Perlen geschichtswissenschaftlicher Reflexion: Östliches Europa, sozialgeschichtliche Interventionen, imperiale Vergleiche [1 ed.] 9783737014281, 9783847114284


109 100 8MB

German Pages [309] Year 2022

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Perlen geschichtswissenschaftlicher Reflexion: Östliches Europa, sozialgeschichtliche Interventionen, imperiale Vergleiche [1 ed.]
 9783737014281, 9783847114284

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Christoph Augustynowicz / Dietlind Hüchtker / Börries Kuzmany (Hg.)

Perlen geschichtswissenschaftlicher Reflexion Östliches Europa, sozialgeschichtliche Interventionen, imperiale Vergleiche

Mit 12 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Dekanats der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Ausschnitt aus dem Mosaik »Kaiserin Theodora mit ihrem Hofstaat«, Kirche San Vitale, Ravenna [© Wikipedia gemeinfrei] Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1428-1

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Soziale und nationale Fragen Ricarda Vulpius Nationale Konversionen in imperialen Grenzregionen. Biographische Zugänge zur ukrainischen Geschichte im ausgehenden 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Johanna Gehmacher Eine Begegnung in Krakau

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Börries Kuzmany Marija Frumkina (Esther) und die nationale Frage in Russland . . . . . .

31

Christoph Augustynowicz Von der »austro-fatalistischen Geschichtsmethode«. Kontrafaktisches in Roman Rosdolskys historiographischer Darstellung des österreichischen Jänner-Streiks von 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Religion und Revolution Christof Paulus Heilige Kriege. Zu Denkmustern und Funktion der Deutschordenschronistik im frühen 14. Jahrhundert . . . . . . . . . . . .

47

Oliver Jens Schmitt Venedig und seine Orthodoxen in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . .

55

Gabriella Hauch Reisen zur Russischen Revolution: 1920ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

6

Inhalt

Anja Burghardt Revolution und Religion in Boris Pasternaks Roman Doktor Shiwago . . .

69

Von Galizien und der Schwarzmeerregion Konrad Petrovszky Potemkinsche Lettern zur Zeit der Französischen Revolution. Der Courier der Moldavie von 1790 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Oleksandra Krushynska »Beschreibung der Königreiche Galizien und Lodomerien…« von Graf von Pergen – eine Quellenanalyse aus postkolonialer Perspektive . . . . .

87

Andreas Kappeler Positive Diskriminierung von Juden im Russländischen und im Habsburgerreich. Die Karäer auf der Krim, in Litauen, Wolhynien und Galizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Wolfgang Mueller Batum zwischen Industrialisierung, Migration und Revolution: Der östliche Schwarzmeerraum und südliche Kaukasus in k. u. k. Konsulatsberichten um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

Stefaniya Ptashnyk Die Darstellung der ruthenischen Sprache im Galizien-Band des Kronprinzenwerks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Elisabeth Haid-Lener Von der Monarchie zur Republik. Demokratisierung und ihre Grenzen in Ostgalizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Kerstin von Lingen Lemberg 1942 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Rinna Kullaa Die UdSSR als Mittelmeerstaat? Das Schwarze Meer und die Mittelmeerflotte der Sowjetunion zwischen globaler Konnektivität und imperialer Militärstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

7

Inhalt

Imperialismus, Kolonialismus und Orientalismus Anna Guboglo Russische Fotografie in den südlichen Peripherien des Reiches: Ein Werkzeug imperialer Politik (1839–1900) . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Ulrich Hofmeister Bosnien, Turkestan und der Kolonialismus: Imperiale Herrschaft im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Stephanie Weismann Uns stinkt’s! Geruchsperlen und Ordnungsversuche aus dem imperialen Dunstkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Sarah Lemmen Der Osten ist immer woanders, der Westen auch. Zur Ambivalenz orientalistischer Diskurse im Zentraleuropa der Zwischenkriegszeit . . . . 157 Lars Fredrik Stöcker Kolonialpolitik und Kolonialdiskurs an der sowjetischen Peripherie

. . . 165

Julia Obertreis Gender und Imperiengeschichte – ein Plädoyer . . . . . . . . . . . . . . . 173 Martin Rohde Orientalismen und die ukrainische Geschichte

. . . . . . . . . . . . . . . 181

Translokale Geschichten Marija Wakounig Vom Problemlöser zum Problemmacher? Agenor Graf Gołuchowski der Jüngere als k. u. k. Außenminister (1895–1906) . . . . . . . . . . . . . . . 191 Ninja Bumann Die »muslimische Frauenfrage« im habsburgischen Bosnien-Herzegowina: Diskurse, Akteur*innen und Verflechtungen mit und in der islamischen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Kirsten Bönker »Mit den Sowjets über den Jungfernstieg«: Die Städtepartnerschaft Hamburg – Leningrad als translokale Verflechtungsgeschichte des Kalten Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

8

Inhalt

Susanne Schattenberg Von Schlössern und Touristen, oder: Wie Österreich in die EWG wollte und sowjetisches Gas bekam (1966–1968) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Stefan Rohdewald Das Auge des Sturms: Zugänge zu transosmanischen Dynamiken am Beispiel der Krim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Geschichte zwischen Gedächtnis und Literatur Johannes Feichtinger / Johann Heiss Memoria filia temporis. Christliche Türken, muslimische Polen. Wer wird wann erinnert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Agnieszka Pufelska Monumentale Selbstverherrlichung. Oder: warum Wien kein Sobieski-Denkmal bekommen soll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Alois Woldan Ivan Mazepa – zwischen Ost und West, zwischen Geschichte und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Olaf Terpitz Pauline Wengeroffs Memoiren – eine Frauenstimme in der jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Osteuropas . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Gerhard Langer Das Bild Polens und der Polen bei Soma Morgenstern . . . . . . . . . . . 261 Claudia Theune Formen des Gedenkens und deren Materialität . . . . . . . . . . . . . . . 269

Identitäten und Alteritäten Stefan Troebst Wie wird man Osteuropahistoriker(in)? Ein britisches Dilemma

. . . . . 279

Dietlind Hüchtker Zeiten und Räume. Männlichkeit und die Historizität anthropologischer Konstanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

Inhalt

9

Nina Leonhard Wie hältst du’s mit dem Sozialismus? Anmerkungen zur militärischen Erfahrungswelt vormaliger NVA-Offiziere im vereinigten Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Claudia Kraft Leben und Forschen in der postmigrantischen Gesellschaft: Eine Lektürempfehlung für Mithu Sanyals Identitti . . . . . . . . . . . . . 297 Brigitta Schmidt-Lauber Die Historikerin als Ethnologin der Zeit. Ein Annäherungsversuch . . . . 303

Vorwort

Forschungen zum östlichen Europa werden selten mit »Perlen geschichtswissenschaftlicher Reflexion« assoziiert. Zumeist verbindet man mit dem östlichen Europa das Nachholende, Rückständige. Zwar werden diese mental maps als historische Konstruktionen seit der Aufklärung reflektiert, dennoch prägen sie weiterhin das Hierarchiegefälle zwischen Forschungslandschaften und historischen Disziplinen: Während sich viele Studien zu Osteuropa auf Themen, Ansätze und Interpretamente aus solchen zum westlichen Europa beziehen, ist dies umgekehrt kaum der Fall. Aus letzterer Perspektive stellt das westliche Europa das Allgemeine, Universale dar, Osteuropa dagegen das Spezifische, Andere, Besondere, dessen Berücksichtigung für allgemeingültige Thesen kaum erforderlich scheint. Es ist daher an der Zeit, den Perlen geschichtswissenschaftlicher Reflexion über das östliche Europa einen gebührenden Platz einzuräumen. Der Titel des vorliegenden Essaybandes reflektiert die Relevanz von Studien des östlichen Europas für die allgemeine geschichtswissenschaftliche Diskussion: die Intersektionalität sozialdemokratischen Engagements, die Reichweite imperialer Politik und imperialer Praktiken, das Europäische des Ostens. Das russische Wort für Perle, zˇemcˇug, ist ein altes turksprachiges Lehnwort. Die Perlen stehen somit auch symbolisch für die vielen interkulturellen Austauschprozesse, von denen der ostslawische Raum geprägt wurde und die stets Kerstin S. Jobsts Interesse geweckt haben. Kerstin Susanne Jobst trat mit dem 1. August 2012 nach einem akademischen Weg über längere Stationen in ihrer Geburtsstadt Hamburg sowie in Salzburg und Leipzig die Professur für »Gesellschaften und Kulturen der Erinnerung im östlichen Europa« am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien an. Sie hat mit ihrem wissenschaftlichen Werk einen Beitrag zu geschichtswissenschaftlichen Reflexionen geleistet. Um ihre Reflexionen zu würdigen widmen wir ihr eine Festschrift, die ihre langjährigen Forschungen aufgreift, kommentiert und nutzt, um deren Relevanz zu unterstreichen. Überschattet wird der Essayband freilich durch die dramatischen Ereignisse des Überfalls Russlands auf die Ukraine in den Morgenstunden des 24. Februar 2022, die die Wissenschaften, insbesondere

12

Vorwort

die mit Osteuropa befassten vor neue Aufgaben stellen. So wird dem Vernehmen nach Kerstin S. Jobsts Geschichte der Ukraine (2010, 2015) im gleichermaßen renommierten wie breitenwirksamen Reclam-Verlag heuer überarbeitet und ergänzt zum dritten Mal aufgelegt. Der ausführliche Titel des Essaybands spiegelt die wesentlichen Aspekte ihres Oeuvres wider. Die »Perlen geschichtswissenschaftlicher Reflexion« beziehen sich auf ihre vielbeachtete und mit der Invasion russländischer Truppen in die Ukraine nochmals zu Aktualität gekommene Studie zur Krim, in der sie die Stilisierung dieser Halbinsel als »Perle des Imperiums« (2007) im russländischen Diskurs seit dem späten 18. Jahrhundert aufgegriffen hat. Die »sozialgeschichtlichen Interventionen« rekurrieren auf ihrer Arbeit zur Sozialdemokratie in Galizien um die Jahrhundertwende (1994). Die Denkfigur der »imperialen Vergleiche« schließlich verdichtet ihr Interesse an der Ukraine als Land an der Naht zwischen Habsburgermonarchie und Russländischem Reich zum einen und als Paradigma der vergleichenden Imperiengeschichte zum anderen. Ausgehend von diesen Perlen nähern sich 39 Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Wissensdisziplinen mit den Schwerpunkten Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaften in essayartigen Beiträgen dem großzügig definierten östlichen Europa von Zentralasien bis in die DDR und vom Baltikum bis zur Krim an. Der zeitliche Schwerpunkt liegt dabei auf dem 19. und 20. Jahrhundert, der Band umfasst aber auch Beiträge zum Mittelalter, zur Frühen Neuzeit sowie zu zeitgeschichtlichen und tagesaktuellen Diskussionen. Mit der Gliederung des Bandes in sieben thematische Abschnitte werden die wissenschaftlichen Themen von Kerstin S. Jobst aufgegriffen und ihr Potential zu geschichtswissenschaftlichen Reflexionen genutzt. »Soziale und nationale Fragen« verfolgen die Intersektionalität von Nationenwerdung und sozioökonomischer Dynamisierung, »Religion und Revolution« hingegen widmet sich der Bedeutung von Religionen und Konfessionen in einer longue durée. Der umfangreiche Abschnitt »Von Galizien und der Schwarzmeerregion« reflektiert die regionale Perspektive, wo hingegen der Teil »Imperialismus, Kolonialismus und Orientalismus« breitere methodisch-theoretische Parameter aufgreift. »Translokale Geschichten« legt das Hauptaugenmerk auf praxeologische Verflechtungen von lokalen, regionalen und globalen Räumen. »Geschichte zwischen Gedächtnis und Literatur« thematisiert, wie historische Ereignisse kulturell erinnert und/oder literarisch verarbeitet wurden und werden. »Identitäten und Alteritäten« schließlich verknüpft Fragen nach (auto-)biografischen und historiografischen Praktiken. Angesichts der zahlreichen Disziplinen, aus denen die Autorinnen und Autoren kommen, haben wir uns entschlossen, ihnen die Verwendung von Ortsnamen den jeweiligen Gepflogenheiten entsprechend zu überlassen.

Vorwort

13

Unser Dank an dieser Stelle gilt Carina Siegl und Yamna Krasny für die gründliche und gewissenhafte redaktionelle Arbeit. Für die Finanzierung sei der Universität Wien und insbesondere der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät gedankt. Christoph Augustynowicz, Dietlind Hüchtker und Börries Kuzmany im April 2022

Soziale und nationale Fragen

Ricarda Vulpius

Nationale Konversionen in imperialen Grenzregionen. Biographische Zugänge zur ukrainischen Geschichte im ausgehenden 19. Jahrhundert1

Galizien, Habsburgerreich. Der 18-jährige Roman hatte schreckliche Angst, seine Entscheidung dem Vater mitzuteilen. Seine Mutter Zofia wusste zwar von seinem Entschluss, hatte ihm aber Schweigen verordnet. Beide hatten sie Angst vor dem Ehemann bzw. Vater, vor Jan Kanty Graf Szeptycki, polnischer Magnat im habsburgisch beherrschten Galizien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der mit Stolz auf sein Grafengeschlecht schaute und als Abgeordneter des galizischen Landtages sowie des österreichischen Reichsrats, als Mitglied des Herrenhauses und Ritter zahlreicher Orden in gesellschaftlich führenden Kreisen verkehrte. Seine Frau Zofia, geborene Fredro, war die Tochter des berühmten polnischen Komödienautors Aleksander Fredro. Im Familienstammsitz der Szeptycki in Przyłbice waren die Wände des Gutshauses voller Portraits der Szeptycki-Vorfahren, darunter Bischöfe und sogar Metropoliten, die im Polnisch-Litauischen Reich im 18. Jahrhundert die griechisch-katholische Kirche vertreten hatten, also die Kirche der ostslawischen Ruthenen, wie die ukrainischsprachige Bevölkerung im Habsburgerreich genannt wurde. Jan Kanty Szeptyckis Stolz galt den herausragenden gesellschaftlichen Stellungen seiner Vorfahren. Den östlich-byzantinischen Ritus hatte hingegen schon sein Urgroßvater ›korrigiert‹. Er selbst und seine Frau waren tief gläubig im lateinischen Katholizismus verankert. Die Hoffnungen des Vaters ruhten ganz auf Roman, dem jetzt ältesten Sohn, nachdem seine zwei älteren Brüder gestorben waren. Der Vater hatte ihn intensiv in die Familiengeschichte eingeführt, ihm jedes Ahnenbild erläutert, ihn zu Archivreisen mitgenommen, um Material über die Vorfahren zusammenzutragen. Eines Tages, so hoffte der Vater, sollte Roman die Familie würdig nach außen vertreten.

1 Der Text ist eine gekürzte Fassung des Bewerbungsvortrags für die Professur für osteuropäische Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, die Kerstin Jobst dankenswerterweise in einer früheren Version gegengelesen und kenntnisreich kommentiert hatte.

18

Ricarda Vulpius

Roman beschloss, das persönliche Gespräch zu vermeiden und stattdessen einen Brief zu schreiben. In diesem offenbarte er dem Vater, dass er sich entschieden habe, dem Orden der Basilianer beizutreten. Ein Paukenschlag: Der Orden der Basilianer war zu diesem Zeitpunkt, nämlich 1883, völlig heruntergekommen. In den wenigen verbliebenen Klöstern lebten nur noch vereinzelte Glaubensanhänger, von denen sich kaum einer an die Ordensregeln hielt. Doch damit nicht genug, der Orden folgte dem östlichen Ritus. Ein Eintritt des Sohnes würde bedeuten, als Eltern nicht länger den Ritus mit dem eigenen Kind zu teilen. Und die Eltern sahen sich damit konfrontiert, ihren ältesten, gut erzogenen und hochgebildeten Sohn an die Kirche der bäuerlich-unalphabetisierten Ruthenen zu verlieren. Es erschien ihnen wie eine Aufgabe des über Generationen erfolgten Aufstiegs in die führenden polnischen Kreise, wie ein Bruch mit allem, was sie sich in der Vergangenheit aufgebaut hatten. Aus dem Sohn Roman sollte der berühmte Andrej Sˇeptyc’kyj werden, nicht nur Bischof, sondern ab 1900 sogar Metropolit der griechisch-katholischen Kirche in Lemberg, der nicht zuletzt aufgrund seiner herkunftsbedingten Kenntnisse, Fähigkeiten und Kontakte, seiner persönlichen Integrität und Glaubwürdigkeit zur religiös-politischen Führungsfigur der galizischen Ukrainer aufstieg. Und dies in einer Zeit, in der die Ruthenen parlamentarisch wie administrativ unterrepräsentiert waren, so dass die Bedeutung von Sˇeptyc’kyj für den nationalen ukrainischen Zusammenhalt in Galizien kaum überschätzt werden kann. Romans jüngerer Bruder Stanisław ging einen ganz anderen Weg. Stanisław sah sich Zeit seines Lebens als Pole, diente als polnischer Kommandeur in der habsburgischen Armee, trat der polnischen Legion bei und wurde in den Zeiten, in denen sich der polnische Staat aus den imperialen Fängen heraus zum unabhängigen politischen Akteur entwickelte, einer der wichtigsten polnischen Generäle. Als der Brester Friedensvertrag von 1918, der sogenannte Brotfrieden zwischen den Mittelmächten und der Ukrainischen Volksrepublik, die Abtretung des von Polen beanspruchten Cholmer Landes an die neu entstandene Ukrainische Republik vorsah, reagierte Stanisław Szeptycki eindeutig. Aus Protest gegen den als polenfeindlich wahrgenommenen Akt trat er von seinem Amt als Generalgouverneur von Lublin zurück. Es war just sein Bruder Roman bzw. Andrej, der sich für den Friedensvertrag stark gemacht hatte. Zwei Brüder, zwei Entscheidungen für unterschiedliche Entwürfe nationaler Identität. Die Familiengeschichten der Szeptyckis und zahlreicher anderer Familien, die westlich und östlich der russländisch-habsburgischen Staatsgrenze inmitten ukrainischer Siedlungsgebiete lebten, erfassen die multiplen Identifikationsmöglichkeiten, die sich in den Regionen mit ukrainischsprachiger Bevölkerung im Zeitalter des Nationalismus und der auseinanderbrechenden Imperien boten. Die Familiengeschichten machen zugleich auch die wichtigsten Etappen in der

Nationale Konversionen in imperialen Grenzregionen

19

konfliktgeladenen Beziehung des polnischen bzw. des russischen und des ukrainischen Nationalismus sichtbar: Ausgehend von gemeinsamen Wurzeln im Adelsmilieu Galiziens bzw. in der Kiever intelligencija folgte auf die Phase zunehmender politischer Konkurrenz im ausgehenden 19. Jahrhundert nach 1905 allmählich der Eintritt ins Zeitalter der nationalen Massenmobilisierung. Die Konkurrenz der Nationalismen schlug während der Revolution und des Bürgerkrieges in offene Konfrontation um und entlud sich im polnisch-ukrainischsowjetrussischen Krieg. Vor allem ermöglichen uns die Familiengeschichten in imperialen Grenzräumen eines: die Entwicklung nationaler Loyalitäten nicht im teleologischen Narrativ primordialer Nationsbildung zu betrachten. Vielmehr tritt der voluntaristische Akt der politischen Entscheidung jedes Einzelnen in den Vordergrund. Auch die Stufentheorie von Miroslav Hroch, bei der in der dritten Phase von Nationalbewegungen davon ausgegangen wird, dass das von nationalen Aktivisten verbreitete Nationalbewusstsein in die breite Bevölkerung »eindringe«, ist zu modifizieren. Der Prozess des »Eindringens«, also die Kenntnis von nationalen Identitätsangeboten zu erhalten, ist das eine. Daraus allein erwächst noch kein Nationalbewusstsein. Vielmehr ist es das andere, sich für eine Option zu entscheiden. Dieser Schritt des Entscheidens erweitert die bisherige Top-Down-Perspektive der Nations- und Nationalismusforschung um eine Bottom-Up-Betrachtung. Mit der Analyse der Biographien von sich diametral gegenüber stehenden Familienmitgliedern wird der Blick frei für die Ambiguitäten, die Widersprüche und die Kontingenzen der Mobilisierung Einzelner für nationale Anliegen. Die teleologischen Narrative, wie sie von jeder nationalen Seite gerade in Biographien retrospektiv bereits in die Kindheit projiziert werden, können so mehr denn je ihrer Konstruiertheit überführt werden. Zu Tage treten die verschiedenen Gründe und Motive, die zur individuellen Entscheidung für die eine oder die andere nationale Option führten. Und die Wechselwirkungen der Entscheidungen verschiedener Familienmitglieder können prägnanter als zuvor wahrgenommen werden. Insgesamt wird von Ostmitteleuropa als von einer Region gesprochen, in der es infolge der imperialen Überlagerungen durch das Habsburger, das preußischdeutsche und das Russländische Reich in den Grenzräumen zu einer einzigartigen Dichte von politischen, religiösen und sprachlichen Interferenzzonen gekommen ist. Dies gilt in herausragendem Maße für die ukrainisch besiedelten Regionen. Insofern erstaunt es nicht, dass sich gerade in diesen Räumen, in denen die Auseinandersetzung mit alternativen nationalen Identitätsentwürfen an der Tagesordnung war, viele familiäre Biographien finden, in denen unterschiedliche nationale Konversionen stattfanden. Das Interesse der europäischen Geschichtsforschung an derartigen Themen ist in den letzten Jahren groß geworden. Unter dem Einfluss der Postcolonial

20

Ricarda Vulpius

Studies rückt eben jener biographische Fokus in den Vordergrund, bei dem nationale Grenzen sowohl im wörtlichen, also räumlichen, als auch im übertragenen, kulturell-sozialen Sinne überschritten werden. Mobilität und Biographie, Grenzgänge und Grenzgänger, transnationale und »Zwischenraumbiographien« mögen hier als nur wenige Stichwörter aus der jüngsten Forschung genügen. Was kann konkret durch die neue Perspektive gewonnen werden? Der Blick wird frei für eine transnationale Biographik. Lebensläufe, die Grenzen überschritten, wurden bislang in aller Regel nur innerhalb einer der nationalen Rahmenerzählungen betrachtet. Lebensphasen, die vor dem Grenzgang lagen, blieben oftmals ausgeblendet. Damit wurden Lebensläufe gleichsam in zwei Teile geteilt, bipolar gedacht, das komplexe Fortwirken der einen Lebensphase in der anderen, handlungsprägende Verflechtungen der Lebensphasen ignoriert. Bezeichnend sind hierfür die bislang vorliegenden Arbeiten zu Roman und Stanisław Szeptycki, in denen die Rollen der Protagonisten jeweils getrennt innerhalb der ukrainischen und innerhalb der polnischen Nationalbewegung vermessen wurden. Aufschlussreich ist ein genauer Blick auf die Entscheidungen der Protagonisten für ihre jeweiligen Identitätsentwürfe. Als eine häufige Ursache von Konversionen im religiösen Kontext haben Soziologen die relative Deprivation herausgearbeitet, also das Fehlen von Chancen, die Personen anderer konfessioneller Gruppen besitzen, wie zum Beispiel größere Bildungschancen. In Analogie dazu konnten auch nationale Konversionen die Hoffnung nähren, Sozialisationsprozesse und Karrieren zu ermöglichen, die für die jeweiligen Akteure vorteilhaft waren. Hierin werden auch die Gründe für den Wechsel der Szeptycki-Vorfahren zum lateinischen Ritus und für ihre folgende Polonisierung Anfang des 19. Jahrhunderts gelegen haben. Vor diesem Hintergrund machte jedoch die Entscheidung, sich im ausgehenden 19. Jahrhundert als Pole oder Russe mit der ukrainischsprachigen Bevölkerung zu identifizieren und für den ukrainischen Identitätsentwurf zu votieren, keinen Sinn. Sowohl Polen in Galizien als auch Russen und Polen in der Dnipro-Ukraine verbanden mit Ruthenen bzw. Kleinrussen einen sozialen Abstieg: Abstieg in die Welt des »plumpen«, leibeigenen und ungebildeten Bauern. Umso erklärungsbedürftiger sind die Motive derer, die sich gleichwohl für eine vorgestellte Gemeinschaft mit Ruthenen bzw. Ukrainern entschieden. Bei Roman Szeptycki, dem späteren Metropoliten, geben die ausführlichen Erinnerungen der Mutter und einer Großnichte sowie die Briefwechsel zwischen den einzelnen Familienmitgliedern Aufschluss über seinen Antrieb zur nationalen Konversion. Zweifellos lag Roman wenig am gesellschaftlich hochstehenden Leben, das der Vater führte. Er teilte auch nicht die herablassende Betrachtungsweise gegenüber der ruthenischen Bevölkerung um ihn herum. Viel-

Nationale Konversionen in imperialen Grenzregionen

21

mehr interessierte er sich für die ukrainischen Bauern und bedauerte deren schlechte Lebensbedingungen. Während sich jedoch bei vielen nationalen Konvertiten die sozialistische Ideologie der Narodniki (Volksfreunde) maßgeblich auswirkte, war bei Roman Szeptycki das Christentum der entscheidende Motor. Von seiner Mutter tief religiös erzogen hatte er den christlichen Auftrag der Liebe zum Mitmenschen wörtlich genommen: Diese Mitmenschen waren in Ostgalizien in erster Linie mehrheitlich Ruthenen. Darüber hinaus, so sagte es Roman später selbst zu seinem Vater, hatte er die väterliche Einführung in die Welt der Vorfahren als eine persönliche Findungsreise erfahren. Nicht nur hatte er sich mit dem Schisma der Christenheit in eine orthodoxe Ost- und eine katholische Westkirche auseinandergesetzt. Vor allem war er auch mit dem Projekt der Wiedervereinigung der Christenheit eng vertraut. Für dieses Projekt stand für ihn die Griechisch-Katholische Kirche und mit ihr der Orden der Basilianer: Einerseits östlich und volksnah im Ritus, andererseits dem Papst unterstellt und damit im Kontakt mit den niveauvollen theologischen Ausbildungsstätten der lateinischen Kirche. Die griechisch-katholische Kirche erschien Roman daher am vielversprechendsten, der Spaltung der Christenheit und damit primär der konfessionellen Spaltung der Ukrainer in Orthodoxe und Unierte entgegenzuwirken. Versucht man die Gemeinsamkeiten der Lebensentscheidungen von nationalen Konvertiten in ukrainisch besiedelten Gebieten herauszuarbeiten, so fallen drei Aspekte auf. Zum einen handelte es sich oftmals um einen Generationenkonflikt. Roman war zum Zeitpunkt seiner Entscheidung 18 Jahre alt. Das junge Alter gilt auch für viele andere Fälle nationaler Konvertiten. Neben dem generationellen Aspekt fällt bei den meisten Protagonisten zweitens die gesuchte Nähe »zum einfachen Volk« auf. Das Bestreben, die Kluft zwischen Elite und Volk zu schließen, verweist zwar auf ein allgemein zentrales Element von Nationsbildung. Im Falle der Ukrainer aber ist das Überlappen sozialer und nationaler Anliegen in besonderem Maße gegeben, fallen doch die soziale Kategorie Bauern und die ethno-nationale Kategorie Ukrainer weitgehend zusammen. Tatsächlich waren fast alle führenden Aktivisten der ukrainischen Nationalbewegung entweder Narodniki in der Dnipro-Ukraine oder Narodovci in der galizischen Ukraine. Auch Roman Szeptycki, dessen Hinwendung »zum einfachen Volk« sich aus seinem Christentum ableitete, sah nur eine Möglichkeit, sich zu ihrem Fürsprecher zu machen und ihre Lebensbedingungen zu verbessern – er musste einer von ihnen werden. Als dritte Gemeinsamkeit der national konvertierten Protagonisten sticht ihre jeweilige Einbettung in den imperialen Kontext hervor. Alle waren sie Angehörige intellektueller Eliten, deren Bewegungs-, Erfahrungs- und Vorstellungsräume von den jeweiligen Imperien geprägt waren. Trotz ihrer Ukrainophilie

22

Ricarda Vulpius

strebte selbst bis zum letzten Moment des Zusammenbruchs der Imperien keiner von ihnen einen unabhängigen ukrainischen Nationalstaat an, alle wollten eine Ukraine maximal als Teil einer Föderation (innerhalb des Russländischen Reiches) oder eines Kronlandes (innerhalb des Habsburger Reiches). Es waren nicht zuletzt ihre familiären Verbindungen, die sie an ein übergeordnetes Ganzes, nämlich das Imperium banden, das allein imstande schien, multiple nationale Identitätsentwürfe zusammenzuhalten. Ganz besonders traf dieser Aspekt auf die Szeptyckis zu. Nach mehreren Jahren tiefgehender Auseinandersetzungen mit seinem Sohn erkannte Jan Kanty Szeptycki die Aussichtslosigkeit, Roman von seinem konfessionellen wie nationalen Konversionswunsch abhalten zu wollen. Ab diesem Zeitpunkt änderte der Vater seinen Kurs um 180 Grad, damit alles so bleiben konnte, wie es war: dass die Szeptyckis trotz ihrer großen Unterschiede weiterhin zusammenhielten und eine der tonangebenden Familien im habsburgischen Galizien blieben. Die Eltern, die ihre Familie kurz vor dem Untergang gesehen hatten, machten aus der Not eine Tugend, öffneten sich unter dem Dach der k. u. k. Monarchie den unterschiedlichen Lebensentscheidungen ihrer Söhne und machten sich Romans Versöhnungsprojekt zu eigen, das dieser gegenüber seiner Cousine einmal so beschrieb: »Es gibt so viele Familien, in welchen einige Mitglieder sich polnisch und andere ruthenisch fühlen. Wir sind auch eine polnisch-ukrainische Familie, und durch unser Beispiel zeigen wir, wie man in Eintracht und Liebe miteinander leben kann.«2 Für Bruder Stanisław, den polnischen General, bedeutete das Szeptycki-Projekt zweifellos den größten Spagat. Vom polnisch-nationalen Lager aufgrund seiner familiären Verbindung immer wieder als unzuverlässiger Chef der polnischen Armee attackiert, überlegte er mehrfach, sich zurückzuziehen. Im polnisch-sowjetischen Krieg von 1920 weigerte er sich, das Kommando über die polnisch-ukrainischen Truppen an der Südfront zu übernehmen, um Konflikten mit dem Bruder aus dem Weg zu gehen. Gleichwohl riss der Kontakt auch dieser Geschwister nie ab, und bei ihren regelmäßigen Familientreffen in Przybiłce wich man der heiklen Sprachfrage elegant aus, indem man Französisch sprach. Mit den Ausführungen zu Familiengeschichten nationaler Grenzgänger konnte das Themenfeld transnationaler, transimperialer und verflechtungsgeschichtlicher biographischer Zugänge zur ukrainischen Geschichte nur angerissen werden. Nichtsdestotrotz offenbarten sie bereits das Potential einer Bottom-Up-Perspektive für die Nations- und Nationalismusforschung. Neben den Fragen nach individuellen Gründen und Voraussetzungen für die Entscheidung, mobil zu werden und nationale Grenzen im wörtlichen wie im übertragenen Sinne zu 2 Zitiert nach den Erinnerungen von Schwester Maria Krysta, der Großnichte von Roman Sˇeptyc’kyjs Mutter Zofia Szeptycka. Zie˛ba, Documents, 95.

