Horizont des unmittelbar Vorliegenden hinausgreift, vermag es die ihm nachgesagte ethische Wirkung zu entfalten und destruktive Gefühlsimpulse einzudämmen.« Die Verwobenheit von Denken und Fühlen mit dem Mit-Denken und Mit-Fühlen und der Umgang mit diesen Zwischen-Phänomenen gilt es, immer wieder genauer zu beleuchten.

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und ohne weitere Anstrengung die Wahrheit wissen, die seine eigene Meinung birgt. Sokrates wollte die Wahrheit an den Tag bringen, die jeder potentiell besitzt […] Die Methode dafür ist das dialegesthai, das Durchsprechen von etwas, doch diese Dialektik bringt Wahrheit nicht hervor, indem sie die doxa zerstört, sondern sie enthüllt im Gegenteil die doxa in ihrer eigenen Wahrheit.« (Arendt 2019, 48 f.)

Philosophische Praxis könnte in diesem Sinne also teils verstanden werden als das dialogische Enthüllen von Wahrheiten, gewonnen aus der eigenen Perspektive auf Welt, auch wenn dies den Prozess m. E. nicht hinreichend beschreibt: Dass es nicht bloß um ein Enthüllen eines bereits Vorhandenen geht, sondern immer auch um Konstruktion und Erweiterung des Horizontes von Welt, dass also Menschen ihre praktischen Gemeinsamkeiten selbst hervorbringen, bleibt davon unberührt. Arendt (ebd., 57) verweist diesbezüglich auf die Fähigkeit des Gesprächs mit sich selbst und die Widersprüche, in die wir mitunter dabei hineingeraten. Es sei dann aber »das Gespräch mit anderen, das mich aus dem aufspaltenden Gespräch mit mir selbst herausreißt und mich wieder zu Einem macht – zu einem einzigen, einzigartigen Menschen, der nur mit einer Stimme spricht und von allen als ein einziger Mensch erkannt wird«. Was an dieser Stelle angedeutet wird, kann für verschiedene Anliegen im Kontext Philosophischer Praxis beobachtet werden. Besonders kommt dies aber zum Vorschein, wenn es etwa um die Vorstellung von sich selbst und das dazu nicht selten in Widerspruch stehende eigene Handeln geht. In gewisser Weise könnte hier, im Hinblick auf das sokratische Ethos, mit sich selbst identisch zu leben, von persönlicher oder gar existentieller Integrität gesprochen werden. Im Dialog lassen sich diese Diskrepanzen in den Blick nehmen, was tatsächlich dazu führen kann, am Ende mit einer Stimme zu sprechen. Hier sind wir freilich noch auf der persönlichen Ebene. Worin sich Philosophische Praxis darüber hinaus auszeichnen kann, ist das Übersteigen einer bloß privaten Perspektive. So gedacht, kommt ihre potenzielle gesellschaftliche Rolle zum Vorschein und zum Tragen. »Sokrates wollte den Staat wahrhaftiger machen, indem er den Wahrheiten der Bürger auf die Welt half […] Die Rolle des Philosophen besteht also nicht darin, den Staat zu regieren, sondern dessen Bürger permanent zu irritieren […]; er muss nicht philosophische Wahrheiten verkünden, er hat die Bürger wahrhaftiger zu machen. Der Unterschied zu Platon ist entscheidend: Sokrates will nicht so sehr

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die Bürger erziehen als ihre doxai verbessern, die Meinungen, welche das politische Leben bildeten, an dem er teilnahm.« (Arendt 2019, 49)

Kann Philosophische Praxis dazu beitragen, Bürger in diesem Sinne wahrhaftiger zu machen? Das ist eine interessante, attraktive und durchaus zutreffende Deutung von dem, was sich in Philosophischer Praxis ereignen kann. Wäre das vielleicht ihre gesellschaftliche Rolle? Die Mäeutik Philosophischer Praxis als politische Aktivität? Fehlt es nicht gerade daran? Fehlt es nicht an geeigneten Zwischen-Räumen zum Dialog? Wichtig scheint die Erkenntnis zu sein, dass dies gelingen kann, ohne das Anliegen der Gäste aus dem Blick zu verlieren – ganz im Gegenteil: Gelungene dialogische Praxis verbindet gerade auf diese Weise ganz implizit private und öffentliche Sphäre. 31 Vielleicht wird damit gerade ein dritter Bereich konstituiert, sozusagen als ein Dazwischen, ein Zwischenraum. Um was es hier nicht geht, ist ein holzschnittartiges Gegenüberstellen von sokratischem Aufzeigen von pluralistischen Sichtweisen von Welt und platonischer Ausrichtung auf Wahrheit. Beide haben ihre Berechtigung und Notwendigkeit, ihren Ort. Es gehört vielleicht zum Agieren, im Gespräch jeweils situativ den besten Ort auszumachen, den es je aktuell zu beleuchten gilt – einmal stabilisierend, einmal subversiv, dabei stets um Erhellung bemüht. Es geht darum, einigermaßen klug auf der mäeutischen Klaviatur zu spielen – und dazu ist eine gewisse Urteilskraft notwendig. Entscheidend ist vielleicht, das Denken im Fluss zu halten. Im Hinblick auf die gesellschaftlich-politische Perspektive, in der es auch um die Gestaltung unserer je einzelnen und gemeinsamen Weltbezüge geht, kann bisweilen das gemeinsame Erfahren von Pluralität im Zentrum stehen, insbesondere das Erfahren von sowohl Gleichheit als auch Verschiedenheit, wie es sich etwa in PhilosophiDie hier lediglich angesprochene Dichotomie von privat und öffentlich, die vor allem Element liberaler Ansätze ist, wurde von linken Theoretikern immer wieder verschiedentlich ignoriert oder kritisiert. Eine gute und differenzierte Darstellung über die Verortung dieser Einordnung in die politische Theorie findet sich bei Ivana Perica (2016): Die privat-öffentliche Achse des Politischen. Das Unvernehmen zwischen Hannah Arendt und Jacques Rancière, Würzburg: Königshausen & Neumann. Im Feld Philosophischer Praxis hat Cornelia Bruell (2020) im Anschluss an Richard Rorty die Figur der »liberalen Ironikerin« stark gemacht. Dem Verweis auf die Notwendigkeit einer ironischen Haltung gegen Dogmatismus in der privaten und die Orientierung an Solidarität in der öffentlichen Sphäre soll hier zwar beigepflichtet werden, aber das Festhalten an der strikten Trennung beider Bereiche kann den Blick für ebenjenes Zwischen verstellen, das durch Philosophische Praxis eröffnet werden kann.

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schen Salons zeigen kann. Nach Arendt (2016, 213) wäre genau dies politisches Handeln. »Das Faktum menschlicher Pluralität, die grundsätzliche Bedingung des Handelns wie des Sprechens, manifestiert sich auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit.« Es kann dabei außerdem von großem Nutzen sein, erst einmal dabei zu helfen, verschiedene Sichtweisen auf die Welt zu ihrer Geltung zu verhelfen und kritisch zu prüfen, damit allgemein Verstehen zu befördern, von sich selbst und von anderen, bevor allzu früh in die Diskussionen über Fakten eingestiegen wird. Verstehen ist je eine persönliche Aufgabe und jeder muss erst einmal für sich selbst verstehen. Niemand kann für mich an meiner Stelle verstehen, niemand kann mir das abnehmen. Unterschiede zwischen sich und anderen müssen erst einmal verstanden werden. Unterschiedliche (Lebens-) Erfahrungen lassen sich nicht einfach durch Argumente auf andere Personen übertragen. Unterschiedliche Überzeugungen und Handlungsziele, die daraus hervorgehen, sind daher gerade in heterogenen Gesellschaften völlig normal. Auf die skizzierte Weise gemeinschaftlicher Selbstergründung können aber Prozesse gemeinsamer Meinungsbildung bewirkt und gefördert werden. Dann kann auch eine Verständigung über gemeinsame Möglichkeiten und Ziele gelingen. Dies könnte als Übergang vom Wahrheitsfindungs- hin zum Entscheidungsprozess gesehen werden, die voneinander unterschieden werden sollten. Das Prozedurale verweist dabei darauf, dass es sich nicht lediglich um ein bloßes Nebeneinanderstellen von Meinungen handelt, sondern dass etwas mit den Teilnehmenden passiert – was freilich nicht auf eine konsensuale Wahrheit hinauslaufen muss, manchmal aber als Beginn einer Mehrheitsbildung im politischen Sinne gesehen werden kann. Und zum Verstehen gesellt sich dann Erfahren. Philosophische Praxis in diesem Sinne richtet sich aber keinesfalls gegen das Argumentieren und Diskutieren, ihr geht es aber zunächst mehr um ein Verstehen, das grundlegender Teil von Verständigung ist. Damit ist mehr gemeint als das Verstehen einzelner Begriffe und Gedanken. Es wird gerade dann interessant, wenn die Grundlagen in den Blick kommen, auf denen diese Begriffe fußen, also die Gedankenwelt, von der dieser Begriff nur ein abhängiger Teil ist. Peter Bieri (2011, 42) führt diesbezüglich einen für Philosophische Praxis überaus wertvollen Gedanken aus:

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»Einen Gedanken wirklich zu kennen, heißt auch zu wissen, welche anderen Gedanken er voraussetzt und welche aus ihm folgen. Es heißt, mit anderen Worten, zu wissen, wie man ihn begründen kann. Wenn man Licht in die eigene Gedankenwelt zu bringen trachtet, so bedeutet das deshalb, die fraglichen Gedanken daraufhin zu prüfen, wie gut sie begründet sind. Dieser Prozeß des Prüfens kann weitreichende Folgen haben: Bisherige Überzeugungen können aufgegeben und durch andere ersetzt werden; es kann zu weitläufigen Veränderungen meiner Gedankenwelt kommen. Hier greift das Erkennen in das Erkannte ein.«

Im Hinblick auf Verstehen geht es aber auch um eine Förderung des Zuhörens. Heidemarie Bennent-Vahle (2020, 55) drückt sich folgendermaßen aus: »Vernünftig wäre es, im wechselseitigen Eingeständnis unserer jeweiligen Limitiertheit neugieriger und gesprächsbereiter zu werden, um ein Klima wachzurufen, das dem Auffinden gemeinsamer Orientierungen zuträglich ist. Dazu gehört es, nicht primär von eigenen Vorüberzeugungen her den Vorstellungen anderer zu widersprechen, sondern uns und ihnen dabei zu helfen, die Beobachtungsgabe zu schärfen, eine möglichst genaue Sprache zu entwickeln, Augen und Ohren offen zu halten, Reibung mit der Welt zuzulassen.«

Im Zuhören, dem ein Verstehen-Wollen zugrunde liegt, zeigt sich in einem viel höheren Maße ein Zuwenden, als dies beim bloßen Sagen der Fall ist. Es signalisiert ein Interesse. Auch Byung-Chul Han (2018, 98) hat auf die politische Dimension des Zuhörens aufmerksam gemacht, sofern es sich dabei um eine aktive Teilnahme am Dasein Anderer sowie an deren Leiden handelt. Auch dies trifft im Grunde ein zentrales Anliegen Philosophischer Praxis, wie sie hier gedacht wird: »Es [das Zuhören, JK] verbindet, vermittelt Menschen erst zu einer Gemeinschaft. Wir hören heute viel, aber wir verlernen immer mehr die Fähigkeit, Anderen zuzuhören und ihrer Sprache, ihrem Leiden Gehör zu schenken. Heute ist jeder irgendwie mit sich, mit seinem Leiden, mit seinen Ängsten alleine. So wird es ein Gegenstand der Therapie, die am Ich, an seiner Psyche herumdoktert. Jeder schämt sich, beschuldigt nur sich selbst für seine Schwäche und Unzulänglichkeit. Es wird keine Verbindung hergestellt zwischen meinem Leiden und einem Leiden. Übersehen wird dadurch die Gesellschaftlichkeit des Leiden.«

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(Proto-)Politische Praxis im Lichte sokratischer Pluralität und Subversion

Genau gegen jene grundsätzliche Privatisierung des Leidens – jenes Leiden, das nicht ins Private verwiesen werden darf – richtet sich Philosophische Praxis. Nicht alles gehört ins Politische, doch gegen jene Verschleierung muss Front bezogen werden. Philosophische Praxis kommt hier in seiner Übersetzungsfunktion zur Geltung, in jener Übersetzung des Privaten ins Öffentliche. Wird dies bisweilen erklärt, ohne dabei belehrend zu wirken, kann dafür Bewusstsein und Verständnis erzeugt werden. Der Ton macht die Musik. Und hier geht es ebenfalls wiederum nicht nur um Verstehen, sondern auch um Erfahren. Es wurden gerade unterschiedliche Ziele genannt, die eine solche dialogische Praxis verfolgen kann. An dieser Stelle soll noch eine andere Perspektive zumindest eröffnet werden, die bereits im Kern mit dem Begriff der Praxis verbunden ist. Es kann nämlich in einem aristotelischen Sinne schon gefragt werden, ob nicht das eigentliche Ziel einer solchen Praxis im Grunde in sich selbst liege und die äußeren Ziele, also etwa inhaltliche Ergebnisse solchen Sprechens, nicht sekundär seien. Gernot Böhme (1997, 204) hat im Zusammenhang mit der Relevanz des Augenblicks und dem Verlust der Gegenwart in der technischen, vom Herstellen dominierten Zivilisation auf die Problematik hingewiesen, dass heute auch im Sprechen und in der Diskussion stets Produkte erwartet würden. Dies komme einer Verkürzung des Miteinander-Redens auf bloßen Informationsaustausch gleich. Auch wenn dies vor allem eine bewusstere Lebensführung betrifft, so scheint dies gerade vor dem Hintergrund des Kontextes Philosophische Praxis im Lichte einer Kultur der Begegnung sehr bedenkenswert zu sein. Beides gehört freilich zusammen. Diese Überlegung deckt sich im Übrigen auch mit den Erfahrungen aus einer solchen jahrelangen Praxis: Zwar werden immer wieder auch die Impulse gelobt, die aus den Gesprächen mitgenommen werden, aber geschätzt wird vor allem diese Praxis selbst, die Atmosphäre, die Art des begegnenden Miteinander-Redens. Erneut geht es darum, dies zu erfahren. Philosophische Praxis, wie sie hier gedacht wird, ist insofern motiviert von der Sorge um die Welt: Es gilt also, die notwendigen Dialogräume dazu zu schaffen, die eine Kultur des Zuhörens und des Zuwendens fördern. So können gerade manche philosophische Veranstaltungen wie Salons oder Cafés mit der primären Zielrichtung der Förderung eines egalitären Austauschs gestaltet werden, dessen hauptsächliches Ziel nicht unbedingt im Hervorbringen allgemeiner Ergebnisse bestehen muss, sondern im Erkennen der eigenen Sicht93 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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weise auf die Dinge, aber auch in der Schau der Perspektive anderer. Hören und Antworten in diesem Sinne kann vor allem dann gelingen, wenn ihnen eine Bereitschaft zugrunde liegt, sich von anderen berühren zu lassen. Philosophische Praxis, so könnte etwa mit Waldenfels gesagt werden, fördert Pathos und Response. Auf dieser Basis kann tatsächlich Verständigung gelingen. Beides sind sicherlich legitime Anliegen. Letzteres, die Dinge vom Standpunkt des anderen aus zu sehen, gilt für Arendt als die wesentliche politische Grundbedingung. Ist es nicht in manchen Fällen schon Ergebnis genug, etwas gemeinsam durchgesprochen zu haben? Modern gesprochen hieße das wohl, die Menschen aus ihrer Blase zu holen – angefangen bei sich selbst. Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare (2020) spricht in diesem Zusammenhang vom Wachen, das eine grundlegende Funktion der Philosophie sei: »Wundersames Aufgehen des inneren Lichts, welches das Wiederauftauchen aus der Nacht anzeigt, Kraft der Mahnung und des Rückrufs, das Staunen des erwachten Lebens, Rückkehr zu sich: Mehr als alles andere ist das die Philosophie.« (Ebd., 12) In ihren Ausführungen bezieht sie sich auf Heraklit, den Vorsokratiker aus Ephesos, dessen Werk darin bestand, die »Helle des Tages vom Mythos gelöst und zu einer metaphysischen Kategorie erhoben zu haben« (ebd.). Dieses Herausheben des Hellen sei dabei gerade keine private Angelegenheit gewesen, sondern Sache gemeinsamer Reflexion: »Damit beginnt das Abenteuer des Denkens, das vom Licht des logos geleitet die Welt zur Sprache bringt, die so zum Kosmos wird und sich mit der ununterbrochenen Überschreitung ihres beschränkten und niederen Radius in eine immer weitere, höhere und gemeinschaftlichere Sphäre hinein entfaltet.« (Ebd.)

Heraklit, Wegbereiter der Dialektik und Interpret des polemos, des Konfliktes und Krieges, der nach seiner bekannten Formel »aller Dinge Vater, aller Dinge König« sei, wies diesbezüglich auf die »gegenstrebige Vereinigung der Gegensätze« hin. Die Stadt sei Ausgangspunkt dieser Deutung gewesen, »das hermeneutische Paradigma der Welt«, wie Di Cesare (ebd., 14) ausführt. Diese Eintracht der Gegensätze, mit der nicht spekulative Einheit, sondern der plötzliche Übergang gemeint sei, diese »den Kosmos regierende verborgene Harmonie«, sei im logos enthalten, gemeint hier als das »ewige [] und universelle[] Gesetz, das dazu befähigt ist, das Werden zu regulieren, das seinerseits kein blindes Sichüberstürzen darstellt, son94 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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dern ein weises Dahinschreiten vom einen Gegensatz zum nächsten«. (Ebd., 14 f.) Und so stellte Heraklit die zentrale und kritische Frage, wer denn diesem logos Gehör schenken wolle. »Taub, abwesend und wie dahinschlummernd, zur Beute von Traumflüssen und partikulären Meinungen geworden und weit entfernt davon, was weise, sophôn, ist, entziehen sich die Sterblichen dem Zuhören. Sie leben in sich selbst zurückgezogen und in sich gekehrt, als schliefen sie, sind Gefangene der eigenen Privatheit, ihrer erstickenden Kleinlichkeit. So wird von Heraklit die grassierende Idiotie angeprangert, die im Griechischen etymologisch – idiotês kommt von idios, ›eigen‹ – auf das Eigentum verweist. Ihnen ist es folglich unmöglich, Zugang zu dem zu finden, was kommun oder gemeinschaftlich, koinon, ist. Heraklit gebraucht die ionische Form xynon, die er im Rahmen eines Wortspiels auf xyn noi zurückführt, d. h. mit noûs, ›mit Verstand‹ (B 114), begabt. Nicht nur ist der Verstand allen gemeinsam, sondern auf den Verstand gründet sich, was gemeinsam ist, das Gemeinsame. Es handelt sich dabei nicht um eine unmittelbare Intuition, sondern um die ordnende Erkenntnis des Kosmos, die sich im logos bündelt, und zum Ausdruck gelangt. Ein Idiot ist derjenige, der sich dem Zuhören verweigert, der in der Isolation der Nacht verbleibt und sich dadurch der Teilhabe am gemeinsamen Tag und der gemeinsamen Welt verschließt. Heraklit drückt es folgendermaßen aus: ›Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt, doch jeder Schlummernde wendet sich nur an seine eigene‹ (B 89).« (Ebd., 15)

Es ist also der logos, der in der Klarheit des Lichts verbindet und vereinigt. Das Wachen darüber wird zum Auftakt der Philosophie, noch bevor diese ihren Namen erhält. »Denken«, so Di Cesare (ebd., 16) – es ließe sich auch hinzufügen gemeinsames Denken –, »heißt, an der Wachsamkeit des vereinigenden logos teilzuhaben.« Im Hinblick auf die von Arendt auf Sokrates, Platon und Aristoteles sowie die von Di Cesare auf Heraklit angestellten Überlegungen wäre zu fragen, inwieweit diese Praxis des gemeinsamen Philosophierens bereits als politisch zu bezeichnen wäre. Di Cesare (2020, 17) fragt ja mit Heraklit selbst, ob die Politik in diesem Sinne nicht als Tochter der Philosophie verstanden werden könne. Es ließe sich, der Differenzierung halber, provokant konkretisieren, dass hier wohl eine erhellte Politik gemeint sei. Der Terminus politisch könnte nun sehr allgemein verstanden werden, aber dies ist sicherlich nicht in jeder Hinsicht unproblematisch, weil die Gefahr zu Missdeutungen besteht. In jedem Falle, so die Annahme, trifft der Ausdruck proto-politisch zu. Proto ist hier weniger im Sinne eines historischen Erst/Erst95 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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mals zu verstehen, sondern vielmehr in der Bedeutung von vor und grundlegend, ja vorbereitend. Di Cesare (2020, 18) bringt es diesbezüglich auf den Punkt: »Ohne das koinon des logos gibt es keine polis. Ohne jenen Zusammenhang des logos, der allen gemeinsam ist und sie verbindet, könnte es keine Stadt geben.« Gemeint ist damit die Möglichkeit, dass im Gespräch sich die eigene Betroffenheit erhellt, dass bewusst werden kann, dass es dich und mich etwas angeht. Philosophische Praxis, jene Weise des gemeinsamen Philosophierens, die selbst nicht in eigenen Blasen verweilt und sich gerade nicht in bloß intellektueller Selbstbespiegelung ergibt, ist in diesem Sinne protopolitisch und bisweilen politisch. Sie holt, so könnte gesagt werden, Menschen zumindest zeitweise aus ihrer Privatheit heraus – insbesondere im Format des Salons, der sich daher als Zwischen-Raum erweist. 32 Das Gespräch schafft ein und arbeitet nicht selten an einem Problembewusstsein für die Verwobenheit in die Welt, manchmal sogar für die Verantwortung in der bzw. für die Welt – und in diesen Fällen geht es – einmal mehr, einmal weniger – um die Bemühungen der Existenz des Menschen als sich verhaltendes sowie handelndes und damit ethisches und politisches Wesen. Es arbeitet sozusagen an den Voraussetzungen dafür, gut ein solches Wesen sein zu können. Anders ausgedrückt: In Philosophischer Praxis kann sich der Gast bisweilen als zôon politikon erfahren oder er wird zumindest vorbereitend in die Lage versetzt, sich derart erfahren zu können. Philosophische Praxis entpolitisiert nicht, aber ob es treffend formuliert ist, dass sie in einem weiten Sinne politisiert, müsste diskutiert werden und ist am Ende in erster Linie eine Sache des je konkreten Gesprächs. Diese Auffassung des proto-politischen Moments Philosophischer Praxis scheint aber, so der Verdacht, nicht nur anschlussfähig an liberale Theorien und Praktiken zu sein, sondern auch an radikale Demokratietheorien wie jene Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes, Jacques Rancières oder Donatella Di Cesares, die im liberalen Denken durch dessen »beflissene Konsenssuche« (Di Cesare) ein BeschwichÄhnliches gilt für die proto-ethische und ethische Perspektive, weil selbstverständlich verschiedene Fragen auftauchen können, die etwa individuelle Glücksvorstellungen oder jene über Lust oder Resonanz (Pragmatische Ethik/Strebensethik), moralische Probleme (Normative Ethik/Moralphilosophie) oder existentielle Orientierungen (Existentielle Ethik/Bewusstseinsethik) betreffen können, aber auch Grundbedingungen menschlicher Existenz wie Verletzlichkeit, Endlichkeit, Begrenztheit oder Unverfügbarkeit (Pathische Ethik und Proto-Ethik).

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tigen und Einebnen von widerstreitenden Ideen und Interessen konstatieren. 33 Kritisiert wird dabei, dass die Politik lediglich als Austausch von Meinungen, als Begegnung unterschiedlicher Standpunkte und als öffentliche Diskussion gesehen werde, Demokratie bloß als Praxis des Konsenses. All das liefe auch, so Di Cesare (ebd., 115) auf eine »vorbehaltslose, unbegrenzte und totale Affirmation des Kapitalismus« hinaus. Sie sieht in jener Deutung sogar den Verzicht auf die Philosophie: »Die in Abhängigkeit geratene Philosophie tat nichts mehr anderes, als eine immer stärker ausgeweitete Demokratie, die einerseits imperial ausgerichtet und andererseits eine ausgezeichnete Konsensmaschine ist, zu ratifizieren und von Zeit zu Zeit zu rektifizieren […] Die Philosophie hat akzeptiert, sich nicht zu viele Fragen zu stellen, schon gar keine letzten mehr, auch weil jede Alternative – diese Mahnung war stets ausdrücklich – als ›Totalitarismus‹ stigmatisiert worden wäre. So hat sie ihren Beitrag dazu geleistet, die Demokratie zu demokratisieren und damit in Hinblick auf die weitverbreitete biopolitische Macht die souveräne Staatsmacht schließlich zu unterschätzen. Indem sie den staatlichen Zuschnitt der Politik übernimmt oder über ihn auch nur widerspiegelt, läuft die Philosophie erneut Gefahr, in eine Sackgasse zu geraten. Denn wenn Denken immer jenseitiges Denken ist, dann denkt der Staat nicht.« (Ebd., 114 f.)

Dieser Vorwurf ist durchaus ernst zu nehmen, auch wenn er bezogen auf die Philosophie wohl zu pauschal ist. Zwar spricht m. E. nicht grundlegend etwas dagegen, wenn Philosophen bisweilen auch vermittelnd in Erscheinung treten, als Mediatoren sozusagen, nur ist und kann das eben nicht alles sein. Es sollte dabei nicht um Beschwichtigung und Unterhändlerei gehen. Sokrates kann bekanntlich nicht nur, wie Arendt ihn ausweist, als Typ des Pluralen gezeichnet werden, sondern eben auch als atopischer, subversiver, unangepasster, bisweilen entrückter, wunderlicher Typus (vgl. exemplarisch Platon, Das Gastmahl, 175b, 220c-d, 221d). Physisch ist er anwesend, doch scheint er ab und an von einem anderen Ort aus zu sprechen. Das

Di Cesare (2020, 111 ff.) lässt dabei kein gutes Haar an Arendt, auch nicht an Richard Rorty. Bei beiden trete die Philosophie erneut nur als Magd auf – dieses Mal als ancilla democratiae. Sie stellt die Frage, ob ein Philosoph einer konkreten politischen Form (hier Demokratie) die Vorrangstellung vor dem Denken einräumen könne. Philosophie habe sich mit der Demokratie identifiziert und trete für sie – und nur für sie – ein.

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Entrückte irritiert und verunsichert. So auch seine Wirkung im Dialog, in dem Transformatives mit Politischem in Verbindung tritt: »In der Unterredung löst er eine verfremdende Wirkung aus: Er verunsichert nicht nur, sondern ermöglicht damit, dass der Gesprächspartner sich aufspaltet und sich von sich selbst loslöst. Ein Teil seines Selbst erkennt sich in den Worten des Sokrates wieder, mit denen er zeitweilig übereinstimmt; damit blickt er im Zuge dieser Aufspaltung seinerseits in sich hinein. Im Unterschied dazu, was man unbedarft annehmen könnte, zielt der sokratische Dialog jedoch auf keinerlei Konsens ab. Vielmehr will er Dissens erzeugen, und das bereits in der psyche, in der Seele des anderen, sodass der Dissens von dort aus in die polis eindringen und diese sodann durchdringen kann.« (Di Cesare 2020, 52 f.)

Wenn Philosophieren in diesem Sinne auch als ein Befremden und Irritieren verstanden werden kann, dann wird die andere Dimension sokratischer Praxis vor Augen geführt. Di Cesare (2020, 25) hat dies deutlich ausgeführt: »Seit jeher atopisch, ist die Philosophie in einer Welt ohne Außen gefährlich fehl am Platz. Als jenseitiges Denken und Berufung zum Über erscheint sie nicht klassifizierbar, nicht eingrenzbar. Sie bildet ein paradoxes Territorium, deterritorialisiert und von der Atopie bewohnt. In ihrer Dezentrierung emigriert sie in ein Außen, von dem aus sie die Ordnung durcheinanderbringt. Denken befremdet, macht einen fremd, zu einem Fremden.«

Philosophische Praxis, wie sie hier als proto-politisch gedacht wird, ist anschlussfähig sowohl an stabilisierend-liberale als auch subversive Vorstellungen, weil sie zuallererst emanzipatorisch orientiert ist. Der theoretische Gegensatz zwischen diesen beiden Lagern scheint auf »operativer« Ebene Philosophischer Praxis kein unvereinbarer zu sein. Klug wäre es dabei wohl, situativ das Richtige wählen zu können. Zudem vollzieht sich Philosophische Praxis in weiten Teilen noch vor der Frage von Konsens oder Dissens. Die Frage nach ihrer politischen Funktion kann, trotz aller Differenzen, damit beantwortet werden, diese in der Unterstützung bei der Herstellung einer gemeinsamen Welt zu sehen, nämlich in der Förderung des Nachdenkens und der Verständigung im gemeinsamen Handeln und Sprechen. 34 Hier hätten sicherlich auch andere Gewährsmänner (und -frauen) aufgeführt werden können, Aristoteles etwa oder Kants Konstitution von Realität, vgl. dazu etwa Böhme (2016, 156 ff.).

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Insofern hat Philosophische Praxis durch ihre Züge des VerstehenWollens und des Ins-Staunen-bringen-Wollen auf verschiedene Art und Weise Anteil an gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozessen – bisweilen auch in subversiver Rolle. Hannah Arendt (2019, 50 ff.) hat mit Bezug auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik sogar die These vertreten, dass es Sokrates mit dem Führen dieser Art von Gesprächen darum gegangen sei, aus den Bürgern Athens Freunde zu machen. Politisches und Freundschaftliches verbindet sich dort auf eigene Art – Freundschaft wird hier zur politischen Kategorie. Sie soll ein gutes Zusammenleben ermöglichen und befördern. Ihr ist das offene Miteinander-Sprechen wesentlich. Offen meint dabei auch, offen für andere, jeweils neu dazukommende Gesprächspartner. Das macht das Politische aus. Dabei geht es nicht um Gleichheit im Sinne einer Angleichung von Perspektiven, nicht um Gleichmacherei also, nicht um ein Aufheben von Differenzen, sondern um deren Akzeptanz, um eine Gleichwertigkeit der Gesprächspartner: »Das politische Element der Freundschaft liegt darin, dass in einem wahrhaftigen Dialog jeder der Freunde die Wahrheit begreifen kann, die in der Meinung des anderen liegt. Der Freund begreift nicht so sehr den anderen als Person – er erkennt, auf welche besondere Weise die gemeinsame Welt dem anderen erscheint, der als Person ihm selbst immer ungleich und verschieden bleibt. Diese Art von Verständnis – die Fähigkeit, die Dinge vom Standpunkt des anderen aus zu sehen, wie wir es gern ein wenig trivial formulieren – ist die politische Einsicht par excellence […] Sokrates hat offenbar geglaubt, die politische Funktion des Philosophen bestehe darin, bei der Herstellung dieser gemeinsamen Welt zu helfen, die errichtet ist auf einer Art von Freundschaft, bei der keine Herrschaft notwendig ist.«

Es braucht wohl nicht von Freundschaft in einem engeren Sinne gesprochen werden, es genügen verschiedene Vorstufen des Freundschaftlichen. Es muss an dieser Stelle offenbleiben, wie weit dies jeweils vorangetrieben werden kann und soll sowie ob es sinnvoll ist, diesbezüglich auch über neue Formate nachzudenken und solche zu entwickeln. Nicht gemeint ist an dieser Stelle aber ein blindes Politisieren. Auch wenn die proto-politische bzw. politische Perspektive m. E. eine besonders wichtige ist, so ist sie nur eine Perspektive. Das soll am Ende nicht unerwähnt bleiben.

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7. Praxis im Geiste nicht-doktrinären und kritischen Philosophierens

Ein mögliches Verständnis von Praxis, das für den vorliegenden Gegenstand von Interesse ist, wurde gerade ein wenig umrissen. Dabei wurde bisweilen von einer »besonderen« oder einer »speziellen« Praxis gesprochen. Diese Aussage zieht natürlich die Frage nach sich, welches Verständnis von Philosophie hier zugrunde liegen könnte. Zunächst sei allgemein bemerkt, dass im Hinblick auf Philosophische Praxis in einem allgemeinen Sinn von einer multiperspektivischen Philosophie gesprochen werden könnte: Sie kann existenzphilosophisch orientiert und phänomenologisch blickend sein, hermeneutisch bedacht, anthropologisch fundiert und wissenschaftlich informiert sowie sprachanalytisch geschult und interkulturell offen. Eine Idee von Philosophie, die in dem vorliegenden Verständnis von Philosophischer Praxis zur Geltung kommt, soll hier mit kritisch und, um mit Michael Hampe (2016) zu sprechen, mit nicht-doktrinär bezeichnet werden. Ganz allgemein geht es dabei um eine Tätigkeit des Nachdenkens, die uns vor allem die Erfahrungen des Lebens distanzierend vor Augen führt. Zunächst sollen dazu einführend ein paar Gedanken von Hampe vorgestellt werden, bevor nochmals auf die ursprüngliche »Ur-Praxis« bei Sokrates eingegangen wird. Auch Karl Jaspers und, was das Kritische betrifft, Michel Foucault werden dabei mit einbezogen. Die Rolle des Kritischen ist im Hinblick auf Philosophische Praxis und ganz speziell für die philosophische Lebensberatung genauer zu beleuchten.

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Doktrinäre und nicht-doktrinäre Philosophie

Doktrinäre und nicht-doktrinäre Philosophie Michael Hampe unterscheidet in seinem Werk Die Lehren der Philosophie verschiedene Weisen, wie sich Philosophie seit ihrem Ursprung in der Welt zeigt, nämlich auf eine doktrinäre und eine nicht-doktrinäre Weise. Letztere könne als ein kritisches Unterfangen verstanden werden, das danach strebt, »auf das Leben von Menschen als einzelnen und in der Gemeinschaft durch Veränderung der Rede, durch begriffliche ›Arbeit‹, Einfluß zu nehmen.« (Hampe 2016, 70) Im Hinblick auf die nicht-doktrinäre Philosophie hat Hampe herausgearbeitet, dass diese sich kritisch mit den großen Erzählungen auseinandersetze, ohne diese durch andere zu ersetzen. In einem engeren Sinne ist sie daher nicht welterklärend. Mit durchaus auch in der philosophischen Lebensberatung anzutreffenden Themen macht er deutlich, um was es hierbei gehen kann, nämlich um das Arbeiten am bewussten Sprechen: »Es geht ihr [der nicht-doktrinären Philosophie, JK] darum, Individuen in die Lage zu versetzen, auf diese Erzählungen reagieren zu können, das heißt, fähig zu sein, das Ansinnen zurückzuweisen, die in ihr verwendeten Allgemeinbegriffe auf sich selbst anzuwenden. So wie homosexuelle, melancholische und gehörlose Personen die Beschreibung ›krank‹ zurückweisen, können Menschen den Vorschlag ausschlagen, ihre Lebenszeit als ›knappe Ressource‹, ihre Freunde als ›Netzwerk‹, ihre Bildung als ›Investition in die Zukunft‹ oder eine Landschaft als ›Erholungsgebiet‹ zu charakterisieren. Dazu müssen sie allerdings ein Bewußtsein dafür entwickeln, was es bedeutet, sich für oder gegen die Verwendung von Allgemeinbegriffen zu entscheiden. Anders ausgedrückt: Sie müssen überhaupt erst zu bewußten Sprechern werden.« (Hampe 2016, 43)

Das ist durchaus eine Weise, die in der Philosophischen Praxis insgesamt eine herausragende Rolle spielt, nicht nur im Bereich der Lebensberatung, sondern auch im Hinblick auf die gesellschaftskritische Funktion. Hampe spricht diesbezüglich von der semantischen Verantwortung. Diese beziehe sich nicht nur darauf, zu schauen, was ein bestimmter Begriff eigentlich meine und woher das eigene Wissen darüber komme, sondern auch darauf, wohin die konkrete Begriffsverwendung führe. Man könnte hier auch mit Gernot Böhme (1997, 28) davon sprechen, dass es der philosophischen Arbeit um eine »Verflüssigung der Begriffe, im Aufweis alternativer Denk- und Handlungsmöglichkeit, 101 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Praxis im Geiste nicht-doktrinären und kritischen Philosophierens

in der begrifflichen Restrukturierung der Wirklichkeit« gehe. Es gibt natürlich die vielen grundlegenden Erfahrungen von Wirklichkeit, die zunächst wenig bis nichts mit sprachlicher Verfasstheit zu tun haben, das Atmen etwa. Wirklichkeit ist, wie Böhme meint, aufdringlich, widerständig und träge. Aber selbst basale leibliche Erfahrungen können zum Gegenstand einer begrifflichen Thematisierung werden – und werden damit bisweilen modifizierbar. Begriffliche Verfasstheit der Wirklichkeit sei ein Resultat ihrer Thematisierung, in der »etwas als etwas angesprochen, behandelt oder betrachtet« werden könne. Der damit verbundene zentrale Gedanke ist hier der, dass wir Wirklichkeit durch unsere sprachlichen Festlegungen immer auch einschränken und dadurch bisweilen unbeweglich werden können. »Die Verfestigung der Wirklichkeit dadurch, daß Begriffe, mit denen wir sie erfassen, unsere Handlungsmöglichkeiten ihr gegenüber bestimmen und einschränken, ist eine Festgelegtheit, der man ihren Ursprung in Grundentscheidungen menschlichen Begreifens in der Regel nicht mehr ansieht. Ein Individuum wird sich ja eines Problems in der Regel erst in thematisierter Form bewußt, wobei die Thematisierung durch das ihm vorgegebene Vokabular und Begriffsraster nicht zur Disposition steht.« (Böhme 1997, 36)

Insofern kann bzgl. der Philosophischen Praxis auch von einer Arbeit an der Bewusstwerdung, Thematisierung und Verflüssigung von Begriffen sowie der damit verbundenen semantischen Verantwortung gesprochen werden. Hampe verweist im Hinblick auf deren Ursprung zu Recht auf Sokrates. Dessen Suche nach der besten Meinung sei verbunden mit einem ethischen Wissen, das auf praktische Einsichten zielt und damit eine Verantwortung generiert – eine Verantwortung dafür, seine Aufgabe als Mensch zu erfüllen. Hampe (2016, 74) hat das sokratische Vorhaben so formuliert: »Welche Kultur, welche Art des Umgangs der Menschen miteinander und welches sich daraus ergebende Verhältnis ist für die menschliche Seele und die menschliche Gemeinschaft, kurz das menschliche Leben, die beste?« Gleichzeitig komme bei Sokrates das Wissen um das eigene Nichtwissen zum Tragen, das die ihm eigentümliche Weisheit charakterisiert. In der Tradition der Philosophischen Praxis gehört diese Vorstellung schon lange zum eigenen Grundverständnis (vgl. exemplarisch Lahav 2017, 14 ff.). Es ist die subversive Tugend der Skepsis, die vermeintlich gesichertes Wissen immer wieder neu in Frage zu stellen weiß.

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Doktrinäre und nicht-doktrinäre Philosophie

Für Hampe (2016, 48) kommt diese nicht- oder post-doktrinäre Weise des Philosophierens im Projekt der europäischen Aufklärung zur Geltung. Darin werden die zentralen kulturellen Projekte auf ihre normativen Konsequenzen hin befragt. Sie decken auf, wenn selbstgestellte Ansprüche nicht erfüllt werden und ungewollte Konsequenzen auftreten. »Die Kritik des Behauptens als solchen und die Kritik an der Verallgemeinerung wissenschaftlicher, religiöser und politischer Lehren über die Anwendungsbereiche hinaus, für die sie einmal geschaffen wurden, ist von Sokrates bis in die Gegenwart ein nicht zu ersetzendes philosophisches Geschäft.«

Was hier allgemein auf den gesellschaftlichen Kontext bezogen ist, gilt genauso für das individuelle Gespräch – und damit für die philosophische Einzelberatung. Im Kern steckt darin das Anliegen, zu verhindern, dass Menschen durch einen wie auch immer gearteten Dogmatismus unfrei werden bzw. aus diesem wieder ein Stück weit hinausgeraten können. Intellektuelle Redlichkeit ist hier gefragt. Es geht dabei um Autonomie, nicht um Einpassung in eine vorgefundene Welt mit ihrem Vokabular – was freilich nicht ausschließt, dass man sich im Zuge einer freien Wahl für eine wie auch immer geartete Einpassung entscheidet. Und genau dafür sei eine reflektierende philosophische Tätigkeit da, die »ein Experimentieren mit Begriffen ist, um die Fähigkeit zu erwerben, auf die eigenen Erfahrungen reflektierend zu reagieren und gegebenenfalls das menschliche Leben in der Kultur, in der man sich selbst entwickelt hat, zu verändern« (Hampe 2016, 63). Im Grunde bringt Hampe hier eine ähnliche Kritik an weiten Teilen der akademischen Philosophie vor wie zuvor schon Achenbach, durch den diese Kritik wesentlich für die Herausbildung und Entwicklung Philosophischer Praxis geworden ist. Philosophische Praxis zeigt sich in vielen ihrer Spielarten ja gerade nicht als dogmatisch, weil sie eher mit Hinweisen und vielleicht mit spielerischen Überlegungen agiert als mit Vorschriften, weil in ihr Einsichten entlockt werden, weil sie nicht lehrhaft konfrontiert, sondern hypothetisch verändert. Die beiden hier genannten Stoßrichtungen sollen noch einmal explizit genannt werden, weil sie den doppelten Kern der vorliegenden Idee von Philosophischer Praxis enthalten: Es geht um die mitunter auf Handlungen bzw. Veränderungen verweisende Reflexion des eigenen Lebens und möglicherweise der Welt, in der dieses eigene 103 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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Leben stattfindet. Sie ist damit individuell, ohne unpolitisch zu sein: Philosophischer Praxis in der hier gedachten Lesart geht es gerade nicht um Privatisierung und Entpolitisierung. Mit dem Gebrauch der Sprache steht auch die Beziehung zur Macht auf dem Spiel. Wenn etwas auf Veränderungen verweisen soll, dann muss klar werden, dass es sich überhaupt um etwas Veränderbares handelt. Das mag zwar ebenfalls trivial erscheinen, zeigt sich aber in der Praxis als ein nicht so ganz einfaches Unterfangen. Durch das Reflektieren der eigenen Begrifflichkeit sowie der Tatsachen des menschlichen Lebens, die sich bisher vielleicht als notwendigerweise so und so gezeigt haben, können neue Möglichkeits- oder Spielräume eröffnet werden, die in Veränderungswünsche münden. »Wenn das Leben auf der Welt nicht notwendigerweise so geführt werden muß, wie es geführt wird, wenn nicht notwendigerweise so gesprochen werden muß, wie gesprochen wird, warum sollen ›wir‹ dann so leben und sprechen, wie wir es tun, und nicht ganz anders?« (Hampe 2016, 64) In den Ausführungen von Michael Hampe wird auf die große Verwobenheit von Sprechen und Leben verwiesen, die im vorliegenden Kontext einer der zentralen Punkte ist: Philosophische Praxis kann aus dieser Perspektive als begriffliche Arbeit am eigenen Leben verstanden werden, zu dem auch die eigene Welt gehört, für die es sich vielleicht zu engagieren lohnt – so die Anknüpfung an den oben skizzierten Praxisbegriff im Anschluss an Hannah Arendt. Das Reflektieren von Begrifflichkeiten und den Konsequenzen, die sich aus deren Verwendung ergeben, kann zum Fallenlassen oder zur Einführung von neuen Begriffen führen. Das gilt für den Sprachgebrauch des Einzelnen. Wittgenstein hat ja gezeigt, dass es eine Privatsprache nicht geben kann, daher ist hier der soziale Sprachgebrauch immer irgendwie mit im Fokus, zumindest indirekt und oft unausgesprochen. Hampe (2016, 77) verweist hier auf die semiotische Freiheit einer Gemeinschaft von Zeichenverwendern gegenüber den Zeichen und nennt dies semiotische Autonomie: »Indem sie [die Mitglieder einer Gemeinschaft, JK] sich über ihre möglichen Bedeutungen austauschen, machen sie sich klar, daß sie an keine feste Bedeutung gebunden sind, daß es keine göttliche oder weltliche Autorität des Sprechens und deshalb auch nicht des Lebens gibt. Sofern eine Veränderung von Bedeutungen eine Veränderung des gemeinsamen Sprechens darstellt und dies unter Umständen einen Wandel des gemeinsamen Lebens nach sich zieht, ist das sokratische Philosophieren eines, das von der Idee geprägt ist, in Gesprächen frei das

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Doktrinäre und nicht-doktrinäre Philosophie

Leben gemeinsam zu gestalten, durch Nachdenken über Bedeutungen und ihre Relevanz.«

Was Hampe hier beschreibt, ist im Grunde das, was in Anlehnung an Hannah Arendt gerade als proto-politische und bisweilen politische Funktion der Philosophischen Praxis gedacht wurde, die selbst in der Einzelarbeit und noch offensichtlicher in der Arbeit mit Gruppen zur Geltung kommen kann – wenn auch oft im Hintergrund, eher indirekt und wenig bemerkt. Vielleicht liegt die besondere Weise, die hier vor Augen schwebt, darin, dass sie dabei aber gerade nicht vorrangig auf soziale Projekte selbst fixiert ist bzw. sein sollte, sondern auf den Gast und seine Welt. Die Tätigkeit einer solchen Philosophie bestehe darin, Menschen vor der Fixierung bestimmter Behauptungen als Denkresultate zu schützen. Sie stelle Fragen und stelle Behauptungen in Frage. Nach Hampe (2016, 70) könne die Philosophie als eine »›Institution‹ der distanzierenden Reflexion des menschlichen Lebens […] katalytische Wirkungen entfalten, indem sie darauf hinweist, wie wenig begründet, wie zusammenhanglos oder ziellos manche Begriffsverwendungen sind, und fragt, was das über das Leben der so Sprechenden aufzeigt«. Das sei vor allem in unserer aktuellen Kultur hilfreich, die so stark von wenig hinterfragten wissenschaftlichen Behauptungen durchzogen und damit auf gewisse Weise unnötig doktrinär geworden sei. Hampe (2016, 80 f.) richtet sich dabei nicht gegen Wissenschaft, sondern gegen eine doktrinäre, unhinterfragte Behauptungspraxis, die schon in Erziehungsprozessen, vor allem über den Gebrauch von Allgemeinbegriffen, geteilte Überzeugungssysteme liefere. In der Philosophie selbst sei es eine Kontroverse, in der Hampe deutlich Stellung gegen eine Position bezieht, nach der das Allgemeine das höchste Ziel der Bildung sei – eine Position, die etwa Hegel vertreten hätte und seit Platons Ideenlehre weite Teile der Philosophie geprägt habe. Allgemeinbegriffe, so Hampe (2016, 129 f.), hätten durchaus auf sehr verschiedene Arten und Weisen einen praktischen Sinn, aber sie seien nicht auf »schwer faßbare Instanzen wie einen allgemeinen Verstand oder eine Vernunft« zurückführbar, sondern sie könnten »auf eine allen Menschen gemeinsame biologische Ausstattung und auf in einem Zeichensystem sozial etablierte Unterscheidungsgewohnheiten bezogen werden«. Allgemeinbegriffe erzeugen sicherlich soziale Kohäsion, schützen aber auch in gewisser Weise vor dem Fremden und dem Neuen. Es mangele vor allem an eigenen aktiven Erkenntnisprozessen. Inso105 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Praxis im Geiste nicht-doktrinären und kritischen Philosophierens

fern funktionierten wissenschaftliche Behauptungen oft im Grunde wie Mythen. 35 Sokrates sei ein Beispiel dafür, was passiere, wenn sich eine Figur weigere, sich einer solchen Behauptungsgemeinschaft anzuschließen, nämlich Isolation und Hass (und in diesem Falle auch der Tod): »Dem sokratischen Philosophieren geht es gar nicht um das richtige Urteil im Unterschied zum falschen. Es ist vielmehr eine Befreiung der Seele aus einem Urteilskorsett, zwecks Reaktivierung der Fähigkeit auf die Welt zu reagieren. Es geht also um die Autonomie einzelner und nicht um die Wahrheit von Allgemeinheiten.« (Hampe 2016, 82)

Es darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass es bei Sokrates’ logon didonai, dem durch Begründen gekennzeichneten Rede- und Antwort-Stehen, eben nicht nur um die Forderung nach persönlicher Rechtfertigung ging, sondern eben auch um das Bilden von Allgemeinbegriffen. Allerdings kann aber wohl behauptet werden, dass Letzteres vor allem im Dienste der Lebensführung stand.

Karl Jaspers und der Fokus auf Allgemeines und Individuelles Eine ganz ähnliche Position, wenn auch aus einer anderen Richtung kommend, nimmt Karl Jaspers ein, der für die hier vorgestellte Idee Philosophischer Praxis auf verschiedene Art grundlegend ist. Dies lässt sich in seiner Auffassung von Philosophie, etwa aus Die Unabhängigkeit des philosophierenden Menschen, deutlich zeigen, auch wenn Jaspers Sprachduktus freilich ein anderer ist: Es ist interessant zu sehen, was passieren kann, wenn dies alles ins Wanken kommt. In der aktuellen Situation, in der dieser Text verfasst wurde, trieb und treibt noch immer das sog. Corona-Virus sein Unwesen. Im Zuge der Bewertung der Lage und in den Anstrengungen von Gegenmaßnahmen zeichnete sich immer mehr ab, dass hier von der sogenannten wissenschaftlichen Seite sehr unterschiedliche, teils konträre Bewertungen erfolgten, etwa im Hinblick auf die Gefährlichkeit oder die richtigen Reaktionen. Was ja innerhalb von Forschungspraktiken aller Art eigentlich ganz normal ist, gegenteilige Meinungen vertreten, zu anderen Einschätzungen kommen etc., trat hier offen zutage und wurde von weiten Teilen der Bevölkerung akribisch verfolgt. Die soziale Kohäsion schwand, Lager in Befürworter und erbitterte Gegner bildeten sich heraus. Das Beispiel könnte sicherlich noch näher betrachtet und andere Punkte herausgearbeitet werden, kann aber an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Es zeigt aber letztlich, welche Rolle hier Philosophische Praxis einnehmen könnte (und vielleicht müsste).

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»Wie läßt sich die heute mögliche Unabhängigkeit des Philosophierens umkreisen? Keiner philosophischen Schule sich verschreiben, keine aussagbare Wahrheit als solche für die ausschließend eine und einzige halten, Herr seiner Gedanken werden; nicht einen Besitz der Philosophie häufen, sondern das Philosophieren als Bewegung vertiefen; ringen um Wahrheit und Menschlichkeit in der bedingungslosen Kommunikation; sich fähig machen, von allem Vergangenen aneignend zu lernen, auf die Zeitgenossen zu hören, aufgeschlossen zu werden für alle Möglichkeiten; und je als dieser Einzelne sich einsenken in die eigene Geschichtlichkeit, in diese Herkunft, in dies, was ich getan habe, übernehmen, was ich war, wurde und was mir geschenkt wird; nicht aufhören, durch die eigene Geschichtlichkeit hineinzuwachsen in die Geschichtlichkeit des Menschseins im Ganzen und damit in das Weltbürgertum.« (Jaspers 1997, 104)

Schon Jaspers betont, dass es im Hinblick auf die Existenz nicht um das Allgemeine gehe – Existenz sei absolut individuell. Und trotzdem scheint der Mensch zwischen diesen beiden Polen zu wandern. Jaspers spricht auch von den Antinomien menschlichen Daseins, von den unüberwindlichen Gegensätzen, zu denen dieses Verhältnis gezählt werden kann (vgl. dazu etwa Kraus 2014). Kurt Salamun (2019, 33 f.) hat im Hinblick auf diese anthropologischen Vorstellungen konstatiert: »Jaspers sieht das Leben durch zwei sich stets wiederholende Aktivitäten bestimmt: dem Aufbau von ›rationalen Gehäusen‹ und der Relativierung solcher Gehäuse. Er geht davon aus, dass in der psychophysischen Struktur des Menschen ein primärer Trieb nach Einheit, Geschlossenheit, Ruhe, Geborgenheit und Sicherheit tief verankert ist […] Dieser Trieb führt notwendig zur Bildung von rationalen Gehäusen in Form von objektiven Weltbildern, schematisierten Lebensformen, allgemeinverbindlichen Regeln, gesellschaftlichen und rechtlichen Institutionen usw. Jeder Mensch braucht ein stabiles und über einige Zeit hin konstantes Weltbild als Orientierungshilfe. Dieses ist die Voraussetzung, um die Vielfalt von Erlebnissen und Erfahrungen zu ordnen und über rationale Komplexitätsreduktion ein gewisses Maß an Verhaltenssicherheit in der Welt zu gewinnen.«

In dieser Notwendigkeit von Gehäusen, von »objektiv« selbstverständlichen Lebensformen und Gewohnheiten, die dem Menschen

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Halt geben, liegt aber auch die Gefahr des Konformistischen, der Dogmatisierung, die die schöpferische Spontaneität reduziere, damit die individuelle Freiheit untergrabe und letztlich die Verwirklichung des je individuellen Ich verhindere. Es bedürfe daher eines zweiten Strebens, das dieses Gehäuse wieder aufbricht, eine Art Selbstverwirklichung. Bei Jaspers stehen dafür die Ideen der Existenz und des Transzendierens. Existenz meint hier gerade nicht, dass etwas lediglich vorhanden ist. Existenz meint ein Heraustreten, Hervorkommen, Zutagetreten. Das lateinische Verb existere ist zusammengesetzt aus der Vorsilbe ex, was »aus« bzw. »aus heraus« meint, und sistere, »stehen, setzen, sich halten, verortet sein«. Es bleibt zunächst festzuhalten, dass diesbezüglich durchaus von einer dialektischen Angelegenheit gesprochen werden könne: dialektisch zwischen Konstruktion und Dekonstruktion, dialektisch auch zwischen Allgemeinem und Besonderem bzw. Individuellem, wie es hier im Hinblick auf die Philosophische Praxis in besonderer Weise gedacht werden soll. Mit diesem Verständnis wird auch klar, warum Jaspers den Absolutheitsanspruch philosophischer Lehren sowie jeglichen Dogmatismus zurückweist und warum für ihn Kommunikation eines seiner zentralen Themen ist. »Philosophie, die als objektives Gebilde von ihrem Schöpfer oder vom Schüler für die richtige gehalten wird, ist in ihrer Wurzel kommunikationslos. Denn sie gibt dogmatisch das Wahre kund, das besteht. Ihre Form ist die der Einzelwissenschaft: die Wahrheit, die objektiv gültig für jedermann ist, ist zu untersuchen und fortschreitend zu finden; sie wird mitgeteilt in Beweis und Widerlegung […] Da das Seinsbewußtsein dieses [dogmatischen, JK] Philosophen an die rationale Allgemeingültigkeit seiner Wahrheit gebunden ist (nicht an die Wahrheit der geschichtlichen Chiffre für ihn) muß er angesichts des Ausbleibens der Zustimmung eine zu echter Kommunikation unwillige Haltung einnehmen. Er kann nur Schüler nicht Freunde haben, nur Gegner und nicht mit ihm in kämpfende Kommunikation tretende Eigenexistenzen.« (Jaspers 1973b, 111)

Stattdessen sei echte philosophische Diskussion ein »Symphilosophieren, durch das im Medium sachlicher Inhalte Existenzen sich berühren und aufschließen.« (Ebd., 113) Mag sein, dass man im folgenden Zitat einen performativen Widerspruch ausmachen möchte, doch die Mitteilung hat es in sich. So sei »philosophische Wahrheit eine Funktion der Kommunikation mit mir selbst und mit Anderen. Sie ist die Wahrheit, mit der ich lebe, und die

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ich nicht nur denke; die ich überzeugt verwirkliche und nicht nur weiß; von der ich mich wiederum durch Verwirklichung überzeuge und nicht durch Gedankenmöglichkeiten allein. Sie ist die Bewußtheit der Solidarität in der Kommunikation, die sie hervorbringt und entfaltet. Daher kann wahre Philosophie nur in Gemeinschaft zum Dasein kommen. Die Kommunikationslosigkeit des Philosophen wird ein Kriterium der Unwahrheit seines Denkens.« (Ebd. 114)

Gerade dann, wenn im Gespräch gegenseitiger Verzicht auf absolute Wahrheiten wechselseitig erkennbar wird, wird Wahrheit und Kommunikation im eigentlichen Sinne überhaupt erst ermöglicht. Für Jaspers steht hierfür eine besondere Weise des Sprechens, nämlich die indirekte Mitteilung. Dieser Begriff scheint m. E. für die Philosophische Praxis in besonderer Weise fruchtbar zu sein. Indirekte Mitteilung, so ließe sich für den hier behandelten Kontext deuten, ergibt sich bzw. ereignet sich speziell im Dialog – und zwar im stiftenden Dialog. Und so steht auch für Jaspers außer Frage, dass der Dialog die adäquate Mitteilungsform der Philosophie sei. Sie ist gerade nicht Aussage des Praktikers und verortet sich zwischen der für Philosophische Praxis abgelehnten Vermittlung spezieller philosophischer Lehren einerseits – was freilich nicht heißen soll, dass diese nicht zur Sprache kommen können – und vermeintlich neutraler, unbeteiligter und zur Anwendung gebrachter Methodik andererseits. »Keine Lehre ist Leben und keine Mitteilung einer Lehre eine Übertragung von Leben.« (Jaspers 1994, 378) In seinem großen Werk Von der Wahrheit (1948) unterscheidet Jaspers (1991c, 648) direkte und indirekte Mitteilung folgendermaßen: »Die direkte Mitteilung ist das Aussprechen, das in bezug auf umfassende, im Denken geordnete Gebiete als Lehre auftritt. Die indirekte Mitteilung ist ein Sagen durch Nichtsagen, geschieht durch vieldeutiges Tun und durch der Deutung offene Symbole. Zwar ist jede Mitteilung von Wahrheit eine objektiv werdende Erscheinung, aber der Sinn und die Verstehbarkeit dieser Erscheinung sind wesensverschieden nach der Weise des Wahrheitssinns.«

In seiner radikalen und ein wenig mystisch anmutenden Deutung meint indirekte Mitteilung, »daß bei stärkstem Klarheitsdrange und allem Suchen nach Formen und Formeln kein Ausdruck zureichend ist und der Mensch sich dessen bewußt wird, heißt die Einstellung, dass alles Kommunizierte, das direkt da, sagbar ist, letztlich das Unwesentliche, aber zugleich indirekt Träger des Wesentlichen ist«. (Jaspers 1994, 378)

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Die bisweilen geäußerte Kritik an Jaspers (vgl. Schüßler 1995, 69), dass die Inhalte im Philosophieren durch das Indirekte nicht mehr zu kritisieren seien und daher »gegen jedes gegnerische Argument immunisiert« seien, trifft wohl insofern zu, als diese Art des Philosophierens hier selbst einseitig, also ohne Allgemeines, auftritt. Für die Philosophische Praxis wie sie hier gedacht wird, nämlich vor allem dialogisch und dialektisch, also das Allgemeine mit einbeziehend, trifft sie m. E. in diesem Maße nicht zu, auch wenn am Ende, zumindest im Feld existentieller Lebensberatung, dann doch das Individuelle das letzte Wort hat. Dies gilt wohl in ähnlicher Weise für das Verhältnis von Indirektem und Direktem. So meint etwa Schüßler (1995, 67): »Für indirekte Mitteilung ist das Direkte stets nur Medium, in dem immer noch anderes erfahrbar wird, ja nur so überhaupt erfahrbar werden kann.« In diesem Sinne kann auch das Allgemeine der Lehre gedacht werden, nämlich als ein Mittel: »Man kann die Lehre als Lehre nehmen, die von Dingen, Objekten, vom Ganzen gültiges Allgemeines sagt, während sie nur Weg und Mittel zu der immer geschichtlich konkreten existentiellen Selbsterhellung ist.« (Jaspers 1991b, 369) Jaspers wollte, so Salamun (2019, 44 f.), auch kein Ethiker oder Moralphilosoph sein, der eine explizite ethische Lehre oder gar ein System entwickeln wolle. Vielmehr gehe es ihm im Hinblick auf sein Verständnis von Philosophie um ein besonderes Selbstaufklärungsethos. »Aber sie [die Philosophie, J. K.] will damit die Freiheit des Anderen nicht antasten, der im Philosophieren vielmehr sich selbst finden muß, ohne daß die Philosophie als ein Werk und als ein Ganzes von Gedanken durch ein mitgeteiltes Wissen ihm das abnehmen könnte.« (Jaspers 1994, XI)

Salamun weist darauf hin, dass Jaspers’ liberales Ethos der Humanität hier vor allem von Friedrich Nietzsches Prinzip der Rechtschaffenheit und Max Webers Idee intellektueller Redlichkeit beeinflusst sei. Es stemme sich im Hinblick auf moralische Aspekte gegen vorgegebene Fixierungen von Weltbildern, da diese die individuellen Entscheidungsmöglichkeiten in moralisch relevanten Situationen wesentlich einschränken: »Solche Systeme stellen aus Jaspers’ Sicht bestimmte Werte nicht nur als richtig und allgemein verbindlich hin, sondern legen deren Akzeptanz zwingend nahe. Damit werde die individuelle Wertentscheidung

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suggestiv in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt. Sie erfolgt nicht mehr autonom oder ›unbedingt‹ aus der sich selbstbestimmenden Subjektivität heraus.« (Salamun 2019, 45 f.)