Nationale Konversionen in imperialen Grenzregionen

23

überschreiten, rücken auch Wechselwirkungen von Nation und Familie in den Blick. Dabei geht es sowohl um die Frage, inwieweit familiäre Konstellationen und Generationenkonflikte nationale Konversionen möglicherweise beförderten als auch darum, wie sich nationale Konflikte auf das Privatleben auswirkten. Auch der Einfluss von nationalen Konvertiten untereinander, die Verflechtungen von Grenzgängern, sind in den Blick zu nehmen. Mit ihnen wird das außergewöhnliche Potential von Verflechtungsgeschichte in den Regionen mit ukrainischsprachiger Bevölkerung deutlich. Und es eröffnen sich Perspektiven für ein größeres Projekt, nämlich einen Vergleich zwischen ukrainischen Familiengeschichten und nationalen wie religiösen Konversionen mit jenen anderer Interferenzräume Ostmitteleuropas vorzunehmen und diese in ihren Interaktionen zu untersuchen.

Quellen Pisma Zofii z Hr. Fredrów Szeptyckiej. Bd. 1, Kraków 1906. Jan Kazimierz Szeptycki, Gdy w rodzine waz˙yły sie˛ losy syna … (Rzecz o Romanie Marii Aleksandrze Szeptyckim – póz´niejszym metropolicie Andrzeju – w s´wietle dokumentów rodzinnych). In: Stanisław Ste˛pien´ (Hg.), Polska-Ukraina. 100 lat Sa˛siedztwa. Bd. 1: Studia z Dziejów Chrzes´cijan´stwa na pograniczu etnicznym. Przemys´l 1990, 181– 198. Andrzej A. Zie˛ba, Documents. Sister Maria Krysta Szembeck and her Memoirs. In: Harvard Ukrainian Studies 15/1–2 (1991), 88–169.

Literatur Miroslav Hroch, In the National Interest. Demands and Goals of European National Movements of the Nineteenth Century: A Comparative Perspective. Prag 1996. Paul Robert Magocsi (Hg.), Morality and Reality. The Life and Times of Andrei Sheptyts’kyi. Edmonton 1989. Piotr Mikietyn´ski, General Stanisław hrabia Szeptycki. Mie˛dzy Habsburgami a Rzeczapospolita. Kraków 1999. Anna Veronika Wendland, Grenzgänge und Grenzgänger in der Geschichte der Ukraine. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5 (2011), 421–434.

Johanna Gehmacher

Eine Begegnung in Krakau »In Krakau habe ich eine Menschlichkeit kennengelernt, wie noch nie.« (Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher, 23. 11. 1905)

Ende November 1905 berichtete die radikale Frauenrechtsaktivistin und deutsche Nationalistin Käthe Schirmacher (1865–1930) ihrer Mutter in begeisterten Worten von ihrem Besuch in der Stadt am Rande des Habsburgerreiches, die nahe sowohl der russischen als auch der deutschen Grenze lag.1 Die einstmalige polnische Hauptstadt Krakau war vor dem Ersten Weltkrieg ein kulturelles Zentrum und Knotenpunkt der polnischen Nationalbewegung. Der Abstecher in die galizische Stadt, den Schirmacher auf ihrer Vortragstour durch Oberschlesien unternahm, war in mehr als einer Hinsicht mit Bedeutung aufgeladen. Kontexte und Reflexionen dieser eineinhalbtägigen Reise sollen daher hier Ausgangspunkt für Überlegungen zu persönlichen Netzwerken, transnationalem Austausch und Nationalismus in europäischen Frauenbewegungen um 1900 sein. »Es lockt mich unbeschreiblich«, schrieb Schirmacher kurz vor ihrer Fahrt nach Krakau, doch sie werde »verständig« sein. Wäre es »ein Anlass zu Besorgnis«, beruhigte sie ihre Mutter, mit der sie in wöchentlichem Briefkontakt stand, »so ginge ich nicht hinüber«.2 Mehrfache Erwähnungen im Tagebuch der professionellen Reisenden Schirmacher deuten ebenso auf hochgespannte Erwartungen hin wie die rückschauende Bemerkung, dass in Krakau »alles ruhig« gewesen sei.3 Auch eine Bildpostkarte mit der historischen Königsburg auf dem Krakauer Wawel-Hügel an die Freundin und Lebenspartnerin Klara Schleker (1852–1932) streicht die Besonderheit des Aufenthaltsortes, von dem Schirmacher »ein ganzes Pack Karten«4 abschickte, heraus: »Da bin ich. Morgen geht’s zurück. Spreche heute (auf Einladung) deutsch über deutsche Frauenbewg. im hiesigen Frauenclub. Bereue nicht gefahren zu sein. Kann wichtig werden. Kt.«5 Woher rührte die Besorgnis, worin lag die Verlockung und die Bedeutsamkeit

1 2 3 4 5

Nl Sch 119/029, Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher, 23. 11. 1905. Nl Sch 119/025, Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher, 15. 11. 1905. Nl Sch 922/011, Tagebuch 1905, 15., 17., 18. 11. 1905; Nl Sch, 119/028, 28. 11. 1905. Nl Sch 119/029 Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher, 23. 11. 1905. Nl Sch 119/039, Käthe Schirmacher an Klara Schleker o.D. (November 1905).

26

Johanna Gehmacher

dieses Besuchs, bei dem Schirmacher Gast der polnischen Nationalistin, Sozialistin und Wahlrechtsaktivistin Zofia Daszyn´ska-Golin´ska (1866–1934) war? Käthe Schirmachers Herkunft aus der gemischtsprachigen Provinz Westpreußen mag eine Rolle für eine emotionale Bezugnahme gespielt haben, weitaus wichtiger war aber ihre wechselvolle politische Auseinandersetzung mit der polnischen Nationalbewegung. Hatte sie bereits als Jugendliche ihrem Interesse an den »Slawen« Ausdruck verliehen6 und sich als Studentin in Zürich besonders für die polnischen Studenten und Studentinnen interessiert, die sie in teils exotisierenden, teils idealisierenden Worten beschrieb7, so nahm ihre Beschäftigung mit Polen ab 1904 explizit antipolnische Züge an. Eine verstärkende Rolle spielte dabei offensichtlich Wilhelm Massows erstmals 1903 erschienenes polenfeindliches Werk Die Polen-Not. Im Herbst 1904 im Tagebuch vermerkt, fand die Lektüre wenige Wochen später in einem Artikel aus Schirmachers Feder in der französischen Zeitschrift L’Européen Niederschlag. Bereits zuvor hatte Schirmacher über die Sprachenfrage im Habsburgerreich in einer ähnlichen Tonlage geschrieben;8 mit einer Reihe weiterer Zeitschriftenveröffentlichungen zum Thema löste sie Anfang 1905 Protestschreiben an die Redaktion des Européen aus und galt, wie Corinna Oesch herausgearbeitet hat, in der Folge in Paris als prononcierte Polenfeindin. Schirmacher fuhr also im November 1905 in ein Zentrum jener Bewegung, mit der sie gerade in diesem Jahr in einem heftigen, öffentlich ausgetragenen Konflikt stand. Doch auch jenseits von solch persönlichen Bezügen war Krakau im Herbst 1905 ein Reiseziel, mit dem man in Deutschland widersprüchliche Assoziationen verbinden konnte. Wie Kerstin Jobst gezeigt hat, war die Stadt vom Echo der Russischen Revolution von 1905 geprägt, gab es doch in Galizien nicht nur zahlreiche Solidaritätskundgebungen der Arbeiterschaft. Auch fand eine Reihe von politischen Flüchtlingen aus dem Russischen Reich, insbesondere aus dem russischen Teilungsgebiet, Unterschlupf bei Gesinnungsgenoss:innen in Galizien, von denen sich möglicherweise manche Hoffnungen auf eine revolutionäre Entwicklung, insbesondere aber auf Bewegung in nationalen Fragen auch in der Habsburgermonarchie machten. Wie intensiv Schirmacher die Entwicklung im Russischen Reich beobachtete, zeigte sich etwa daran, dass sie im Frühjahr 1905 im Vorstand der internationalen Frauenwahlrechtsorganisation »International Woman Suffrage Alliance (IWSA)« anregte, mit Persönlichkeiten in Russland in 6 Die 17-Jährige wälzte in einem Brief an ihren Großvater Ausbildungspläne und wog die Perfektionierung ihrer Englischkenntnisse gegen das Erlernen einer slawischen Sprache ab. Nl Sch 686/010, Käthe Schirmacher an Julius Scharlok, 2. 9. 1882: »Aber wie gesagt, mich zieht es mächtig zu den Slawen«. 7 Nl Sch 008/012, Käthe Schirmacher an Richard und Clara Schirmacher, 25. 12. 1893; Schirmacher, Züricher Studentinnen, 25ff. 8 Schirmacher, La question des langues, 6–8; Schirmacher, La question polonais, 1–4.

Eine Begegnung in Krakau

27

Kontakt zu treten und für das Frauenstimmrecht zu werben.9 Nicht zuletzt war Krakau 1905 auch ein besonders geeigneter Ort, um Einblick in eine wachsende und zunehmend über Staatsgrenzen hinweg agierende polnische Frauenbewegung zu gewinnen. Eine bedeutende Rolle für das Selbstverständnis dieser im Zarenreich, in der Habsburgermonarchie und in Preußen aktiven Bewegung spielten nationale und internationale Kongresse. Hatten in den 1890er Jahren mehrere geheime Zusammenkünfte von Frauen aus den Teilungsgebieten stattgefunden, so organisierten Krakauer Frauenrechtlerinnen Ende Oktober 1905 den ersten offiziellen Kongress im Krakauer Hotel Monopol. Die Veranstaltung dokumentierte nicht nur das wachsende feministische Bewusstsein polnischer Frauen, sondern stellte auch eine wichtige Demonstration polnischnationaler Einheit dar. Wie in der Arbeiterbewegung zeigte sich allerdings auch in der Frauenbewegung das Konfliktpotential nationaler Identifikationen in dem von so vielen unterschiedlichen religiösen und ethnischen Gruppen geteilten Raum. Nicht nur Käthe Schirmacher machte sich Gedanken, was sie in Krakau erwarten würde, auch ihre Gastgeberin Zofia Daszyn´ska-Golin´ska beschäftigte sich vorab mit Ungewissheiten. Die beiden Frauen hatten einander beim Frauenkongress 1896 in Berlin kennengelernt, wo die Demographin Daszyn´ska-Golin´ska über »weibliche Überbevölkerung« gesprochen hatte.10 Nur neun Jahre später fürchtete Daszyn´ska-Golin´ska, dass sie einander am Bahnhof nicht erkennen könnten. Dass sich dahinter auch Besorgnis um eine politische Veränderung des Gastes verbarg, kam in der Bemerkung zum Ausdruck, dass Schirmacher wohl »keine Polenfeindin« sein könne, wenn sie doch bereit sei, nach Krakau zu kommen.11 Es ist schwer vorstellbar, dass die in der Sozialdemokratie und in der Frauenbewegung aktive Gastgeberin, die wie Schirmacher in Zürich studiert und lange in Deutschland gelebt hatte, nicht um Schirmachers Haltung in der Polenfrage wusste. Gleichwohl wurde Schirmacher in Krakau vor allem als Frauenrechtlerin wahrgenommen – darauf verweisen zumindest die Bezugnahmen auf ihre Aktivitäten und Publikationen in der in Krakau seit 1902 von Maria Turzyma (1860–1922) herausgegebenen feministischen Zeitschrift Nowe Słowo (Das neue Wort), in der 1903 eine umfangreiche Artikelserie von Schirmacher zu Frauenarbeit und Arbeiterinnenschutz erschien.12 Im Herbst 1905 suchten Daszyn´ska-Golin´ska und Schirmacher die Bedingungen ihrer Begegnung abzu9 10 11 12

Nl Sch 992/031, Käthe Schirmacher an Lida-Gustava Heymann, 10. 5. 1905 (Briefentwurf). Dely, Vom Internationalen Kongress, 50–53. Nl Sch 478/027, Zofia Daszyn´ska-Golinska an Käthe Schirmacher, 2. 11. 1905. Schirmacher, Praca Kobiet I Ochrona Robocza, 15–18, 337ff, 361ff, 387, 410. Erwähnung findet auch Schirmachers kritische Position zum allgemeinen Wahlrecht (Nowe Słowo 5 (1905), 99–104); in einem Überblick über neue Bücher (Nowe Słowo 4 (1905), 81–83) wird ihr Buch »Die moderne Frauenbewegung« lobend besprochen.

28

Johanna Gehmacher

stecken – Schirmacher tat dies sehr offensiv: Sie machte es zu einer Bedingung ihres öffentlichen Auftretens, dass sie auf Deutsch sprechen dürfe, wiewohl ein Vortrag auf Französisch, das sie als Romanistin, Übersetzerin und französische Publizistin wie eine zweite Muttersprache beherrschte, willkommener gewesen wäre.13 Am 17. November 1905 fuhr Schirmacher aus dem nahegelegenen Kattowitz über die deutsch-österreichische Grenze nach Krakau, von wo sie am nächsten Tag wieder nach Kattowitz zurückkehrte. Sie wurde, wie sie mehrfach notierte, außerordentlich freundlich aufgenommen. Sie wurde im Hotel Royal untergebracht und war bei Daszyn´ska-Golin´ska und ihrem Mann, dem Botaniker Stanisław Golin´ski, zum Essen geladen. Am frühen Abend hielt sie im Frauenklub einen Vortrag zum Thema »Deutsche Frauenbewegung«. Am folgenden Tag machte sie eine Besichtigungstour durch Burg, Kathedrale und Museum.14 Die dabei gemachten Erfahrungen resümierte sie mit der Bemerkung, dass die »Humanität« eine »Brücke über die Nationalitäten« geschlagen habe.15 In einem ausführlicheren Schreiben einige Tage später schilderte Schirmacher der Mutter nicht nur den Idealismus ihrer Gastgeber:innen, den sie sich zum Vorbild machen wollte, sie wechselte auch unversehens in eine an die polnischen Nationalist:innen gerichtete direkte Rede, die erahnen lässt, wie sehr die Begegnung sie umtrieb: In Krakau habe ich eine Menschlichkeit kennengelernt, wie noch nie. Ich kenne Großstadtelend, aber eine arme Nation war mir noch unbekannt. Sie arbeiten aufopfernd an ihrer Wiedergeburt, aber wie arm ist auch »die Intelligenz«. Wie hager, ja wie verhungert sahen Frau Dr. Daszynska-Golinska u. ihr Mann, Dr. Golinski, aus. Und diese Solidarität u. Anspruchslosigkeit! Nie sah ich so arme, gedrückte Männer in den Kirchen. […] Es war schrecklich, weinen hätte man mögen. – Der Student, der mich führte, hatte kein Geld, den Eintritt zu zahlen, u. die Volksschullehrerin, die mit uns ging, hat sicher kein Mittag gegessen, weil sie ihr Billet selbst bezahlen wollte. Nein weisst du, wenn man diese Menschen sieht, dann kommt man sich wie dick gefressene Ungeheuer vor. – Die arbeiten also an der Wiedergeburt Polens, mit Anspannung aller Kräfte. Die kann ich nicht hassen, die kann ich nur zum Vorbild aufstellen. Denn mit denen kann ich mich auch verständigen. Ueber ihre politischen Ambitionen habe ich neue Aufschlüsse erhalten. Aus meinen Anschauungen habe ich kein Hehl gemacht u. gesagt: An dem Tage, an dem ihr uns antastet, giebt es für mich kein Zögern. Ihr seid aber achtungswert, u. euer Patriotismus der Aufopferung kann dem unseren nur als Vorbild dienen.16 13 Nl Sch 119/025, Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher, 15. 11. 1905; Nl Sch 478/027, Zofia Daszyn´ska-Golinska an Käthe Schirmacher, 2. 11. 1905. 14 Nl Sch 690/001, Reisedokumentation; Nl Sch 922/011, Tagebuch Käthe Schirmacher 17. u. 18. 11. 1905. 15 Nl Sch 119/028, Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher, 18. 11. 1905. 16 Nl Sch 119/029, Käthe Schirmacher an Clara Schirmacher, 23. 11. 1905.

Eine Begegnung in Krakau

29

Auch im Bericht an Klara Schleker wurde die große Spannung zwischen Bewunderung und Aggression deutlich. Schirmacher beschrieb den tiefen Eindruck, den ihr die Begegnungen in Krakau gemacht hatten, wo sie »ganz in polnischen Kreisen« gewesen sei. Ein weiteres Mal verfiel sie dabei auf die Metapher der »Brücke«, die die »Humanität« geschlagen habe, »trotz beiderseitigem Patriotismus«. Sie wollte dem deutschen Ostmarkenverein, mit dem sie zu diesem Zeitpunkt bereits Kontakte geknüpft hatte, über ihre Eindrücke berichten, zu denen auch Informationen über polnische Gebietsforderungen zählten: »Sie wollen alles ethnographisch Polnische auch politisch vereinen ([…], mit Posen u. Oberschlesien, aber nicht bis Oder noch gar Elbe.) Hergeben können wir’s ja nicht. Aber man kann mit solchen Menschen doch reden.«17 Diese so emphatisch geäußerte Überzeugung sollte Käthe Schirmacher freilich weder davon abhalten, in den folgenden Jahren zu einer lautstarken antipolnischen Propagandistin des deutschen Ostmarkenvereins zu werden, noch davon, im Ersten Weltkrieg als öffentliche Kriegstreiberin aufzutreten. Zofia Daszyn´skaGolin´ska hingegen nahm 1915 am Frauenfriedenskongress in Den Haag teil, wo sie sich die Vertretung der Interessen eines zu gründenden unabhängigen Polens zum Anliegen machte. Eine Vielzahl von weiteren Fragen ließe sich an dieses Zusammentreffen zweier so unterschiedlicher politischer Aktivistinnen in Krakau an einem Spätherbsttag im Jahr 1905 knüpfen. Diese könnten etwa den Terminus der »armen Nation« im Kontext eines spezifischen Galizien-Mythos betreffen oder aber die vielfachen Herausforderungen der Lebenswege früher Akademikerinnen, die die beiden Frauen verbanden. Bezüge zwischen Wahlrechtsaktivismus, Frauenbewegungen und Nationalbewegungen ließen sich ebenso diskutieren wie die in unterschiedlichen nationalen Kontexten so unterschiedlichen Beziehungen zwischen Sozialdemokratie und Feminismus. Nur ein Aspekt sei hier herausgegriffen: der Nationalismus als grenzüberschreitende politische Ideologie. Die positive Identifikation mit dem Begriff des »Patriotismus« erleichterte wohl mindestens ebenso sehr wie die Verbindung durch die Frauenbewegung eine wertschätzende Begegnung zwischen diesen beiden durch mehr als eine politische Differenz getrennten Frauen. Sie ermöglichte nicht nur gegenseitigen Respekt, sondern auch Kooperation und Lernen am Beispiel der anderen. Käthe Schirmachers Besuch in Krakau wirft ein Blitzlicht auf eine Kultur des transnationalen Austausches zwischen Nationalist:innen und nationalen Bewegungen um 1900, die durch die nachfolgende Katastrophe des Ersten Weltkrieges nur zu leicht aus dem Blick gerät. Die Handlungsspielräume, die Grenzen und die Abgründe solcher Kooperationen sind heute freilich aktueller denn je. 17 Nl Sch 119/046 Käthe Schirmacher an Klara Schleker, 24. 11. 1905.

30

Johanna Gehmacher

Quellen Universitätsbibliothek Rostock, Nachlass Käthe Schirmacher (Nl Sch) E. Dely, Vom Internationalen Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen zu Berlin. In: Die Frau. Monatsschrift für das Gesamte Frauenleben unserer Zeit 4/1 (1896), 50–53. Wilhelm von Massow, Die Polen-Not im Deutschen Osten. Studien zur Polenfrage. Berlin 1903. Käthe Schirmacher, Züricher Studentinnen. Leipzig/Zürich 1896. Käthe Schirmacher, Praca Kobiet i Ochrona Robocza. In: Nowe Słowo 2/15–18 (1903), 337ff, 361ff, 387, 410. Käthe Schirmacher, La question polonaise, in: L’Européen 4/160 (1904), 1–4. Käthe Schirmacher, La question des langues en Autriche, in: L’Européen 3/93 (1903), 6–8.

Literatur Monika Bednarczuk, Akademicka »mie˛dzynarodówka« kobieca? Solidarnos´c´, rywalizacja i samotnos´c´ w Szwajcarii (1870–1900). In: Wielogłos (2020), 5–34. Johanna Gehmacher/Elisa Heinrich/Corinna Oesch, Käthe Schirmacher: Agitation und autobiografische Praxis zwischen radikaler Frauenbewegung und völkischer Politik. Wien/Köln/Weimar 2018. Kerstin S. Jobst, Zwischen Nationalismus und Internationalismus: Die polnische und ukrainische Sozialdemokratie in Galizien von 1890 bis 1914. Ein Beitrag zur Nationalitätenfrage im Habsburgerreich. Hamburg 1996. Dietlind Hüchtker, Geschichte als Performance. Politische Bewegungen in Galizien um 1900. Frankfurt/New York 2014. Dietlind Hüchtker, Rückständigkeit als Strategie oder Galizien als Zentrum europäischer Frauenpolitik. Beitrag zum Themenschwerpunkt »Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte«. In: Themenportal Europäische Geschichte (2009). Grzegorz Krzywiec, Daszyn´ska-Golinska, Zofia (1866–1934). In: Francisca De Haan/Anna Loutfi/Krassimira Daskalova (Hg.), Biographical Dictionary of Women’s Movements and Feminisms: Central, Eastern, and South Eastern Europe, 19th and 20th Centuries. Budapest/NewYork 2006, 102–105. Angelique Leszczawski-Schwerk, Zwischen Frieden und Krieg? Die internationale Friedensbewegung in den Diskursen und Visionen der polnischen Frauenrechtlerin Zofia (Emilia) Daszyn´ska-Golin´ska. In: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 66 (2014), 6–14. Angelique Leszczawski-Schwerk, Polnische Frauenrechtlerinnen und inter/nationale Frauenkongresse. Über Agitationsstile, Patriotismus und die Inszenierung von Sichtbarkeit. In: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 76 (2020), 53–67. Angelique Leszczawski-Schwerk, »Die umkämpften Tore zur Gleichberechtigung« – Frauenbewegungen in Galizien (1867–1918). Wien 2015. Natali Stegmann, Die Töchter der geschlagenen Helden. »Frauenfrage«, Feminismus und Frauenbewegung in Polen 1863–1919. Wiesbaden 2000.

Börries Kuzmany

Marija Frumkina (Esther) und die nationale Frage in Russland1

Das Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts war neben sozialen und politischen Herausforderungen auch mit wachsenden Nationalbewegungen konfrontiert. Diese waren jedoch keinesfalls in sich homogen, sondern fächerten sich häufig entlang politischer Überzeugungen auf. Besonders ausgeprägt waren diese ideologischen Diskrepanzen innerhalb der jüdischen Bevölkerung des Zarenreichs. Unterschiedliche Auffassungen bestanden nicht nur im weltanschaulichen Spektrum zwischen links, liberal und rechts, sondern auch hinsichtlich des Wesens und der Zukunft des Judentums. Es gab Anhänger eines auf traditioneller religiöser Identität beruhenden Judentums, genauso wie Befürworter einer weitgehenden Akkulturation bzw. Assimilation. Die Vertreter eines national ausgerichteten Judentums unterschieden sich wiederum in jene, die ein jüdisches Territorium zu gründen hofften (Zionisten), und jene, die nicht-territoriale Autonomie in der Diaspora anstrebten. Die größte und einflussreichste Partei, die einen solchen nicht-territorialen Diasporanationalismus vertrat, war der 1897 gegründete Allgemeine jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland (kurz Bund). Dieser Essay untersucht die Position eines der führenden Bundmitglieder zur nationalen Frage in Russland: Marija Frumkina, besser bekannt unter ihrem Parteinamen Esther (E˙ster). Ihre Überlegungen entstammen nicht zuletzt einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Nationalitätenstreit in der Habsburgermonarchie, insbesondere der Lage in Böhmen und Galizien. Besondere Aufmerksamkeit verdient Esthers gründliche Rezeption des auf territorialen und nicht-territorialen Selbstverwaltungselementen basierenden austromarxistischen Modells der nationalen Autonomie, das sie in angepasster Form auch auf Russland übertragen wollte. Spannend ist dabei, dass Esther auch nach der Machtübernahme der Bolschewiki, die die austromarxistischen und bundistischen Konzepte entschieden 1 Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Projekts »Non-territorial Autonomy. History of a Travelling Idea«, Projekt Nr. 758015, vom Europäischen Forschungsrat (ERC) gefördert.

32

Börries Kuzmany

ablehnten, politisch aktiv blieb. Zwar sagte sich Esther von diesen nicht-territorialen Autonomievorstellungen explizit los, in ihrem realpolitischen Engagement in der Sowjetunion der Zwischenkriegszeit lassen sich jedoch einige erstaunliche Parallelen zu ihren früheren Überzeugungen feststellen.