Das sei es aber gerade, um was es bei der Philosophie gehe, nämlich um Existenz und um damit verbundene individuelle Entscheidungsfreiheit: »Die Philosophie muss dafür sorgen, dass die dynamischen Prozesse und Prinzipien des Menschseins, wie kritische Selbstreflexion, eigenverantwortliche Selbstwahl, sowie unbedingte, autonome Wertentscheidung aus existentieller Freiheit, nicht preisgegeben werden auf Kosten von selbstzufriedener Sicherheit und Selbstgewissheit, wie sie von rationalen Weltbildern und ethischen Systemen suggeriert werden.« (Salamun 2019, 46)

Dies kann wohl insbesondere für das dialogische Mitteilen Philosophischer Praktiker gelten. Die von Jaspers vorgestellte Philosophie appelliert, genauso wie die Philosophen der indirekten Mitteilung wie Sokrates, Kant, Kierkegaard oder Nietzsche, an den Einzelnen, speziell »an das Leben, das im Anderen ist«, also an die Existenz. 36 Wie Hampe verweist verschiedentlich auch Karl Jaspers auf Sokrates – das geschieht schon früh, etwa in seiner Schrift Psychologie der Weltanschauungen. Hier spricht er von den »Propheten der indirekten Mitteilung«, die er von den »Lehrern bestimmter Prinzipien« und den »Lehrern der Totalität des Lebens« abgrenzt. Für Sokrates ging es, so könnte vielleicht gesagt werden, um eine humanistische Transformation: Der Mensch habe sich in allererster Linie um die Schaffung humaner zwischenmenschlicher Beziehungen zu kümmern. Der besondere Weg dieser Transformation verläuft über die Entwicklung eines produktiven Verhältnisses zu sich selbst, zu seiner Seele – darauf wird noch näher einzugehen sein. Trotz der Tatsache, dass es dabei offensichtlich um je Individuelles geht, spielen im Dialog besondere Fragen eine Rolle, etwa die, was Gerechtigkeit, Mut oder Freundschaft sei – Fragen also, die auch auf etwas Allgemeines verweisen. Dieses Allgemeine mag freilich kaum zu erlangen bzw. zu erfassen sein, als Streben danach ist es aber für die Orientierung notwendig – eine Orientierung, die sich als »Sich-halten-an-AnhaltsDiesen appellativen Charakter übernimmt von Jaspers bereits Viktor Frankl für seine Vorstellung der Logotherapie als appellative Psychotherapie, vgl. Frankl, Viktor Emil: Logotherapie und Existenzanalyse, München 1987; zur Einschätzung Schüßler 1995, 148 f.

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punkten« zeigt. 37 Die Besonderheit bei Sokrates, um die es hier geht, besteht einerseits darin, dass er diese Dinge nicht lehrte und propagierte, die Notwendigkeit ihrer Erörterung aber nicht außer Acht ließ. Doch geht es hier nicht nur um Sachverhalte, denn es zeigt sich darin andererseits ein Phänomen, das heute wohl am besten mit dem Begriff der Haltung gekennzeichnet werden kann, auf die noch näher einzugehen sein wird. Im Sinne von Jaspers kann diese sokratische Praxis als indirekte Mitteilung verstanden werden.

Allgemeines und Individuelles in der Philosophischen Praxis Philosophische Praxis oszilliert demnach zwischen den Polen des Individuellen und Allgemeinen, zwischen Existentiellem und Gesellschaftlich-Politischem und verortet sich daher philosophisch weder in einem Universalismus noch in einem Dezisionismus. Philosophische Praxis stellt auch in diesem Sinne ein Zwischen dar, in dem sich Dynamisches und Dialektisches anhand einer gewissen logischen Struktur ereignen und damit bedeutungs-generativ werden kann. Philosophie kann sich einerseits denkend auf ein Allgemeines beziehen und versuchen, größere Zusammenhänge zu fokussieren – das theoretische Moment kommt hier sicherlich stärker zur Geltung. Gemeint ist hierbei allerdings weniger die Orientierung an bereits vorgegebenen Normen – diese würden vielmehr auch kritisch reflektiert –, sondern das freie Denken hin auf den gesellschaftlichen bzw. politischen Zwischenraum der Menschen. Hampe hat die Orientierung am Allgemeinen kritisiert und dagegen stärker den Blick für das Individuelle gefordert. Dieser Blick ist auch in der Idee Philosophischer Praxis grundlegend, wie etwa Achenbach (2010 VI, 95) ausführt: »In erster Linie und zunächst und lange Zeit geht es in der Praxis um nichts anderes als darum, den Menschen, der sich uns anvertraut, als den besonderen und einzigartigen, als diesen einen, der er ist, so innerlich und vielfältig wie möglich zu verstehen.« Auch die Perspektive aufs Individuelle kann und soll also philosophierend eingenommen werden. Orientierung kann hier Standortbestimmung meinen, aber auch Bestimmung von Richtungen, Zielen und We-

Vgl. zu den philosophischen Perspektiven zur Orientierung Stegmaier, Werner (Hg.): Orientierung, Frankfurt/M. 2005.

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gen. 38 Bleibt diese allerdings wieder einseitig, wird bloß die individuelle Psyche, das individuelle Funktionieren betrachtet, so bewegen wir uns womöglich in eher psychologischen Gefilden. Philosophierend können damit unterschiedliche Perspektiven eingenommen werden, existentielle, ethische, gesellschaftlich-politische. Das hier nun wesentliche Element wurde bisher nur indirekt angesprochen, nämlich das Intersubjektive. In diesem Zwischen findet auf besondere Weise eine Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem statt. Was auf basaler Ebene gilt, nämlich die Notwendigkeit des Anderen auch für die Herausbildung des Rationalen, der Sprache, kann hier übertragen werden. 39 Das hier vorgenommene Aufzeigen des Problems soll mit einem Ausblick abgeschlossen werden, der m. E. insgesamt in eine sehr fruchtbare Richtung verweist, nämlich in die interkulturelle. Dies gilt freilich nicht nur für diesen Punkt der allgemeinen Diskussion der Philosophischen Praxis. Dem liegt der Verdacht zugrunde, dass das polare Verhältnis von Allgemeinem und Speziellem womöglich in einem anderen Licht besser betrachtet und gedacht werden könne, wenn es nämlich nicht aus einem Subjektdenken, sondern aus einem Prozessdenken heraus betrachtet würde. Die Konsequenz wäre dabei die Abkehr von einem ausschließlichen Denken im Entweder-oder hin zu einem Sowohl-als-auch. Beispielhaft kann hier Francois Julliens Buch Die stillen Wandlungen (2010) genannt werden. Jullien führt darin deutlich vor Augen, wie unser westliches Denken seit Platon vor allem in einem Subjektdenken verhaftet ist und uns dadurch gewisse Wandlungsphänomene zu einem guten Teil entgehen. Hingegen könne in einer subjektfreien Betrachtung, wie sie vor allem in einer chinesischen Tradition in der Idee von Umwandlung-Fortdauer (biang-tong) zu finden ist, ein neuer Horizont eröffnet werden. Hier wird ein etwas anderer Verflechtungszusammenhang aufgemacht, in dem das eine immer schon im anderen enthalten ist und eine unendliche Bewegung zwischen Polaritäten stattfindet. Inwiefern dieses Denken, das Jullien für verschiedene Wandlungsprozesse wie das Altern, die Liebe, für politische Wandlungen Vgl. hierzu auch den lesenswerten Aufsatz Selbstbestimmung und Desorientierung des Individuums in der Moderne von Dieter Thomä, in: Stegmaier, Werner (Hg.): Orientierung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt/M. 2005: Suhrkamp, 289–308. 39 Vgl. zur basalen Ebene des In-Beziehung-Seins und zur Relevanz relativer Attribute Böhme (2016, 120 ff.). 38

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oder den Klimawandel ins Feld führt, auch für das Thema Allgemeines-Spezielles/Individuelles im philosophisch-praktischen Diskurs fruchtbar sein könnte, gilt es herauszufinden. Ist es überhaupt möglich, wo doch gerade Philosophische Praxis auf das Individuum, das Subjekt zielt – bei aller Bewusstheit für das Soziale und Politische? Dies gilt aber nicht nur für den Diskurs, sondern für die Praxis selbst, insbesondere für die darin zu machenden Erfahrungen der Gäste. Wenn es, wie Jullien behauptet, dieser Art zu Denken besser gelinge, die stillen Wandlungen zu bemerken und zu beeinflussen, dann ließe sich dies für das oszillierende Reflektieren von Allgemeinem und Individuellem vielleicht methodisch gebrauchen. Was passiert da, wenn ich in die eine oder in die andere Richtung denke und damit neue Erfahrungen mache? Möglicherweise ließe sich dies mit einem zweiten Gedanken zusammenführen, nämlich mit der Erfahrung der Fremdheit, wie sie etwa Bernhard Waldenfels in seiner Phänomenologie des Fremden (exemplarisch 2006) thematisiert hat. Wie lässt sich dieser phänomenologische Ansatz, in dem Eigenes und Fremdes sowie deren Verflechtung eine zentrale Rolle spielen, in gewisser Weise auf den Kontext von Allgemeinem und Individuellem in der philosophischen Beratung überführen? Auch hier wären Eigenes und Fremdes weniger als Attribute zu verstehen, nicht als feststehende Größen jedenfalls, sondern je als einem Prozess der Ein- und Ausgrenzung entsprungen. Mit Fremdheitserfahrungen, auch mit dem Einsatz von Verfremdungsverfahren, können Ordnungsmuster durchbrochen und dadurch erweitert werden. Dabei sei, so Waldenfels (2006, 131) ein gewisses Maß an Epoché gefragt, ein »Aussetzen selbstverständlicher Annahmen, ein Abweichen vom Vertrauten, ein Zurücktreten vor dem Fremden«. Fremderfahrung könne daher konstitutiv für jeden Entwicklungs- und Wandlungsprozess verstanden werden. Allerdings tun sich dabei einige Schwierigkeiten auf, etwa das Problem des Verfahrens nach den eigenen Maßstäben des Praktikers, die an dieser Stelle nicht ausgeführt und diskutiert werden können (aber bei der späteren Untersuchung sicherlich müssen). Mit den Worten von Waldenfels (2006, 130) wäre zu fragen, »wie wir mit dem Fremden umgehen können, ohne ihm den Stachel des Fremden zu rauben«. Wie lässt sich Philosophische Praxis als ein Ort des Zwischen, als ein Zwischen-Ort sozusagen, verstehen? Vielleicht kommt auf dieser höheren kognitiven Ebene das zum Tragen, was sich bereits auf basaler biologischer Ebene als besondere 114 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Kritisches Philosophieren im Kontext Philosophischer Praxis

Teilhabe-Verbindung zwischen Individuum und Welt (in einem umfassenderen, also auch biologischen Sinne) zeigt. Andreas Weber (2017) beschreibt dieses Sein in Verbindung auf verschiedene Weise, etwa im Hinblick auf die Liebe, die in der Hinwendung auf einen anderen gerade das eigene Sein erst ermögliche. Die Grundidee besteht im Kern darin, Individuum und Welt nicht als gegenteilig oder gegenläufig zu betrachten. Ganz Individuum zu werden, so die These, könne nur durch Teilhabe an der Welt, in Austausch und Verwandlung geschehen. Inwieweit die hier aufgemachte Analogie tragfähig ist oder Gefahr läuft, einem Biologismus zu verfallen, müsste freilich näher betrachtet werden. Die Idee einer Anteilhabe, die in Form einer verwandelnden Übersetzung von Selbst in Welt und umgekehrt, von Fremdem in Eigenes, von Allgemeinem in Individuelles und zurück zur Geltung kommt, scheint aber im Hinblick auf eine Deutung des Zwischen Philosophischer Praxis ein wertvoller Gedanke zu sein.

Kritisches Philosophieren im Kontext Philosophischer Praxis Es wurden bereits einige Bemerkungen zum kritischen Moment der hier reflektierten Idee von Philosophischer Praxis gemacht. Nun ist allein kritisches Philosophieren ein weites Feld. 40 Wird der Begriff der Kritik verstanden als Untersuchung, dann ist er im Hinblick auf das Philosophieren fast tautologisch. Wird er bloß bezogen auf die Frankfurter Schule, ist er sicherlich zu eng. Kritik als eine Praxis des Unterscheidens und Bewertens kann auch weitergehend verstanden werden als einen auf Gründen basierenden Anstoß zur Transformation, der aus einem Engagement für die Sache oder die Person heraus entsteht. Aus phänomenologischer Sicht ist sie eigentlich eine sehr interessante Angelegenheit: Oft bewirkt sie – und so sind wohl zumeist auch unsere ersten Assoziationen mit ihr – ein negatives Gefühl, womöglich eine Verletzung, obwohl doch die Intention (in redlicher Absicht) eine ganz andere ist, nämlich etwas (eine Sache, einen Prozess, einen Menschen usw.) besser zu machen. Insofern geht es nicht darum, zu diskreditieren oder gar zu verletzen. Und trotzdem haftet Kritik bzw. ihrem Gelingen immer etwas Unverfügbares an. Wie kann es ihr gelingen, sich gegen Widerstände zu behaupten? Sie ist Vgl. dazu exemplarisch den 2009 herausgegebenen Band von Rahel Jaeggi und Tilo Wesche: Was ist Kritik?

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Praxis im Geiste nicht-doktrinären und kritischen Philosophierens

ja eher unbequem. Kritik ist zudem ein heikles Thema, weil es hier deutlich von ihrem Verständnis abhängt, ob ihre Praxis als legitim oder illegitim, zu begrüßen oder abzulehnen, sinnvoll oder nutzlos erachtet wird. Wer meint, dass sich an dieser Stelle oder in jener Situation Kritik verbiete, der hat vermutlich schon eine ganz bestimmte Idee von Kritik im Kopf, womöglich eine recht enge und verkürzte. Klar sollte zumindest sein, dass es hierbei nicht um Krittelei und Nörgeleien gehen kann. Der Kritikbegriff ist vielgestaltig und umkämpft – die Kritik gebe es so wenig wie die Philosophie, bemerkt etwa Rahel Jaeggi (2009a, 9). Ein pauschales Urteil verbietet sich also diesbezüglich. Kritik ist dabei immer etwas Beziehungshaftes, im geringsten Falle etwas zwischen dem Kritiker und der kritisierten Sache. So stellt Jaeggi (2009a, 8) fest: »Kritik bedeutet immer gleichzeitig Dissoziation wie Assoziation. Sie unterscheidet, trennt und distanziert sich; und sie verbindet, setzt in Beziehung, stellt Zusammenhänge her. Sie ist, anders gesagt, eine Dissoziation aus der Assoziation und eine Assoziation in der Dissoziation. Noch die radikale Widerlegung ist in diesem Sinne eine Bezugnahme, und noch eine Kritik, die auf den Bruch mit einer bestehenden Ordnung setzt, stellt eine Beziehung zu der Situation her, die überwunden werden soll.«

In Philosophischer Praxis stellt sich die Beziehungsfrage diesbezüglich auf besondere Weise, weil geklärt werden muss, wie hier die Rollenverteilung aussieht. Wer kritisiert hier was? Tritt der Praktiker als Kritiker auf? Sind der Gast und dessen Leben die zu kritisierende Sache, dessen Gedanken, Vorstellung und Reflexionen, dessen Verhalten, seine habitualisierten Praktiken? Wäre das nicht anmaßend? In (manchen) psychotherapeutischen Settings ist diese Rollenverteilung in etwa so festgelegt: Der Therapeut tritt als Kritiker auf, der von einem privilegierten Beobachterstandpunkt die Ausführungen der Klienten deutet – wobei es hier, je nach Auffassung, weniger um die bloße Deutung als um den Aspekt der Intervention selbst geht, die einen Effekt erzielen möchte. Wie sehen sich Praktiker im Setting philosophischer Lebensberatung? Auf ähnliche Weise? Auf welcher normativen Grundlage wird kritisiert, was sind hier die Wertmaßstäbe? Werden sie vom Praktiker vorgegeben? Soll der bestehende Maßstab des Gastes, ein gemeinsam erarbeiteter Maßstab, etwas Individuelles oder eher Allgemeines gelten? Die diesbezüglich immer wieder angestellte und vieldiskutierte theoretische Sicht unterscheidet zwi-

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Kritisches Philosophieren im Kontext Philosophischer Praxis

schen externer und interner Kritik. Bietet Philosophische Praxis nicht eine dritte Weise an, die je situativ dialogisch zwischen externer und interner Kritik zu oszillieren vermag? Kritik ist hier vor allem als ein gemeinsames Unterfangen zu verstehen, als gemeinsames praktisches Engagement. Die Aufgabe des Praktikers kann darin gesehen werden, den Gast bei der eigenen kritischen Untersuchung zu unterstützen. Kritik, so kann vielleicht mit Foucault gesagt werden, möchte sich im Streben danach, nicht derart regiert zu werden, hier auf alle Fälle zum Komplizen machen, nicht zum Richter. Es handelt sich insofern um nicht-paternalistische Kritik, der es um ein gemeinsames Ringen geht. Gerade in diesem Kontext scheint dabei eine gewisse Balance zwischen Vertrauen und Kritik hilfreich zu sein. Rahel Jaeggi (2009a, 10 f.) gibt vier Bedeutungen von philosophischer Kritik an, die es zu unterscheiden gelte. Da ist (1) zunächst die Aufklärung zu nennen, die sich gegen Täuschungen richtet, ebenso gegen Dogmatismus und Scheinaufklärung. (2) Historische Kritik an alternativen Entwürfen (etwa Aristoteles’ Kritik an Platon oder Hegels Kritik an Kant) diene der Positionierung gegen diese Alternativen und der Selbstvergewisserung. (3) Unter einen emanzipatorischen Kritikbegriff werden außerdem sogenannte intellektuelle Tugenden gefasst, die sich beispielsweise in einem Einmischen in eine Sache oder in einem Engagement für etwas zeigen. Im Mittelpunkt steht hier die Praxis selbst. (4) Schließlich können Kritik und Philosophie auch derart in eins zusammenfallen, wie es bei Hegel der Fall sei. Dort bestehe ihre mittelbare Wirkmacht »in der Rekonstruktion konfliktlösender Potentiale, die in der Realität, in habituellen, sprachlichen oder institutionellen Praxisformen verkörpert sind. Die normativen Grundlagen der Kritik werden über die Rekonstruktion solcher Praxisformen, die sich im Bestehenden manifestieren, gesichert.« (Jaeggi 2009a, 12) Will Philosophische Praxis eine kritische sein, so kann sie sich m. E. an allen Formen orientieren. Eines sollte sie dabei aber niemals tun, nämlich die Schwelle zum Doktrinären bzw. Autoritären überschreiten. Gute Kritik ist ja gerade bestrebt, Ideologien bewusst zu machen und aufzudecken sowie Dogmatismen zu begegnen. Foucault (1992, 12) spricht im Hinblick auf Kritik sehr allgemein von der »Kunst nicht dermaßen regiert zu werden.« Überschreiten spielt aber zumindest im Hinblick auf das subversive Moment von Kritik eine Rolle.

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Praxis im Geiste nicht-doktrinären und kritischen Philosophierens

In seiner Unterscheidung zweier Kritikbegriffe bei Kant hat Foucault (1992) dessen transzendentales Verständnis (der drei transzendentalen Kritiken) von dem des aufklärerischen getrennt. Letzteres, das bei Kant allerdings nicht explizit mit dem Wort Kritik verbunden ist, kommt in seinem berühmten Wahlspruch der Aufklärung zum Vorschein: »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.« Jene Kritik als Aufklärung zielt bekanntlich auf Mündigkeit, also die Fähigkeit, selbst zu denken und sich kritisch gegenüber dem verhalten zu können, was andere postulieren und behaupten. Kant sieht darin den »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«, die nicht deswegen selbstverschuldet sei, weil die Menschen zu wenig verständig seien, sondern weil ihnen Mut und Entschlossenheit fehle. Den Dingen genauer auf den Grund zu gehen, insbesondere beim kritischen Blick auf das eigene Verständnis, bedürfe also einer gewissen Haltung – insbesondere im Gespräch mit anderen. »Es gibt etwas in der Kritik«, so Foucault (1992, 9), »das sich mit der Tugend verschwägert. Ich möchte Ihnen gewissermaßen von der kritischen Haltung als Tugend im allgemeinen sprechen.« Dies könnte vielleicht als eine Grundhaltung Philosophischer Praxis ausgewiesen werden. Einer aus dieser Haltung hervorgehenden Kritik geht es vor allem um Aufklärung und Emanzipation. Eine solche Weise kann auch als eine wohlmeinende ausgewiesen werden; sie erwächst gerade nicht aus dem Ressentiment. 41 Den Mut, der in der Kritik der Aufklärung bereits aufscheint, rückt Foucault als das zentrale Merkmal der vielschichtigen und sehr unterschiedlich konnotierten antiken parrhesia in den Mittelpunkt seiner letzten großen Überlegungen, die als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem eigenen und gemeinsamen Selbstverständnis Philosophischer Praxis dienen können. 42 Thomas Gutknecht (2021, 40) hat den wesentlichen Unterschied jüngst wie folgt auf den Punkt gebracht: »Die ressentimentale Kritik attackiert, während die liebevolle Kritik erläutert, korrigiert, ergänzt usw. Ressentimentale Kritik ist nur in Ausnahmefällen konstruktiv und kreativ, in der Regel destruktiv und nicht an Lösungen interessiert. Ressentiment-Kritik ist vom Grund her verantwortungslos. Im Disput will sie nur brillieren und dominieren; sich auf den unabsehbaren Gang des freien Gesprächs oder des gemeinsamen Ringens im liebenden Kampf einzulassen, liegt jenseits ihres Interesses und Vermögens. Ressentiment hat nicht das Gemeinsame im Sinn, sondern lebt von der Spaltung und ernährt sich daraus. Am Ende konstituiert sie auch eine intrapsychische Wirklichkeit.« 42 Diese Auseinandersetzung mit den Vorstellungen und Praktiken von parrhesia muss in diesem Buch ausgespart werden. Ich habe in den letzten Jahren immer wieder 41

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Kritisches Philosophieren im Kontext Philosophischer Praxis

Im speziellen Feld der philosophischen Lebensberatung, in dem Begegnung und Beziehung, ja Intimität und Nähe wahrscheinlich am stärksten eine Rolle spielen, scheint im Umgang mit dem kritischen Moment also eine besondere Sensibilität gefragt zu sein. Mitunter wird hier ja das große Wort von der Selbsterkenntnis in den Mund genommen, um die es entweder direkt oder »nebenbei« auch gehen kann. Wieder kann auf die Figur Sokrates als exemplarischen Bezugspunkt verwiesen werden, weil seine Art des Gesprächs genuin kritisch den Erkenntnis- bzw. Wissensstand des Gesprächspartners ins Visier nimmt, um damit die Denkgewohnheiten aus ihrer Starrheit zu befreien. Hier geht es ja auch um die Prüfung des eigenen Selbstbildes im Hinblick auf Plausibilität und Wahrhaftigkeit. In der kritischen Betrachtung von Individuellem und Allgemeinem kann eine Differenz zutage treten, ja können Spannungen auftauchen, die es versucht, in Seminaren und Diskussionen dazu anzuregen – nicht zuletzt im Bildungsgang Philosophische Praxis. Der Zugang bietet eine Möglichkeit für eine existentielle Auseinandersetzung der philosophisch Praktizierenden mit sich selbst, mit den Gästen und immer auch mit gesellschaftlichen Fragen. Diese besondere Form einer Wahrheitspraxis, Foucault sprich von einer Alethurgie, erweist sich dabei freilich nicht als eine einfache Schablone, sondern als eine durchaus kritisch zu betrachtende, ambivalente, ja womöglich gefährliche Angelegenheit, die es ein Stück weit stärker zu durchdringen gilt. Lässt sich, von dieser Denkart ausgehend, auch die Philosophische Praxis als eine Wahrheitspraxis verstehen – Philosophische Praxis als eine Alethurgie? Der Gegenstand bietet aufgrund seiner vielschichtigen, teils widersprüchlichen, teils existentiell zu besetzenden Positionierung sowie über die Verbindung wesentlicher Aspekte wie Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Subjekt, Wissen ein reichhaltiges und fruchtbares Feld der Auseinandersetzung. Inwieweit lässt sich im Zusammenhang mit der eigenen Tätigkeit legitimer- und sinnvollerweise von Wahrheit sprechen? Kann Philosophische Praxis als eine Verifikationspraxis verstanden werden? Welche Bedingungen müssen dabei erfüllt werden, um diesbezüglich keiner Selbsttäuschung zu erliegen? Diese Fragen beziehen sich nicht nur auf die persönliche Tätigkeit, sondern in erster Linie auf Philosophische Praxis als einer potenziellen gesellschaftlichen Institution. Will sich Philosophische Praxis als eine solche Wahrheitspraxis verstehen? Da sie sich selbst oft auch als gesellschaftlich-politisch engagiert versteht, welche Relevanz hat dies eben für Gesellschaft? Oder umgekehrt: Welchen gesellschaftlichen Beitrag kann Philosophische Praxis leisten, wenn sie sich, bei aller Problematik, die hier zu diskutieren ist, als Wahrheitspraxis versteht? Dies kommt nicht ohne die Frage aus, die hier zumindest angerissen werden soll, welche Bedeutung ein angemessenes Verständnis von Wahrheit für die Menschen, das Soziale und das Zusammenleben heute überhaupt haben kann – in Zeiten, wo aus teils nachvollziehbaren Gründen solches wenig thematisiert und gar kategorisch abgelehnt wird. Wenn, wie Jaspers sagt, Philosophieren die Suche nach Wahrheit ist (und eben nicht der Besitz derselben), dann könnten die Akteure aus dem philosophischen Feld dieses tatsächlich ernst nehmen.

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Praxis im Geiste nicht-doktrinären und kritischen Philosophierens

kritisch zu beleuchten gilt. Wir können uns nicht nur in Bezug auf uns selbst irren, sondern uns auch selbst täuschen. Das Wort Kritik geht auf das altgriechische Verb krínein zurück, das (unter-)scheiden, trennen bedeutet. Die Differenz läuft auf eine Entscheidung des erkennenden Individuums hinaus, so oder so wahrnehmen, fühlen, sprechen, handeln, ja sein zu wollen, nicht mehr nur Befindlichkeiten nachzugehen, nicht mehr nur ungeprüften Vorstellungen zu folgen, sondern sich auch von Gründen leiten zu lassen. Voraussetzung ist also, dass es Spielräume gibt, dass überhaupt Deutungs- und Entscheidungsmöglichkeiten bestehen. Selbsterkenntnis ist in diesem Sinne untrennbar nicht nur mit einer Kritik verbunden, sondern auch mit einer Verantwortung, die sich aus dem Erkennungsprozess heraus selbst ergibt. Es ist gleichfalls, wenn auch nicht nur, Verantwortung zur Bildung seiner selbst. Der Kritik von Sokrates sei es, so die Auffassung von Michael Hampe (2016, 82), nicht darum gegangen, »das richtige Urteil im Unterschied zum falschen« zu unterscheiden, sondern um eine »Befreiung der Seele aus einem Urteilskorsett, zwecks Reaktivierung der Fähigkeit auf die Welt zu reagieren«. Auch wenn es m. E. in gemeinsamer Praxis der Beteiligten (je nach Kontext) nicht notwendig ist, Ersteres, also das gemeinsame Urteilen, völlig über Bord zu werfen, so soll doch an dieser Stelle letztere Idee im Fokus stehen. Ist das eine Richtung, in die Philosophische Praxis Kritik fruchtbar denken kann? Es ließe sich ja einwenden, dass hier die Idee der Kritik, nämlich das Unterscheiden, gar nicht mehr auftauche. Es sei aber daran erinnert, dass es Hampe vor allem um das Differenzieren und das Experimentieren mit Begriffen geht, um die genannten Spielräume auszuloten. Insofern ist die Begriffsverwendung durchaus zulässig. Kritik – wer auch immer sie in der Praxis übt, seien es die Praktiker, die Gäste (gemeint sind nicht nur die in der philosophischen Lebensberatung) oder beide zusammen – ist dann keine Kritik an der Person oder einer gesellschaftlichen Situation (im engeren Sinne), sondern eine Unterscheidungspraxis von Zeichen, die freilich sowohl die Gäste als auch die gesellschaftliche Situation betrifft. Kritisch mit der Kritik, genauer mit dem allzu schnellen Lob der Kritik, hat sich Ulrich Johannes Schneider auseinandergesetzt (vgl. Schneider 2006) und deutlich gemacht: »Wirkliche Kritiker sind Ketzer und nicht häufig anzutreffen.« (Ebd., 95) Schneider wirft zunächst einen Blick auf die intellektuelle Tradition der Kritik in Europa, die er im 17. Jahrhundert mit der aufkommenden Bibelkritik 120 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Kritisches Philosophieren im Kontext Philosophischer Praxis

(Spinoza, Richard Simon) beginnen sieht. Es geht dabei auch um die Abgrenzung des Philosophen von den Figuren des Intellektuellen, des Politikers und des Propheten. Schneider nennt im Hinblick auf die Orientierung an wissenschaftlichen Verfahren etwa Francis Bacon, dem es um rationell anerkennbare Erkenntnisverfahren gegangen sei und der dabei »Vorurteile, Gewohnheiten und andere liebgewordene Selbsttäuschungen des Menschen« abbauen wollte. »Der moderne europäische Kritiker kennt den Irrtum und weiß um die entsprechende Anfälligkeit des Menschen – darum aber läßt er in seiner Polemik dagegen nicht nach.« (Schneider 2006, 97) Seit dem 18. Jahrhundert sei Kritik, etwa bei Christian Thomasius, bei Denis Diderot oder bei Gotthold Ephraim Lessing und natürlich bei Kant nicht mehr nur Tradition der Intellektuellen, sondern gehöre auch zum Selbstverständnis der Philosophie. Mit Bezug auf Lessing (es sei an die Ringparabel gedacht) meint Schneider (ebd., 98): »Der Kritiker will gerade nicht selber Recht sprechen, sondern die Wahrheit im Dialog ermitteln.« Im 19. Jahrhundert ändere sich allerdings das Verständnis von Kritik insofern, als sie sich mit der Dialektik gesellschaftlicher Analyse verkoppele und bei Ludwig Feuerbach und bei Karl Marx zur Ideologie-Kritik werde, »die den Irrtum als anerkannte Wahrheit erscheinen lassen.« Sie wird damit zur anklagenden Kritik. So meint Schneider (ebd., 98 f.): »Die Aufgabe des Kritikers wird nun eine im Angesicht der fehlgeleiteten Gesellschaft, sie wird zur Aufgabe, das Bewusstsein zu fördern, um in der Erkenntnis der eigenen Situation einen Hebepunkt der intellektuellen Kraft zu finden, die die gesellschaftlichen Verhältnisse transformiere. Der Kritiker wird zum Ankläger, der die Unwahrheit der bestehenden Verhältnisse ausspricht – das gilt noch für die Philosophie von Friedrich Nietzsche und die Psychoanalyse von Sigmund Freud.«

Hinzu komme die in dieser Kritikform anzutreffende Eigenschaft, eine bessere Welt und Freiheit zu antizipieren, ja zu verheißen – ein Moment, das nach Schneider auch im Existentialismus noch anzutreffen sei: »Wir stehen heute noch unter dem Druck der Erwartung, die sich mit dem Ansatz einer kritischen Rede verbindet. Immer hoffen wir darauf, daß sich ein Fenster öffnet, die Türen auffliegen und ein Wind sich erhebt, der uns – direkt oder indirekt – in eine neue Zeit trägt. Der Kritiker bekommt die Aufgabe des Wegweisers, er wird zum Utopisten und bleibt jedenfalls nicht bei der Analyse des Bestehenden stehen. Er

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Praxis im Geiste nicht-doktrinären und kritischen Philosophierens

wird für uns als Kritiker überhaupt erst kenntlich an dem kleinen Überschuß, den seine Rede aus der Anklage heraus entwickelt, aus jener Hoffnung, die immer aus den antizipierten Ruinen der Gegenwart eine wie auch immer blasse Gestalt der Zukunft zeichnet.« (Ebd., 99 f.)

Diese Aussagen scheinen m. E. sehr wertvoll für den Kontext der Philosophischen Praxis zu sein, weil sie das Bewusstsein schärfen können, auf welcher Gratwanderung sich diese befindet, wenn sie kritisch sein will, vor allem aber, wenn es ihr womöglich um Transformation geht. Wie kann aber trotzdem undogmatische, nicht anklagende und nicht prophetische Kritik gelingen? Wenn Schneider bemerkt, dass ein philosophisches Denken, das sich in Theorien einer anderen Welt spiegele, verbraucht sei, dann muss auch gefragt werden, ob eine Philosophische Praxis, die an Transformation arbeite, im Grunde nicht auch antiquiert sei. Nun könnte an dieser Stelle bemerkt werden, dass es Schneider hier vor allem um die Kritik an der Kritik der herrschenden Verhältnissen gehe und die Einzelberatung ja mit Gästen arbeite, die ihr eigenes Leben, ihre eigene Lage und Verortung überprüfen möchten. In der Praxis, wie unterschiedlich sie auch jeweils stattfindet, ist es allerdings nicht selten der Fall, dass diese Trennung in gesellschaftliche Verhältnisse und eigenes Leben überwunden wird, denn am Ende geht es immer auch um das Erkennen der Verwobenheit und das Sich-dazu-verhalten-Müssen. Und so sieht auch Schneider (2014, 102) die Stärke der Kritik gerade darin, »daß sie wirksam unser Weltbild in Klammern setzt und die eigene Perspektive problematisiert«. Gerade das, dieses »radikal irritierende Dazwischenreden«, kann Teil der Einzelgespräche sein. Dazu braucht es ein gewisses Maß der Fähigkeit zur Distanznahme. Das gilt sicherlich für den Praktiker, aber auch der Gast kann dazu angeregt und befähigt werden. Dies trifft aber nicht nur für die philosophische Lebensberatung zu, sondern auch für die anderen Kontexte, in denen Philosophische Praxis zur Geltung kommt. Schneider (2014, 102 ff.), der sich in seiner Zuspitzung auf die Frage, was gute Kritik sei, auf die Beispiele Spinoza, Lessing und Foucault bezieht, versteht den Kritiker als Anwalt des Selberdenkens. Als gesellschaftliche Figur erzeuge der erfolgreiche Kritiker Unverständnis und werde so zu einem Ketzer – was hier durchaus positiv konnotiert ist. 43 Kritisches Denken dieser Lesart bedeute Risiko, Gefahr 43

Schneider verfolgt dabei die Intention, das inflationär gewordene Verständnis von

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Kritisches Philosophieren im Kontext Philosophischer Praxis

und Unverständnis – was kein Zufallsprodukt sein dürfe, sondern kalkulierte Absicht, gewonnen aus einem geschärften Bewusstsein der eigenen Situation sowie »ein durch und durch problematisierendes Verständnis des Verhältnisses der eigenen Situation zur Gesellschaft, in der man lebt« (ebd., 106 f.). Im Hinblick auf Philosophische Praxis kann dies wahrscheinlich stärker im Kontext außerhalb der Einzelberatung zur Geltung kommen, sofern diese Rolle als ein Teil des eigenen Verständnisses und der eigenen Arbeit gesehen wird. Interessant ist nun der genauere Blick auf Schneiders (ebd., 107) Ableitungen von seiner Vorstellung von Kritik. Da ist zunächst die methodische Konsequenz, dass diese Praxis bedeute, nicht den herrschenden Maßstäben zu folgen, sondern neue Kategorien einzuführen. »Es geht um eine intellektuelle Konfrontation, die allerdings nicht auf den bloßen Ersatz des Bestehenden abzielt.« Gilt das nicht tatsächlich für einen großen Teil der Philosophischen Praxis, sei es im gesellschaftlichen Kontext oder (und da vor allem) im Einzelgespräch? Bisweilen ist das Thema »Arbeit am eigenen Maßstab« Gegenstand von Gesprächen, wozu in der Regel nicht nur das Explorieren bisheriger Fixpunkte gehört, sondern auch die Einführung neuer Kategorien und Orientierungsmarker. Als eine zweite und durchaus interessante Ableitung nennt Schneider (ebd., 107) das Sich-Einlassen des (philosophischen) Kritikers auf den gesellschaftlichen Kontext, statt sich aus ihm zurückzuziehen. »Ein kritischer, ketzerischer Denker will vielmehr das Philosophieren in das allgemeine Denken hineintragen, um dessen Transformation zu bewirken.« Damit ist vermutlich nicht gemeint, dogmatisch philosophische Theorien und Behauptungen zu postulieren. Es gehe nicht um das Aufstellen einer eigenen Wahrheit, sondern eher darum, Philosophieren als eine kritische Tätigkeit zu transportieren und dadurch Bestehendes, ausgehend von einer spezifischen Einmischung, zu transformieren. Vermutlich gehört hier ebenso dazu, ebenjene Fähigkeit gesellschaftlich zu entwickeln, zu fördern und dadurch stärker zur Geltung kommen zu lassen. Auch dieses Element lässt sich in Philosophischer Praxis ausmachen, weil Gespräche immer zugleich Übungen sind und dadurch, wenn auch vielleicht in sehr unterschiedlichen Ausprägungsgraden, Fähigkeiten entwickelt werden. Der Praktiker mischt sich durch sein Hören und Kritik wieder zu schärfen und den Kritiker damit insgesamt wieder »teurer« zu machen. Es sei nämlich im Grunde kein leichtes Geschäft.

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Praxis im Geiste nicht-doktrinären und kritischen Philosophierens

Sprechen in das Verständnis des Gastes ein, das dadurch ein anderes wird. Schneider verweist in diesem Zusammenhang auf Spinoza, der im Medium von Briefen im Dialog mit Ungelehrten stand und deren teils recht krude Fragen beantwortete. Nun gibt Philosophische Praxis, wie sie hier verstanden wird, sicherlich keine konkreten Antworten auf die existentiellen Fragen der Gäste, aber die Analogie zu Spinoza müsste hier deutlich werden. Die letzte Ableitung Schneiders kann im Grunde als Zusammenfassung des bisher Vorgestellten gelten, dass der ketzerische Kritiker nämlich keine Theorie postuliere und nicht in dogmatischem Ton schreibe. Und das müsse in durchgängiger »Rücksicht auf das Praktische, Wirkliche« geschehen, über das er sich nicht erheben soll. Um wirken zu können, bedarf es immer auch der Verständlichkeit. Die damit verbundene Vorsicht bei der Artikulation der eigenen Ansprüche und die notwendige Lebensnähe ist im Kontext Philosophischer Praxis von Anfang an immer wiederholt worden. Philosophisch-praktische Kritik beansprucht keine Deutungshoheit. Auch wenn Schneider hier in erster Linie das Schreiben von Texten und die größere gesellschaftliche Dimension im Auge hat, so lässt sich doch behaupten, dass die genannten Aspekte in der Praxis, wie sie hier vorgestellt wird, wesentlich sind. Das bedeutet freilich nicht, dass all dies immer gelingen mag. Je mehr das aber Gesichtspunkte sind, die ich mir zu Herzen nehme und versuche, regelmäßig in der Praxis zu berücksichtigen und zur Wirkung kommen zu lassen, desto eher können sie Teil meiner Haltung werden. Dazu gehört grundlegend eine Eigenverantwortung für die eigene Kritik. Diese Haltung, die nicht aus der Destruktivität des Ressentiments erwächst, wäre dann auch geprägt von einer Mäßigung der eigenen Ansprüche, der Moderation und strategischen Zuspitzung der eigenen Rede, von der Transparenz der Maßstäbe, von Sympathie den anderen und sich selbst gegenüber und der Offenheit gegenüber einer Gegenkritik. Wenn es darum geht, dass etwas zu seiner Wirkung kommen soll, in dem Fall die besondere Weise der Kritik, ein »kalkuliertes In-Frage-Stellen unserer Maßstäbe zum Zwecke der Beförderung eines Nachdenkens«, dann ist es am Ende in gewisser Weise egal, ob dies nun durch das Medium Text oder durch das Medium des direkten Gesprächs geschieht. Was für den einzelnen Praktiker am Ende eine gute kritische und selbstkritische Haltung wäre, gilt es, individuell herauszufinden. Dabei geht es immer auch um das Verhältnis zu sich selbst. Kritisches 124 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Kritisches Philosophieren im Kontext Philosophischer Praxis

Denken bedeutet in diesem Zusammenhang zunächst vor allem, sich der eigenen Perspektiviertheit als Philosoph bewusst zu sein und einen Blick auf die eigene habitualisierte Praxis zu werfen. Von wesentlicher Bedeutung ist dabei wohl die Reflexion auf die eigene Bedingtheit, aus der die grundlegende Einsicht in die eigene Fehlbarkeit hervorgehen kann. Die entsprechende Haltung und ihr damit einhergehendes Vermögen der Kritik muss sich in der Praxis bewähren. Zu beleuchten wäre an anderer Stelle, ob und wie sich das kritische Moment bei Philosophischen Praktikern und anderen Philosophen, die sich nicht als erstere verstehen, unterscheidet. Macht diese Bindung an eine Rolle überhaupt Sinn oder handelt es sich dabei nicht um eine höchst individuelle Angelegenheit? Am Ende könnte aber trotzdem gefragt werden, ob es im Hinblick auf Philosophische Praxis nicht doch besondere Weisen der Kritik geben könne, die über das Gesagte hinausgehen.

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8. Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

Während zunächst der Praxisbegriff und danach ein Verständnis von Philosophie betrachtet wurden, soll nun, daran anknüpfend, eine eher allgemeine Verortung von Philosophischer Praxis als Teil einer anderen Gesprächskultur, einer Kultur des Miteinander-Sprechens erfolgen. Andere Gesprächskultur meint an dieser Stelle eine Alternative zur affektgesteuerten Kommunikation, wie sie heute vor allem im Bereich sozialer Medien betrieben wird. Diskursive Praxis lässt sich dabei selbst ethisch als Lebenspraxis betrachten, zumindest als ein Teil davon. Aus Sicht dieser ethischen Perspektive geht es darin nicht nur um das, worauf die diskursive Praxis in den meisten Fällen wohl primär zielt, nämlich auf die Klärung von theoretischen, praktischen, existenziellen Themen. Insofern ist sie auch soziale und kommunikative Übungspraxis. Menschen erfahren sich darin, dass sie sich zum Ausdruck bringen können. Sie praktizieren und sie üben sich im Dialog in menschlicher Begegnung, im Diskurs im Zur-Geltung-Kommen des Logos. Im Gespräch geht es überhaupt grundlegend um Beziehung und Verständigung in einem ganz allgemeinen Sinne. Das sind freilich Ideale. Es gilt zunächst einmal, im Hinblick auf das Gelingen des Gesprächs eine gemeinsame Sprache zu finden – was im engeren Sinne nicht unbedingt eine Trivialität sein muss. Philosophische Praxis bietet für Gäste jeglicher Art, sei es in der Lebensberatung, sei es für Teilnehmende von Veranstaltungen, Salons, Wanderungen usw., zunächst lediglich einen Möglichkeitsraum zum gemeinsamen Sprechen. Bisweilen nimmt Philosophische Praxis einen ähnlichen Charakter an wie die Mediation bzw. Konfliktvermittlung, die in einem vielleicht noch stärkeren Maße ein Entgegentreten wider eine oft temporäre Unfähigkeit zum Sprechen und zum Gespräch darstellen. Das hier angebotene Anliegen, dass durch Diskurspraxis selbst Lebensweisen ausgebildet und generiert werden, hat in der Realität freilich seine Grenzen – Möglichkeits-Räume sind noch keine Trainings-Räume. Für Gäste sind sie es zumeist nicht, 126 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Erneute Anmerkungen zum Dialog bei Sokrates

manchmal schon, aber sie können es werden, etwa durch regelmäßige Teilnahme an Veranstaltungen wie Salons, durch das wiederholte Annehmen von Gesprächsangeboten, durch die längerfristige Begleitung in der Lebensberatung. Für Praktiker ist ihre Arbeit natürlich selbst ständige Übung. Lars Leeten (2019) hat die antiken Vollzugsformen diskursiven Lebens nachgezeichnet. Asketische, also übende Tätigkeit im Philosophieren bestand in einer mündlich-schriftlichen Bildungspraxis. Schon Foucault (2009, 407) hat dabei die konkreten Übungsformen des rechten Zuhörens, Verstehens, Lesens, Schreibens und Sprechens als »Technik der wahren Rede« bezeichnet, die »ständige Träger und unablässige Begleiter der asketischen Praxis« seien. Beim Blick auf diese Praxis geht es allerdings nicht darum, antike Denk- und Praxismodelle einfach auf die heutige Zeit übertragen bzw. anwenden zu wollen. Vielmehr soll es um die Akzentuierung einer auch gesellschaftlichen Relevanz von Philosophischer Praxis gehen, die über bisher oft nur inhaltlich gedachte Funktionen hinausgeht. Doch zunächst soll an dieser Stelle auf ein paar grundlegende Gedanken Bezug genommen werden.

Erneute Anmerkungen zum Dialog bei Sokrates Der Dialog ist ein menschliches Phänomen und meint »ein Gespräch, das durch wechselseitige Mitteilung jeder Art zu einem interpersonalen Zwischen, d. h. zu einem den Partnern gemeinsamen Sinnbestand führt« (Heinrichs 1972, 226). Er ist fragil, kann mehr oder weniger gelingen, ja auch völlig misslingen oder in Aporien geraten. Aber gerade das regt wiederum zum gemeinsamen Fragen und Suchen an. Philosophie als Dialog könnte hier, wie Wolfgang Pleger (2020, 10) es formuliert, »den erneuten und stets zu erneuernden Versuch darstellen, zu einer Verständigung über die Situation des Menschen in der Welt zu kommen«. Dies zeigt sich philosophieprägend bereits eindrücklich in den sokratischen Dialogen. »Die dialogische Methode«, so Pleger (2020, 199), »darf als die spezifische Leistung des sokratischen Wirkens betrachtet werden.« Einfluss nahmen bei der Entstehung sicherlich einerseits das damals aufkommende Theater, insbesondere die Tragödie und Komödie, andererseits die in Gerichtsprozessen und im politischen Feld verankerten Praktiken von Rede und Gegenrede. Das Bedürfnis nach dem richtigen Können dieser Fähigkeiten wurde vor allem von verschiedenen Sophisten erkannt, 127 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

die daraufhin ihre Dienstleistungen anboten. Sokrates kann hingegen die Einführung des philosophischen Dialogs zugeschrieben werden, der, zumindest einer prominenten Lesart nach, nach dem besten Logos forscht und dem Prinzip der dialogischen Vernunft folgt. Im Dialog steckt damit genuin die Möglichkeit der Veränderung der eigenen Perspektive. Dialog bei Sokrates, das meinte daher in erster Linie einen ergebnisoffenen Forschungsprozess, der den Charakter eines Suchens, Untersuchens, Aufspürens und Nachforschens hat (vgl. ausführlich Pleger 2020, 199–207). Der Aspekt der Widerlegung (Elenchos) spielt zwar nebenbei eine Rolle, ist aber nicht das eigentliche Motiv. Die prüfende Untersuchung (zetetisches Verfahren) ist weder bloße Konversation noch rhetorisches Monologisieren, sondern besteht vielmehr im Fragen und Antworten. 44 Der Frage kommt dabei das Primat zu. Sie zeugt vom Nichtwissen des Fragenden und appelliert gleichzeitig an die Gegenseite, das eigene Nichtwissen ebenfalls zu erkennen und einzugestehen, wodurch die nächste Frage provoziert wird und die dialogische Untersuchung in Gang kommt. Diese fragende Methode folgt dabei dem Pfad vom Allgemeinen zum Besonderen und setzt, so konstatiert Pleger (2020, 201), ein Wissen des Fragenstellers voraus, das diesen Pfad des Gesprächs leitet. Stockt das Gespräch oder besteht Uneinigkeit über die Gesprächsführung, kann es auch explizit werden. Vom Allgemeinen zum Besonderen, das meint in dieser besonderen Form aber auch, dass der Dialog trotzdem in der kontingenten lebensweltlichen Erfahrung ansetzt, mitunter in Bezug auf eine konPleger (2020, 204–207) unterscheidet im Hinblick auf die Dialoge aus platonischer Feder vier verschiedene Arten: (1) Der eristische D. ist »ein Streitgespräch mit dem Ziel, den Gesprächspartner zu widerlegen, ohne eine eigene These zu behaupten«. (Beispiel: Euthydemos) (2) Das didaktische Gespräch ist »ein Lehrgespräch, bei dem der Lehrer die Antwort bereits kennt, die er durch geschicktes Fragen beim Schüler zutage fördern will«. Pleger ist der Auffassung, dass diese Form bei Sokrates nicht oder nur in Ansätzen zu finden ist (Beispiel: teils Menon) (3) Das antagonistische Gespräch ist ähnlich dem eristischen, es will aber »durch Argument und Gegenargument, durch Behauptung und Widerlegung zu einer haltbaren Aussage kommen«. In dieser Form kommen das elenchische und zetetische Moment zugleich vor (Beispiele: Protagoras, Gorgias, Thrasymachos) (4) Der synergistische Gesprächstyp stellt die höchste Form des philosophischen Dialogs dar. In ihm steht nicht nur das Eingeständnis der Unwissenheit bzgl. des Themas im Zentrum, sondern auch die gemeinsame Suche nach einer Wahrheit (Beispiele: Lysis, Euthyphron, Charmides, Ion, teils Hippias major und Hippias minor).

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Dialog als Begegnung und Beziehung – die begegnende Haltung

krete Situation. Die diesbezüglich geäußerte Meinung über ein Thema bzw. einen Gegenstand wird dann der Prüfung unterzogen. Diese Form des Dialogs folgt daher zunächst der Methode einer Meinungsprüfung mit dem Ziel einer widerspruchsfreien Aussage. Es gilt, die allgemeine, gleichbleibende Struktur dieser Sache zu entdecken. »Der Gesprächsverlauf stellt daher eine Abbreviatur des Weges zur Philosophie dar.« (Pleger 2020, 202) Vom Allgemeinen zum Besonderen bedeutet aber nicht unbedingt einen stringenten Gesprächsverlauf. In diesem kann vielmehr immer wieder eine Umkehr der Bewegungsrichtung erfolgen, sozusagen ein Vor und Zurück. In vielen Dialogen führt der Pfad am Ende nicht nur zurück zum Ausgangspunkt, sondern er endet dort bisweilen in einer den Gesprächspartner erschütternden Aporie. Und weil die jeweiligen Themen immer wieder mit dem Dialogpartner selbst verknüpft sind, führt das vor Augen geführte Nicht-Wissen über den Gegenstand mitunter zu existentiellen Verunsicherungen über sich selbst. Ziele dieser Dialoge können daher gesehen werden in der Ablegung von Rechenschaft (lógon didónai), in der Selbsterkenntnis der Dialogpartner sowie in der durch die transformierende Wirkung dieser Einsichten erzielten Änderung der entsprechenden Lebensführung. Sokrates hat damit verschiedene Wege eröffnet, nämlich den der wissenschaftlichen Forschung und den der ethischen Auseinandersetzung mit sich selbst. Platon führt dies mit seiner Dialektik weiter fort. Das gilt in gewisser Weise auch für Aristoteles, der etwa für den politisch-rechtlichen Dialog eine anthropologische Begründung liefert, indem er in seiner Politik auf den Zusammenhang von Sozialität, der Notwendigkeit der Verständigung und den dafür unabdingbaren Sprachgebrauch verweist, wie Pleger (2020, 278) im Hinblick auf Aristoteles konstatiert: »Der Dialog ist nicht eine beliebig ausgeübte Handlung, sondern bildet die Grundlage für die Existenz des Menschen als Person.«

Dialog als Begegnung und Beziehung – die begegnende Haltung Ein Dialog, so Hadot (2011, 27), sei ein Weg des Denkens. Haben Dialog und Diskurs ihre Wurzeln in der antiken Welt und spielen auch im Mittelalter als vorherrschende Form intellektueller Auseinandersetzung eine wichtige Rolle, so führen diese Traditionen in der heutigen Zeit in verschiedene Schulen – mit teils sehr unter129 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

schiedlichen Zielrichtungen. Da sind natürlich die psychotherapeutischen Schulen zu nennen. Schon Freud knüpft an die sokratische Tradition mit ihren zentralen Aspekten wie dialogischer Selbsterkenntnis, der Sorge um die eigene Seele und der Selbsterforschung sowie der mäeutischen Methode an, um durch Gespräche eine Stärkung des Ichs zu erreichen (vgl. Freud 2001). Auf eine Vertiefung dieser Schulen, Theorien und Methoden muss hier verzichtet werden. Zunächst kann im Hinblick auf den Dialog grundlegend ein Begriff bemüht werden, der heute verschiedentlich gebraucht wird, nämlich der der Achtsamkeit. Dies gilt vor allem für jene Verwendungsweise, in der der Blick für die Individualität, also die Unaustauschbarkeit der Gegenseite wesentlich ist. Dazu gehört ebenfalls eine mit dieser Einmaligkeit verbundene Bedürftigkeit, die sich aus den jeweiligen Lebensumständen und Problemen ergibt. Achtsamer Zuwendung in diesem Sinne geht es um Achtung, aber auch um eine gewisse Fürsorge für etwas – im Dialog für den oder die anderen Menschen. Es gilt dabei, die funktionale Einstellung bzw. Betrachtungsweise gegenüber Anderen zu durchbrechen und aus ihr herauszutreten. Gernot Böhme (2016, 246 f.) hat auf diesen Bedeutungsunterschied hingewiesen, der zwischen einer Achtsamkeitsvorstellung besteht, die sich eher an der Bedeutung der Aufmerksamkeit anlehnt, und einer Vorstellung, die eher im Sinne von sorgsam, fürsorglich und bewahrend zu verstehen ist: »Achtsamkeit verlangt gerade affektive Teilnahme und impliziert für die Dinge, Lebewesen und Menschen, denen gegenüber Achtsamkeit im Verhalten geübt wird, nicht nur Respekt, sondern auch Fürsorge.« Achtsamkeit im Dialog soll hier derart als eine wache Zuwendung verstanden werden, die offen und bereit für Anderes ist und in der der anderen Seite Teilnahme und Sorgfalt entgegengebracht wird. Diese Zuwendung gilt aber auch für den Gesprächsvollzug selbst. Achtsam zu sein bedeutet hier außerdem, in diesem Vollzug leiblich involviert zu sein. Wenn diese Vorstellung des Achtsamen hier zwar als grundlegend für das Dialogische betrachtet werden soll, so ist damit nicht gemeint, dass sich dieses Achtsame nur auf diese Sache beziehen soll. Vielleicht kann eine gesteigerte Achtsamkeit für eine Lebensform, in der Philosophische Praxis gelebt wird, als ebenso grundlegend betrachtet werden und dann eben für diverse Lebensvollzüge gelten. Der Dialog, hier verstanden in einem engeren Sinne, zeichnet sich in der Tradition des dialogischen Denkens, das mit Namen wie Franz Rosenzweig, Eugen Rosenstock-Huessy, Martin Buber, Karl 130 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Dialog als Begegnung und Beziehung – die begegnende Haltung

Löwith oder Emmanuel Lévinas verbunden ist, dadurch aus, dass er im Grunde auf Beziehung und Begegnung hin angelegt ist und sich ansonsten frei von strategischen Zielstellungen hält (vgl. insgesamt Heinze 2011). Nicht, um mit Buber zu sprechen, die Ich-Es-Beziehung, in der der andere als (Wahrnehmungs- oder Wissens-)Objekt erscheint, ist dabei die Perspektive, sondern die der Ich-Du-Beziehung, in der ich bei dem anderen bin. Insofern geht es nicht um Belehren, Unterweisen, Bilden usf. Sprechen im Dialog ist ein auf Ansprache und Antwort – oder allgemeiner: auf Ausdruck und Eindruck – gerichtetes Geschehen. Der Mensch, die Person, das Ich: Sie werden verstanden als sprechende Wesen, die in Dialog miteinander treten. Insofern kann das Ich nicht als ein isoliertes betrachtet werden; vielmehr ist es immer Teil einer Beziehung. Es wird gefärbt von der Anwesenheit des anderen, von ihm auf gewisse Weise affiziert. So heißt für Lévinas (1983, 120) Begegnung mit einem Menschen, »von einem Rätsel wachgehalten werden«. Lévinas geht es dabei vor allem um Wachheit und Aufmerksamkeit, die dem Anderen dabei geschenkt wird, nicht um die Vorstellung, dass es dabei etwas zu knacken bzw. final zu lösen gäbe. Rätselhaft kann dabei auch die Erfahrung von sich selbst werden, etwa dann, wenn das eigene Verständnis und die Begrenztheit der eigenen Verständlichkeit dem Anderen gegenüber ins Bewusstsein kommen. Begegnung meint auch, aus der Routine, aus etwas Funktionalem heraus in eine besondere Situation zu treten. Will Philosophische Praxis Begegnung schaffen, kann sie nicht bloß funktional sein. Es geht um Anerkennung und das Erfahren des Angenommen-Seins. In der Perspektive Ich-Du geht es nicht um ein pragmatisches Verhältnis, sondern um ein intimes. Und so wird auch das Gespräch verstanden, als eine dialogische intime Beziehung. Es ist kein Gerede, kein Aneinander-vorbei-Reden. In seiner Betrachtung steht weniger das Ich im Mittelpunkt, sondern das Du, nicht das Sprechen, sondern das Hören bzw. das Gehört-Werden. Die angesprochene Grundfähigkeit des Hörens wird an dieser Stelle deutlich. Gerd Achenbach hat mit seiner Idee der Eingelassenheit nachdrücklich an das zu entwickelnde und kultivierende Vermögen des Zuhörens erinnert. Zuhören im hier verstandenen Sinne ist keine passive Angelegenheit, sondern eine besondere Aktivität, die aus einem zu erlernenden und zu pflegenden Vermögen hervorgeht – und zwar als Teil einer verantwortlichen Haltung. Dabei unterscheidet sich diese Form des nicht passiven, sondern aktiven Zuhörens 131 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

etwas vom heute oft eher instrumentell verstandenen aktiven Zuhören, das im Anschluss an Carl Rogers aus der Gesprächstherapie entlehnt wurde (auch wenn Rogers selbst und Achenbach wohl eher nah beieinanderliegen). Byung-Chul Han (2018) spricht in einem Essay von einem zukünftigen (!) Beruf, der Zuhörer heißt, der aus einer zunehmenden Unfähigkeit eines richtigen Zuhören-Könnens heraus erwächst – und hält damit indirekt ein Plädoyer für Philosophische Praxis. In knappen Sätzen fasst er zusammen, was nun diese besondere Aktivität sei: »Ich muss zunächst den Anderen willkommen heißen, das heißt den Anderen in seiner Andersheit bejahen. Dann schenke ich ihm Gehör. Zuhören ist ein Schenken, ein Geben, eine Gabe. Es verhilft dem Anderen erst zum Sprechen. Es folgt nicht passiv der Rede des Anderen. In gewisser Hinsicht geht das Zuhören dem Sprechen voraus. Das Zuhören bringt den Anderen erst zum Sprechen. Ich höre schon zu, bevor der Andere spricht, oder ich höre zu, damit der Andere spricht. Das Zuhören lädt den Anderen zum Sprechen ein, befreit ihn zu seiner Andersheit. Der Zuhörer ist ein Resonanzraum, in dem der Andere sich freiredet. So kann das Zuhören heilend sein.« (Han 2018, 93 f.)

Zuhören vollziehe sich ähnlich wie eine Atemkunst: »Die gastfreundliche Aufnahme des Anderen ist ein Einatmen, das den Anderen jedoch nicht einverleibt, sondern beherbergt und behütet. Der Zuhörer macht sich leer. Er wird niemand. Diese Leere macht seine Freundlichkeit aus.« (Ebd., 95) Darauf wird gleich zurückzukommen sein. Zurück zum Dialogischen: Das Du wird also verstanden als das, was alle Beziehungen begründet und begleitet. Im Dialogischen zeigt sich in besonderer Weise die Haltung, die in der vorliegenden Idee von Philosophischer Praxis zentral ist. Für Thomas Gutknecht (2005, 8), den langjährigen Präsidenten der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis 45, bedeutet die Begegnung in der Praxis, »in entsprechend verstehender und reflexiver Haltung Partner mit den Menschen sein«. Das kann vor allem meinen, den Anderen in seinem Erleben und Tun ernst zu nehmen. Dialog in diesem Sinne meint also ein vom Interesse am Anderen getragenes In-BeziehungTreten, eine Berührung zweier Menschen und ihrer Welten, ein MitSein. Peter Bieri (2015, 98 f.) spricht im Hinblick auf eine engagierte Begegnung von der Erfahrung von Würde. Der Dialog zeigt sich als etwas Intermediäres, ein Zwischen, als menschliche Begegnung in 45

Präsident von 2003–2015, seit 2019 Ehrenpräsident.

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Dialog als Begegnung und Beziehung – die begegnende Haltung

einem Zwischenreich (Waldenfels), das von der Gleichursprünglichkeit von Eigenem und Fremden gekennzeichnet ist. Es ist der Stoff, so ließe sich vielleicht sagen, aus dem der von Hannah Arendt (2016, 222 ff.) als Bezugsgewebe bezeichnete Bereich menschlicher Angelegenheiten gewoben ist. Im Zwischen hat sich das Denken noch nicht festgelegt, ist beweglich und wird bewegt. Martin Buber hat dieses Zwischen immer wieder zum Thema gemacht. Er verschiebt dabei die Perspektive weg von einer Innerlichkeit in ein Zwischen-Geschehen: »Wenn etwa zwei Menschen ein Gespräch miteinander führen, so gehört zwar eminent dazu, was in des einen und des anderen Seele vorgeht, was, wenn er zuhört und was, wenn er selber zu sprechen sich anschickt. Dennoch ist dies nur die heimliche Begleitung zu dem Gespräch selber, einem sinngeladenen phonetischen Ereignis, dessen Sinn weder in einem der beiden Partner noch in beiden zusammen sich findet, sondern nur in diesem ihrem leibhaften Zusammenspiel, diesem ihrem Zwischen.« (Buber 1962, 272)

Der Dialog erweist sich als ein überindividuelles Sinngeschehen. Er zeigt sich als ein zwischenleibliches Phänomen und baut auf dem gemeinsamen Bewohnen der Welt auf (vgl. Merleau-Ponty 1966). Das überindividuelle Moment des Prozesshaften zeigt sich auch darin, dass wir den Dialog nicht wirklich führen, sondern er uns führt. Wir sind Teil eines Geschehens, dem ein Moment der Unverfügbarkeit anhaftet. Was entsteht und sich ereignet, ist daher nicht mehr etwas, das einer Person allein zugeschrieben werden kann – es eröffnet sich etwas Neues, eine Art Drittes. Die aus der Informationstheorie und -technologie stammenden Bezeichnungen vom Sender und Empfänger von Nachrichten sind für viele Gesprächssituationen zu einfach gefasst, wie etwa Waldenfels (2013, 302) meint: »Das Informationsmodell versagt jedoch in jenen Fällen, wo eine Entscheidung gefällt oder eine Einsicht gewonnen wird, eine Überredung oder eine Verführung gelingt, wo also sich in der Rede selber etwas ereignet.« Kommunikation, also die Interaktion von Sprechen und Hören, besteht zumeist aus mehr als nur aus dem Codieren und Decodieren eines Codes: »In der Erfahrung des Dialogs konstituiert sich zwischen mir und dem Anderen ein gemeinsamer Boden, mein Denken und seines bilden ein einziges Geflecht, meine Worte wie die meines Gesprächspartners sind hervorgerufen je durch den Stand der Diskussion und zeichnen sich in

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Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

ein gemeinsames Tun ein, dessen Schöpfer keiner von uns beiden ist« (Merleau-Ponty 1966, 406).

So überschreiten wir uns als Dialogpartner selbst, was sich in einer Gesprächserfahrung äußert, in der sich unsere Gedanken miteinander verflechten – und mit dieser Verflechtung werden wir auch verwickelt in das Leben der Anderen. Darin zeigt sich, dass uns Gedanken begegnen, die nicht unsere eigenen sind, dass uns solche entlockt werden, von denen wir noch nichts geahnt haben. Der Dialog ist eine gemeinsame zwischenleibliche Tätigkeit, in der meine Rede und mein Ausdruck permanent mit der Beteiligung des Anderen konfrontiert ist, etwa durch seine Erwartungen, seine Einwände oder gar nur seine möglichen Einwände, aber auch durch seine Mimik und Gestik oder Intonation, die permanent auf eine je eigene Art und Weise meine Rede modulieren. Da nicht nur der Andere daran seinen Anteil trägt, sondern immer auch ich selbst, kann hier von einer doppelten Transzendenz gesprochen werden oder von einem synkretistischen Wir (Waldenfels). Genau darin besteht dieses überindividuelle Sinngeschehen, was vielleicht sogar als emergent bezeichnet werden kann, weil es sich als eine neue qualitative Ebene erweist. Dass dies nicht nur für das gegenseitige Verstehen auf rationaler Ebene gilt, sozusagen im »Modus des Gründegebens«, sondern auch auf affektiver Ebene, nämlich in einer »Art intersubjektiven Leibraum«, hat Andreas Hetzel (2011, 437) gezeigt. Der Dialog zeigt auf eine besondere Weise, was sich zwischen Menschen abspielen kann, nämlich dass sich etwas hervorbringen lässt, was keiner für sich alleine hervorgebracht hätte. Das kann sicherlich bisweilen durch verschiedene und gegenläufige Positionen geprägt sein, aber Dialog ist in diesem engeren Sinne nicht konfrontativ, nicht auf Konfrontation aus. Auf gewisse Weise ist jeder konkrete Dialog einzigartig und nicht wiederholbar. Das Dialogische ist im Hinblick auf Philosophische Praxis immer wieder angesprochen worden. Am eindrücklichsten hat dies vielleicht Anders Lindseth getan. Lindseth (2009, 47 ff.) stellt im Hinblick auf die Begegnung die Behauptung auf, dass das eigentliche Ziel Philosophischer Praxis die Begegnung sei, die sich im gemeinsamen Philosophieren einstellen könne. Ziele die Praxis aber in die gegenteilige Richtung, konkret auf ein Eingreifen in das Leben des Gastes, dann verfehle sie dies. Lindseth leitet diese These aus einer Kritik am »nomischen« Weltverständnis unserer Zeit her, das von einem Denken 134 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Dialog als Begegnung und Beziehung – die begegnende Haltung

der Weltbeherrschung geprägt sei. 46 Philosophisch sieht er dieses Problem vor allem ausgehend von Descartes’ Trennung des Subjekts vom Objekt und der Annahme eines reinen Bewusstseins, das losgelöst von der Welt zum Erkennen derselben fähig sei, sozusagen in einer gehobenen, unabhängigen Beobachterposition. Alle möglichen Entwicklungen und Folgeerscheinungen hätten auch zur »Heilsbotschaft des Glaubens an ein nomisches Universum« geführt, »dass empirische Forschung zum evidenzbasierten Wissen führt« (Lindseth 2009, 46). Dies überträgt er nun auf die Philosophische Praxis, die sich als Philosophieren verstehen möchte. Es geht dabei auch um die genannte Frage, ob dies als ein Eingreifen in das Leben der Gäste verstanden werden könne. Nein, sagt Lindseth, denn das liefe eben auf ein solches nomisches Verständnis hinaus, das uns den Zugang zur Erfahrung von Begegnung, »die für das menschliche Leben tragend ist«, verstellt. In der Philosophischen Praxis zeige sich dieses Phänomen der Begegnung darin, ob der Praxisbesucher gehört werden kann, ob er sich gehört fühlt. Dies könne durch einen Übergang von einer natürlichen zu einer phänomenologischen Einstellung geschehen – es sei hier an die Epoché und die eidetische Reduktion gedacht. Das beginnt auf gewisse Weise beim Wechsel des Sprechens vom Alltagssprechen hin in eine andere Weise. Lindseth selbst hat dafür die bereits mehrfach verwendete Metapher des Raumes gebraucht, der sich öffnen, aber auch schließen könne (oder sich eben gar nicht erst öffnet). Es geht dabei um Ausdruck und Eindruck, genauer darum, dass der Ausdruck des Gastes einen Eindruck auf den Hörer machen können soll. Sei dies nicht der Fall, weil etwa der professionelle Hörer im Grunde schon weiß, um was es in der Sache eigentlich gehe, und dadurch nicht wirklich hört, dann zeige sich dies auf leiblicher Ebene wiederum dem Sprecher (in diesem Fall dem Gast). Man kann hier mit Han (2018, 94 f.) von einem gastfreundlichen Schweigen sprechen, »das sich vom Schweigen eines Analytikers unterscheidet, der sich alles anhört, statt dem Anderen zuzuhören. Der gastfreundliche Zuhörer entleert sich zum Resonanzraum des Anderen, der diesen zu An dieser Stelle muss erneut gesagt werden, dass die Argumentation hier nur äußerst bruchstückhaft und damit ein wenig unredlich wiedergegeben werden kann. Auf eine ausführliche Darstellung, die hier den Rahmen sprengen würde, wird aufgrund der Konzeption verzichtet. Nochmals: Es geht hier nicht um eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Positionen und Stellungnahmen zum Thema, sondern um einen Einblick in eine Diskussion, die die Vielfalt der PP veranschaulichen soll.

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Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

sich erlöst.« Das Zuhören in diesem Sinne ist gekennzeichnet von der Zurückhaltung des Urteils, weil jedes vorschnelle Urteil einem Vorurteil gleichkäme, was einem Verrat am Anderen gleichkomme. Im Hinblick auf Philosophische Praxis sei an dieser Stelle der Hinweis erlaubt, das diese Gedanken ein Stück weit auch für das Zurückhalten eigener vorschneller Anbindungen an philosophische Theorien und Vorstellungen gelten kann. Damit sei ausdrücklich nicht gesagt, dass Philosophische Theorien und Gedanken keine Rolle spielen sollen, sondern dass diese Projektionen im Hinblick auf Begegnung nicht zu schnell eingebracht werden sollten, weil dies zu bestimmten Zeitpunkten eher verengend wirken kann. Epoché und eidetische Reduktion sind also auch hier gefragt. Ziel sei es insgesamt, dass sich Praktiker und Gast gegenseitig hören: »Wenn jedoch Erzähler und Zuhörer gleichermaßen erfahren, dass das Erzählte auf den Zuhörer Eindruck macht, öffnet sich (wie gesagt) ein (Resonanz-)Raum, in den das Gesagte hineinklingen kann, und in dem es auch ausklingen darf.« (Lindseth 2009, 50) Dabei geht es um das Erfahren des Gesagten durch den Sprecher (Gast) selbst. Das, was da gesagt wird, muss dabei nichts Neues sein, z. B. eine Episode aus dem Leben; es wird aber auf diese Weise in diesem Raum anders erfahren als bisher. »So ist es vielleicht der größte Gewinn des Gesprächs, dass sich der Praxisbesucher in seinem Lebensdiskurs neu orientieren kann. Wem zugehört wird, der kann sich auch selbst zuhören. Damit gewinnt er einen Bezug sowohl zum Erzählten als auch zu sich selbst (als derjenige, der das Erzählte erzählt).«

Diese Dialektik von Erzähltem und Gehörtem, von Ausdruck und Eindruck, ermögliche Lebensorientierung und Selbstfindung: »Erst dadurch, dass der Ausdruck auf jemanden Eindruck machen darf, wird er zu einem Lebensausdruck, in dem der sich selbst ausdrückende Mensch Halt und Orientierung finden kann.« (Ebd.) Im Ausdruck zeige sich die vom Eindruck bedingte Wirklichkeit. Lindseth spricht also von einem sich öffnenden Raum, der dann zu einem Ort wird, einem Ort der Lebensorientierung, mit dem beide allmählich vertraut werden müssen, um ihn dann gemeinsam erkunden zu können. Es gehe darum zu fragen, »was der Eindruck uns bedeutet und wovon der Ausdruck ein Ausdruck ist« (ebd., 53). Und es geht dabei insgesamt um die Frage, »was dabei auf dem Spiel steht«. Diese Erfahrungsbewegung vom Ausdruck zum Eindruck und wieder zurück ist für Lindseth gelebte Begegnung. Und diese könne sich, so Lind136 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Dialog als Begegnung und Beziehung – die begegnende Haltung

seths These, eben im nomischen Denken schwer ereignen, weil sich im dort üblichen, meist »professionellen« Hören der Eindruck kaum vom Ausdruck bewegen lässt. Zuhören und Erleben sind selbst etwas Wirksames, das sich in dieser Bewegung zeigt. Lindseth würde wohl auch hier Han (2018, 96) zustimmen, der von einer Position der Ausgesetztheit spricht, die der Zuhörende einnehmen müsse: »Sie allein verhindert es, dass man sich selbst gefällt. Das Ego vermag nicht zuzuhören. Der Raum des Zuhörens als Resonanzraum des Anderen eröffnet sich, wo das Ego suspendiert ist.« Die Ethik des Zuhörens, so ließe sich sagen, ist motiviert von der Sorge um den Anderen. Und es ist klar, dass es dabei nicht bloß um einen Austausch von Informationen gehen kann, sondern um etwas Beziehungshaftes. Und es dürfte klar geworden sein, dass hier das Leibliche eine zentrale Rolle spielt: Sich von etwas treffen lassen, Resonanz, Spüren, Atmosphäre, Zwischenleibliches, Antworten usw. – all das sind leibliche Phänomene, die im Begegnen zur Geltung kommen. Insofern kann Hören immer auch größer verstanden werden als eine Metapher für eine gespürte Einfühlung in die Gedanken, Wünsche, Befürchtungen und Gefühle, was nicht selten zu einer größeren Intimität in der Begegnung führt. Insgesamt lässt sich im Hinblick auf eine Sensibilisierung bzgl. dieser Aspekte und das Einüben in eine gute Praxis, die Leib und Geist als Resonanzräume des Lebens entfalten, nicht nur viel von antiken Übungspraktiken oder von heutigen therapeutischen Zugängen lernen, sondern z. B. auch von ostasiatischen Quellen, insbesondere chinesischen oder buddhistischen. Die Notwendigkeit des Einübens und den Rückgriff auf letztgenannte Quellen betont etwa auch Elberfeld (2017, 293): »Denn in vielen asiatischen Philosophien ist das theoretische Bemühen nicht abgetrennt von den praktischen Entfaltungsformen der theoretischen Einsichten. So ist die theoretische Begründung und Analyse des gelingenden Lebens höchstens der erste Schritt, der ohne die Überlegungen zur Entfaltung des entsprechenden Könnens nicht ausreicht.« 47 Es bleibt die interessante Frage, wie genau es zu verstehen ist, dass das Ziel der Philosophischen Praxis in der Begegnung bestehe und nicht etwa in der Selbstbegegnung und Lebensorientierung des Gastes. Beides kann doch zugleich zutreffen. Insofern muss es kein Widerspruch sein, wenn es sich um die Perspektiven des Praktikers Vgl. zu einem Einstieg in ostasiatische Deutungsweisen leiblich-resonanter Antwortbeziehungen Elberfeld (2017, 274 ff.).

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Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

(zielt auf Begegnung) und Besucher (zielt auf Lebensorientierung) handelt. Es würde dabei der Position von Lindseth m. E. auch nicht gerecht werden, wenn es sich hier bloß um die Herleitung einer Methodik handeln würde. Dass das Ziel Philosophischer Praxis die Begegnung (in dem dargestellten Verständnis) sei, und sei es nur das Ziel des Praktikers, wird in der vorliegenden Idee dieser Praxis nicht geteilt. Nichtsdestotrotz soll nicht bestritten werden, dass der Qualität der Beziehung eine wichtige Rolle zukommt – ganz im Gegenteil: Es kommt m. E. in erster Linie der Darstellung einer notwendigen Haltung nahe, wofür hier der Ausdruck begegnende Haltung verwendet werden soll. 48 So meint schon Hadot (2011, 27): »Die Beziehung zum Gesprächspartner ist also von größter Bedeutung. Sie verhindert, daß der Dialog zu einer theoretischen und dogmatischen Darlegung wird und macht aus ihm zwangsläufig eine konkrete, praktische Übung, eben weil es nicht darum geht, eine Lehre vorzutragen, sondern einen Gesprächspartner zu einer ganz bestimmten geistigen Haltung zu bringen: Es handelt sich um einen freundschaftlichen, aber doch realen Kampf.«

Dabei geht es insgesamt um die Qualität der Beziehung, die durch verschiedene Aspekte beschrieben werden kann. In dieser Haltung, die vor allem vom Interesse am Anderen sowie einem öffnenden Moment gekennzeichnet ist, kann ein Berührt-Werden, ein BewegtWerden vom Anderen gelingen. Hinzu kommt der Aspekt des Verstehens, des Sich-selbst-Verstehens im Gehört-Werden, das mit dem Dialog verbunden ist. Die Du-Ich-Beziehung lässt einen Raum entstehen, in dem sich dieses Verstehen ereignen kann. Die griechische Vorsilbe dia des Dialogs bedeutet wörtlich durch, hindurch, aber auch auseinander. Der von Lindseth vorgestellte Raum kann daher als etwas Notwendiges dafür erscheinen, dass sich die besondere Form des Logos bewegen kann: Das bloß Gedachte und dann Geäußerte geht über sich hinaus, nimmt Abstand von sich, wird sozusagen transzendiert und kommt am Ende als etwas zurück, das auf gewisse Art zu etwas modifiziert wurde, das nicht mehr das ursprünglich Gedachte ist; es ist etwas geworden, das nun neu bzw. anders verstanden werden kann. Im Ansprechen und Antworten, im Ausdruck, der einen Eindruck machen darf, geht es auch um Verständigung. All Es ging auch in diesem Abschnitt nicht um eine kritische Bewertung der Position. Auf die Frage, weshalb Lindseths Ansatz eigentlich die Bezeichnung »philosophisch« in Anspruch nehmen kann, ist etwa Wahler (2013, 25 ff.) eingegangen.

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Anmerkungen zum diskursiven Moment

dies lässt sich nicht rein instrumentell herstellen, sondern eher durch Haltung fördern. Gleiches gilt für das dabei wirkende und notwendige Vertrauen, das nicht gegeben, sondern aufgegeben ist. Vertrauen braucht, wie der Philosoph Martin Hartmann (2020) differenziert vor Augen führt, Luft zum Atmen. Vertrauenswürdigkeit muss auch erkannt und anerkannt werden, damit sie praktisch wirksam werden kann. Vertrauen »braucht ein Gesicht, an dem es sich orientiert, es braucht die Person, die das Vertrauen einlöst oder verspielt«. Und wie so oft, so sei auch hier betont, dass Vertrauen bei sich selbst anfängt: Ich darf nicht nur darauf hoffen, dass mir vertraut wird, ich muss vor allem selbst vertrauen können. Dazu ist eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema notwendig, am Ende wohl ein mutiger Sprung ins Vertrauen. Bei allen Gefahren kann sich der Weg, der vor allem der Absicherung folgt, womöglich als ein Irrweg herausstellen. Vertrauen kann nicht sicher sein, aber es ist nun einmal grundlegend, nicht nur, aber insbesondere für Philosophische Praxis: »Dem Vertrauen Luft zum Atmen zu geben heißt, ihm Räume zu gewähren, in denen es sich entfalten kann, ohne diese Räume abzudichten, um sie vor Gefahren zu schützen.« (Ebd. 283) Dem Dialog und der Frage, ob er gelingt oder nicht, haftet letztlich ein Moment der Unverfügbarkeit an.

Anmerkungen zum diskursiven Moment Ist der Dialog auf Begegnung hin angelegt, so ist es, etwas allgemein formuliert, Klärung beim Diskurs. 49 Die Unterscheidung könnte auch lauten, dass beim Dialog die Personen im Zentrum stehen und beim Diskurs die Sache. 50 Und während beim Dialog die leibliche Dimension stärker zur Geltung kommt, ist es beim Diskurs vor allem das kritisch-reflexive Moment. 51 Auch der Diskurs ist, im hier verstandeIn diesem Abschnitt geht es nicht darum, einen Überblick über den (philosophischen) Begriff des Diskurses zu liefern, sondern einige für direkte Gespräche wesentliche Elemente zu skizzieren. So spielt an dieser Stelle etwa das wirkmächtige Diskursverständnis von Foucault keine Rolle. 50 Was freilich auf den Diskurs bei Habermas, auf den gleich einzugehen sein wird, so nicht ganz zutrifft, weil der Diskurs hier (im engeren Sinne) eher eine Unterbrechung der Kommunikation über die Sache darstellt. 51 Die Frage, ob in beiden eine Dialektik am Werk ist, die sich unterschiedlich zeigt 49

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nen normativen Sinne, auf Verständigung hin angelegt, muss aber im Gegensatz zum Dialog (im o. g. dialogphilosophischen Sinne) wieder stärker aus der Vernunft heraus verstanden werden. Der vielfältige Begriff des Diskurses, der sich vor allem auf die argumentative Kommunikation und die damit verbundene Vernunft bezieht, kann ebenfalls nicht näher beleuchtet werden. 52 In einfacher Deutung geht es beim Diskurs um das Angeben von Gründen in einem Gespräch, um Rechtfertigung sowie um die damit verbundene Argumentation. Sokrates kann hier erneut als philosophiegeschichtlicher Ausgangs- und Orientierungspunkt dienen, weil er weniger eine eristisch-agonale Form der Disputation wie andere Sophisten seiner Zeit bevorzugt und stattdessen die Idee einer diskursiven Wahrheitssuche verfolgt. Im Diskurs soll die Überzeugungskraft von Gründen und Argumenten wirken. Es ist dieses verbindende und zur Verbindlichkeit bewegende Element der Geltungsansprüche, durch das sich Diskurse (in diesem normativen Verständnis) auszeichnen, wie etwa Dietrich Böhler und Horst Gronke (2011, 541) bemerken: »Die logische Verbindlichkeit des Argumentierens hängt an dessen inhärentem Ziel, Geltungsansprüche einzulösen, in dem auf konsistente Weise gute Gründe für eine These erarbeitet werden, so dass sich ein einsehbar Allgemeines ergibt. Damit verwoben ist eine mögliche moralische Verbindlichkeit für praktische Urteile und konkrete Normen: eine verallgemeinerbare Gegenseitigkeit, so dass auch alle Betroffenen, sofern sie den Diskurs konsequent als Argumentationspartner mitvollziehen, dem praktischen Urteil oder Normenvorschlag zustimmen würden.«

bzw. von unterschiedlicher Art ist, nämlich dialogische Dialektik und diskursive Dialektik, kann an dieser Stelle nur aufgeworfen werden – dem Verhältnis von Dialogik und Dialektik muss anderenorts nachgegangen werden. Die dialektische Logik allgemein, die vor allem mit dem Namen Hegel verbunden ist, geht über die übliche zweiwertige Logik von wahr und falsch hinaus und fordert ein Drittes. Ob nun das Dialektische am Ende nie zu einem solchen kommt oder in einer Aufhebung mündet, ist ebenfalls eine Frage, die hier nicht verfolgt werden kann. Relevant ist vor allem der schon bei Platon anzutreffende Grundgedanke, wonach sich Dialektik als Vermittlung von wahren Ideen erweist. All diese Unklarheiten haben u. a. etwas mit einer oft unscharfen Begriffsverwendung zu tun. 52 Karl-Otto Apel (2015) hat im Hinblick auf die Ethik gezeigt, dass das »transzendentale Subjekt« Kants erweitert werden müsse, hin zu einer an der Sprache orientierten »transzendentalen Intersubjektivität«, die das »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft« bilde. Dies gelte sowohl für theoretische als auch für praktische Fragen. Kommunikation wird hier insgesamt als Verständigung durch Sprache betrachtet.

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Anmerkungen zum diskursiven Moment

Jürgen Habermas, der zusammen mit Karl-Otto Apel für eine andere Linie des dialogischen Philosophierens steht und als Vertreter der Kritischen Theorie gleichzeitig ein praktisches und emanzipatorisches Interesse verfolgt, hat immer wieder auf den öffentlichen Gebrauch der Vernunft verwiesen. So spielen etwa in seinen Ideen zur Ideologiekritik Reflexion und Selbstreflexion eine wichtige Rolle: »Diese löst das Subjekt aus der Abhängigkeit von hypostasierten Gewalten. Selbstreflexion ist von einem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse bestimmt. Die kritisch orientierten Wissenschaften teilen es mit der Philosophie.« (Habermas 1969, 159) Ziel sei eine emanzipierte Gesellschaft, die sich in einem herrschaftsfreien Dialog entfalte. Diskurse bilden diesbezüglich die konstitutive Vorbedingung für Kommunikation überhaupt. Habermas unterscheidet zwei Formen des Sprachgebrauchs: die (alltägliche) Kommunikation und den Diskurs. In Letzterem sieht er die Möglichkeit gegeben, das stets mit der Kommunikation verbundene Auftreten von Missverständnissen, Unklarheiten und unterschiedlichen Meinungen, welches auf naiven Interpretationen und Gewissheiten auf Seiten der Handlungsebene fußt, durch die Herstellung eines rechtfertigenden Konsenses zu beseitigen. In diesem Sinne kann der Diskurs auch als die reflexive Form kommunikativen Handelns verstanden werden. Handlungszwang und Erfahrungsdruck werden dispensiert, genauso wie die nichtsprachlichen Anteile der Kommunikation. Ermöglicht wird dadurch eine »hypothetische Einstellung gegenüber problematisierten Selbstverständlichkeiten« (Habermas 2009b, 24 f.). In diesem Punkt zeigt sich, wenn man so will, die Logosauszeichnung, die dem Sprechen bei Habermas zukommt. Während sich das kommunikative Handeln in erster Linie durch den Austausch von Informationen auszeichnet, geht es beim Diskurs, der eine Unterbrechung des kommunikativen Handelns darstellt, um die Erörterung der Geltungsansprüche selbst sowie um die Herstellung eines Einverständnisses darüber. 53 Die Kommunikation ist hier freigestellt von Handlungszwang. Beim Diskurs geht es also um die Prüfung der in der lebensweltlichen Rede je vorausgesetzten und kaum explizierten Geltungsansprüche (Aussagenwahrheit, Wahrhaftigkeit, Verständlichkeit und normative Richtigkeit). Die Erörterung Genaugenommen ist der Diskurs selbst eine spezielle Form des kommunikativen Handelns (vgl. Habermas 2011 I, 39 f.)

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Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

betrifft freilich nicht alle vier Ansprüche, da Verständlichkeit eher vorausgesetzt und Aufrichtigkeit sich erst in Anschlusshandlungen zeigen muss, sondern primär normative Richtigkeit als praktischer Diskurs und Wahrheit als theoretischer Diskurs. Gerechtfertigt ist ein Geltungsanspruch dann, wenn alle am Diskurs Beteiligten diesen akzeptieren. Zwar gibt es auch andere Möglichkeiten zur Behebung der Störung (z. B. Überreden, Einsatz von Gewaltmitteln etc.), wenn aber Einsichten erzielt werden sollen, bietet sich der argumentative Weg des Diskurses durch seine rational-prozedurale Verfasstheit an. Habermas bezeichnet dies auch als diskursive Verständigung – mit dem Ziel eines diskursiv herbeigeführten und begründeten Einverständnisses. Während mit Verständigung die »Einigung der Kommunikationsteilnehmer über die Gültigkeit einer Äußerung« gemeint ist, bedeutet das Einverständnis die »intersubjektive Anerkennung des Geltungsanspruchs, den der Sprecher für sie erhebt« (Habermas 2011 II, 184). Was nun im Hinblick auf den Diskurs für Philosophische Praxis eine besondere Relevanz besitzt, das sind das Element der Metakommunikation sowie die Unterscheidung zwischen einem verständigungsorientierten kommunikativen Handeln und einem erfolgsorientierten strategischen Handeln. Kommunikatives Handeln meint die »sprachlich vermittelte Interaktion, die durch die funktionale Einbettung des verständigungsorientierten Sprachgebrauchs in einen Handlungskontext zustande kommt« (Habermas 2009b, 10). Damit nimmt es für den Menschen eine primäre Stellung ein: für die persönliche Sozialisation, für die soziale Integration und für die kulturelle Tradierung. Es zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es durch eine »symmetrisch verständigungsorientierte Verwendung von Sprechhandlungen charakterisiert« ist (Habermas 2009a, 16). Die Interaktionspartner stimmen sich miteinander und aufeinander ab; kommunikatives Handeln ist daher nicht zweckfrei, es ist ein Verständigungshandeln, das auf ein Verständigungsziel hin orientiert ist. 54 In Philosophischer Praxis kann Diskursives an verschiedenen Stellen zur Geltung kommen, ob in der Lebensberatung – dort dann vor allem in Form von praktischen Diskursen, in denen vor allem die Hier zeigt sich das spezielle Verständnis des Illokutionären bei Habermas: Der illokutionäre Erfolg eines Sprechaktes zeigt sich eben auch darin, ob der Hörer das Sprechangebot akzeptiert.

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Karl Jaspers’ liebender Kampf als existentieller Dialog

Richtigkeit von Handlungen, Aufforderungen und Normen geprüft werden kann – oder bei Formaten wie einem Salon – dort dann eher in Form von theoretischen Diskursen, in denen die Gründe für das Bestehen oder Nichtbestehen von Sachverhalten diskutiert werden. Es soll betont werden, dass es hier in den meisten Fällen nicht um die Erzielung von Konsensen geht, auf die es bei Habermas hinausläuft, sondern eher um die genannte Verständigungsorientierung. In der existentiellen Lebensberatung kann auch die expressive Form des Diskurses zur Geltung kommen, in der es vor allem um die Wahrhaftigkeit von Darstellungen der inneren Natur, der Bedürfnis- und Gefühlswelt geht. Auch hier ist eine begegnende Haltung geboten.

Karl Jaspers’ liebender Kampf als existentieller Dialog Auch Jaspers kann im Hinblick auf eine Dialogpraxis nicht ungenannt bleiben, insbesondere dort, wo es um eine existentielle Dimension geht. Kommunikation in diesem existentiellen Sinne meint hier einen Prozess des Wirklichwerdens, der sich nur im Dialog mit Anderen als ein Prozess des Offenbarwerdens vollzieht: »Ich bin als Einzelner für mich weder offenbar noch wirklich.« (Jaspers 1973b, 65) Die zunächst im Hinblick auf das Dialogische überraschende Metapher ist die des Kampfes. Dieser einzigartige Kampf ist als solcher aber liebender Kampf, geprägt von hellsichtiger und nicht von blinder Liebe. »Sie stellt in Frage, macht schwer, fordert, ergreift aus möglicher Existenz die andere mögliche Existenz.« (Jaspers 1973b, 65) Es geht dabei nicht um Daseinskampf, sondern um den Kampf des Einzelnen um offene Existenz – die besondere Form eines engagierten solidarischen Kampfes: »Während es im Daseinskampf die Nutzung aller Waffen gilt, List und Trug unvermeidbar werden und ein Verhalten gegen den Anderen als Feind – der nur das schlechthin Andere gleich der Widerstand leistenden Natur ist –, handelt es sich im Kampf um Existenz um ein davon unendlich Verschiedenes: um die restlose Offenheit, um die Ausschaltung jeder Macht und Überlegenheit, um das Selbstsein des Anderen so gut wie um das eigene. In diesem Kampf wagen beide rückhaltlos sich zu zeigen und infragestellen zu lassen. Wenn Existenz möglich ist, so wird sie erscheinen als dieses Sichgewinnen (das nie objektiv wird) durch kämpfendes Sichhingeben (das zum Teil objektiv wird und aus Daseinsmotiven unbegreiflich bleibt).« (Jaspers 1973b, 65)

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Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

Die Orientierung an diesem engagiert-solidarischen Moment, geprägt von einem gemeinsamen (auch harten) Ringen mit gemeinschaftlichem Gewinn und Verlust, scheint im Hinblick auf Philosophische Praxis wesentlich zu sein, wodurch sich diese von allen unbeteiligten Gesprächsführungen unterscheidet. Orientierung meint an dieser Stelle, dass dieses emphatische Ideal natürlich nicht immer so zum Tragen kommt: Nicht jedes Gespräch ist und kann von dieser Art sein – es sind mehr die seltenen, aber eben entscheidenden Momente, mehr Gespräche unter Freunden und Liebespartnern. Worauf es an dieser Stelle aber ankommt, ist ein immer ein Stück weit riskantes Einlassen auf das Gegenüber. Jaspers (ebd., 66) spricht zudem von gegenseitiger Durchsichtigkeit, die »nicht nur in den sachlichen Inhalten, sondern auch in den Mitteln des Fragens und Kämpfens gesucht« wird. »Es ist nicht der Kampf zweier Existenzen gegeneinander, sondern ein gemeinsamer Kampf gegen sich selbst und den anderen, aber allein Kampf um Wahrheit.« Interessant ist dabei Jaspers Hinweis auf die Notwendigkeit eines »völlig gleichen Niveaus« in mehrerlei Hinsicht, auf dem der Kampf geführt wird. Es ist ein Aspekt, bei dem es auch um Anerkennung geht. Wenn hier etwa an Beratungssituationen gedacht wird, die in gewisser Weise in der Regel von einer Asymmetrie zwischen Berater und Klient gekennzeichnet sind, mitunter von Dominanz – ein vieldiskutierter Aspekt –, dann wird heute gerne von Empowerment gesprochen und versucht, das Ungleichgewicht auf teils instrumentelle Weise zu beseitigen. 55 Jaspers (1973b, 66) spricht hingegen von einem gegenseitigen »Sichvorgeben aller Kräfte«, davon, es sich selbst und dem anderen existentiell so schwer wie möglich zu machen. Wo allerdings Instrumentelles obsiegt, dort findet keine Anerkennung statt; dort findet keine echte Solidarität statt; dort hört die Kommunikation auf. Es wird nochmals deutlich, dass es hier die seltenen Gesprächssituationen sind, um die es geht, die aber eben genuin in der existentiellen Beratungsform Philosophischer Praxis durchaus vorkommen. Nichts spricht gegen ein methodisches Können, doch woVgl. etwa zum Empowerment im Bereich Sozialer Arbeit, was dort auch ethisch diskutiert wird: Herriger, Norbert (1997): Empowerment in der Sozialen Arbeit, Stuttgart: Kohlhammer; Pankofer, Sabine (2016): Hype, Hybris oder ertragreiche Dauerbaustelle? Das Empowermentkonzept auf dem wissenschaftlichen Prüfstand, in Borrmann et al.: Die Wissenschaft Soziale Arbeit im Diskurs. Auseinandersetzung mit den theoriebildenden Grundlagen Sozialer Arbeit, Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich, 291–311.

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Karl Jaspers’ liebender Kampf als existentieller Dialog

rauf es ankommt, das ist auch bei Jaspers stets die Haltung. »In der existentiell kämpfenden Kommunikation stellt jeder alles dem Anderen zur Verfügung.« (Ebd., 66) Zu dieser Haltung gehört zudem, nichts als relevant Gefühltes aussparen zu wollen – und dies auch zu können. Täuschungen sollen fallen, das Eigentliche zum Vorschein kommen. Dies scheint ebenfalls ein äußerst bedenkenswerter und wertvoller Gedankengang: »Existierend nehme ich die gehörte Wendung in ihrer Nuance ernst und reagiere auf sie, sei es, daß der Andere bewußt, wenn auch indirekt fragt und Antwort will, sei es, daß er eigentlich instinktiv verschweigen wollte und gar keine Antwort suchte, aber nun hören muß. Was ich selbst sage, ist als Fragen gemeint; ich will Antwort hören, niemals aber bloß einreden oder aufzwingen. Grenzenlose Rede und Antwort zu stehen gehört zur echten Kommunikation. Wenn die Antwort nicht im Augenblick sogleich vollzogen ist, bleibt sie Aufgabe, die nicht vergessen wird.« (Jaspers 1973b, 66)

Jaspers verweist noch auf jene »geistigen Eigengesetzlichkeiten und psychologischen Triebe, die das Selbst auf sich zentrieren und isolieren« (ebd., 67). Was auch immer alles unter diese störenden Mächte fallen mag, von Eitelkeiten und Geltungsdrang über Imponiergehabe bis hin zu verschiedenen Befürchtungen, es muss enthüllt, beachtet und auf gewisse Weise überwunden werden. Kommunikation geschieht immer auch durch die Medien der Inhalte in der Welt. »Denn Kommunikation ist nicht wirklich als die widerstandslose bestehende Helligkeit eines seligen Seins ohne Raum und Zeit, sondern die Bewegung des Selbstseins im Stoff der Wirklichkeit.« (Ebd., 67) Es ist klar, dass reine Sachfragen keine existentiellen Antworten nach sich ziehen können. Die Gefahr liegt aber umgekehrt darin, schon die »Unmittelbarkeit des Kontakts«, oben wurde der Begriff der Begegnung gewählt, mit der echten Kommunikation zu verwechseln. Begegnung allein ist noch nicht hinreichend, aber notwendig, ist »sowohl Ursprung als Resultat aller echten Kommunikation«. Die Darstellung der existentiellen Kommunikation bei Jaspers erinnert an Sokrates, vor allem, was die Möglichkeit, ja Notwendigkeit der Verbindung dialogischer (persönliche/existentielle Orientierung) und diskursiver (sachliche/daseinsbezogene) Aspekte anbelangt. Ein etwas längeres Zitat soll dies verdeutlichen: »Aus ihrem [der Unmittelbarkeit des Kontakts, JK] Dunkel kommen die Antriebe, welche in der Welt des bestimmenden Handelns und ar-

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Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

tikulierten Denkens zur Klarheit des Selbstseins gelangen. In ihrer Gestalt bleibt erworbene Kommunikation als Atmosphäre aller Objektivität des Daseins und als Bereitschaft zu neuer Verwirklichung. Es ist eine falsche Alternative in der Unterscheidung: ob ich durch die Sache zur Seele des Anderen komme oder ob erst durch die Seele des Anderen die Sache mein Interesse darum gewinnt, weil sie ihn beschäftigt. Im letzten Falle würde eine fortschreitende Verarmung eintreten, da die Sachen nur Beiläufigkeiten wären; im ersten Falle dagegen würde die Seele zu einem unpersönlichen Subjekt herabsinken, für das Sachen Geltung haben. Da Seele und Sache, Selbstsein und Welt Korrelate sind, ist es ein Mißverständnis, daß das Leben als mögliche Existenz in einem gegenseitigen Seelenverstehen aufgehen könnte, wie es ein Mißverständnis ist, daß es im gegenseitigen Anerkennen von Leistungen und Resultaten bestünde. Ohne Weltinhalte hat existentielle Kommunikation kein Medium ihrer Erscheinung; ohne Kommunikation werden Weltinhalte sinnlos und leer. Daß Weltinhalte ernst genommen gibt der möglichen Existenz erst Dasein; daß es auf das Sein möglicher Existenz ankommt, nimmt in der Kommunikation den Weltinhalten erst ihre sonst aus Vergänglichkeit und Gleichgültigkeit entspringende Öde.« (Jaspers 1973b, 68 f.)

Erneute Anmerkungen zum Umgang mit Begriffen (Michael Hampe) Es sei an dieser Stelle noch eine wichtige Kritik von Michael Hampe (2016, 132–155) zumindest angemerkt, die auf die Bedeutung der Widersprüchlichkeit des Sprechens verweist. Diese Kritik kann für die Praxis auf verschiedenen Ebenen (Einzelgespräche, Gruppen, Organisationen) durchaus zum Nachdenken anregen und dadurch als wichtige Sensibilisierung dienen – dies tut sie zumindest für die vorliegende Idee von Philosophischer Praxis. Es ist letztlich eine Kritik an einer sprachlichen Homogenisierung und am Dogma des Konsenses. Hampe kritisiert hier die rationalistische Position, die vielleicht am deutlichsten bei Spinoza zur Geltung komme und eben auch in der Diskurstheorie zu finden sei. Es geht dabei um die Annahme, es gebe eine rational eindeutig und einheitlich erfahrbare Welt, die sich, wie bei Spinoza, in Allgemeinbegriffen erfassen lasse. Dies müsste sich dementsprechend ebenso auf den Gebrauch von begrifflichen Differenzierungen erstrecken. Das hieße, dass es am Ende sprachlicher Ausdifferenzierungsprozesse einheitliche Begriffe und einheitliche Begriffsdifferenzierungen geben müsse – wobei Begriffe 146 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Erneute Anmerkungen zum Umgang mit Begriffen (Michael Hampe)

selbst schon grob als Unterscheidungsgewohnheiten betrachtet werden können. Hampe, dessen anti-dogmatische Position bereits angerissen wurde, macht sich für eine reflektierte und selbstbestimmte Weise des Sprechens stark, zu der das Variieren, das Fallenlassen und die Einführung von neuen Begriffen gehöre. Auch dies scheint m. E. für die Philosophische Praxis in allen möglichen Formen von Belang zu sein. Wie sei es tatsächlich möglich, auf etablierte Sprechweisen reagieren zu können? Damit stellt sich die Frage nach dem kohärenten bzw. inkohärenten Sprechen im Angesicht einer klaren terminologisch systematischen Semantik. Es geht um die Frage, wie verschiedene Sprechweisen und Lebensformen beim Aufeinandertreffen mit den vorhandenen Differenzen umgehen – und damit geht es um Dissens und Konflikt (und am Ende sogar um die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der potenziellen Institution Philosophische Praxis). Ein wichtiger Gedanke ist dabei zunächst, dass verschiedene Sprechweisen aus verschiedenen Lebensrealitäten resultierten und entsprechende Lebensformen damit verbunden seien. Vereinheitlichung würde hier mitunter mit leidvollen Prozessen der Verdrängung und Ausrottung einhergehen. 56 Das Grundproblem liegt nach Hampe darin, dass im Hinblick auf einen einheitlichen Sprachgebrauch grundsätzlich von (nicht dialektisch organisierten) theoretischen Systemen ausgegangen würde, in denen Ableitungsverhältnisse zwischen Prämissen und Folgerungen bestünden. Es sei aber nicht zulässig, dies verallgemeinernd auf das Leben der Menschen zu beziehen: »Doch das Leben und die Sprachgemeinschaften der Menschen bilden keine Argumentationsgänge. Wenn Menschen unter Begriffen Unterschiedliches verstehen, dann kann ihr jeweiliges Verständnis sehr genau sein. Sie können auch verstehen, inwiefern die andere Person etwas anderes unter einem Begriff versteht als sie selbst. Manchmal kommt es dann zu einem Streit zwischen den Menschen innerhalb einer Lebensform. Auch ein Streit ist keine Irrationalität. Wenn eine »Wenn eine Systematisierung des menschlichen Sprechens mit einer Homogenisierung der menschlichen Lebensformen auf dem ganzen Globus einherginge, so könnte man diese Tendenz also mit guten Gründen als eine potentiell Leid verursachende Vernichtung von Vielfalt ansehen. Die Freunde der Einheitlichkeit und universalen Vernunft würden vermutlich antworten, daß man durch dieses Leid der Homogenisierung hindurchmüsse, wenn man das Leid, dass die Dissense nach sich ziehen, vermeiden wolle.« (Hampe 2016, 147).

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Person mit sich selbst im Streit liegt, wenn sie nicht weiß, ob sie meint, daß Gott eine Person ist oder nicht, dann kann man freilich plausiblerweise behaupten, daß sie in keinem vernünftigen, mindestens jedoch, daß sie nicht im Zustand der Gewißheit ist. Doch wenn die Bedeutungsdifferenz sich auf verschiedene Personen verteilt, liegen die Dinge anders. Wann ein solcher Streit durch Festlegung auf eine bestimmte Bedeutung und wann durch Ziehung einer Grenze beizulegen ist, bedarf der sorgfältigen Abwägung. Die Welt würde nur in einem sehr theoretischen Sinne ›vernünftiger‹, wenn alle Sprecher auf ihr denselben semantischen Regeln folgten. Ob das ›besser‹ wäre und in welchem Sinn, ist jedoch die Frage. Wenn der Streit der Ausgangspunkt einer Entwicklung ist, bei der weder eine Vereinheitlichung noch eine Grenzziehung stattfindet, sondern etwas Drittes: ein neuer Begriff entsteht, den beide akzeptieren können, dann wird man ihn nicht einmal als etwas zu Vermeidendes ansehen wollen. Vielmehr wird man den Streit dann mit Heraklit und Hegel, sofern man den neuen Begriff als Bedingung einer neuen Erkenntnis ansieht, als Vater des ›Fortschritts‹ betrachten.« (Hampe 2016, 147 f.)

Statt menschliches Sprechen und menschliche Lebensformen in Systemen zu denken, schlägt Hampe, anknüpfend an Wittgenstein, die Metapher der Landschaft vor, die darauf verweise, dass unterschiedliche »Gegenden« unterschiedliche Sprech- und Lebensformen hervorbringen. Während Differenzen und Widersprüche im Systemdenken aufgehoben und in eine Einheitlichkeit gebracht werden sollen, sei dies im Denken als Landschaft gar nicht notwendig. »Verschiedene Lebensformen einfach nebeneinander zu lassen, setzt nicht nur eine gewisse Autonomie gegenüber der Existenz von Differenzen voraus (mit Nietzsche könnte man hier von ›Vornehmheit‹ sprechen als der Fähigkeit, sich nicht vergleichen zu müssen), sondern auch, daß die Wirklichkeit nicht festlegt, wie zu sprechen und zu leben sei. Nur wenn die Wirklichkeit Menschen nicht zu einer einzigen Sprech- und Lebensform zwingt, sind auch auf Dauer verschiedene von ihnen möglich.« (Hampe 2016, 148 f.)

Bemerkenswert und hilfreich ist an dieser Stelle die Differenzierung, die Hampe hier im Hinblick auf verschiedene Kategorien vornimmt, nämlich solche Aspekte und Unterscheidungen, die durch den Menschen in die Welt gebracht werden (etwa die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag) und solchen, die schon vorgefunden werden (etwa die Unterscheidung von Wasser und Früchten). Oftmals wird hier vereinfachend von sozialen und natürlichen Aspekten gesprochen. Wird diese Unterscheidung außer Acht gelassen, führe das 148 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Erneute Anmerkungen zum Umgang mit Begriffen (Michael Hampe)

»zu der irrtümlichen Überzeugung, Menschen müssten in jeder Hinsicht ihre Semantiken aneinander anpassen, wenn sie sich rational verhalten wollen« (Hampe 2016, 149). Das sei aber nicht der Fall: »Sofern sie sich rational zu ihrer sozialen Welt verhalten wollen, müssen sie gerade unterschiedlich sprechen, weil sich diese sozialen Welten als gegebene Realitäten ebenso voneinander unterscheiden wie die Wüste vom Meer. Die Unterschiede zwischen den ›sozialen Welten‹ der Menschen sind jedoch von den Menschen selbst gemacht, sie haben etwas mit den looping effects ihrer Selbstkategorisierungen zu tun. Eine gesunde Person, die sich sagt, daß sie ein Diabetiker ist, wird kaum ein solcher werden. Zwar gibt es auch im medizinisch-biologischen Bereich Selbstsuggestionseffekte, doch sind sie selbst nicht so ausgeprägt wie im sozialen Bereich. Wer sich sagt, daß er ein Sportler sein will, in einen Sportverein geht und trainiert, kann nach ein paar Monaten von sich behaupten: ›Jetzt bin ich ein Ruderer‹ oder: ›Ich bin jetzt Fußballspieler‹, und: ›Als Ruderer darf ich nur Vollkornbrot, keine Pralinen mehr essen‹ oder: ›Als Fußballer muß ich jeden Morgen joggen‹ usw. Selbstbeschreibungen verändern uns, wenn wir sie zum Anlaß nehmen, unser Verhalten zu ändern.« (Hampe 2016, 149)

Dies ist gerade heute in den heterogenen Gesellschaften von Belang – und Philosophische Praxis muss reflektieren, welche (institutionelle) Rolle sie diesbezüglich in der Gesellschaft spielen will. Wenn sie im Hinblick auf Einzelberatung Individuelles fördern und zu semantischer Autonomie und Verantwortung beitragen möchte, so kann sie im Hinblick auf Soziales und Gesellschaftliches schlecht Gegenteiliges bewirken wollen, indem sie auf Homogenität von Sprechen und Leben zielt. Auch hier wäre ihre Rolle die eines emanzipatorischen und kritischen Projekts, das sich gegen verschiedene Homogenisierungsbestrebungen (man denke heute etwa an Biologisierung von Sozialem) wendet, indem sie an der sprachlichen Reflexionsfähigkeit sowie an der Vorstellungskraft und am Möglichkeitssinn arbeitet und zeigt, dass man sich dazu verhalten kann. Sie verweist auf das »Sein-Wollen« und die »distanzierende und normative Kraft von Selbstbeschreibungen«. »Verschiedene Lebensformen sind Manifestationen unterschiedlicher Umgangsformen unter anderem mit biologischen Phänomenen. Es ist daher unmöglich, alle Lebensformen zu verlassen und die Differenzen im Umgang mit diesen Phänomenen einzuebnen, indem man das Sprechen vereinheitlicht. Eine solche Homogenisierung wäre nur möglich, wenn man die einzelnen und die Gemeinschaft daran hindern könnte, über ihre Erfahrungen selbst nachzudenken und zu entschei-

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Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

den, was für eine Art von Menschen sie sein wollen.« (Hampe 2016, 151 f.)

Nochmals: Die unterschiedlichen Lebenserfahrungen von Menschen drücken sich im unterschiedlichen Sprechen, in unterschiedlicher Begriffsverwendung aus. »Nur wer dazu in der Lage ist, die eigenen Lebenserfahrungen sprachlich ernst zu nehmen und begrifflich öffentlich zu machen, kann mit ›eigener Stimme‹, wie Stanley Cavell das genannt hat, in der Gemeinschaft präsent sein.« (Hampe 2016, 152 f.) 57 Es stellt sich ja die Frage, inwieweit es gut ist, die Lebenserfahrung von Menschen durch semantische Vereinheitlichung zu homogenisieren. Philosophische Praktiker können daher einerseits dazu beitragen, die eigene Stimme des Gastes zu finden und zu fördern. Andererseits können sie eine vermittelnde Rolle bei Dissensen und in Konflikten spielen. Auch hier dürfen derartige Widersprüche eben nicht zwangsläufig mit den auf Mängel hinweisenden Widersprüchen innerhalb einer Theorie verwechselt werden, die es möglichst zu beseitigen gilt. Hampe (2016, 154) spricht diesbezüglich von einem semantischen Realismus, der kein Relativismus sei: »Und wenn man für eine Vielstimmigkeit, für die semantische Autonomie der einzelnen, ihr Recht auf eine eigene Stimme, und für einen semantischen Pluralismus in den Gemeinschaften statt für eine strenge Systematisierung (oder Verwissenschaftlichung) der alltäglichen Begriffsverwendung eintritt, bedeutet das noch nicht, einen Relativismus zu vertreten, der jeder einzelnen Person anheimstellt, wie sie ein Wort verwendet, welche Bedeutung sie ihm gibt. Denn es kann für ein menschliches Individuum aufgrund seiner Lebenserfahrung notwendig eine bestimmte Bedeutung für einen bestimmten Begriff geben.«

Es gilt daher zu reflektieren, worauf solch eine Vermittlung zielen soll, gerade auf gesellschaftlich-politischer Ebene – eine Frage, die auch im Feld der politischen Theorie gestellt wird. 58 In den konkreten Fällen gilt es herauszufinden, ob das Finden eines Konsenses höher zu bewerten ist als das Aufzeigen von Differenzen, die unterschiedliche Lebenserfahrungen ausdrücken. Eine Rolle Philosophischer Praxis könnte hier genau darin bestehen, diese auf unterschiedlichen LeInsofern kann durchaus behauptet werden, dass Philosophische Praxis vor allem in einer Erfahrungsgruppe zu lernen und zu studieren sei. 58 Vgl. dazu exemplarisch Chantal Mouffe: Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2014: Suhrkamp. 57

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Schlussbemerkungen

benserfahrungen beruhenden unterschiedlichen Begriffsverständnisse artikulierbar und verstehbar zu machen, also für die Sichtbarmachung des Dissenses zu sorgen, statt nach dem Dogma vermeintlicher Rationalität auf Vereinheitlichung zu zielen. All dies ist freilich kontextabhängig. Auch hier, so die These, kommt es am Ende auf die Haltung an.