Eine biografische Skizze Esther wurde 1880 als Khaye Malke Lifshits (bürgerlicher Name Marija Jakovlevna Lifsˇic) in eine wohlhabende, der jüdischen Aufklärung zugewandten Händlerfamilie in Minsk geboren. Sie war und ist in erster Linie als Bildungsaktivistin und Propagandistin eines auf Säkularismus und jiddischer Sprache gegründeten Judentums bekannt und war die vielleicht einflussreichste jüdische Politikerin des östlichen Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sowohl bei Zeitgenossen als auch nach ihrem Tod galt sie als ambivalente Persönlichkeit im linken Parteienspektrum Russlands bzw. der Sowjetunion. Gewürdigt wurde sie für ihren Einsatz für die jiddische Sprache, insbesondere ihre Forderung, Jiddisch in der jüdischen Bildungsarbeit für die breite Masse zu verwenden. Heftig abgelehnt wurde sie für ihr Arrangement mit dem bolschewistischen Regime und ihren antireligiösen Aktivismus. Marija Lifsˇic erhielt sowohl eine gründliche jüdische als auch weltliche Bildung in Minsk. Zu Beginn ihres Studiums an der Höheren Lehranstalt für Frauen in St. Petersburg im Jahr 1897 kam sie mit marxistischen Kreisen in Kontakt und wurde vermutlich noch im selben Jahr Mitglied des Bunds. In diesem Umfeld lernte sie auch ihren ersten Mann Boris Frumkin kennen, den sie 1902 heiratete. Nunmehr unter dem Namen Marija Frumkina, engagierte sie sich im Bildungsbereich und in der sozialistischen jiddischen Publizistik in Wilna (Vilnius, Wilno, Vilne) und St. Petersburg, insbesondere nach der gescheiterten Revolution von 1905. In ihrer Arbeit verwendete sie unterschiedliche Pseudonyme, am häufigsten jedoch Esther, unter welchem sie weite Bekanntheit erlangte. 1906 erstmals kurze Zeit in Haft wurde Esther nach ihrer zweiten Verhaftung 1908 gewährt, statt ins Gefängnis ins Ausland zu gehen. Als Ort des Exils wählte sie das österreichische Galizien, wo sie sich in der dortigen autonomen jüdischen Arbeiterbewegung engagierte. Dort hatte sich nämlich 1905 eine selbstständige Jüdische Sozialdemokratische Partei gegründet, deren Ziel es war, von der österreichischen sozialdemokratischen Gesamtpartei als eine ihrer föderalen Parteiorganisationen anerkannt zu werden. Die Gleichstellung mit der Ukrainischen Sozialdemokratischen Partei und der Polnischen Sozialdemokratischen Partei in Galizien und Schlesien gelang der Jüdischen Sozialdemokratischen Partei jedoch nicht, und zwar sowohl auf Grund der ablehnenden Haltung der Gesamtpartei als auch des Widerstands der jüdischen Sektionen innerhalb der

Marija Frumkina (Esther) und die nationale Frage in Russland

33

polnischen Sozialdemokratie, die den jiddischistischen Positionen des Bunds skeptisch gegenüber standen. Nach ihrer Rückkehr nach Russland im Herbst 1909 wurde Esther eines der führenden Parteimitglieder des Bunds und hatte ab 1910 einen Sitz in dessen Zentralkomitee. Sie verfasste in den nachfolgenden Jahren wichtige politische Texte zur jüdischen Volksbildung und nationalen Gleichberechtigung. Nach der Februarrevolution 1917 saß Esther als gewählte Vertreterin des Bunds sowohl im Gemeinderat der Stadt Minsk, als auch im Rat der Minsker jüdischen Gemeinde. Die Machtergreifung der Bolschewiki im November 1917 lehnte sie zunächst entschieden ab, insbesondere deren zunehmend repressives Verhalten gegenüber der freien Presse. Allerdings fing sie bald an, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren. Sie übersiedelte 1920 nach Moskau und begann die Bolschewisierung des Bunds aktiv voranzutreiben. Nach der Spaltung der Partei im April 1920 führte Esther die kommunistische Fraktion in die allgemeine Russländische Kommunistische Partei (bolschewistische Fraktion), RKP(b), über. In den 1920er Jahren wurde Esther zu einer der bestimmenden Persönlichkeiten innerhalb der 1918 gegründeten und 1930 aufgelösten Jüdischen Sektion der RKP(b) sowie in den jüdischen Sektionen der Kommunistischen Jugendliga. Diese Einrichtungen hatten das Ziel, ein neues, säkularisiertes Judentum zu schaffen, und entfalteten eine umfangreiche Aktivität und Propaganda. Esther gehörte den Herausgeberkollegien mehrerer kommunistischer Zeitschriften an und leitete die jüdische Abteilung der 1921 gegründeten Kommunistischen Universität der nationalen Minderheiten des Westens in Moskau, die zur Ausbildung nicht-russischer Parteikader diente. 1925 wurde sie sogar zur Rektorin dieser Kaderschmiede befördert und leitete diese bis zu ihrer Schließung im Jahr 1936. Während der stalinistischen Säuberungen wurde sie im Jänner 1938 verhaftet und im August 1940 zu acht Jahren Zwangsarbeit in Kasachstan verurteilt. Dort starb sie im Juni 1943 an den allgemeinen Entbehrungen und der unzureichenden Behandlung ihrer langjährigen Diabetes-Erkrankung. Esther steht somit zum einen für eine Generation von sowjetischen Akteuren, deren nicht-bolschewistische Vergangenheit ihnen während der Säuberungen der 1930er Jahre auf den Kopf fiel. (Obwohl auch eine lupenreine bolschewistische Biografie keineswegs vor Verhaftung und Schauprozess schützte.) Zum anderen steht sie ebenso für eine nicht so geringe Zahl von führenden Politikerinnen in den revolutionären Bewegungen Russlands – man denke an die Bolschewikinnen Aleksandra Kollontaj und Nadezˇda Krupskaja oder die Sozialrevolutionärinnen Ekaterina Bresˇko-Bresˇkovskaja und Marija Spiridonova. In den jüdischen Parteien vor und nach der Revolution war Esther hingegen allein auf weiter Flur. So war sie beispielsweise die einzige Frau, die es bis in die höchsten Gremien des Bunds schaffte (vgl. Abb. 1).

34

Börries Kuzmany

Abb. 1: Erste Konferenz der Gesellschaft zur Ansiedlung werktätiger Juden auf dem Land (OZET, Gezerd), 1926. Esther sitzt in der ersten Reihe, vierte von rechts. Quelle: YIVO: https://yivoency clopedia.org/article.aspx/Lifshits_Khaye_Malke. (c) Archives of the YIVO Institute for Jewish Research, New York.

Ob ihre Liebe zur jiddischen Sprache oder ihr sozialer Gerechtigkeitssinn am Beginn ihres Einsatzes für Frauenbildung stand, ist schwierig festzustellen. Offensichtlich ist jedoch, dass bei ihrem späteren Engagement für Frauen, etwa in ihrer Tätigkeit in der Frauenabteilung der RKP(b), stets das Jiddische bzw. das Jüdisch-Sein im Vordergrund stand. So beklagte sie 1921, dass die Frauenabteilung nur auf Russisch agitieren würden und die Verwendung von Jiddisch in der Frauenarbeit häufig als Nationalismus abgekanzelt werde. Dabei war die Erhaltung einer jüdischen Identität für Esther genauso selbstverständlich, wie die Neudefinition eben dieser. Nicht die traditionelle Rolle der Frau als Bewahrerin der häuslichen religiösen Sitten und Bräuche war ihr ein Anliegen, sondern die Teilhabe an allen Bereichen der modernen Arbeitswelt. Das Hauptaugenmerk von Esthers politischer Tätigkeit lag jedoch auf den Kindern – egal ob Buben oder Mädchen. Die neue Generation sollte im Geiste des proletarischen Jiddischismus aufwachsen, dessen wichtigstes Instrument die Schulbildung, insbesondere die Volksschulbildung war. Folglich stand in Esthers publizistischem Werk die Organisation der neuen Schule häufig im Vordergrund. Auch wenn sie die Etablierung einer nicht-territorialen nationalen Selbstverwaltung als den optimalen Rahmen für ein autonomes jüdisches Bildungswesen ansah, war Esther dennoch überzeugt, dass bereits im Hier und Jetzt auf Basis von Privatschulen wichtige Schritte für ein jiddisch-proletarisches Schulsystem gesetzt werden könnten und sollten.

Marija Frumkina (Esther) und die nationale Frage in Russland

35

Esthers Gedanken zur nationalen Autonomie für nationale Minderheiten Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist Esthers zweiteiliger, insgesamt rund 50 Seiten umfassender Artikel »Die Gleichberechtigung der Sprachen« in der Wilnaer Zeitschrift Tsayt-fragen (Zeitfragen) vom Spätsommer 1910. In diesem scharfsinnigen Beitrag diskutiert sie, wie eine nicht-territoriale, nationale Selbstverwaltung beschaffen sein müsste und welche Veränderungen es in der allgemeinen Verwaltung Russlands bräuchte, um nationalen und sprachlichen Zwängen entgegenzuwirken. Um ihre Überlegungen für Russland zu schärfen, stellt sie wiederholt Vergleiche mit einem anderen multinationalen Imperium an, mit der Habsburgermonarchie. Dabei zeigen sich zum einen ihre tiefe Kenntnis der realen Verhältnisse in unterschiedlichen österreichischen Kronländern und zum anderen ihre genaue Lektüre der Arbeiten der beiden austromarxistischen Fachmänner für die nationale Frage, Karl Renner und Otto Bauer. Diese beiden Sozialdemokraten galten ihren Zeitgenossen als Begründer der Idee der nichtterritorialen Autonomie, bei der nicht ein bestimmtes Teilgebiet des Staats (Gebietskörperschaft) Träger der Selbstverwaltung sein sollte, sondern die Gesamtheit der Angehörigen einer Volksgruppe (Personalkörperschaft). Obwohl der Bund keineswegs der einzige und, verglichen etwa mit der Jüdischen Sozialistischen Arbeiterpartei, nicht einmal der entschiedenste Befürworter dieses Modells war, wurde er zum wichtigsten Vertreter des nicht-territorialen Autonomiegedankens in Russland. Das lag zum einen an der Größe des Bunds und zum anderen an dessen intensiven Auseinandersetzung mit den austromarxistischen Ideen. Als wegweisender bundistischer Theoretiker der nationalen Frage galt und gilt dabei Vladimir Medem, der die Nützlichkeit des austromarxistischen Konzepts insbesondere für verstreut lebende Nationalitäten wie Juden fruchtbar machte. Esthers Text zur nationalen Gleichberechtigung zeichnet sich weniger durch theoretische Ausführungen, als durch sehr konkrete Überlegungen zur Umsetzung nationaler Selbstverwaltung aus. Dabei zeigt sich eine große Nähe zu Renner insbesondere hinsichtlich der Frage der Amtssprache, des nationalen Wahlsystems, des nationalen Proporzes in der allgemeinen Verwaltung sowie der Kompetenzverteilung zwischen allgemein-politischen und national-autonomen Behörden. Esthers gründliche Überlegungen zur nicht-territorialen Autonomie stammten aus einer Zeit, als diese Idee immer weiter um sich griff. Nicht zuletzt übernahmen auf Grund des Einflusses des Bunds praktisch alle Linksparteien Russlands spätestens nach der Februarrevolution 1917 dieses Modell für die nicht-kompakt siedelnden nationalen Minderheiten in ihr Parteiprogramm. Die wichtigste Ausnahme waren die Bolschewiki, da sich Lenin und Stalin 1913 ex-

36

Börries Kuzmany

plizit gegen dieses Konzept der Austromarxisten und Bundisten ausgesprochen hatten und ausschließlich die Losung der territorialen Selbstverwaltung bis hin zur Sezession vorgaben. Das brachte jene Bundisten, darunter auch Esther, in die Zwickmühle, die sich mit den Bolschewiki arrangiert hatten und in den von letzteren geschaffenen Institutionen mitarbeiteten. Esthers explizite und öffentliche Verurteilung der nicht-territorialen Autonomievorstellungen Otto Bauers war das eine, aber wie sah es mit den inneren Überzeugungen bzw. der Realität aus? Entgegen den offiziellen Beteuerungen experimentierte die junge Sowjetunion de facto auch mit nicht-territorialen Autonomieelementen, was gerade hinsichtlich der Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung gut nachgezeichnet werden kann. Das jüdische Unterkommissariat im Nationalitätenkommissariat oder die jüdische Abteilung des Kommissariats für Volksaufklärung waren Exekutivorgane von und für Juden, die die kulturellen Bedürfnisse, insbesondere die Bildungsagenden, zentral und für alle im Gesamtstaat lebenden Juden verwalteten. Dasselbe galt auch für die Jüdische Sektion der RKP(b), in der Esther eine führende Rolle innehatte. Zwar war diese kein Staats- sondern ein Parteiorgan, aber durch die völlige Vereinnahmung des sowjetischen Staats durch die kommunistische Partei ist eine scharfe Trennung der jeweiligen Kompetenzen generell schwierig. Dieselbe Vereinnahmung und Überlappung galt im Übrigen auch für die autonomen nationalen Gebietskörperschaften (autonome Republiken, autonome Gebiete, autonome Kreise), die für gewöhnlich als die zentralen Elemente der sowjetischen Nationalitätenpolitik angesehen werden. Ob Esther bewusst war, dass sie in den 1920er Jahren de facto bundistische nicht-territoriale Autonomiestrategien unter dem bolschewistischen Deckmäntelchen der reinen Sprachpolitik betrieb, ist ungewiss. Definitiv sah sie die Sowjetunion als einen Möglichkeitsraum, ihre Version eines proletarischen Jiddischismus umzusetzen. Ob sie den antireligiösen und antitraditionellen Radikalismus der Bolschewiki hinnahm, um ihre jiddischistischen Ziele zu erreichen, oder ob sich ihre Positionen tatsächlich radikalisierten, bedarf weiterer Forschung.

Schlussfolgerungen Bei aller Faszination für Esthers Bildungsengagement darf man nicht die Ambivalenz ihres persönlichen Arrangements mit der bolschewistischen Diktatur übersehen. Auch die Frage der Effektivität ihres jiddischistischen Wirkens ist nur mit Vorsicht zu beantworten – wie übrigens bei allen »nationalen Erweckern« quer durch das ideologische Spektrum. Schon 1914 beschwerte sich Esther, dass weder jüdische Frauen noch jüdische Arbeiter ihre Arbeit zu schätzen wüssten.

Marija Frumkina (Esther) und die nationale Frage in Russland

37

Freilich lässt sich nach der Februarrevolution ein Aufblühen einer weltlichen, Jiddisch geprägten Kulturszene und später in der Sowjetunion der 1920er Jahre eine vorübergehende Schaffung einer sowjetjüdischen Kultur feststellen, von einer jüdischen Massenkultur sollte man jedoch nicht sprechen. Es gab nicht nur die zionistischen nationalen Gegenentwürfe, sondern auch die traditionelle, nicht-nationale religiöse Kultur des Judentums blieb weiterhin prägend für einen großen Teil der jüdischen Bevölkerung der Sowjetunion; und nicht zuletzt beschleunigte sich die bereits vor der Revolution einsetzende sprachliche und kulturelle Assimilation mit der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung. Was aber ungeachtet dessen in Esthers Arbeit festgestellt werden kann, ist die Verflechtung der beiden multinationalen Imperien und die genaue Rezeption austromarxistischer Lösungsansätze. Bei ihren Überlegungen zur Anwendbarkeit des Konzepts der nationalen Autonomie in Russland dürfte Esther der Praktiker Karl Renner nähergestanden sein als der Theoretiker Otto Bauer. Mit beiden teilte sie aber jedenfalls die Überzeugung, dass Nationen fortbestehen und selbst im Sozialismus nicht verschwinden würden. Bei ihrer intensiven Suche nach kreativen Lösungen für den Umgang mit ethno-konfessioneller Vielfalt im östlichen Europa lag Esther somit näher bei den Austromarxisten als bei der von Karl Kautsky geprägten marxistischen Lehrmeinung ihrer Zeit.

Quellen E-R [Frumkina, Marija, Esther], Tsu der frage vegen der yudisher folks-shul. Vilne 1910. E-R [Frumkina, Marija, Esther], Vegen natsyonaler ertsihung. In: Tsayt-fragen 1 (1909), 15–30. Ester, XV tsuzamenfor fun Al. K. P. (b.): Vegn der opozitsye. Moskve 1928. Esther, Glaykhberekhtigung fun shprakhen. In: Tsayt-fragen 3–4 (1910), 25–47; 5 (1910), 1–30. Marija Frumkina [E˙ster], Doloj ravvinov! (Ocˇerk anti-religioznoj bor′by sredi evrejskich mass). Moskva 1923. Marija Frumkina [E˙ster], O rabote sredi evrejskich rabotnic. In: Kommunistka 10–11 (1921), 34–35.

Literatur Sara Barbieri, National Minorities in Post-revolutionary and Soviet Russia (1917–1932). Theoretical Framework and Institutional Arrangements. Unveröff. Dissertation, University of the Republic of San Marino 2011.

38

Börries Kuzmany

Delphine Bechtel, La Renaissance culturelle juive en Europe centrale et orientale 1897– 1930. Langue, littérature et construction nationale. Paris 2002. Suzanne Sarah Faigan, An Annotated Bibliography of Maria Yakovlevna Frumkina (Esther). Unveröff. Dissertation, University of Canberra 2018. David E. Fishman, The Rise of Modern Yiddish Culture. Pittsburgh 2005. Roni Gechtman, Conceptualizing National-Cultural Autonomy. From the Austro-Marxists to the Jewish Labor Bund. In: Simon Dubnow Jahrbuch 4 (2005), 17–49. Zvi Gitelman, Jewish Nationality and Soviet Politics. The Jewish Sections of the CPSU, 1917–1930. Princeton 1972. Heiko Haumann (Hg.), Von Luftmenschen und rebellischen Töchtern. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 1999. Kerstin S. Jobst, Zwischen Nationalismus und Internationalismus. Die polnische und ukrainische Sozialdemokratie in Galizien von 1890 bis 1914. Ein Beitrag zur Nationalitätenfrage im Habsburgerreich. Hamburg 1996. Börries Kuzmany, Habsburg Austria: Experiments in Non-territorial Autonomy. In: Ethnopolitics 15/1 (2016), 43–65. Börries Kuzmany, Die Neuerfindung des Judentums. Der Aufbau einer sowjet-jüdischen Nation im Spiegel jiddischer Parteiorgane (1917–1922). In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 53/2 (2005), 247–279. Susanne Marten-Finnis, Von der Sprache der Frauen zur Sprache der Revolution? Esther Frumkin, der »Bund« und die »Entführung« des Jiddischen im nachrevolutionären Rußland. In: Eleonore Lappin/Michael Nagel (Hg.), Frauen und Frauenbilder in der europäisch-jüdischen Presse von der Aufklärung bis 1945. Bremen 2007, 81–90. Naomi Shepherd, A Price Below Rubies: Jewish Women as Rebels and Radicals. Cambridge, MA 1993. David Shneer, Yiddish and the Creation of Soviet-Jewish Culture, 1918–1930. Cambridge 2004. Jeremy Smith, The Bolsheviks and the National Question, 1917–1923. London 1999.

Christoph Augustynowicz

Von der »austro-fatalistischen Geschichtsmethode«. Kontrafaktisches in Roman Rosdolskys historiographischer Darstellung des österreichischen Jänner-Streiks von 1918

In diesem Essay diskutiere ich die in der einschlägigen Forschung wenig beachtete Behandlung des Jänner-Streiks von 1918 durch den Marxisten, politischen Aktivisten und Sozialhistoriker galizischer Herkunft Roman Rosdolsky. Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Berücksichtigung einer durchaus kontroversiell diskutierten, in diesem Sinne originellen historiographischen Tendenz der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nämlich der konterfaktischen Herangehensweise, der Frage nach dem redensartlichen Was Wäre Wenn. Roman Rosdolsky wurde am 19. Juli 1898 in Lemberg geboren. 1912 trat er der ostgalizischen sozialistischen Drahomanov-Organisation bei; drei Jahre später wurde er in die k. k. Armee einberufen. 1916 unterstützte er die aus der DrahomanovOrganisation hervorgegangene Internationale Revolutionäre Sozialdemokratische Jugend Galiziens vor allem publizistisch. Als Ende 1918 in Lemberg die Westukrainische Volksrepublik gegründet wurde und es in Galizien zu Kämpfen gegen die Zweite Polnische Republik kam, war Rosdolsky daran ebenso maßgeblich beteiligt wie an der Gründung der Kommunistischen Partei Ostgaliziens. Im Mai 1919, als sich die militärische Niederlage der Westukrainischen Volksrepublik abzeichnete, emigrierte Rosdolsky nach Prag, um dort Rechtswissenschaften zu studieren. Mit dem Friedensvertrag von Riga wurde Galizien im März 1921 schließlich offiziell ein Teil der Republik Polen. Rosdolsky wirkte nun als Vertreter der Auslandsorganisation der Kommunistischen Partei Ostgaliziens und betätigte sich weiterhin als Publizist weit am linken Rand des politischen Spektrums. In dieser Funktion trug er 1923 die Umbenennung der Kommunistischen Partei Ostgaliziens in Kommunistische Partei der Westukraine und deren föderale Angliederung an die polnische Kommunistische Partei mit. Seit 1926 führte er sein Studium in Wien fort und schloss es 1929 mit einer Dissertation zum »Problem der geschichtslosen Völker bei Karl Marx und Friedrich Engels« ab. Gleichzeitig war er wissenschaftlicher Korrespondent des von David B. Rjazanov geleiteten Moskauer Marx-Engels-Institutes, das an einer Werkherausgabe der beiden Vordenker arbeitete, aktives Mitglied der KPÖ und vor allem der kommunistischen Studentenbewegung. Aufmerksam und engagiert verfolgte

40

Christoph Augustynowicz

er in den Jahren um 1930 die inner-ukrainischen Auseinandersetzungen zwischen Zentralisten und Föderalisten und die damit verbundene Kollektivierung der landwirtschaftlichen Nutzflächen in der Ukraine. Hier in Wien lernte auch seine spätere Frau und unverbrüchliche Weggefährtin Emily Meder (1911–2001) kennen. Nach der Niederschlagung des Februaraufstandes 1934 musste Rosdolsky Wien als polizeibekannter Kommunist verlassen. Er kehrte nach Lemberg zurück, erhielt aufgrund seiner Arbeiten zur ostgalizischen Dorfgemeinschaft eine Assistentenstelle bei Franciszek Bujak und verfasste seine zweibändige Arbeit über die Leibeigenschaft in Galizien. Angesichts des stalinistischen Kahlschlages innerhalb der kommunistischen Bewegung (nicht nur) der Ukraine einerseits und ukrainischer Hoffnungen auf Befreiung durch den Nationalsozialismus andererseits wandte sich Rosdolsky den Schriften Lev Trockijs zu, insbesondere der Idee, »dass […] die Wurzel der Irrtümer und Fehler der Kommunistischen Bewegung in der bürokratischen Degeneration der russischen Revolution liege«1. Beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges entschloss sich Rosdolsky wegen seiner publizistischen Dokumentation und Verurteilung der stalinistischen Verbrechen zur Flucht nach Krakau, wo er 1942 von der Gestapo verhaftet wurde. Den restlichen Weltkrieg überlebte er in den Konzentrationslagern Auschwitz, Ravensbrück und Oranienburg. Nach seiner Befreiung lebte er bis 1947 in Linz, um dann aus Furcht vor dem NKWD über New York nach Detroit zu emigrieren, ohne den Kontakt zu seinen Milieus vor allem in Österreich, aber auch in Polen, wo er sich vergeblich um eine akademische Stelle bemühte, und in Großbritannien zu verlieren. In den USA entstand seine Arbeit Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen »Kapital«, eine kritische Analyse der Marxschen Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Sie erschien erst 1968, also bereits nach Rosdolskys Tod am 20. Oktober 1967, wurde breit rezipiert, wiederholt aufgelegt und auch rege übersetzt. In seinen späten Lebensjahren plante Rosdolsky eine gründliche Monographie über den Frieden von Brest-Litovsk, mit dem Sowjetrussland als Nachfolger des Zarenreiches aus den Kampfhandlungen des Ersten Weltkrieges ausschied und den Krieg für die Mittelmächte an ihrer Ostfront beendete. Mit dem Waffenstillstand vom 15. Dezember 1917 stellte die bolschewistische Regierung die Kampfhandlungen ein und postulierte Verzicht auf Annexionen und Wahrung der Selbstbestimmung der Völker. Da die Mittelmächte diese Politik zur Expansion (aus-)nutzten, wurde am 9. Februar 1918 der sogenannte Brotfriede mit der ukrainischen Volksrepublik unterzeichnet. Am 3. März folgte unter großzügigen territorialen Zugeständnissen an die Mittelmächte der endgültige Friedensschluss mit Sowjetrussland. 1 Emily Rosdolsky, Roman Rosdolsky, 13.

Von der »austro-fatalistischen Geschichtsmethode«

41

Der unmittelbare Anlass für die Auseinandersetzung Rosdolskys mit dem Frieden von Brest-Litovsk bestand in Archivstudien, die er im Jahr 1958 ursprünglich für eine Arbeit zu den Bauernabgeordneten im österreichischen Reichstag 1848/49 in Wien durchführte, die Arbeit fügt sich also konsequent in seine Interessen an Revolutionen. Er realisierte letztlich nur zwei Kapitel, die 1973 und somit posthum im Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung in Berlin (West) im Sinne einer politisch-aktionistischen Programmatik unter dem Titel Studien über revolutionäre Taktik veröffentlicht wurden. Dementsprechend marginal blieb die Wahrnehmung der Arbeit; in einer aktuellen Monographie zur Neugestaltung Ostmitteleuropas durch den Frieden von Brest-Litovsk (Chernev) etwa bleibt sie trotz extensiver Behandlung des Jänner-Streiks ebenso unzitiert wie in einer aktuellen biographischen Aufsatzsammlung zu Otto Bauer (Saage). Im ersten Abschnitt beschäftigt sich Rosdolsky mit der Friedenspolitik der Bolschewiki vor dem Hintergrund der von ihm als opportunistisch bewerteten, da eben nicht pazifistischen Politik der II. Internationale während des Ersten Weltkriegs. Der zweite Abschnitt widmet sich den im Jänner 1918 wegen Versorgungsmängeln ausgebrochenen Arbeiter*innen-Streiks insbesondere in Wien und Wiener Neustadt (»Jänner-Streik«), welche die Außenpolitik der Habsburgermonarchie und die Diplomaten in Brest-Litovsk gehörig unter Druck brachten, sowie der Rolle der sozialdemokratischen Führung in eben diesen Entwicklungen. Auf diesen zweiten Abschnitt möchte ich in der Folge meine Aufmerksamkeit richten. Ganz grundlegend für Rosdolskys Verständnis der Vorgänge ist ein Artikel in der Arbeiterzeitung vom 17. Jänner 1918, in dem auf dem Höhepunkt der Streiks folgende Forderungen an die Regierung gestellt wurden: 1) die Friedensverhandlungen in Brest-Litovsk nicht an territorialen Ansprüchen scheitern zu lassen, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu achten und hinsichtlich des Verhandlungsfortschrittes Transparenz gegenüber der Arbeiter*innenschaft zu gewährleisten. Daran geknüpft wurden Forderungen nach 2) Reorganisation der Verpflegung, 3) Demokratisierung der Gemeindevertretungen und 4) Entmilitarisierung der Betriebe im Sinne der Arbeiter*innenrechte. Die zentrale Kontroverse, mit der sich Rosdolsky auseinandersetzt, lautet: Hatten es die führenden Sozialdemokraten Viktor Adler und Karl Seitz tatsächlich – wie sie selber behaupteten – zuwege gebracht, die Regierung unter Ministerpräsident Ernst Seidler von Feuchtenegg unter Druck zu setzen und so eine dermaßen freie Artikulation in der Presse zu ermöglichen? Oder war nicht eher – wie vor allem von Seidler gegenüber Außenminister Ottokar von Czernin behauptet – die freie Berichterstattung in der Presse ein Zugeständnis an die Parteileitung im Austausch gegen die Zusage, mäßigend auf die Streikenden einzuwirken. Der zentrale Vorwurf, den Rosdolsky erhebt und mit Archivbelegen stützt, lautet: Die Führung der Sozialdemokratie habe Positionen Czernins zur

42

Christoph Augustynowicz

Aufrechterhaltung der Besetzung ehemals russländischer Gebiete durch die Mittelmächte nicht nur übernommen, sondern sogar wesentlich mitgeprägt, da die entsprechende Regierungserklärung eigentlich vom sozialdemokratischen Parteivorstand entworfen worden sei. Aufgrund dieser Einschätzung wird Rosdolsky heute zugestanden, Grundlagen für eine »linke Gegenerzählung der Ereignisse im Jänner 1918, welche […] die konterrevolutionäre Rolle der sozialdemokratischen Führung und ihrer politischen Konzeptionen betont«2, geschaffen zu haben. Dieser Umstand und insbesondere diese Formulierung machen aber auch deutlich, wie sehr und wie fokussiert, wie nahezu ausschließlich man in Rosdolsky den marxistischen Theoretiker und den revolutionären Akteur respektive Agitator gesehen hat und sieht; seine sozialgeschichtlichen Betrachtungen zu nationalen und sozialen Schichtungen und Reibungen im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben allenfalls in der Galizien-Forschung Berücksichtigung gefunden. Aus der Perspektive historiographiegeschichtlicher Themen und Fragestellungen ist Rosdolskys Werk hingegen bislang weitestgehend unreflektiert geblieben. Ein Paradigma, dessen er sich beispielsweise bedient, ist die in der deutschsprachigen Historiographie so vernachlässigte kontrafaktische Perspektive. Diese besteht im Wesentlichen darin, »die Perspektive des Historikers umzukehren: Anstatt immer nur auf das schon Geschehene zurückzublicken, gilt es, von einem bestimmten Zeitpunkt an nach vorn ins Ungeschehene zu denken. Jede kontrafaktische Überlegung geht davon aus, dass das, was heute Vergangenheit ist, einmal noch offene Zukunft war – und versucht, deren Möglichkeiten von diesem Punkt aus abzuschätzen«3. Explizit und offensiv argumentiert Rosdolsky an zwei Stellen seiner Ausführungen über den Jänner-Streik 1918 kontrafaktisch. Zum einen meint er mit Blick auf die unmittelbar Involvierten: »Diese hatten ja nicht den Vorteil, über die Sache im nachhinein zu meditieren, und ihre Aussagen waren daher von dem gelassen-fatalistischen Standpunkt der Geschichtserzähler weit entfernt«4. Zum anderen argumentiert er im Zusammenhang mit der Nachfrage des Außenministers Czernin bei Ministerpräsident Seidler, ob dieser angesichts des so brisanten Artikels vom 17. Jänner in der Arbeiterzeitung seiner Zensurpflicht nachgekommen sei, woraufhin letzterer verstockt und unwillig reagierte, »man wußte ja noch nicht, wie die Sache ausgehen würde«5. Ein weiterer unmittelbarer Anlass für die Auseinandersetzungen mit dem Frieden von Brest-Litovsk und insbesondere mit dem Jänner-Streik unter Her2 3 4 5

Rosdolsky-Kreis, Mit permanenten Grüßen, 142. Nonn/Winnerling, Kontrafaktische Geschichte, 13. Roman Rosdolsky, Studien, 123. Ebd., 131.