Schlussbemerkungen Dialog und Diskurs beschreiben unterschiedliche Weisen und Wege, wie im Sinne Philosophischer Praxis miteinander umgegangen und wie gesprochen werden kann, was jeweils erwartbar, erhoffbar und unverfügbar ist. Etwas Inneres tritt nach außen und wird erst dadurch verifizierbar. Dialogisches und Diskursives (beides im engeren Sinne) haben einen unterschiedlichen Charakter, zielen je auf etwas anderes und stehen als zwei Gesprächsformen nebeneinander. Aus dem Dialog kann aber ein Diskurs erwachsen. In einem Diskurs können zudem allmählich Eigenschaften des Dialogs zur Geltung kommen, dann etwa, wenn anfänglicher Geltungsdrang und übertriebene Selbstbehauptung sukzessive abgebaut werden und schwinden. Die Grenzen müssen als fließend verstanden werden. Dann kann die argumentative Arbeit an der Sache mit Begegnung einhergehen. Es ist sogar gelegentlich beobachtbar, dass sich der begegnende Charakter des Dialogs ganz auf den Diskurs überträgt oder – vielleicht besser ausgedrückt – dass er ein Fundament für einen besonderen Diskurs bietet. Dialog und Diskurs können hier anscheinend gleichzeitig auftreten, ja verschmelzen. Ist dies der Fall, wird das atmosphärisch spürbar als auratischer, magischer Moment, der von den Beteiligten als ein berührendes, faszinierendes und gelungenes Gespräch erinnert wird. Selbstverständlich ist all das begrenzt und bleibt je nur Möglichkeit. Dialoge können misslingen, nicht zu einer Begegnung führen, Menschen sich nicht verstanden fühlen. »Der Dialog«, so Gerhard Stamer (2005, 34), »ist nicht die Wahrheit, aber er ist das Ringen darum.« Diskursen haftet die Gefahr an, sich unbemerkt in Scheindiskurse zu verwandeln oder die Beteiligten unbefriedigt ohne Ergebnis und erkennbare Impulse zurückzulassen. Wahrheit und Wahrhaftigkeit werden durch Dialoge und Diskurse nicht gesichert. Gerhard Stamer (2005, 17 f.) hat die Möglichkeiten des Dialogs (ge151 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

meint als Überbegriff, Diskurse einschließend) insgesamt vorsichtig bis kritisch bewertet und vor einer Idealisierung, einer naiven Überbewertung des Dialogs, insbesondere der eben angesprochenen diskurstheoretischen Annahmen, gewarnt, aber schließlich doch auf ihre Unerlässlichkeit verwiesen. Lars Leeten (2019, 261 ff.) hat die maßgeblichen Probleme und Hindernisse betrachtet, die sich einer Betrachtungsweise und Umsetzung im Hinblick auf eine Ethik der Rede in der Lebenswelt in den Weg stellen. Dazu gehöre, dass von der Philosophie ethische Neutralität verlangt werde, ein Fokus auf besondere Lebensformen daher nicht statthaft sei. Dies gelte insbesondere für die hier skizzierte Sicht, in der Lebensform auf Diskurspraktiken ausgedehnt werde und damit philosophische Rationalität berühre: »Im Horizont modernen Denkens werden Erkenntnis und Ethos, Diskurs und Leben strikt auseinandergehalten. Im Zentrum stehen nicht Bildungspraktiken, die auf eine Umformung des Selbst zielen, sondern Erkenntnisregeln, denen gefolgt werden soll, um in den Besitz gesicherten Wissens zu gelangen. Versteht man Diskursverfahren, etwa im Ausgang von Descartes, als reine Methoden, so muss die Wahrheitssuche ohne Rückwirkung auf Erkenntnissubjekte bleiben. Die mit ihr verbundene ethische Transformation fällt als Gegenstand der erkenntnistheoretischen Reflexion aus.« (Leeten 2019, 262)

Aus philosophischer Sicht hindere zudem die Verklärung des Logos »als ein der Lebenswelt enthobenes, gleichsam immaterielles Geschehen«. Die reflexiven Verhaltensweisen sowie die dahinterliegenden Haltungen, die ihn jeweils hervorbringen, lägen damit »in einem toten Winkel« (ebd., 263). Wo also Philosophische Praxis wirkt, dort kann sie auf ihre Art beitragen zu einer Kultivierung und damit zur Kultur des freien Dialogs und des kritischen Diskurses. Das tut sie in gewisser Weise schon einige Jahrzehnte, im eher bescheidenen Maße freilich, aber zu einer gesellschaftlichen Institution, die in dem hier betrachteten Punkt eine kulturelle demokratisch-politische Basisarbeit leistet, ist sie eben noch nicht geworden – und in den Augen so mancher Praktiker braucht bzw. sollte sie das auch gar nicht werden. Um es am Schluss noch einmal zu wiederholen: Die Besonderheit der genannten Perspektive liegt darin, Dialogisches, hier gemeint als Überbegriff für alle genannten und ungenannten verwandten Formen, als etwas zu betrachten, das selbst einen ethischen Wert innehat: Für Praktiker kann dieses Zusammendenken von Ethos und 152 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Schlussbemerkungen

Logos selbst Teil einer Lebenspraxis bzw. Lebensform sein. Ethisch meint hier vor allem die Orientierung an einem gelingenden Leben. Philosophische Praxis lässt ihre Gäste, egal ob in der Lebensberatung, Organisationsberatung, in Cafés, Salons, Seminaren usw., daran teilhaben. Da, wo dies vielleicht am stärksten zur Geltung kommt, ist das Philosophieren mit Kindern, weil dort sehr früh über praktische Einübungen zumindest gute Chancen bestehen, dass sich all das in die jeweilige Habitualisierung einwebt. Aus einer Diskurspraxis, also der Art und Weise, wie miteinander umgegangen, wie gesprochen wird, geht auch ein Ethos hervor, eine Haltung zur Welt. Eine mögliche konkrete Haltung Philosophischer Praxis zeichnet sich beispielsweise dadurch aus, dass sie die Spannung des Verhältnisses von Begegnung und Kritik auf vermögende Art und Weise auszuhalten vermag. Eine gute Haltung zeigt sich im guten Verhältnis von Beredsamkeit und Eingelassenheit. Sie zeigt sich außerdem im situativ klugen zur Geltung-kommenLassen des je angebrachten begegnenden oder argumentativen Moments, um vielleicht, je nach Angemessenheit, in eine Situation zu gelangen, in der beides keinen Widerspruch mehr darstellt. Ihr kann dies gelingen, weil sie durch die Sorge um den Anderen motiviert ist, weil sie aus einer Haltung heraus erwächst, weil sie nicht instrumentell getrieben ist. Das Zuhören, wie es oben mehrfach beleuchtet wurde, ist Ausweis davon. Mit einem längeren Zitat von Byung-Chul Han (2018, 101 f.) soll dieser Absatz enden, weil er darin nicht nur implizit auf die hier angedachte notwendige gesellschaftliche Rolle Philosophischer Praxis verweist, sondern weil er mit dem Hinweis auf ein zu veränderndes Zeitverständnis einen wichtigen Beitrag zum Ethos Philosophischer Praxis liefert: »Die lärmende Müdigkeitsgesellschaft ist taub. Die kommende Gesellschaft könnte dagegen eine Gesellschaft der Zuhörenden und Lauschenden heißen. Notwendig ist heute eine Zeitrevolution, die eine ganz andere Zeit beginnen lässt. Es gilt, die Zeit des Anderen wieder zu entdecken. Die heutige Zeitkrise ist nicht die Beschleunigung, sondern die Totalisierung der Zeit des Selbst. Die Zeit des Anderen entzieht sich der Steigerungslogik der Leistung und Effizienz, die einen Beschleunigungsdruck erzeugt. Die neoliberale Zeitpolitik schafft die Zeit des Anderen ab, die für sie eine unproduktive Zeit wäre. Die Totalisierung der Zeit des Selbst geht einher mit der Totalisierung der Produktion, die heute alle Lebensbereiche erfasst und zur Totalausbeutung des Menschen führt. Die neoliberale Zeitpolitik schafft auch

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Philosophische Praxis im Lichte einer Begegnungs- und Gesprächskultur

die Zeit des Festes, die Hoch-Zeit, ab, die sich der Logik der Produktion entzieht. Sie gilt nämlich der Ent-Produktion. Im Gegensatz zur Zeit des Selbst, die uns isoliert und vereinzelt, stiftet die Zeit des Anderen eine Gemeinschaft. Sie ist daher eine gute Zeit.«

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9. Ausblick I: Philosophische Praxis als transformative Praxis?

Sokrates: Transformation von sich selbst Sowohl weite Teile des philosophischen Diskurses als auch geistige Übungen waren in der antiken Welt nach Sokrates auf die Transformation des Selbst sowie auf die der Lebenspraxis bezogen. Hadot (1999) hat dies zusammenfassend emphatisch als Wege zur Weisheit bezeichnet. Er beschreibt die geistigen Übungen der Antike als »Praktiken, die körperlich sein können, wie die Ernährungsweise, diskursiv, wie der Dialog und die Meditation, oder intuitiv, wie die Kontemplation, die aber dazu bestimmt waren, eine Modifizierung und eine Transformation in dem Subjekt zu bewirken, das sie praktizierte«. (Ebd., 20) Dazu konnte auch der philosophische Diskurs selbst gehören, sofern er so geführt wurde, »daß der Schüler als Zuhörer, Leser oder Gesprächspartner sich geistig entwickeln und innerlich transformieren konnte«. An anderer Stelle (Hadot 2011, 45) heißt es, Philosophie sei »eine Methode der Menschenformung, die auf eine neue Lebensweise und ein neues Weltverständnis abzielt, als eine Bemühung, den Menschen zu verändern«. Viele Weisen zielten auf eine Umkehr im Denken und Leben der Philosophierenden – eine Umkehr, die von einem Entreißen aus dem Vertrauten und Alltäglichen gekennzeichnet war, eine »Bekehrung (conversion), die das ganze Leben verändert und das Wesen desjenigen verwandelt, der sie vollzieht«. Der Ausgangspunkt dieser Tradition wird in einem besonderen Denken ausgemacht, so Jaspers (1957, 127) »das dem Menschen nicht gestattet, sich zu verschließen. Es duldet nicht das Ausweichen dessen, der sich nicht zu nahe treten lassen will, macht unruhig den blinden Glückswillen, die Zufriedenheit im Triebhaften und die Enge in den Daseinsinteressen. Dieses Denken schließt auf und fordert die Gefahr der Offenheit.«

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Ausblick I: Philosophische Praxis als transformative Praxis?

Beginnen wir mit Sokrates, können wir mit der Selbsterkenntnis anfangen, die bekanntlich im delphischen Spruch »Erkenne dich selbst!« (gnôthi seautón) auftaucht. Wenn Platon seinen Lehrer in der Apologie sagen lässt, ein Leben ohne die eigene Prüfung und Selbsterforschung habe es nicht verdient, gelebt zu werden, dann bricht er, wie Hadot (1999, 55) meint, radikal mit den Lebensweisen seiner Mitbürger, »mit den Gewohnheiten und den Konventionen des Alltags, mit der Welt, die ihnen vertraut ist«. An die Stelle der tradierten Polis-Sitte setzt Sokrates den dialogischen Austausch von Argumenten, der in platonischer Deutung den geprüften Logos zum Vorschein bringe – was hier nicht der zentrale Punkt der sokratischen Praxis sein soll. Vielmehr geht es um die Transformation der eigenen Seele und damit um die Änderung der gewohnten Lebensbewegung (und vice versa). Es ist dies der Grund, warum etwa Hadot (2011, 23) die Figur des Sokrates als den »lebende[n] Aufruf zur Erweckung des moralischen Gewissens« bezeichnet hat. Und wenn Sokrates von seinem Jugendfreund Chairephon bezugnehmend auf das Orakel als der Weiseste unter den Lebenden bezeichnet wird, weil er sich als einziger dessen bewusst war, dass vermeintliches Wissen eben kein wahres Wissen sei, dann wird die Marschroute für alle Selbsterkenntnis ausgegeben: In allererster Linie geht es um Bewusstsein bzw. Bewusstheit. Gernot Böhme (1997, 157 f.) hat darauf hingewiesen, dass es bei dieser fundamentalen Art der Selbsterkenntnis nicht um das Erkennen von irgendwelchen Eigenschaften, Stärken, Schwächen usw. geht, sondern um den reflexiven Akt, die Reflexion auf sich selbst. »Durch diese wird die Persönlichkeit fundamental verändert. Man gewinnt Abstand von sich selbst, eine gewisse Freiheit gegenüber sich selbst, man ist nicht nur einfachhin, sondern man ist bewußt. Diese Bewußtheit verleiht eine ungeheure, d. h. sowohl große als auch unheimliche Überlegenheit über die anderen, die in der Befangenheit ihrer Wünsche, der gesellschaftlichen Zumutungen und Verlockungen oder, wie die Griechen meinten, den Anmutungen der Götter leben. Bewußtheit ist konstitutiv für die Entstehung einer inneren Instanz, die bei Platon noch Seele genannt wird, später auch Ich oder Gewissen heißt. Es ist jedenfalls eine Instanz, aus sich selbst heraus handeln zu können oder, besser gesagt, überhaupt handeln zu können und nicht einfach getrieben zu werden.«

Allerdings darf dies nicht missdeutet werden, insofern darunter eine bloße Introspektion verstanden wird. Sokrates lenkt den Blick nicht 156 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Sokrates: Transformation von sich selbst

auf eine wie auch immer geartete abgekapselte Innenwelt, sondern nach außen, auf die zu besprechenden Dinge selbst. 59 Michael Hampe (2016, 86 ff.) hat darauf verwiesen, dass Platon in den Nomoi die Seele als das erste Prinzip (arche) der Bewegung und Veränderung (kinesis) bestimmt. Daher könne die Prüfung der eigenen Seele als eine Prüfung des eigenen Antriebs im Leben verstanden werden: »Die Seele von Menschen zu prüfen bedeutet, herauszufinden, was Menschen eigentlich in ihrem Leben in Gang hält, vor allem, ob sie sich selbst in Gang halten oder von anderen in Gang gehalten werden.« Die mit pädagogischem Eros gestellten Fragen des platonischen Sokrates zielen auf eine innere Prüfung, die am Ende auf die eigene Lebenspraxis selbst verweist. Er lenkt den Blick auf die Frage nach den menschlichen Handlungen. Anders ausgedrückt: Die Transformation der Person soll über eine sich ändernde Praxis erfolgen, die sich aus neuen und vernunftgeleiteten Einsichten in grundlegende Themen des Lebens heraus ergeben soll. Nicht Nutzenorientierung steht hier im Vordergrund, sondern die eigene Vervollkommnung der sittlich-charakterlichen Verfassung. Aus einer Sachfrage ergibt sich zumeist die Frage, wie man eigentlich leben

Selbsterkenntnis muss nicht zwangsläufig auf dieser höheren bzw. grundsätzlichen Stufe gedacht werden – auch nicht in Verbindung mit Sokrates, wie beispielhaft ein Dialog nicht-platonischer Herkunft zeigen soll. In Xenophons Erinnerungen an Sokrates wird der Nutzen der Selbsterkenntnis von Sokrates im Dialog mit dem jungen ambitionierten Euthydemos deutlich gemacht (vgl. Pleger 2020, 165–173) – wenn auch in einem wenig mäeutischen Vorgehen, wie es aus den Dialogen platonischer Feder bekannt ist. Nachdem Sokrates im Hinblick auf Bildung und Gerechtigkeit seinem Gesprächspartner aporetisch vor Augen geführt hat, dass ungeprüftes Wissen über einen Gegenstand, gleichsam Nichtwissen um das Schöne, Gute und Gerechte, dazu führe, in alle Richtungen gedrängt werden zu können – gleich einer »Sklavenseele« –, nutzt Sokrates die Gelegenheit, auf den besagten delphischen Spruch aufmerksam zu machen. Dabei fragt er, was diese Frage eigentlich bedeute: Was heißt es, sich selbst zu kennen? Ähnlich dem Wissen über die vorher genannten Gegenstände bedeute dies auch hier kritische Prüfung. Es ist kritische Prüfung von sich selbst, »wie er den Aufgaben als Mensch gewachsen ist, und über seine Fähigkeiten zur Klarheit gekommen ist« (zit. nach Pleger 2020, 168). Dies hätte einfache lebenspragmatische Gründe, für sich selbst und im Umgang mit anderen Menschen. Xenophon, der Sophistik gegenüber positiv gesonnen, steht hier wohl auf einem frühen nutzenorientierten Standpunkt: Gut ist das, was mir nützt und mir einen Vorteil verschafft – und dies gilt ebenso für die Selbsterkenntnis. Damit wird deutlich, dass es hier nicht wie beim platonischen Sokrates um die Frage nach dem Wesen des Menschen in grundsätzlicher Weise geht, sondern in erster Linie um persönliche Vorteile inklusive Ansehen und Ruhm.

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Ausblick I: Philosophische Praxis als transformative Praxis?

will. Auf direkte Weise zeigt sich das Anliegen in der Verteidigungsrede des Sokrates: »Mein Bester, du bist Athener, ein Bürger der größten und durch Bildung und Macht berühmtesten Stadt, und du schämst dich nicht, dich darum zu kümmern, wie du zu möglichst viel Geld und wie du zu Ehre und Ansehen kommst, doch um die Vernunft und die Wahrheit und darum, daß du eine möglichst gute Seele hast, kümmerst und sorgst du dich nicht?« (Platon, Apologie des Sokrates, 29d-e)

Der Mensch erkenne sich und das Prinzip freier Lebensgestaltung, wie im letzten Teil bereits angedeutet, im Dialog mit und durch den anderen Menschen. Die Sprache (lógos) wird hier als das spezifische Medium des vernünftigen Teils der menschlichen Seele (logistikón) gesehen. Im sog. Augengleichnis vergleicht Sokrates das optische Erkennen von sich selbst in der Pupille eines anderen Menschen als Abbild (»Püppchen«) mit der Erkenntnis der Seele (psychē) von sich selbst im Licht des vernünftigen Teils des anderen Menschen, der göttlicher Natur sei, in dem Tugend bzw. Gutsein, insbesondere Weisheit (sophía) sowie Klugheit (phrónēsis) angelegt seien (Platon, Alk. I 129a ff., 132b ff.). Die Notwendigkeit eines anderen Auges bzw. Gesichts soll hier darauf verweisen, dass es eine unvermittelte Selbsterkenntnis nicht geben könne. Für Gernot Böhme (2016, 145) ergibt sich daraus die Konsequenz, dass es auf dem Weg der Selbsterkenntnis nicht irgendeines Menschen bedarf, »sondern eines Partners, der bereits eine bestimmte Entwicklung hinter sich hat und ein gewisses Persönlichkeitsniveau erreicht hat« – ein für Philosophische Praxis nicht ganz unerheblicher Gedanke. Bei diesem Spiegeln handelt es sich nicht bloß um einen passiven Prozess, ein passives Abspiegeln; das Gegenüber muss einen sehen – und, so sollte hinzugefügt werden, einen hören. Bei Platons Sokrates hängt das Wissen seiner selbst (epistēmē heautou) daher unmittelbar mit der ethischen Kultivierung und Vervollkommnung des eigenen Charakters zusammen, der eine Transformation erfährt – genauso wie der Schmetterling, der im Altgriechischen ebenfalls mit psychē übersetzt werden kann und dort als Sinnbild für die menschliche Seele galt. Auch er erfährt bekanntlich eine Verwandlung von der Raupe über die Verpuppung eben hin zum ansehnlichen Schmetterling. Die sittlich-intellektuelle Veredelung der menschlichen Seele besteht nach Platon in der Tugendhaftigkeit (aretē) (Platon, Alk., I 134b ff.). Es lässt sich, mit moderner Termino158 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Sokrates: Transformation von sich selbst

logie, auch von einer Haltung sprechen, welche die philosophische Lebensweise charakterisiert. Diese Haltung zeichnet sich hier durch eine andauernde Ausrichtung auf Wahrheit aus, ohne selbst den Anspruch auf eine bereits erlangte Wahrheit vertreten zu müssen – das Wissen um das eigene Nichtwissen ist dafür charakteristisch. Insofern kann sicherlich eher von Wahrhaftigkeit gesprochen werden, durch die sich diese Haltung auszeichnet, nicht von einem irgendwie gearteten Besitz an Wahrheiten. Es sei hier an Hannah Arendts Deutung der sokratischen Praxis erinnert, die sie vor allem darin sieht, die Welt zu erleuchten und zu beleuchten, wie sie mir scheint. 60 Im Hinblick auf das transformative Geschehen ist vor allem die Frage interessant, welche Aspekte hier eigentlich wirken. Wie bereits erwähnt, ereignet sich Selbsterkenntnis im Gespräch, das auf die geführte Art als eine existentielle Erschütterung wirksam ist, weil das eigene Selbstverständnis über die Vorführung des eigenen NichtWissens infrage gestellt wird. Jene Unwissenheit gilt sowohl für die Dinge als auch im Hinblick auf sich selbst. »Der sokratische Dialog ist alles andere als der ungestörte Lauf, Diskurs, von der Meinung zum Wissen; er ist vielmehr sehr häufig ausgezeichnet durch Verwirrtsein, Schwanken, Staunen, Aporie, Abbruch des Gesprächs.« (Pleger 2020, 2020) Metaphorisch zeigt sich das in den Deutungen Sokrates’ als aufscheuchende und irritierende Bremse, als beißende Natter oder als Zitterrochen, der konventionelles Denken und Leben hemmt. Der Stich könnte als Einstieg in eine Transition gesehen werden. Damit aber aus ihr allmählich eine Transformation hervorgehen kann, braucht es mehr als nur einen Stich. Foucault (2009, 23) hat dies so formuliert: »Die Sorge um sich selbst als Sporn, der ins Fleisch des Menschen eindringen muß, der in ihr Dasein eingelassen und das ganze Leben hindurch Grund für Bewegung und Bewegtheit ist.« Dem Begriff der Selbsterkenntnis können wir also mit Foucault »Nur dadurch, dass ich weiß, was mir scheint – nur mir allein, deshalb ist es für immer mit meiner eigenen konkreten Existenz verbunden –, kann ich je die Wahrheit begreifen. Eine absolute Wahrheit, welche für alle Menschen gleich wäre und insofern keinerlei Beziehung zur Individualität hätte, kann es für uns Sterbliche nicht geben. Für uns ist es entscheidend, die doxa wahrhaftig werden zu lassen, in jeder doxa Wahrheit zu erkennen und so zu reden, dass die Wahrheit der eigenen Meinung sich uns selbst und den anderen erschließt. Hier bedeutet das sokratische ›Ich weiß, dass ich nichts weiß‹ nichts anderes als: Ich weiß, dass ich nicht für jedermann die Wahrheit habe; ich kann die Wahrheit des anderen nur erfahren, indem ich ihn ausfrage und so seine doxa kennenlerne, die sich in ihm und in keinem anderen offenbart.« (Arendt 2019, 54 f.).

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Ausblick I: Philosophische Praxis als transformative Praxis?

einen zweiten Begriff an die Seite stellen, der erstere Idee mit einzuschließen vermag: die Sorge um sich selbst (epiméleia heautóu), um die eigene Seele (epiméleia tēs psychēs), das Sich-um-sich-Kümmern, das Sich-selbst-Aufmerksamkeit-Zuwenden, kurz: die Selbstsorge. Die eher momenthafte Selbsterkenntnis wird so ein immer wiederkehrender Teil einer auf Dauer angelegten Übungspraxis. In der heutigen Terminologie ließe sich das auf den ersten Blick vielleicht als eine reflektierte Arbeit an der eigenen Persönlichkeit verstehen. Doch dies wird wohl der eigentlichen Bedeutung nicht gerecht, sofern dabei der Blick auf das Zusammenleben in der Gemeinschaft ausgespart wird. So hält etwa Pleger (2020, 212) fest, dass sich die Sorge um die eigene Seele aus der Idee des gelungenen Lebens in der Polis herleitet, weil nur durch das Kümmern um die Gerechtigkeit und die Rechtschaffenheit der eigenen Seele ein gutes Zusammenleben in der Polis gelingen könne. Modern gesprochen, geht es dabei also auch um das Gemeinwohl. Erst das wirklich Grundlegende macht diese Arbeit damit zur Transformationsarbeit. Wie Foucault (etwa 2009) zeigt, wird Sokrates als Mann der Selbstsorge die antike Referenz, auf die im Hinblick auf eigene Mächtigkeit, eigenes Vermögen und ebenso auf Wahrheit immer wieder Bezug genommen wird. Und sie beginnt also bei Sokrates, den Platon in der Apologie noch im Angesicht des nahenden Todes verschiedentlich auf diesen grundlegenden Punkt hinweisen lässt, etwa im zentralen Vorwurf, die Athener kümmerten sich um allerhand Angelegenheiten, um Reichtum, Ruhm und Ehre, aber um sich selbst kümmerten sie sich nicht. In Bezug auf die Selbstsorge, der es, folgen wir Foucaults Deutung, zentral um den Zugang des Subjekts zur Wahrheit geht, lassen sich über weite Teile der gesamten griechischen Kultur verschiedene Praktiken ausmachen. Foucault (2009, 53–110) hat in seiner Vorlesung Hermeneutik des Subjekts die Rolle der Selbstsorge in Platons Alkibiades ausführlich besprochen und spricht hier des Öfteren von einer Konversion, also einer Umwendung bzw. Umkehr. Die Selbstsorge kann zunächst ganz einfach als das aktive Bemühen um sich selbst verstanden werden. Es geht um das (moralische) Menschsein und den sittlich guten Zustand der Seele – es ist genau dies, das eine Konversion verlangt: Nicht mehr der (ausschließliche) Blick auf andere wird gefordert, sondern der Blick auf sich selbst, die eigenen Vorstellungen sowie deren Ursprünge und Begründungen. Es stellt sich dabei aber immer wieder die Frage, was es eigentlich genau hei160 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Sokrates: Transformation von sich selbst

ßen soll, sich um sich selbst zu kümmern und wozu eigentlich. Im Alkibiades geht es darum, andere gut zu führen, ja die Polis zu lenken. Es ist eine besondere Art der Bildung gefragt, nämlich Selbstbildung (paideia). Selbstsorge kann in diesem Sinne auch verstanden werden als die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner eigenen Natur, mit seiner Leiblichkeit, seinen Neigungen, seinen Gewohnheiten. Für diese Auseinandersetzung stehen Praktiken zur Verfügung – Foucault nennt dies bekanntlich Technologien des Selbst –, die schon vor Sokrates und Platon »in uralten Praktiken, Handlungsweisen und Erfahrungstypen und -modalitäten« (ebd., 70) eine lange Tradition haben. Selbstsorge sei daher nicht nur als eine Haltung zu verstehen, sondern auch als ein Ensemble von Praktiken. Wesentlich ist hier aber, dass sich diese nun im Kern um Selbsterkenntnis drehen. Foucault (ebd., 97) spricht von einer dynamischen Verflechtung von gnothi seauton und epimeleia heautou, also Selbsterkenntnis und Selbstsorge, die sich gegenseitig auf den Plan rufen. Gernot Böhme (2016, 52 f.) hat darauf hingewiesen, dass es Sokrates mit der Sorge um sich selbst um die Herausbildung einer IchInstanz gehe, womit eine handlungsfähige und verantwortliche Person gemeint sei. Diese entstehe eben durch die von Sokrates im Dialog provozierte Reflektion bzw. Argumentation, die eine schrittweise Ausdehnung von Differenzen in der Sichtweise erzeuge. Im Kern zeigt sich dies bereits im Reflexivpronomen heauton (he [sich] + auton [selbst]), das dieses Selbst sowohl auf der Seite des Subjekts als auch auf der Seite des Objekts enthält. Foucault (2009, 82 ff.) versucht zu zeigen, dass die Seele hier als Subjekt von etwas gedacht wird, nicht als Substanz. Vielleicht lässt sich die Selbstsorge in diesem Sinne auch, wie der Philosoph und Philosophische Praktiker Bernd Groth (2018) skizziert hat, stärker und spezifischer als ein Bemühen um die Menschlichkeit verstehen. Selbsterkenntnis in Verbindung mit der Selbstsorge frage dann danach: Wie kann ich menschlich sein? »Entsprechend der wichtigen aristotelischen Unterscheidung zwischen ›poiesis‹ (handwerklich-technisches Herstellen) und ›praxis‹ (moralisch-praktisches Handeln) steht das Selbstsorge-Projekt von Anfang an in der Spannung zwischen der intellektuell-moralischen Herausforderung (Bildung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung) und dem Einsatz technischer Mittel (in der Moderne sind das Mittel wie Genmanipulation, ästhetische Chirurgie, moderne Pharmazie, Chirurgie usw.). In genau dieser Spannung steht auch die

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Auseinandersetzung um die ›Menschlichkeit‹ des Menschen.« (Groth 2018, 133)

Platon, so Groth, verwende in der Apologie des Sokrates die Seele und im Alkibiades I das Selbst. Der Begriff der Seele bei Platon referiere auf den metaphysisch-ontologischen Wesenskern des Menschen, analog zur heutigen Menschenwürde. Die Frage, worin die Bestimmung (areté) des Menschen bestehe, könne daher auch mit in der Menschlichkeit beantwortet werden. Sokrates ziele, so Groth, auf das gute Miteinander-Leben. Das allgemeine Streben nach Lust, Reichtum, Macht und Ansehen bringe die Menschen in ein existentielles Rivalitätsverhältnis zueinander – darin liegt zumindest die Gefahr, dass diese die Menschlichkeit des Menschen fundamental beeinträchtigen. Im Erkennen dieser Aspekte, im Erkennen der eigenen Stellung und der eigenen Relation zur Gemeinschaft kommt damit die Notwendigkeit einer entsprechenden ethischen Haltung und Lebenspraxis in den Blick. Insofern steht die Selbstsorge gerade nicht der Sorge um die anderen entgegen, sondern schließt diese selbst mit ein – eine Denkweise, die später ähnlich auch bei Spinoza wieder auftauchen wird. Selbstsorge, so Groth (2018, 143 f.), ziele schließlich auf die Aporiefähigkeit des Menschen: »Sokrates geht es gerade nicht darum, die Aporie zu vermeiden, sondern sie aufzusuchen, durch hartnäckiges Fragen. Die Selbstsorge funktioniert nicht ohne Aporie-Erfahrung. Aber die allermeisten Kommentatoren scheuen die Konfrontation mit der Aporie: entweder übergehen sie sie oder relativieren ihre Bedeutung. Für Platon scheint sie jedoch mit der wichtigste Punkt im sokratischen Gespräch zu sein. Sie macht intellektuelle und existentielle Defizite schmerzlich bewusst. Das Sich-um-sich-selbst-Bemühen zielt auf die Aporie-Fähigkeit des Menschen, d. h. die Aporie seiner Existenz auszuhalten und nicht vor ihr zu fliehen (z. B. in Machtbestrebungen u. a.). AporieFähigkeit ist für mich anders ausgedrückt die Fähigkeit des Leidens am Leben, d. h. diesem nicht auszuweichen, sondern sich ihm zu stellen. Denn nicht die Sorge ist das ›Sein des Daseins‹, wie Heidegger meinte, sondern die Aporie ist es, wenn wir Platon folgen wollen.«

Sokrates’ Mäeutik kann damit als transitiver Eingang in eine Praxis humanistischer Transformation gedacht werden, in der sich allmählich ein produktives Verhältnis zu sich selbst herausbilden soll. Sie vollzieht sich als Ausbildung von Fähigkeiten, insbesondere von ethischen Vermögen, die sich auf das Handeln im Leben auswirken. 162 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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Durch seine Fragen zielt Sokrates dabei auf eine Transformation des Denkens, der Auffassungen über Dinge, der Haltung und gar der Lebensform selbst – ein Prozess, der durch eine Prüfung in Gang gebracht und durch ein Denken in Bewegung gehalten wird. Hierbei spielt die Ausbildung eines kritischen Urteilsvermögens eine wichtige Rolle, weil dadurch eigene und fremde Überzeugungen überprüft und auf einen besseren sittlich-charakterlichen Zustand hin modifiziert werden können – alles das sollte bei Sokrates sicherlich nicht in Vergessenheit geraten, im Lichte des Wissens um die eigene Ungewissheit. Die Orientierung an der Wahrheit heißt schon bei Sokrates nicht, diese in absoluter Gewissheit auch erkennen zu können. Doch zeichnet sich bereits hier die aufkommende Dichotomie des wissenschaftlich-objektiven Wahrheitsanspruchs auf der einen und der lebenspraktischen Orientierung philosophischen Wirkens auf der anderen Seite ab. Indem all die genannten Aspekte tatsächlich in einem orientierenden Sinne Thema und Bezugspunkte der Gespräche in Philosophischer Praxis werden, kann diese in solchen Fällen durchaus als eine Befähigungspraxis verstanden werden – oder prägnanter ausgedrückt: Philosophische Praxis trägt zur Selbsterkenntnis bei und kann zur Selbstsorge – und damit auch zur Mitsorge – befähigen.

Transformation des Selbst und Philosophische Praxis – Facetten und Reflexionen Die folgenden Überlegungen sollen einerseits einen gewissen Bedeutungsraum des Begriffs der Transformation aufmachen, ihn dabei aber in gewisser Weise schärfen. Dabei geht es freilich nicht um ein richtiges oder falsches Verständnis, nicht um eine strenge taxonomische Klassifikation. Die Schärfung dient in erster Linie als eine Art Heuristik, mit der die zu nennenden Merkmale andererseits im Hinblick auf ihre Bedeutung für den Kontext Philosophische Praxis kritisch reflektiert werden sollen. Vielleicht lässt sich dieser Versuch, den Gebrauch des Ausdrucks Transformation in den Blick zu nehmen, am besten mit dem Hinweis auf Wittgensteins Idee der Familienähnlichkeit deuten. 61 Es wäre der Versuch, relevante Fasern des Vgl. Ludwig Wittgenstein (200310): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/ M.: Suhrkamp.

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Fadens Transformation zu thematisieren: Nicht in jedem Gebrauch des Wortes kommen aber all jene Merkmale (Fasern), um die es gleich gehen wird, deutlich zur Geltung. Der Begriff Transformation ist schon länger – wenn auch unterschiedlich lange – in verschiedenen disziplinären Fachsprachen gebräuchlich, sowohl in Naturwissenschaften wie Biologie oder Physik als auch in verschiedenen Sozial- und Geisteswissenschaften. Die dahinterliegende Idee ist freilich noch viel älter als der Terminus selbst. Das Gemeinsame scheint hier zu sein, dass es sich bei Transformation um eine Umformung, Umbildung bzw. ein Umwandeln, eine Umgestaltung (in einen anderen Zustand) handelt, auch im Sinne einer Übertragung bzw. einer Umstrukturierung (z. B. eines bestehenden Systems) oder einer Umsetzung von etwas. 62 Das scheint die grundlegende Semantik zu sein, die sie allerdings mit vielen verwandten Begriffen teilt. Charakteristisch ist offensichtlich das Prozesshafte, das ebenfalls im Begriff des Transformiert-Werdens auf den Prozess selbst verweist. Das lateinische Präfix bzw. die lateinische Präposition trans- können wir mit »über«, »hinaus«, »hinüber«, »hindurch«, »auf die andere Seite« übersetzen. Sowohl in den Fachsprachen selbst als auch im Alltag lässt sich ein weiter Gebrauch des Wortes ausmachen, der nahezu synonym zu Veränderung oder zu Wandel verwendet wird. Es lässt sich aber auch eine engere, präzisere Verwendung des Begriffs Transformation finden. In unserer Alltagssprache verwenden wir synonym vielleicht Veränderung als allgemeinsten Begriff. Er beschreibt dabei im Grunde etwas Selbstverständliches, weil nun einmal sehr viele lebensweltliche Phänomene mit Veränderungen zu tun haben. Vieles davon geschieht als etwas Beiläufiges. Wir kennen Prozesse mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und sprechen dann etwa von Evolution im Unterschied zur Revolution

»Transformation«, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, , abgerufen am 16. 04. 2020. Etymologisch: transformieren Vb. ›umwandeln, umformen, verwandeln, verändern‹, mhd. transformieren, entlehnt aus gleichbed. lat. trânsformâre; vgl. lat. formâre ›formen, gestalten, bilden‹ In der Mathematik ›in einen anderen mathematischen Ausdruck umwandeln, eine Menge umkehrbar eindeutig abbilden‹ (1. Hälfte 19. Jh.), in der Physik ›mit Hilfe eines Transformators die elektrische Spannung erhöhen oder herabsetzen‹ (Ende 19. Jh.). Transformation f. ›Umwandlung, Umformung, Verwandlung, Veränderung‹ (1. Hälfte 16. Jh.), aus gleichbed. spätlat. trânsformâtio (Genitiv trânsformâtiônis). In Mathematik (Anfang 18. Jh.) und Physik (Ende 19. Jh.) entsprechend den Bedeutungen des Verbs (s. oben).

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oder von Wandel. Letzterer meint dabei nicht immer nur aufstrebende Verläufe; natürliche und soziale Phänomene können bisweilen regressiv sein. Der Begriff Transformation meint nun in einem engeren Sinne intendierte und gestaltete Wandlungsprozesse, die nicht bloß auf beliebige, vereinzelte Änderungen zielen, sondern meist auf höhere, aufsteigende Entwicklungen hin ausgerichtet sind und etwas Grundlegendes betreffen. Transformationen befinden sich, so könnte mit Peter Sloterdijk (2011) gesagt werden, unter Vertikalspannungen. Im Fokus dieser Arbeit stehen in erster Linie Veränderungen von Welt- und Selbstverhältnissen, in denen es um das Bemühen und explizite Ergreifen dessen geht, was einem als Menschen als Möglichkeit zukommt. Es ist interessant dabei zu beobachten, inwiefern andere Begriffe zum Verständnis dieses Aspekts herangezogen werden. Es macht einen Unterschied, ob Transformation hier im Sinne einer Entfaltung, einer Evolution, einer Entwicklung, gar eines Fortschrittes oder einer eigenen genuinen Weise der Veränderung gedacht wird. Es ist gerade die moderne Idee des Fortschritts, die in heutigen, vor allem populären, teils ideologischen Verwendungsweisen immer wieder im Zusammenhang mit Transformation auftaucht. In diesem Buch geht es vor allem um Transformationen, bei denen zumeist der Sinn individuellen Seins im Mittelpunkt steht und bei denen es in irgendeiner Weise um Verbesserung von etwas geht. In klassischen philosophischen Ausführungen dazu kommen unterschiedliche Ideen zum Tragen, was genau Gegenstand der Transformation ist. Hier gibt es ja eine Reihe von Möglichkeiten: Sprache, Bewusstsein bzw. Bewusstseinszustände, Psyche, Seele, Selbst, Ich, Geist, Mensch, Person, Subjekt, Moralität, Verhalten bzw. habitualisierte Praktiken, das eigene Binnenverhältnis zu sich selbst usw. Ziel der hier angestellten Überlegungen ist es nicht, die eine Antwort auf die Frage zu geben, was denn das Ziel von Transformation sei: ein besseres Leben, ein tieferes Leben, Klugheit, Weisheit, Würde, Freiheit, ein besserer Mensch zu sein, das wahre Selbst zu finden, Auflösung des Selbst usf. Auf die Frage kann es verschiedene Antworten geben, die in der Geschichte der Menschheit bereits auf vielfältige Weise gegeben wurden. Im Hinblick auf die Arbeit mit anderen sind es für eine Philosophische Praxis, die sich gerade nicht als dogmatisch erweisen möchte, letztlich die Ideen des Gastes, die es gemeinsam zu beleuchten gilt. Und diese Ideen ergeben sich oft erst im gemeinsamen Dialog – ja, so könnte gesagt werden: Das Finden, 165 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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Reflektieren und Arbeiten an der Antwort sind wesentliche Teile der Praxis selbst. Zudem wird mit dem Begriff mitunter das damit verbundene methodologische Vorgehen im Sinne eines Verfahrens bezeichnet. Diejenigen Ansätze, die stärker den experimentellen und forschenden Charakter betonen, sind eher selten, wenn auch sehr wichtige, weil sie Orientierungen bieten, die weniger dogmatisch daherkommen. Transformationsprozesse können dabei vor allem als Konstitutionsprozesse verstanden werden – oder mit Foucault (1986, 18) gesprochen, als Ästhetik der Existenz. Im Zentrum vieler philosophischer Deutungen stehen vor allem Selbstreflexion, besondere Formen des Denkens, bisweilen Vernunft, auch wenn andere Aspekte ebenfalls zur Unterstützung der Prozesse einbezogen werden. Bei Ran Lahav (vgl. Krauß 2022) kommt das Besinnlich-Kontemplative stärker zur Geltung. Charakteristisch ist zudem das aktive Moment: Die gemeinten Entwicklungen ergeben sich nicht von selbst, sie sind intendiert, also reflexive und willentliche Aktivität. Das ist ein wirklich wesentlicher Punkt, denn er verweist auf etwas, das bisweilen übersehen wird, nämlich einem vorwärtsdrängenden Willen zur Veränderung – die heutige Psychologie spricht zumeist von Volition als der bewussten und willentlichen Umsetzung von Zielen und Motiven. Es liegt immer auch an der Stärke des Willens, ob sich Transformation tatsächlich vollziehen kann oder eben nicht. Eine zentrale Rolle dabei spielt das Phänomen der Freiheit, das in den verschiedenen Positionen jeweils etwas anders vorgestellt wird. Bei Sokrates, Spinoza oder Jaspers etwa ist Transformation sowohl mit einem Entwicklungsprozess als auch mit Freiheit und Selbstbestimmung verbunden, wobei etwa bei Spinoza viel stärker der Gedanke im Vordergrund steht, dass Freiheitsgrade sich erst allmählich im Prozess des Erkennens herausbilden. Dabei nimmt die gestaltende Aktivität bzw. die aktive Gestaltung eine wichtige Funktion ein und steht in Zusammenhang mit einer Mächtigkeit, einer Potentialität. Auch der späte Foucault (1984, 22) spricht von der Philosophie als einer Aktivität, einer Gegenmacht, der es um die Transformation des Subjekts gehe: »Philosophie ist jene Verschiebung und Transformation der Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, um anderes zu machen und anders zu werden, als man ist.« Foucault benennt zudem die wesentlichen Aspekte, auf die Selbsttransformation dabei zielen kann und die hier etwas anders formuliert heißen sollen: Denken, Haltung 166 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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und Lebensform. All das kann freilich unter dem vielbeschworenen Begriff der Lebenskunst bzw. darunter, was Achenbach (etwa 2010 VI, 99 ff.; 2001, 9) als Lebenskönnerschaft bezeichnet hat, gefasst werden: »Der Lebenskünstler gestaltet sein Leben, der Lebenskönner bewährt sich.« 63 Zu dieser Begrifflichkeit muss an dieser Stelle nichts weiter gesagt werden. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass bei dem ausschließlichen Fokus auf Freiheit, Autonomie und Selbstgestaltung der Blick für das Pathische des Menschseins verstellt werden kann, also jene Seinsweise des Menschen, in der er sich selbst gegeben ist, in der ihm etwas widerfährt, in der er sich als verletzlich erweist. Auch hier kann einer einseitigen Betrachtung eine umfassendere vorgezogen werden, wie dies etwa Gernot Böhme (2016, 296) tut, der statt der Orientierung am autonomen Menschen jene an einem souveränen vorzieht: »Der souveräne Mensch ist derjenige, der sich etwas widerfahren lassen kann, der zwar verantwortungsbewusst und handlungsfähig ist, aber doch nicht vergisst, dass er auf das angewiesen bleibt, als was er sich gegeben ist. So gesehen ist er letztlich nicht Herr im Hause. Das verlangt ein positives Verständnis von Abhängigkeit, ein Einverständnis mit der Hinfälligkeit des menschlichen Lebens und eine Anerkenntnis der Verletzlichkeit. Diese Ausbildung einer Anerkennung des Pathischen im menschlichen Leben öffnet den Einzelnen überhaupt erst dafür, von etwas oder einem anderen Menschen oder einem anderen Lebewesen angerührt zu werden. Leiden zu können ist die Voraussetzung dafür, mitleiden zu können, resonanzfähig zu sein dafür, mit dem anderen Menschen mitzufühlen, und betroffen zu sein durch das, was den Anderen betrifft.«

Wie bereits erwähnt, kann dadurch auch das Bewusstsein für die Notwendigkeit humanerer Umgangsweisen geschaffen werden, die im bloßen Autonomiestreben mit dem Augenmerk aufs Eigene bisweilen gar kein Thema sind. Es gilt also, diese untrennbar mit dem Menschsein verbundene Seite angemessen zu bedenken. Andreas Reckwitz (2019, 206) hat in seiner Auseinandersetzung mit der spätmodernen Subjektkultur (siehe unten) im Zusammenhang mit dem Streben nach positiven Gefühlen auf dieses Defizit im Hinblick auf Dabei wird argumentativ m. E. nicht ganz ersichtlich, warum die eine gegen die andere Variante gesetzt wird. Vermutlich schließt sich die Lebenskönnerschaft auch einfach an die Lebenskunst an, wenn sich das Gestaltete bewährt – der Logik halber muss es freilich erst ein Gestaltetes geben, damit es sich überhaupt bewähren kann. Siehe dazu auch Lindseth (2009, 55), der ebenfalls in diese Richtung kontrastiert.

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Gefühle hingewiesen: »Für den Umgang mit diesen negativen Emotionen fehlt in der spätmodernen Kultur jedoch der legitime Ort, und es mangelt an anerkannten Methoden, mit ihnen in der Alltagskultur umzugehen.« In gleicher Weise gilt das für den Verheißungscharakter, etwa in Form verschiedener Selbstermächtigungsphantasien (Heintel/Lerchster 2015), der beim Thema Selbsttransformation nicht selten mitschwingt und im Hinblick auf die Gestaltung und Ästhetik von sich selbst Freiheit, vor allem negative Freiheit, im Sinne einer völligen Ungebundenheit und im Lichte eines Allmachtsauftrags suggeriert. Die Befreiung von fremder Bestimmtheit ist nicht nur bei Spinoza ein wichtiges Motiv der Philosophie. Verheißung führt aber nicht selten in eine Überschätzung der eigenen Möglichkeiten, was wiederum Quelle destruktiver Überforderung und dauerhafter Unzufriedenheit werden kann. Das mündet am Ende bisweilen in eine Lethargie, ganz ohne Gestaltung und Entscheidung. Ein gewisses Maß an Demut scheint hier hilfreich zu sein. Bei einem übertriebenen Selbstkult übersehen wir leicht die insbesondere durch unsere emotionale Verfasstheit gegebene leibliche Verflochtenheit in die Welt, was uns im reflexiven Abheben am Ende wieder auf die Füße fallen könnte – je höher der Flug, desto heftiger wohl der Aufprall. Verflochtenheit mit der Welt meint zudem eine solche mit anderen, aber auch mit den politisch-ökonomischen Bedingungen der Zeit. Selbsttransformation, von der hier die Rede ist, schmort nicht bloß im eigenen Saft. Wenn all diese Dinge hier im Zusammenhang mit Philosophischer Praxis thematisiert werden, dann ist dies nicht im Sinne einer Lehre oder der »richtigen« Vorstellung von Transformation zu verstehen. Es gilt aber, jene Aspekte zu bedenken und im Dialog bisweilen zu bedenken zu geben. In verschiedenen Ansätzen zum Thema gibt es die Unterscheidung zwischen einem wenig oder gar nicht hinterfragten »Normalzustand«, in dem wir uns durch Sozialisierung bzw. Habitualisierung in einer Art Selbstverständlichkeit befinden, sowie einem Prozess der vertikalen Absetzbewegung davon, der auf verschiedene Art mit Erkenntnis verbunden ist. Transformation, so wie sie hier verstanden wird, beschreibt damit ein Vorher und ein Nachher – was in gewisser Weise auch einen Wendepunkt bzw. eine Wendephase impliziert. Dies könnte etwa als Transition bezeichnet werden. Dieser Begriff ist interessant, insbesondere im Hinblick auf das in der Philosophie immer wieder auftauchende Moment einer besonderen Erfahrung wie des Staunens, das Anlass und Beginn für einen weiterführenden 168 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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Prozess ist, weil es Augen öffnen und den Blick schärfen kann. In der Transition scheint das Präfix trans noch stärker zu sein als in Transformation, weil hier die Bedeutung des Hinausgehens, des Übergangs noch deutlicher zum Vorschein kommt. Die Transition kann als eine Art Brücke gedacht werden, die es zu überqueren gilt. In gewisser Weise – und bezogen auf Selbsttransformation – könnte hier auch mit Heidegger, Sartre oder mit Foucault von einer Konversion gesprochen werden. Transformation kann dabei zwar ein intendierter Prozess grundlegender Aspekte sein, aber damit ist nicht gesagt, dass es sich um einen reißbrettartigen Prozess handelt, der von einem Punkt A zu einem konkreten Punkt B verläuft – das mag es wohl kaum geben. Im transformativen Prozessverlauf wird sich B zumeist selbst stetig wandeln – Neuorientierungen ergeben sich. Das hat vermutlich viel mit dem Aspekt transformativer bzw. transitiver Erfahrungen zu tun, wie sie etwa L. A. Paul (2014) beschreibt. 64 Neue Erfahrungen, erfahrungsmäßige Einsichten machen etwas mit der eigenen Orientierung, verändern Richtungen und Ziele des Strebens. Transformation beschreibt daher eher einen am Ende immer auch offenen und teils kontingenten, aber eben keinen beliebigen Verlauf. Er kann sich dabei auf Eigenschaften bzw. Prädikate beziehen, auf Kategorien sozusagen, aber auch, unter einem existenzphilosophischen Blickwinkel, auf Existenzialien (Heidegger 2006), also SeinsMöglichkeiten. Daher ist ein Sich-Einlassen notwendig, ein Sich-Einlassen auf einen offenen Prozess, einen Verlauf, der vorher nicht mit Bestimmtheit gewusst werden kann. Das bedeutet auch, sich darauf einzulassen, dass einen selbst ein Stück weit etwas bestimmt, was man gerade nicht in der Hand hat. Dabei scheint ein Grundphänomen zum Tragen zu kommen, auf das bereits Peter Sloterdijk (2011, 28 f.) verwiesen hat und das ein wenig, zumindest in Teilen, gegen den aktuellen Zeitgeist der Gleichwertigkeit alles möglichen gerichtet zu sein scheint, nämlich »die Beobachtung, daß alle ›Kulturen‹, ›Subkulturen‹ oder ›Szenen‹ auf Leitdifferenzen aufbauen, mit deren Hilfe das Feld menschlicher Verhaltensmöglichkeiten in polarisierte Klassen unterteilt wird. So kennen die asketischen ›Kulturen‹ die Leitdifferenz Vollkommen versus Unvollkommen, die religiösen ›Kulturen‹ die Leitdifferenz Heilig versus Profan, die aristokratischen ›Kulturen‹ die von Vornehm versus L. A. Paul: Transformative experience. Oxford: Oxford University Press. https:// doi.org/10.1093/acprof:oso/9780198717959.001.0001.

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Gemein, die militärischen ›Kulturen‹ die von Tapfer versus Feige, die politischen ›Kulturen‹ die von Mächtig versus Ohnmächtig, die administrativen ›Kulturen‹ die von Vorgesetzt versus Nachgeordnet, die athletischen ›Kulturen‹ die von Exzellenz versus Mittelmaß, die ökonomischen ›Kulturen‹ die von Fülle versus Mangel, die kognitiven ›Kulturen‹ die von Wissen versus Unwissen, die sapientialen ›Kulturen‹ die von Erleuchtung versus Verblendung. Was diese Differenzierungen durchweg gemeinsam haben, ist die Parteinahme für den ersten Wert, der im jeweiligen Feld als Attraktor gilt, während dem zweiten Pol durchwegs die Funktion eines Repulsionswertes oder einer Vermeidungsgröße zukommt.«

Es scheint jedenfalls eine tiefere pankulturelle normative Beurteilung zu geben, die sich ebenfalls im Transformationsgedanken menschlicher Entwicklung widerspiegelt, weil sich auch hier, wie skizziert, verschiedene Richtgrößen von Vertikalspannungen ausmachen lassen. In den sogenannten spätmodernen Gesellschaften tritt die besagte Leitdifferenz aktuell vielleicht im Ideenkomplex der Selbstoptimierung in einer auf Technik, zumeist auf biomedizinischen oder pharmakologischen Methoden basierten Form in Erscheinung, die v. a. in den Sozialwissenschaften, vielleicht etwas einseitig, als ein neoliberales Konzept der Transformation ausgewiesen wird (vgl. Fenner 2019, 15). Transformation ist aber auch zu einem Diktum geworden, insbesondere unter den Idealen bzw. den Leitmaximen einer vor allem von der Positiven Psychologie propagierten Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung, bei denen der Blick vorwiegend nur nach innen gerichtet ist. Andere Menschen kommen darin oft bloß als nützliches soziales Kapital – heute ist oft die Rede von den Netzwerken – zur Geltung, sozusagen als Ressourcen, als Rahmenbedingung für ebenjene Selbstverwirklichung. Verschiedentlich wurde außerdem darauf aufmerksam gemacht, dass Individuen gerade in unserer durchpsychologisierten Kultur »unentwegt zur Selbstreflexion und Selbsttransformation animiert« werden (Reckwitz 2019, 204). 65 Vereinseitigungen führten hier in eine »beständige Valorisierung und Singularisierung aller möglichen Elemente des Lebens« 66. Vgl. dazu auch den 2018 von Thomas Fuchs und Lukas Iwer herausgegebenen Sammelband Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp. 66 »Valorisierung bezeichnet einen Prozess, in dem die Individuen jenseits des bloß Zweckrationalen, des Nützlichen und Effizienten nach dem Wertvollen streben, nach dem, was ›Wert‹ hat und daher um seiner selbst willen getan werden kann – insbeson65

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Hingegen sollten alle Bestandteile des Lebens, so das romantische Modell der Selbstentfaltungskultur, positive Emotionen bewirken. Der darin fehlende oder nur rudimentär vorkommende Blick auf das Pathische sowie auf das Soziale wurde bereits mehrfach moniert. Transformation soll hier demnach auch nicht im Sinne einer Verheißung interpretiert werden, schon gar nicht einer einseitig gedachten – das kann gar nicht oft genug betont werden, möchte Philosophische Praxis nicht auch in ein eher unkritisches Fahrwasser zeitgenössischer Verheißungspraktiken geraten. Philosophische Praxis, wie sie hier vorgestellt wird, zeichnet sich, auch in Kenntnis einer Relativität sehr unterschiedlicher Ansätze, gerade durch das emanzipativ-kritische Moment in der Deutung jener verschiedenen Denkweisen aus, muss dabei allerdings auch aufpassen, nicht auf eine destruktive Weise kritisch zu werden, die am Ende alles bloß einebnet. Vielleicht liegt das Fundament der hier gedachten emanzipativen Transformation eher auf einer guten Mischung aus Realismus und Verantwortung, aber auch Offenheit, ebenso Vorstellungskraft wie Kreativität sowie vor allem Mut und Demut. Und dass es dabei immer auch zu bedenken gilt, welche persönlichen Kontinuitäten sich eigentlich als fortführenswert erweisen, darf bei dieser Thematik nicht unerwähnt bleiben. Wohin die transformative Reise letztlich geht, ergibt sich ohnehin oft erst in den Gesprächen oder im Nachgang zu diesen; das Ziel ist selbst ein sich wandelndes Element. Es kann aber, bei aller damit verbundenen Problematik, Sloterdijk (ebd., 29) mit etwas Vorsicht wohl zugestimmt werden, der vom »aufsteigenden Tendenztier« Mensch spricht und betont, dass dies im Hinblick auf die Anthropologie nicht ignoriert werden dürfe. Er selbst spricht sogar von den »entscheidenden Vektoren der conditio humana« und meint nietzscheanisch: »Tatsächlich stellt die Philosophie den Modus des Denkens dar, der durch die radikalste Form der Voreingenommenheit geprägt ist – die Passion des In-der-Welt-Seins. Die Leute vom Fach als einzige ausgenommen, spürt praktisch jeder, daß philosophisch alles ohne Belang dere in ästhetischer Hinsicht (Beispiel Yoga-Retreat) und in ethischer Hinsicht (Montessorie-Kindergarten). Singularisierung bezeichnet diesen Prozess, in dem die Individuen nicht nach dem Gleichförmigen und Standardisierten streben, sondern nach dem Individuellen, dem Besonderen und Nichtaustauschbaren – vom besonderen Wohnviertel bis zur maßgeschneiderten beruflichen Tätigkeit.« (Reckwitz 2019, 214 f.).

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bleibt, was weniger als dieses Passionsspiel bietet. […] Die tiefen Spiele sind diejenigen, die von den Höhen bewegt werden.« (Sloterdijk 2011, 31)

Dieses emanzipative Element finden wir bekanntlich bei Nietzsche selbst, etwa in seiner metaphorischen Skizze der drei Wandlungen des Geistes auf dem Weg zum Übermenschen im Zarathustra. Die Rede handelt vom Wandel in den demütigen Geist des Kamels, vom Kamel zum Löwen, der aus einem Willen heraus ein heiliges Nein sagen kann und vom Löwen zum Kinde, das mit einem heiligen Ja einen Neubeginn verkörpert. In dieser Steigerung steckt freilich eine radikale Selbstüberwindung. Bei den als fassbaren Umbrüchen zu deutenden Transformationen scheint es auf den ersten Blick um etwas anderes als etwa das zu gehen, was François Jullien (2010) als die transformations silencieuses bezeichnet. Das sind Veränderungen, die in ihrem Prozess unseren Augen entgehen und nicht auffallen, weil sie in winzig kleinen Schritten ablaufen und nicht auf sich aufmerksam machen. Erst ihre Ergebnisse treten uns plötzlich vor Augen – dann etwa, wenn wir im Hinblick auf unser Altern auf eine sehr alte Fotografie von uns und dann in den Spiegel blicken. Diese stillen Wandlungen sind in der Regel nicht intendiert, laufen nicht auf ein konkretes Ziel zu und sind außerdem nicht mit einem engeren Sinn verbunden. Insofern haben sie tendenziell den Charakter von Widerfahrnissen. Allerdings geht es bei Jullien weniger um die Art der Veränderung als vielmehr um unsere Perspektive, um unsere Deutung. Ihr Verhältnis zu den Transformationen, wie sie hier in einem engeren Sinne vorgestellt wurden, gilt es, an anderer Stelle genauer zu bedenken – womöglich eine der spannendsten Aufgaben, welche in dieser Arbeit nicht angegangen werden kann. Und trotzdem kann hier im Sinne eines Ausblicks gefragt werden: Lässt sich etwa das, was als Transformation im engeren Sinne gedacht wird, als intendiertes Einflussnehmen auf den Fluss der stillen Wandlungen deuten? In diesem Sinne werden etwa die von Mall und Peikert (2017, 91) thematisierten meditativ-reflexiv-transformativen Übungen gedacht, die sich in verschiedenen antiken Praktiken westlicher und östlicher Prägung ausmachen lassen. So lassen sich ja beispielsweise verschiedene Formen von Meditation, die versuchen, Ruhe in den Gedankenfluss zu bringen, außerdem derart verstehen, dass in ihnen das Handeln durch das Denken immer schon vorbereitet wird. Der Gedankenfluss wird 172 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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also durch Einübung transformiert, daher sprechen die Autoren von der Selbsttransformation des Denkens, in der auch Selbstwirksamkeit erfahren wird: »Gelingt diese Unterbrechung oder gelingt ein Fortschritt in der anhaltenden Übung darin, so macht man die beruhigende Erfahrung der Wirksamkeit (Veränderbarkeit) eines reinen Widerfahrens.« 67 Daran anknüpfend kann also gefragt werden: Geben die bewussten und reflexiven Impulse diesen stillen Wandlungen eine Orientierungsrichtung vor und beschleunigen womöglich deren normalerweise langsamen Fluss? Wie gelingt es ferner, den Aspekt des Bestimmtseins stärker mit in die Auseinandersetzung mit Transformation einzubeziehen? Hier trifft freilich europäisches auf chinesisches Denken: Auf der einen Seite ein Akteur, ein eingreifendes Subjekt, auf der anderen eine von sich aus ablaufende Wandlung. Ob hier die Steuerungsmetapher fruchtbar ist, müsste weiter erforscht werden. Ein anderes Problem muss an dieser Stelle zumindest kurz diskutiert werden, weil es sich förmlich aufdrängt. Philosophische Praxis ist einst angetreten, die sie aufsuchenden Menschen nicht aus einer pathologischen Perspektive zu betrachten. Wie sieht es damit in einer transformativen Idee aus? Es stellt sich also die Frage, ob und auf welche Weise die transformative Idee den Menschen als etwas Defizitäres sieht. Zunächst kann m. E. von einer Pathologisierung keine Rede sein. Im transformativen Denken wird der Ausgangspunkt eher selten als pathologisch betrachtet – dies wird er vielleicht bei Rousseau oder im Hinblick auf zeitgenössische Ansätze etwa bei Ken Wilber. 68 Zumeist wird aber dieser vortransformative Zustand als normal betrachtet. Jaspers hat ja betont, dass dieser Ausgangspunkt (bei ihm das Dasein) zum Menschsein dazugehört und auch notwendig sei. Eine Pathologisierung braucht und sollte m. E. so nicht stattfinden. Ein klarer Unterschied besteht sicherlich darin, dass der angelegte Maßstab hier eben kein »rein« gesellschaftlicher ist, sondern, »Etwas widerfährt mir, etwas gelingt mir, ich erfahre etwas als durch mich veränderbar. Und zwar widerfährt mir die Frucht einer eigenen Bemühung, nämlich der Bemühung, doch Herr des eigenen Denkens zu sein, d. h. zu erfahren, dass Denken nicht beim Denken stehenbleibt, sondern immer schon auf die Tat und die Transformation in der Welt ausgerichtet ist. Und in der Kultivierung dieses Gedankens liegt auch eine Kultivierung der mit ihm einhergehenden Gefühle und Willensregungen.« (Mall/Peikert 2017, 91). 68 Vgl. Ken Wilber: Eros, Kosmos, Logos. Eine Jahrtausend-Vision, 5. Aufl., Frankfurt/M. 2011. 67

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Ausblick I: Philosophische Praxis als transformative Praxis?

so zumindest die Idee, eher ein individueller des Gastes. Was sich aber auf den ersten Blick so leicht sagen lässt, ist es freilich auf den zweiten nicht. Nehmen wir den Begriff des Subjektiven in Zusammenhang mit den Konzepten des Habitus (Bourdieu) oder des Leibes (z. B. Merleau-Ponty) ernst, dann muss beachtet werden, dass das Subjektive Soziales und Gesellschaftliches als grundlegende Momente seiner Herausbildung enthält (siehe dazu v. a. Teil III). Eine einfache Gegenüberstellung von Gesellschaft und Subjekt macht aus dieser Perspektive wenig Sinn – Individualgestalt und Sozialgestalt sind bloß zwei Seiten der Doppelstruktur des Menschen. Wenn wir mit Foucault sagen wollen, dass wir nicht so regiert werden wollen, dann gilt es, genealogisch ein Stück weit die Herkunft unserer Subjektivität zu betrachten. Das heißt weder, dass das Subjektive und das Gesellschaftliche deckungsgleich sind, noch, dass wir in dem festgestellten Zustand verharren müssen. So gilt es, die vermeintliche Natürlichkeit und mit ihr die damit verbundene scheinbare Notwendigkeit unseres Selbst- und Weltverhältnisses zumindest partiell in ein kritisches Visier zu nehmen, um zumindest einen transitorischen Spalt zu öffnen. Foucault führt das in seinem Verständnis von Subjektivierung ja vor Augen. Die Arbeit am eigenen Maßstab kann freilich bedeuten, jenen Spalt zwischen beiden zu vergrößern. Das Defiziente, sofern dieser Begriff hier benutzt werden soll, erfährt damit eine Umkehrung der Pfeilrichtung: Nicht mehr vorgegebene gesellschaftliche Maßstäbe sind zu erfüllen, sondern die je eigenen. Dass dies freilich auch individualistische Züge annehmen kann, ist hier außen vor zu lassen, bleibt aber für die Praxis zu beachten und zu bedenken. Auch wenn also eine pathologische Betrachtung vermieden wird, bleibt im Denken von Transformation unvermeidlich eine irgendwie geartete Differenz bestehen. Diese muss aber gerade nicht so unversöhnlich sein, weil im gemeinsamen Gespräch ebenjene Dimension der Anderen und des Gesellschaftlichen selbst mit ins Denken einbezogen wird. Eine »Richtgröße« kann auf einer basalen Ebene auf die Frage bezogen sein, was es heißt, gut Mensch zu sein (Böhme 2016). Die Möglichkeiten der Beantwortung richten sich dann auf das Wie des Vollzugs des Menschseins – eine Ausrichtung, der sich abseits von einem Essenzialismus folgen lässt. Aus der Perspektive existenzphilosophischen Denkens stellt sich die Differenz eben als eine Defizienz dar, deutlich etwa in Heideggers Unterscheidung vom unabgehobenen und abgehobenen Selbst bzw. von uneigentlich und eigentlich, also einer defizienten und einer erfüllten Lebensweise. 174 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Transformation des Selbst und Philosophische Praxis – Facetten und Reflexio-

Menschsein kann aus dieser Perspektive verfehlt werden. Gernot Böhme (2016, 28 ff.) hat mit seiner negativen Anthropologie den Versuch unternommen, von den Defiziten des Menschseins auszugehen, um damit Antworten auf das Wie der Lebensweise zu bekommen. Jeder sei hiernach zwar ohne Wenn und Aber Mensch, aber auch in dieser Deutung gibt es mehr oder weniger gute Weisen, gut Mensch zu sein. »Dabei ist das weniger gut ›primär‹. Es wird entdeckt, etwa durch Leidensdruck – man leidet unter einer bestimmten Daseinsform. Es wird entdeckt auch durch Reflektion, vor allem historische, weil wir als lebendige Menschen sowohl in unserer eigenen Biografie Wandel des Menschseins und damit auch Verlust menschlicher Möglichkeiten erlebt haben, aber eben auch mit Hilfe der Philosophiegeschichte und der historischen Anthropologie gegenwärtig dominante Existenzweisen als defiziente einschätzen zu lernen.« (Böhme 2016, 30)

Es ist und soll hier gar nicht der Ort sein, um für die eine oder die andere Seite zu argumentieren. Vielmehr geht es darum, auf ein Spektrum von möglichen Perspektiven zu verweisen, die in Gesprächen bedacht werden bzw. indirekt oder direkt zur Geltung kommen können. Auch hier macht sich die Notwendigkeit einer gewissen Kenntnis eines philosophiehistorischen Hintergrunds bemerkbar. Was hier holzschnittartig skizziert ist, sieht in den konkreten Fällen sehr unterschiedlich aus und muss nicht zwangsläufig in einen größeren »Spalt« münden. Philosophische Praxis, wie sie hier verstanden wird, ist zwar keine Anpassungsarbeit an bestehende gesellschaftliche Verhältnisse, aber sie muss auch nicht dogmatisch in die entgegengesetzte Richtung verlaufen. Sie ist, so verstanden, sowohl Arbeit im Umgang mit dem Pathischen als auch Arbeit an existentieller Freiheit und es richtet sich nach ihren Gästen, welche Wege in ihr gegangen werden. Ihre Stärke entsteht in diesem Zusammenhang durch die Verbindung zu einem philosophischen Hintergrund, zu dem schon Gedachten, das hier zur sprachlichen und denkerischen Orientierung dienen kann (siehe dazu etwa auch Lahav 2017). Es scheint am Ende wieder eine Sache der Haltung zu sein, wie dem Gast begegnet wird. Denn insofern der Philosoph ein, nennen wir es, transformatives Weltbild hat, liegt ja die Neigung nicht fern, in diese Richtung auch zu wirken, d. h. sie dem Gast vor Augen zu führen. Damit hat unsere Zeit m. E. ein Problem, wird doch überall eine teils übertriebene Neutralität gefordert, um die Autonomie des

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Ausblick I: Philosophische Praxis als transformative Praxis?

Gastes in keinem Falle zu unterminieren. Es ist m. E. eine höchstpersönliche Angelegenheit des Philosophischen Praktikers und letztlich der Haltung, damit adäquat umzugehen. Es spricht nämlich, so die hier vertretene Auffassung, nichts wirklich Überzeugendes dagegen, Gästen diese Problematik auch vor Augen zu führen. Dabei muss ich den Gast nicht selbst als defizitär betrachten. Solange der immer wieder genannte nicht-dogmatische Stil zur Geltung kommt, scheint das Vor-Augen-Führen sogar geboten zu sein. Indem ich die Sache zur Sprache bringe und damit als einen gemeinsam zu untersuchenden Gegenstand ins Spiel bringe, handle ich gerade nicht übergriffig. Es ließe sich ja auch umgekehrt fragen, ob es denn wirklich verantwortlich sei, diesen möglichen Weg aus falsch verstandener Neutralität gar nicht aufzuzeigen. Wie das gut gelingen kann, ist letztlich eine Frage der Erfahrung, der je eigenen Kunstfertigkeit im Hinblick auf Philosophische Praxis und damit wiederum auch der Haltung. Oben wurde der Blick auf ein nicht-dogmatisches, emanzipativkritisches, aber nicht anklagendes und nicht verheißendes Philosophieren gelegt. Wie, so stellte sich die Frage, kann diese Art von undogmatischer, nicht anklagender und nicht prophetischer Kritik hier gelingen? Dabei wurde die Frage aufgeworfen, ob ein Denken, das sich in der Theorie einer anderen Welt spiegele (U. J. Schneider) nicht verbraucht sei. Diese Frage drängt sich im Lichte des Transformativen natürlich auf. M. E. kann aber gerade die Philosophische Praxis darauf eine Antwort geben, die hier mit der groben Feder gezeichnet werden soll: Die Tätigkeit des Praktikers besteht i. d. R. nicht darin, eine kritische Rede zu halten, sondern kritisch zu sprechen und zu fragen – und natürlich zu hören. Die »bessere Welt«, das »bessere Selbst« oder die »bessere Haltung« können nur dann das Problem sein, wenn sie vor allem vom Praktiker stammen. Was hier trivial erscheint und vielleicht sogar weitgehender Konsens ist, gestaltet sich in der Praxis vielleicht nicht ganz so leicht. Das ist vor allem eine Sache der Haltung, die das nötige Bewusstsein zur Geltung kommen lässt und die sich angesichts dieser Gefahr nicht ängstlich zurückzieht und völlig enthält, sondern trotzdem engagiert im Dialog das rechte Maß an Kritik enthält. Beide Dialogpartner können ja durchaus ihren Anteil an der Herauskristallisierung dieses »Anderen« haben. Es kann eine gemeinsame Arbeit sein, zunächst vielleicht des Dekonstruierens von Falschheiten, aber eben auch des gemeinsamen Konstruierens und Probierens des vom Gast als richtig und gewünscht Erachteten. Auch hier ist Philosophische 176 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Transformation des Selbst und Philosophische Praxis – Facetten und Reflexio-

Praxis ja keine Form des betreuten Denkens, sondern der unterstützenden Ermutigung zum Selberdenken und zum Imaginieren. Sie kann in diesem Sinne auch verstanden werden als Trainieren des Möglichkeitssinns. Und dabei spielt Kritik, so wie sie oben vorgestellt wurde, eine wichtige Rolle. Philosophische Praxis, in deren Verläufen verschiedene sowohl intendiert-aktive als auch nicht-intendiert-passive Veränderungen stattfinden, Verschiebungen der Perspektiven etwa, kann zumindest potenziell als eine transformative Praxis verstanden werden – zumindest dann, wenn wir kein zu enges Begriffsverständnis von Transformation verwenden, das zu aktivistisch gedacht wird. Sie kann Anteil haben an diversen Formen von Veränderung, an transformierenden Erfahrungen und Öffnungen. Allein die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem, was es zu bedenken gilt, der Blick auf die Bedingungen der eigenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten im Leben, seien sie etwa materieller, leiblicher, sprachlicher oder sozialer Natur, verändert bereits. Vielleicht lässt sie sich diesbezüglich vor allem als eine Praxis des Zwischen, als Praxis des Mediums denken, die hier um ein gutes Verhältnis von Pathos und Response bemüht ist, die ein Gespür dafür entwickelt, auf das zu achten, was »sich ereignet«, die sich nicht so leicht in den Dienst für überzogene Selbstverwirklichungsbestrebungen und jeden Machbarkeitswahn stellen lässt. Ist Philosophische Praxis, wie sie hier vorgestellt wird, daher vielleicht am besten als eine mediopassive Angelegenheit zu denken, als eine mediale Praxisform? 69 Was könnte das bedeuten? Wie lassen sich Pathos und Response in einer solchen Vorstellung bewusstmachen und fördern? Welche Rolle könnten hier gewisse Formen der Selbstzurücknahme spielen? Muss nicht Transformation selbst viel stärker als eine mediale Bewegung verstanden werden? Im Hinblick auf Selbsttransformation kann Philosophische Praxis einerseits als eine Begleiterin der Transformation verstanden werden, andererseits als Teil einer Übungspraxis selbst – wobei der Unterschied zwischen beiden Formen der Teilhabe auch fließend gesehen werden kann. Im ersten Fall findet die »Übung« vorwiegend »außerhalb« Philosophischer Praxis statt. Ein Gast reflektiert im Gespräch Auf die Bedeutung der grammatikalischen Form des Mediums bzw. Mediopassiv, das etwa im Altgriechischen, Sanskrit oder Japanischen für ein Denken und Handeln zwischen Aktiv und Passiv eine interessante Rolle spielt, hat Rolf Elberfeld (2017, 328 ff.) hingewiesen. Dem gilt es, so das Bestreben, weiter nachzugehen.

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Ausblick I: Philosophische Praxis als transformative Praxis?

seine gemachten Erfahrungen, bisweilen auch jene aus transitiven Momenten, was bisweilen subliminale Spuren hinterlassen kann, die später noch räsonieren und wirken können. Im zweiten ist Philosophische Praxis selbst in eine umfangreichere Übungspraxis involviert – etwa in eine der von Mall/Peikert vorgestellten reflexivmediativen-transformativen Praktiken. Die andernorts (vgl. Krauß 2022) dargestellte Idee von Philosophischer Praxis, wie sie Ran Lahav vertritt, geht genau in diese Richtung. Zudem könnten in einem experimentell-transgressiven (Deleuze) bzw. phänopraktischen Sinne (Rombach, Elberfeld) transitive Momente selbst hervorgerufen werden. 70 Insgesamt soll hier der terminologische Vorschlag gemacht werden, davon zu sprechen, dass Philosophische Praxis derart in eine Weisheitspraxis mündet, die ein eigenes Erfahrungs- und Erkenntnisprogramm darstellt und nicht nur aus Reflexion, Prüfung, Abwägung und Rechtfertigung besteht. Mit dieser Unterscheidung soll deutlich werden, dass sie als Teil einer »größeren« Praxis verstanden werden kann. An dieser Stelle gilt es, weiter zu forschen und zu schauen, wie dies unter den heutigen Bedingungen praktikabel zu verwirklichen ist.

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Vgl. dazu die Ausführungen im Abschnitt über das Transformatorenwerk Leipzig.

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10. Ausblick II: Die Frage nach Philosophischer Praxis als Institution

Schließlich soll noch ein kleiner Ausblick auf eine Angelegenheit gegeben werden, die für die Zukunft Philosophischer Praxis, die im folgenden Gedankengang als eine potenzielle Institution gedacht werden soll, m. E. von nicht unwesentlicher Bedeutung ist. Es geht dabei weniger um die Frage, mit welchen konkreten Maßnahmen es ihr gelingen kann, eine gesellschaftliche Institution zu werden, sondern eher darum, einige Argumente vorzubringen, warum es für die heutige Gesellschaft denn wünschenswert sein könnte. Es handelt sich lediglich um Ausblick und Anregung zum Weiterdenken und zur Diskussion, keine abschließende Beurteilung. Mit dem soziologischen Begriff der Institution sollen hier zunächst »Normen-, Handlungs- und Beziehungsprogramme verstanden werden, die für große soziale Gruppen bestimmte Lebensbereiche strukturieren sowie soziale Identität und Stabilität stiften« (Pries 2017, 144). Sie sorgen für ein hohes Maß an Verhaltensabstimmung und Verlässlichkeit, die das alltägliche Leben prägen, ebenso wie gesellschaftliche Entwicklung in ihrer Gesamtheit. Institution meint in diesem Sinne eine Sinneinheit von habitualisierten Formen des Handelns und der sozialen Interaktion. Institutionen sind damit soziale Tatbestände, die das menschliche Handeln regeln und soziale Ordnung ermöglichen (vgl. Hasse/Krücken 2008; Gukenbiehl 2016). Für den vorliegenden Kontext geht es vor allem um ihre Funktion bzw. Wirkung, also darum, dass sie Dinge für uns selbstverständlich machen, dass wir Institutionen und die mit ihnen verbundenen Aspekte mehr oder weniger kennen – all das, weil wir »mit ihnen« sozialisiert wurden. Wir wissen etwa, was eine Ehe ist, welche Rollen mit ihr verbunden sind, wie sie zustande kommt usw. Wir wissen, was Psychotherapie ist, warum »man« da hingeht und wie das abläuft. All das wissen wir je nach Bildungsstand und eigener Erfahrung mehr oder weniger genau. Je mehr und je besser Menschen in einer Gesellschaft

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Ausblick II: Die Frage nach Philosophischer Praxis als Institution

eine Institution kennen, desto stärker ist auch der Charakter als Institution. Ein Teil der Sozialphilosophie interessiert sich bezüglich der Institutionen für deren Charakter sowie deren Gut- oder Schlechtsein im Hinblick auf ein gutes Leben oder die Themen Freiheit und Gerechtigkeit (vgl. etwa Honneth 2011; Jaeggi 2009b): Institutionen können sich als wichtige Elemente des Freiheitsvollzugs erweisen. Sie sollen entlastend für das Leben sein und können als gut gelten, wenn die Individuen ihre Interessen realisieren und sich mit ihnen identifizieren können (vgl. Jaeggi 2009b, 542). Sozialphilosophische Untersuchungen beschäftigen sich aber auch mit ihrem möglichen Scheitern. Zunächst ist etwas genauer festzuhalten, dass es sich bei Institutionen um etwas handelt, das »gleichzeitig gegeben und gemacht« ist; sie sind »Resultate menschlichen Handelns, stellen sich aber selbst ihren Urhebern in mancher Hinsicht als unverfügbar dar« (Jaeggi 2009b, 529). Sie enthalten damit gewisse Glaubensvorstellungen, die sich auf die damit verbundenen Verhaltensweisen von Akteuren beziehen. Diese Verhaltensweisen sind wiederum gesellschaftlich vorgegeben und geregelt. Rahel Jaeggi (2009b, 532 f.) deutet Institutionen als »durch soziale Praktiken konstituierte Einrichtungen mit Gewohnheitscharakter, die mehr oder weniger komplexe Systeme dauerhafter wechselseitiger Verhaltenserwartungen darstellen, mehr oder weniger stabile Statuspositionen etablieren und sich durch öffentliche Wirksamkeit und Anerkennung auszeichnen.«

Im Fokus stehen insgesamt die konstitutiven Regeln (sozialen Praktiken und Normen), die instituiert bzw. eingerichtet oder gestiftet werden. Institutionen besitzen außerdem einen kodifizierten Charakter, wobei die rechtliche Fixierung nur eine spezielle Form der Kodifizierung darstellt. 71 Von einer (bereits bestehenden) Institution Philosophische Praxis, die zur Infrastruktur menschlichen Zusammenlebens gehört – Rahel Jaeggi (2009b, 528) spricht diesbezüglich vom »Rückgrat des Sozialen« – lässt sich nach dieser Lesart derzeit wohl nicht sprechen. John Searle (2011, 122–136) hat die Entstehung von Institutionen auf seine Weise formelhaft als eine Statusfunktionszuweisung in Verbindung mit einer kollektiven Intentionalität zur Schaffung institutioneller Wirklichkeit beschrieben und diesem Vorgang die Form X zählt als Y im Kontext K gegeben.

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Ausblick II: Die Frage nach Philosophischer Praxis als Institution

Auch wenn es über den Bekanntheitsgrad von Philosophischer Praxis keine Informationen gibt, kann er wohl als äußerst gering eingeschätzt werden. Eine Institution, so Searle (2011, 125), lebt und überlebt nun einmal auf der Basis von Anerkennung. Für ihn ist es für die Schaffung und die fortdauernde Existenz institutioneller Tatsachen notwendig, dass »die direkt beteiligten Individuen und eine hinreichende Anzahl von Mitgliedern der relevanten Gemeinschaft fortfahren müssen, die Existenz derartiger Fakten anzuerkennen und zu akzeptieren. Weil der Status durch seine kollektive Anerkennung konstituiert wird und die Funktion für ihre Verrichtung des Status bedarf, ist es für das Funktionieren wesentlich, daß die Akzeptanz des Status fortdauert.«

Und so kann er das Prinzip aufstellen: »Je größer die Bedeutung des neuen institutionellen Status ist, desto eher sind wir geneigt zu fordern, daß er durch explizite, nach strikten Regeln zu vollziehende Sprechakte geschaffen wird.« Angesichts dieser Eindrücke könnte mit etwas positiver Stimmung vielleicht sogar behauptet werden, dass es sich bei Philosophischer Praxis um eine werdende Institution handelt. Diese Überlegungen mögen auf den ersten Blick etwas haarspalterisch und eher belanglos wirken. Am Ende wird aber zu zeigen sein, dass es sich bei der skizzierten Situation um eine Weggabelung handeln könnte. Wenn sich die Institutionalisierung mit der Bekanntwerdung vollzieht, ist die Frage zu stellen, was genau es ist, das da als Philosophische Praxis bekannt wird. Oben wurde dies auch als Außenperspektive bezeichnet. Wie ist es nun um die Philosophische Praxis bestellt? Oben wurde auf ihre aktuelle Standortbestimmung, die Donata Romizi vorgenommen hat, hingewiesen. Es geht langsam ein wenig aufwärts, könnte gesagt werden: Die Philosophische Praxis (in Achenbach’scher Tradition) ist ca. vierzig Jahre alt, es gibt seit drei Jahrzehnten internationale Kongresse, im Herbst 2021 fand das jährliche Herbstkolloquium der IGPP zum 35. Mal statt, im deutschsprachigen Raum gibt es sogar drei (Aus-)Bildungsgänge, einer davon universitär, und das populär-gesellschaftliche Interesse an Philosophie wächst. Was die tatsächliche Nachfrage angeht, so zeigt sich ein differenziertes Bild. Es ist geprägt von Veranstaltungen verschiedener Art mit mittlerem und teils sogar großem Zulauf von Gästen, aber auf der Ebene philosophischer Lebensberatung tut sich vergleichsweise wenig. Die 181 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Ausblick II: Die Frage nach Philosophischer Praxis als Institution

Nachfrage ist nach wie vor eher gering – und das hat tatsächlich, um es einfach zu formulieren, viel mit der fehlenden Bekanntheit zu tun. Philosophische Praxis ist eben noch keine Institution. Das ist nun alles nicht neu und wurde schon oft festgestellt. Interessant scheint an dieser Stelle zu sein, einen Blick auf die Entstehung der Institution zu werfen, die im Diskurs der Philosophischen Praxis so oft als Kontrastfolie gedient hat. Die Soziologin Eva Illouz (2009) ist in ihrem Buch Die Errettung der modernen Seele dem Erfolg der Psychotherapie auf der Spur. Auf die Frage, welche Bedingungen die erfolgreichsten Ideen erfüllen müssen, hat sie zunächst drei Antworten parat, die sie als pragmatisch bezeichnet (tatsächlich an William James orientiert): 1) Sie müssen irgendwie zur Gesellschaft passen, insbesondere die sozialen Erfahrungen der Akteure verständlich machen, 2) sie müssen in unsicheren oder konfliktbeladenen Bereichen sozialen Verhaltens Orientierung bieten und 3) sie müssen in sozialen Netzen institutionalisiert sein und zirkulieren. Illouz verweist vor allem auf den pragmatischen Aspekt, der auf die große Relevanz der Hilfestellung für die Menschen verweist (egal ob Orientierung, Lösungs- oder Entscheidungshilfe etc.). Kulturelle Ideen seien dann erfolgreich, wenn sie es dem Selbst ermöglichen, verschiedene Aspekte seiner Umwelt in Erzählungen, Bezugsrahmen und Metaphern einzubinden, die in den gegebenen institutionellen Kontexten funktionieren. Es scheint, als ob hier vor allem auch das Alltägliche bzw. die praktische Hilfe für den Alltag eine große Rolle spielt – sei dies im Arbeitskontext oder privat. Was nun Philosophische Praxis angeht, so bleiben an dieser Stelle viele Fragen offen – z. B. die nach dem Verhältnis von Philosophischer Praxis mit ihren konkreten Formaten und Markt, zu der Eva Maria Eder-Seela (2017) umfangreich Stellung genommen hat. Philosophische Praxis macht es sich selbst nicht immer leicht – die in Teil 1 angesprochene Verweigerung, Bedürfnisbefriedigung zu leisten (siehe v. a. Achenbach oder Lahav) und sich gegenwärtigen Logiken wie Selbstvermarktungs- oder Vernutzungszwang (vgl. 11) zu unterwerfen, scheint ja in gewisser Weise konträr zur heutigen Praxis von Dienstleistung und Marketing zu sein. Das ist immer wieder ein heikles Thema. Dazu gehört außerdem die so oft erörterte Frage nach der Abgrenzung zu anderen Disziplinen oder eben die nach einer Öffnung – vor allem müsste es dabei um eine günstige und verständliche Kommunikation nach außen gehen. Es kann angenommen werden, 182 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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dass die Idee eines Berufsverbandes für Philosophische Praxis darauf angelegt ist, der Profession Philosoph bzw. Philosophischer Praktiker zu einem gewissen Erfolg zu verhelfen. Man könnte sich also an dem orientieren, was Illouz im Hinblick auf die Psychotherapie sagt. Oder man könnte einfach das, was man eigentlich schon immer macht, einfach damit vergleichen. In den oben ausgeführten Gedanken lassen sich bereits viele Gründe ausmachen, warum es für eine Gesellschaft wie unsere durchaus von Vorteil sein kann – um es einmal ganz unphilosophisch zu formulieren –, eine solche Institution wie Philosophische Praxis zu »haben«: Sie arbeitet vor allem an der Verortung und Orientierung der Individuen in der Welt und reflektiert dabei mindestens auf einer proto-ethischen und proto-politischen Ebene. Ihr geht es vor allem um Selbst- und gesellschaftliche Aufklärung. Philosophische Praxis nach der hier vorgetragenen Lesart trägt daher dazu bei, dass sich Menschen selbst besser verstehen können – insofern hilft sie dabei, sie wahrhaftiger zu machen. Sie bringt bisweilen verschiedene Menschen gemeinsam ins Denken und fördert ein anderes MiteinanderSprechen, Begegnung, Austausch und auch Vermittlung. Sie eröffnet durch das Einbringen von Perspektiven und Ideen neue Horizonte, ermöglicht aber je auch Tiefungen in bereits als verstanden Geglaubtes. Sie generiert Atmosphären und Räume, in denen gehört, gedacht, diskutiert und gestritten werden kann. Auf dialogische Weise vermag sie aber auch ein kritisches Moment einzubringen – ganz ohne einen dogmatischen Duktus. Sie arbeitet insofern an individueller sowie gesellschaftlicher Selbstaufklärung und trägt damit ihren bescheidenen Beitrag bei zu dem, was Michael Hampe (2018) als Dritte Aufklärung beschreibt und fordert. Dass diese Ansprüche bereits von verschiedenen bestehenden Institutionen erhoben werden, muss freilich Anlass zur kritischen Prüfung geben, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann. Am Ende soll aber zumindest die These aufgeworfen werden, die an anderer Stelle näher zu untersuchen wäre: Philosophische Praxis, so lautet sie, kann sowohl als eine potenzielle demokratisch-sittliche Institution (vgl. Honneth 2011) als auch als eine potenzielle proto-politische kritisch-freiheitliche Institution verstanden bzw. rekonstruiert werden. Begrifflicher Bezugspunkt ist zunächst Axel Honneths (2011) Konzeption eines Grundrisses demokratischer Sittlichkeit. Diese an Hegel anschließende Theorie der Gerechtigkeit macht die Vorstellung individueller Freiheit zum zentralen Bezugspunkt. Honneth unter183 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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scheidet dabei drei verschiedene Perspektiven: die beiden Traditionslinien der negativen und der reflexiven bzw. positiven Freiheit sowie die einer sozialen Freiheit. Während nun gesellschaftliche Institutionen, die einseitig auf einer der ersten beiden Vorstellungen fußen, Gefahr laufen, Tendenzen zu sozialen Pathologien zu entwickeln, können Institutionen sozialer Freiheit solchen Gefährdungen nicht verfallen. Erstere, zu denen exemplarisch die Kategorien des Rechts gehören, bilden zwar eine notwendige Voraussetzung zur Verwirklichung von Freiheit – und damit auch von Gerechtigkeit –, können aufgrund von Einseitigkeiten aber in einem Bereich der bloßen Möglichkeiten steckenbleiben: »Während die ersten beiden Sphären (negative und positive/reflexive Freiheit) Handlungs- und Wissensbereiche bilden, innerhalb deren sich der einzelne seiner intersubjektiv akzeptierten und gesellschaftlich verankerten Möglichkeiten eines Rückzugs aus der sozialen Lebenswelt versichern kann, stellt nur der dritte Typus von Institutionen tatsächlich Handlungssphären bereit, in denen in unterschiedlichen Formen des kommunikativen Handelns soziale Freiheit erfahren werden kann« (Honneth 2011, 124 f.).

Honneth (2011) hat im Hinblick auf unser Zusammenleben auf die Notwendigkeit vermittelnder Institutionen hingewiesen: Kommt der intersubjektive Charakter von Freiheit in ihrer sozialen Dimension in den Blick, so wird die Relevanz vermittelnder Institutionen evident, besteht die Funktion solcher doch darin, »die Subjekte vorgängig über die Verschränktheit ihrer Handlungsziele informiert sein zu lassen« (ebd., 123). Es bedarf demnach Institutionen wechselseitiger Anerkennung, »um der reflexiven Freiheit des einzelnen tatsächlich zur Verwirklichung zu verhelfen«. Philosophische Praxis, nicht nur als philosophische bzw. existentielle Lebensberatung, könnte diesbezüglich untersucht und gedacht werden. Insofern in ihr soziale Freiheit im Sinne wechselseitiger Anerkennung selbst zentraler Gegenstand ist, könnte sie in dieser Hinsicht vielleicht sogar als eine Meta-Institution bezeichnet werden. Es scheint nicht unsinnig zu sein zu behaupten, dass durch ihr Wirken nicht nur Menschen wahrhaftiger werden können, sondern eben auch menschliche Praktiken und Institutionen. Das mag nach Verheißung klingen, die hier ja durchaus kritisch betrachtet wird, aber all die genannten Gründe sprechen durchaus dafür, dass dieses Potential besteht.

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Um zurückzukommen auf die Frage, warum Gesellschaft ein Interesse an Philosophischer Praxis als einer Institution haben könnte, so sei hier, am Ende des zweiten Teils, der doch immer wieder den Menschen (den Gast) in Verwobenheit mit Gesellschaftlichem gedacht hat, auf die Sozialphilosophie verwiesen, wo etwa Rahel Jaeggi und Robin Celikates (2017, 22) meinen: »Die Möglichkeit, in einer guten, gelingenden Gesellschaft zu leben, ist Teil dessen, was Individuen in ihrer Selbstverwirklichung erstreben. Individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung lassen sich demnach nicht unabhängig von Sozialität, dem Eingelassensein in soziale Bezüge, anstreben oder erreichen.«

Dass es der vorliegenden Interpretation Philosophischer Praxis dabei insgesamt weniger um bloße Einhausung in die Welt als vielmehr um Erkenntnis, Verstehen und Mitgestaltung geht, sollte deutlich geworden sein. Vielleicht spannender scheint m. E. aber schließlich die Idee der kritischen Freiheit zu sein. Dabei handelt es sich um eine Ergänzung der genannten Freiheitskategorisierung, die im Anschluss an Foucault jüngst Karsten Schubert (2018) vorgenommen hat. In dieser Ergänzung geht es darum, deutlicher zu machen, dass Freiheit bzw. Autonomie stärker an Kritik gebunden sein müsse. Im Fokus steht auch die Frage nach den Möglichkeiten und Einschränkungen von Autonomie, die bei Foucault vor allem mit dem oben bereits thematisierten Begriff der Subjektivierung (Subjekte werden durch Macht konstituiert; Macht ist dabei produktiv) und mit einer kritischen Auseinandersetzung mit Macht verbunden ist. Wenn Philosophische Praxis verschiedentlich antritt, Freiheit ins Zentrum ihrer Tätigkeit zu rücken, so kommt sie m. E. an einer Diskussion darüber nicht vorbei. Dies gilt beispielsweise für die Frage nach der Rolle von parrhesia in Philosophischer Praxis. Lässt sich Philosophische Praxis als ein Ort der parrhesia verstehen – in einem gewissen Sinne auch als ein Ort des Wahrsprechens gegen die Ordnung? Welche Bedeutung hätte dies in Zusammenhang mit Gesellschaftlichem? Bei Schubert (2018, 305 ff.) geht es am Ende darum, zu fragen, ob und wie es eine politische Institution vermag, bei Menschen die Fähigkeit zur reflexiven Kritik der eigenen Subjektivierung zu entwickeln. Dies sei deshalb von zentraler Bedeutung, weil durch diese »Operation der Kritik, diese Arbeit an sich selbst« die Transformation des Subjektes gelingen und es sich von seinen »konstituiert habenden 185 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Ausblick II: Die Frage nach Philosophischer Praxis als Institution

Subjektivierungen« emanzipieren könne. Es ist klar, dass dies an anderer Stelle näher ausgeführt und genauer diskutiert werden muss, insbesondere was die Berücksichtigung der pathischen Dimension des Menschen anbelangt. Insbesondere letzteres kann das Bewusstsein für die Notwendigkeit humanerer Umgangsweisen schaffen. Eine kritische Institution selbst beinhaltet vor allem die stete Ausübung einer Selbstkritik, einer Selbstaufklärung – auch über die eigene Gebundenheit und die Grenzen des Möglichen. In diesem Sinne ist sie auch Korrektiv. Die immer wieder neu aufgeworfenen und diskutierten Fragen, was denn Philosophische Praxis nun eigentlich sei, was sie soll und was ihr Ziel sei, wo ihre blinden Flecken sind oder wo sie Vernutzungstendenzen aufweist, zeugen ein Stück weit davon, dass die potenzielle Institution diesbezüglich auf einem guten Weg ist. 72 Wenn Philosophie eine Systemrelevanz für eine aufgeklärt-demokratische Gesellschaft beansprucht, dann könnte das aus den genannten Gründen insbesondere ihre lebendige Weise Philosophischer Praxis für sich in Anspruch nehmen – vorausgesetzt, sie kann dort und derart wirken, wo es an Selbstaufklärung, Orientierung, Bewusstsein für die Verbundenheit mit anderen und der Welt bis hin zur Mündigkeit mangelt. In diesem Sinne wäre sie auch nicht-dogmatisches Korrektiv.

Vgl. als Dokumentation dazu exemplarisch den ersten Band der Schriften der IGPP von 2009, hrsg. von Thomas Gutknecht, Thomas Polednitscheck und Thomas Stölzel: Philosophische Lehrjahre. Beiträge zum kritischen Selbstverständnis Philosophischer Praxis, Berlin.

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Teil III: Philosophische Praxis im Kontext von Haltung und Lebensform

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Philosophische Praxis im Kontext von Haltung und Lebensform

Zunächst ein kleiner Rückblick auf die vorangegangenen Ausführungen: Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts führte Gerd B. Achenbach die Philosophische Praxis als neue professionelle Form der Lebensberatung ein. Mit diesem neuen und unbesetzten Begriff knüpft er an alte Traditionen an – an, wie er später sagen wird, »die anfängliche Tradition einer an praktischer Bewährung interessierten Philosophie, die sich um eine anerkennungsfähige Lebensform bemühte« (Achenbach 2010, 105). Im Hinblick auf die institutionalisierte akademisch-universitäre Philosophie wollte sich Philosophische Praxis von Anfang an als eine Alternative, Ergänzung, ja Herausforderung empfehlen. »Philosophie, sie vor allem und vor allen andern Wissenschaften, gedeiht nicht in der keimfreien Luft universitärer Denklabore […] Praktisch wird Philosophie im Philosophen als dem gemeinsam mit anderen dialogisch denkenden Wesen«, sei Achenbach (ebd. 204/206) hier exemplarisch zitiert. Mit der Orientierung am Dialogisch-Gemeinsamen sowie an der praktischen Bewährung in der Welt schließt Philosophische Praxis auch an antike Ideen an. Dort spielen insbesondere fortwährende Praxis und nie endende Übung eine zentrale Rolle für eine gute Lebensführung. Der markante Charakter antiker Philosophie lässt sich auch darin ausmachen, dass sich diese durch Diskursivität sowie gemeinschaftliche Denk- und Lebensformen ausgezeichnet und gerade auch dadurch eine ethische und politische Ausrichtung in der Welt hervorgebracht hat. Philosophie zeigt sich als lebendiger und gelebter Vollzug – sie ist ausgerichtet auf die Auseinandersetzung mit Existenz bzw. darauf, das Leben gut meistern zu können. Auf diesen Grundlagen fußt die in dieser Arbeit vorgestellte Idee von Philosophischer Praxis. Ihre Praxis selbst, die auszuprägende und zu kultivierende Haltung und die damit verbundene Lebensform sind orientiert an verschiedenen Leitgedanken. Philosophische Praxis wurde als die Idee einer Räume öffnenden Praxis ausgewiesen, die auf eine besondere dialogische, nicht-dogmatische Art des Miteinander-Sprechens und Miteinander-Philosophierens auf verschiedene Weise wirken kann, nämlich begegnend und kritisch zugleich – beides schließt sich gerade nicht aus –, welterschließend und -öffnend, mindestens proto-politisch und ethisch, orientierend, verstehend und transformierend. Es war außerdem ein Anliegen der Arbeit, stärker eine Idee von Philosophischer Praxis ins Zentrum zu rücken, die über die Fokussierung auf existentielle Lebensberatung hinausgeht – wobei es vor allem auch darum ging, den Horizont für einen realisti189 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Philosophische Praxis im Kontext von Haltung und Lebensform

schen beruflichen Wirkungskreis von Philosophen zu weiten. Die an den genannten Leitgedanken orientierte Weise kann sich in verschiedenen Tätigkeitsfeldern und Formaten zeigen. Das gilt nicht nur für bereits etablierte philosophische Praxisformate wie Cafés, Salons oder Lesekreise, sondern auch für Aktivitäten in vorwiegend von Personen mit anderen akademisch-beruflichen Hintergründen besetzten Formaten wie Supervision, Mediation oder Coaching, für Organisationsentwicklung oder für die Partizipation in verschiedenen Forschungsund Entwicklungsprojekten, ja für das Engagement in gesellschaftlichen Transformationen allgemein. Auf mancherlei Art kann sie sich als Teil interdisziplinärer Zusammenarbeit erweisen. Philosophische Praxis ist dabei also gerade nicht im Sinne einer Eier legenden Wollmilchsau zu verstehen. Sie kann letztlich überall dort zur Geltung kommen, wo Philosophen mit entsprechenden Haltungen wirken. Was für die jeweilige eigene Praxis und Haltung gilt, gilt insbesondere für die Lebensform im Ganzen: Wie diese philosophische Lebensform für die einzelnen Protagonisten nämlich jeweils aussehen soll, zeigt sich erst in ihrem probierenden Vollzug selbst. All dies sind Aspekte, die auch für das interdisziplinäre Projekt, das im letzten Teil exemplarisch in groben Zügen vorgestellt werden soll, von grundsätzlicher Bedeutung sind. Zuvor wird aber Philosophische Praxis unter einer letzten Perspektive betrachtet, nämlich als eine Idee, die sich auch in Form von Haltung und Lebensform manifestieren kann.

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11. Philosophische Praxis im Spannungsfeld spätmoderner Subjektkultur

An dieser Stelle soll an die oben skizzierte Frage nach dem Verständnis Philosophischer Praxis angeknüpft werden. Insbesondere soll gefragt werden, welche Rolle sie im Hinblick auf eine spätmoderne Subjektkultur spielen kann. Zunächst sei an die Definition Philosophischer Praxis von Wahler erinnert, die von einer Hilfe zur Selbsthilfe spricht und die Problemlösungsfunktion einer solchen Praxis beschreibt. 73 Nimmt man den philosophischen Bezug dieser Definition weg, erinnert sie stark an das Format Coaching, insbesondere das sog. Life-Coaching. Hier sei kurz erwähnt, dass Coaching schon längst nicht mehr nur im Business-Kontext anzutreffen ist, wo es für Zwecke der Leistungssteigerung, Selbstoptimierung oder ähnliche Leitideen dienen soll, sondern auch von Privatpersonen in Anspruch genommen wird, die sich beispielsweise eine Verbesserung ihrer Lebenssituation versprechen, an einer Aufarbeitung eines vergangenen Erlebnisses interessiert sind oder eine Orientierung wünschen, weil sie im Leben in eine Sackgasse geraten sind. Und in diesem Sinne wird auch der Anspruch erhoben, einen Beitrag zur »Die Philosophische Lebensberatung ist eine Beratung in Lebensfragen auf philosophische Weise. Eine Beratung ist eine von einer ausgebildeten Person (Berater) ausgehende und an eine ratsuchende Person (Klient) gerichtete kommunikative Hilfe zur Selbsthilfe auf der Grundlage von Theorie und Methode mit dem Ziel, das die Beratung initiierende Anliegen des Klienten zu einer gemeinsam zu definierenden und vom Klienten zu evaluierenden Lösung zu führen. Lebensfragen sind Fragen (Probleme, Krisen, Anliegen) des Klienten, die so allgemein sind, dass sie über ihren situativen Entstehungskontext hinausweisen in das Ganze des Lebens – d. h. sie sind in der Regel Fragen nach Lebensorientierung, grundlegenden Lebensweisen, Lebensplanung, wegweisenden Entscheidungen, dem Sinn eines Ereignisses oder des Lebens als Ganzem. Philosophisch ist diese Lebensberatung einerseits durch die philosophische Ausbildung des Beraters, andererseits dadurch, dass sie sich kritisch und flexibel gegenüber ihrer eigenen Theorie und Methode verhält, was sich in der Möglichkeit eines methodologischen Diskurses während der Beratung niederschlägt.« (Wahler 2013, 152).

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Selbsterkenntnis der Klienten zu liefern: »Einen dialogischen Raum für die Vermehrung von Wissen über sich selbst zu schaffen, ist die professionelle Aufgabe des Coach.« (Martens-Schmid 2011, 63) Neben der Erweiterung des Wissens über sich selbst steht ebenso die Anregung zur Selbstreflexion – alles Ansprüche, die auch Philosophische Praxis erhebt. 74 Insofern ist unter Dienstleistungsgesichtspunkten m. E. schon längst nicht mehr (nur) die Psychotherapie, deren Verhältnis zur Philosophischen Praxis im Diskurs lange und ausgiebig besprochen wurde, der »Konkurrent Nummer 1« auf dem Markt. 75 Was die sogenannte Außenperspektive betrifft, können Philosophische Praxis und Coaching sehr nah beieinander liegen. Das kommt sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite natürlich auf die jeweilige Ausrichtung an. Insofern können beide auch recht konträr betrachtet werden. Björn Migge (2014, 30) definiert Coaching wie folgt: »Coaching ist eine gleichberechtigte, partnerschaftliche Zusammenarbeit eines Prozessberaters mit einem gesunden Klienten. Der Klient beauftragt den Berater, ihm behilflich zu sein: bei einer Standortbestimmung, der Schärfung von Zielen oder Visionen sowie beim Entwickeln von Problemlösungs- und Umsetzungsstrategien oder bei dem gezielten Ausbau von Kompetenzen und oder der verantwortungsvollen Steigerung von Leistungen: Die Klienten sollen durch die gemeinsame Arbeit an Klarheit, Handlungs-, Leistungs- und Bewältigungskompetenz gewinnen. Langfristig soll dies zu einer besseren Lebensqualität und Übereinstimmung von Werten und Lebenswirklichkeit des Klienten führen. Coaching ist eine handlungs- und ergebnisorientierte Interaktion.«

Zumindest in dieser Definition lässt sich ein einseitiger Kontrast, wie er bisweilen postuliert wird – der Philosophischen Praxis gehe es um die Sorge um die eigene Seele, im Coaching ginge es um die Sorge um In der modernen Sprache des Coachings heißt dies: »Zunächst geht es um die Ebene der Musterwahrnehmung, in der die Unmittelbarkeit des Kontakts zwischen Klient und Coach zum Tragen kommt und für den Prozess nutzbar wird. Reflexionsfördernde Dialoggestaltung ist dann das Medium, in dem wahrgenommene Muster thematisiert und zugänglich gemacht werden. Schließlich möchte ich die Aufmerksamkeit auf besondere interaktive Ereignisse lenken, die als Veränderungsmomente beschrieben werden können.« (Martens-Schmid 2011, 63). 75 Ähnliches gilt freilich bzgl. der Supervision, die in Teilen in mancher Hinsicht nicht so weit weg ist von Philosophischer Praxis (vgl. etwa Weigang 2012; Heintel/ Ukowitz 2017) und hinsichtlich der eine vergleichende Skizze aber wohl weniger kontrastreich ausgefallen wäre. 74

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Philosophische Praxis im Spannungsfeld spätmoderner Subjektkultur

das eigene Fortkommen – auf den ersten Blick nicht ausmachen. Dass es in der Praxis des Coachings nicht selten um genau jenes persönliche Fortkommen geht, soll an dieser Stelle gar nicht bestritten werden. Als nicht unproblematisch erweist es sich vielleicht weniger dann, wenn Coaching in einem soteriologischen Gewand auftritt, als vielmehr dann, wenn suggeriert wird, dass es für das persönliche »Bestehen« in der (Arbeits-)Welt eigentlich unerlässlich sei – daher heute auch die starke Verbindung zu Vorstellungen wie Resilienz oder Schlagworten wie VUCA-Welt. Coaching trifft als Dienstleistung nicht einfach nur auf eine Nachfrage am Markt. Es heizt durch einen marketinggetriebenen Überbietungswettbewerb, der Erlösung durch Fortkommen verheißt, nicht selten aber Angst vor einem sog. persönlichen »Stillstand« hervorruft, die Maschinerie erst richtig an. Rosa (2016, 691) spricht diesbezüglich ja gerne von den slippery slopes, den rutschigen Abhängen spätmoderner Lebenswirklichkeiten: »Ohne die Bereitschaft zur Veränderung der je eigenen beruflichen und familialen, religiösen und politischen, ehrenamtlichen und ästhetischen Position laufen Individuen stets Gefahr, ihren Platz in der Sozialordnung zu verlieren und einen gravierenden Ressourcen- und damit Weltreichweitenverlust hinnehmen zu müssen […] Die Welt, in die wir uns gestellt finden, ist nicht einfach nur dynamisch, sondern sie befördert uns in jedem Moment gleichsam abwärts, so dass wir (immer schneller) nach oben laufen müssen, um unseren relativen Platz zu halten. Augenfällig wird dies im Hinblick darauf, dass ohne Aktualisierungs- und Steigerungsbemühung unsere Hard- und Software, unsere Kenntnisse und Beziehungsnetze stetig veralten und entwertet werden, während unsere erbrachten Leistungen und eroberten Positionen progressiv an Wert verlieren. Die Position, die wir der Welt gegenüber und in der Welt einnehmen, hängt daher zu jedem Zeitpunkt von unserer (je aktuellen) Performanz ab.« (Ebd., 691 f.)

Wir müssen also immer schneller laufen, um unseren Platz in der Welt zu halten. Wohl also jenen, die es sich in ihren privilegierten Stellungen leisten können, gecoacht zu werden. Über die Frage, ob mit all dem zwar kurz- und mittelfristig jene glücklichen einzelnen Subjekte in eine bessere Lage versetzt werden, soziale bzw. gesellschaftliche Schieflagen aber dadurch verhärtet bzw. noch verschärft werden, wird gestritten. Darauf kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, es sollte aber darüber nachgedacht werden, weil es sich dazu zu verhalten gilt. 193 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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In den letzten Jahren hat sich aber eben auch eine andere Praxis etabliert, die zumindest in diesem Punkt gar nicht so weit entfernt von so manchen Formen von Philosophischer Praxis ist. Eine allzu holzschnittartige Kategorisierung scheint angesichts der Entwicklungen nicht sonderlich hilfreich, wenn nicht bisweilen gar falsch zu sein. Das wirft aber die m. E. äußerst schwierige Frage nach einer Trennschärfe auf. Bernd Birgmeier (2011, 17) hat auf die Problematik der Unübersichtlichkeit im Hinblick auf die unendliche Vielfalt von Beratungsdienstleistungen und deren fluiden Charakter aufmerksam gemacht. Das, was zu untersuchen sei – Coaching in diesem Falle –, hätte eben nicht mehr den Charakter eines einfach zu greifenden, festen und unbeweglichen Objekts: »Wie, so mag sich der Wissenschaftler all diesen beratungsbezogenen Verwässerungen und heuristisch-semantischen Verschwommenheiten gegenüber fragen, kann er ob solcher ›Un(be)greifbarkeiten‹ seinem eigentlichen Auftrag gerecht werden, ein exaktes Wissen – auch über die Vielfalt und die Wirklichkeit menschlicher Praxen – zu schaffen, zu sammeln und zu systematisieren, wenn der Untersuchungsgegenstand aufgrund seines flüssigen Aggregationszustandes einfach nicht stillhalten will?«

Es gibt aber noch einen zweiten Blick – und der ist in mancher Hinsicht m. E. entscheidend: Was nämlich deutlich auffällt, ist die eher funktionalistische und zweckorientierte Sprache, die auf einen instrumentell-funktionalistischen Ansatz und ein entsprechend einseitiges Menschenbild verweist. Dies hat Coaching bisweilen den Ruf eingebracht, bloß eine Sozialtechnik zu sein, die auf besonders perfide Weise letztlich nur auf Erfolg im Sinne einer Steigerung von Effizienz aus sei. In diesem Sinne geht es hier vor allem um (Ein-/An-) Passung. Auch Philosophen könnten wachsam sein, derartige Sprache mit ihren problematischen ethisch-anthropologischen Hintergrundannahmen nicht unreflektiert und unkritisch zu übernehmen – was aber durchaus passiert. Hier sei an Habermas’ Ausführungen zur instrumentellen, funktionalistischen und zur kommunikativen Vernunft erinnert, die nach wie vor bedacht werden sollten (so wie viele andere in diese Richtung auch) – heute vielleicht stärker denn je und hier als Maßstab für das Abklopfen der eigenen Praxis. Wie letztere vor einer funktionalistischen Kolonisierung geschützt wird, die sich durch die Präsenz auf einem kapitalistischen Markt mit großer Konkurrenz durch systemische Zwänge unvermeidlich ergibt, ist freilich

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Philosophische Praxis im Spannungsfeld spätmoderner Subjektkultur

die große Frage. Bewusstheit dafür scheint dabei zumindest ein guter Anfang zu sein. Das ist m. E. aber kein Problem des Formats, sondern eines der Akteure. 76 Auch dieser Punkt wird durchaus wahrgenommen. Birgmeier (2011, 21 FN) sieht dieses Problem vor allem in solchen Ausprägungen von Coaching, die er »degeneriert« und »mutiert« nennt: »Degenerationen und Mutationen im weiten Feld des Coachings entstehen vor allen Dingen dort, wo Praxis durch eine – rein auf das (technische) Herstellen (u. a. von Marktpräsenz) und (bisweilen kopfund gedankenlose) Machen reduzierte, theoretisch, wissenschaftlich und ethisch-moralisch unreflektierte – Poiesis ersetzt wird, mit der eine wie auch immer geartete ›technische Kunstfertigkeit‹ begriffen wird. Ein wirksames Gegenmittel zum Schutz der Praxis vor solchen technisch-poietischen Entartungen ist u. a. der Bezug zur Wissenschaft und zur Philosophie (und darin insbesondere zur Ethik)!«

Die Frage ist nur, ob man es sich nicht zu leicht macht, einfach »degenerierte« und daher problematische Verfahrensweisen auszumachen, die es dann leicht zu kritisieren gilt, und nicht primär einen selbstkritischen Blick auf die vermeintlich gute Praxis werfen sollte. Gewünscht ist jedenfalls das Ideal eines »wissenschaftlich ausgebildeten Praktikers (Coachs), der weiß, was, wie und warum er etwas tut« (ebd., 25). Im Gegensatz zu dieser Deutung in »richtige« und »falsche« Coaches, in der das Genieren der Coaching-Theoretiker vor so manchen Praktikern spürbar wird, geht es in der vorliegenden Reflexion lediglich darum, dafür zu plädieren, keine undifferenzierte Generalkritik zu Zwecken der Abgrenzung zu üben, sondern eher Verbindungen, Möglichkeiten und Chancen für Philosophische Praxis in den Blick zu nehmen. Dies gilt ebenso im Hinblick auf die Notwendigkeit, mithilfe des Blicks in das Angesicht des Coachings vor der eigenen Haustüre zu kehren. Doch zurück zur Untersuchung von Wahler: Es ist nicht schwer auszumachen, wo im Hinblick auf dessen Position zur Philosophischen Praxis Übereinstimmungen (mit nuancierten Unterschieden) Dieses Problem wird ähnlich auch in angrenzenden Professionen wie der Supervision gesehen, vgl. etwa Weigand (2012, 10), wobei die Gefahr wohl primär im Hinblick auf die Professionalität gesehen wird, weniger für die eigene Person an sich: »Die Professionellen sind mit dem Marktgeschehen beschäftigt, suchen sich dort zu behaupten und konzentrieren ihre Energie nicht primär auf die kontinuierliche Entwicklung der Fachlichkeit, sondern erfinden eher neue Beratungsangebote, von denen sie sich Vorteile am Markt, vielleicht sogar ein Alleinstellungsmerkmal versprechen.«

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Philosophische Praxis im Spannungsfeld spätmoderner Subjektkultur

zum Coaching (nach Migge) vorliegen, nämlich in der Rollenverteilung (Berater/Coach, Klient) und der partnerschaftlichen, aber funktionalistisch bleibenden Arbeitsweise, Problemlösung, der etwaigen Zielorientierung sowie der methodischen Grundidee (Hilfe zur Selbsthilfe). Gerade der Blick auf die Zielorientierung scheint m. E. besonders interessant zu sein, hier: das Leben als Ganzes wird in den Blick genommen (das gute Leben?), dort: eine bessere Lebensqualität und Übereinstimmung von Werten und Lebenswirklichkeit. Inwieweit sich dies überschneidet, ist freilich Auslegungssache und zeigt sich letztlich in der Praxis selbst. Ein Unterschied fällt natürlich deutlich ins Auge, nämlich der Bezug zum Philosophischen. Hier scheint zunächst der springende Punkt in der Frage nach der Beurteilung zu sein. Geht es hier bloß um die Anwendung philosophischer Methoden? Die philosophische »Weise«, von der in Wahlers Definition die Rede ist, wäre dann möglicherweise nur eine mögliche Weise und stünde neben anderen, etwa aus dem psychotherapeutischen Kontext entlehnten Methoden, wie Psychodrama bzw. systemische oder lösungsorientierte Herangehensweisen. Ins Coaching wurden hier in den letzten Jahrzehnten diverse Methoden und Techniken aus dem großen Feld der Therapie integriert. Coaching zeigt sich im Grunde als Phänomen und Ausdruck einer Gesellschaft mit einer »therapeutisch kommunikativen Weltanschauung«, wie das die Soziologin Eva Illouz (2009) genannt hat, die den schnellen Aufstieg, den Durchbruch und das Hineindrängen der Psychologie bis in die Tiefen des Gesellschaftlichen nachgezeichnet hat. Fundament ist dabei nicht selten die Positive Psychologie, auf die man sich gerne beruft. Das scheint insbesondere deswegen so spannend zu sein, weil mit ihr in der Argumentation gerade Stellung gegen das oben kritisierte funktionalistische und instrumentelle Denken bezogen wird. Die Positive Psychologie erscheint in dieser Absatzbewegung geradezu als Retter – was wiederum die Gefahr einer Ideologisierung mit sich bringt (vgl. Reckwitz 2019, 212 ff.). In diesem Bereich gibt es neben dem NeuroLinguistischen Programmieren (NLP) auch Therapieansätze, die offenbar einen engen Bezug zur Philosophie aufweisen, wie die Logotherapie und die Existenzanalyse. Ebenso können philosophische Methoden integriert werden. Wäre es dann allerdings nicht besser, hier von einem philosophischen Coaching zu sprechen? Worin besteht hier der Unterschied? Sicherlich nicht bloß in der Methodik. Womöglich könnte es die Perspektive sein, die hier neben der Frage nach dem instrumentellen Zugang des Coaching und seinen 196 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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Vernutzungstendenzen einen Unterschied macht, denn im Coaching scheint doch das Psychologische (und mithin das Psychologisieren) eine vorrangige Stellung zu haben, die es mit der Psychotherapie teilt. 77 Ran Lahav (2017, 26) hat allerdings, wohl nicht ganz unzutreffend, darauf hingewiesen, dass dies auch in so mancher Philosophischen Praxis durchaus der Fall sei, bei der es sich dann im Grunde um psychologische Beratung vermischt mit ein paar philosophischen Elementen handele. Aber auch diese Charakterisierung trifft für Coaching so nicht pauschal zu, weil es durchaus Ansätze gibt, die nicht bloß auf ein möglichst gutes Funktionieren im System gerichtet sind, sondern auch »höhere« Ziele verfolgen. Ein m. E. sehr bedenkenswerter Aspekt aus Wahlers Definition im Hinblick auf das Philosophische ist der – und hier scheint ein wichtiger Unterschied zum Coaching aufzutauchen –, dass man sich in der Lebensberatung kritisch und flexibel gegenüber der eigenen Theorie und Methode verhalten solle und dies die Möglichkeit eines methodologischen Diskurses während der Beratung eröffne. 78 Wahler (2013, 109 ff.) setzt sich hiermit dezidiert auseinander und kommt zu verschiedenen Ergebnissen. So sei philosophische Lebensberatung nicht theorie- und methodenfrei, sondern theorie- und methodenkritisch, es ginge nicht um Methodengehorsam, sondern um Methodenflexibilität: »[S]ie will das Individuelle ihres Klienten nicht von vornherein unter einer festgestellten Theorie wegdeuten, aber sie ist sich auch den [!] theoretischen Voraussetzungen jedes Wahrnehmens sowie den [!] methodischen Voraussetzungen jedes Handelns bewusst, d. h. sie weiß um die Unausweichlichkeit des Vorverstehens überhaupt.« (Wahler 2013, 125)

Das ist freilich ein interessanter Punkt, der aber ebenfalls nicht einfach holzschnittartig und kategorisch dargelegt werden kann. Auf einer wissenschaftlichen Ebene setzen sich Coaching-Theoretiker durchaus mit den eigenen Methoden und Grundannahmen auseinander. 79 Die Frage nach der Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit Zwar spielt im Coaching vielleicht die Arbeit mit Kindheitserfahrungen keine tragende Rolle, aber Aspekte wie Abwehrmechanismen, Glaubenssysteme und Glaubenssätze, Selbstempfindungen usf. schon. 78 Vgl. ähnlich auch Lahav (2017, 34 f.). 79 Vgl. exemplarisch der von Bernd Birgmeier herausgegebene Band Coachingwissen (2011). Siehe ähnlich im Bereich der Supervision Weigand (2012). Der Umstand, dass 77

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Philosophische Praxis im Spannungsfeld spätmoderner Subjektkultur

bzw. zwischen Theorie und Praxis, die immer ebenso für Philosophische Praxis gestellt werden könnte, kann nur empirisch beantwortet werden – und dafür ist hier nicht der Ort. Am Ende lässt sich derzeit konstatieren, dass es eine Coachingpraxis gibt, die im Hinblick auf die Ziele der Arbeit so mancher Philosophischen Praxis nahesteht. Und andersherum gibt es teils stärkere Ähnlichkeiten im Hinblick auf die Methodik, aber stärkere Unterschiede im Hinblick auf die Ziele. Hier aber zur Erinnerung: An dieser Stelle geht es nicht um eine »richtige« Deutung von Philosophischer Praxis. Die Arbeitsweisen in der Praxis weisen vielerlei Unterschiede auf. So mancher Praktiker, so ist zu vermuten, arbeitet wohl tatsächlich auf ähnliche Weise, wie bei Wahler dargestellt. Für einen anderen Teil von Praktizierenden ist dies dann allerdings keine Philosophische Praxis, weil sie z. B. bestreiten würden, dass es insgesamt oder primär um das Finden von Lösungen geht, oder (und vor allem) weil sie eine derart instrumentelle Einstellung ablehnen. Besteht eine wesentliche Rolle von Philosophie nicht vielmehr darin, Fragen aufzuwerfen und auf Probleme hinzuweisen, wo andere gerade keine solchen sehen? Trotzdem darf diese Auffassung, dass es nicht um Lösungen gehe, m. E. nicht zu eng und zu dogmatisch gedacht werden, denn selbstverständlich hat man es in Philosophischer Praxis mit Menschen zu tun, die in schwierigen Situationen stecken und den richtigen Weg für sich suchen. Lösung kann hier vor allem meinen: Entscheidung, ja existentielle Entscheidung. Die Rede von Lösungen ist dabei nicht mit Lösungsorientierung zu verwechseln. Das philosophisch geschulte Auge hat den Blick für das Aporetische, für das Ausweglose. Philosophisch geht es um den Umgang mit der Ungewissheit. Das sokratische Wesen führt ja überhaupt erst hinein in die Aporie. Das mag philosophisch-theoretisch einleuchtend und richtig klingen, doch in der Praxis, in der Begegnung mit einem anderen Menschen, neigt man da nicht eher dazu, genau das nicht zu tun, nicht noch weiter fragend ins Aporetische vorzudringen, sondern stattdessen hilfegebend schnell zu befriedigenden Lösungsantworten kommen zu wollen? Genau hier stellt sich die Frage nach dem eigenen Selbstverständnis, auch nach dem eigenen Verständnis von Philosophie. »Die Frage ruht im Herzen der Antwort und verhindert jede Abschließung«, schreibt die Philosophin Donatella Di Cesare es in den jeweiligen Beispielen ausdrücklich moniert und eingefordert wird, könnte als Hinweis darauf gedeutet werden, dass es damit in der Praxis nicht gut bestellt ist.