Von der »austro-fatalistischen Geschichtsmethode«

43

anziehung kontrafaktischer Perspektiven war für Rosdolsky Otto Bauers Buch Die Österreichische Revolution, das 1923 erschien. Bauer behauptet darin, der Streik habe nicht unmittelbar in eine Revolution münden können und sei seitens der Parteileitung auch nur als große revolutionäre Demonstration und ausdrücklich nicht als Ausgangspunkt für eine Revolution intendiert gewesen. Bauers Argumentation ist dabei widersprüchlich: Zum einen postuliert er die Perspektivenlosigkeit allfälliger revolutionärer Pläne mit dem Argument, den Streikenden seien durchwegs junge Rekruten aus eher marginalisierten Ethnien (rumänisch, ruthenisch und bosnisch) gegenübergestellt worden, die fest in der Hand ihrer Führer gewesen seien und keinerlei Spielraum für eine Solidarisierung mit den Arbeiter*innen gehabt hätten. Zum anderen erinnert Bauer daran, dass der Jänner-Streik allerorts Meutereien etwa slowenischer, serbischer, tschechischer und ungarischer Aufgebote auslöste. Auch aus den von Rosdolsky untersuchten Akten geht – hier allerdings ganz unmissverständlich – hervor, dass der Statthalter von Niederösterreich und der Polizeipräsident von Wien das Fehlen »jegliche[r] Machtmittel zum energischen und erfolgreichen Einschreiten«6 beklagten. Darauf aufbauend, und entgegen Bauers Einschätzung, fragt Rosdolsky weiter, inwieweit die Streikereignisse mit den Vorgängen der Oktoberrevolution zwei Monate zuvor vergleichbar waren und inwieweit insbesondere Lev Trockijs in Brest-Litovsk zur Schau gestellte Erwartungen einer Revolution in der Habsburgermonarchie nicht noch eine Aussicht auf Tatsächlichkeit hatten. Die Arbeiter*innenmassen der beiden Mittelmächte hätten in diesem Fall die machtpolitisch naheliegende Expansionspolitik ihrer jeweiligen Führungen nach Osten verhindert, die mit dem Frieden dann ja letztlich – wenn auch nur für etwa acht Monate – implementiert wurde. Darüber hinaus relativiert Rosdolsky Bauers Einschätzung, dass Österreich und insbesondere Wien im Fall einer Revolution von einer Besetzung durch die im Osten nicht mehr gebundene deutsche Armee bedroht gewesen seien, indem er ihr die kontrafaktische Möglichkeit einer weiterräumigen, womöglich gesamteuropäischen Revolution entgegenstellt. Das Interesse Rosdolskys am Frieden von Brest-Litovsk harrt noch einer breiteren konzeptionellen Untersuchung; auch konnte zumindest hier nicht geklärt werden, inwieweit etwa Robert Fogels in den 1960er Jahren in Chicago zentrierte wirtschaftshistorische Schule der »Kliometrie«, die mit kontrafaktischen Annahmen arbeitet7, Einfluss auf Rosdolsky hatte. Ganz offensichtlich ist hingegen seine dezidierte Meinung über die Verweigerung kontrafaktischer Erwägungen durch die österreichische Sozialdemokratie und ihr Geschichtsverständnis, wenn er das Verkennen/Vergessen der Möglichkeit des Entstehens einer revolutionären Si6 Ebd., 148. 7 Vgl. dazu Breisach, Historiography, 376–377.

44

Christoph Augustynowicz

tuation als »austro-fatalistische Geschichtsmethode O. Bauers«8 bezeichnet. Wie ja bereits in seinen unmittelbar kontrafaktischen Formulierungen deutlich wurde, war Fatalismus für Rosdolsky offensichtlich das, was heute in der Historiographiegeschichte vielfach teleologisches Denken oder Determinismus genannt wird. Sein Interesse galt dem Widerspruch zwischen Bauers in sich widersprüchlicher Einschätzung, der Streik sei aussichtslos gewesen, und den doch sehr eindeutigen Einschätzungen der zeitgenössischen Machthaber ihrer eigenen Machtlosigkeit. Diesen Widerspruch reflektiert Rosdolsky im Sinne einer kontrafaktischen Herangehensweise, weicht einer Interpretation im Sinne eines »was wäre wenn« aber seriöser Weise aus. Sein Werk hinsichtlich weiterer historiographiegeschichtlicher Themen und Fragestellungen zu reflektieren sei hiermit jedenfalls nachdrücklich angestoßen.

Quelle Roman Rosdolsky, Studien über revolutionäre Taktik. Zwei unveröffentlichte Arbeiten über die II. Internationale und die österreichische Sozialdemokratie. Mit Bemerkungen »Über den Autor« von Emily Rosdolsky und »Zu den Texten« von der Redaktion. Berlin 1973.

Literatur Ernst Breisach, Historiography. Ancient, Medieval, & Modern. Chicago/London 32007. Borislav Chernev, Twilight of Empire. The Brest-Litovsk Conference and the Remaking of East-Central Europe, 1917–1918. Toronto/Buffalo/London 2017. Christoph Nonn/Tobias Winnerling, Wozu eigentlich kontrafaktische Geschichte? In: Christoph Nonn/Tobias Winnerling (Hg.), Eine andere deutsche Geschichte 1517–2017: Was wäre wenn… Leiden/Boston 2017, 7–19. Emily Rosdolsky, Roman Rosdolsky: Leben, Motive Werk. In: Roman Rosdolsky, Zur nationalen Frage. Friedrich Engels und das Problem der »geschichtslosen« Völker. Berlin 1979, 5–15. Rosdolsky-Kreis, Mit permanenten Grüssen. Leben und Werk von Emmy und Roman Rosdolsky. Wien 2017. Richard Saage, Otto Bauer. Ein Grenzgänger zwischen Reform und Revolution. Berlin 2021.

8 Roman Rosdolsky, Studien, 155.

Religion und Revolution

Christof Paulus

Heilige Kriege. Zu Denkmustern und Funktion der Deutschordenschronistik im frühen 14. Jahrhundert1

Peregrinus expectavi pedes meos in cymbalis. Diese lateinischen Worte lässt der russische Komponist Sergei Prokofjew in seiner 1939 in Moskau uraufgeführten, siebensätzigen Kantate Alexander Newski die Deutschordensritter singen – immer und immer wieder. Ob Prokofjew mit dem syntaktisch-dadaistischen Satz, der womöglich Wortmaterial aus dem biblischen Psalter anzitiert – in Übersetzung: »Als ein Pilger wartete ich auf meine Füße in Zimbeln« – auf Strawinskys Symphonie de Psaumes (1930) anspielt und damit seinem Rivalen eines auswischen wollte, sei dahingestellt. Jedenfalls lässt ersterer die Ritter ihren Schlachtenpsalm in der klassisch als eisern und schauerlich gedeuteten Tonart cis-Moll anstimmen – musikalisch eingebunden in ein düster-martialisches Klangbild der Blechbläser, das den Kontrast bildet zu den fröhlich-bunten russischen Volksgesängen der anderen Kantatentakte. Es mögen die vier Kreuzvorzeichen der Tonart cis-Moll Prokofjew auch an das klassisch mit den Kreuzrittern verbundene Jerusalemkreuz haben denken lassen, das in seinen Winkeln eben vier Kreuze aufweist. Damit könnte die Tonart auch an die Anfänge des Deutschen Ordens im Heiligen Land erinnern. Von dort hatten sich die Ritter zwar mit ihren Eroberungen schon lange wegbewegt, doch sollten Name (Ordo fratrum domus hospitalis Sanctae Mariae Teutonicorum Ierosolimitanorum) und vielfältige geistesgeschichtliche Verortungen nie die symbolisch aufgeladene Verbindung zu den Ordensanfängen im 12. Jahrhundert trennen. Im zentralen Kantatensatz, der »Schlacht auf dem Eis«, treten die Ritter aus der morgendlichen Dämmerung bzw. der westlichen Nacht – vielleicht klang dabei dem Komponisten im Gehör das berühmteste Musikstück in cis-Moll: Beethovens Mondscheinsonate.

1 Dieser Essay greift Überlegungen einer im Sommersemester 2021 an der Universität Regensburg veranstalteten Übung auf, die sich einer »dichten Lektüre« der spätmittelalterlichen Deutschordenschronistik widmete. An der Diskussion beteiligten sich besonders rege Erik Flöter, Rainer Kuffer, Matthias Miedl, Lukas Nutz, Maximilian Ramsauer und Klemens Singer.

48

Christof Paulus

Prokofjews rund 40-minütige Kantate wuchs aus der Musik für Sergei Eisensteins Auftrags- und Propagandafilm Alexander Newski (1938), worin der Sieg über ein westliches Ritterheer auf dem Eis des Peipussees im April 1242 gefeiert und der russische Nationalheld ikonisiert wird. Die Deutschordensritter hingegen, die zuvor eine Spur der Gewalt gezogen haben, sind dämonische Präfigurationen: Ihre Uniform spielt auf die der begehrlich nach Osten blickenden Wehrmacht an, ihre Gestik imitiert den Hitlergruß. Am Ende steht ein zwar (auch von den Mongolen und Schweden) bedrohtes, aber unbesiegbares Russland. Eine alte Geschichtsschreibung verklärte die Schlacht auf dem Peipussee, bei der es vor allem um die Kontrolle der wichtigen Handelsrouten von und nach Nowgorod ging, zum nationalrussischen ›Erinnerungsort‹, vervielfachte die Heeresstärke, überzeichnete die Rolle des historischen Wendepunkts (wenngleich das Ausgreifen des Deutschen Ordens gen Osten damit tatsächlich gestoppt war). Der historische Alexander machte schnell seinen Frieden mit den Rittern wie mit der Goldenen Horde, wohl auch im klaren Wissen um seine militärischen Möglichkeiten. Der »Sieger über die Schweden an der Newa« (Newski) war ein durchaus realpolitisch denkender Mann, der nicht voraussehen konnte, wie spätere Zeiten ihn glorifizieren und mit nationalen Vorzeichen instrumentalisieren sollten. In Eisensteins Streifen verleiht ihm der Schauspieler Nikolai Tscherkassow erlösergleiche, visionierende Züge. Newskis Melodie trägt Prokofjew im warmen B-Dur vor, jener Tonart, die nach alter Charakteristik für Größe, Majestät, Hoffnung und Liebe steht – der Liebe zu Russland, kontrastierend bedroht vom stampfenden Rhythmus der Deutschordensritter: Peregrinus expectavi. Die peregrinatio, das Wandeln für Gott in und durch die Fremde, ist ein christlicher, schon die frühmittelalterliche Hagiographie prägender Schlüsselbegriff, der, wie Robert Plötz und andere nachgewiesen haben, um 1100 – komplementär zu umfassenden Wandlungsprozessen und einem rapid ansteigenden Pilgerwesen – seinen begrifflichen Aufschwung nahm. In der Chronica terrae Prussiae Peters von Dusburg, dem Werk, das im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll, schwingt jedoch noch die alte missionarische Bedeutungskraft des Wortes mit. Peter, der wohl aus Doesburg im Gelderland stammte und Deutschordenspriester in Preußen war (ansonsten wissen wir so gut wie gar nichts über ihn), schrieb um 1326 an seiner, dem Deutschordenshochmeister – dem höchsten Würdenträger innerhalb der modern wirkenden Ordenshierarchie – Werner von Orseln gewidmeten Chronik, den Berichtszeitraum von 1190 bis 1326 umfassend. In vier Büchern wird zunächst von den Anfängen des Ordens in Palästina (es kursierten im Wesentlichen zwei Gründungsvarianten, eine für die 1140er Jahre und eine Spätgründungsvariante 1189/90 nach dem Prestigeverlust von Hattin, die auch Peter favorisierte), im liber II dann von der Ankunft in Preußen berichtet. Dort gelang im vierten Versuch und mit äußerst überlegtem Vorgehen (nach gescheiterten Ver-

Heilige Kriege

49

suchen im Burzenland, in Palästina und auf Zypern) die Ordensstaatsgründung. Das Herzstück der Chronica bildet das dritte Buch, das sich in 362 Kapiteln dem Leitthema, den Kriegen des Ordens, widmet, woraufhin im vierten Buch Daten zur Papst- und Kaisergeschichte die Deutschordenshistorie im allgemeinen Strom der Zeit verorten. Peregrinatio ist nun ein Zentralbegriff der Chronica, welche die Geschichte des Ordens als einen nach Osten umgeleiteten Kreuzzug begreift, auf dem die »Pilgerbrüder in Waffen« (fratres et peregrini armati) gegen die heidnischen Prussen kämpfen. In Eisensteins Film und in Prokofjews Musik sind die Deutschordensritter brutale Invasoren, die Massaker, namentlich in der Stadt Pskov, verüben – doch wie rechtfertigt wiederum Peter das Vorgehen seiner Mitbrüder? Das Jahr 1242 – das Jahr der Schlacht auf dem Peipussee – zeichnet auch in der Chronica eine Zäsur, denn in diesem Jahr eröffnete Swantopolk, der Herzog von Pomerellen, seine Gegenoffensive, nachdem die Ritter, von Peter »neue Makkabäer« (alteri Machabei) genannt, bereits erste größere Erfolge auf ihren Missionszügen hatten verzeichnen können. Der antichristlich eingeschwärzte Swantopolk ist hinterlistig und brutal, viele Ritter sterben den Märtyrertod, der Herzog von Pomerellen ist ein Werkzeug des Teufels – serpens antiquuus, draco venenosus, humani generis inimicus. Peter greift hier auf klassisch-hagiographische Topoi zurück mit der literarischen Strategie, die Taten des Deutschen Ordens als gerechten Krieg, als bellum iustum, zu charakterisieren. Die Ritter stehen in der militia Christi, sie bekämpfen Häresie, führen die Prussen zum Seelenheil, vollbringen demnach Taten der Liebe, stiften damit letztlich Frieden. Ihre Siege sind iudicia belli, ihr Wirken haben die höchsten Instanzen – Papst und Kaiser – abgesegnet. Die erste Ordensburg, auf einem Berg gegenüber Thorn (Torun´) – benannt nach der alten Ritterherrschaft Toron im Heiligen Land – heißt lateinisch cantus avium, auf Deutsch Vogelsanck. Dort singen die Ritter ihre tieftraurigen Lieder (canticum tristicie et meroris), vertrieben in die Ferne wie das jüdische Volk im Babylonischen Exil (Psalm 137). Peregrinus expectavi. Doch ist Vogelsang die Arche im Heidenmeer; von dort wird neues christliches Leben ausgehen. In Eisensteins Newski kämpft die Natur auf Seiten der Russen gegen die Invasoren, Prokofjew machte die Schlachtmusik an einigen Stellen gar zum »Eisballett« im choreographischen Einklang von Mensch und Land. Bei Peter hingegen ist die Natur Gefährtin wie Feindin zugleich. Swantopolk schwärmt über die zugefrorene Weichsel zu hinterhältigen Plünderungszügen aus, aber auch die bedrohten Deutschritter fliehen über einen eisigen See – am nächsten Tag wird Tauwetter ihre Spuren verwischt haben. Gott ist die stärkste Waffe der Ritter. »Mit dir erstürme ich Wälle, mit meinem Gott überspringe ich Mauern«, sagt der Psalmist (18,30). Peter führt ab dem achten Kapitel des liber II eine Waffenallegorese aus, die er bezeichnenderweise mit dem Langschild (scutum) beginnt, ist der Krieg des

50

Christof Paulus

Ritterordens ja ein defensiver, kein offensiver. Weiters nennt Peter Schwert, Speer, Rundschild, Panzer, Pfeil, Bogen und Köcher, Schleuder, Stab und Helm, die er – wohl auch der Lehre vom vierfachen Schriftsinn folgend – mit Bibelzitaten vorstellt. Letztlich wird Peter bei seinen Ausführungen vom augustinischen Weltbild geleitet, das die Menschheitsgeschichte seit Kain und Abel als dualistisch-wettstreitende peregrinatio zwischen dem Staat Gottes, der civitas Dei, und der civitas diaboli, dem Teufelsstaat, begreift. Geschichte ist nach dieser Vorstellung eine große Kampfstätte zwischen den beiden civitas-Polen, doch tritt historisch meist keiner der ›Staaten‹ in Reinform, sondern meist als civitas permixta auf. Am Ende der Tage – doch keiner und keine weiß die genaue Stunde (Mt 24,36; 25,13) – wird aber die civitas Dei über den Teufelsstaat den Sieg davontragen. Und in diesem eschatologischen Kampf streitet der Deutsche Orden in seinem Selbstverständnis als Werkzeug Gottes für ein neues Jerusalem. Innerhalb einer nach klassisch paulinischem Denken als organologisch aufgefassten kämpferischen Kirche (ecclesia militans) wirken die Brüder als ihre Hände, sie stehen als Wächter auf dem Turm des Glaubens (turris fidei), schützen das Haupt Jesu (custodes capitis Jesu Christi) und erweitern die Grenzen der Christenheit. In der Thorner, ehemals Königsberger Handschrift der sogenannten Deutschordensapokalypse Heinrich von Heslers ist in einer Malerei der apokalyptische Endkampf zwischen Gut und Böse dargestellt. Dort reiten auf Seiten des Endkaisers in vorderster Front zwei Deutschordensritter – dies ist die Weltsicht Peters. Peregrinus expectavi – die Deutschritter warten auf den Jüngsten Tag. Ihre Geschichte ist Heilsgeschichte, ist Theologie. Das soll jedoch nicht heißen, Peter von Dusburg tauche die Gegner des Ordens nur plump in die dunkelsten Farben ein, weswegen die sogenannte Gewaltmission als Mittel der Ritter einwandlos gerechtfertigt wäre. Gewaltsame Taten werden in der Chronica von den Ordensritten wie den Gegner gleichermaßen verübt. Doch ist die Gewalt letzterer hinterlistig, sie wird aus Sumpf und Gehölz heraus gegen Schwache und Frauen angewandt. Gewalttaten des Ordens zeigen sich in der Schlacht, bei der Erstürmung, bei der Belagerung, also verankert im ritterlichen Wertekontext der für Christus in der Fremde streitenden Brüder. Die Heiden sind grausam, bei den Rittern genügt zuweilen die Androhung potentieller Gewalt. Andererseits legt das Kapitel »Von der Ketzerei, den Bräuchen und Sitten der Prussen« (III/5) nahe, dass das konkrete Missionswerk nicht nur mit Flamme und Schwert vollzogen wurde. Denn es wird hier zwar genüsslich der Irrglaube der Prussen ausgebreitet, die Donner, Kröten und Vögel als göttlich ansehen und heilige Gewässer haben – klassische Heidentopik seit ihren Anfängen. Allerdings wird auch auf christliche Analogien verwiesen wie etwa auf einen Auferstehungslauben oder einen »Heidenpapst«, weswegen die Mission sicherlich auch über andere, eben argumentative Kanäle erfolgte und nicht nur auf dem Weg des Schwertes. Letztlich greift aber auch hier das altbewährte

Heilige Kriege

51

Propagandamittel der binären Codierung, die deshalb umso glaubwürdiger erscheint, wenn sie Ausnahmen nennt. Das Heilige braucht das Unheilige, wie Kerstin Jobst in ihren Forschungen gezeigt hat. In seinem 1900 veröffentlichten Roman Die Kreuzritter (Krzyz˙acy) bedient sich der polnische Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz aus den gleichen topischen Töpfen wie rund 550 Jahre vor ihm Peter von Dusburg – nur vice versa. Im polnischen Heldenepos begehen die Kreuzritter feige Nachtangriffe, vergehen sich an Frauen und Kindern, werfen Säuglinge ins Feuer (bei Peter spießen die Prussen kleine Kinder auf Zaunpfähle). Quantität und Qualität der Grausamkeit erreichen hier wie dort unerhörte Dimensionen. Wie bei Eisenstein die Schlacht am Peipussee 1242 ist in Die Kreuzritter die Schlacht von Tannenburg 1410 der Fixpunkt, auf den die Handlung teleologisch hin erzählt wird: Jener Sieg über die Deutschritter, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine krude Revision bis hin zum masurischen »Reichsehrenmal« für den 1934 gestorbenen Generalfeldmarschall und Reichspräsidenten Paul von Hindenburg erfahren sollte, auch wenn die von Hindenburg als Oberbefehlshaber siegreich geführte »Schlacht bei Tannenberg« 1914 an einem ganz anderen Ort geschlagen wurde. Aleksander Ford sollte Sienkiewicz’ Roman 1960 eindrucksvoll verfilmen, differenzierter im Freund-Feind-Bild als Eisenstein (und auch der Romanautor), aber mit durchaus vergleichbaren Mitteln. Die polnische Welt ist blühend, die der Ritter grau und karg, um nur ein Beispiel zu nennen. Da war Peter von Dusburg, der mancherorts auch die Witterungsextreme der anbrechenden sogenannten Kleinen Eiszeit vermerkt, mit einem breiteren Farbenkasten ans Werk gegangen. Sein Weltbild ist zwar lange untergegangen, doch wurde und wird in den jahrhundertealten Clash-of-civilizations-Requisitenapparat der Propaganda noch immer gegriffen. In seiner Filmmusik zu Die Kreuzritter ließ der 1922 im ehemaligen Deutschordenssitz Thorn geborene Kazimierz Serocki die Welten musikalisch aufeinanderprallen wie Prokofjew: Auf der einen Seite das spätmittelalterliche Gebetslied Bogurodzica als Leitmotiv auch der polnischen Ritter, die bei der Entscheidungsschlacht mitkämpfen – auf der anderen Seite das Tandaradei aus Walther von der Vogelweides Under der linden, grotesk verzerrt für die Ritter des Deutschen Ordens. Jenes auf Emotionalisierung und Wirkung angelegte Kompositionsverfahren Serockis und Prokofjews folgt der alten, symbolreichen musikalischen Praxis, konträre Melodien gegeneinander zu führen, und wurde im Bereich der »kriegerischen Tonmalerei« prototypisch von Beethoven in Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria (1813) und vor allem von Tschaikowski im 1882 uraufgeführten symphonischen Schlachtengemälde der ouverture solennelle »1812«, die den russischen Sieg über die napoleonischen Truppen feiert, mit technischer Meisterschaft angewandt. Auch Schostakowitsch etwa machte oft von diesem Kunstgriff Gebrauch, so in seiner siebenten und elften Symphonie

52

Christof Paulus

(Leningrad bzw. 1905). Doch zurück zum Deutschen Orden, der zu unterschiedlichen Zeiten aktualisiert und instrumentalisiert wurde, wie, um ein letztes berühmtes Beispiel aus der Malerei und nun aus dem 19. Jahrhundert anzuführen, Jan Matejkos hochkomplexes Monumentalgemälde Bitwa pod Grunwaldem (Schlacht bei Grunwald/Tannenberg) zeigt, geschaffen in den Jahren 1872 bis 1878 – eine gemalte Warnung gegenüber dem 1871 gegründeten Deutschen Reich. Doch stellt sich abschließend die Frage nach dem Sitz im Leben der Chronik Peters. Wem sollten die »großen Zeichen und starken Wunder« (magna signa et forcia mirabilia), die Gott mit seinem ritterlichen Werkzeug vollbrachte, zum Vorbild dienen? Die geringe handschriftliche Überlieferung der Chronica deutet eher auf einen beschränkten Wirkkreis hin. Peter selbst schreibt, dass die Taten des Ordens zu verkündigen seien (predicabuntur), doch verstand wirklich jeder der Brüder Peters Latein, wenn es etwa bei der Tischlesung vorgetragen worden wäre? Jüngst hat Marcus Wüst einen kurialen Adressaten für Peters Werk vorgeschlagen, doch möchte man anmerken, dass die Kurie dann eigentlich stärker in der Chronica präsent sein müsste. 1331/41 übertrug der Deutschordenskaplan Nikolaus von Jeroschin, der damit zu Zeiten des Hochmeisters Dietrich von Altenburg auch die Kanzleileitung und Buchpflege des Ordens innehatte, in 27.738 ostmitteldeutschen Reimpaarversen Peters Chronik ins Mittelhochdeutsche – nun offensichtlich für ein breiteres Publikum und zur Tischlesung dienlich. Somit war Peters Chronik – auch wenn die Übertragung des Nikolaus ein eigenständiges Werk, keine Übersetzung im engen Sinn ist – doch noch in der Breite des Ordens angekommen, der sich im frühen 14. Jahrhundert durch mannigfache Krisen herausgefordert sah. Geschichte wurde demnach zum Argument. Die Historie, in deren Spiegel man blickte, sollte Zusammenhalt stiften, die überwundenen Feinde waren Erinnerungszeichen, dass der Orden eine, ja die größte aller Aufgaben zu erfüllen hatte: Den Weg zu bereiten für die Wiederkunft des Herrn. Peregrinus expectavi.

Quellen Petrus de Dusburgk, Chronica terrae Prussiae/Piotr z Dusburga, Kronika ziemi Pruskiej, bearb. von Jaroslaw Wenta u. Slawomir Wyszomirski. Kraków 2007. Petri de Dusburg Chronica terre Prussie/Peter von Dusburg, Chronik des Preussenlandes, bearb. und übers. von Klaus Scholz u. Dieter Wojtecki. Darmstadt 1984. Biblioteka Główna UMK, Rps 44/III, fol. 1374: Deutschordensapokalypse Heinrich von Heslers (saec. XIV).