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(2020, 78). »Fragen heißt nicht ermitteln, und nicht die Antwort drängt sich auf, sondern die Frage. Wer philosophiert, gibt sich der Leidenschaft der Frage hin, ohne zu beanspruchen, ohne sich heraushalten zu können.« (Ebd., 78 f.) Nicht heraushalten, sondern sich involvieren lassen. Das bedeutet im Hinblick auf die Radikalität philosophischen Fragens eben immer auch, sich selbst fragend zu hinterfragen. Zudem steht die Praxis im Spannungsfeld zwischen einer vielleicht eher stabilisierend pluralistisch-liberalen Auffassung und einer eher destabilisierend kritisch-subversiven Deutung – je auch nach dem eigenen Verständnis von der Rolle der Philosophie überhaupt. Beide Orientierungen müssen sich m. E. nicht unvereinbar gegenüberstehen, sondern können auch situativ unterschiedlich in Erscheinung treten. Problematisch scheint es jedenfalls da zu werden, wo Philosophie bloß als »ideologische Magd« (Hans Lenk) auftritt. Immer wieder scheint der Kontrast zwischen dem Primat (oder Diktat) der Nützlichkeit und dem Primat der Wahrheit aufzutauchen. Auch Donatella Di Cesare (2020, 103 ff.) greift jenes Selbstverständnis einer Philosophie an, die sich bloß an Wissenschaft, Politik und Wirtschaft andiene. Philosophen, die ein derartiges Mindset an den Tag legten, bezeichnet sie als »begriffliche Unterhändler«, die selbst keine Fragen mehr zu stellen vermögen, »sondern auf diejenigen anderer zu antworten habe[n], d. h. Probleme lösen soll[en], die von anderen Disziplinen verdienstvoll aufgeworfen werden«. 80 Eine solche Philosophie könne allenfalls dazu dienen, »hier und dort ein wenig mäßigend tätig« zu werden, »um die ›Spannungen beizulegen‹«. »Hauptsache, man gelangt zu einer Lösung.« (Ebd., 104 f.) Es gehe bei dieser kommerziellen Auffassung von Philosophie in erster Linie um eine Kosten-Nutzen-Kalkulation. Neutrale Angebote von verschiedenen Wahloptionen werden gemacht. Philosophie zeige sich als eine »Fabrik von Konditionalen« 81: »Sie möchte dem ›Konsumenten von Möglichkeiten‹ nur helfen, sich mit den eigenen Entscheidungen zu versöhnen – sprich: eine andere Art und Weise, die Sorge um sich zu praktizieren. Hervorgegangen aus einer exogenen begrifflichen Spannung, springt die Philosophie ein, um diese beizulegen und sich sodann zufrieden mit der erledigten Die Figur des Philosophen als »begrifflicher Unterhändler« übernimmt Di Cesare von Roberto Casati, Prima lezione di filosofia, Rom/Bari 2011. 81 Diese Bezeichnung übernimmt sie ebenfalls von Casati. 80

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Aufgabe und aufgeräumt zurückzuziehen, bereit für die nächste Unterhandlung […] Der Philosoph als Unterhändler, dieser neue Feuerwehrmann mit dem Gemüt eines Künstlers, löscht noch jeden Brand, mildert jede Meinungsverschiedenheit, legt jeden Dissens bei. Kann man überhaupt noch zahmer und zuvorkommender sein?«

Im Grunde könnte Philosophische Praxis derart verstanden werden – und wird es bisweilen auch. Liegt dieses Verständnis aber nicht näher am Coaching? Besteht womöglich genau hier ein Spalt? Vermutlich tut man der ganzen Sache auch hier keinen Gefallen, schwarz-weiß zu malen. Als ein erstes Fazit soll hier jedenfalls die These vertreten werden, dass das Verhältnis Philosophischer Praxis (nicht nur) zum Coaching weniger aus einer Methodik als vielmehr aus einem je eigenen Verständnis bzgl. der Rolle und Bedeutung der Philosophie überhaupt bestimmt werden muss. Die philosophische Berufung der eigenen Existenz als Philosoph bedarf einer existentiellen Auseinandersetzung mit ihr. 82 Es wäre interessant, dieses Verhältnis von Coaching und Philosophischer Praxis näher zu beleuchten. Allerdings drängt sich beim genaueren Hinsehen immer stärker der Verdacht auf, dass es eben gar nicht das Format Coaching selbst ist, das sich als problematisch erweist. Was unter Coaching verstanden wird, wie es praktiziert wird und wozu es eigentlich dienen soll, all das ist ja selbst einer stetigen Veränderung unterworfen und hat sich über die Jahre diversifiziert und gewandelt. Es scheint vielmehr – wie andere Phänomene der Zeit, die viele positive Aspekte integrieren – in einem andauernden Verwertungsstrudel gefangen zu sein. Coaches am Markt stecken zumeist in einer Sachzwanglogik, in einer permanenten Verwertungslogik, die, wie etwa Zygmunt Baumann (2009) gezeigt hat, als freie Entfaltung der Persönlichkeit verkauft wird, dann aber vor allem in die Selbstinstrumentalisierung und in die Selbstausbeutung führen kann. Bei einem Teil davon führt das dazu, Coaching nahezu als eine Heilslehre zu propagieren und sich selbst überhöht zu inszenieren – was aus den eigenen Reihen auch kritisiert wird. Man kann hier mit Marx auch vom Warencharakter sprechen, den nicht nur die Dienstleistungen haben, sondern zu denen die Dienstleister selbst werden. Philosophen – und in diesem Sinne auch Philosophische Praxis selbst – sind davor selbstverständlich genauso wenig gefeit, wenn sie dafür nicht die notwendige Sensorik entwickeln – auch für die 82

Vgl. dazu unten Am Konnex von Lebensform und Weltweisheit.

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eigene »Verfallenheit an das Man« (Heidegger) –, nicht gegenüber sich selbst eine Achtsamkeit entwickeln und auch andere Wege gehen. Daher stellt sich der Konflikt zwischen Coaching und Philosophischer Praxis als genauso wenig fruchtbar dar wie der Dauerbrenner, der Widerstreit zwischen Psychotherapie und Philosophischer Praxis – auch hier sind durchaus Brücken gefragt. Es ist am Ende keine bloße Sache der Formate, sondern vor allem eine der Achtsamkeit gegenüber sich selbst, der Redlichkeit, jeweiligen Haltung, der eigenen Lebensform und des Vermögens des kritischen Hinterfragens. Das ruft nach einer notwendigen Ideologiekritik. Und diese fängt bei den je eigenen oft verborgenen Mustern der Selbstinstrumentalisierung, Selbstverwertung, Selbstinszenierung, Selbstvermarktung und Selbstoptimierung an. Es ruft mitunter Kopfschütteln hervor, wenn Akteure (gleich welcher Profession) zwar von Humanismus reden, wenn sie aber gleichzeitig nicht merken, wie stark sie selbst nach den genannten Logiken funktionieren, die sich letztlich als so gar nicht humanistisch erweisen. Humanismus in einem ethischen Sinne könnte stattdessen heute bedeuten, wie Thomas Fuchs (2020, 16) ausführt, »Widerstand gegen die Herrschaft technokratischer Systeme und Sachzwänge ebenso wie gegen die Selbstverdinglichung und Technisierung des Menschen«. Gleiches gilt für die Rede von der Freiheit, die gerne im Munde geführt wird, hinter der aber nicht selten Zwang steckt (vgl. Baumann 2009) – insbesondere im neoliberalen Sinne. Wie diese Logik funktioniert, hat Byung-Chul Han (2014, 11) skizziert: »Der Neoliberalismus ist ein sehr effizientes, ja intelligentes System, die Freiheit selbst auszubeuten. Ausgebeutet wird alles, was zu Praktiken und Ausdrucksformen der Freiheit gehört wie Emotion, Spiel und Kommunikation. Es ist nicht effizient, jemand gegen seinen Willen auszubeuten. Bei der Fremdausbeutung fällt die Ausbeute sehr gering aus. Erst die Ausbeutung der Freiheit erzeugt die höchste Ausbeute.«

Auch Philosophen sind Subjekte ihrer Zeit – ihr also zunächst, so die wörtliche Bedeutung von Subjekt, unterworfen. Das gilt hier insbesondere für jene, die auf einem Markt agieren und den Ambivalenzen des Kapitalismus unterworfen sind. Daher geht es auch hier im Kern um die Haltung, zu der die Kenntnis der eigenen Verfasstheit hinsichtlich dieser Problematik untrennbar dazugehört, und eben 201 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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auch die Sensibilität im Hinblick auf die geltende(n) Lebensformen und Subjektkultur(en). Man kann hier mit Gernot Böhme (1997, 155) vom Willen zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit sprechen, die Philosophen gegen sich selbst anwenden sollten – was freilich keine leichte Sache ist: »Der Philosoph hört das Gerede um sich, sieht den Anschein, den sich die Leute geben, bemerkt die Lebenslügen, von denen sie zehren. Er will das alles nicht mitmachen, er will sich vor allem und sich selbst nichts vormachen.« Und es lässt sich mit Foucault (1992, 12) die Kritik ins Spiel bringen und dabei immer wieder sagen, dass es vor allem darum gehe, nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden. Was hier allgemein für verschiedene Aspekte und Bereiche des Lebens gilt, gilt eben auch für die eigene Subjekt-Verfasstheit. Um ein wenig klarer zu machen, um was es dabei genau geht, wird auf die mittlerweile einschlägige soziologische Arbeit Das hybride Subjekt von Andreas Reckwitz (2006) verwiesen, in der es auch um die Subjektkultur unserer Tage geht (vgl. auch ders. 2019, 206 ff.). 83 Eine solche Subjektkultur beschreibe zunächst ein umfassendes Bündel von Praktiken und Diskursen und könne markant vor allem in drei sozialen Feldern beschrieben werden: a) den ökonomischen Praktiken der Arbeit, b) den Praktiken persönlicher und intimer Beziehungen sowie c) dem historisch heterogenen und dynamischen Feld der Technologien des Selbst, die außerhalb von a) und b) liegen (z. B. Umgang mit Medien, Praktiken des Konsums). Die in einer Zeit stabilisierten und hegemonial gewordenen Subjektformen bilden ein Ideal, ein attraktives Muster, an denen sich die einzelnen Subjekte orientieren, nach denen sie streben und in denen sie sich entwickeln. Ein Subjekt entstehe aus einem »Amalgam aus körperlichen und darin auch psychischen Grundeigenschaften des Menschen« und gelte als »gesellschaftlich vollwertiges Wesen, das im Idealfall jene Kompetenzen, Wunschstrukturen und Mentalitäten verinnerlicht, welche die jeweilige Gesellschaftsform voraussetzt« (Reckwitz 2019, Statt Reckwitz hätten hier etwa auch Ulrich Bröcklins Das unternehmerische Selbst (2007) oder verschiedene Arbeiten von Hartmut Rosa zur Beschleunigung als aktuelle beispielhafte Bezugspunkte dienen können. Kritik von philosophischer Seite – und mit Blick philosophische Positionen, die besonders anschlussfähig für neoliberale Verwertungspraktiken seien – übt 2007 auch Wolfgang Kersting. So problematisiert er im Hinblick auf verschiedene Positionen zur Lebenskunst deren romantische und übertriebene Vorstellungen von Autonomie, Selbstmächtigkeit und Selbsterschafftung.

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207). Das Leben gemäß dieser Subjektform verheiße Glück. Gleichfalls gebe es eine Art Anti-Subjekt, das kulturell Andere, das im Grunde gegensätzliche Praktiken und Eigenschaften habe. Die Entwicklungsdynamiken ergäben sich für Subjektformen nicht nur durch Veränderungen in der materiellen Kultur sowie in Umbrüchen von Kommunikations- und Produktionstechnologien. Herausforderungen lieferten außerdem ältere, aber auch neuere Subjektkulturen, die sog. Gegenkulturen. Diese setzten sich hybride aus etablierten und herausfordernden Subjektformen zusammen. Diese Hybridität zeichne sich durch eine spezifische Kombination benennbarer Elemente aus. Sie sei charakteristisch für moderne Subjektformen und meine, dass aktuelle Formen spezifische Elemente vergangener Formationen enthielten und dass sie kulturelle Codes ganz gemischter Herkunft und unterschiedlichen Alters enthielten. Nach verschiedenen Entwicklungen und Subjektkulturen seit der frühen bürgerlichen Subjektform dominiere heute das »postmoderne konsumtorische Kreativsubjekt«, das sich allmählich gegen das Subjekt der Angestelltenkultur der organisierten Moderne seit etwa Anfang der 1980er Jahre durchgesetzt habe. Bei Reckwitz ist hier die Rede von einem postmodernen Subjekt, was durchaus auch als neoliberales Subjekt bezeichnet werden kann. Was kennzeichnet nun das neoliberale Subjekt, das sich ab den 1970er Jahren allmählich quer zur etablierten Angestelltenkultur und zur Counter Culture entwickelt habe? Eine wichtige Rolle scheinen dabei vor allem die am self-growth orientierte Psychologie, insbesondere die Positive Psychologie, und der aufkommende neoliberale Managementdiskurs zu spielen, die vorwiegend in den höheren Mittelschichten auf fruchtbaren Boden stießen, aus denen heraus sich die Milieuformation der urban creative class bildete. Charakteristisch für die hybride und brüchige Kombination von Codes neoliberaler Subjekte seien diese Orientierung an dem persönlichen Wachstum, die Annahme eines eigenen authentischen Wesenskerns, einer reichhaltigen subjektiven Innenwelt, die es zu entdecken und zu entfalten gelte, sowie der Code einer wohlkalkulierten Wahl gemäß neoliberaler Beratungsdiskurse und der »Rational Choice«-Theorie. Von großer Relevanz – auch im Hinblick auf Philosophische Praxis – ist außerdem die Idee einer vom moralischen Code befreiten Selbstregierung, deren Wesenszug eine ökonomisch-psychologische Ressourcenorientierung ist.

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Die Neukodierung des Subjekts durch den marktliberalen ökonomischen Code mache dieses zu einer eigenverantwortlichen, ja mehr noch unternehmerischen Instanz mit riskanter und quasi-unternehmerischer Aktivität sowie zu einer Instanz der Wahl zwischen konsumierbaren Optionen – sowohl Subjekt als auch Objekt eines Marktes. Überhaupt kann von einer generalisierten Marktförmigkeit gesprochen werden, auch im Hinblick auf soziale Interaktionen an sich – die Codierung der Welt als Markt. Die bereits angesprochene creative class kann heute wohl als kulturell dominante Klasse gelten und hat ihr Zentrum in den urbanen Kulturindustrien (Beratung, IT, Design, Werbung, Tourismus, Finance, Unterhaltungsindustrie, Forschung und Entwicklung). Innovativ, kreativ und hochflexibel, das sind die Attribute mit einer prägenden Wirkung. Die mit ihr verbundene Subjektform des neoliberalen Arbeitssubjekts verstehe sich vorwiegend als Kreativarbeiter, anschmiegsam an den Markt, dabei unterwegs auf eigenes Risiko und in Selbstbestimmung erfolgreicher Unternehmer seiner Selbst, wie der Soziologe Ulrich Bröckling (2007) das nennt. Geleitet sei das Subjekt nicht mehr von einer moralischen Selbstkontrolle, sondern von einer ressourcenorientierten Selbststeuerung, was auch für die private Sphäre gelte. Das Unternehmerische komme in der permanenten Sorge um die eigene employability zum Vorschein, die von Investitionen in eine lebenslange Fortbildung gekennzeichnet sei, um am Markt bestehen zu können. Bröckling (2007, 65 ff.) spricht hier von Bauanleitungen für die IchAG. Permanent verlangte Flexibilität in vielerlei Hinsicht übe also einen Druck der strategischen und langfristigen Sicherung dieser beruflichen employability aus. Die Sorge darum gehe in die Selbststeuerung der Subjekte ein und bringe eine besondere Form der am Markt orientierten bzw. an diesen angepassten Selbstoptimierung hervor. Besonders sei dabei vor allem die auf Dauer gestellte Außenorientierung. Es gelte, stets im Komparativ qualitativer Steigerung zu denken – und zwar in erster Linie mit Blick auf den Markt. Die dortige Positionierung beinhalte also sowohl ein Wählen als auch ein Gewählt-Werden, was sich in der Ausbildung eines entsprechenden Habitus der suchenden, experimentellen Wahl niederschlage. In dieser Codierung des unternehmerischen Selbst kreuzen sich die zwei spätbürgerlichen und sich gegenüberstehenden Codes des self-made man und des bohemehaften Künstlers: Der Unternehmer sei kreativ und der Kreative sei Unternehmer. Das so entstandene Kreativsubjekt sei nun virtuoser Teilnehmer des Marktes, also 204 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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Marktsubjekt und Marktobjekt zugleich. Dass hier auch philosophische Ideen und Konzepte nicht nur nicht vor einer ökonomischen Indienstnahme gefeit sind, sondern auch selbst ihren Anteil an einer solchen Entwicklung haben, hat Wolfgang Kersting (2007, 59 ff.) etwa mit Blick auf Ideen einer »Selbsterschaffungslebenskunst« aufgezeigt. Er spricht von einer »verblüffende(n) Übereinstimmung zwischen den Subjektkonzeptionen der Lebenskunst und der karrierepolitischen Beratungsliteratur« (ebd., 61). »Die kapitalistische Travestie der Lebenskunst läßt sich mit foucaultschen Begriffen beschreiben. Ihr Kern ist Selbstgouvernementalisierung, die darum keine Selbstmacht generierende Selbstkontrolle ist, weil sie nur die Disziplinierungs- und Normalisierungstechniken der Gesellschaft internalisiert hat, der doublespeak der Selbstverantwortlichkeitsideologie aufgesessen ist und anpassungsförderliche Selbstdisziplinierung als Selbstbestimmung verkauft.« (Ebd., 62 f.) 84

Interessant für den vorliegenden Kontext ist der Bereich der Selbstpraktiken, der nach Reckwitz durch einen individualästhetischen, lebensstilorientierten Modus der Konsumtion gekennzeichnet sei, durch das Bedürfnis der Konsumenten nach individueller Stilisierung. Dazu gehören etwa sportliche Aktivitäten, die sowohl gesundheits- als auch leistungsorientiert sein können, aber auch der Umgang mit (digitalen) Technologien und medialen Routinen. Der Kern scheint dabei die subjektive Selbstreferentialität zu sein: Das Subjekt übe sich durch diese Praktiken darin, jenseits von Arbeits- und Intimitätssphären eine Relation zu sich selbst herzustellen. Das lässt sich etwa an den Körpercodes ablesen, denn der Körper wird hier zum psychophysischen Erlebnisfeld und zur visuellen Schaufläche für sich selbst und für andere, zum ästhetischen Phänomen. Oder anders: Er wird zum Projekt. Hier zeigt sich aber auch die bereits angesprochene Bedeutung der authentisch-subjektiven Innensphäre, die ästhetisierende und auf sensibilisierte Selbstwahrnehmung gerichtete Fokussierung des Erlebens, etwa bei der charakteristischen Idee des Flow (Csíkszentmihályi). Reckwitz spricht vom flow-Subjekt, dessen gesamtes Begehren auf körperlich-mental-affektive Zustände einer optimal experience zielt. Insofern wird der Körper hier zur Quelle von positiven und intensiven Erfahrungen. 85 Kersting kritisiert hier in Teilen Foucault selbst, vor allem aber Wilhelm Schmid. Auf die damit verbundene Paradoxie, die sich im Zuge dieser Entwicklung hin zu einer »radikal emotionalisierten Kultur« bzw. einer »Positivkultur der Emotionen«

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Es können also drei wesentliche Codierungen ausgemacht werden: eine hybride ökonomisch-psychologische Doppelcodierung bzw. Code-Überlappung sowie eine entmoralisierte, ökonomisch verfasste Selbstregierung. Der psychologisch-ästhetische Code sei gerichtet auf ein self-growth, auf eine kreative Vervielfältigung von Möglichkeiten und auf innere Erfahrung. Dies werde überformt vom ökonomischen Code, in der das Subjekt Instanz von Wahl und Konsumtion sei. Subjekte und Objekte werden als austauschbare Gegenstände einer Wahl wahrgenommen. Das Subjekt müsse sich, zumindest in Teilen, auch als Objekt einer Wahl betrachten. Dabei komme ferner die post-bürgerliche Form der Selbstregierung zum Tragen – eine vermeintlich souveräne Selbststeuerung, die durch eine beständige Reproduktion psychophysischer Ressourcen gekennzeichnet sei. Die Rede ist auch vom Empowerment seiner selbst, wobei es etwa um die Steigerung der physischen Fitness, emotionalen Kompetenz, Netzwerkfähigkeit, semiotisch-symbolischen Kompetenz und kognitiven Lernfähigkeit gehe, um Zeitmanagement, Desedimentierung von Wunschstrukturen, Ambiguitätstoleranz, Reaktionsfähigkeit für Eventualitäten usw. Moralität werde hier nur als ein limitierendes, heteronomes Moment gesehen. Auch das Individuum in seiner Rolle als Bürger kann mit dieser einseitigen Perspektive kaum in den Blick genommen werden, weil es, wie Ulrike Guérot (2020, 40) verdeutlicht, »über Vernunft, Rücksichtnahme, Empathie, Autonomie und Verantwortungsbereitschaft angesprochen werden muss, alles Dinge, mit denen sich kein Geld verdienen lässt.« Schließlich kommt noch ein letzter Aspekt zur Geltung, der im Hinblick auf die Außendarstellung ebenfalls nicht als unwichtig erachtet werden soll, nämlich der der Performanz erfolgreicher Selbstverwirklichung. Das spätmoderne Subjekt »will (und soll) sich auch vor anderen als glückliches, authentisches Subjekt in einem so anregenden und erlebnisreichen wie erfolgreichen Leben darstellen« (Reckwitz 2019, 217). Reckwitz spricht diesbezüglich von einer »Aufmerksamkeitsökonomie« und von »Singularitätskapital«. Was hier ergeben hat, weil sie nämlich gleichzeitig eine »Enttäuschungsproduktion« hervorruft, also systematisch und im gesteigerten Maße negative Phänomene wie »Enttäuschung und Frustration, Überforderung und Neid, Wut, Angst, Verzweiflung und Sinnlosigkeit« hervorbringt, ist Reckwitz (2019, 219 ff.) näher eingegangen: »An die Unterseite der Positivkultur der Emotionen ist gewissermaßen eine Realität negativer Affekte geheftet, die es gar nicht geben dürfte, die aber umso hartnäckiger an ihr klebt.« (Ebd., 206).

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für spätmoderne bzw. neoliberale Subjekte allgemein gelten soll, gilt wohl insbesondere für Beratende, die sich auf einem Markt als interessante, besondere, attraktive und erfolgreiche Macher in Szene setzen müssen, um damit eine emotionale Anziehungskraft auf potenzielle Klienten auszuüben. Gut ist hier, was außergewöhnlich ist – oder eben bloß so scheint. Hinzuzufügen wäre hier noch der Aspekt, zu dem all das nicht selten führt, nämlich zu einem Überbietungswettbewerb, einem neidgetriebenen Konkurrenzkampf. Und dann fragt es sich: Wollen wir so leben? Was machen nun Philosophen, die ja, je nach Alter, selbst, zumindest teilweise, in dieser neoliberalen Subjektkultur auf- oder in sie hineingewachsen, in ihr sozialisiert und in Teilen so verfasst sind? In welchem Maße wollen sie sich auch zu solch einem Projekt machen und dann statt äußeren Zwängen nun verinnerlichten Selbstzwängen in Form von Selbstdarstellungs-, Leistungs- und Optimierungszwang unterwerfen? »Die Selbstökonomisierung«, so Wolfgang Kersting (2007, 64), folgt dem Imperativ des Arbeitsmarktes, sie dient nicht dem Glück, sondern wird um des subsistenzsichernden Berufserfolgs willen auf sich genommen.« Was hier nur in groben Zügen angedeutet ist, bedarf der Auseinandersetzung – mit sich, mit seinen Gästen, mit seinen Kollegen, mit dem Sozialen, dem Gesellschaftlichen, dem Politischen. Die eigene Erfahrung zeigt, dass dies bei vielen Kollegen immer schon getan wird, immer wieder – auch ohne den expliziten Bezug zu den hier skizzierten Hintergründen. Mag es bei den einen ein sporadisches Beschäftigen sein, bei anderen ein Sich-daran-Abarbeiten, bei manchen gar ein Kampf. In jedem Fall ist es eine Sache des eigenen Ethos und der Lebensform. Es wäre daher wohl wünschenswert, dass diese selbstkritische und ideologiesensible Betrachtung in eine Haltung einfließen würde – ganz gleich, welche individuellen Schlüsse daraus gezogen werden. 86 Darauf wird im letzten Teil nochmals kurz zurückzukommen sein. Hilfreich könnte dabei etwa der Bezug zum späten Foucault sein, der Blick auf zentrale Aspekte wie die Regierung durch die anderen, die Techniken des Selbst und Selbsterkenntnis, Wahrheit, Freiheit und die wesentliche Idee der Setzung der Andersheit. Es geht dabei vor allem um die Subjektwerdung: Wie werde ich das Subjekt, das ich Beispielhaft hat dies Eva Maria Eder-Seela (2017) in ihrer lesenswerten Dissertation unter der Überschrift der »ökonomischen Verführung« getan, mit der an dieser Stelle weitergedacht werden kann.

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nun bin? Bei Foucault (2004a/2004b/2009) spielen zwei zentrale Mechanismen eine Rolle: Subjektivität sei dabei nicht nur a) Ergebnis von Macht bzw. Unterwerfung/Anpassung (assujettissement), sondern auch von b) Subjektivierung (subjectivation). Subjektivierung (oder Selbstkonstituierung) wird also gedacht als ein in Zeit und Raum ausgedehnter Prozess, eine Praxis, an der auch das betroffene Individuum im Sinne einer Selbstkonstitution aktiv teilnehmen kann. So meint Freiheit an dieser Stelle eine Fähigkeit, seine eigene Subjektivierung kritisch zu reflektieren und sich dadurch selbst zu transformieren, um also von einer passiven und normierten zu einer aktiven Form zu gelangen. In diesem Sinne kann sie als ethisch verstanden werden, als eine Ethik des Selbst, insofern hier konkret die Art und Weise der eigenen Lebensgestaltung gemeint ist. Bei den Handlungsstrategien und Möglichkeiten der persönlichen Lebensgestaltung geht es dabei um Technologien des Selbst, unter denen Foucault (1986, 18) intendierte Praktiken versteht, »mit denen die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht«. Die politische Dimension dieses Aspektes lässt sich nach Foucault als die Forderung ausdrücken, nicht Untertan zu sein, nicht auf diese Weise regiert zu werden. Daran lässt sich ablesen, dass dieser individuellen Stellungnahme eine gesellschaftliche folgen muss: Die Verhältnisse seien nämlich so einzurichten, dass eine entsprechende Selbstkonstituierung der Subjekte ermöglicht und unterstützt wird. Die Arbeit an der individuellen Freiheit kann daher konsequenterweise gar nicht ohne den Blick auf soziale Freiheit auskommen, auch wenn das im Einzelnen nicht immer so erscheinen mag. Axel Honneth (2011) hat dies im Anschluss an Hegel im Lichte von Anerkennung deutlich vor Augen geführt. Das Problem ist dabei allerdings – und das ist in dieser Sache, die hier nicht weiter vertieft werden kann, der springende Punkt –, dass diese Selbsttechnologien eben »nur« Technologien sind, die auf verschiedene Weise zur Wirkung kommen können. Byung-Chul Han (2014, 41 f.) hat in seiner Kritik am neoliberalen Machtregime auf dieses Problem aufmerksam gemacht. Foucault habe in seiner Änderung der Blickrichtung von den Machttechniken, die ein Subjekt bestimmen, hin zu den Selbsttechniken, mit denen das Subjekt sich selbst bestimmen möchte, übersehen, dass letztere eben von ersteren funktionalisiert werden können: 208 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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»Die Machttechnik des neoliberalen Regimes bildet den blinden Fleck der Foucaultschen Analytik der Macht. Foucault erkennt nicht, dass das neoliberale Herrschaftsregime die Technologie des Selbst für sich vollständig vereinnahmt, dass die permanente Selbstoptimierung als neoliberale Selbsttechnik nichts anderes ist als eine effiziente Form von Herrschaft und Ausbeutung […] Das Selbst als Kunstwerk ist ein schöner, trügerischer Schein, den das neoliberale Regime aufrechterhält, um es gänzlich auszubeuten.«

Hier lauert tatsächlich die Gefahr, etwas als Freiheit zu missdeuten – immerhin hat man es durch Einübung ja selbst inkorporiert –, was am Ende gerade in eine Heteronomie führt: »Selbstoptimierung und Unterwerfung, Freiheit und Ausbeutung fallen in eins« (ebd., 42). Das vorläufige Fazit kann nur lauten, selbstkritisch auf die eigenen Muster und auf die gebrauchten Dispositive zu schauen und den Blick für diese subtilen Konstitutionen zu sensibilisieren und zu entwickelten. Auch wenn das freilich für alle gelten könnte, so ist dies m. E. elementar für Philosophische Praxis, mit der ja in vielen Fällen – und je auf unterschiedliche Weise – auch ein Bildungsgedanke verbunden ist. Man kann ihr eine gewisse Bildungsaufgabe beimessen, die, wie bereits oben angesprochen, vor allem darin besteht, die leiblichen und geistigen Voraussetzungen zu schaffen, zu entwickeln, zu pflegen. Es geht hier, wie Peter Bieri (2011, 62) ausführt, um »die wache, kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur. Es ist dieser Prozeß der Aneignung, in dem sich jemand eine kulturelle Identität schafft.« Auch das moderne Bildungsverständnis ist, zumindest der Idee nach, durch den bereits bei der Charakterisierung des Subjekts thematisierten Wachstumsgedanken gekennzeichnet. Bei der Orientierung hin auf ein Selbstverhältnis, das durch Entfaltung und Entwicklung gekennzeichnet ist, auf Wachstum und Reifung, Selbstgestaltung und Selbstbestimmung, aber auch auf Individualität und Selbstmächtigkeit, wird allerdings der Blick auf Phänomene der Entzogenheit, auf Verfall, Abhängigkeit, Sozialität und die Alterität der Anderen verstellt, wie der Erziehungswissenschaftler Norbert Ricken (2006) in Die Ordnung der Bildung im Anschluss an Foucault meint. Er verweist ebenfalls auf die sozial-gesellschaftliche Seite, wenn er sagt, dass Bildung nicht nur die Formation des Selbst bewirke, sondern gleichzeitig immer auch die Formation des Sozialen betreibe. Philosophische Praxis kann sich dadurch auszeichnen, dass sie Einseitigkeiten des modernen Bildungsverständnisses vermeidet und, wie Ricken es ausführt, auf der Endlichkeit des Menschen kategorial 209 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Philosophische Praxis im Spannungsfeld spätmoderner Subjektkultur

besteht und diese als »Nicht-aus-sich-selbst-sein-können« (Schleiermacher) qua Geburtlichkeit und Sterblichkeit sowie als »Nicht-insich-selbst-bleiben-können« qua Ver- und Angewiesenheit auf Andere zur Geltung bringt. Es gilt daher, die grundsätzliche Endlichkeit, Verletzlichkeit sowie (Selbst-)Gebrochenheit und den zentralen sozial-gesellschaftlichen Bezug elementar einzubinden – was Philosophische Praxis auf vielfältige Art und Weise bereits tut, wenn sie die Verhältnisse zu sich, zu Anderen und zur Welt in den Fokus rückt. Insofern schließt sich der Kreis zu Achenbach, der das für die Praxis so relevante »Sensorium für das sonst wohl Übersehene« hervorhebt. In diesem Fall meint genau dies auch Ideologiesensibilität und ein Stück weit Befreiung von sich selbst aus den genannten Logiken – und zwar nicht nur im Denken, sondern verstärkt in den eigenen Praktiken, die nicht selten im Widerspruch zum eigenen Denken stehen. Dies scheint mir Teil dessen zu sein, Philosophische Praxis immer in einem gewissen Maße auch als Bewusstmachung der leiblichen Verflochtenheit in die Welt zu betrachten, die einerseits je auf Einzigartigkeit und eine spezielle Perspektiviertheit verweist (siehe Teil 2), andererseits aber auch je auf eine Begrenztheit sowie eine spezifische Bedürftigkeit – und das gilt, wie zumeist, für alle Beteiligten. Insofern kann an dieser Stelle auch für alle gelten, was bereits Karl Jaspers (1948, 679) im Hinblick auf Psychotherapeuten meinte: »Der Psychotherapeut, der sich selbst nicht durchleuchtet, kann auch den Kranken nicht recht durchleuchten.«

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12. Ethos, Haltung und Vermögen

In den bisherigen Ausführungen wurden einige zentrale Punkte zum Verständnis von Philosophischer Praxis angerissen. Die Begriffe des Ethos, der Haltung und des Vermögens sind bereits mehrfach gefallen und daher wohl von Gewicht. Daher ist es m. E. geboten, dazu ein paar allgemeine sowie spezielle Ausführungen zu machen. 87 Dazu zunächst ein paar einfache sprachliche Festlegungen: Die Begriffe Haltung und Ethos meinen oft dieselbe Sache, insbesondere dann, wenn von der Haltung gesprochen wird. Haltung ist wohl auch alltäglicher und häufiger im Gebrauch. In dieser Arbeit wird Ethos, im Sinne eines persönlichen Ethos, als die Gesamtheit aller Haltungen verstanden – wenn also Haltung im Singular verwendet wird, könnte dafür i. d. R. auch Ethos stehen. Haltung ist der spezifischere Ausdruck, auf dem hier auch der Fokus liegen soll. Die Bezeichnung Vermögen, die in der Überschrift auftaucht und insofern ebenfalls eine wichtige Rolle zu spielen scheint, kann wiederum als Teil einer Haltung verstanden werden. Mit dem Begriff der Haltung können wir in unserer Alltagssprache eine Reihe von Dingen meinen, angefangen bei der Körperhaltung oder der inneren Fassung (das Wie, Selbstdisziplin, Standhalten); es kann ein Sich-Kümmern (um sich selbst, um andere) meinen oder auch eine Grundeinstellung gegenüber bestimmten Überzeugungen, Vorstellungen und Werten, eine moralische Auffassung. Sie kann einer einzelnen Person sowie Gruppen zugeschrieben oder auch abstrakt verwendet werden. Haltungen, wie sie hier verstanden werden, sind dabei aber mehr als bloß auf eigenen Überzeugungen beruhende Einstellungen (Glaubenssätze, Werte u. Ä.). Was Es gibt m. W. einige Versuche, sich über eine gute Haltung im Zusammenhang mit Philosophischer Praxis Gedanken zu machen, angefangen bei Gerd Achenbach (2010) selbst. Ein recht junger stammt beispielsweise von Eva Maria Eder-Seela (2017, 287 ff.).

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Ethos, Haltung und Vermögen

uns Halt gibt, stützt uns, macht uns stark. Geht uns der Halt verloren, rutschen wir ab – wir verlieren den Boden unter den Füßen. Bei der Haltung hat dieser Halt etwas mit uns zu tun. Bei all dem geht es am Ende auch um ein konkretes Verhalten, das sich zeigt, um einen speziellen Umgang mit sich selbst, mit anderen oder mit der Welt allgemein. Insofern kann von einer performativen Ausrichtung menschlicher Haltung gesprochen werden. Wenn wir sagen, dass jemand eine Haltung hat, dann hat das zumeist eine positive, affirmative Bedeutung, was vor allem damit in Zusammenhang steht, dass sich ihre Bedeutung gerade erst in schwierigen Situationen offenbart, vor allem in der Krise, weil der genannte Umgang mit den Dingen, eine spezielle Kompetenz sozusagen, ein untrennbares Moment der Haltung darstellt. An dieser Stelle soll mit der Skizze eines Konzepts von Haltung begonnen werden, die eine Reihe von unterschiedlichen Aspekten enthält, wovon an dieser Stelle nur einige thematisiert werden können. 88 Im Zentrum steht dabei eine Idee, die eine lange Tradition hat. Aristoteles hat das Prinzip systematisch und wirkmächtig analysiert und wurde damit Ausgangspunkt für eine theoretische und praktische Auseinandersetzung, die von den verschiedenen Schulen der Antike bis hin zu den Diskursen der heutigen Zeit reicht (vgl. Wüschner 2016). Haltung ist nicht nur zugleich eine Struktur, ein sich selbst strukturierender Mechanismus und eine Praxis, sondern auch eine Chance zum guten Leben – auch wenn sie keine grenzenlose ist, wie Albert Camus vielleicht sagen würde. Das hier zu skizzierende Konzept geht über die alltagssprachliche Bedeutung des Wortes hinaus. Haltung lässt sich – in Anlehnung an die Mesotes-Lehre von Aristoteles – zwischen den Polen starrer und träger Gewohnheiten auf der einen und beliebiger Affizierbarkeit auf der anderen Seite verorten: Sie zeichnet sich damit, je nach Ausprägung und Entwicklungsstand, durch eine gewisse Festigkeit aus, die eben Halt gibt, und weist doch gleichzeitig eine dynamisch-flexible Qualität auf.

Ein aktuelles und sehr umfassendes philosophisches Konzept von Haltung hat Frauke Kurbacher vorgelegt, vgl. Kurbacher: Zwischen Personen. Eine Philosophie der Haltung, Würzburg 2017. Ebenfalls sehr neu und umfassend ist hier zu nennen Philipp Wüschner: Eine aristotelische Theorie der Haltung: Hexis und Euexia in der Antike, Hamburg 2016.

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Neben den begrifflichen Reflexionen und Differenzierungen sind u. a. philosophisch-anthropologisch-kulturelle Momente in den Blick zu nehmen: Es lässt sich eine Art Funktionsprinzip ausmachen, was die Aneignung und Wirkweise von Haltung betrifft. Sie soll als ein Phänomen verstanden werden, das sich gerade durch sein spezielles Verhältnis von präreflexiv-leiblicher Basis und potenziell reflexivgeistiger Formbarkeit mit selbstzuschreibenden und beurteilenden Momenten auszeichnet. 89 Die Gleichwertigkeit der beiden Aspekte des animal rationale als Leib- und Vernunftwesen kommt in diesem Sinne zur Geltung. In einer Haltung ist das Leibliche bzw. Habituelle also immer schon vorgängig – oder anders ausgedrückt: Eine Haltung ist einerseits immer auch als leiblich fundiert, ist sozusagen eingebunden in einen leiblichen Hintergrund unhintergehbarer Existenzbedingungen und nicht frei vom sozial-gesellschaftlichen Habitus zu betrachten, geht darin aber andererseits nicht vollständig auf. 90 Es ließe sich auch so formulieren, dass eine Haltung nicht aus einem Nichts heraus entsteht, sondern als eine emanzipatorische AbsatzEine so verstandene leiblich fundierte Haltung grenzt sich begrifflich und konzeptionell von vorwiegend kognitiv-mentalistischen und dualistischen Ansätzen ab, was sich exemplarisch am primär mental verstandenen Begriff der Einstellung zeigt. Schon unsere Alltagssprache deutet bei der Verwendung des Wortes Haltung durch die Verwendung des Adjektivs innere auf einen Unterschied zur Haltung ohne adverbiale Näherbestimmung hin. Insofern könnte innere Haltung hier synonym zur Einstellung betrachtet werden. Die Frage ist nur, wie der Fall einer Diskrepanz zwischen innerer und (äußerer) Haltung zu deuten ist, ob als überholte dualistische Vorstellung eines getrennten Inneren und Äußeren oder eben als das mögliche Fehlen der notwendigen Kompetenzen – ein dualistisches Missverständnis, das sich wohl auch in der sprichwörtlichen Vorstellung vom willigen Geist und schwachen Fleisch zeigt. Außerdem wird gerade auch im Hinblick auf die Genese die Bezüglichkeit des Menschen, vor allem in sozialer Hinsicht, deutlich. Siehe zum Thema Bezüglichkeit der Haltung eindrucksvoll Kurbacher (2017). 90 Auf den Begriff des Habitus kann hier nicht näher eingegangen werden, vgl. dazu etwa Krais/Gebauer (2002); Lenger/Schneickert/Schumacher (2013). Gemeint ist an dieser Stelle weniger die lateinische Übersetzung und Interpretation der aristotelischen hexis-Idee bei Thomas von Aquin als vielmehr das soziologische Konzept bei Pierre Bourdieu, in dem der Habitus einerseits als Produkt einer Prägungs- und Aneignungsarbeit verstanden wird, andererseits als der dafür verantwortliche strukturierende Mechanismus selbst. Handlungsdispositionen, Wahrnehmen und Denken (Einstellungen, Haltungen, Gesinnungen, Sitten, Moralvorstellungen, Geschmack, Rollenbilder etc.) eines bestimmten sozialen (Um-)Feldes weben sich über Konditionierung allmählich in die individuelle (Lern-)Geschichte und ins Selbst-Bewusstsein ein – sie werden also inkorporiert, d. h. zu Leib gewordener (Sozialisations-)Geschichte oder Ergebnis einer Lebenspraxis. 89

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Ethos, Haltung und Vermögen

bewegung aus einer habituellen Verfasstheit heraus verstanden werden kann – eine Absatzbewegung, die ein entsprechendes Bewusstsein und Bildung voraussetzt und vielleicht als ein kultureller Prozess verstanden werden könnte. Peter Bieri (2011, 83) hat diesen Prozess anschaulich vor Augen führt: »Sich bilden – das ist wie aufwachen. Das kulturelle Gewebe […] stößt uns am Anfang des Lebens nur zu, es wirkt auf uns ein und prägt uns, ohne daß wir uns dagegen wehren können. Wir bewegen uns darin wie Schlafwandler: unauffällig und zielsicher, aber ohne gedankliche und emotionale Plastizität, ohne reflektierende Distanz und ohne Sinn für Alternativen. Wenn wir dann die Stufen oder Phasen der Aneignung durchlaufen […] werden wir immer wacher: Wir lernen, über die Grammatik der zunächst blinden Kultur zu sprechen, sie in größeren Zusammenhängen zu verstehen und als eine unter mehreren Möglichkeiten zu betrachten. Je größer Transparenz und Übersicht werden, desto größer wird die innere Freiheit, aus dem Schatten blinder Prägungen herauszutreten und sich zu fragen, wer man sein möchte.«

Ein alter Begriff, der diese doppelte Formung verdeutlicht, ist der des Ethos, das die Gesamtheit der persönlichen Haltungen, Wertmaßstäbe, Überzeugungen, Sinnvorstellungen und Tugenden von Personen bezeichnet, die sich durch Sozialisation und/oder Reflexion verinnerlicht haben. Es entfaltet sich beim Menschen also potenziell auf zweierlei Art. Differenzieren lässt sich, in Anknüpfung an Aristoteles, das soziale Ethos, also Üblichkeiten und Gewohnheiten aus dem sozialen Umfeld, und das personale Ethos, das die Art und Weise, wie jemand innerhalb des sozialen Ethos sein eigenes Leben führt (Charakter), meint. 91 Durch das Potenzial zur Formung wird Haltung grundsätzlich zu einem Gegenstand der Ethik, in der eudaimonistische (Glück) und autonomistische (Freiheit) Elemente zum Tragen kommen (vgl. dazu etwa Höffe 2007). Es handelt sich dabei um ein spezifisches Aristoteles unterscheidet das ethos als eine Gewohnheit im Sinne einer Sitte vom eng verwandten Begriff des êthos als einer Gewohnheit im Sinne einer Verhaltensgewohnheit bzw. als Charakter. In seiner ersten Bedeutung meint Ethos den gewohnten Ort des Lebens. Insofern ist dieser ältere und aus dem Griechischen stammende Begriff ähnlich zu dem lateinischen Habitus, bezieht sich aber eher auf einen bestimmten Ausschnitt, nämlich die genannten Einstellungen, Wertmaßstäbe, Überzeugungen etc., während der Habitus umfassender ist. Trotzdem ist zu sagen, dass sich diese Begriffe und die jeweiligen Übersetzungen immer wieder überlappen und nicht scharf voneinander abzugrenzen sind.

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Selbstverhältnis bzw. ein Selbstverständnis. Immer geht es somit auch um die Fragen: Wie will ich sein? Welche Haltungen will ich eigentlich haben? Welche Haltungen sind für (m)ein gutes Leben förderlich? Damit zusammenhängend und für den vorliegenden Kontext von Relevanz, spielen pädagogische Aspekte eine Rolle – nämlich dann, wenn es um die Frage geht, wie wir eine Aneignung und Formung von Haltungen fördern, denn Haltung beinhaltet ein anthropologisches Potenzial, das wir durch Verstehen einerseits und durch Formung andererseits bewusst entwickeln können. 92 In der folgenden Skizze sollen einige der wesentlichen Punkte angerissen werden. Zunächst kann der Aspekt der Bezüglichkeit genannt werden, der sich zunächst konkret lebensweltlich zeigt, auf einer allgemeinen Ebene aber insbesondere eine dreifache Verhältnisbestimmung beschreibt: das Verhältnis zu sich selbst, das Verhältnis zur Natur (Erde/Welt, Kosmos) sowie das Verhältnis zu den Mitmenschen. Haltungen beschreiben unseren Umgang mit uns selbst, anderen und der Welt, insbesondere in herausfordernden, ambivalenten und kontingenten Situationen. Schon bei Aristoteles ging es dabei vor allem um die Auseinandersetzung mit unseren Leidenschaften und Gefühlen – sich den Affekten würdig zu erweisen, das meistert Veränderung. Der Gedanke einer gewissen inneren Unabhängigkeit von unseren Leidenschaften hat eine lange Tradition hinter sich, mit extremen Positionen wie jenen in der antiken Stoa, und findet sich auch noch in einem berühmten Ausspruch von Karl Jaspers (1997, 104 f.) wieder, auch wenn der Begriff der Haltung hier nicht explizit gebraucht wird. »(N)ur im Aufschwung aus der Gebundenheit an die Gemütsbewegungen, nicht durch ihre Tilgung kommen wir zu uns. Darum müssen wir uns hineinwagen, Menschen zu sein, und dann tun, was wir können, darin zu unserer erfüllten Unabhängigkeit vorzudringen. Dann werden wir leiden, ohne zu jammern, verzweifeln, ohne zu versinken, geschüttelt sein, ohne ganz umgeworfen zu werden, wenn uns auffängt, was als innere Unabhängigkeit uns erwächst. Philosophieren aber ist die Schule dieser Unabhängigkeit, nicht der Besitz der Unabhängigkeit.« Das kann, wie der Name schon verrät, dazu beitragen, in schwierigen Zeiten Halt zu gewinnen. Dies kann mit ethischen Implikationen statt mit Abstumpfung geschehen. Entwickelte Haltungen stellen sich beispielsweise Manipulationsversuchen entgegen, generieren Mut für das Treffen wichtiger Entscheidungen oder zeigen Wege eines anderen, ethischeren Umgangs miteinander auf.

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Inwieweit nun das Streben nach einer inneren Unabhängigkeit getrieben wird, muss genau betrachtet werden. Jaspers weiß freilich, dass sie in einem absoluten Sinne nicht zu erreichen ist. Das gilt allein schon, weil wir qua unserer Leiblichkeit in die Welt eingebunden sind. Heidemarie Bennent-Vahle (2020, 110 f.) hat im Hinblick auf den Lebensphilosophen Otto Friedrich Bollnow darauf aufmerksam gemacht, dass es bei der Herausbildung einer bejahenswerten Haltung, die immer auch andere Menschen mit einbezieht, nicht um einen mühsamen Akt der Selbstbezwingung gehe, »indem er spontane Impulse einfach ausschaltet, abwehrt oder umlenkt. Vielmehr wird er den positiven Wert und den versteckten Mitteilungsgehalt des Andrängenden mit Ruhe und Ausdauer erkunden, um genaue Erkenntnisse über sich selbst zu gewinnen. Und er wird das Erkannte schließlich umsichtig und angemessen in seine Handlungsentscheidungen einbeziehen. Schritt um Schritt formiert sich so eine Umgangsweise, die allen Aspekten des Menschseins gerecht wird.«

Es geht also, um es ein wenig emphatisch auszudrücken, um die angemessene Konfrontation mit dem Schicksal, immer aber auch um ein Selbstverhältnis zu unseren eigenen Antriebskräften, das sich als ein Verhalten gegenüber irrationalen Regungen offenbart und Elemente von Koordination und Kontrolle, Modulation bzw. Transformation, Verstärken und Abschwächen bis hin zum Neu-Lernen enthalten kann. Bei einer Haltung, so könnte man mit Peter Nickl (2005) sagen, geht es um die Integration der Affektivität in die Ethik. Insofern wird allmählich klarer, was mit einer empfindenden Vernunft oder mit dem denkenden Herzen gemeint sein kann: Zum richtigen Handeln braucht es nicht nur die richtige Einsicht, sondern ebenso eine richtige affektive Disposition. Damit kommt die pathische Dimension des Menschen zur Geltung. In diesem Sinne ist es notwendig, sich überhaupt von etwas treffen lassen zu können, was ebenfalls Grundbedingung für zwischenleibliche Empathie und Resonanz, Einfühlungsvermögen und, darauf aufbauend, Mitgefühl ist. 93 Damit wird deutlich, welch großen Einfluss eine Haltung auf die Beziehung zu anderen Menschen hat, sei es im Kontext Philosophischer Praxis im engeren Sinne oder allgemein. Es geht hier, so könnte gesagt werden, um die Ausbildung eines entsprechenden Spürsinns, der erkennen lässt, was das Gegen93

Siehe zu den Stufen des Mitfühlens Bennent-Vahle (2020, 195 ff.).

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über bewegt. Das Bewusstsein, die Sorge und die Kultivierung des Leiblichen sind damit von herausragender Bedeutung für Philosophische Praxis, weil sie bereits auf Zwischenleibliches verweisen, das von großer Relevanz für das Beziehungshafte ist. Und Beziehung ist, wie gesehen, wesentlich. Insofern ist hier eine Haltung notwendig, die Beziehung zulässt, die Nähe ermöglicht, die Vertrauen fördert. Im Hinblick auf Haltung handelt es sich außerdem um etwas, das sich zeigt. Auf dieses Merkmal hat bereits Aristoteles in der Nikomachischen Ethik verwiesen, vor allem im Hinblick auf die Tugenden, die spezielle menschliche Formen von Haltungen darstellen. In diesem Sinne – Gernot Böhme (1997, 147) spricht hier auch von den Weisen des Gutseins – sollen Haltungen hier verstanden werden. Sie zeigen sich in einem Tun, gehen darin aber nicht auf. Sie beinhalten immer auch Fähigkeiten bzw. Kompetenzen 94, die jedes Individuum im Laufe der Zeit entwickelt und stabilisiert. 95 Die Besonderheit des Konzepts der Haltung besteht also darin, dass es einerseits über die Vorstellung einer rein kognitiven Einstellung hinausgeht und damit die leiblich-lebendige Verfasstheit des Menschen ernst nimmt. Andererseits widersetzt es sich einem allzu funktionalistischen Kompetenzdenken, das vor allem dann zum Problem wird, wenn es vorwiegend von einer einfachen technischen Vernunft geprägt ist. 96 In der Entwicklung einer Haltung findet immer auch Aufbau und KultiDer Einfachheit halber werden hier die Begriffe Kompetenz, Fähigkeit und Fertigkeit synonym verwendet, auch wenn Kompetenz heute gerne eher als Über- bzw. Sammelbegriff für diverse Unterkategorien wie beispielsweise ein spezielles Wissen, Fähigkeiten, Motivationen, Interessen, Fertigkeiten oder gar Verhaltensweisen gebraucht wird. Kompetenz wird allgemein aber auch so konzipiert, dass in ihr verschiedene Dinge zusammengedacht werden: Als Handlungskompetenz stellt sie eine Ergänzung von Wissen durch Können dar, als personale K. die Ergänzung des Technisch-Funktionalen durch Persönliches und schließlich die soziale K. als die Ergänzung des Technisch-Sachlichen durch Sozial-Kommunikatives. Auf eine weitere begriffliche Differenzierung soll diesbezüglich an dieser Stelle verzichtet werden. 95 Dahinter steht eine sehr fruchtbare Grundidee, die für uns nicht nur Anhaltspunkte für unser Handeln liefert, sondern auch immer schon durch die theoretische und praktische Beschäftigung mit ihr zur eigenen Transformation beiträgt. Haltungen – und in ihrer speziellen Form Tugenden – können dabei ethisch relevant in beide Richtungen sein: Sie zielen einerseits auf uns selbst und andererseits auf andere und die Welt. 96 Die starke Fokussierung auf Kompetenzen lässt sich nicht nur in der aktuellen Pädagogik feststellen, sondern auch in der neueren Persönlichkeitspsychologie, wohingegen es im wirtschaftlichen Bereich eher um den Begriff der Schlüsselqualifikationen geht. 94

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vierung einer inneren Instanz der Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit statt. Die oben angesprochene semantische Verantwortung ist ein Teil davon. Da, wo Haltung sich zeigt, kommt diese Instanz zur Geltung. Frei nach Kant könnte hier wohl formuliert werden: Einstellungen ohne Kompetenzen sind leer, Kompetenzen ohne Einstellungen sind blind. Stattdessen werden beide Elemente integrativ einbezogen und miteinander in Beziehung gesetzt. Etwas holzschnittartig zeichnet sich eine Haltung also durch ein besonderes Verhältnis von reflexiven Einstellungen und leiblichen Fähigkeiten aus. 97 Oder anders ausgedrückt: Erst durch die Fähigkeit zu etwas tritt in einer konkreten Situation eine Einstellung durch ein praktisches Verhalten offen zutage. So ist Haltung, wie auch Kurbacher (2017, 30) bemerkt, schon immer die Vermittlung von Theorie und Praxis. Es macht demnach einen Unterschied, ob ich bloß über eine tolerante Einstellung verfüge oder ob ich eine tolerante Haltung habe. So kann sich in einer konkreten Situation zeigen, dass ich zwar tolerant eingestellt bin – oder ich kann zumindest der Meinung sein, dass ich es bin –, dass ich mangels ausreichender Fähigkeiten aber nicht tolerant handeln kann. Von einer toleranten Haltung kann nur dann die Rede sein, wenn sie sich auch im konkreten Handeln zeigt – und zwar aufgrund ihrer dispositionalen Verfasstheit immer wieder. 98 Es sollte hier auch deutlich geworden sein, dass Haltung weder Strategie noch Methode ist, obwohl beide als inkorporierte Vermögen in der Haltung durchaus zum Tragen kommen können. An dieser Stelle kommt ein weiteres zentrales Merkmal ins Spiel: Dispositionen stellen sich in diesem Kontext als Eigenschaften dar, die sich in einem gewissen Rahmen bzw. unter geeigneten Umständen manifestieren können. Sie nehmen eine Art Mittelposition ein, nämlich zwischen Potenz und Akt. 99 Damit wird ein ambivalentes Aus pädagogischer Perspektive könnte die Verbindung in gleicher Weise zwischen Wissensanteilen klassischer Humboldtscher Bildung mit der Förderung von Kompetenzerwerb gesehen werden. So ließe sich der an Kant angelehnte Ausspruch nochmals umformulieren: »Bildung ohne Kompetenzen ist leer, Kompetenzen ohne Bildung sind blind.« 98 Hier unterscheiden sich die aufgrund des dispositionalen Charakters der Haltung immer wieder vollzogenen Handlungen von zufällig auftretenden Einzelhandlungen. Haltung ist demnach auf Dauer angelegt. 99 Nicht von Ungefähr wird der aristotelische Begriff hexis mit seiner Stellung zwischen Akt (energeia) und Potenz (dynamis) neuerdings auch mit Disposition übersetzt. In älteren Übersetzungen war hingegen beispielsweise von Gewohnheiten die Rede. 97

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Merkmal von Haltung berührt, das je individuell ausgeprägt ist und etwas Prozesshaftes zwischen den Polen Festigkeit und Variabilität bzw. zwischen Statik und Dynamik darstellt. Situativ zeigt sie sich als Abkürzung gegenüber langwieriger Reflexion und nähert sich dem Automatischen an, generiert sich andererseits aber auch als Verzögerung gegenüber dem Reflexhaften und schafft dadurch Aufschub und Zeit. Als Vollzug enthält Haltung ein performatives, flexibles Moment von Offenheit. Dispositionen werden durch (Ein-)Gewöhnung angeeignet – ein Umstand, den ebenfalls bereits Aristoteles deutlich herausgestellt hat. Insofern können Haltungen in diesem Sinne auch als mitverantwortete sekundäre Natur der einzelnen Personen betrachtet werden. Die fundamentale Relevanz des immer wieder Üben-Müssens, des Trainierens, Stabilisierens ist sicherlich nicht nur für Pädagogen eine Selbstverständlichkeit – und trotzdem wird sie in vielen Kontexten gerne vergessen. Am Ende bleibt ein Unverständnis hinsichtlich des Umstands, dass zwar eine Einsicht bzw. ein Verständnis der Dinge vorliegt – die richtige Einstellung sozusagen –, aber das entsprechende Handeln nicht folgt. Das hat natürlich Konsequenzen für die Vermittlung, die sich eben nicht mit theoretischen Reflexionen im Unterricht oder durch Lektüre begnügen darf, sondern auf konkretes Tun ausgerichtet sein sollte, das vor allem durch einübendes Praktizieren inkorporiert werden muss. 100 »Wer aus einer Haltung heraus lebt, der handelt nicht aus Zufall oder aus einer glücklichen Stimmung. Er ist auch nicht der Spielball der auf ihn einwirkenden emotionalen sozialen Kräfte. Er lebt aus der eigenen Persönlichkeit, daher sowohl mit innerer Zustimmung als auch in großer Verläßlichkeit. Der zur Tugend führende Lernprozeß ist daher erst dann erfolgreich abgeschlossen, wenn man erstens mit Regelmäßigkeit das Richtige und dieses zweitens ohne jeden inneren Widerstand tut.« (Höffe 2009, 131)

Haltungen entwickeln sich über ein Eingewöhnen, das sich je individuell auf einer Skala von eher passiv-unbewussten Vorgängen, vorwiegend bei der Übernahme der Muster und Entwürfe der jeweiligen Gemeinschaft, bis hin zu gestaltenden, also bewussten und reflexiven Transformationen, den Selbst- und Lebensentwürfen, vollziehen kann. An dieser Stelle tritt die Vernunft auf den Plan. Ebenso wird die Thematik der Fremd- bzw. Selbstbestimmung berührt. Doch Dies ist selbstverständlich kein Plädoyer gegen das solitäre und gemeinsame Reflektieren, das sowohl wesentlicher Teil des Prozesses ist als auch selbst eine Tätigkeit.

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selbst diese Wahl, so bewusst, reflexiv und vernünftig sie auch sein mag, ist nie völlig losgelöst, sondern je ins Soziale eingebettet, fußt sie doch immer auch auf der verwendeten Sprache, kulturellen Kodierungen und Traditionen. Zu betonen ist hier die Verzahnung von individuellen, überindividuellen und gemeinschaftlichen Momenten. Im Zusammenhang mit dem Einüben und Eingewöhnen, das auch sehr technisch verstanden werden könnte, spielt selbstverständlich Erfahrung eine Rolle – und diese braucht eben ihre Zeit. Haltung sollte von Anfang an als ein ganzheitliches, leibliches Phänomen gedacht werden und nicht im Sinne einer Zwei-Schichten-Anthropologie mit einer naturalistischen Basis mit einem rationalen Überbau. Als Leib haben wir grundsätzlich Anteil sowohl an dem, was wir Natur nennen, als auch an dem, was wir Sozialität und Kultur nennen – ohnehin eine Trennung, die wir erst im Nachhinein vornehmen. Andere Menschen spielen dabei in allen Dimensionen des Leibes eine fundamentale Rolle. Durch sie kommen die Aspekte des Ausdrucks, der Kommunikation, der unterschiedlichen Formen von Sprache hinzu und damit die Möglichkeit des Überschreitens des präreflexiven Bereiches, der jedoch immer vorgängig und uns ein Stück weit verborgen bleibt. In der frühen, präreflexiven Auseinandersetzung mit der Welt werden die grundlegenden Bedeutungen der Dinge für uns ausgebildet, die sich von Anfang an leiblich manifestieren. Mit den Entwicklungen von den basalen hin zu ausdifferenzierteren Aspekten, wie der verbalen Sprache oder komplexeren Gefühlsphänomenen, geht die Sozialisation im engeren Sinne einher. Bereits die Bewusstwerdung der eigenen Erscheinung ist mit Anderen verbunden. Der Begriff Haltung dient damit ebenfalls zur Beschreibung menschlicher Lebensform, weil sich jene in verschiedenen Haltungen realisiert, differenziert und konkretisiert. Hier laufen die verschiedenen Stränge wie Emotionalität, Rationalität, Körperlichkeit, Wahrnehmung und Volition zusammen. Andererseits bietet Haltung im engeren Sinne »überhaupt die Möglichkeit zum Gewahrwerden und zur Bewusstheit, eine Haltung einzunehmen, sich als die Person, die man ist, zu halten« (Kurbacher 2016, 151). Dies wäre dann als Grundlage und Voraussetzung zur Übernahme von Verantwortung zu betrachten. Hier wird die ethische Dimension berührt, denn es geht um Autorschaft, also Zuschreibung von Handlungen zu einer Person. Es geht darum, die herausfordernden, bedrohlichen, kontingenten und ambivalenten Dinge nicht einfach nur irgendwie auszuhalten, wie das heute etwa in manchen Re220 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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silienzkonzeptionen angelegt ist, sondern ihnen produktiv entgegenzuwirken (vgl. Slaby 2016). Haltung ist in diesem Sinne eine verändernde Kraft, die auch darauf abzielt, Verhältnisse aktiv umzugestalten – eine Haltung, in der Widerständiges eine gewisse Kraft besitzt, wo etwa Gegenwehr zu den oben genannten Vernutzungslogiken geleistet wird und Gegenpraktiken entwickelt werden können. Unter ethischen Gesichtspunkten kreuzen sich an dieser Stelle die Vorstellung vom guten Leben mit denen von Selbstbestimmung und Selbstentscheidung sowie der Selbstwahl und Selbstkorrektur, schließlich der Selbsterziehung – alles Elemente, die unter die Idee der Selbstsorge gefasst werden können. Doch diese multiplen SelbstBezeichnungen können täuschen. Sie deuten gerade nicht auf einen enthemmten Individualismus hin. Die Arbeit an der Haltung bietet eine Alternative zum bloßen Aushalten und dazu, allem nur gerecht zu werden. Sie leistet Widerstand gegen das funktionalistische Denken unserer Zeit, ohne in kognitivistische Strategien zurückzufallen. Insofern ist hier Haltung wohl untrennbar mit der eigenen Person und Lebensform verknüpft. Eine Bewusstheit auch für die eigenen Muster im Denken, Sprechen und im Fühlen, für die eigenen grundlegenden Dispositionen und Verhaltensweisen scheint unbedingt geboten zu sein, auch wenn diese leiblichen Aspekte nie als ganze vor unseren Blick kommen; der Leib, so lässt sich in Anlehnung an Merleau-Ponty (1966) sagen, ist uns nie vollständig zugänglich. Nach Ran Lahav (2017, 29) sollten Praktiker »erfahrene Reisende im Reich der Ideen« sein: »Sie müssen ein umfassendes Wissen über geschichtliche Konzepte für grundlegende Lebensfragen besitzen, eine große Fähigkeit, kreative Ideen zu entwickeln, und die Weisheit und Lebenserfahrung, dies in den Zusammenhang mit den höheren Dimensionen der menschlichen Existenz zu bringen.«

Philosophische Praxis tritt für die einzelnen Praktiker nicht nur in Beziehung mit anderen, Gästen, Kollegen, Familie und Mitmenschen in Erscheinung, sondern auch in Beziehung zu sich selbst. In beide Richtungen ist ein Bemühen um Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Vertrauen gefragt, die angesichts der genuinen Bedeutung des Miteinander-Sprechens für Philosophische Praxis von herausragender Bedeutung sind. Hier ist tatsächlich mehr gefragt als die bloßen Vermögen dazu – hier gilt es tatsächlich, entsprechende Haltungen zu entwickeln. Es bedarf einer transformativen Praxis, die den Blick auf 221 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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die eigene Person, Ethos und Lebensform lenkt. So meint etwa Gernot Böhme (1997, 27): »Um wirklich raten zu können, fehlt der professionellen Philosophie gerade jene Bemühung um die Herausbildung eines Persönlichkeitsniveaus, von dem ich unter Philosophie als Lebensform gesprochen habe. Hilfe bei der sittlichen Orientierung setzt eben nicht akademische Ausbildung, sondern Bildung voraus.«

Nun geht es Philosophischer Praxis, das dürfte in dieser Arbeit deutlich geworden sein, nicht ums Raten im Sinne eines Erteilens von Ratschlägen, um gemeinsame Beratschlagung bisweilen schon. Die Beantwortung der Frage, welche Aspekte nun in ein gutes persönliches Ethos im Sinne Philosophischer Praxis einfließen müssten, kann und soll hier nur skizzenhaft geschehen, weil dies andernorts sicherlich ausführlicher verhandelt wird. 101 Dazu gehört auch die Arbeit an den Gewohnheiten, den »Abrichtungen« (Wittgenstein), Wahrnehmungs-, Denk- und Affektionsweisen, die das situative Verhalten und Handeln leiten. Lars Leeten (2019, 224) spricht diesbezüglich von einer ästhetischen Konstitution des Logos: »Eine ethische Transformation kommt nicht einfach dadurch zustande, dass Worte auf die Sinne wirken. Um das gelebte Ethos handlungswirksam umformen zu können, muss der Logos selbst eine ästhetische Konstitution haben. Diese wird greifbar, wenn man fragt, wie die Redepraxis in ihrer konkreten Bestimmtheit aussieht: In Erscheinung tritt dann ein Komplex von besonderen Vollzugsformen, die einer je eigenen inneren Logik folgen. Nicht der Logos als solcher ist das Medium der Arbeit am Ethos, sondern der Logos in seinen innerweltlichen Gestalten.«

Zu solch einer Haltung gehört die bei Leeten für die Antike konstatierte Diskursivität als ethische Praxis, die von der Verwobenheit von Logos und Ethos gekennzeichnet ist. Im hier gebrauchten Verständnis von Haltung lässt sich dies verdeutlichen: Aus einer Haltung heraus ergibt sich ein entsprechendes diskursives Handeln, das eine Rückwirkung hat, welche die Haltung festigt und kultiviert. Jeder diskursive Prozess wirkt also selbst auf die Haltung zurück, einmal direkt, indem er diese festigt, aber auch indirekt als Ausgangspunkt der Möglichkeit für das Reflektieren und Bewerten der Handlung bzw. des Prozesses selbst. 101

Vgl. dazu den Band von Ute Gahlings in dieser Reihe.

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Es dürfte aus den Ausführungen aber klar geworden sein, welche Momente im Hinblick auf ein gutes Miteinander-sprechen-Können wichtig sind. So scheint eine empathische und resonanzsensible Haltung im Hinblick auf Begegnung grundlegend zu sein. Zwischenleibliche Empathie wird hier als ein grundlegend leibliches Vermögen des Menschen gesehen, die Gefühle und Befindlichkeiten des Gegenübers durch einen gewissen gefühlsmäßigen Mitvollzug zu verstehen. Darauf aufbauend gehören die Fähigkeiten des Mitfühlens und der Perspektivenübernahme mit in diese Kategorie. An dieser Stelle soll noch eine weitere Idee stark gemacht werden, die ebenfalls Element und Wesen von Haltung sein bzw. werden kann, nämlich die in den letzten Jahren von Hartmut Rosa (2016) stark gemachte Idee von Resonanz. In der hier vorliegenden Konzeption markiert sie das gerade angeschnittene Moment der Offenheit. Bei Resonanz geht es in erster Linie um ein prozesshaftes In-Beziehung-Treten mit einer Sache, um eine Anverwandlung von Welt, wie Rosa es ausdrückt: Trete ich in Resonanz mit etwas oder jemandem, so verwandle ich mich dabei auch selbst. 102 Im Hinblick auf Philosophische Praxis sind vor allem zwei Momente von Relevanz, nämlich das Resonanzgeschehen selbst, also das Ereignis des Erfahrens von Resonanz, das punktuell ist, nicht dauerhaft bzw. statisch fixiert, sowie eine stabile resonanzsensible Haltung, die erstere überhaupt ermöglichen soll. Sowohl in der Aktualisierung als auch in der Potentialität der Haltung spielt einerseits das Vermögen eine Rolle, zu affizieren und affiziert zu werden, andererseits eine responsive Fähigkeit. Rosa spricht hier von einer dispositionalen Resonanz, einer positiven Grundhaltung eines Subjekts gegenüber der Welt, die sich nicht nur in einer grundsätzlichen Offenheit, sondern auch in einem Zutrauen zeigt. Sie akzeptiert dabei die Verletzlichkeit des Menschen als eine anthropologische Grundsätzlichkeit und nimmt sie freilich in Kauf. Resonanz spielt damit eine zentrale Rolle im Hinblick auf ein gutes Leben, denn »ob Leben gelingt oder misslingt«, so Rosa (2016, 53), »hängt davon ab, auf welche Weise Welt (passiv) erfahren und (aktiv) angeeignet oder anverwandelt wird und werden kann«. Es geht also

»Anverwandlung meint, sich einen Weltausschnitt, einen Stoff so anzueignen, dass man sich selbst dabei verwandelt. Das Subjekt be- und verarbeitet den Stoff und verändert dabei sich selbst ebenso wie den bearbeiteten Weltausschnitt. Im Gegensatz dazu bedeutet reines Aneignen nur, sich etwas einzuverleiben, es unter Kontrolle zu bringen oder verfügbar zu machen« (Rosa/Endres 2016, 124).

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um den »Grad der Verbundenheit mit und der Offenheit gegenüber anderen Menschen (und Dingen)«. Was hier im Hinblick auf eine resonante Haltung nur angedeutet wird, gilt ebenso für die Lebensform. Genannt werden müssten natürlich noch andere Vermögen, die in einer Haltung Philosophischer Praxis zur Geltung kommen können, das thematisierte Hören und Sprechen etwa, aber auch das Sediment eines inkorporierten philosophischen Wissens, das durch die persönliche Auseinandersetzung aus der Haltung heraus empraktisch wird. 103 Empraktisches Wissen ist ein solches implizites Wissen, das sich zwar in einem Können zeigt, in der Praxis also zur Geltung kommt, das selbst aber kaum formulierbar ist, über das also nur schwer gesprochen werden kann (vgl. etwa Stekeler-Weithofer 2016). Die vielgestellte Frage, was denn nun das Philosophische an Philosophischer Praxis sei, kann, neben anderen angebbaren Aspekten wie der Anbindung an eine philosophische Tradition oder Hinweisen auf verschiedene fachliche Methoden, auch mit Verweis darauf beantwortet werden: Das Philosophische zeigt sich auch im Empraktischen – in der immer auch präreflexiv verfassten Art und Weise des Sprechens, Hörens und Begegnens, in der inkorporiertes theoretisches Wissen und implizites Erfahrungswissen zur Anwendung kommt – und in Teilen, darauf kommt es hier an, nicht immer konkret angebbar ist. Dass die Antworten auf die Frage, was denn nun das Philosophische an Philosophischer Praxis sei, bisweilen etwas seltsam daher kommen, hat, zumindest im Hinblick auf das Empraktische, genau darin seinen Grund, dass diese Antworten nicht genau wörtlich zu verstehen sind. Es kann als ein prozedurales Vermögen gesehen werden, in dem sich geschultes Denken und sedimentiertes Wissen in einem Können, in einer Praxis offenbart. Das Philosophische, das in Philosophischer Praxis dem Gegenüber aktiv zur Verfügung gestellt wird, zeigt sich erst im Vollzug selbst, es zeigt sich dadurch, dass mit ihm verstanden werden will. Genau in diesem Sinne kann Philosophische Praxis als eine Kunst verstanden werden. Als eine solche kann sie vielleicht als ein Gebilde gedacht werden, das einen empraktischen Unterbau besitzt, aus dem ein performativer Teil hervorgeht. Das müsste freilich näher untersucht werden. Volker Caysa hat die BasisDer Begriff des Empraktischen findet sich zunächst beim Phänomenologen, Psychologen und Sprachphilosophen Karl Bühler, genauer in dessen Sprachtheorie (1934).

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funktion des Empraktischen für das darauf fußende Performative in seinem Buch Empraktische Vernunft (2016) vor Augen geführt. »Im Empraktischen wird sich folglich das dort Daseiende selbst durchsichtig. Es erschließt sich, es west an, in seiner Weise zu sein; es offenbart sich in seinem Eigensein. Selbst also die Reflexionswissenschaft Philosophie, deren Tun wesentlich in der Reflexion besteht, funktioniert wie Sport, Sex, Wissenschaft und Kunst auf der Basis des Empraktischen.« (Caysa 2016, 15 f.)

Während das Augenmerk bisheriger Überlegungen zur Philosophischen Praxis als Praxis wohl viel stärker auf den letzteren Bereich gerichtet war, wäre es vielleicht lohnenswert, den ersteren genauer zu studieren. Die Geschichtlichkeit solcher empraktischer Vermögen zeigt sich übrigens konkret in den neuronalen Strukturen des leiblichen bzw. impliziten Gedächtnisses. 104 Hier lässt sich auch ein Zusammenhang zwischen intersubjektiver Wahrnehmung, Ausdrucksbewegung und Gefühlsempfindung erkennen, der eine Art Interaffektivität nahelegt, die mit zunehmender Entwicklung entsteht. 105 An dieser Stelle kann nicht tiefer in diese Entwicklungspro»Erblickt man z. B. ein Werkzeug, so werden im Kortex diejenigen Neuronen aktiviert, die auch zum motorischen Gebrauch des Werkzeugs benötigt werden. Die Wahrnehmung ruft also immer die Interaktionsschemata mit auf, die in früheren Erfahrungen mit dem Objekt gebildet wurden. Mit anderen Worten: Ein Objekt zu erkennen bedeutet zu wissen, wie man mit ihm umgeht« (Fuchs 2013, 146 f.). Vgl. zum Gedächtnis, zur Unterscheidung des impliziten vom expliziten (autobiographischen) Gedächtnis bei Bergson und dem vermittelnden Leibgedächtnis ausführlicher Fuchs (2008, 37–43). 105 Dieser interaktive Vorgang zwischen motorischen, emotionalen und sozialen Faktoren lässt sich auf neuronaler Ebene beschreiben, nämlich in der Verknüpfung interaktiver Schemata bzw. in Form des interaktiven Gedächtnisses. Diese Verknüpfungen sedimentieren sich in Netzwerkstrukturen verschiedener Funktionszentren und gehen in konkreten Situationen in Resonanz mit der entsprechenden Umweltsituation. Damit lässt sich das mit dem Begriff der Empathie verbundene Verstehen und das Vermögen begreifen, Andere in ihren Gefühlen und Einstellungen zu erkennen und gefühlsmäßig nachzuvollziehen. »Jeder Umgang mit Anderen hinterlässt durch synaptisches Lernen auch Spuren auf neuronaler Ebene, freilich nicht in Form von lokalisierbaren, fixiert gespeicherten ›Erinnerungen‹, ›Abbildungen‹ oder ›Repräsentanzen‹ der Interaktionen bzw. der Bezugspersonen, sondern in Form von Dispositionen des Wahrnehmens, Fühlens und Verhaltens. Diesen Bereitschaften liegen weit verteilte Muster von Netzwerkverbindungen zugrunde, die sensorische, motorische und limbisch-emotionale Zentren gleichermaßen einbeziehen. Sie treten in Resonanz zu aktuellen Umweltsituationen oder Personen und aktivieren dazu passende Verhaltensformen, auch ohne dass sich das Kind explizit an frühere Lernprozesse erinnern muss« (Fuchs 2013, 195). 104

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zesse eingestiegen werden. Es genügt der Hinweis darauf, dass sich das Philosophische, das sich auch im Empraktischen zeigt, nicht billig zu haben ist, sondern der steten Auseinandersetzung und Übung bedarf, damit gewisse Aspekte automatisiert werden können, um damit ausreichend Kapazitäten für andere Aspekte gewinnen zu können, die für ein gutes dialogisches Gespräch hilfreich und notwendig sind. Was Stekeler-Weithofer (2016, 37) im Hinblick auf die Rede meint, lässt sich entsprechend auf das Dialogische übertragen (und gilt dort wohl noch stärker): »Wer die Technik der Rede lernt, weiß entsprechend, wie viel an Praxis und Übung es braucht, und warum es schwierig ist, als Redner, der sich auf eine Sache konzentriert, auch noch andere Dinge wahrzunehmen. Man braucht nämlich immer die entsprechende Zeit, um die Kontrolle zu behalten. Unerfahrene Redner, ähnlich wie unerfahrene Sportler, achten daher zu sehr auf den Ablauf ihrer eigenen Vollzüge und korrigieren sich dauernd selbst.«

Diese Einsicht in stete Übung und Praxis vertritt bekanntlich schon Platon in der Politeia, auch wenn es dabei freilich um Philosophen als potenzielle Führer des Staates geht: Er verweist darin auf einen im Prinzip lebenslangen Prozess, der durch die kontinuierliche Verknüpfung von Wissen und praktischer Erfahrung auf immer wieder höhere Stufen des philosophisch-praktischen Vermögens hebt, die sich als gute Haltungen manifestieren. Vielleicht ließe sich an dieser Stelle auch der Begriff Weisheit verwenden, der hier zunächst allgemein im Sinn einer integrativen Fähigkeit zum Verständnis wesentlicher Aspekte einer konkret zu beurteilenden (Lebens-)Situation verstanden werden soll. Philosophie, deren Primat auf dem Geistig-Sprachlichen (Logos) liegt und in der Wissen zentral ist, das Wissenschaft ist oder wenigstens zur Wissenschaft tendiert (vgl. Böhme 1997, 22), wurde immer wieder als ein Weg zur Weisheit verstanden. Weder ist solch eine geistigsprachliche Denkungsart aber gleichzusetzen mit Weisheit noch ist es ausgemacht, dass die Kultivierung jener Denkungsart tatsächlich zur Weisheit führt. Dabei kann letztere Aussage ohnehin fraglich sein, vor allem deshalb, weil wohl kaum bestritten wird, dass Weisheit graduell zu verstehen ist. Die universitäre Ausbildung zum Philosophen setzt diese zumindest in die Logos-Spur. Erfahrung und Erkenntnis können uns dabei zeigen, wohin wir noch schauen müssen, was wir noch einbeziehen müssen, was wir noch üben und erfahren 226 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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müssen. Aus dem Geistigen heraus verweist sie uns auf andere Sphären, etwa auf unsere Leiblichkeit und aufs Spirituelle oder Mystische. Um bisweilen auch auf anderen Wegen der Weisheit zu gehen, können wir die interkulturelle Perspektive einnehmen und beispielsweise auf buddhistischen oder taoistischen Pfaden wandeln. Wir können aber auch schauen und erforschen, wo vor dem Verkehr auf der seit langer Zeit gut befahrenen Logos-Autobahn gegangen wurde. Die Philosophin und Praktikerin Annegret Stopczyk-Pfundstein (2003; 2010) hat dies mit einem interessanten Anliegen getan: Sie wollte der antiken Göttin der Weisheit nachspüren und zeigen, dass die beiden antiken Erkenntniswege der Sophia und des Logos bzw. der beiden Schulen des Denkens am Ausgang der Antike in eins gesetzt waren – mit dem klaren Primat der hier männlich gedachten Vernunft vor der als weiblich assoziierten Weisheit. Den durchaus lesenswerten philosophie- bzw. kulturhistorischen Ausführungen von Stopczyk-Pfundstein zu dieser Thematik kann hier nicht nachgegangen werden. Es sei nur erwähnt, dass sie die antike Göttin der Weisheit nicht in Athene findet, sondern in der vorolympischen Naturgottheit Metis – jener Titanin, die von Zeus verschlungen wird, in ihm weiterlebt und ihn von innen heraus instruiert. Die beiden Erkenntnisarten sieht sie dann auch in einem historischen Kampf verwickelt, der etwa in der antiken Stadt Delphi ausgetragen worden sein könnte. Der klaren geometrisch angelegten Tempelanlage des Apoll (rationaler Logos) liegt in näherer Entfernung eine ältere, archaische Stätte zugrunde, die vielleicht der Weisheitsgöttin Metis gewidmet gewesen war. So interpretiert Stopczyk-Pfundstein (2010, 113): »Hier ging es um weibliche und männliche Wissensmacht. An diesem Ort gab es einen Kampf über die Zukunftsgestaltung unserer menschlichen Intelligenz, die geschlechtsbezogen war.« Nicht das Dionysische steht hier also im Gegensatz zum Apollinischen, sondern das Metissche. Abgesehen aber von der Frage nach dem Männlichen und Weiblichen geht es dabei auch um die Gegenüberstellung einer geistigen und leiblichen Denkform. Die Darstellung dieser zugespitzten Dichotomien möchte auf jene Sachverhalte hinweisen, gerade auf jenen eher eingleisigen Weg. Es geht dabei aber nicht um Ablehnung oder Geringschätzung einer logoshaften Denkform, sondern um das Stärken einer mit Leiblichkeit verbundenen Weisheit – und insgesamt um die »volle Entfaltung menschlicher Fähigkeiten«.

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13. Am Konnex von Lebensform und Weltweisheit

Die philosophische Frage nach der Form des Lebens ist einem solchen Leben selbst inhärent. In ihr geht es um die verwobene Beziehung von Leben und Wahrheit, von Denken und Wirken, ja um die Beziehungshaftigkeit eigener Existenz selbst. Mit Foucault (2009) kann hier vor allem der Zusammenhang von Selbst, Praxis und Haltung in den Blick genommen werden. Wenn Nietzsche den Menschen als noch nicht festgestelltes Tier bezeichnet, so gilt dies insbesondere auch im Hinblick auf die Lebensform, die zwar nicht nur, aber vor allem Philosophen aufgegeben ist. Schon Platon bestimmt die Philosophie selbst als eine Tätigkeit, die mit einer bestimmten Art zu leben verbunden sei. Es ist oft thematisiert worden, dass dies prägnant für antike Philosophien war, wo insbesondere die Sorge um sich als Voraussetzung des Zugangs zu einer philosophischen Lebensführung gesehen wurde. Oder einfach formuliert: Eine philosophische Lebensform erwächst aus einer Haltung der Selbstsorge, der auch die Mitsorge nicht fremd sein darf. Michel Foucault (2009) hat deutlich gemacht, dass es sich dabei also um eine Haltung handelt, »eine[] bestimmte[] Weise, die Dinge zu betrachten, in der Welt zu sein, sich in ihr zu verhalten, zu handeln und Beziehungen zu den anderen zu pflegen.« Pierre Hadot (2011, 176) hat dies zusammenfassend so formuliert: »Das ist also die Lehre der antiken Philosophie: Sie ist eine Aufforderung an jeden Menschen, sich selbst umzuformen. Die Philosophie bedeutet Umkehr, Transformation der Seinsweise und der Lebensweise, Suche nach Weisheit.« 106 Lebensform meint in diesem speziellen Sinne also eine besondere Weise, sein Leben zu führen, ein stetes Üben, ein anderer zu werden. An dieses grundsätzliche Aufgegebensein einer Lebensform kann Philosophische Praxis anknüpfen. Nicht vergessen werden darf dabei aber der Blick auf die eigene Es geht an dieser Stelle allerdings nicht darum, antike Lebensformen wieder aufzugreifen, insbesondere nicht jene stark individualistisch geprägten Formen.

106

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bereits erfolgte Subjektivierung – jene Seite der Subjektivierung, die vor allem passiv und Ergebnis gesellschaftlicher Produktion ist. Hier kommt der Aspekt der Selbstaufklärung ins Spiel. Es gilt, sich zu ihr zu verhalten. Wie lässt sich aus einer bestehenden Lebenspraxis heraus eine andere entwickeln? Als wesentliche Grundzüge der Praxis einer solchen Lebensform, die von einer Sorge um sich und der Sorge um andere und die Welt sowie von Selbst- und gesellschaftlicher Aufklärung ausgeht, können genannt werden: Distanznahme durch Reflexion und Kritik, Wahrhaftigkeit, ja Parrhesia, Integrität, Transformation durch Übung und Vermittlung im Dialog. Während das Vorverständnis bzw. die alltagssprachliche Bedeutung von Lebensform vermutlich eher unproblematisch ist, kann bei einer genaueren Spezifizierung die Frage aufkommen, ob denn dieser Begriff das hier Gemeinte am besten bezeichnet. Rahel Jaeggi (2014) hat Lebensformen allgemein praxistheoretisch rekonstruiert und als normativ verfasste Formationen des Sittlichen (Hegel) vorgestellt. Lebensformen können dabei als komplex strukturierte Bündel von sozialen Praktiken, Einstellungen und Orientierungen beschrieben und untersucht werden. 107 Wer eine spezielle Lebensform kennt, der weiß ganz allgemein, wie Menschen leben, was sie tun und wie sie es tun. Es gehe, so Jaeggi (2014, 69), um die »alltäglichen, lebensbestimmenden Orientierungen und den informellen Weisen der Lebensgestaltung«. All dies trifft für das hier zu Thematisierende zu. Allerdings ginge es bei Lebensformen vor allem und in erster Linie um die Bezeichnung kollektiver Phänomene, um kulturell geprägte bzw. historisch kontextualisierte und normativ verfasste Formen menschlichen Zusammenlebens, die sich als Ensembles sozial geteilter Praktiken zeigen und die auf eine gewisse Verallgemeinerbarkeit angelegt sind. 108 Das trifft für das, um was es hier geht, kaum zu. »In eine Lebensform wird man hineinsozialisiert, sie ist – in gewissem Umfang – vor den Individuen da und als ›Form‹ bereits gebahnt, auch Praktiken können dabei gesehen werden als »gewohnheitsmäßige, regelgeleitete, sozial bedeutsame Komplexe ineinandergreifender Handlungen, die ermöglichenden Charakter haben und mit denen Zwecke verfolgt werden.« (Jaeggi 2014, 102 f.). 108 Um Lebensformen miteinander vergleichen zu können, so ja das Anliegen von Jaeggi, weist sie ihnen die zentrale Funktion zu, Probleme zu lösen. Es geht also um Problemlösungsstrategien, um die Rationalität der Entwicklungsdynamiken der jeweiligen Lebensform sowie um deren Gelingen als ethisch-soziale Lernprozesse. Diese Aspekte sollen in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht weiter untersucht werden, da hier die Fragestellung eine ganz andere ist. 107

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wenn es […] zu den Bestandsvoraussetzungen von Lebensformen gehört, dass sie aktiv angeeignet werden. Anders gesagt: ›Sein Leben zu führen‹ ist etwas, das man tut, während Lebensformen einen Zusammenhang bezeichnen, in dem man lebt und aus dem heraus man handelt.« (Jaeggi 2014, 71)

Das, um was es an dieser Stelle vor allem geht, wird bei Jaeggi (2014, 71) mit dem Begriff der Lebensführung bezeichnet, der »systematischen Ausrichtung des Lebens auf etwas hin oder dem systematischen Vollzug des Lebens, sofern er von bestimmten, negativ oder positiv bewerteten Prinzipien geleitet ist«. Hier kommt sowohl das bewusst-aktive Moment stärker zum Tragen als auch das stärker individuelle – dies kann wohl, bei aller Vorsicht, analog zur im letzten Abschnitt skizzierten Gegenüberstellung von Gewohnheiten (Lebensform) und Haltungen (Lebensführung) verstanden werden. Zum begrifflichen Komplex dessen, um was es hier geht, können aber auch Lebensweise oder Lebensstil gezählt werden. Für die vorliegende Untersuchung ist diese scharfe Begriffsdifferenzierung sicherlich nicht uninteressant – sein Leben nicht einfach nur so zu leben, sondern vielmehr selbst führen zu wollen, wurde ja eingangs als Motiv vorgestellt, mit dem manche Besucher zur Philosophischen Praxis kommen. Warum sollte dies für Praktiker selbst nicht ebenso gelten, wenn nicht sogar noch stärker? Genau darum soll es in den folgenden Ausführungen gehen, um das Aufmachen einer Perspektive, die unter der Idee Philosophischer Praxis die eigene Lebensführung in den Blick nimmt. In diesem Sinne geht es auch um die Frage nach der Transformation einer Lebensform in eine Lebensführung. Und trotzdem: Auch wenn aus dieser von Jaeggi aufgemachten sozialwissenschaftlich-sozialphilosophischen Blickrichtung, der es vor allem um Vergleichsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Lebensformen geht, Lebensführung vielleicht die geeignetere Bezeichnung wäre, soll hier am Begriff der Lebensform festgehalten werden. Erstens geht es hier nicht um Lebensform als einer Analysekategorie, weil es nicht um Analyse geht, und zweitens knüpft die Verwendung von Lebensform an einen philosophiehistorischen Gebrauch an, der Lebensform auch im Sinne einer philosophischen Lebensführung versteht. 109 Und hierzu kann auch noch das genommen werden, was oben als Subjektkultur bezeichnet wurde, und, um den In einigen Aspekten steht der hier verwendete eher umfassendere Gebrauch von Lebensform sogar im Widerspruch zum spezifischen bei Jaeggi. Auf eine nähere Dar-

109

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Bogen zur dritten bereits angesprochenen Sozialkategorie zu spannen, die Verbindung zur Institution. Im Hinblick auf all diese Kategorien kann Philosophische Praxis näher untersucht und expliziert werden – was allerdings nicht das Anliegen dieser Arbeit ist, der es lediglich um das Aufzeigen verschiedener Perspektiven geht. Was aber bereits oben untersucht wurde, war ein grundlegendes Verständnis von Praxis als Weltöffnung, das über die besonderen Weisen dialogischen Philosophierens und Begegnens weiter expliziert wurde. Wenn nun nochmals jene Praktiken in den Blick kommen, dann soll dies nun stärker in einem zusammenhängenden Kontext betrachtet werden. Praktiken haben Voraussetzungen in anderen Praktiken, darüber hinaus bieten sie Anschlüsse für weitere Praktiken, wie Jaeggi (2014, 103) aufgezeigt hat: »Praktiken sind somit vernetzt mit vielfältigen anderen Praktiken und Einstellungen, in deren Zusammenhang sie ihre spezifische Funktion und Bedeutung erst gewinnen. Es sind solche Zusammenhänge und Kontexte, die man Lebensformen nennen kann.« Ausgehend von diesen grundlegenden Überlegungen soll also nun gefragt werden, welche Praktiken zusammen eine solche Lebensform bilden, die von einer Idee Philosophischer Praxis inspiriert ist. Eine solche Lebensform zeichnet sich wohl vor allem durch ein hohes Maß an bewusster Lebensführung und am Bemühen um Selbstfindung und Selbstverständigung sowie deren Umsetzung aus. Das hat, folgen wir Foucault (2009, 27), der auf die Verwandtschaft von epimeleia und melete (Übung/Meditation) hinweist, etwas mit der Selbstsorge zu tun, die auch eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit für das eigene Denken enthält. Eine kritische Ontologie ist gefragt. Hier kommt auch das Selbstverständliche in Form der eigenen Gewohnheiten und praktischen Routinen immer wieder in den reflexiv-kritischen Fokus. Für Gernot Böhme (1997) kommt der Philosophie in der Weise als Lebensform ein gewisser Vorrang zu. In seiner Einführung in die Philosophie unterscheidet er sie von den beiden anderen Weisen der Philosophie als Wissenschaft und Philosophie als Weltweisheit. Philosophie als Lebensform habe in erster Linie die Person im Blick, insbesondere was die Reife und die Weisheit angehe. Es gehe dabei um die Einheit von Person und Wissen,

stellung bzw. Auflistung dieser Gegensätze wird an dieser Stelle aber verzichtet. Für die Vertiefung der hier nur skizzierten Thematik wäre dies aber durchaus interessant.

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also um einen Wissenstyp, in dem man Wissen und Person nicht trennen kann (Böhme 1997, 24): »Philosophie als Lebensform ist ein Weg zur Weisheit, auf dem Wissen eine persönlichkeitsverändernde Wirkung zukommt und auf dem ein psychischer Zustand erreicht wird, in dem man aus dem Wissen heraus handeln kann. Die Beziehung zum Wissen also wird auf diesem Wege nie eine äußere Beziehung des Lernens sein, sie muß vielmehr ein Prozeß der Selbstbildung sein. Deshalb gehören zum Philosophieren in diesem Sinne notwendig Übungen, insbesondere geistige Exerzitien.«

Lars Leeten (2019, 12) hat in seiner Arbeit den diskursiven Praktiken der griechischen Antike nachgespürt und kommt zu dem Schluss, dass in diesen eine enge Verbindung zwischen Logos und Ethos bestand: »Die antiken Gelehrten sahen die ethische Dimension der Rede nämlich nicht allein darin, dass das Nachdenken über die Frage, wie man leben soll, diskursiv geschieht. Für sie lieferte der Logos nicht nur die Prinzipien für das richtige Leben. Aus ihrer Sicht war er vielmehr auch insofern ethisch bedeutsam, als Diskurse selbst schon den Charakter einer ethischen Praxis haben. Für die war die Rede nicht erst eine Vorüberlegung, sondern schon die Verkörperung einer Lebenspraxis; und der Spielraum ihres praktischen Gelingens oder Misslingens war daher keineswegs nur sachlogisch bestimmt. Das diskursive Verhalten ist aus dieser Sicht ein ethisches Verhalten und die ›Arbeit am Logos‹ als solche eine ›Arbeit am Ethos‹.«

Foucault (2009, 405) hat die Übungspraxis der Sorge um sich in einen solchen Zusammenhang gestellt – Askese als das, »was einem erlaubt, die wahren Reden zu erwerben, deren man in allen denkbaren Umständen, Ereignissen und Wechselfällen des Lebens bedarf, um eine angemessene, umfassende und vollendete Selbstbeziehung herzustellen«. Und in genau diesem Sinne spielen die Weisen des Gutseins, also die im letzten Abschnitt thematisierten Haltungen, eine zentrale Rolle, weil man dadurch selbst zu einem solch »guten« Subjekt wird. Auch wenn hier nicht der Ort ist, dieser Frage tiefgründiger nachzugehen, so scheint es doch interessant zu sein, sie zumindest aufzuwerfen: Wie nämlich, so in Fortführung von Böhmes Überlegungen aus den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zu den Bedingungen von Philosophie als Lebensform in der technischen Zivilisation, lässt sich diese unter den aktuellen Bedingungen einer noch immer kapitalistisch dominierten und zunehmend digitalisierten Welt (digi232 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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talisierte Zivilisation) verstehen? Warum sollte man heute Philosoph bzw. Philosophischer Praktiker sein? Warum sollte man das heute sein wollen? Das Grundmotiv liefert Böhme (1997, 152) mit dem Verweis auf ein Unbehagen, das hier in einem etwas längeren Zitat aufgezeigt werden soll: »Auch heute noch ist ein Grundmotiv, Philosoph zu sein, nicht sein zu wollen ›wie die anderen‹. Darin braucht keine Menschenverachtung zu liegen noch Hochmut mitzuschwingen, vielmehr kann die Absetzung von der durchschnittlichen Lebensform, die einen umgibt, d. h. der durchschnittlichen Lebensform in der technischen Zivilisation, einfach einem Urteil über diese Lebensform entspringen. Dieses Urteil besagt allgemein, daß das durchschnittliche Leben nicht das ›wahre‹ sein kann. Das Motiv zur Philosophie entspringt dem Unbehagen an der Verlogenheit und der Unaufrichtigkeit des durchschnittlichen Lebens, seiner Entfremdung, Verfallenheit, oder, um es mit Heidegger noch deutlicher zu sagen, seiner ›Uneigentlichkeit‹, dem Unbehagen an der Beschränktheit, der Armut, der Verschlossenheit des durchschnittlichen Lebens und überhaupt dem Gefühl, daß einem das Leben entgeht, um nicht zu sagen, daß man um sein Leben betrogen wird.«

Hier schließt sich der Bogen zum Zwischenruf, in dem es um die eigene Subjektivierung ging, ein Bogen, der über den Abschnitt zur Kritik und den zur Transformation von sich selbst gespannt wurde. Dem vielleicht vielschichtigen Unbehagen gegen so manche gesellschaftliche Tendenzen der Zeit kann mit einer Kritik, die sich aus einem Willen zur Wahrheit und zur Wahrhaftigkeit, aus dem Begehren zum Wissen speist, entgegengetreten werden – eine Arbeit, die im sokratischen Geiste vor allem, in erster Linie und unbedingt bei sich selbst beginnt. Dies könnte auch als Bemühen zum Gutsein verstanden werden, genauer zu einem gesteigerten Gutsein, zu einem Bessersein. Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Gutsein, Weisheit – das sind die ganz großen Orientierungsmarker. Das Streben danach braucht nicht als zu abgehoben, zu großspurig, zu überheblich gedacht werden, wenn wir hier fundamental nochmals mit Jaspers (1997) denken: »Philosophie heißt: auf dem Weg sein.« Und der damit verbundene moralische Sinn, so Böhme (1997, 198 f.) in Anlehnung an Sokrates, dürfe der philosophischen Existenz keinesfalls genommen werden: »Mit Sokrates sind wir der Meinung, daß moralisches Gutsein, d. h. die Möglichkeit moralischen Handelns, im Gutsein des Menschen gründet. Um gut zu handeln, wird vorausgesetzt, daß man zunächst

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überhaupt erst ein Mensch wird, der handeln kann – und nicht bloß getrieben ist –, der ja sagen kann und nein. Und gerade ein solcher wird man auf dem Weg, den wir unter dem Stichwort Wahrheit und Wahrhaftigkeit beschrieben haben, dem Weg der Selbsterkenntnis.«

Moralisches Gutsein zeigt sich. Das Bemühen darum und die Transformation dazu sind Ausdruck philosophischer Lebensführung – insofern trägt philosophische Lebensführung, wie Aristoteles sagen würde, ihr Ziel in sich selbst, ist also zugleich gutes bzw. gelingendes Leben. Böhme (2020, 96 f.) hat diesen Gedanken im Hinblick auf eine philosophische Lebensform jüngst erneut aufgeworfen. Diese reagiere auf die Defizite des Menschseins in der heutigen Zeit – reagieren meine dabei aber nicht nur zu kritisieren und zu reflektieren, sondern vor allem anders zu leben: »Unter den gegenwärtigen Bedingungen sind wir alle, die als Menschen geboren sind, nur schlecht und recht Mensch. Gegen die spürbaren Defizite im durchschnittlichen Vollzug des Menschseins, steht die Forderung, gut Mensch zu sein. Worin das besteht, entdeckt man dadurch, dass man sich fragend auf die defizitären Weisen der Wahrnehmung und des Lebensvollzuges einlässt und sie durch andere Sichtweisen und Lebensweisen experimentell in die Schwebe bringt.«

Neben der von Böhme verfolgten negativen Herleitung des grundlegend Beachtenswerten soll, darauf aufbauend, an dieser Stelle noch kurz ein Gedanken angesprochen werden, der nicht nur im Hinblick auf das Merkmal der Beziehungshaftigkeit Philosophischer Praxis für die Lebensform m. E. von großem Wert ist, nämlich der der Würde. Eine wunderbare Orientierung für das Fundament einer Lebensform – nicht nur, aber vor allem einer, die mit Philosophischer Praxis verbunden ist – bietet Peter Bieri (2015) mit seinen Ausführungen zu einer Lebensform der Würde. Es ist der Versuch, mittels der Würde eine besondere Perspektive auf ein gutes bzw. gelungenes Leben zu werfen – konkret wird Würde bestimmt als die »Art und Weise, ein menschliches Leben zu leben.« Bieri macht dabei zunächst drei Weisen aus, in denen Würde verletzt oder eben gewahrt werden könne, nämlich (1) die Art, wie ich von anderen Menschen behandelt werde, (2) die Art, wie ich selbst andere behandle, und (3) jene Art, wie ich zu mir selbst stehe. Es geht dabei stets mehr oder weniger um Muster des Denkens, Erlebens und Tuns. Bieri (2015, 14 f.) leitet die Notwendigkeit der Frage nach der Würde von dem ab, was in dieser Arbeit bisweilen als das Pathische genannt wurde: 234 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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»Unser Leben als denkende, erlebende und handelnde Wesen ist zerbrechlich und stets gefährdet – von außen wie von innen. Die Lebensform der Würde ist der Versuch, diese Gefährdung in Schach zu halten. Es gilt, unser stets gefährdetes Leben selbstbewusst zu bestehen. Es kommt darauf an, sich von erlittenen Dingen nicht nur fortreißen zu lassen, sondern ihnen mit einer bestimmten Haltung zu begegnen, die lautet. Ich nehme die Herausforderung an. Die Lebensform der Würde ist deshalb nicht irgendeine Lebensform, sondern die existentielle Antwort auf die existentielle Erfahrung der Gefährdung.«

Da so manche Angelegenheit, die für Ratsuchende auf dem Spiel steht, irgendwie mehr oder weniger etwas mit Würde zu tun haben kann, ist es sicherlich auch hier ratsam, durch die nähere Auseinandersetzung mit dem Thema ein Auge, ein Ohr bzw. ein Gespür zu entwickeln. Aber das allein kann es nicht sein – und wäre, stünde es nur für sich, bloß funktionalistisch. Es geht natürlich um mehr, immerhin kann die Würde als ein zentrales Maß gesehen werden, an dem sich Leben messen und ausrichten lässt. Es geht also um die eigene gelingende Lebensform und das damit verbundene Ethos. Würde kann auf vielerlei Art und Weise Richtungsgeber für die Orientierung der eigenen (Lebens-)Praxis sein, wie Bieri etwa im Hinblick auf Selbständigkeit, Begegnung, Achtung vor Intimität, Wahrhaftigkeit, Selbstachtung bis hin zur moralischen Integrität vor Augen geführt hat. Sie könne sogar als Sinn für das Wichtige im Leben dienen. Sie braucht dabei aber nicht (nur) als etwas verstanden werden, das immer schon gegeben ist, sondern kann ebenso als etwas betrachtet werden, das vor allem aufgegeben ist, das es im Handeln überhaupt erst zu entwickeln und zu gestalten gilt. Die Arbeit an der Würde als wesentlicher Teil der Arbeit an sich selbst, das ist wohl ein zentrales Element der hier skizzierten Lebensform. Insofern lohnt es sich, sich eingehender damit zu befassen, um ein Leben aus einem würdevollen Ethos heraus zu führen und dadurch auch wirken zu können. 110 All dies sind zentrale Aspekte für Lebenskunst und Lebenskönnerschaft, mit denen Philosophische Praxis im Bunde ist. Und in diesem Sinne kann Philosophische Praxis im Kontext des Bemühens um Selbstverständigung und einer Reflexion über die eigene LebensfühDie Arbeit von Peter Bieri ist diesbezüglich unbedingt zu empfehlen, allein deswegen, weil seine Ausgangspunkte stets konkrete Lebenssituationen sind, die so oder in ähnlicher Weise etwa in der existentiellen Lebensberatung immer wieder anzutreffen sind.

110

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rung meinen: Arbeit an der eigenen Lebensform – ein Weg von Transformation. Wenn Philosophische Praxis so gedacht wird, dann meint das, dass diese philosophische Tätigkeit nicht als eine bloß professionelle Arbeit zu verstehen ist, die von einer philosophischen Lebensform unabhängig und getrennt sein könne. Oder anders ausgedrückt: Philosophischer Praxis, wie sie hier vorgestellt wird, geht es immer auch um die philosophische Ausrichtung des eigenen Lebens, das in Teilen auch einen öffentlichen Charakter hat. Böhme (1997, 161 f.) spricht allgemein von einer »Angewiesenheit des Philosophen auf einen Partner oder Partnerin«. Das versteht sich freilich nicht von selbst, gerade nicht im Hinblick auf das typische Bild eines aus der Welt zurückgezogenen, einsamen und entrückten Philosophen. Böhme leitet diese Angewiesenheit aus einem Wunsch nach Sein und Sichtbarkeit her, aus dem »Wunsch, von jemandem gesehen zu werden und jemanden zu finden, der an dem, was einen ›im Innersten bewegt‹, teilnimmt oder der zumindest Begleiter ist«. Das ist im Kontext Philosophischer Praxis gerade deswegen interessant und bedenkenswert, weil das ja gerade umgekehrt im Hinblick auf den Menschen gesehen wird, der als Besucher mit uns ins Gespräch kommen möchte. Auch wenn der Gedanke hier nicht überspannt werden soll, so spricht doch auch dies dafür, die Gesprächspartner in einem gewissen Sinne als Philosophierende zu betrachten, wie dies etwa bei Jaspers oder anderen bereits gedacht wurde. Das ist deswegen interessant und an dieser Stelle zu bemerken, weil hier die radikale Angewiesenheit nicht einseitig, sondern gegenseitig gedacht wird. Beide Seiten, eben nicht nur der Gast, bedürfen auf gewisse Weise des jeweils anderen. Die Lebenskunst Philosophischer Praxis kann insofern keine bloß selbstbezogene sein, sondern ist auf eine geteilte Kunst hin orientiert. Sie ist damit immer auch auf Solidarität aus. Die Orientierungsmöglichkeiten daran, was das je individuell heißen könnte, sind vielfältig. Lars Leeten (2019, 14) hat etwa antike Lebensformen der Philosophie einfach und treffend auf den Punkt gebracht: »Ein philosophisches Leben zu führen, bedeutet konkret, seine Tage mit Gesprächen und Vorträgen, Fragen und Antworten, Dialogen und Monologen, mit Sprechen, Hören, Schreiben und Lesen zu verbringen.« Das wäre doch, bezogen auf alltägliche Tätigkeiten, ein konkreter Anhalt, der sich je individuell ausgestalten lässt. Für Philosophische Praktiker eröffnet sich hier ein Möglichkeitsraum, der auf verschiedene Wirkmöglichkeiten auch der eigenen Veräußerlichung, ja des eigenen Seins verweist. Karl Marx (2017, 116) 236 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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schreibt in seinen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten [1844]: »[W]enn du Einfluß auf andre Menschen ausüben willst, mußt du ein wirklich anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein.« In einer mit Philosophischer Praxis verbundenen Lebensform kann dies vor allem auf die in diesem Text thematisierte Art und Weise geschehen, die sich auch in einer Existenzweise zeigt, die keine bloß zurückgezogene ist. Gleichwohl steht dem die Seite des Atopischen, des Außer-Örtlichen, nicht spannungsfrei gegenüber, das als Moment des Irritierens und Befremdens in Erscheinung tritt, ohne bloß auf Methodisches reduziert werden zu können. Auch hier sei an Sokrates erinnert, der einerseits zumindest von einem Teil seiner Zeitgenossen als geschätzter Gesprächspartner Teil einer gemeinsamen Lebenswelt war, andererseits aber durch seine Entrücktheit und Andersartigkeit für Verunsicherung sorgte und damit allzu Verständliches infrage gestellt hat: »Er treibt sich auf der agora herum, überschreitet dabei jedoch ihre Grenzen. Seine Mitbürger möchte er in jenes Anderswo mitziehen. Er lebt mit den anderen, lebt aber nicht wie die anderen. Er ist ein Staatenloser, wie ein Auswanderer in seiner Heimatstadt. Als Fremder durchquert er die polis und beobachtet ihr Leben ›von oben‹, mit seinem verfremdenden Blick. Es braucht Distanz, um das sehen zu können, was ansonsten allzu nahe läge. Seine Streifzüge, sein Herumtreiben zwischen Marktplatz und Gericht, ist ebenso Abschweifung wie Übertretung. Er irrt und weicht ab, stimmt nicht überein – ganz offen.« (Di Cesare 2020, 46 f.)

»In der Stadt verbleiben – als ein Fremder«, das könnte eine Devise sein, die freilich ein wenig radikal ist und gewiss nicht für alle infrage kommt. Sie ist nicht einfach, die Existenz als »Teilzeitfremder«. Und wer möchte schon gerne die Rolle des Störenfrieds und Spielverderbers einnehmen? Exklusivität (lat. exclusio »Ausgrenzung«) und Exzentrizität (altgr. ékkentros »aus der Mitte«) sind ohne Einsamkeit wohl nicht zu haben. Immer wieder strebt man entweder in die eine (Gemeinsinn) oder in die andere (Atopie) Richtung. Die hier angedachte Art und Weise einer Lebensform, die mit Philosophischer Praxis im Bunde ist, zeigt sich jedenfalls nicht nur in einem gemeinschaftsorientierenden Denken und Wirken, in einem aktiv gestaltetem Handeln in Projekten, in einem Engagement. Die Philosophierenden können auch von Zeit zu Zeit im öffentlichen Raum in Erscheinung treten, was bisweilen, ganz atopisch, auch als fehl am 237 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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Platz erscheinen mag. Eine solche Existenz lebt vielleicht gerade von dieser Spannung, von diesem Oszillieren. Erweisen sich nicht vielmehr die Einseitigkeiten als problematisch: Opportunismus und Konformismus auf der einen, Elfenbeinturm oder Randständigkeit auf der anderen Seite? In der einen Einseitigkeit gehen wohl das kritische Potenzial und der wachsame Blick für das allzu Selbstverständliche verloren, das es zu beleuchten und zu hinterfragen gilt, in der anderen vielleicht das Verstehen und das Engagement. Wozu noch mehr Experten, die in eingefahrenen Bahnen und engen Horizonten bloß nach dem vermeintlich Nützlichen streben, wozu noch mehr abstrakte Denker, denen es an der Verbindung zum (auch eigenen) Leben fehlt? Für Donatella Di Cesare (2020, 134) kommt der Philosophie die Aufgabe zu, »das Dasein an seine einzigartige Exzentrizität zu erinnern, ohne die es nur nacktes Leben wäre. Zwischen Ekstase und nackter Existenz entfaltet sich jene Extension, jene Erstreckung, die jedes Mal von Neuem die homogene Kontinuität auf- und unterbricht.« Hier verbinden sich transformative mit politischen Motiven, die ein Außen wachrufen sollen. Di Cesare (ebd., 137) spricht von einer Exophilie: »Wo die Ekstase der Existenz fehlt, wo Exzentrizität entschwindet, ist der Durchgang nach draußen verschlossen, der Weg zum Anderen versperrt und die Koexistenz – jenes gemeinsame Wachen, das die Stadt begründet und erhält – untersagt. Ohne philia keine polis. Das wussten bereits Platon und Aristoteles nur allzu gut. Genau darin aber liegt die Aufgabe der Philosophie, die im philein ihr einziges ubi consistam besitzt: das Staunen zurückzubringen, Befremden zu erzeugen, Fremdheit auszulösen, Leidenschaft für den Anderen zu wecken.«

Dazu aber bedarf es der Sichtbarkeit auch der eigenen Person. »In der Wahrhaftigkeit als Moment philosophischer Lebensform, in dem Wunsch, die Wahrheit über sich auch zu sagen, schlägt also eine alte philosophische Grundauffassung durch, nämlich die Identifizierung von Wahrheit, Sein und Sichtbarkeit. Das Wahre ist das Offenbare, und nur dieses ist im vollsten Sinne wirklich.« (Böhme 1997, 161 f.)

Doch geht es dabei nicht um ein Sich-Produzieren, um übertriebene Selbstdarstellung, um die eigene große Erzählung. Beim Einfluss auf andere geht es nicht um Manipulation, sondern darum, sich selbst zu geben. Vielleicht hilft hier eine Formulierung bzw. ein durchaus radikaler Gedanke, den Andreas Weber (2017) als Selbstsein durch Teilen 238 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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bezeichnet – ein Gedanke freilich, der über das Zwischenmenschliche hinausgeht, das Lebendige berührt und sich auf die ganze Erde bzw. Welt erstreckt. Im Hinblick auf das Zwischenmenschliche schließt dies an die thematisierte begegnende Haltung und das In-Beziehung-Sein an. An dieser Stelle ein paar Zwischenfragen: Was ist hier eigentlich der besondere Anteil der Philosophischen Praxis an dieser philosophischen Lebensführung, an dieser Art der Lebensform? Ist es das Moment der Begegnung? Ist es der besonders ausgerichtete Fokus auf Selbsterkenntnis, auf das Verstehen von sich selbst und von anderen, aufs Staunen, auf Ethik, persönliches Ethos, die zugleich nicht-dogmatische und kritische Weise des gemeinsamen Philosophierens, ja auf die Praxis des Miteinander-Redens selbst? Welche Rolle spielt das von Böhme angemahnte Leibsein, das verschiedenste Facetten hat? Wie gelingt es etwa, durch die eigene leibliche Anwesenheit und die Art und Weise des Umgangs miteinander gute Bedingungen für das Entstehen gelingender Atmosphären zu schaffen? Wie gelingt es, bestehende Atmosphären zu erspüren und ggf. durch ein Bewusstsein für die eigene Präsenz zu wandeln? Das sind keine Kleinigkeiten. »Das Spüren solcher Atmosphären zu erlernen gehört zur Wiedergewinnung des Leibes. Der Philosoph wird darin überhaupt erst den anderen Menschen in seiner Konkretheit, Lebendigkeit und auch Hinfälligkeit zu würdigen wissen.« (Böhme 1997, 177) Auch hier geht es darum, dass dies nicht lediglich ein Vermögen ist, das es bloß zwecks eines besseren beruflichen Erfolgs zu entwickeln gilt, sondern das wesentlich ist für die eigene Lebensform. Ähnliches gilt für die ebenfalls mehrfach angesprochene eigene Emotionalität und den allgemeinen Umgang mit den Widerfahrnissen des Lebens: Was sind hier Wege eines souveränen Umgangs und wie wirken sich diese wiederum auf den Umgang mit anderen aus? Wie lässt sich Souveränität ausbilden, entwickeln und kultivieren? Souveränität ist etwas anders gelagert als Autonomie, obgleich mit ihr verwoben, denn ihr geht es gerade nicht um völlige Unabhängigkeit, sondern auch um Anerkennung und Integration von Kontingenzen, Widerfahrnissen und Zufällen (Odo Marquard). Es geht um ein Sich-Einlassen und Etwas-daraus-Machen. Es scheint keine unwichtige Sache zu sein, als Philosophischer Praktiker, der in dialogischer Begegnung mit anderen steht, nicht abgehoben und entrückt im Abstrakten zu sein – strebend sicherlich, aber auch erdverbunden, im Leben stehend. Dabei ist viel Bewusstheit vonnöten, zugleich ein Ver239 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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mögen leiblichen Anwesend-sein-Könnens sowie grundsätzlich eine Praxis des Innehaltens. All dies zeigt deutlich, dass eine solche Lebensform, auch rückblickend auf die mit ihr verbundenen Haltung, vor allem durch ein Charakteristikum geprägt ist, nämlich eine übende Praxis. Die Organisation einer Einübungspraxis wurde bereits als Merkmal antiker philosophischer Lebensformen ausgewiesen, als Weg zum Wesentlichen – auch wenn dies, wie Foucault (1986, 102 f.), Leeten (2019, 200 ff.) oder Mall/Peikert (2017, 90 ff.) gezeigt haben, wohl vor allem für die nach-klassische Zeit galt. Mall und Peikert haben diesbezüglich zudem einen Blick in die indische Philosophie geworfen (ebd., 136 ff.). Wie ließe sich hier Philosophische Praxis verstehen? Oder anders gefragt: In was mündet Philosophische Praxis? Welche Rolle könnte sie dabei spielen? Das im letzten Teil der Arbeit vorgestellte Wirken des Transformatorenwerks Leipzig soll ein Stück weit ein Versuch in solch eine Richtung werden. Dabei scheint es aus ethischer Perspektive geboten zu sein, einen Blick darauf zu richten, was sich im Üben vollzieht. Leeten (2019, 266 f.) hat den Vorschlag gemacht, die Übung nicht als Beschreibung zu sehen, sondern als eine Perspektive: »Die Frage ist nicht, ob wir üben oder nicht, sondern wie aufmerksam wir für das Moment der Habitualisierung sind und ob wir es in den Horizont einer Ethik stellen wollen oder nicht.« Um es einfach zu sagen: Was durch unsere asketische Praxis zur schlechten Gewohnheit wird und was zu einer guten Haltung, dafür kann ein Bewusstsein entwickelt werden. Darauf wird je zu achten sein. An dieser Stelle soll noch ein anderer Gedanken aufgegriffen und nun doch einmal mit einer These formuliert werden, die aber nicht dogmatisch daherkommen, sondern zu denken geben soll: In Philosophischer Praxis, wie sie hier vorgestellt wird, verbinden sich Philosophie als Lebensform und als Weltweisheit. Gernot Böhme versteht darunter vor allem die Arbeit an der Wirklichkeit. Was ist damit gemeint? Zunächst kann Weltweisheit, wie die Bezeichnung vermuten lässt, als Teil des Strebens nach Weisheit verstanden werden. Die Besonderheit liegt hier allerdings darin, dass es dabei auch oder vor allem um eine Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den Problemen der Zeit geht, für die es eine Sensibilität zu entwickeln gilt. Das ist keine Selbstverständlichkeit in Bezug auf Weisheit, mit der ja oft eher ein gewisser Rückzug aus der Welt verbunden wird. Für Böhme (1997, 48) meint dieses Philosophieren ein Engagement an Fragen, die jedermann interessieren, eine Beschäftigung mit den 240 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Am Konnex von Lebensform und Weltweisheit

»uns bedrängenden Themen«: »Der Beitrag der Philosophie zur Lösung der Gegenwartsprobleme besteht darin, die Wirklichkeit durch Kritik ihrer begrifflichen Verfestigung in Bewegung zu bringen.« Mit Foucault kann hier auch von einer Gegenmacht gegen etabliert problematische Machtfelder gesprochen werden. Das ist natürlich keine kleine Sache; es ist eine des Engagements für die Welt. Arbeit an der Wirklichkeit setzt, so die Annahme, eine gewisse Art des Sich-Auskennens voraus. Es ist ein Auskennen, dass zunächst grundlegend weiß, dass das philosophierende Subjekt selbst untrennbar Teil der Welt ist und in keiner absoluten Distanz zu ihr stehen kann, dass es zudem selbst Produkt von Macht- und Herrschaftsformen ist. Es ist ein Auskennen in der Antwort auf die Frage, was heute auf dem Spiel steht – existentiell für einen selbst, für andere und die Welt. Es ist ein Auskennen, dem aber die hier etwas anders verstandene Formel Wittgensteins zugrunde liegt: »Ich kenne mich nicht aus« – es ist eben ein Streben, gerade kein Haben, keine Bescheidwisserei – ein Auskennen, das nicht den Blick verstellt. Es ist schließlich ein Auskennen, das verschiedene grundlegende Wissensbereiche umfasst und auch um deren Konstituierungen und Machtverhältnisse weiß. Es wäre sicherlich genauer zu prüfen, welche Sphären hier für Philosophische Praxis interessant sind bzw. mit welchen eine Auseinandersetzung gar geboten ist. Das kann hier nur exemplarisch geschehen. Ein Beispiel dafür wurde im ersten Teil in der Verhältnisbestimmung zum Coaching skizziert, nämlich die Notwendigkeit eines Blicks für Subjektivierungsaspekte der Zeit. Dies kann wiederum als Exempel dafür gelten, was in dieser Arbeit als »wissenschaftlich informiert« bezeichnet wurde – ein Aspekt einer multiperspektivischen Philosophie. Eine sozialwissenschaftliche Informiertheit, etwa über historische Entwicklungen, soziologische Gegebenheiten wie gesellschaftliche Machtkonstellationen und Kräfteverhältnisse, kann als komplementär zu einer psychologischen gesehen werden, die in anderen Bereichen heute die wohl dominierende zu sein scheint. Von ähnlicher Relevanz ist wohl noch der Bereich des Anthropologischen. 111 Es ist klar, dass hier die Gefahr übersteigerter Annahmen und Forderungen an Fähigkeiten besteht. Gegen das Risiko der eigenen Überfrachtung und im Hinblick auf das spezifisch Dialogische PhiBöhme (1997, 48 ff.) nennt hier die Themen Wissenschaft, Natur, Mensch und Geschichte.