Heilige Kriege

53

Literatur Kevin Barting, Composing for the Red Screen. Prokofiev and Soviet Film. Oxford 2013. Roman Czaja/Jürgen Sarnowsky (Hg.), Selbstbild und Selbstverständnis der geistlichen Ritterorden. Torún 2005. Edith Feistner, Krieg und Kulturkontakt. Zur »Ethnologie« der Prussen und Litauer bei Peter von Dusburg und Nikolaus von Jeroschin. In: Jaroslaw Wenta/Sieglinde Hartmann (Hg.), Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat in Preußen. Leben und Nachleben. Interdisziplinäres Symposion über die Kultur im Deutschordensstaat in Preußen, 22. bis 26. September 2004, Kwidzyn. Torún 2008, 529–539. Hans-Werner Goetz, Das Bild der Preußen in früh- und hochmittelalterlichen Quellen vor dem Eingreifen des Deutschen Ordens. In: Jochen Burgtorf/Christian Hoffarth/Sebastian Kubon (Hg.), Von Hamburg nach Java. Studien zur mittelalterlichen, neuen und digitalen Geschichte. Festschrift zu Ehren von Jürgen Sarnowsky. Göttingen 2020, 47–92. Hans Hettler, Preußen als Kreuzzugsregion. Untersuchungen zu Peter von Dusburgs »Chronica terre Prussie« in Zeit und Umfeld. Frankfurt/Main 2014. Lars Jockheck/Frithjof Benjamin Schenk, Der polnische und der sowjetische Blick auf den Deutschen Orden im Historienfilm. Gab es eine Rezeption von Sergei Eisensteins »Aleksandr Nevskij« in Aleksander Fords »Krzyz˙acy«? In: Martin Aust/Krzysztof Ruchniewicz/Stefan Troebst (Hg.), Verflochtene Erinnerungen. Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2009, 137–156. Rasa J. Mazeika, Violent Victims? Surprising Aspects of the Just War Theory in the Chronicle of Peter von Dusburg. In: Alan V. Murray (Hg.), The Clash of Cultures on the Medieval Baltic Frontier. Farnham/Burlington 2009, 123–140. Arno Mentzel-Reuters, Deutschordenshistoriographie. In: Gerhard Wolf/Norbert H. Ott (Hg.), Handbuch Chroniken des Mittelalters. Berlin/Boston 2016, 301–336. Marcus Wüst, Zur Entstehung und Rezeption der »Chronik des Preußenlandes« Peters von Dusburg. In: Bernhart Jähnig/Arno Mentzel-Reuters (Hg.), Neue Studien zur Literatur im Deutschen Orden. Stuttgart 2014, 197–209.

Oliver Jens Schmitt

Venedig und seine Orthodoxen in der Frühen Neuzeit

In der vergleichenden Imperienforschung, mit der sich Kerstin Jobst eingehend auseinandergesetzt hat, kommt der Beschäftigung mit Religionen ein wichtiger Platz zu. Imperien setzen sich in der Regel aus Angehörigen mehrerer Religionen bzw. Konfessionen zusammen, wobei die reichstragende Elite mehr oder weniger stark eine Glaubensrichtung vertrat, nach deren Prinzipien Verwaltung, Steuersystem, Bildungswesen, Militär- und Siedlungspolitik und andere Bereiche geregelt wurden. Alle Imperien im osteuropäischen Raum, Osmanen, Habsburger und Romanovs, sahen sich zahlenstarken Bevölkerungsgruppen anderer Religionszugehörigkeit gegenüber und mussten Wege finden, diese in den Reichsverband einzubinden oder sie zumindest machtpolitisch niederzuhalten. Dies gilt auch für das polnisch-litauische Commonwealth und einen Staatsverband, der in den osteuropabezogenen Imperienvergleichen oftmals vergessen wird, obwohl er zeitlich zweifellos das längstlebige Phänomen darstellt: die Adelsrepublik Venedig, die vom 9. Jahrhundert bis 1797 in unterschiedlichen Rechtsformen weite Teile der südosteuropäischen Küsten- und Insellandschaften beherrschte. Wie andere von nichtorthodoxen Reichseliten zusammengehaltene Imperien bzw. räumlich ausgedehnten Staatsverbände – Osmanen, Polen-Litauen und die Länder der Habsburgermonarchie – umfasste der venezianische zusammengesetzte Staat der Frühen Neuzeit eine zahlenstarke orthodoxe Bevölkerung, die, auch dies ähnlich den genannten Beispielen, regional eine deutliche Mehrheit (im griechischen Teil des Stato da mar sowie in Teilen Binnendalmatiens) bildete und überdies in der Metropole, der Stadt Venedig, mit einer großen Gemeinschaft vertreten war. Diese venezianische Orthodoxie war in ihren Sprachkulturen (griechisch; serbisch), ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schichtung (städtisch/ dörflich im griechischen Staatsteil; seminomadische Transhumanz und Hirtenkriegertum in Binnendalmatien) ebenso vielgestaltig wie die habsburgische oder osmanische Orthodoxie. Das konfliktreiche Zusammenspiel von serbischer, rumänischer und ukrainischer Orthodoxie in der Habsburgermonarchie ist von Gelehrten wie Emanuel Turczynski beleuchtet worden. Zur osmanischen Or-

56

Oliver Jens Schmitt

thodoxie haben Paschalis Kitromelides und neuerdings Ioannis Zelepos das Konzept eines orthodoxen Commonwealths herausgearbeitet, dessen Zentrum im nördlichen Ägäisbogen lag, das aber in den südlichen Balkan und bis hinauf in die Moldau und weiter in den ukrainischen Raum hinaus Strahlkraft besaß. Innerhalb des osmanischen Balkans bestand aber mit der Orthodoxie der serbischen Tradition ein zweiter Machtpol, der sich der Gräzisierung der Kirchenkultur weitgehend entzog. In Polen-Litauen fehlte diese kulturelle Auffächerung der Orthodoxie in verschiedene Sprachkulturen, dafür teilte sich die Bevölkerung der orthodoxen Tradition entlang einer primär kirchenpolitischen Linie, jene der Kirchenunion (1596). Die Kirchenunion spielte auch in der Habsburgermonarchie eine wichtige Rolle, vom Staat selbst betrieben in Siebenbürgen an der Wende zum 18. Jahrhundert bzw. als Erbstück Polen-Litauens in den 1772 im Zuge der ersten Teilung Polens annektierten Gebieten. Die Berührungspunkte zwischen ruthenischer und serbischer, also den beiden slawischen Orthodoxien blieben gering, die räumlich verschränkten serbischen und rumänischen Orthodoxien trennten sich im 19. Jahrhundert in einem konflikthaften Prozess. Diese grobe Skizze imperialer Konstellationen gegenüber den multiplen Orthodoxien, verstanden als kulturelle (nicht notwendigerweise jurisdiktionelle) regionale Ausprägungen, soll erste Anstöße bieten, um über die Stellung der Orthodoxen im venezianischen Commonwealth der Frühen Neuzeit nachzudenken. In teilweiser Analogie zu Polen-Litauen soll der Begriff des Commonwealth einen kompositen, räumlich sehr ausgedehnten, vielsprachigen und vielkonfessionellen Staatsverband bezeichnen, der von einer gemeinsamen Staatsidee und einer gemeinsamen Elite mit adelsrepublikanischem Selbstverständnis zusammengehalten wird und einen gemeinsamen Wirtschafts-, Währungs-, Kommunikations- und Bildungsraum darstellt. Venedig unterscheidet sich von den osteuropäischen Imperien dadurch, dass es weit ins Mittelalter zurückreicht, und dies betrifft besonders sein Verhältnis zu den Orthodoxen. Während Litauen als frisch katholisierter Staat mit orthodoxer Mehrheitsbevölkerung eine immer engere Union mit dem katholisch geprägten Polen einging (1386–1569), gelangten im Falle der Reiche von Osmanen und Habsburgern Orthodoxe durch Eroberung unter imperiale Herrschaft, wobei sich die Haltung der Orthodoxen gegenüber den Eroberern als durchaus zwiegespalten erwies, schwankend zwischen Widerstand, Anpassung oder gar Unterstützung. Venedig stellt den Sonderfall eines Staatsgebildes dar, das zuerst einem orthodoxen Reich, nämlich Byzanz, angehörte, sich allmählich von diesem löste, zum Schluss sogar die Reichshauptstadt Konstantinopel eroberte und für mehrere Jahrhunderte im Kernraum des 1453 endgültig verschwundenen orthodoxen byzantinischen Reiches ein politisches System errichtete, das mit guten Gründen als kolonial bezeichnet worden ist.

Venedig und seine Orthodoxen in der Frühen Neuzeit

57

Wenn wir im Folgenden die venezianischen Orthodoxen der Frühen Neuzeit in den Blick nehmen, hat dies einen besonderen Grund: Die ab 1204 von Venedig eroberten orthodoxen Gebiete gehörten alle dem griechischsprachigen byzantinischen Kernraum an. Die Politik des mittelalterlichen venezianischen Staates gegenüber den orthodoxen Untertanen ist gut erforscht. Demgegenüber ist bisher kaum versucht worden, jene vielgestaltigen Orthodoxien in den Blick zu nehmen, die mit der venezianischen Eroberung des dalmatinischen Hinterlandes und dem massenhaften Übertritt orthodoxer Vlachen/Morlaken zwischen 1645 und 1718 entstanden sind. Die mit der Gewinnung dieses kontinentalen Dalmatiens unter venezianische Herrschaft gelangten Vlachen unterschieden sich in fast jeder Hinsicht von den griechischsprachigen Orthodoxen des venezianischen Commonwealth, die auf Kreta (venezianisch 1211–1669), Korfu (venezianisch 1386–1797) oder der Morea (venezianisch 1687–1715) lebten. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts sah sich Venedig konfessionspolitisch in erster Linie postbyzantinischen Griechen gegenüber, deren Heimatregionen im 13. bzw. 14. Jahrhundert von Venedig gewaltsam erobert worden waren. Besonders auf Kreta, dem Herzstück der venezianischen Beziehungen, war die staatliche Konfessionspolitik lange Zeit, das heißt bis in das 16. Jahrhundert, auf Kontrolle und Niederhaltung des orthodoxen Klerus ausgerichtet. Der hohe Klerus der Insel wurde von Katholiken dominiert, orthodoxe niedere Geistliche mussten sich auf dem venezianisch kontrollierten griechischen Festland weihen lassen. Jahrhundertelang blieben die Beziehungen zwischen orthodoxer Bevölkerungsmehrheit und der katholischen Elite, ungeachtet deren weit fortgeschrittener sprachlicher Gräzisierung, angespannt. Die osmanische Politik gegenüber dem Patriarchat von Konstantinopel war nach 1453 auch von dem Bestreben geprägt, die Loyalität der Orthodoxen in katholischen Staaten (Venedig, Habsburgermonarchie, Polen-Litauen) zu erschüttern; die Wiederrichtung des serbischen Patriarchats von Pec´ (1557) diente so der ›Immunisierung‹ orthodoxer Balkanslawen gegen katholische Einflüsse, konkret gegen Aufstände zugunsten katholischer Mächte wie Spanien oder Venedig, aber auch dem kirchenpolitischen Hinübergreifen auf das Territorium Venedigs und der Habsburger: Die Jurisdiktion des serbischen Patriarchen war transimperial, sein Sitz im osmanischen Reich aber machte ihn zumindest in den ersten Jahrzehnten des Patriarchats zu einem osmanischen Akteur. Venedig bekundete denn auch lange Zeit erhebliche Mühe, die Treue seiner orthodoxen Untertanen im griechischen Teil des Commonwealth zu gewährleisten. Lange vor Polen-Litauen und den Habsburgern setzte es auf das Instrument der Kirchenunion – die Union von Ferrara-Florenz (1439) aber erwies sich im postbyzantinischen Raum als Totgeburt und war bei aller staatlichen Unterstützung nicht durchsetzbar. Militärische Niederlagen gegen die Osmanen (1479, 1503, 1538, 1570, 1669) zum einen, verschärfte Auseinandersetzungen mit

58

Oliver Jens Schmitt

dem Papsttum über die Kontrolle der katholischen Kirche auf venezianischem Gebiet zu Beginn des 17. Jahrhunderts zum anderen (gipfelnd im Interdikt, das Paul V. über Venedig verhängte) trugen dazu bei, dass Venedig seine aus dem Mittelalter stammende wenig nachgiebige Haltung gegenüber seinen Orthodoxen anzupassen begann. Zu bedenken hatte die Adelsrepublik auch, dass Orthodoxe nicht nur in weit entfernten Besitzungen zwischen Korfu und Zypern lebten, sondern als bis zu 5.000 Personen zählende Gemeinschaft in der Metropole selbst. Aufsicht allein reichte nicht, eine Einbindung der griechischsprachigen Orthodoxen war angesichts der wachsenden Schwäche Venedigs gegenüber dem Osmanischen Reich (und dessen Schutzherrnrolle gegenüber den Orthodoxen in deren Verhältnis zu katholischen Staaten) staats- und sicherheitspolitisch geboten. Venedig siedelte daher eine eigene Metropolie für seine Orthodoxen in der Hauptstadt an, in Gestalt des nach Venedig transferierten Metropoliten von Philadelphia in Kleinasien (1577). Dieser Hierarch unterstand zwar formell weiter dem Patriarchen in Konstantinopel, war aber faktisch dessen Zugriff entzogen. Analog zu dem Versuch, den katholischen Klerus auf dem eigenen Staatsgebiet dem Papst zu entziehen, baute die Adelsrepublik eine eigene orthodoxe Staatskirche auf, die aber nie die Stellung erreichte, die mehr als ein Jahrhundert später dem serbischen Patriarchen von Karlowitz in der Habsburgermonarchie zugewiesen wurde. Immerhin zwei dieser Metropoliten traten zur Kirchenunion über, was jedoch die Masse der venezianischen Orthodoxen unbeeindruckt ließ. Venedig wehrte aber auch den Versuch des posttridentinischen Papsttums ab, die venezianischen Orthodoxen Rom zu unterstellen. So sind Bestrebungen einer territorialisierten venezianischen Orthodoxie zu erkennen, die staatlicher Kontrolle unterstand. Die veränderte Haltung gegenüber der Orthodoxie wird auch daran sichtbar, dass Venedig in frühneuzeitlichen Erwerbungen im postbyzantinischen Raum im Gegensatz zu Kreta den hohen orthodoxen Klerus sehr wohl beließ (so 1500 auf Kephalonia) und nicht durch katholische Bischöfe ersetzte. Die aus dem Mittelalter stammende Strategie einer Katholisierung zumindest der Kirchenführung war damit stillschweigend aufgegeben worden. Als Venedig in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Gebiete erwarb, in denen die Orthodoxie in ganz anderer Gestalt auftrat als im postbyzantinischen Raum, hatte sich die Konfessionspolitik der Serenissima gegenüber den Orthodoxen bereits grundlegend verändert. Wenn man die Strategie der Adelsrepublik gegenüber der nunmehr doppelten Orthodoxie im Überseereich betrachtet – einer postbyzantinisch-griechisch und einer vlachischen –, muss man in erster Linie die grundlegenden strukturellen Unterschiede zwischen diesen beiden Welten berücksichtigen. Analogien zur postbyzantinischen und zur serbischen orthodoxen Tradition im osmanischen Reich oder zum Verhältnis serbischer und rumänischer Orthodoxer im Südosten der Habsburgermonarchie sind

Venedig und seine Orthodoxen in der Frühen Neuzeit

59

mitzudenken, können hier aber aus Platzgründen nicht ausbuchstabiert werden. In den griechischen Besitzungen sah sich Venedig seit dem Mittelalter einer vollausgebildeten Gesellschaft mit fallweise starken einheimischen Eliten (so auf Kreta) gegenüber, überall aber mit gefestigten Gesellschaftsstrukturen, einer alten byzantinischen Kulturtradition und einer kirchlichen Hierarchie, die trotz aller Beschränkungen festen Bestand hatte. Ganz anders in Dalmatien: Die orthodoxen Vlachen waren Hirtenkrieger, deren Eliten aus Woiwoden und einigen Popen bestanden und deren Wirtschaftsweise auf die Transhumanz und nach der Sesshaftwerdung auf einfache Subsistenzlandwirtschaft beschränkt war. Dafür war die politische Loyalität zu Venedig viel größer als bei den Griechen, denn die vlachischen Hirtenkämpfer waren auf die Seite Venedigs übergetreten, um die osmanischen Bosnier zu bekämpfen. Die erfolgreichen Offensiven Venedigs in Dalmatien zwischen 1645 und 1718 wären ohne die Vlachen kaum vorstellbar gewesen. Diese wurden im von den Osmanen geräumten dünnbewohnten Kontinentaldalmatien angesiedelt, wo eine venezianische Variante der Militärgrenze entstand. Die venezianischen Vlachen sind also mit der habsburgischen Militärgrenze und den habsburgischen Vlachen zu vergleichen. Eine solche militarisierte orthodoxe Landbevölkerung fehlte im griechischen Staatsteil, da die Bauernmilizen etwa auf Kreta nie den Status und die Bedeutung der Vlachen in Dalmatien erlangten. Um 1700 stellte sich für Venedig die Frage, wie die neu eroberten orthodox geprägten Gebiete (Morea, Kontinentaldalmatien) kirchenpolitisch organisiert werden sollten. In Dalmatien erhoben die Vlachen den Anspruch auf eine eigene Kirchenorganisation: Sie hatten den habsburgischen Metropoliten von Karlowitz vor Augen. Venedig antwortete im Gefühl militärischer Stärke mit der Forcierung der Kirchenunion und der Erzwingung katholischer Glaubensbekenntnisse orthodoxer Hierarchen. Versuche der vlachischen Orthodoxen, eigene Bischöfe einzusetzen, wurden bis 1760 wiederholt durch staatliche Eingriffe verhindert, und bis 1797 unterband Venedig die Einrichtung einer slawisch-orthodoxen Kirchenprovinz. Um den slawischen Charakter Dalmatiens kümmerte sich vielmehr die regionale katholische Kirche, die unter Rückgriff auf kirchenslawisch-glagolitische Traditionen versuchte, Dalmatien zum Ausgangspunkt einer Katholisierung orthodoxer Slawen auszubauen. Die vlachischen Orthodoxen entzogen sich sowohl der klassischen Unionspolitik als auch dem Appell an gemeinslawische Traditionen; eine eigene Hierarchie blieb ihnen jedoch verwehrt. Venedig aber vergab damit die Möglichkeit, analog dem Karlowitzer Modell in der Habsburgermonarchie, also einer eigenen Kirchenprovinz serbischer Tradition unter einem eigenen Metropoliten, Anziehungskraft auf die slawischen Orthodoxen im osmanischen Reich auszuüben. Die Vlachen wehrten sich mehrfach, auch mit Waffengewalt, gegen Unions- und Katholisierungsversuche. Venedig seinerseits entwickelte keine einheitliche Linie zwischen den

60

Oliver Jens Schmitt

Forderungen der regionalen katholischen Kirche Dalmatiens, die die Katholisierung der Orthodoxen anstrebte, und den Orthodoxen, die eine eigene orthodoxe Kirchenhierarchie verlangten. Immerhin aber gelang die Stabilisierung venezianischer Herrschaft – im Gegensatz zur Morea, wo die katholisierende Konfessionspolitik viele griechische Orthodoxe vor den Kopf stieß und neben anderen Fehlgriffen der Verwaltung zum raschen Zusammenbruch der venezianischen Herrschaft beim Anmarsch osmanischer Heere (1714) führte. Mehr als einen knappen Aufriss einer Forschungsfrage kann dieser Essay nicht bieten. Es dürfte aber klar geworden sein, wo die Orthodoxien des venezianischen Südosteuropa Potential für vergleichende Arbeiten bieten. Die Adelsrepublik verfolgte ab 1577, auch als Reaktion auf das Desaster von 1570/71 (Verlust Zyperns, Illoyalität eines Teils der orthodoxen Untertanen), das Modell einer orthodoxen Staatskirche mit Zentrum in Venedig. Die Konfessionspolitik war stark von politisch-militärischen Gemengelagen abhängig und alles andere als geradlinig. Die Stellung der Orthodoxien wurde bedingt durch Art und Weise sowie Zeitpunkt einer Gebietserwerbung; zwischen Einrichtung einer katholischen Hierarchie für Orthodoxe und Beibehaltung des hohen orthodoxen Klerus sind im griechischen Staatsteil mehrere konfessionspolitische Modelle zu beobachten. Der lange Zeitraum der venezianischen Herrschaft verbietet jedoch zu verallgemeinernde Aussagen. Eine Konstante ist dennoch zu beobachten: Venedig lehnte eine Kontrolle sowohl der katholischen wie der orthodoxen Kirche auf seinem Territorium durch das Papsttum ab, das im Falle der Orthodoxen auf die Kirchenunion von 1439 verwies. Dies bedeutet aber nicht, dass die katholische Kirche als einheitlicher Akteur auftrat; zum einen ist zu unterscheiden zwischen der Kurie und der Hierarchie im venezianischen Staat, zum anderen zwischen letzterer und den Kirchenfürsten in Übersee, bei denen wiederum zwischen einheimischen und venezianischen Klerikern: Im 18. Jahrhundert vertraten venezianischstämmige Kirchenfürsten auf den ionischen Inseln den Orthodoxen gegenüber eine überwiegend irenische Politik, während fast zeitgleich slawischstämmige katholische Kirchenfürsten in Dalmatien die Orthodoxen katholisieren wollten. Die unterschiedlichen kulturellen Prägungen des hohen katholischen Klerus (fremd auf Korfu, einheimisch in Dalmatien) machten hier einen entscheidenden Unterschied aus. Diese Beispiele zeigen auch, dass innerhalb der katholischen Kirche auf venezianischem Gebiet durchaus Spielraum für regionale Akteure bestand. Die staatlichen Behörden selbst waren an Loyalität interessiert und darauf bedacht, konkurrierende Institutionen, die sich der staatlichen Kontrolle entzogen, zu verhindern. Daher auch die Kirchenpolitik des 18. Jahrhunderts, die den Vlachen keine Bischöfe zugestand und die Orthodoxie der Morea vom Patriarchat von Konstantinopel abtrennen wollte. Lediglich anzudeuten ist an dieser Stelle, dass die venezianische Kirchenpolitik nur im Spannungsverhältnis der Serenissima

Venedig und seine Orthodoxen in der Frühen Neuzeit

61

zur römischen Kurie und der (imperialen) Konkurrenz zu Osmanen, Habsburgern und ab dem frühen 18. Jahrhundert auch den Romanovs zu verstehen ist – das russische Werben um die Balkanorthodoxen ab Peter I. musste Venedig in sein konfessionspolitisches Kalkül miteinbeziehen. Die Herausforderung einer doppelten Orthodoxie mit grundlegenden Strukturunterschieden gehört zu den reizvollsten Gegenständen eines imperialen Vergleichs: Venedig, das Habsburger und das Osmanische Reich hatten sich ihr zu stellen, und in einer mehrheitlich orthodoxen Region wie Südosteuropa hing imperialer Erfolg nicht zuletzt von der Fähigkeit ab, regionale orthodoxe Mehrheiten an sich zu binden. Die venezianischen Lösungsansätze haben sich von 1204 bis 1797 stark gewandelt; der Übergang vieler Orthodoxer auf die osmanische Seite (Zypern 1570, Kreta 1645) zeigt die Grenzen venezianischer Steuerungsmöglichkeiten deutlich auf. Die scheinbar größere Stabilität in Dalmatien ist letztlich wohl weniger gelungener Integration zu verdanken als vielmehr der Tatsache, dass nach 1718 die bosnische Grenze ruhig blieb.

Literatur Oliver Jens Schmitt, Die venezianische Herrschaft in Südosteuropa (15.–18. Jahrhundert). In: Oliver Jens Schmitt (Hg.), Handbuch zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 2. Herrschaft und Politik in Südosteuropa von 1300 bis 1800. Berlin/Boston 2021, 385–463.

Gabriella Hauch

Reisen zur Russischen Revolution: 1920ff.

»Überall rote Fahnen! Überall der Klang der Internationale« – enthusiastisch berichtete die 20-jährige Hilde Kramer über ihre Ankunft in Moskau im August 1920. Mit vielen anderen, vor allem jungen Akteur:innen aus 37 Ländern nahm sie, die in der Münchner Räterepublik eine zentrale Position inne gehabt hatte, am zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) teil.1 Dieser eigentliche ›Gründungskongress‹ hatte neben den komplexen Fragestellungen, wie und wo das Projekt »Weltrevolution« am effektivsten vorangetrieben werden könnte, zwei soziopolitische Aufgaben: Die Anwesenheit der ausländischen Delegiert:innen sowie die Massenfeste für den Kongress sollten der Bevölkerung vor Ort die lebendige internationale Solidarität vor Augen führen; und, vice versa, sollten die Teilnehmenden aus Europa, Nord- und Südamerika, Asien und Australien als Boschafter:innen für Sowjetrussland in ihren jeweiligen Heimaten fungieren. Die Figur der Augenzeug:in spielte eine wichtige Rolle in der Konstruktion der frühen Sowjetunion-Narrative. Die scheinbar authentischen Zeitzeug:innenberichte westlicher Künstler:innen und Intellektueller breiteten weit über das Milieu der organisierten Kommunist:innen hinaus die Projektionsfläche »Sowjetrussland« auf, dessen Strahlkraft nach den Gräuel des Ersten Weltkriegs unbestritten war. Die frühen Jahre eröffneten (noch) ein breites Spektrum an Entwicklungslinien für den jungen Staat und die ihn stützende Bewegung. Jedoch begann gleichzeitig mit dem Zuschnitt der Komintern auf das Modell der leninistischen Avantgarde-Partei nicht nur eine erneute Spaltung der Arbeiter:innenbewegung, sondern auch die Desavouierung von Sozialismus und Kommunismus als Symbole für Autoritarismus, Unterdrückung und Misswirtschaft. Dies sind im Nachhinein gemachte Befunde. Die Visionen der damaligen Aktivist:innen betreffend die »unerfüllte Zukunft«, die als »mögliche Gegenwart, nie gegenwärtig werden konnte«, sind ernst zu nehmen.2 Allerdings kratzten 1 Kramer, Rebellin. 2 adamczak, GESTERN MORGEN, 115.

64

Gabriella Hauch

bereits die Reiseberichte Anfang der 1920er Jahre an der glatten Projektionsfläche. Neben den Optimist:innen, die die Missstände mit Bürgerkrieg oder zu korrigierenden »asiatischen« Zuständen rechtfertigten, hinterfragten etliche ausländische Delegierte das Fortschritts-Narrativ des neuen Staates, thematisierten Apathie, Arbeitsbummelei sowie Diebstähle und zeigten sich ob der Ungleichbehandlung ernüchtert: Wer nicht zu denjenigen zählte, die zu Hundert-Prozent-Anhänger:innen des (sowjetischen) Komintern-Modells waren, musste mitunter die Privilegien der Kongressteilnehmenden entbehren. Nichtsdestotrotz, der neue Staat bewegte weltweit. Sowjetrussland galt als »faszinierendstes Land des Nachkriegs«, »fanatisch befeindet und enthusiastisch bewundert«, befand der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig.3 Ein Ort der Utopie einer Welt, die sich klar vom Kapitalismus unterschied. »Ich möchte nach Russland […] und dieses Milieu verlassen in das ich nicht gehöre«, notierte etwa die junge Schweizer Ärztin Anna Guggenbühl während ihrer Analyse bei Sigmund Freud im Frühjahr 1921 in ihr Tagebuch.4 Ihre Gefühlslage teilten Tausende, vor allem Junge auf der ganzen Welt. Seit 1917 brachten internationale Zeitungen Berichte über »das neue Russland«. Positive – etwa des ersten MoskauKorrespondenten der Frankfurter Zeitung Alfons Paquet – erschienen neben kritischen Positionen zur politischen und kulturellen Entwicklung auch im linken Milieu – etwa die Reiseberichte des Schweizer Sexualreformers Fritz Brubpacher in der Zeitschrift Die Aktion.5 Die Ambivalenzen suchte der deutsche Grafiker George Grosz nach einer mehrmonatigen Russlandreise 1922 zu fassen: »Ich war nicht enttäuscht, aber auch nicht gerade erfreut über all das, was ich gesehen habe.«6 Die Basis der Begeisterung bildete die Gesetzgebung. Als Parameter fungierten Gerechtigkeit und das Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen – das galt insbesondere für die Geschlechterverhältnisse. Das patriarchale Familiengesetz war perdu, Eheschließung und Scheidung wurden zur Formalität, registrierte und unregistrierte Ehen und damit auch (un-)eheliche Kinder gleichgestellt, der Kampf gegen die Prostitution, aber nicht die Prostituierten eingeleitet, Sexualverkehr unter Erwachsenen zur Privatangelegenheit erklärt sowie die Fristenlösung eingeführt. Maßnahmen zur Kollektivierung der Hausarbeit, die Schaffung von Kinderkrippen und viele frauenspezifische Erleichterungen am Arbeitsplatz galten international in linken und liberalen Milieus als Marksteine auf dem Weg in Richtung Geschlechtergerechtigkeit. Besonders faszinierten Alexandra Kollontais Thesen zur sexuellen Moral. Auch im kultu3 4 5 6

Zweig, Die Welt von Gestern, 237. Fallend, »Prof. Freud fordert Toleranz!«, 139. Furler, Augen-Schein, 106–113; Brupbacher, Bericht. Grosz, Ein kleines JA, 209.