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Am Konnex von Lebensform und Weltweisheit

losophischer Praxis könnte ja mit Sokrates auch die Haltung des Nichtwissens ins Feld geführt werden. Allerdings steht dieses Nichtwissen vor allem für die Ablehnung absoluter Gewissheit, nicht unbedingt für ein Plädoyer zugunsten von Uninformiertheit. Es ist ein Nichtwissen, dass nach Erhellung und Klarheit strebt. Das richtige Verhältnis wäre zu bestimmen, vielleicht unter einer Mediatorin namens Demut. Das thematisierte Wissen, das auf einem Nichtwissen gründet, ist nicht als ein zu direkter bzw. methodischer Anwendung zu bringendes Fachwissen zu verstehen. Vielmehr tritt es dadurch in Erscheinung, dass mit ihm Bewusstheit für manche Phänomene und Zusammenhänge entsteht, die es im gemeinsamen Denken und Philosophieren zu beleuchten gilt. Dieses Wissen geht durchaus in kluger Weise mit einer Haltung des Nichtwissens einher. An welchen Stellen und auf welche Art des Zur-Geltung-Kommens solch ein Wissen aber auch problematisch werden kann, weil die Thematisierung eigentliche, dahinterliegende, tiefgründigere (philosophische) Fragen auch zu verdecken mag, müsste freilich besprochen werden. Auch hier gilt es, zunächst ein Bewusstsein und ein Gespür dafür zu entwickeln. Ein Gespür für das individuelle Gegenüber bietet eine gute Orientierung, wohin die Reise im konkreten Fall gehen kann. Zu diesen Wissensbereichen gehört grundlegend ein Wissen um die in weiten Teilen begriffliche Verfasstheit der Wirklichkeit – sicherlich eine genuin philosophische Domäne – man denke etwa an Wittgensteins Auffassung, alle Philosophie müsse Sprachkritik sein –, die i. d. R. wohl Gegenstand einer soliden philosophischen Ausbildung sein sollte. Dieser Bereich ist sehr komplex und differenziert zu betrachten (vgl. überblicksartig Böhme 1997, 33 ff.; Hampe 2016; Bieri 2011, 62 ff.; ausführlich Elberfeld 2012). Und wie in diesem Buch so oft betont, fängt dies beim Verhältnis zur eigenen Sprache an – insofern ist sie »Arbeit an Einem Selbst«, wie Wittgenstein (1984, 472) bemerkt. Grundlegend ist dabei nicht nur die mit der Sprache verbundene Möglichkeit, sich seiner selbst bewusst zu werden und einen Abstand von sich zu gewinnen, sondern auch jene, sich aus der Eingebundenheit aus der je unmittelbaren Situation gedanklich lösen zu können, um sie selbst zum Betrachtungsobjekt machen und variieren zu können. Wenn Böhme (1997, 48) für die Philosophie allgemein vermutet, dass »Problemfelder auch im konkreten nicht wirklich bearbeitet werden können, wenn sie nicht neu gedacht werden – weil nämlich die jeweiligen Lösungsmöglichkeiten immer wieder nach den alten Schemata und Begriffen konzipiert werden und 242 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Am Konnex von Lebensform und Weltweisheit

insofern die Probleme perpetuieren«, dann gilt dies vom Prinzip her genauso für den spezifischeren Bereich Philosophischer Praxis. Philosophie kann so verstanden werden als kritische Übungspraxis an und mit Sprache. So wäre es interessant, sich beispielsweise damit zu befassen, was Michael Hampe (2016, 139 ff.) als dissidentes Sprechen bezeichnet. Dieses meint das verschiedenartige Nutzen einer anderen Begrifflichkeit, was transformierende Auswirkungen auf die Weltund Selbstverhältnisse sowie auf praktische Orientierungen und soziale Formationen hat. Wie lassen sich für das dissidente Sprechen als Teil einer Lebensform ein Bewusstsein und diese Fähigkeit selbst entwickeln, um in Hinblick auf Transformation wirken zu können? Auf welchen Ebenen, in welchen Formaten bzw. Settings und wie im Alltag lässt sich dies erproben? Ohne ein Bewusstsein für die Gewordenheit heutiger sprachlich-begrifflicher Verfasstheit von Welt ist dies kaum denkbar, weil damit überhaupt erst die Möglichkeit der Revidierbarkeit aufscheint. So meint auch Böhme (1997, 49): »Wenn wir uns selbst als historisch geworden verstehen, dann liegt es nahe, den Prozeß unseres Werdens einer Revision zu unterziehen, wenn wir unseren gegenwärtigen Zustand als problematisch erfahren.« Dies kann sowohl allgemein-gesellschaftlich gelten als auch je individuell. Sich damit eingehend zu befassen und zu schauen, auf welche Art und Weise hier im Alltäglichen und in konkreten Situationen Wirkung erzielt werden kann, gehört wohl untrennbar zu einer Lebensform, die mit Philosophischer Praxis im Bunde ist. Das heißt freilich auch, die Grenzen dieser Operationen und Transformationen zu erkennen, weil wir letztlich immer wieder auf eine kollektive und auch philosophische Sprachpraxis zurückgeworfen werden, in der wir uns überhaupt verstehen können, wie vor allem der späte Wittgenstein gezeigt hat. Der Blick auf den eigenen Sprachgebrauch ist zwar von grundlegender Bedeutung, aber nicht allumfassend – wobei Vieles sicherlich mit ihm zu tun hat. Es darf wohl angenommen werden, dass sich dieses spezielle Moment der Selbsterkenntnis auf den Umgang und das Gespräch mit anderen Menschen (insbesondere Besuchern) auswirkt, weil durch die Auseinandersetzung und Bewusstwerdung der eigene Horizont erweitert wird. All dem liegt zentral die alte philosophische These der Kultivierung seiner selbst zugrunde, nämlich dass es auch im Hinblick auf die soziale und gesellschaftliche Wirkung des eigenen Tuns wesentlich sei, zunächst an sich selbst zu arbeiten und sich selbst, im Rahmen des Möglichen, zu kennen. 243 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Am Konnex von Lebensform und Weltweisheit

Aus dem dissidenten Sprechen könnte allmählich eine dissidente Lebensführung hervorgehen, die versucht, neue Wege zu gehen – insbesondere dort, wo die Problemlagen sind. Die Bezeichnung dissident verweist darauf, dass damit in gewisser Weise einhergeht, in Konflikt mit einer gesellschaftlich etablierten Praxis zu geraten. Das mag in vielen Fällen nicht problematisch sein, kann es in anderen aber werden – und in manchen ist es sogar geboten. Dissident meint hier nicht blinder Widerstand, schon gar keiner aus bloßem Zorn, aus Enttäuschung und Ressentiment – auch nicht aus einer Ideologie heraus. Doch was kann zur Orientierung dienen? Erich Fromm (2018) hat die Fähigkeit zum Ungehorsam gegen unmenschliche Zustände und Regime als einen zutiefst menschlichen Akt ausgewiesen, der allerdings ein »humanistisches Gewissen« voraussetze. Damit meint er, im Gegensatz zu einem autoritären Gewissen, das durch »die internalisierte Stimme einer Autorität« geprägt sei, ein solches, in dem »die in jedem Menschen gegenwärtige Stimme, die von äußeren Sanktionen oder Belohnungen unabhängig ist«, spricht. Fromm (ebd., 12) geht hier von dem Umstand aus, »dass wir als menschliche Wesen intuitiv wissen, was menschlich und was unmenschlich ist, was das Leben fördert und was es zerstört. Dieses Gewissen hilft uns, als menschliche Wesen zu funktionieren. Es ist die Stimme, die uns zu uns selbst, zu unserer Menschlichkeit ruft.« Um in diesem Sinne nein sagen zu können, bedürfe es des Mutes – des Mutes »allein zu sein, zu irren und zu sündigen«. Es ist aber nicht nur der Mut, der hier nötig sei. Gerade heute – wir sprechen von den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts – müsse das Problematische erst einmal erkannt und als solches identifiziert werden, weil nicht alles so offensichtlich wie in offen autoritären Staaten sei. Was Fromm hier schreibt, vor über einem halben Jahrhundert, kann wohl in einem noch stärkeren Maße für heutige Problemlagen gelten. Eine solche Problemlage wurde oben im Hinblick auf die eigene Haltung, Stellung und Praxis gegenüber einer kapitalistischen Marktlogik thematisiert. Nun ist es eine sehr individuelle Angelegenheit, wie und in welcher Form Philosophische Praktiker ihr Geld verdienen. Vielleicht kann es hier insgesamt hilfreich sein, einen Teil des Einkommens durch andere Tätigkeiten zu bestreiten – und zwar aus zwei wesentlichen Gründen. Der erste hat unmittelbar etwas mit dem Auskennen zu tun. Es kann nämlich durchaus hilfreich sein, Erfahrungen zu sammeln, sich auf sie einzulassen, sie zu reflektieren und zu teilen, die jene Menschen haben, die Philosophische Praxis in An244 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Am Konnex von Lebensform und Weltweisheit

spruch nehmen möchten. Es ist das eine, Probleme und Aspekte der Zeit bloß abstrakt-theoretisch zu betrachten, das andere, jene auch selbst zu erfahren – und sei es nur in Teilen. Erfahrungsmangel macht sich in der Praxis bemerkbar. Der zweite Grund hat etwas mit der oben aufgeworfenen Problematik der Marktgängigkeit und der Gefahr einer Selbstvernutzung zu tun. Es lässt sich nämlich durchaus die Frage stellen, ob es wirklich notwendig und sinnvoll ist, alle philosophisch-praktische Tätigkeit an den Zwang zum Gelderwerb zu fesseln. Stattdessen könnte sich die Art und Weise des Philosophisch-Praktischen ja auch in anderen einkommenssichernden Tätigkeiten zeigen. Aber auch dieser vermeintlich »sichere« Weg ist einer mit vielen Fallstricken und gestaltet sich in der Realität allzu oft als besonders schwierig. Hier offenbaren sich erneut verschiedene Perspektiven auf Philosophische Praxis, die sich eben entweder, um eine oft bemühte Gegenüberstellung zu verwenden, »nur« als Beruf oder als Berufung – mit dem Schwung eines Begehrens und einer Haltung, die in den verschiedenen Feldern einer Lebensform zur Geltung kommen kann – verstehen lässt. Die Arbeit an der Etablierung eines solchen Berufes muss dabei m. E. allerdings nicht im Widerspruch zu dieser Berufungs-Lebensform-Perspektive stehen. All das ist freilich ein weites Feld mit sehr individuellen Fragen, Ansichten und Entscheidungen. Es gibt sicherlich gute Gründe für diese und jene Wege. Insofern kann es hier nicht darum gehen, vermeintlich richtige Lösungswege vorzugeben. Eder-Seela (2017, 396 ff.), die diesen ökonomischen Aspekt ähnlich diskutiert, macht auf die etwa von Marcel Hénaff diskutierte Idee der Gabe aufmerksam, die den Blick über das Geld hinaus erweitert. Gabe sei weder Tausch noch Geld: »In dieser Gabe, die übrigens gegenseitig übergeben wird, steckt jene Ehre, die sich gegenseitig im Beisammensein erwiesen wird und die das Leben ausmacht […] Diese Interaktion, diese personell interaktive Form des Denkens ist ein Geben und Nehmen auf beiden Seiten: Der Gast gibt dem Philosophen erst das auf, was ihn zum Philosophen macht: Probleme oder Fragen, die bedacht werden müssen; Fragen, die ihre Kraft aus dem Staunen, aus dem Sich-wundern beziehen. Insofern kann sich der Philosoph reich fühlen, wenn er vom Gegenüber auf neue Gedanken gebracht wird. Es ist ja eine Interaktion. Interaktive Gedanken.«

Die Frage nach dem Geld sei daher falsch gestellt: »Sofern aus Sicht des Gebens unabhängig alles Immateriellen gedacht wird, erweitert sich der Denkraum und das Geld spielt dann entweder keine oder 245 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Am Konnex von Lebensform und Weltweisheit

nur eine untergeordnete Rolle.« Dieses Denken tatsächlich transformativ zu vollziehen, lässt bei der Notwendigkeit eines ausreichenden Maßes an Anerkennung eine durchaus einfache, aber würdevolle Lebensform gedeihen. Vielmehr geht es darum, zu fragen, wie denn die Lebensform mit Weltweisheit zusammengehen kann. Und insofern trifft bereits an dieser Stelle der soeben thematisierte sprachliche Umgang mit der Wirklichkeit zu: Es macht einen Unterschied für meine Orientierung und damit meine Verhaltens- und Lebensweise, ob ich mein Verständnis Philosophischer Praxis eher an der Kategorie Beruf ausrichte oder an der Kategorie Berufung/Lebensform. Vermutlich wäre bei ersterer Variante eine stärkere Orientierung an einer Professionalisierung und an einem Vergleich mit anderen ähnlichen Berufen gegeben. Bei letzterer kommt wohl eher das kreativ-forschend-experimentelle Moment zur Geltung. Die Frage der Geschäftigkeit steht auch im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Öffentlichkeit bzw. Wirken ins Öffentliche und dem notwendigen Rückzug aus dem Öffentlichen, z. B. in die Muße und ins Kontemplative. Eder-Seela (2017, 298–303) hat sich damit im Kontext eines Ethos Philosophischer Praxis auseinandergesetzt, auch wenn sich ihr Fokus vornehmlich auf das Setting von Einzelgesprächen bezieht. Sie betont dabei den durchaus wichtigen »Mut zur Langsamkeit als einem übergeordneten Prinzip« und bezieht sich damit vor allem auf Achenbach (2010), aber auch auf Hannah Arendt (2016). Da es in diesem Abschnitt allerdings um die Lebensform geht, soll dieser Gedanke über den Kontext dieses Einzelgesprächs, das aber als eingängiger exemplarischer Bezugspunkt gelten kann, hinaus gedacht werden. Es geht dabei um ein Starkmachen der Vita contemplativa und um ihren Bezug zur Vita activa. Auch das war oben bereits Gegenstand der Diskussion um die Praxis. Wie lässt sich dieses Moment als wesentlicher Teil einer Lebensform in der heutigen, von einer durch eine Steigerungs- und Wettbewerbslogik gekennzeichneten Form der Beschleunigung bzw. dynamischen Stabilisierung (Hartmut Rosa) geprägten Zeit leben? Wie kann in einer dissidenten Lebensführung ein Umgang mit dem allgegenwärtigen Getriebensein gelingen? Wie lässt sich dabei ein hohes Maß an Bewusstheit, Selbstreflexion und Selbstprüfung, an Kontemplation und transzendierender Besinnung, aber auch an Muße, an der Arbeit des Eigentlichen, an Begegnung und Kommunikation gewinnen?

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Am Konnex von Lebensform und Weltweisheit

Als Einzelperson ist es jedenfalls sehr schwer oder nur mit großen Kosten und Mühen verbunden, sich dem entziehen zu wollen. Vielleicht ist auch hier das Streben nach Souveränität eine bessere Orientierung als das bloße Bemühen um Entzug. Eder-Seela (2017, 399 ff.) bringt hier, neben der wertvollen Idee der Gabe, noch eine zweite ins Spiel, die sie der bloßen Fokussierung auf Geld entgegensetzt. Markant titelt sie: »Philosophie der Euros oder des Eros wegen«. Nicht das Monetäre müsse verführen, sondern das Philosophieren. Auch sie greift zurück auf eine zentrale Figur: »Seine Gesprächspartner hätten wohl auch mit Sokrates philosophiert, wenn er dafür Geld verlangt hätte. Sokrates und der Preis der Wahrheit ist im Sinne der Philosophie demnach eine unzureichende Verkürzung, denn letzten Endes ging es ihm [um] den Wert der Philosophie, die sie im konkreten Lebensvollzug spielte.«

Es gilt also, diesen Eros, diese Leidenschaft nicht einem ökonomischen Wert zu unterwerfen. Philosophische Praxis, wie sie hier gedacht wird, ist keine Philosophie vernutzende Praxis, sondern eine, die auch berühren, die jenen Eros stillen will. Eder-Seela (2017, 405) spricht von einem »Getragen-werden-durch-die-Philosophie«. »Die Sehnsucht nach dem Denken, wenn der Stachel des Eros gesetzt ist, ist so groß, dass sie manchmal der Sehnsucht nach einer geliebten Person gleichkommt.« All das heißt freilich nicht, dass Geld nun gar keine Rolle spielt. Auch die Miete möchte bezahlt werden, auch Grundbedürfnisse müssen befriedigt werden. Es gehe darum, sich dieser einen Sache aber nicht zu unterwerfen. Eine mit Philosophischer Praxis verbundene Lebensform kann also bedeuten, sich in erster Linie der Verführung des Philosophierens hinzugeben. Für EderSeela (2017, 406) bedeutet dies, an einen Wendepunkt zu kommen, um den »Wert der Philosophie« neu zu bestimmen: »Im Fokus würde somit nicht der ›Preis der Wahrheit‹ stehen, sondern die Frage nach dem Wert der Liebe zur Weisheit. Und dort wo Liebe wirkt, wie auch immer man sich ihr nähert, wird immer auch verführt. Das Spannungsfeld verschiebt sich. In welche Richtung es geht, ist keine Frage des Schlusses, sondern eines erneuten Beginns.«

Dass dies zwar einfach klingt, weil es durchaus einleuchtend ist, bedeutet sicherlich nicht, dass dies auf einfache Weise auch in der Lebensführung umsetzbar ist. Die eigene Transformation braucht dabei freilich ihre Zeit. Es wäre zu fragen, was diesen Prozess unterstützen, fördern und befruchten könnte. Karl Jaspers (1997, 107) hat zwei 247 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Am Konnex von Lebensform und Weltweisheit

Wege philosophischer Lebensführung genannt, die im Hinblick auf die hier angedachte Idee als zwei verschlungene bzw. sich immer wieder kreuzende Wege gedacht werden können. Auf diesen zwei Wegen gehen meint »in der Einsamkeit die Meditation durch jede Weise der Besinnung – und mit Menschen die Kommunikation durch jede Weise des gegenseitigen Sichverstehens im Miteinanderhandeln, Miteinanderreden, Miteinanderschweigen.« Gemeinschaften unter der Ägide von Freundschaftlichkeit statt unter der feindschaftlicher Konkurrenz, Orte und Räume der Begegnung und des gemeinsamen Denkens, aber auch des Rückzugs, förderliche Medien und Vehikel einer solchen Lebensform könnten dabei überaus hilfreich sein und führen aus der Isolierung. Solidaire statt bloß Solitaire ließe sich hier mit Camus sagen. Dies lenkt den Blick auf den letzten Teil der Arbeit, der diesbezüglich einen beispielhaften Ausblick bieten möchte.

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14. Das Transformatorenwerk Leipzig: Ein Ein- und Ausblick

Ort, Medium und Vehikel einer Lebensform? Bruchstücke einer Vision Im Sommer 2019 hat sich in Leipzig das sog. Transformatorenwerk Leipzig (TWL) gegründet, ein bisher noch kleines Ensemble von mehreren Akteuren und mittlerweile ein gemeinnütziger Verein. Das TWL ist ein z. Z. noch jeweils temporär etablierter, aber in Zukunft auch fester Ort des kreativen Denkens, Wirkens und (Ver-) Wandelns: von individuellen und kollektiven Routinen, Glaubenssätzen, Mindsets und Selbstbildern sowie von Strukturen des Zusammenlebens und -arbeitens. Das Selbstverständnis lautet wie folgt: Wir beleuchten und erforschen transformative Phänomene und Prozesse, stoßen sie an und begleiten sie. Wir arbeiten dabei nicht nur an Begriffen, sondern bringen auch in Erfahrung. Und immer wieder hinterfragen wir – andere und uns selbst – kritisch und unideologisch. Das TWL kreiert Räume für Begegnung und Verständigung zwischen Menschen, für das Zuhören, den Dialog und den Diskurs, für die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Realitäten sowie die gemeinsame Entwicklung von Gedanken und Ideen – für die persönliche wie gesellschaftliche Zukunftsgestaltung und Transformation. 112

Das TWL ist auch ein Ort des Probierens, der spielerischen Auseinandersetzung mit sich selbst und mit anderen, mit eigenen und fremden Vorstellungen; ein Ort, an dem man angeregt wird, Lebenswelten aktiv zu hinterfragen, zu gestalten und gesellschaftliche Entwicklungen anzustoßen. Das Ensemble sieht diesen besonderen Ort in der Tradition der vielfältigen Versuche großer Philosophen, Mediziner, Wissenschaftler und Künstler, Räume für das gemeinsame Denken und die Begegnung zu bieten: als zeitgemäße Variante von Platons

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Quelle: https://www.transformatorenwerk-leipzig.de, abgerufen am 20. 07. 2020.

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Das Transformatorenwerk Leipzig: Ein Ein- und Ausblick

Akademie, Epikurs Garten oder Aristoteles’ Wandelhalle für die drängenden Fragen des 21. Jahrhunderts. Der Ort, dies sei an dieser Stelle bemerkt, soll aber nicht einer der Wissenden sein, sondern einer der Suchenden. Gemeinsam mit Kooperationspartnern aus Forschung, Kultur, Politik und Zivilgesellschaft sowie zusammen mit Gästen sollen disziplinenübergreifend Denk- und Handlungsimpulse für Veränderung und Wandel gefunden werden. Außerdem sollen andere im Prozess gefördert sowie unterstützt und befähigt werden, Transformation zu gestalten. Klar dürfte damit auch sein, dass es sich insgesamt um ein interdisziplinäres Projekt handelt. Außerdem ist das TWL semi-kommerziell angelegt: Es geht einerseits nicht um das bloße marktkonforme Angebot von Dienstleistungen, andererseits handelt es sich nicht um bloßes Hobby, sondern um einen Versuch vom tätigen Leben im 21. Jahrhundert. Mit zukunftsorientierten Arbeitsweisen werden kleine und große Projekte initiiert und betreut – dies gilt für Einzelpersonen, Paare, Gruppen sowie Organisationen und Unternehmen: Mit öffentlichen Events und individuellen Angeboten möchte das TWL Menschen zueinander bringen und Spiel- und Denkräume eröffnen, die zum Ausprobieren und Erschaffen ebenso einladen wie zum sensibleren gegenseitigen Wahrnehmen, zum Streiten um die beste Lösung, zum Klären kleinerer wie größerer Probleme und Herausforderungen – oder kurz: zum Austausch über das gute, gelingende, tätige Leben. Die Aktivitäten des TWL bestehen aktuell in verschiedenen regelmäßigen und einmaligen Veranstaltungen wie einem monatlich stattfindenden Philosophischen Salon, einem Dialog- und Lesekreis, Matineen, Hausdebatten, der jährlich stattfindenden Langen Nacht der Philosophie in Leipzig (erstmals 2019), Seminaren sowie Workund Walkshops. Ein besonderes Projekt ist die sogenannte Transformatorenwerkstatt, die hier kurz exemplarisch vorgestellt werden soll.

Die Transformatorenwerkstatt – ein Kurzbericht Die Transformatorenwerkstatt (kurz: Werkstatt) ist ein eigenes experimentelles Format des TWL, das erstmals Anfang 2020 durchgeführt wurde. Dieses spezielle Projekt war ursprünglich darauf angelegt, sich gemeinsam und in Zusammenarbeit mit Gästen über einen gewissen 250 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Die Transformatorenwerkstatt – ein Kurzbericht

Zeitraum (ca. ein Jahr) regelmäßig mit einer für alle bedeutsamen Sache zu beschäftigen. Nach einem längeren Austausch stand das Thema für die erste Werkstatt fest: Es sollte um den Komplex menschlicher Vermögen gehen. Die übergeordnete, zentrale und zugespitzte Forschungsfrage lautete dabei: Was ist uns jetzt noch möglich? Die Interpretations- und Deutungsnotwendigkeit dieser Frage eröffnete damit ein weites Feld der Untersuchung. Bei der Fragestellung lag die Idee zugrunde, mitten im Leben anzusetzen: Was ist da jetzt, unter den gegebenen Lebensumständen, noch möglich im Hinblick auf die eigenen Vermögen? Was gilt es zu entwickeln? Auf was soll man sich konzentrieren – was ist wesentlich und was eher unwesentlich? In diesem Projekt spielt gerade die Dialektik von AnderenTransformation-Nahebringen-Wollen und der Selbsttransformation der Durchführenden (TWL) eine besondere Rolle. Der Fokus der Werkstatt lag zunächst auf der Selbsttransformation – das Primat hatte die Erweiterung der eigenen Vermögen. Insofern stand die je eigene Lebensform im Zentrum, auch das Ernstnehmen einer Sache, dokumentiert durch Einsatz und Zeit im Hinblick auf das Engagement für die Werkstatt. Dieser Punkt ist nicht trivial: Einerseits geht es hier, so zumindest die These, um eine ganz zentrale existentielle Angelegenheit, andererseits nimmt der angedachte Prozess, will er ernstgenommen werden, einen großen zeitlichen Raum ein. Es taucht daher die Frage auf: Inwieweit kann solch ein Unternehmen in der momentanen gesellschaftlichen Verfasstheit (Stichwort Beschleunigung, Hartmut Rosa) eigentlich gelingen? Nebenbei spielte die Erforschung der Herangehensweise an ein solches Vorhaben von Anfang an eine Rolle: Wie eng und wie frei, wie konkret und wie offen, wie verbindlich und unverbindlich lässt sich solch ein Vorhaben planen? Funktioniert das mit der Transformation? Und wenn nein: Warum nicht? Und wenn ja: Wie wirkt sich die Transformation des Selbst auf die eigene Lebensform aus? Wie lässt sich das überhaupt feststellen? Wie lassen sich ändernde Praxen in die eigene Lebensform integrieren? Inwieweit ändert sich dabei die Lebensform selbst? Inwieweit und auf welche Art kommen Soziales und Gesellschaftliches in den Blick? Kann es also gelingen, über derartiges Reflektieren und Wirken über das individuelle Ich hinauszuwachsen und sich, wie es einst in den Schulen bei Platon oder Aristoteles angestrebt war, »zu einer universellen und transzendenten Sicht aufzuschwingen«? (Hadot 1999, 99) Wie lässt sich die pathische 251 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Das Transformatorenwerk Leipzig: Ein Ein- und Ausblick

Dimension einbeziehen? Auf welche Weise zeigt sie sich? Das sind beispielhaft nur einige der Fragen, die entweder zu Beginn gestellt wurden oder bisher im Laufe des Prozesses selbst entstanden sind. Geforscht werden soll danach, was die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit diesem Thema, die eben nicht nur eine rein theoretische bzw. intellektuelle sein soll, mit den Teilnehmenden macht. Ab wann und wo finden spürbare Veränderungen statt? Wie lassen sie sich bewirken, lenken usw.? Wofür reichen eigentlich die eigenen Kräfte und was führt in eine Überforderung? Dabei sind auf philosophischer Ebene Begrifflichkeiten zu klären – etwa, was Vermögen überhaupt sind. Aus ethischer Perspektive sind entscheidende Festlegungen zu treffen, vor allem die, welche Vermögen eigentlich als wesentlich angesehen werden können. Die Teilnehmenden an der Werkstatt haben sich vorgenommen, eine Phänopraxie bzw. eine transformative Phänomenologie, wie sie von Heinrich Rombach (1980) angedacht und von Rolf Elberfeld (2017) aufgegriffen wurde, ins Zentrum zu stellen. In der gemeinsamen Praxis sollen also Phänomene hervorgebracht werden und dabei Erfahrungen gemacht werden, die dann auch sprachlich gefasst werden sollen. Waldenfels (2015, 263) spricht im Hinblick auf Erfahrungen nicht umsonst von »eine[r] Arbeitsstätte und eine[r] Art Laboratorium, worin neue Erfahrungen gemacht und erprobt werden«. Es gilt zu fragen, inwieweit hier Transformationen gelingen können und in welche Richtungen diese gehen. Mit dem großen Thema von Fremdheit, die es hier gemeinsam weiter zu erforschen gilt, wurde ein wohl nicht unwichtiger Phänomenkomplex gewählt. Was machen Fremdheitserfahrungen mit uns? Wie mit ihnen umgehen? Das Thema lässt sich auch gut mit dem Eingangsthema des Vermögens in Verbindung bringen. Seinen Ausdruck findet dies in einer Fremdheitskompetenz, die neben der Selbstkompetenz als ein wesentliches Beispiel für die heute als wichtiger denn je erachteten interkulturellen Kompetenzen gesehen werden kann (vgl. dazu ausführlich Schellhammer 2019). Damit sollte auch deutlich werden, dass es hier insgesamt nicht um bloße alteritätslose Selbstbespiegelung geht, sondern je ein gesellschaftlicher Bezug existiert. Die Werkstatt kann, so das Fazit, als Ort und Medium der Begegnung gedacht werden, die sich in gemeinsamer Reflexion, Transformation und Kommunikation ereignet. Hier vollzieht sich Philosophische Praxis auf eindrückliche Weise. Kritische Selbstprüfung kann, das zeigt die Erfahrung, in wohlwollender Atmosphäre tatsäch252 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Die Transformatorenwerkstatt – ein Kurzbericht

lich gelingen. Hier erhellt sich das, was Jaspers (1997, 109) als die Forderung der Philosophie ausmacht: »ständig Kommunikation suchen, sie rückhaltlos wagen, meine trotzige, sich in immer anderen Verkleidungen aufzwingende Selbstbehauptung hingeben, in der Hoffnung leben, daß ich mir unberechenbar wiedergeschenkt werde aus der Hingabe. Daher muß ich ständig mich in Zweifel ziehen, darf nicht sicher werden, mich nicht halten an einen vermeintlichen festen Punkt in mir, der mich verläßlich durchleuchte und wahr beurteile. Solche Selbstgewißheit ist die verführendste Form der unwahrhaftigen Selbstbehauptung.«

Ort und Medium einer Lebenspraxis Das TWL ist von Anfang an und in vielerlei Hinsicht als ein experimentelles Projekt angelegt. Dazu gehört, dass es experimentell auch als Ort und Medium einer Lebenspraxis verstanden werden soll. Was das genau heißen kann, ist bereits Teil der Praxis und der zu machenden Erfahrung selbst. Wenn das TWL als ein Ort gedacht wird, dann sind damit gleich verschiedene Dinge gemeint. 113 Zunächst spielt hier der Bestimmungsfaktor i. S. einer Ortsbestimmung eine Rolle, wahrscheinlich sowohl als Bestimmung des Ortes als auch als ein Ort der Bestimmung. Der Aspekt der Positionierung bzw. der Position im Hinblick auf verschiedene Lagen und Sachverhalte (Gesellschaftliches, Existentielles) ist tatsächlich ein Thema, das grundlegend diskutiert wurde und immer auch wieder diskutiert wird: Wie soll sich ein Gebilde, das sich als forschend-experimentell und reflektierend auf ebenjene Lagen und Sachverhalte richten möchte, positionieren? Von welchem Standort geht Theorie und Praxis hier aus? Statt einer Positionierung im Sinne einer vorab festgelegten Sichtweise geht es, so eine geteilte Einschätzung, im Grunde immer darum, als Unterstützung bei der eigenen und fremden wissenschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder philosophischen Positionsbestimmung zu dienen: Sie soll damit nicht nur Orientierung, sondern auch Orte schaffen. Die Unterstützung hat Anteil am Klären, am Entstehen und Wachsen sowie am erneuten Sich-Verändern. Und

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Vgl. zur begrifflichen Anregung auf den Ort: Stenger (2016).

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Das Transformatorenwerk Leipzig: Ein Ein- und Ausblick

trotzdem kann auch das TWL nicht ortlos sein, denn dann wäre wohl alles beliebig: »Nichts geht ohne Standort, ohne Standpunkt, ja wenn wir Philosophie treiben (wollen), dann bedienen wir uns genau dessen: den Standpunkt, der immer ein jeweiliger sein mag, zu eruieren, zu klären, gelingendenfalls auch auf seine ungeprüften Voraussetzungen hin aufzuklären, was wiederum einfordert, gute Gründe geben und diese argumentativ vorbringen zu können. Ein Denken ohne Ort, ohne Verortung, welcher näheren Zuschreibungen auch immer, es wäre so wenig möglich wie ein Ort ohne Denken. ›Philosophie‹ – und man mag diese Schattenrisszeichnung an dieser Stelle, an diesem Ort hinnehmen – weiß nicht nur um diese Ortsgebundenheit, sie möchte auch den ›Ort der Orte‹, ja aller Orte ausfindig machen.« (Stenger 2016, 23 f.)

Und so ist und bleibt die Klärung des eigenen Standortes Teil des Initiierungsprozesses. Es ist eine Idee, das TWL auch bisweilen als eine Art Gegenort zu entwickeln, der in gewisser Weise in Kontrast zu den sonstigen Orten mit all ihren Alltagspraktiken steht. Das TWL möchte, um hier mit Foucault (2013, 10) zu sprechen, Heterotopos sein, ein Anders- oder eben Gegen-Ort. In ihm, so die Idee, soll das Atopische des sokratischen Ideals zur Geltung kommen – und zwar inmitten der polis. Gegen-Orte sind »lokalisierte Utopien«, also »Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen«. Was das für das TWL genau bedeuten kann, gilt es herauszufinden: Ist es mehr Rückzugsort, eher ein Platz der Störung und des Irritierens, stärker ein Raum für Gegenpraktiken oder einfach alles zusammen? Lässt sich von ihm aus die subversive Aktivität der Philosophie organisieren? Auf alle Fälle soll das TWL Übungszone sein, ein geschützter Ort, an dem man mit Gleichgesinnten radikale Erfahrungen machen und mit sich selbst experimentieren kann. Es ist wirklicher und wirksamer Ort, der auch ins Gesellschaftliche hinein diffundiert. Er soll auch Bühne sein, etwa offene Bühne für gesellschaftliche Auseinandersetzungen, Debatten und Zukunftsvisionen mit Geist, Fantasie und Vorstellungskraft. Oben wurden auch antike Vorbilder genannt, die dies bereits verkörperten, die aber teils auch als Orte der Kontemplation und der Muße betrachtet werden können – Orte also, die bisweilen auch von der Enthaltung von allen öffentlichen Geschäften geprägt waren (vgl. Arendt 2016, 24). Bei aller Gefahr einer Romantisierung und 254 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Die Transformatorenwerkstatt – ein Kurzbericht

Ausblendung problematischer Aspekte, wie dem Ausschluss von Frauen, Fremden und Sklaven, können trotzdem auch in diesem Punkt antike Vorbilder als Orientierung für die gesellschaftliche Funktion solcher Orte und für ein anderes Miteinander dienen – ein Miteinander, das nicht von feindlicher Konkurrenz, Neid oder bloßer Fokussierung aufs Ökonomische geprägt ist. So könnte Pierre Hadots (2011, 175) Beurteilung dieser antiken Orte fast als Anliegen und als Credo für das TWL stehen: »Die antike Philosophie setzt eine gemeinschaftliche Bemühung voraus, eine Gemeinschaft, deren Mitglieder vereint forschen, sich gegenseitig helfen und geistig-seelisch unterstützen. Vor allem aber haben die Philosophen, und letzten Endes auch die Epikureer, niemals aufgehört, auf die Städte einzuwirken, die Gesellschaft umzuwandeln, ihren Mitbürgern Dienste zu erweisen.«

Ein wichtiger Punkt ist es, den in Teil 2 skizzierten Praxisbegriff ernst zu nehmen. Was heißt es und wie kann es gelingen, in dieser Gesellschaft, in der Arbeit und Business einen so herausgehobenen Stellenwert haben, eine Lebenspraxis zu entfalten, die sich diesem Dogma und den oben genannten Logiken der Vernutzung und Ausbeutung nicht unterwerfen möchte? In der internen Kommunikation hat sich diesbezüglich etwa der Begriff des Semi-Kommerziellen etabliert, der im Hinblick auf das Angebot aussagen möchte, dass die für andere angebotenen Aktivitäten sich einerseits nicht einem Markt unterwerfen sollen, andererseits trotzdem ein notwendiges Maß an Einkommen generieren müssen. Die Idee dabei ist, kaum zu vermeidende Bedingungen ernst zu nehmen – ein Lebensunterhalt ist notwendig –, nicht in radikaler Weise anzusetzen, sondern durch gewisse Änderungen von Ideen und Praktiken allmählich eine Transformation der eigenen Lebensweisen zu probieren. So sollen die Aktivitäten gar nicht erst unter die Kategorien von entweder Arbeit oder Freizeit gefasst werden. Was hier vielleicht ein wenig naiv anmutet, möchte aber im Grunde die in Teil 2 angesprochene semantische Verantwortung ernst nehmen und damit experimentieren, wie sich eine andere begriffliche Orientierung auf die Lebenspraxis auswirkt. Es wurde bereits erwähnt, dass das TWL insgesamt als ein gemeinschaftliches, experimentelles und interdisziplinäres Projekt angedacht ist. Manche der Aktivitäten haben freilich auch disziplinären Charakter. Schon die Protagonisten des Ensembles selbst kommen aus unterschiedlichen Bereichen (Medizin, Therapie, Coaching, Trai255 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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ning, Theater, Wirtschaft, performative Philosophie, Mediation, Sozialwissenschaft und Philosophische Praxis) bzw. haben unterschiedliche theoretische und praktische Hintergründe. Die Idee des TWL ist aber auch darauf angelegt, immer wieder andere Akteure mit einzubeziehen. Eine Aufgabe von Philosophie kann darin gesehen werden, im Sinne einer Integration einzeldisziplinären Wissens zu wirken. Philosophischer Praxis, wie sie hier v. a. in Teil 2 vorgestellt wurde, kann zudem eine Räume eröffnende und kommunikativ vermittelnde Rolle zugesprochen werden, was aber das kritische und das hinterfragende Moment gerade mit einzubeziehen vermag. Bei solchen interdisziplinären Projekten ist der Dialog gefragt – nicht nur auf der sprachlichen Ebene. Genau an dieser Stelle kommt Philosophische Praxis ins Spiel – und kann sich bewähren. Das trifft natürlich auf den notwendigen Dialog zu, der auch einen Erkenntnisgewinn bringen soll. In einem solchen Prozess muss fachlich-disziplinäres Wissen für andere allgemein verständlich und zugänglich gemacht werden, muss aber auch gemeinsam kritisch geprüft werden. So soll etwa die Transformatorenwerkstatt dafür einen geschützten Raum bieten – einen Raum vor allem, in dem sich Transformation von Erkenntnis-, Wahrnehmungs- und Handlungsüberzeugungen sowie von Praktiken vollziehen kann. Das meint einerseits Vertraulichkeit, andererseits ein Freihalten von Verwertungszwängen. Es sollen sich auch in dieser Sache Zwischenräume öffnen, in denen das Interdisziplinäre dann als gemeinsame Praxis gelebt werden kann. Hier gilt es zu beobachten, was sich im Zwischen zeigt, zu schauen, was sich im Zwischen Neues ergibt, vor allem zu erleben, was da passiert. Das Zwischen fordert ein Sich-in-Relation-Setzen und eröffnet dadurch Raum für Begegnung. Das dialogische Zwischen ist nicht auf Konkurrenz aus und weist die Dominanz einer Position zurück. Welche Rolle Philosophische Praxis dabei spielen könnte, wird sich zeigen. Trägt sie maßgeblich zu einer notwendigen Vertrautheit, zu einer günstigen Atmosphäre bei? Eine gute philosophisch-praktische Haltung kann enthalten, dass sie die störenden Faktoren auszumachen vermag, die solch einen Raum schwer entstehen oder kollabieren lassen, zu ausgeprägtes Konkurrenz- und Dominanzdenken etwa. Sie fördert vielleicht auch den Mut, z. B. den Mut, sich selbst zu zeigen oder sich durch die anderen und den Prozess verändern zu lassen. Dies kann sie im TWL mit anderen Disziplinen probieren, etwa mit Methoden aus dem Coachingbereich oder aus dem Theater. Es 256 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

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wird zu beobachten sein, wie der Dialog hier funktionieren wird. Sehr vielversprechend scheint beispielsweise auch das Zusammenwirken mit performativer Philosophie zu sein, in der das Leibliche und Zwischenleibliche deutlich zum Vorschein kommen. Mit ihr gibt es aus Sicht der Philosophischen Praxis ohnehin Schnittpunkte, aber es existieren auch fruchtbare Unterschiede bzw. Schwerpunkte. Vor allem scheint hier der Vollzugssinn des Philosophischen im Vordergrund zu stehen. Rainer Totzke, alias Kurt Mondaugen, einer der Protagonisten des TWL, ist gleichzeitig ein anerkannter Akteur im Feld performativer Philosophen, etwa Mitgründer des seit 2011 stattfindenden Festivals Soundcheck Philosophie 114 und erster Vorstand des Vereins Expedition Philosophie e. V. 115 Auch Totzke (2017, 78 f.) geht es um die Frage nach der öffentlichen Vermittlung von Philosophie, »das heißt, sie muss vernünftigerweise auch auf ihre öffentlichen Darstellungs- und Vermittlungsformen reflektieren«. Totzke (ebd., 82) beschreibt dabei in drei Punkten, um was es in der performativen Philosophie geht: »Das Konzept von Performativität richtet die Aufmerksamkeit zum einen auf den praktischen Vollzugscharakter, das Transitorische und unhintergehbar Singuläre jeglichen sprachlichen Handelns (das eben im Mündlichen deutlicher wird als im Schriftlichen) und darauf, dass Worte und andere Symbolsysteme Welt eben nicht nur darstellen, sondern zugleich konstituieren, dass sie Wirklichkeit performativ hervorbringen können. Zum anderen verweist der Performativitätsbegriff – eine bestimmte theaterwissenschaftliche Perspektive ausweitend – auf die Inszeniertheit, Theatralität und Ritualität von sprachlichen Handlungen sowie auf den in jeden Sprechakt eingeschriebenen Aspekt der Wiederholung – bei gleichzeitigem Kontextbruch – und damit auf die mit jeder Wiederholung gegebene Sinnverschiebung, die bis hin zur Subversion des Gesagten führen kann. Zum dritten wird mit dem Konzept der Performativität auf Aspekte wie Leiblichkeit und Präsenz fokussiert. Es geht um das affektive leiblichkörperliche Erfasstwerden von sprachlichen Performanzen sowohl auf Seiten der Zuhörer als auch der Sprecher und damit verbunden um Erfahrungen der Ko-Präsenz und gegenseitigen kommunikativen ›Ansteckung‹ – z. B. von Akteuren und Zuschauern in einem Theaterraum.«

114 115

https://www.soundcheckphilosophie.de/, abgerufen am 03. 08. 2020. https://expeditionphilosophie.wordpress.com/, abgerufen am 03. 08. 2020.

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Zusammen mit der Sprechwissenschaftlerin Eva Maria Gauß hat Totzke (2017, 90–96) zehn Thesen zur performativen Philosophie aufgestellt, die im zwischendisziplinären Dialog sowie für die Weiterentwicklung von Philosophischer Praxis als fruchtbar zu erachten sind. Was hier im Zusammenhang mit Theater, performativer Philosophie und Coachingmethoden von Belang zu sein scheint, das sind vor allem die Momente des Kreativen, durch die auf anderen als den sonst schwerpunktmäßig verfolgten Wegen eher sprachlich-reflexive Transformationen in Gang gebracht werden können. Es geht ja immer auch darum, zu einer Neubetrachtung und ggf. Neuformulierung von Gedachtem und Überzeugungen zu kommen. Die performative Philosophie (und nicht nur sie) zeigt hier, dass Erkenntnis gerade dann generiert wird, wenn Darstellungsmedien gewechselt werden (vgl. Totzke 2017, 91). Das kreative Potential zeigt sich nicht nur in philosophischer Begriffsbildung, sondern gerade auch im experimentellen Spiel und in der Kunst, in der Spekulation, wie Michael Hampe (2006, 33) das nennt, der darin sogar die Relevanz der Philosophie für das Leben (in einer Öffentlichkeit) sieht: »Auch das Spekulative der Philosophie erhält so einen neuen Sinn. Versteht man es nicht mehr als Geburt der Hybris, die auf endgültige Wesenserkenntnis aus ist, oder als den Versuch einer faulen Vernunft, ohne empirische Forschung theorieartige Konstruktionen hervorzubringen, sondern sieht es stattdessen als exploratives begriffliches Gedankenexperiment, quasi als luziden Traum von möglichen Rationalitäten oder als Dichtung mit Begriffen, die Möglichkeiten eröffnen und offen halten und sokratisch Selbstgewissheiten in einer politischen, sozialen oder wissenschaftlichen Kultur verhindern soll, dann erscheint die Spekulation alles andere als überholt.«

Hier gilt es, eine Menge gemeinsam zu erforschen. Eine Rolle Philosophischer Praxis könnte in diesem spekulativen Arrangement vielleicht sogar darin liegen, dafür zu sorgen, dass sich der kreativ aufsteigende Ballon dann nicht zu weit von der Lebenswelt entfernt und immer auch wieder zurückgeholt werden kann.

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Die Transformatorenwerkstatt – ein Kurzbericht

Ausblick Es zeichnet sich ab, dass aus dem TWL, insbesondere aus der Werkstatt, womöglich auch ein Ort für etwas entsteht, das bisweilen als Weisheitspraxis bezeichnet wurde. Dass dies immer ein wenig vermessen klingt, bekam schon Hermann Graf Keyserling zu spüren, der 1920 in Darmstadt die Schule der Weisheit gründete (vgl. Gahlings 1996a/b). 116 Keyserling, kein Universitätsphilosoph, aber philosophierender Weltmann (Gahlings), war mit Reisetagebuchaufzeichnungen einer Weltreise (1911/12) bekannt geworden und galt als einer »der schöpferischsten philosophischen Persönlichkeiten seiner Zeit und [war] wohl der populärste Philosoph zu Beginn der 20er Jahre«. Er war Kritiker universitärer Philosophie und suchte neue Wege philosophischen Wirkens: »Es ist eines der dringlichsten Probleme unserer Tage, lebendigen Geistern wieder die Möglichkeit zu bieten, lebendig mitzuwirken, so wie es einst die großen jetzt ausgestorbenen Hochschullehrer taten. Da die heutige Universität nicht mehr den Rahmen dafür bietet, muß Neues geschaffen werden.« (Keyserling in einem Aufsatz von 1910, zit. nach Gahlings 1996a, 420)

Um es kurz zu machen: Auch bei Keyserling standen ähnliche Gründe und Motive für die Suche nach anderen Wegen philosophischer Praxis im Zentrum wie bei vielen heutigen außerakademischen Philosophen. Und auch bei Keyserling waren die beiden Perspektiven, denen in der vorliegenden Arbeit insbesondere nachgegangen wurde, nämlich ein engagiertes öffentliches Wirken einerseits und eine persönlich-transformative Ausrichtung andererseits, deutlich erkennbar. Philosophie meint die Liebe zur Weisheit – sie ist es nicht selbst. Den Fragen, welchen Anteil sie am Erlangen von Weisheit haben und was dieser Begriff heute eigentlich bedeuten kann, muss immer wieder neu nachgegangen werden. Das TWL möchte dies in der Praxis tun. Und die Frage, wie das genau aussehen könnte, ist schon Teil des Prozesses selbst. Die Exerzitien der westlichen Antike und die vielfältigen und reichen Praktiken indischer, chinesischer oder anderer großer Traditionen bieten freilich einen unerschöpflichen Fundus. Es Spott gab es etwa von Leuten wie Kurt Tucholsky oder Rudolf Steiner. Der Illustrator und Grafiker Emil Pretorius karikierte ihn in einem Schmähgedicht: »Als Gottes Atem leiser ging, schuf er den Grafen Keyserling.« (zit. nach Gahlings 1996b, 234).

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braucht einen interkulturellen Dialog – vor allem in der heutigen Zeit. Und im Dialog ist Philosophische Praxis zuhause. Eine wesentliche Erfahrung, die im gemeinsamen Wirken immer wieder aufs Neue gemacht wird, lässt sich wohl eindrücklich mit den Worten von Jaspers (1997, 108) beschreiben, der meint: »Die Erinnerung des eigenen Lebens in Gemeinschaft ist der Hintergrund, auf dem die gegenwärtige Aufgabe bis zu den Kleinigkeiten dieses Tages hell wird, wenn ich in der unerlässlichen Intensität zweckhaften Denkens des umgreifenden Sinns verlustig gehe.«

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Resümee und Ausblick

Das Anliegen dieser teils praxeologischen und philosophischen Untersuchung bestand darin, Perspektiven auf grundlegende Ideen, Selbstverständnisse, Begrifflichkeiten, bestehende Ansätze und mögliche neue Wege Philosophischer Praxis sowie damit verbundene Schwierigkeiten einzunehmen. Diese Überlegungen sollen zum Nach-, Weiter- und vielleicht sogar zum Umdenken sowie zur Diskussion anregen. Die Konkretionen müssen je individuell vorgenommen werden. Die ein oder anderen Fragen sollen, so die Hoffnung, als Ausgangspunkt für die weitere Forschung dienen. Ob die Lektüre selbst vielleicht sogar transformierende Effekte hervorgebracht hat, liegt vermutlich auch ein wenig am Grad der Offenheit ihr gegenüber. Im Arrangement des Textes mag das Grundverständnis eine Rolle gespielt haben, Philosophische Praxis als etwas je Auszugestaltendes zu verstehen – was freilich nicht im luftleeren Raum geschieht. Einerseits gibt es wertvolle theoretische und praktische Grundlagen, wie sie vor allem im ersten und im zweiten Teil skizziert wurden. Andererseits bestehen gesellschaftliche Bedingungen, die Philosophische Praxis als eine Dienstleistung bzw. Tätigkeit ermöglichen, aber auch limitieren. Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis von Einpassung und Veränderung, zu dem eine individuelle Haltung zu finden ist, ein Spannungsverhältnis, in dessen Zwischen sich Platz und Notwendigkeit für Gestaltung, aber auch für Akte der Verweigerung und für Widerstand ergibt. Philosophische Praxis wurde sowohl als eine Idee als auch als eine Sammelbezeichnung für verschiedene konkrete Formate und Angebote ausgewiesen, von denen die existentielle Lebensberatung wohl das bekannteste und konkreteste darstellt. Das Interesse galt der Frage, welche Rolle eine selbst- und weltöffnende Philosophische Praxis, die sich als eine engagierte, mindestens proto-politische, nicht-dogmatische, manchmal verbindende, manchmal differenzierende und positionierende, trotzdem begegnende und zugleich eman261 https://doi.org/10.5771/9783495999844 .

Resümee und Ausblick

zipativ-kritische zu zeigen vermag, in spätmodernen Gesellschaften spielen kann – ohne dabei selbst zu einer Vernutzungspraktik zu verkommen. Weder Philosophie noch Philosophische Praxis sind davor gefeit, weshalb schließlich Bewusstheit, Haltung und Lebensform ins Zentrum der Untersuchung rückten. Damit hängt der hier gegebene Versuch der Erweiterung einer Antwort auf die Frage, was denn das Philosophische an einer Philosophischen Praxis sei, zusammen. Neben den üblichen Verweisen auf unterschiedliche Zugänge, Methodiken und Techniken aus dem philosophischen Feld oder dem definitorischen Versuch der »Lebensberatung in der Praxis eines Philosophen« wurde einerseits das all dem zugrundeliegende kunstfertige Vermögen stärker in den Fokus genommen und andererseits danach fragt, was es denn im Hinblick auf die eigene Lebensführung heißen könnte, Philosophischer Praktiker zu sein. Man mag dem Plädoyer für eine mehr oder weniger aus der heute üblichen Berufsrolle herausfallende Tätigkeit und Seinsweise, so vage sie sich hier vielleicht für viele Lesende darstellen mag, nicht folgen wollen. Dies richtet sich nicht gegen das Vorhaben einer berufsmäßigen Professionalisierung, die im Prinzip einen notwendigen Schritt in Richtung einer gesellschaftlich auch anerkannten Institutionalisierung darstellt. Nur geht es, um es einfach zu formulieren, darum, nicht alles mitmachen zu müssen. Das forschende Interesse dieser Arbeit galt ebenso einer potenziellen Weiterentwicklung bisheriger Ansätze und Formate. Die Überlegungen waren dabei von der Frage geleitet, was der Gedanke der Transformation für Philosophische Praxis meinen und was es bedeuten kann, neben den orientierenden, verstehenden und ergründenden Momenten stärker das transformierende in den Fokus zu rücken. Auch wenn im Diskurs zur Philosophischen Praxis immer wieder Reminiszenzen zu antiken Praktiken und zur Lebenskunst angestellt werden, so ist doch das Angebot im Hinblick auf solche Formen überschaubar. Mir ging und geht es dabei aber nicht um eine Abkehr von bisherigen Formen, denn die spielen auch in meiner Arbeit eine wichtige Rolle, sondern eher um Ergänzung und um die Frage, was sonst noch möglich ist. Das gilt ebenso für die Frage nach der Beteiligung in kooperativen Praxen. Für diese Bereiche gilt es, praktische Entfaltungsformen für die angestellten theoretischen Überlegungen zu finden bzw. zu entwerfen sowie zu gestalten.

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Literaturverzeichnis

Die in Klammern angegebene Jahreszahl entspricht der jeweils genutzten Auflage. Die hier im Literaturverzeichnis hochgestellten Ziffern geben die jeweilige Auflage an. Diese wird im Text selbst nicht angegeben. Nur einmal zitierte oder erwähnte Arbeiten werden im Text jeweils in Fußnoten ausführlich zitiert und werden im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt. Gleiches gilt für Internetquellen, die nur im Text zitiert werden. Achenbach, Gerd B. (2001): Lebenskönnerschaft, Freiburg/Basel/Wien: Herder Verlag. Ders. (2010): Zur Einführung der Philosophischen Praxis. Vorträge, Aufsätze, Gespräche und Essays, mit denen sich die Philosophische Praxis in den Jahren 1981 bis 2009 vorstellte. Eine Dokumentation, Köln: Dinter. Ders. (2010 I): Kurzgefaßte Beantwortung der Frage: Was ist Philosophische Praxis? In: ders.: Zur Einführung der Philosophischen Praxis, 15–17 (zuerst 1999). Ders. (2010 II): Philosophische Lebensberatung. Zur Kritik der auxiliaren Vernunft, in: ders.: Zur Einführung der Philosophischen Praxis, 31–41 (zuerst 1983). Ders. (2010 III): Die Philosophische Praxis hat eine lange Tradition – und ist doch ohne Vorbild, in: ders.: Zur Einführung der Philosophischen Praxis, 43–56 (zuerst 1985). Ders. (2010 IV): Die Eröffnung. – Und: Beantwortung der Frage, wer mit welchen Problemen die Philosophische Praxis aufsucht, in: ders.: Zur Einführung der Philosophischen Praxis, 57–61 (zuerst 1983). Ders. (2010 V): Die Grundregel Philosophischer Praxis, in: ders.: Zur Einführung der Philosophischen Praxis, 77–89 (zuerst 1988). Ders. (2010 VI): Zur Mitte der Philosophischen Praxis, in: ders.: Zur Einführung der Philosophischen Praxis, 91–103 (zuerst 1996). Ders. (2010 VII): Philosophische Praxis führt die »Lebenskönnerschaft« im Schilde, in: ders.: Zur Einführung der Philosophischen Praxis, 105–1113 (zuerst 2001).

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