Reisen zur Russischen Revolution: 1920ff.

65

rellen Bereich schien alles möglich. Wsewolod Meyerholds Theaterprojekte oder Arsenji Avraamovs Konzert der Fabriksirenen und Dampfpfeifen zeugten ebenso davon, wie die experimentelle Tanzschule von Isadora Duncan oder das von den Ideen der Psychoanalyse inspirierte Kinderheim von Vera Schmidt. Dahinter schienen der Rote Terror, existenzieller Hunger und die unzähligen obdachlosen (Straßen-)Kinder als vorübergehende Folgen im Überlebenskampf der Revolution zu verblassen, ebenso wie die Niederschlagung des Aufstandes der Matrosen von Kronstadt im März 1921, in dem die einstige Elite der Revolution das Ende der Einparteienherrschaft gefordert hatte. Zu verführerisch waren die Berichte vom Paradigma des »Sein-im-Werden« das Urteile von vorneherein obsolet machte: In dieser neuen Gesellschaftsordnung ändere sich alles so schnell, dass das Gestrige heute nicht mehr zutreffe. Sowjetrussland bzw. ab 1922 die Sowjetunion lockte als strahlende Projektionsfläche »Wahlheimat«. Isa und Josef Strasser, die Anfang 1923 auf Einladung von Karl Radek nach Moskau kamen, hatten bereits andere Erfahrungen im kommunistischen Milieu gemacht. Aufgrund ihrer Opposition gegen den wachsenden Autoritarismus in der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) waren sie ins politische Abseits und, damit verbunden, in existenzielle Not geraten.7 Die Strassers stehen im Zentrum meines aktuellen Forschungsprojektes zur Geschichte der österreichischen Linken im europäischen Kontext, das den Rahmen für meine Beschäftigung mit Augenzeug:innen-Berichten zur frühen Sowjetunion bildet. Beide brachten »eine gehörige Portion Skepsis« mit, die sie den Erfahrungen von Angelica Balabanoff verdankten. Die Gründungssekretärin der Komintern hatte Ende 1920, aufgrund von Intrigen und der Einschätzung, dass die moskauzentrierte Kominternpolitik für die revolutionären Bewegungen der Welt »verhängnisvoll« sei, diese mächtige Position aufgegeben. Erst nach einigem Hin und Her wurde der 42-Jährigen – deren Bildnis neben Lenin und Trotzki die Amtsstuben geschmückt hatte – schließlich die Ausreise gestattet. Seit Mai 1922 wohnte Balabanoff mit »Staatsbürgerschaft Österreich« in Wien und war Teil des intellektuellen kommunistischen Milieus, zu dem auch die Strassers zählten.8 So kritisch sich Balabanoff mit der Komintern und der Entwicklung der Sowjetunion auseinandersetzte, auch für sie blieben die frauenpolitischen Initiativen positiv. Damit positionierte sie sich in der Traditionslinie der Arbeiter: innenbewegung, die die Geschlechterverhältnisse als entscheidenden Parameter für den Zustand einer Gesellschaft setzte: »Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation« (Charles Fourier). 7 Josef (1870–1935) war Chefredakteur des Zentralorgans Rote Fahne gewesen, Isa (1891–1970) suchte mit einem Montessori-Kindergarten die vierköpfige Familie zu ernähren. Die Kinder verblieben bei der Großmutter in Jena. 8 Balabanoff, Erinnerungen, 264–285; Wiener Stadt- und Landesarchiv, MA 8, Meldedaten – B– MEW–13304–2020.

66

Gabriella Hauch

Der Wandel bzw. die Persistenz in diesem sensiblen Bereich interessierte zeitgenössisch auch Leo Trotzki, damals noch unumstrittene Führungsfigur Sowjetrusslands. Einige Monate nachdem Isa und Josef Strasser ihr Zimmer im Hotel Lux in Moskau bezogen hatten, erschienen im Juli 1923 die von ihm herausgegebenen und analysierten Ergebnisse der Massenbefragung darüber, wie sich fünf Jahre nach der Revolution das Alltagsleben gestaltete. Die Conclusio war ernüchternd: »Die Politik ist elastisch, das Alltagsleben aber ist unbeweglich und widerspenstig«.9 Die Ambivalenzen zwischen neuem »Bewusstsein« und persistenter »Tradition« hinsichtlich der Geschlechterbeziehungen, wie sie Trotzki auf Basis der Untersuchung feststellte, beobachtete auch der österreichische Schriftsteller Joseph Roth, der 1926 vier Monate als Korrespondent der Frankfurter Zeitung Russland bereiste. Über Roths Aufenthalt ist vor allem die Bemerkung Walter Benjamins überliefert – die beiden trafen sich in Moskau: »Er ist (beinah) als überzeugter Bolschewist nach Russland gekommen und verläßt es als Royalist«.10 Roths Artikel sind literarische Kostbarkeiten, die revolutionäres Pathos dekonstruieren. Auch ihn trieb die »Stellung der Frau« um: »Viel revolutionärer als die Sitte ist das Gesetz«. Dass die »moderne russische Frau« zu einer »braven sozialen Funktion«, zu einem »Neutrum« gemacht würde, bedauerte Roth. Enttäuscht über die fehlende Transformation nach seiner Fasson formulierte er: »Es ist reaktionär, sie nur frei zu machen – es wäre revolutionär, sie frei und schön zu machen«. Für die Pflege von Schönheit blieb in der jungen Sowjetunion kein Platz. Es war nicht nur Roths Jammer über die »moderne russische Frau«, die gleich dem ganzen Land, »industrialisiert, zivilisiert [und] amerikanisiert« würde.11 Auch die politischen Daumenschrauben zogen seit dem Tod Lenins 1924 an. Von steigendem Misstrauen und wachsender Kontrolle zeigten sich auch die Strassers betroffen. Josef, der als Redakteur der Komintern-Zeitschrift Die Kommunistische Internationale nach Moskau engagiert worden war, beendete seinen Russischunterricht mit Sarkasmus: Wenn er nicht russisch könnte, müsste er in der Parteizelle nicht für Stalin stimmen. Diese Haltung kombiniert mit Witzen über den Komintern-Vorsitzenden Sinowjew degradierten ihn zum Korrektor der Zeitschrift. Während Josef »politisch […] scheintot« wurde, arbeitete Isa Strasser in der Sozialwissenschaftlichen Abteilung der Roten Gewerkschaftsinternationale (Profintern).12 Sie verfasste unter anderem zwei Bro9 Trotzki, Fragen, 36. 10 Benjamin, Moskauer Tagebuch, 43. 11 Joseph Roth, Die Frau, die neue Geschlechtsmoral und die Prostitution (1. 12. 1926). In: Roth, Reise nach Rußland, 181–187; Ders., Die russische Frau von heute (19. 12. 1926). In: Ebd., 200– 204. 12 Hauch, Welcher Weg, 146.

Reisen zur Russischen Revolution: 1920ff.

67

schüren, Arbeiterin und Gewerkschaft (1924) und Frauenarbeit und Rationalisierung (1927), wobei ihre explizite Verschränkung der Kategorien Klasse und Geschlecht mit Ethnizität und Nation bzw. Religion sie – in heutiger Lesart – zu einer Pionierin des Ansatzes der Intersektionalität machte. Ende 1927 wurde Josef Strasser durch die KPÖ »angefordert«, das hieß »nach Wien heimzukehren« und »erlöst« aufzuatmen.13 Leo Trotzki, den die Strassers seit dessen Wiener Zeit kannten, war bereits aus der KPDSU ausgeschlossen. Die Durchflutung des Lebens mit Autorität, Kontrolle und wachsender Angst reflektierte Isa in ihrem 1970 erschienen Roman Land ohne Schlaf. Dabei handelt es sich um eine andere Art von »Rückkehr-Literatur«14, denn wie Isa Strasser erlebte etwa auch Angelica Balabanoff ihre Ausreise als Befreiung: Es fühlte sich wie »Flitterwochen« mit einem »unabhängigen Sozialismus« an, frei von der Verpflichtung, ungeliebten politischen Vorgaben folgen zu müssen.15 Im Gegensatz dazu führte der organisierte Revolutionstourismus nach der Machtkonsolidierung Josef Stalins und die Durchsetzung des Dogmas vom »Sozialismus in einem Land« zur massenhaften Reproduktion des Narratives, die Sowjetunion sei das »Paradies der Werktätigen«, in den Berichten internationaler Arbeiter:innendelegationen sowie prominenter Westeuropäer:innen und USAmerikaner:innen. Die sorgfältigen Inszenierungen hinterfragten im linken Milieu der Prominenz nur einsam gebliebene Stimmen wie die von Andre Gide.16 Die Drohkulisse von Faschismus und Nationalsozialismus in Europa scheint ma¨ chtiger gewesen zu sein, als dass bei den Vielen statt der positiven Projektion »Wahlheimat« ein kritisches »Sagen-was-ist« Platz gegriffen hätte. So re/produzierten sie die Transformation des Projektes »Kommunismus« zur »Religion« (Michail Ryklin) – trotz des großen Terrors und der Schauprozesse.

Quellen Wiener Stadt- und Landesarchiv, MA 8, Meldedaten – B–MEW–13304–2020.

Literatur bini adamczak, GESTERN MORGEN über die einsamkeit kommunistischer gespenster und die rekonstruktion der zukunft, Münster 2015. Angelica Balabanoff, Erinnerungen und Erlebnisse. Berlin 1927. 13 14 15 16

Hauch, Welcher Weg, 146. Derrida, Rückkehr, 20. Balabanoff, Erinnerungen, 270. Gide, Zurück aus Sowjet-Russland; Ders., Retuschen.

68

Gabriella Hauch

Walter Benjamin, Moskauer Tagebuch (1926/27). Frankfurt/Main 1980. Fritz Brupbacher, Bericht über meine Russlandreise. In: Die Aktion 17/18 (1922), 233–236. Jaques Derrida, Rückkehr aus Moskau (1995), Wien 2005. Karl Fallend, Wilhelm Reich in Wien. Wien/Salzburg 1988. Karl Fallend, »Prof. Freud fordert Toleranz!« Und: Gedankenstriche, die Couch und Politik bewegten. In: Anna Koellreuter (Hg.), »Wie benimmt sich der Prof. Freud eigentlich?« Ein neu entdecktes Tagebuch von 1921 historisch und analytisch kommentiert. Gießen 2009, 131–144. Charles Fourier, Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen. Aus d. Französischen Gertrud von Holzhausen, hg. von Theodor W. Adorno u. Elisabeth Lenk. Frankfurt/Main 1966. Bernhard Furler, Augen-Schein. Deutschsprachige Reisereportagen über Sowjetrußland 1917–1939. Frankfurt/Main 1987. Andre Gide, Zurück aus Sowjet-Russland (1936). Zürich 1937. Andre Gide, Retuschen zu meinem Russlandbuch. Zürich 1937. George Grosz, Ein kleines JA und ein großes NEIN. Sein Leben von ihm selbst erzählt (1946). Frankfurt/Main 2009. Gabriella Hauch: »Es ist notwendig, dass klar und offen gesprochen wird.« Josef Strasser (1870–1935), ein demokratischer Kommunist in Österreich. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2018), 61–78. Gabriella Hauch, »Welcher Weg ist einzuschlagen…?« Spurensuche nach Isa Strasser, geb. von Schwartzkoppen (1891–1970). In: Lucile Dreidemy u. a. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte. Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert. Wien 2015, 137–149. Gabriella Hauch, Isa Strasser, Land ohne Schlaf (1970). Ein autobiografischer Roman über das Leben in Moskau in den 1920er-Jahren. In: Lisia Bürgi/Eva Keller (Hg.), Ausgeschlossen einflussreich. Handlungsspielräume an den Rändern etablierter Machtstrukturen. Basel 2020, 105–120. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995. Hilde Kramer, Rebellin in München, Moskau und Berlin. Autobiographisches Fragment 1900–1924. Berlin 2011. Joseph Roth, Reise nach Rußland. Feuilletons, Reportagen, Tagebuchnotizen 1919–1930. Hg. von Klaus Westermann. Köln 1995. Michail Ryklin, Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution. Frankfurt/Main/Leipzig 2008. Anna Sator, Konstruktionen von Geschlecht und Kultur in deutschsprachigen Reiseberichten über die frühe Sowjetunion. Berlin 2020. Brigitte Studer, Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale. Berlin 2020. Enzo Traverso, Linke Melancholie. Über die Stärke einer verborgenen Tradition. Münster 2019. Leo Trotzki, Fragen des Alltagslebens (1923). Köln 1977. Alexander Vatlin, Das Jahr 1920. Der zweite Kongress der Kommunistischen Internationale. Berlin 2019. Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (1942). Frankfurt/Main 1973.

Anja Burghardt

Revolution und Religion in Boris Pasternaks Roman Doktor Shiwago

In Boris Pasternaks Roman Doktor Shiwago (orig. Doktor Zˇivago) erinnert sich der Protagonist an den Sommer 1917, »… als die Revolution noch der vom Himmel auf die Erde herabgestiegene Gott war…« (622). Seine Einstellung gegenüber der Revolution verändert sich im Lauf des Romans. Es mag durchaus verwundern, dass Pasternak Doktor Shiwago, eine religiös aufgewachsene Figur, überhaupt mit einer solch positiven Haltung gegenüber der Oktoberrevolution versieht, denn Kommunismus und Religion lassen sich kaum miteinander vereinbaren. Robert Gernhardt hat die Unvereinbarkeit von Kommunismus und Religion in seiner Zeichnung »Jubiläum 1: 50 Jahre Oktober-Revolution« pointiert:

Abb.: Gernhardt, Vom Schönen, 304. Bildunterschrift: »Tut mir leid, Mütterchen, aber mit diesem Transparent könnt ihr unmöglich am Umzug teilnehmen!«.

70

Anja Burghardt

In Gernhardts satirischer Zeichnung lässt sich ein Moment herausstreichen, das in Pasternaks Roman eine wichtige Rolle für die Einstellung gegenüber der Revolution spielt, und zwar die Individualität einer Person, die eng mit Menschlichkeit verknüpft wird. So sind in Gernhardts Bild für die Frauen im Vordergrund individuelle Gesichtszüge angedeutet. Nicht nur mit ihrem auf dem Plakat formulierten Dank an die Schutzheilige, sondern auch mit Kreuz und Ikone scheinen sie in ihrer Volksfrömmigkeit als Gegenpol zum Rest des Feierzuges, dessen Gestalten – wahlweise männlich oder geschlechtlos, was die Differenz unterstreicht – nur schemenhaft erkennbar sind. Dass für Religion seit der Revolution kein Platz war, war in der UdSSR bald klar; zugleich lässt sich Glaube freilich nicht kurzerhand ›ausradieren‹, was Boris Pasternak in seinem Roman Doktor Shiwago v. a. über das Denken verschiedener Figuren veranschaulicht. Im Mittelpunkt meiner weiteren Überlegungen steht die besondere Spielart von Transzendenz, die in Pasternaks Roman angelegt ist und aufgrund deren Charakteristika die neue sozialistische Gesellschaft dem Heiligen nicht entgegensteht, sondern vielmehr das Potenzial zur Verwirklichung von Lebendigkeit und von neuen Lebensweisen für die Menschen in sich birgt. Bei der Zusammenführung von Religion und Revolution in dem Roman handelt es sich also nicht um einen Synkretismus mit einer Verbindung verschiedener Praktiken aus den Bereichen des Profanen und Religiösen. Vielmehr liegt die Engführung von Heiligem und Revolution in einer besonderen Vorstellung beider Phänomene begründet, die eng mit der Auffassung des menschlichen Lebens verbunden ist. Gegenstand der folgenden Ausführungen sind Pasternaks literarische Verfahren sowie die erzählte Welt des Romans Doktor Shiwago, nicht die Haltung des Autors gegenüber der Sowjetunion allgemein, ganz zu schweigen von den historischen Gegebenheiten, weder der Jahre 1903 bis 1929 noch der Entstehungszeit des Romans, von 1945 bis 1955, an die der mit Epilog betitelte letzte narrative Teil heranreicht.

Lebendigkeit als Glücksversprechen und die Revolution Eine Opposition, die den Roman durchzieht, liegt in der Starrheit von Ideologien und festen Formen, gegenüber der – fraglos positiv konnotierten – Lebendigkeit und Wandelbarkeit. Religion lässt sich hier nicht klar zuordnen; die Kirche erscheint im Roman jedenfalls nicht als Bestandteil eines Systems der Unterdrückung des ›einfachen Volkes‹ im zarischen Russland. Gegenüber der Revolution dagegen müssen sich die vielen Figuren positionieren, und in dieser Opposition gibt es ein breites Spektrum. Das wird beispielsweise über Laras Ehemann Pawel Antipow, der unter dem Pseudonym Strelnikow für die Roten kämpft, deutlich: Lara liebt ihn bedingungslos und Shiwago schätzt ihn aller Verwüstung zum

Revolution und Religion in Boris Pasternaks Roman Doktor Shiwago

71

Trotz. Im Fall von Juri Shiwago lässt sich der Bruch zwischen der als Erlösung, Befreiung und Möglichkeit zu Neuem gedachten Revolution einerseits und einer Ablehnung des revolutionären Zustandes einer fortdauernden Übergangszeit andererseits an einzelnen Stellen im Roman festmachen. In seiner zwiespältigen Haltung gegenüber der Revolution, in der eine Vorahnung düsterer Zeiten mitschwingt, zeichnet sich die Nähe der Revolution zum Göttlichen ab. Er sieht sie als etwas »wahrhaft Großes« (248), also als etwas, das keinen Anfang und kein Ende hat. Dieses Ereignis der Revolution sei mitten in den Alltag eingebrochen, ohne dass das Vorangegangene zu einem Ende gebracht worden wäre, worin »das Genialste« (266) liege, dieses »Niedagewesene, dieses Wunder der Geschichte, diese Offenbarung« (ibid., meine Hervorhebung), wie Shiwago die Revolution zunächst charakterisiert. Die Möglichkeiten zur Entfaltung individueller wie kollektiver Neuerung sind wesentliche Aspekte in Shiwagos Begeisterung für die Revolution: Auf der Zugfahrt nach Moskau nach Kriegsende kreisen seine Gedanken um das Neue. Er stellt der Revolution von 1905 und der Kunst und Ideenwelt der Jahre von 1912 bis 1914 die Kriegserfahrung und die Revolution gegenüber, »die jetzige, aus dem Krieg hervorgegangene, blutrünstige, auf nichts Rücksicht nehmende Soldatenrevolution, gelenkt von […] den Bolschwiken« (219). Indem diese in seinen Gedanken mit Lara Antipowa, die nicht zu lieben er sich redlich bemüht (was nur bedingt glückt), verbunden ist, haftet der Revolution dennoch ein Reiz an. Shiwago lehnt die Brutalität der Partisanen und ihrer Ideen ab. Begründet er bereits in Jurjatin seine wachsende Ablehnung der Revolution damit, dass sich die »Inspiratoren der Revolution« in Utopien und einem »Aufbau von Welten, Übergangsperioden« als »Selbstzweck« (407) verlieren, stößt er sich bei den Partisanen – wie Pasternak im Roman die auf der Seite der Roten kämpfenden irregulären Kombattanten bezeichnet – sowohl an deren Vorstellung von einer »Umgestaltung des Lebens« (462), die er für eine Missachtung von Lebendigkeit hält, als auch an ihren Formen der Verherrlichung: Dem eingangs zitierten Bild der Revolution als auf die Erde gekommener Gott stellt Pasternak die »von der Revolution zu Göttern erhoben[en] […] schweigsame[n], strenge[n] Götzenbilder, denen der politische Hochmut alles Lebendige, Menschliche genommen hatte« (436) entgegen. Shiwagos veränderte Einstellung gegenüber der Revolution, aber auch die Veränderung der Welt seither, tritt in zwei einander parallel gestalteten Szenen hervor, in denen der Arzt über der Stimmung des abendlichen Lichts eine alles durchdringende Kraft verspürt. Das damit verbundene Gefühl von Glück findet er im Ort Meljusejew nach der mit Freiheit assoziierten Revolution ebenso wie bei den Partisanen, wo der »vom Feuer des Sonnenuntergangs durchleuchtete[ ] abendliche[ ] Wald« ihn als ein »Urbild« seiner Jugend regelrecht beflügelt (470). Das Schicksal der Kühe in den beiden Szenen verdeutlicht dabei den Wandel von

72

Anja Burghardt

Mitgefühl zu Unmenschlichkeit, der sich in der Zeit zwischen der Revolution und dem Bürgerkrieg vollzogen hat. Bei den Partisanen spiegelt sich das Elend der Menschen im Verhalten der Tiere, die der unerträglichen Enge vergeblich zu entfliehen versuchen und darüber fast wahnsinnig werden. Dem gegenüber gestellt ist eine frühere Szene aus Meljusejew, bei der Shiwago das mit der Revolution verbundene Glück erlebt: Eine neu erworbene Kuh will zu ihrer alten Herde zurück und verweigert das Futter; die Bäuerin redet ihr vergeblich zu. Hinter den schwarzen Schuppen von Meljusejew blinkten die Sterne, und von ihnen zogen sich zur Kuh Fäden unsichtbaren Mitgefühls, als wären sie Viehhöfe anderer Welten, die sie bedauerten. Alles ringsum gärte, wuchs, quoll auf von der Zauberhefe des Daseins. Entzücken am Leben ging wie ein sanfter Wind in breiter Welle ziellos über die Erde und die Stadt hin, ging durch Wände und Zäune, durch das Holz der Bäume und die Körper der Menschen und ließ auf seinem Weg alles erbeben. (191f.)

Pasternak belässt in den erzählerischen Verfahren diesen Eindruck nicht im Erleben seines Protagonisten, sondern gestaltet ihn als eine Atmosphäre, die – zumindest für kurze Zeit – alles bestimmt. Hier klingt auch die Brücke zwischen Revolution und Transzendenz als einer alles durchdringenden höheren Kraft an, wie sie im Roman entworfen wird. Ein Moment darin ist die Engführung von Natur und Menschheit, die besonders im dritten der am Ende des Romans versammelten Gedichte, »Karfreitag«, hervortritt: Die noch kahlen Bäume und das Anbrechen des nächsten Tages mit dem Osterzug sind durchzogen von biblischer Motivik und werden zu einem Bild des herannahenden Frühlings, und darüber vermittelt der bevorstehenden Auferstehung, die so zugleich ins menschliche Erleben gewendet wird.

Das Religiöse als »Strom des Lebens« In dem Roman ist das Religiöse einerseits in einer universalen Interdependenz in der Welt gegeben, das über das menschliche Begreifen hinausreicht. Andererseits wird über das – zunächst für Shiwagos Onkel Wedenjapin ausformulierte – Weltbild eine Wendung der Religion ins Alltägliche und ins (Er-)Leben deutlich. Das spiegelt sich zum Beispiel in der Auffassung von Unsterblichkeit in dessen mit einer Neukonzeption der Religion verbundenen Weltverständnis, das die Geschichte als ein von Menschen geschaffenes zweites Universum entwirft. Pasternak gestaltet die Figur Shiwagos derart, dass sie beide Aspekte der Unsterblichkeit erfüllt, und zwar ein eng mit lebendigem Gedenken verbundenes Weiterleben in den eigenen Kindern; die Arbeit als das Hinausreichende wird für Shiwago u. a. über die Büchlein mit seinen Gedichten und anderen Texten ge-

Revolution und Religion in Boris Pasternaks Roman Doktor Shiwago

73

geben: Seine Jugendfreunde Mischa Gordon und Nika Dudorow lesen sie Jahre später, wobei sie die Zukunft zu spüren vermeinen, als sie mit einem »glückliche[n], gerührte[n] Beruhigtsein« (710) am Fenster sitzen und in die Stadt Moskau hinaussehen. Die Züge von Transzendenz erscheinen gleichsam als eine Gewissheit vom Heiligen, wie sie auch der elfjährige Mischa Gordon während einer Zugfahrt empfindet: Den Sorgen der Menschen liege letztlich eine tief verwurzelte Sorglosigkeit zugrunde, was der Junge damit in Verbindung bringt, dass alle Bewegungen von dem »allgemeinen Strom des Lebens« (20) vereint werden. Wesentlich für die Zuversicht ist die Gewissheit, dass es über die Erde hinaus eine weitere Ebene gebe, »was die einen das Reich Gottes, die anderen Geschichte und dritte noch anders nennen« (21).1 Im Roman ist eine Spielart des alles durchdringenden Zusammenhangs der Eindruck von Schicksalslinien. Er ergibt sich u. a. aus den Wiederbegegnungen einzelner Figuren im Geflecht an Handlungslinien, insbesondere von Lara Antipowa und Juri Shiwago, was sich lange vor ihrer ersten Begegnung abzeichnet (nämlich auf ihrem jeweiligen Weg durch das nächtliche Moskau zur Weihnachtsfeier der Swentizkis). Ihre Liebe, Teil derer stets neue Erkenntnisse über sich und das Leben sind, wird als Selbstverständlichkeit geschildert, die sich gleichsam in die Welt einfügt: »Ihre Liebe gefiel ihrer Umgebung vielleicht noch mehr als ihnen selbst: die Erde unter ihnen, der Himmel über ihnen, die Wolken, die Bäume.« (686) Die unermessliche Schönheit der Welt und – wie bereits angedeutet – eine Lebendigkeit des situativen Handelns spielt für beide eine wichtige Rolle. Beiläufigkeit und Einfachheit sind wesentliche Aspekte für Lebendigkeit, was etwa in Shiwagos Betrachtungen über Kunst zum Ausdruck kommt oder auch in seinem Versuch, seine Liebe zu Lara zu er- oder auch begründen. Juri Shiwagos Weltbild ist getragen vom Interesse an (Er-)Leben und Neuerung, wie in seinem Gespräch mit Anna Gromeko, die dem Sterben nahe ist, deutlich wird. Er sucht ihr die Angst vor dem Tod zu nehmen: [D]asselbe gleichbleibende unermeßliche Leben erfüllt ständig das All und erneuert sich zu jeder Stunde in unzähligen Verbindungen und Verwandlungen. […] Sie [sind] schon auferstanden, als Sie geboren wurden. (93)

Diesen Verweis auf die ständige Veränderung, der sich der Mensch ausgesetzt sieht, verbindet Juri damit, dass für das eigene Bewusstsein die Außenwelt im Zentrum steht, was ihn letztlich zu dem Schluss bringt, dass »der Mensch in den anderen Menschen die Seele des Menschen ist« (94). Unter Einbeziehung eines

1 Mischa fühlt, dass er als Jude von der ihn umgebenden Gemeinsamkeit ausgeschlossen war. Die Position der Juden in der russischen bzw. der sowjetischen Gesellschaft wird von Gordon selbst reflektiert, später von Lara.

74

Anja Burghardt

Zitats aus der Offenbarung des Johannes unterstreicht Shiwago die Präsenz im Anderen als zentrales Moment des Menschenlebens – und das sei in Form der Erinnerung auch nach dem Tod gegeben. Die Ausrichtung auf den Wandel, die auch Laras Äußerungen über das Leben charakterisieren, zeigt sich zum Beispiel bereits in Juris Verhalten bei der Beisetzung Anna Gromekos und seinen Überlegungen zu einem Gedicht für sie: Indem er dem Zug immer wieder vorausgeht, möchte er sich dem Einfluss des Todes, den er in den Trauernden beobachtet, entziehen. Für das geplante Gedicht erwähnt er neben Charakterzügen der Verstorbenen, u. a. Zufälliges, Tonjas Gestalt in Trauerkleidung, und er verweist indirekt auf das Grab seiner Mutter, die auf demselben Friedhof beigesetzt worden war: den Platz seines damaligen Trauerns, an dem nun Wäsche im Wind flattert. Dieses Detail über das eigene Erinnern in einem (wohl gemerkt: zukünftigen) Text zeigt neben der Abkehr von jeglicher festhaltenden und verharrenden Bewahrung des Früheren die Hinwendung zu einem gewissermaßen dynamischen Gedenken. Im Gegebenen wird das Frühere transformiert, ohne sich ganz zu verlieren. Abgesehen also von dem im Roman reflektierten und über die Figuren und ihre Schicksale sowie in Augenblicken des Erlebens einer Vollkommenheit entwickelten Aspekt einer alles verbindenden Transzendenz gibt es eine ganz im Diesseits verankerte Ausrichtung auf Neuerung und Veränderung. Pasternak ermöglicht so eine Zusammenführung von Revolution und Religion über eine bedeutungsvolle Welt, in der neben Individualität der Person Freiheit, Leichtigkeit, (die Suche nach) Wahrheit und eine gewisse Beiläufigkeit tragend sind, ebenso wie eine Form von momenthaftem Glück, in der das Existieren selbst spürbar wird.

Literatur Vadim Borisov, Evgenij Pasternak, Materialy k tvorcˇeskoj istorii romana Borisa Pasternaka »Doktor Zˇivago«. In: Novyj Mir 6 (1988), 204–248. Lazar Flejsˇman, Boris Pasternak i christianstvo. In: Lazar Flejsˇman (Hg.), Ot Pusˇkina k Pasternaku. Moskva 2006 [1995], 731–742. Lazar Flejsˇman, Pasternak v tridcatye gody. Jerusalem 1984. Boris Gasparov, Boris Pasternak: po tu storonu poe˙tiki. Moskva 2013. Robert Gernhardt, Vom Schönen, Guten, Baren. Frankfurt/Main 2007. Erika Greber, Das Erinnern des Erinnerns. Die mnemonische Ästhetik Boris Pasternaks. In: Poetica 24 (1992), 356–393. Boris Pasternak, Doktor Shiwago, übers. von Thomas Reschke. Frankfurt/Main 1993. Igor’ P. Smirnov, Antiutopija i teodiceja v »Doktore Zˇivago«. In: Igor’ P. Smirnov (Hg.), Roman tajn »Doktor Zˇivago«. Moskva 1996, 86–128.

Revolution und Religion in Boris Pasternaks Roman Doktor Shiwago

75

WerkstattGeschichte 25 (2016) 72: glauben machen, hg. von Dietlind Hüchtker und Kerstin S. Jobst. Christian Zehnder, Axiome der Dämmerung. Eine Poetik des Lichts bei Boris Pasternak. Köln 2015. Aleksandr N. Zˇolkovskij, Poe˙tika Pasternaka. Invarianty, struktury, interteksty. Moskva 2011.

Von Galizien und der Schwarzmeerregion

Konrad Petrovszky

Potemkinsche Lettern zur Zeit der Französischen Revolution. Der Courier der Moldavie von 1790 »Ce sera singulier, me disoit-il, d’imprimer Tacite en Moldavie«1

Am 3. März 1790, auf dem Höhepunkt des gemeinsam von Russland und Österreich gegen die Osmanen geführten Kriegs, zitierte die Wiener Zeitung ein bemerkenswertes »Privatschreiben« aus dem fernen Fürstentum Moldau: Als eine Seltenheit muß man noch melden, daß hier eine Zeitung, unter dem Titel: C o u r i e r d e M o l d a v i e , herauskommen wird, die auf einer Spalte in der Landessprache, und auf der andern Französisch gedruckt ist. In der Ankündigung heißt es, daß diese Zeitung auf die kurze Zeit, daß sie dauern wird, drey Dukaten kosten soll, daß der Artikel von Jassy vorzüglich wichtig seyn, und daß man so lange schreiben wird, als die Winterquartiere dauern, denn »im Frühlinge (so heißt es in der Anzeige) werden wir etwas anderes zu tun haben«.

Interessanterweise erschien die Nachricht neben Meldungen aus Montenegro und Nordserbien in der Rubrik »Inländische Nachrichten«, wo von einer weiteren Begebenheit aus Ias¸i berichtet wird: Gestern kam hier ein Kurier aus Petersburg an, der dem Hrn. Feldmarschalle, Fürstheit v. Potemkin, den brillantenen Lorbeerkranz brachte, womit die Kaiserin ihm ein Geschenk gemacht hat. Dieser Kranz ist auf einem Huth von schwarzem Sammet festgemacht, der auf Spanische Art, nur auf einer Seite aufgeschlagen ist, und eine Kokarde von Diamanten hat, die mit dem Glanz des Kranzes um den Vorzug zu wetteifern scheint.2

Während die zweite ›Begebenheit‹ ganz im Sinne des Klatsch und Tratsch verfasst ist, mit dem die europäische Öffentlichkeit die Aktivitäten des Günstlings der russischen Zarin begleitete, blieb der Hinweis auf einen Courier de Moldavie für lange Zeit unbestätigt. Erst Anfang der 1950er Jahre wurden fünf Ausgaben der Zeitung in der Moskauer Lenin-Bibliothek (der heutigen Russischen Staatsbibliothek) entdeckt und dem zeithistorischen Kontext entsprechend als weiterer

1 Grigorij Alexandrovicˇ Potemkin gegenüber Gabriel Sénac de Meilhan, laut: Sénac de Meilhan, Œuvres philosophiques et littéraires, Bd. 1. Hamburg 1795, 147. 2 Wiener Zeitung, 3. 3. 1790, 537.

80

Konrad Petrovszky

Beleg für die »rumänisch-russische Völkerfreundschaft« der wissenschaftlichen Öffentlichkeit angezeigt.3 Die insgesamt nur eine Handvoll Aufsätze umfassende Forschungsliteratur dazu behandelt die Zeitung primär als bibliographische Kuriosität aus einem Kulturkreis, dessen kaum entwickelter Buchdruck vorwiegend der Verbreitung religiöser Literatur diente und der die Publikationsform Zeitung bis dahin gar nicht kannte. Tatsächlich aber ist der kurzlebige und fortsetzungslos gebliebene Courier mehr als nur weiteres Fundstück aus dem scheinbar unerschöpflichen Kuriositätenkabinett des um keine Extravaganz verlegenen ›Taurischen Prinzen‹ Grigory Alexadrovicˇ Potemkin. Vielmehr wirft die Zeitung ein interessantes Licht auf das Zusammenlaufen europäischer Kommunikationskanäle der frühen Revolutionszeit in einer Region, die durch eine mehrfach periphere Lage gegenüber dem russländischen, osmanischen wie auch habsburgischen Reichsverbund gekennzeichnet war. Wie schon im vorangegangenen russisch-osmanischen Krieg von 1768 bis 1774 lag die unter osmanischer Oberherrschaft stehende Moldau auch dieses Mal im Zentrum der Auseinandersetzungen. Unter anderem veranlasst durch die Flucht des vom Sultan eingesetzten Landesfürsten Alexandros Mavrokordatos ins Zarenreich erklärte das Osmanische Reich 1787 diesem den Krieg, um vor allem die fünf Jahre zuvor erfolgte Annexion der Krim durch Russland rückgängig zu machen. Stattdessen aber erwies sich der im Verbund mit der Habsburgermonarchie unter dem Oberbefehlshaber Potemkin geführte Krieg für Russland als nahtlose Fortsetzung seiner territorialen Zugewinne entlang der nordwestlichen Schwarzmeerküste. Nach einer Reihe bemerkenswerter Erfolge – allen voran die strategisch bedeutsame und viel beachtete Einnahme der Festung Ocˇakov am Dnjestr-Liman – wurde das Winterlager Ende 1789 in Ias,i aufgeschlagen, das aufgrund des von Potemkin gepflegten ausschweifenden Lebensstils oft auch als Winterhof bezeichnet wurde. Die Hauptstadt der Moldau wie auch der gesamte Norden des Fürstentums waren kurz davor von den österreichischen Truppen zugunsten der russischen Verbündeten geräumt worden. All dies ist weithin dokumentiert und mehrfach beschrieben. Weniger bekannt ist, dass Potemkin eine aus dem Militärkollegium stammende Druckerpresse an seiner Seite hatte, die er seit der berühmten Taurischen Reise Katharinas II. mit sich geführt hatte. Diese mobile Presse begleitete den hochdekorierten Gouverneur Neu-Russlands auf seinen Feldzügen in der nördlichen Schwarzmeerregion. Während ihres Aufenthalts in Ias,i wurde sie zur Herstellung der ersten Zeitschrift in der Region genutzt, wofür Potemkin die fehlenden lateinischen Lettern 3 Im Folgenden beziehe ich mich auf die die fotografische Reproduktion in der Bibliothek der Rumänischen Akademie (Signatur CRV I 535 A).

Potemkinsche Lettern zur Zeit der Französischen Revolution

81

besorgen ließ. »Serenissimus now took the modern step of becoming a press baron. He created, edited and published his own newspaper«4, heißt es hierzu effektheischerisch in Simon Sebag Montefiores Prince of Princes: The Life of Potemkin. Die unfreiwillige Komik dieser Bemerkung des britischen Starhistorikers ergibt sich aus dem ernüchternden Umstand, dass nach allem, was bisher bekannt ist, tatsächlich nicht mehr als fünf Ausgaben des Courier de Moldavie im Zeitraum vom 18. Februar bis zum 1. April 1790 erschienen sind, von denen auch nur jeweils ein Exemplar bekannt ist. Nach der eingangs zitierten kurzen, aber offensichtlich gut informierten Mitteilung der Wiener Zeitung zu urteilen ist davon auszugehen, dass der Courier sowohl das lokale Lesepublikum als auch den russischen Militärapparat informieren sollte. Die örtliche frankophone Leserschaft setzte sich dabei aus Mitgliedern des Bojarenstands sowie deren ausländischen Bediensteten zusammen. Zugleich wuchs Potemkins umfangreicher internationaler Hofstaat kontinuierlich um französische Revolutionsexilanten an, die auf ihre Verwendung im ungestüm expandierenden und als sehr aufnahmebereit geltenden Reich Katharinas hofften. Wenn man nun der kurzen Ankündigung in der Wiener Zeitung Glauben schenken darf, bestand zunächst die Absicht, durch die Wahl eines zweisprachigen Formats ein größeres rumänischsprachiges Publikum zu erreichen. Bis zum Erscheinen der ersten Ausgabe einige Wochen nach der Ankündigung (die Wiener Zeitung verweist auf ihre Quelle vom 27. Januar) scheint dieser Plan jedoch verworfen worden zu sein, da alle fünf Nummern des Blattes ausschließlich auf Französisch erschienen. Dass die Publikation zeitlich befristet angelegt war, geht ebenfalls aus der Ankündigung hervor. Den Aufmacher des Courier de Moldavie liefert das kaiserliche Dekret, durch das Potemkin zum »Grand Hetman des troupes des Cosaques de Caterinoslav et de la Mer Noire« ernannt wurde und das eine fast dreiseitige Beschreibung der zu diesem Anlass erfolgten Feierlichkeiten enthält – in der unter anderem auch der in der Wiener Zeitung gepriesene »brillantene Lorbeerkranz« Erwähnung findet. Nach zwei kurzen Meldungen aus Paris und London schließt die erste Ausgabe der Zeitschrift mit einem auf Latein verfassten Lobgedicht aus der Feder eines anonymen »elegant poète«, in dem »ab Incolis Jassyensibus« das Erscheinen des Blattes und mehr noch die Kaiserin gepriesen wird: AN DEN MOLDAUISCHEN BOTEN von den Einwohnern Ias,is Moldauischer Bote! Welch bisher ungekannte Neuheit! Wandere in der Welt umher, erfreue dich auf all deinen Wegen. Doch möge dich dein erster Weg in den Norden führen Und vergiss nicht, in der Stadt Peters [Πόλει-Πέτρου, im Original] zu rasten

4 Sebag Montefiore, The Prince of Princes, 432.

82

Konrad Petrovszky

Dort wirst du das Licht unserer wie auch deiner Mutter erblicken! So leid es uns auch tut, nicht mitgehen zu können! Du wirst die Mutter sehen, die geboten hat, dir das Licht zu geben! Lasst uns frohlocken! im Angesicht des Lichts, das uns gebracht wird! Zum Vorteil möge es dir gereichen – denn sie wird dich mit ihren Händen an ihre Brust drücken. Sie wird dir wollgesonnen sein, selbst wenn du mit stotternder Zunge sprichst. Sag ihr … i h r i s t e s z u v e r d a n k e n , d a s s d a s g l ü c k r e i c h e L e b e n z u d e n Dakern zurückkehrt Und ewig währt, so KATHARINA es will. Doch jetzt genug – überbringe nur diese [Worte] so getreu wie möglich; Nach deiner Rückkehr wirst du auf deiner nächsten Reise mehr mitzunehmen haben.5

Es ist nicht auszuschließen, dass sich hinter dem ominösen Autorenkürzel »A. M.« der auch als Dichter bekannte ehemalige Dragoman und kurzzeitige Landesfürst Alexandros Mavrocordatos verbirgt, der seine Ermordung befürchtend im Februar 1787 ins Russländische Reich geflohen war und der aufgrund seiner schon davor bekannten Bewunderung für die Zarin aus osmanischer Sicht einen Anwärter auf den Fürstenthron unter russischer Oberherrschaft darstellte. Während über dessen Rolle nur gemutmaßt werden kann, ist die des ›Taurischen Prinzen‹ geradezu überwältigend. So berichtet der Courier nicht nur von Potemkins künstlerischen Vorlieben anlässlich der Verleihung des Hetmantitels und der genauen Beschaffenheit der ihm von der Kaiserin zugesandten Kleinodien, sondern auch von seiner Bestürzung über den Tod Josephs II. sowie von einem ihn ereilenden »catharre violent accompagné d’un mouvement fievreux«. Abgesehen von »pomp and circumstance« rund um den Feldmarschall scheint ein in Ias,i und Umland spürbares Erdbeben die einzige erwähnenswerte lokale Begebenheit gewesen zu sein. Auf den laufenden Krieg verweist lediglich die Beteuerung am Ende der ersten Ausgabe vom 18. Februar 1790, die drei Dukaten pro Ausgabe würden zur Behandlung von Kriegsversehrten verwendet, sowie die kurze Bewerbung zweier Stiche in der darauffolgenden Ausgabe, auf denen die Siege der vereinten kaiserlichen Armeen dargestellt seien. Bemerkenswerterweise verzichteten die Macher des Courier vollständig auf Meldungen über Kampfhandlungen, Siege und Niederlagen der beteiligten Armeen ebenso wie auf Durchhalteparolen oder Berichte von Gräueltaten der ›Türken‹. Stattdessen erfahren wir wiederholt von der Trauer um den verstorbenen Kaiser Joseph II. (»un Allié aussi fidele«), von den durch die Zarin verfügten Beförderungen in militärische und zivile Ränge, aber auch vom Tod des englischen Philanthropen und Strafvollzugreformers John Howard in

5 Übersetzung durch den Autor.

Potemkinsche Lettern zur Zeit der Französischen Revolution

83

Cherson oder von Gerüchten über die Festnahme Alessandro Cagliostros in Rom etc. Die überwiegende Mehrheit der Meldungen betrifft hingegen die politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen, die im Zuge der Französischen Revolution in Paris sowie an anderen Schauplätzen des Landes (Bretagne, Bethune, Toulouse, Korsika, Elsass) und den Überseekolonien ausgelöst wurden. Auch von Turbulenzen in den Österreichischen Niederlanden berichtet der Courier mehrfach. Die Informationen werden meist recht akkurat und ohne jede Spitzfindigkeit dargeboten – wenn auch mit klarer Sympathie für jene Maßnahmen der frühen konstitutionellen französischen Monarchie, die zur Wiederherstellung der gefährdeten Ordnung beitrugen bzw. der drohenden Spaltung entgegenwirkten. Der schmale Grat zwischen institutioneller Reform und unkontrollierbarer Gewalt wird dem Leser eindringlich vor Augen geführt. Entgegen der Erwartung einer dezidiert konterrevolutionären Haltung der russischen Autoritäten ist der Ton jedoch von einer bemerkenswerten Offenheit gegenüber der politischen Situation geprägt, was sich etwa im Ausbleiben von kritischen Bewertungen gerade dort, wo dieses zu erwarten wären, äußert (etwa hinsichtlich der Beschlüsse der französischen Nationalversammlung vom 12. Februar 1790, die kommentarlos rekapituliert werden). Die Erhebung der Kolonien zu integralen Bestandteilen der Nation wird ausführlich und in anerkennendem Ton wiedergegebenen. Angesichts der Tatsache, dass nur fünf Nummern des Blattes erschienen sind, verbieten sich allzu weitreichende Interpretationen. Dennoch lässt sich unschwer erkennen, dass hier keineswegs Experten am Werk waren und es vor allem darum ging, unter den nicht optimalen Bedingungen einer Waffenruhe etwas imperialen Glanz auf das kriegsgebeutelte Fürstentum strahlen zu lassen. Wie bei vielen Zeitungen in dieser Epoche üblich, ist auch im Falle des Courier anzunehmen, dass es sich bei dem Großteil der Meldungen in ihrer willkürlich wirkenden Zusammenstellung um Übersetzungen oder Verschnitte aus anderen Zeitungen handelte, so wie diese eben im moldauischen Winterquartier verfügbar waren. Dennoch bieten die wenigen Nummern die Möglichkeit, einen aufschlussreichen Moment der Mediennutzung im Dienste des Russländischen Reiches an einem entscheidenden Punkt der europäischen Geschichte zu erfassen. Im Kontext der vorläufigen Annexion der Fürstentümer, deren zukünftiger Status zu Beginn der 1790er Jahre noch sehr ungewiss war, diente das kurzlebige Blatt als Multiplikator und Filter europäischer Nachrichten. Die von der Französischen Revolution in Gang gesetzten Prozesse boten offensichtlich den primären – tendenziell kritischen, gelegentlich auch affirmativen – Deutungsrahmen für eine russländische Expansionspolitik, die sich als zivilisatorisch und ordnungsschaffend begriff. Antike bzw. antikisierende Raumvorstellungen wie »Tauris«, »Dakien« und das »Griechische Reich« gehörten bekanntermaßen zum zentralen Repertoire historischer Bezüge, auf die in Memoranden und Korre-

84

Konrad Petrovszky

spondenzen der Epoche immer wieder zurückgegriffen wurde. So lässt auch der Courier den Verweis auf Dakien nicht vermissen, wie die gesperrt gedruckte Passage des zitierten Widmungsgedichtes belegt. Ferner wird – als weiteres, den lokalen Leser sicherlich erhebendes Detail – dem unterhalb des Zeitungstitel abgebildeten Auerochsenkopf, dem Landeswappen der Moldau, eine Krone aufgesetzt. So konnte die imperiale Ordnungsbotschaft, die dem Leser des Courier begegnete, mehrere Adressatenkreise ansprechen: Während den Revolutionsgegnern in der Potemkinschen Entourage die Abgründe der um sich greifenden französischen Freiheitsrhetorik klar vor Augen geführt wurden, mag der wiederum nicht allzu kritische, gelegentlich auch wohlwollende Duktus der Berichte auch die lokalen Eliten der besetzten und womöglich zu annektierenden Gebiete angesprochen haben. Das programmatische Gesamtbild wird schließlich noch deutlicher, wenn wir den weiteren, bislang unberücksichtigten Kontext der unter russischer Militärverwaltung betriebenen Publizistik in der Moldau zwischen 1789 und 1791 berücksichtigen. Einige der entsprechenden Titel sind nur in wenigen, wenn nicht sogar einem einzigen Exemplar bekannt und fallen in eine kaum erkundete Nische bibliographischer Forschung. Zu den Büchern und Büchlein, die im Zeitraum 1789 bis 1791 erschienen sind, zählen drei zweisprachige russischrumänische Sprachlehrbücher6 sowie sechs Titel geistlicher Literatur in russischer oder russisch-rumänischer Ausgabe, die allesamt Zarin Katharina bzw. Potemkin gewidmet sind.7 Auch die mobile Presse kam abgesehen von der Herstellung des Courier de Moldavie während ihres Aufenthalts in der Moldau mehrfach zum Einsatz. Mit Titelwidmungen an Potemkin wurden auf ihr die Bücher Izsleˇdovanïe hristïanstva (Ias¸i 1790)8, eine aus dem Englischen übersetzte Kurzfassung des Wahren Christentums (1610) des protestantischen Mystikers und Theologen Johann Arndt, sowie Opyt″ o cˇeloveˇkeˇ (Ias¸i 1791), eine aus dem Französischen angefertigte Übersetzung von Alexander Popes An Essay on Man (1734), hergestellt. Kaum bekannt ist, dass im gleichen Jahr auch Potemkin selbst das einzige aus seiner Feder stammende literarische Werk, einen Kanon auf Jesus Christus unseren Erlöser (Kanon″ spasitelû gospodu Isusu), ebenfalls auf dieser Presse drucken ließ.9 Im Frühjahr 1790 wurde die Residenz des Feldmarschalls mitsamt der Presse für einige Monate nach Bender (rum. Tighina) am Dnjestr verlegt. Hier ließ Potemkin ein russisch-griechisches Verzeichnis nautischer 6 Vgl. die Kurzbeschreibung in Bibliografia româneasca˘ veche [BRV], Bd. II. Bukarest 1910, 327– 329. 7 Vgl. ebd., 337–341; sowie BRV, Bd. IV, 106. 8 Vgl. BRV, Bd. II, 337. 9 Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass nach Potemkins Tod am 16. Oktober 1791 sowohl die Beerdigungsrede des Metropoliten Ambrosije als auch Petr Karabanovs Grabesgedicht (Nadgrobnaâ peˇsn’) zu Ehren Potemkins 1791 in Ias¸i gedruckt wurden.

Potemkinsche Lettern zur Zeit der Französischen Revolution

85

Begriffe (Nazvanïe drevnih″ morehodnyh″ sudov″ grecˇeskih″, 1790) drucken ebenso wie mehrere Gedichte seines Panegyrikers Petr Karabanov, welche die Einnahme der osmanischen Festungen Bender (Na podorvanïe Benderskih″ steˇn) und Ismail (Oda na vzâtïe Izmaila) sowie überhaupt die Eroberungen vom Kuban bis zur Donau (Oda v den′ tezoimenitstva eâ velicˇestva gosudaryn imperatricy Ekateriny Alekseˇevny) feierten. Wie Gabriel Sénac de Meilhan, der designierte und dann verhinderte Hofhistoriograph Katharinas der Großen, in seinen eingangs zitierten Erinnerungen von 1795 zu verstehen gab, standen mit seiner von Potemkin geförderten Tacitus-Übersetzung noch weitere, keineswegs bescheidene Publikationsabsichten im Raum. Aus dieser knappen Zusammenstellung der in der Zeit der russischen Militärverwaltung hergestellten Bücher, deren tatsächliche Zahl sicherlich noch höher zu veranschlagen ist, lässt sich ein Programm moderat-aufgeklärter Natur erkennen, in dem geistige Erbauung, praktische Sprachvermittlung sowie orthodoxe Spiritualität ebenso vertreten sind wie die Feier kaiserlicher Größe in klassizistisch anmutender Rahmung. In diesem publizistischen Kontext war es dem Courier vorbehalten, durch die periodische Zusammenführung von Schauplätzen das Bewusstsein zu schaffen, Teil einer Sphäre eines glanzvollen imperialen Kommunikationsraums zu sein – der den plötzlichen Tod des ›taurischen Prinzen‹ allerdings kaum überdauerte und mit dem Fortgang der revolutionären Ereignisse auch seine Offenheit einbüßte.

Literatur Constanton Ciuchindel, Despre începuturile presei românes¸ti. Courier de Moldavie. In: Limba˘ ¸si literatura˘ 2 (1956), 349–399. Sergej Jurovicˇ Dutov, Pohodnye tipografii v russkoj armii VXII veka. In: Sed’mye Makusˇinskie cˇteniâ: materily naucˇnoj konferencii, 16–17 maâ 2006. Novosibirsk 2006, 47–50. Robert F. Forrest, The Courier de Moldavie and Der Kriegsgebote: Two Views of the French Revolution for Romanians. In: East European Quarterly 25/1 (1991), 91–99. Jakov Dimitrevicˇ Grahov, O pohodnoj tipografiї knâzâ Potemkina-Tavricˇeskago. In: Zapiski imperatorskogo odeskago obsˆestva istorïi i drevnostej 4 (1858–60), 470–72. Georges Haupt, La Russie et les Principautés Danubiennes en 1790. Le prince PotemkinTavricˇeskij et le Courrier de Moldavie. In: Cahiers du monde russe et soviétique 7/1 (1966), 58–62. Kerstin S. Jobst, Die Taurische Reise von 1787 als Beginn der Mythisierung der Krim. Bemerkungen zum europäischen Krim-Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Archiv für Kulturgeschichte 83/1 (2001), 121–144. Iosif Pervain, Courrier de Moldavie, primul ziar apa˘rut la noi. In: Steaua 6 (1955), 110–114. Natalja N. Pertsova, O literaturnom opyte Grigoriâ Potemkina. In: Filologicˇeskie nauki 1 (2016), 35–50. http://dx.doi.org/10.20339/PhS.1-16.035 (29. 11. 2021). Simon Sebag Montefiore, The Prince of Princes: The Life of Potemkin. London 2002.

86

Konrad Petrovszky

Dan Simonescu, Primul ziar tipa˘rit pe pa˘mîntul t,a˘rii noastre. In: Studii s,i materiale de istorie medie 1 (1956), 343–353. Petr Vladimirovicˇ Stegnij, (Noch einmal über) Das Griechische Projekt Katharinas II. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 50 (2003), 87–111.

Oleksandra Krushynska

»Beschreibung der Königreiche Galizien und Lodomerien…« von Graf von Pergen – eine Quellenanalyse aus postkolonialer Perspektive

Nach der ersten Teilung Polen-Litauens im Jahr 1772 standen die drei Teilungsmächte vor der Frage, wie die neu erworbenen Gebiete regiert und verwaltet werden sollten. Für das neu geschaffene Königreich Galizien und Lodomerien, das von der Habsburgermonarchie annektierte Gebiet, wurde ein eigener Verwaltungsapparat aufgebaut und Graf Johann Anton von Pergen wurde zum ersten habsburgischen Gouverneur ernannt. Im Jahr 1773 hat von Pergen in Erwartung der ersten Reise Kaiser Josephs II. nach Galizien eine sehr detaillierte Beschreibung des ihm anvertrauten Territoriums unter dem Titel Beschreibung der Königreiche Galizien und Lodomerien nach dem Zustand, in welchem sie sich zur Zeit der Revindicirung durch Ihro Kais. Königl. Apostolischen Majestät und besonders im Monat Julius 1773 befunden haben verfasst. Dieses Dokument ist von entscheidender Bedeutung, um die grundlegende Einschätzung des ehemaligen Teils Polen-Litauens und seiner Herrschaftspraktiken durch den habsburgischen Beamten zu verstehen. Darüber hinaus ist die Beschreibung eine interessante Quelle für die Analyse der habsburgischen »Kolonialpolitik« in Galizien, da sie auch Empfehlungen an den Kaiser enthält, wie man das Land im Sinne des aufgeklärten Absolutismus regieren sollte und wie man dort die Herzen und Köpfe verschiedener Bevölkerungsgruppen gewinnen könnte. Daher ist eine Inhaltsanalyse des Dokuments aus postkolonialer Perspektive weiterführend. Bereits in der Einleitung begründet von Pergen den Regimewechsel in Galizien mit einer Kritik an der polnisch-litauischen Regierung: Nun waren aber die Königreiche Galizien und Lodomerien unter der pohlnischen Oberherrschaft mit so vielen ungeheueren Misbräuchen von aller Art angefüllet, die vorhandenen Gesetze und Verordnungen waren zum Theil sehr mangelhaft und in so weit sie gut waren, wurden sie nicht weiter beobachtet als es den kleinen Despoten, die das Land unter sich gleichsam getheilt hatten, gefiel oder günstig schien, dass man

88

Oleksandra Krushynska

außer den noch übrigen pohlnischen Provinzen nicht leicht ein Land finden wird, wo die Unordnung und das politische Verderbniß auf einen höheren Grad gestiegen wäre.1

Indem er ein solch düsteres Bild malt, trägt von Pergen zu einem OtheringProzess bei, der in vielen klassischen Werken zum Kolonialismus beschrieben ist. Durch die gezielte Degradierung der autochthonen Bevölkerungen rechtfertigt die Kolonialmacht – in diesem Fall die Habsburgermonarchie – nicht nur ihre Position, sondern bereitet auch den Boden für die »Zivilisierung« des Territoriums. Im nächsten Absatz unterstützt der Gouverneur uneingeschränkt den Kaiser und seine Mission, »diese revindicirte Länder durch Abstellung der Misbräuche, durch Einführung guter Ordnung und Gerechtigkeit durch Emporbringung des Nahrungsstandes und Handels glücklich zu machen«2. Die erste »Abtheilung« der Beschreibung ist jedoch eindeutig nicht nur von ideologischen, sondern auch von pragmatischen Bestrebungen des Reiches inspiriert. Es enthält eine geographische und demographische Beschreibung Galiziens sowie einen kurzen Abriss seiner Geschichte. Ein bedeutender Teil dieser Abteilung ist den natürlichen Ressourcen gewidmet. Von Pergen kommt zu dem Schluss, dass die Erde Galiziens nicht ausdrücklich fruchtbar und nicht besonders reich an Bodenschätzen ist (mit der bemerkenswerten Ausnahme der Salzbergwerke in Wieliczka und Bochnia). Obwohl es im Text nicht direkt erwähnt wird, bestätigt die Beschreibung, dass der Erwerb Galiziens nicht durch die Annahme, die Provinz habe wirtschaftliches Potenzial, motiviert gewesen war. Die zweite »Abtheilung« beschäftigt sich mit der Beschreibung und vor allem der Kritik des galizischen Adels. Von Pergen weist auf die bedeutende Rolle des Standes in Polen-Litauen hin, der »auf alle übrige Klassen von Einwohnern als verwerfliche Erdensöhne mit Selbstgenügkeit und Stolz von seiner eingebildeten Höhe herabzusehen gewohnt ware«3. Er erwähnt auch die »sklavenartige« Stellung des Königs, der ganz auf den Adel angewiesen und verpflichtet sei, »die Unwissenheit und den Hochmuth zu belohnen und so auch den Senat und die ersten Staatsbedienstungen mit Leuten zu besetzen, die in einem besser eingerichteten Lande und unter einem von seinen Pflichten gehörig unterrichteten Adel die letzte Stelle spielen würden«4. Man könnte argumentieren, dass von Pergen in dieser These versucht hat, eine Parallele zwischen der Adelsrepublik und seiner absolutistischen Heimat zu ziehen und letztere als effizienter zu loben. In Fortsetzung des Othering erwähnt von Pergen den Mangel an Bildung und an Verständnis für Wirtschaft beim Adel, seine Tendenz, Intrigen zu schaffen und das eigene Wohlergehen und Prestige über das Gemeinwohl des 1 2 3 4

Pergen, Beschreibung, [Pkt.] Einleitung. Ebd. Ebd., [Pkt.] 30. Ebd., [Pkt.] 41.

»Beschreibung der Königreiche Galizien und Lodomerien…« von Graf von Pergen

89

Landes zu stellen. Der Adel sei somit für den schlechten Zustand Polen-Litauens verantwortlich, der schließlich zu den Teilungen geführt habe. Zugleich bleibt von Pergen optimistisch, was die Perspektive der Zusammenarbeit zwischen dem galizischen Adel und der neuen Regierung angeht. Er äußert insbesondere Hoffnung gegenüber dem sogenannten »mittleren« und »armen« Adel, da dessen Angehörige nun die Chance bekämen, sich der Unterdrückung durch die reichen Magnaten zu entledigen und mit Hilfe der österreichischen Regierung als oberstem Schiedsrichter Gerechtigkeit zu suchen. In der dritten Abteilung gibt von Pergen einen ausführlichen Bericht über verschiedene Religionen und Konfessionen, die in Galizien ihre Anhänger hatten. Im Gegensatz zum vorherigen Teil bleibt dieser eher beschreibend und weniger ideologisch aufgeladen, obwohl der Gouverneur nicht davor zurückschreckt, dem Klerus vorzuwerfen, seine geistlichen Pflichten zu vernachlässigen, um Profit zu machen. Von Pergen rät dem Kaiser, sich nicht zu sehr auf den Klerus zu verlassen, um die Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber der neuen Regierung zu erhöhen: »[A]llein die unpartheyische Gerechtigkeitsleistung, die Herstellung guter Zucht und Ordnung in allen Theilen und die Befreiung des Bauern von der Unterdrückung und Sklaverey wird alle Klassen von Unterthanen dem neuen Fürsten genugsam attachieren«5. Er weist auch darauf hin, dass die Loyalität der örtlichen Geistlichkeit gegenüber den Habsburgern und ihre Bereitschaft zu Reformen einer weiteren Prüfung bedürfe. Die vierte Abteilung betrifft die Städte Galiziens. Hier schreibt der Gouverneur nicht nur über die Menschen, sondern auch über Industrie und Handel, die sich seiner Meinung nach in einem eher unterentwickelten Zustand befänden. Dafür nennt Pergen drei Gründe – die absolute Macht des Adels und seine Unterdrückung der Stadtbewohner, die fehlende effiziente Selbstverwaltung in den Städten und den schlechten Zustand der Gebäude und Infrastruktur. Wie bei den Ackerflächen würden auch die Städte oft unter der Gier und dem Mangel an Wissen der Adligen sowie hohen Steuern, die meist den Interessen der Oberschicht dienten, leiden. Aus diesem Grund zählte von Pergen die Stadtbewohner zu denjenigen, die das neue Regime zweifellos unterstützen würden, da sie hofften, dass der Kaiser »das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Klassen der Einwohner und die Verbindung des platten Landes mit den Städten so wie die Gerechtigkeit und gute Ordnung überhaupt wieder herstellen werde«6. Die nächste Abteilung berichtet über die Bauernschaft, den größten und daher bedeutenden Teil der galizischen Bevölkerung. Wie viele seiner Zeitgenossen, die von den Ideen der Aufklärung fasziniert waren, zeigt sich von Pergen von den in Polen-Litauen herrschenden Leibeigenschaftspraktiken, die er »die elendeste 5 Ebd., [Pkt.] 120. 6 Ebd., [Pkt.] 164.

90

Oleksandra Krushynska

Sklaverei« nennt, abgestoßen. Seiner Meinung nach fehle es den galizischen Bauern an elementaren Kenntnissen über das Christentum, das gesellschaftliche Leben und die Landwirtschaft; ihre Lebensbedingungen seien unglaublich schlecht und unhygienisch, sie würden oft dem Alkoholismus erliegen. Die Schuld für den schlechten Zustand der Landwirtschaft weist von Pergen erneut der herrschenden Klasse, dem Adel, zu. Der Gouverneur gibt einen historischen Bericht, wie und warum die Bauernschaft in Polen-Litauen nach und nach ihre Freiheiten und Rechte verloren habe, bis sie zusammen mit dem Boden tatsächlich Besitz ihrer Gutsherren geworden seien. In einem weiteren Versuch, das Staatsmodell der Adelsrepublik zu degradieren, vergleicht er die Verhältnisse der galizischen Bauernschaft mit jenen der oberschlesischen..In beiden Gebieten war die Gesetzgebung ähnlich. Da »aber in Schlesien besondere Herzogen und Fürsten waren, so schützten diese den Landmann wider die Unterdrückung, hingegen wurde in Pohlen die Macht der Könige geschwächet und die Bauern immer mehr unterdrücket«7. Von Pergen ist davon überzeugt, dass das Leben der Bauern im Königreich Galizien und Lodomerien drastisch verbessert werden müsse. Er rät Joseph II. jedoch, bestimmte Bedingungen zu erfüllen, bevor er den Bauern alle die Rechte und Freiheiten gewähre, die ihnen bislang vorenthalten worden seien. Zuerst müsse ihnen Zeit gegeben werden, sich zu erholen; dann müssten die Unterdrückung und Willkür der Gutsbesitzer gegenüber ihren Leibeigenen beseitigt werden. Schließlich müsse der Charakter und die Lebensweise der Bauern verbessert werden (vor allem empfiehlt von Pergen die Schaffung von Landschulen und die Verringerung des Alkoholkonsums). Erst nach erfolgreicher Erfüllung dieser Bedingungen könne dem Bauern persönliche Freiheit und ein Stück Land zugesprochen werden. Wenn alles nach diesem Plan läuft, würde der Bauer die neue Regierung unterstützen und nicht daran denken, auf der Suche nach einem besseren Leben ins Ausland zu fliehen. Die letzte Abteilung der Beschreibung befasst sich mit der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Die Wahrnehmung durch den neuen Gouverneur könnte als vorsichtig, manchmal sogar negativ bezeichnet werden. Obwohl er die Unterdrückung der Juden durch die polnisch-litauische Regierung in der Vergangenheit bestätigt, behauptet er, dass sie jetzt die Kontrolle über die wichtigsten Wirtschaftssektoren übernommen hätten, da die Adligen ihnen oft die Verantwortung für die Verwaltung ihrer Güter übertrügen. Der Handel und die Kreditvergabe seien seit Langem in jüdischer Hand, und da sie es seien, die den Bauern Kredit für Alkohol gäben und ihre Häuser übernähmen, wenn diese nicht zurückgezahlt werden könnten, seien die Juden zumindest teilweise für die Armut der Bauern verantwortlich. Nach von Pergen hätten die Juden so viel Reichtum und Einfluss angehäuft, dass niemand außer ihnen ein Haus in der 7 Ebd., [Pkt.] 193.

»Beschreibung der Königreiche Galizien und Lodomerien…« von Graf von Pergen

91

Stadt kaufen könne: »Wenn ein Bürger aus was immer für einer Ursach seine Wohnung verkaufen will, so findet der Jud Schutz, gibt mehr dafür als ein Christ und kaufet es also ohne Widerrede«8. Er weist auch darauf hin, dass die Juden politisch potenziell instabil seien, da sie von den Rabbinern und Vorstehern »unumschränkt« regiert würden. Wie in Bezug auf die Geistlichkeit fordert von Pergen, mehr Untersuchungen durchzuführen, bevor entschieden werde, was mit den Juden unter der Herrschaft der Habsburger zu tun sei. Er stellt jedoch fest, dass die Anzahl der Juden auf jeden Fall »verringert« werden solle. Wie man sieht, hat der Text der Beschreibung für von Pergen drei Hauptbedeutungen. Erstens stellt er Kaiser Joseph II. eine detaillierte Beschreibung seines neu erworbenen Landes zur Verfügung, damit dieser seine Herrschaft dort effektiver gestalten könne. Zweitens gibt er seinem Herrscher Empfehlungen, wie dieser die verschiedenen sozialen Gruppen zum Besten des Reiches nutzen könne. Drittens schließt von Pergen seine eigenen politischen Überzeugungen ein, indem er den polnisch-litauischen Republikanismus mit dem aufgeklärten absolutistischen Staat der Habsburgermonarchie vergleicht. Da er letzteren bevorzugt, rechtfertigt er den Regimewechsel im Jahr 1772 endgültig. Die Beschreibung stellt die Wahrnehmung Galiziens durch einen hochrangigen habsburgischen Beamten dar. Aus diesem Grund ist und bleibt das Studium dieses Dokuments ein sehr wichtiger Ausgangspunkt für jede Forschung, die sich mit den ersten Jahrzehnten der habsburgischen Herrschaft in Galizien beschäftigt.

Quelle Johann Anton von Pergen, Beschreibung der Königreiche Galizien und Lodomerien nach dem Zustand, in welchem sie sich zur Zeit der Revindicirung durch Ihro Kais. Königl. Apostolischen Majestät und besonders im Monat Julius 1773 befunden haben (1773), Österreichische Staatsarchiv, HHStA, Hausarchiv, Hofreisen, Ktn 5, fol. 457–582.

8 Ebd., [Pkt.] 225.

Andreas Kappeler

Positive Diskriminierung von Juden im Russländischen und im Habsburgerreich. Die Karäer auf der Krim, in Litauen, Wolhynien und Galizien

Als ich vor einigen Jahren das Städtchen Halycˇ, den ehemaligen Sitz der mittelalterlichen Fürsten und Metropoliten der Rus’, besuchte, erkundigte ich mich nach den in Halycˇ lebenden Karäern. Man zeigte mir das an der Karaimen-Straße liegende kleine Museum zur karaitischen Geschichte und Kultur, in dem Kultgegenstände und Dokumente ausgestellt werden. Dann besuchte ich den karäischen Friedhof am Ufer des Dnister, wo in einer Wiese zahlreiche Grabsteine stehen. Auf die Frage, wie viele Karäer noch in Halycˇ leben, antwortete man mir, die letzte Karäerin sei kürzlich gestorben. Mikhail Kizilov, der Verfasser der einzigen umfassenden Studie zur Geschichte der Karäer Galiziens, hatte 2002 noch sieben Mitglieder der karäischen Gemeinschaft angetroffen, bei seinem nächsten Besuch einige Jahre später waren noch zwei ältere Damen übriggeblieben. Obwohl sich Kerstin Jobst lange und intensiv mit der Geschichte Galiziens beschäftigt hat, hat sie meines Wissens nicht über die galizischen Karäer gearbeitet. Dafür widmet sie in ihren beiden großen Büchern zur Geschichte der Krim den Karäern einige Absätze. Das Thema verbindet ihre wichtigsten Arbeitsfelder und gibt Gelegenheit, die Politik des Habsburger und Romanov-Imperiums gegenüber einer kleinen ethno-religiösen Gruppe vergleichend zu betrachten. Die Karäer (auch Karaim und Karaiten/Karaites genannt) sind Juden, die sich vom 8. bis 10. Jahrhundert im Mittleren Osten als eigene Glaubensgemeinschaft von den übrigen Juden lösten. Sie erkennen nur den Tanach, das Alte Testament, an, während sie dessen spätere Auslegungen durch die Rabbiner, den Talmud, ablehnen. Man hat sie gelegentlich mit den Protestanten verglichen, die ebenfalls nur die Heilige Schrift anerkennen. Sie halten sich für die wahren Juden und bezeichnen die übrigen Juden als Talmudisten oder Rabbinische Juden, während sie für diese Häretiker sind. Theorien über eine mögliche Herkunft der Karäer von den Chasaren oder anderen Turkvölkern werden von der Forschung mehrheitlich verworfen. Im Mittelalter ließen sich Karäer in weiten Teilen der mediterranen Welt nieder, in Ägypten, in Spanien, im Byzantinischen und dann im Osmanischen

94

Andreas Kappeler

Reich, viele in Konstantinopel – in Istanbul gibt es bis heute eine kleine Gemeinde mit einer Synagoge (kenesa). Eine Gruppe gelangte auf die Krim. Einer ungesicherten Überlieferung zufolge wurde im 14. Jahrhundert vom litauischen Großfürsten Vytautas (Vitovt, Witold) eine Gruppe von Karäern zusammen mit tatarischen Kriegsgefangenen aus der Goldenen Horde in Trakai (Troki) angesiedelt. Kleine Gruppen gelangten nach Wolhynien, mit einem Zentrum in Luc’k, nach Galizien (Halycˇ) und in andere Orte in Polen-Litauen. Die Karäer benutzten das Hebräische als Sakralsprache und die hebräische Schrift, übernahmen aber als Umgangssprache (und gelegentlich auch als Schriftsprache) das Idiom ihrer Umgebung, zunächst Arabisch und Griechisch. Die im östlichen Europa lebenden Karäer, um die es hier geht, sprachen eine Turksprache, die Karäer der Krim einen Dialekt des (Krim-)Tatarischen, die Karäer Litauens und Polens Karaim, eine Sprache, die als eigenständige Variante der Kypcˇak-Sprachen gilt. Diese hat Ähnlichkeiten mit der alten Umgangssprache der in Polen-Litauen lebenden, meist aus der Krim eingewanderten Armenier. Die Karäer hoben sich dadurch sprachlich von der Jiddisch sprechenden Masse der aschkenasischen Juden in Polen-Litauen ab, nicht aber von den ebenfalls turksprachigen Rabbinischen Juden der Krim, den Krymcˇaki. Die Karäer Osteuropas lebten vorwiegend in Städten und beschäftigten sich mit Handel, Geldverleih, in Galizien auch mit Ackerbau. Die Karäer der Krim hatten eine starke wirtschaftliche Stellung, die sie auch der Gunst der Khane zu verdanken hatten. So waren Karäer als Münzmeister der Krim-Khane tätig. Sie ˇ ufut-Kale und im Hafen hatten ihre wichtigsten Stützpunkte in der Bergfestung C Eupatoria. Die Karäer in Polen-Litauen waren weniger reich, dafür in der Regel gebildeter. Die Rechtsstellung der Karäer entsprach hier weitgehend der der übrigen Juden. Im Jahr 1772, im Zuge der ersten Teilung Polens, kamen die 200 bis 300 Karäer Galiziens unter habsburgische Herrschaft. Sie blieben in der Folge die einzigen Karäer im östlichen Europa außerhalb des Russländischen Imperiums. Maria Theresia und ihr Sohn Joseph II. gewährten den Karäern Sonderrechte, die sie von den übrigen Juden abhoben. So mussten sie nur die Hälfte der Kopfsteuer entrichten, andere Steuern wie die Heiratssteuer und die Abgaben für Sabbatkerzen und Koscherfleisch wurden ihnen erlassen. Damit wurden die Karäer Galiziens den Christen weitgehend gleichgestellt. Im Jahr 1795 wurden sie zusätzlich von der Militärdienstpflicht befreit. Die österreichischen Behörden begründeten die positive Diskriminierung damit, dass die Karäer im Gegensatz zu den Rabbinischen Juden Landwirtschaft betrieben und daher dem Staat »nützlich« seien. Weitere Pluspunkte waren ihr »tadelloser Lebenswandel«, ihre weniger fremde Kleidung und ihre Ablehnung des Talmuds, der als Quelle jüdischer »Verderbtheit« galt. Man hielt sie für die besseren, »reineren« Juden, die den übrigen Juden als Vorbild dienen sollten.

Positive Diskriminierung von Juden im Russländischen und im Habsburgerreich

95

Die auf der Krim lebenden Karäer kamen 1783 unter die Herrschaft Russlands, die Karäer Litauens und Wolhyniens im Zuge der dritten Teilung Polens 1795. Schon unter Katharina II. gewährte man den Karäern eine ganze Reihe von Sonderrechten, die den Privilegien, die die Karäer Galiziens zwanzig Jahre früher erhalten hatten, weitgehend entsprachen. Die Karäer Russlands setzten sich für ihre Sonderrechte ein. Sie verfügten über einflussreiche Persönlichkeiten, die in höchsten Kreisen Gehör fanden. Drei von ihnen, das geistliche und das weltliche Oberhaupt der Krim-Karäer und der begüterte Kaufmann Solomon ben Nahamu Babovicˇ, der drei Handelshäuser in Eupatoria, Feodosija und Odesa besaß, reichten im Jahr 1795 in St. Petersburg im Namen der Krim-Karäer eine Petition ein, in der sie die Kaiserin baten, ihnen die doppelte Kopfsteuer, die den Juden Russlands auferlegt wurde, zu erlassen. Sie erreichten ihr Ziel und zusätzlich andere Privilegien, wie die Befreiung von der Einquartierung von Soldaten und von Sondersteuern (korobka), so der Abgaben für Sabbat-Kerzen und Koscherfleisch. Im Jahre 1827 erreichten die Häupter der Krim-Karäer mit Sima Babovicˇ, dem Sohn Solomons, an der Spitze, die Befreiung vom Militärdienst, dem die Rabbinischen Juden unter besonders schweren Bedingungen unterlagen. Sima Babovicˇ wurde von der Regierung als Oberhaupt (Hacham) der Krim-Karäer bestätigt. Im Jahr 1837 erreichten die Karäer die Anerkennung als eigenständige, von den Rabbinischen Juden getrennte Religionsgemeinschaft mit einer eigenen Geistlichen Verwaltung (Duchovnoe upravlenie). Die kleinen Gruppen der Karäer Litauens und Wolhyniens kamen ebenfalls in den Genuss dieser Privilegien, wenn auch zum Teil mit Verzögerung. Im Jahr 1863 erhielten sie eine eigene Geistliche Verwaltung unter einem Hacham in Trakai, der für die Karäer im Westen des Reiches zuständig war. Im Jahr 1863 erlangten die Karäer Russlands die vollständige Gleichberechtigung mit den christlichen Untertanen der Zaren. Die Rabbinischen Juden mussten darauf bis Februar/März 1917 warten. Eine Begründung für ihre positive Diskriminierung in Russland kann man rückschließen aus einer Bittschrift der Karäer von Trakai aus dem Jahr 1853: Sie unterscheiden sich sehr von den Juden-Rabbinisten, so in den Glaubens-Zeremonien, in der Ablehnung des Talmud […], durch ihre vorbildliche Ehrlichkeit, ihr gutes Benehmen und ihren ruhigen Charakter, ihre Arbeitsamkeit und ihre Neigung zum Ackerbau, ihre Ergebenheit gegenüber dem höchsten Thron und ihre besonderen Verdienste gegenüber der Regierung1.

Dies entsprach der offiziellen Begründung der Privilegien für die Karäer Galiziens am Ende des 18. Jahrhunderts. Den positiven Eigenschaften, die man den 1 G./Gessen, Karaimy, 293.

96

Andreas Kappeler

Karäern zuschrieb, entsprachen spiegelverkehrt die Vorwürfe, die man gegenüber den Rabbinischen Juden erhob. Die Karäer Litauens und Wolhyniens, die wohl infolge der Kontakte mit den Rabbinischen Juden einen höheren Bildungsstand hatten, standen in engen Beziehungen mit ihren Glaubensbrüdern auf der Krim. Einige Gelehrte aus Luc’k erreichten dort hohe Stellungen. Der bekannteste von ihnen war Abraham Firkovicˇ, Erzieher der Kinder von Babovicˇ, der vom Generalgouverneur Neurusslands, Fürst Michail Voroncov, beauftragt wurde, Quellen zur Geschichte der Karäer zu sammeln. Er versuchte zu beweisen, dass die Karäer türkischer Herkunft waren, sich schon vor Christi Geburt von den Rabbinischen Juden getrennt hatten und damit nicht wie die übrigen Juden für die Kreuzigung Christi verantwortlich gemacht werden konnten. Firkovicˇ widmete sich Jahrzehnte lang dieser Aufgabe und sammelte viele noch für die heutige Forschung wichtige Quellen, wobei er allerdings nicht vor Fälschungen einzelner Urkunden und Inschriften zurückschreckte. Nach dem Krimkrieg wanderten zahlreiche Karäer aus ihren Stammgebieten aus. Am Ende des 19. Jahrhunderts lebten im Russländischen Reich knapp 13.000 Karäer, 6.166 auf der Krim, 1.383 im litauischen Trakai und 1.049 in Odesa, die übrigen in anderen Städten der Ukraine und auch in Moskau und St. Petersburg. Unter ihnen waren erfolgreiche Unternehmer, vor allem in der Tabakindustrie. Das Bildungswesen (auch in krim-karäischer Sprache) und die Beschäftigung mit der Karaim-Sprache nahmen einen Aufschwung. Die Karäer im Russländischen Reich waren eine kleine und mobile Diasporagruppe, die von der Regierung erwünschte komplementäre Funktionen erfüllte. Voraussetzung dafür war ihre Loyalität gegenüber den Herrschern und ihren regionalen Repräsentanten. Neben ihren wirtschaftlichen Aktivitäten war ihre wichtigste Funktion für die Regierung ihr Gegensatz zu den übrigen Juden. Sie wurden gegen diese ausgespielt und ihnen wurden positive Eigenschaften zugeschrieben, die den übrigen Juden angeblich fehlten, etwa ihre »Nützlichkeit«, ihr vorbildlicher Lebenswandel und ihre Loyalität. So erschienen sie als die »guten Juden«, die die Masse der Juden in ein noch schlechteres Licht rückten, was auch in den Dienst antisemitischer Propaganda gestellt wurde. Dafür diskriminierte man die Karäer nicht wie die übrigen Juden des Russländischen Reiches. Für die Bedeutung, die die Regierung dieser sehr kleinen ethno-religiösen Gruppe zumaß, spricht, dass für sie eine eigene Geistliche Verwaltung eingerichtet wurde. Führende karäische Persönlichkeiten setzten sich aktiv für die Privilegierung der Karäer ein, wofür sie ihre wirtschaftlichen Netzwerke, die bis nach Petersburg reichten, nutzten. Sie waren auf die Protektion durch Herrscher und Regierung angewiesen. Sie schreckten dabei nicht vor Diffamierung der übrigen Juden zurück. Davon zeugt eine Eingabe des Hacham von Trakai aus dem Jahr 1892, in

Positive Diskriminierung von Juden im Russländischen und im Habsburgerreich

97

der er darauf hinwies, dass von den Ausschreitungen des Jahres 1881 die Karäer nicht betroffen gewesen waren, weil »das russische Volk die Karaimen nicht für Juden und nicht für Feinde der Menschheit hält wie die Juden«2. Umgekehrt wiesen die Rabbinischen Juden wiederholt Behauptungen der Karäer zurück, wie etwa die, dass viele von ihnen Landwirtschaft betrieben; in Wirklichkeit seien sie in denselben Bereichen tätig wie alle Juden Russlands, etwa auch im verpönten Schnapshandel. Die russländische Politik wies auffällige Parallelen zur habsburgischen Politik gegenüber der winzigen Gruppe der Karäer Galiziens auf, die ebenfalls von den meisten antijüdischen Gesetzen befreit wurde. Die Begründungen dieser positiven Diskriminierung wiesen ebenfalls Übereinstimmungen auf. Ob die habsburgische Politik der russischen als Vorbild diente, ist angesichts der Kontakte zwischen Joseph II. und Katharina II. nicht ausgeschlossen. Sie besuchten im Jahr ˇ ufut-Kale 1787 gemeinsam die Krim, wo Joseph sogar die karäische Festung C bestieg. Es ist anzunehmen, dass sich die beiden über die Karäer unterhielten, wenige Jahre bevor auch die Karäer Russlands gegenüber den übrigen Juden bevorzugt wurden. Unabhängig davon gehörten die positive Diskriminierung kleiner ethno-religiöser Gruppen und ihre Instrumentalisierung zu den Konstanten imperialer Herrschaft. Mit dem Zusammenbruch der beiden Imperien veränderte sich die Situation der Karäer. In der Sowjetunion wurden sie zwar als ethnische Gruppe anerkannt, für eine religiöse Gemeinschaft war aber kein Platz mehr. In Polen blieb ihre positive Diskriminierung gegenüber den nach wie vor benachteiligten übrigen Juden erhalten. Allerdings hielten viele es für ratsam, sich jetzt ganz vom Judentum zu lösen. Diesen Schritt vollzogen führende Karäer mit dem Orientalisten Seraja Sˇapsˇal, dem ehemaligen Hacham der Krim-Karäer und seit 1927 Hacham der Karäer Polens, an der Spitze. Sˇapsˇal bestritt jede Verbindung der Karäer mit den Juden und plädierte für ihre Herkunft von tatarisch-chasarischtürkischen Nomaden, die später den karaitischen Glauben angenommen hätten. Diese Konstruktion einer eigenständigen nichtjüdischen ethno-religiösen Gemeinschaft wurde von den meisten osteuropäischen Karäern übernommen. Sie sollte ihnen das Leben retten, als das nationalsozialistische Deutschland die Karäer nicht der jüdischen »Rasse« und Religion, sondern den Tataren zurechnete und sie deshalb nicht ermordete. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Zahl der Karäer im östlichen Europa stetig ab und im Jahre 1989 lebten im Gebiet der Sowjetunion nur noch 2.602 Karäer, von denen 502 Karaimisch als ihre Muttersprache angaben. Heute schätzt man die Zahl der Karäer in Osteuropa auf etwa 2.000, weltweit auf etwa 45.000; mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Israel. Sie stammen überwiegend aus 2 G./Gessen, Karaimy, 395.

98

Andreas Kappeler

Ägypten und dem Irak und bekennen sich zu ihrer traditionellen jüdisch-karäischen Identität.

Literatur Bruno Adler, Die Krim-Karäer in geschichtlicher, demographischer, und volkskundlicher Beziehung. In: Baessler-Archiv. Beiträge zur Völkerkunde 17/2 (1934), 103–133. Maksim Gammal, Karaimy v Rossijskoj imperii. In: Il’ja Lur’e (red.), Istorija evrejskogo naroda v Rossii, Bd. 2. Moskva 2017, 209–223. A. G./Ju. Gessen, Karaimy. In: Evrejskaja E˙nciklopedij, Bd. 9. Sankt Petersburg 1910, 263– 298. Kerstin S. Jobst, Die Perle des Imperiums: Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz 2007. Kerstin S. Jobst, Geschichte der Krim. Iphigenie und Putin auf Tauris. Oldenburg 2020. Mikhail Kizilov, The Karaites of Galicia. An Ethnoreligious Minority among the Ashkenazim, the Turks, and the Slavs, 1772–1945. Leiden/Boston 2009. Philip Miller, The Karaites of Czarist Russia, 1780–1918. In: Meira Polliack (Hg.), Karaite Judaism. A Guide to its History and Literary Sources. Leiden/Boston 2003, 819–826.

Wolfgang Mueller

Batum zwischen Industrialisierung, Migration und Revolution: Der östliche Schwarzmeerraum und südliche Kaukasus in k. u. k. Konsulatsberichten um 1900

Im Jahre 1849 eröffnete der Österreichische Lloyd eine Route von Konstantinopel nach Batum (Batumi, Georgien), damals Teil des Osmanischen Reiches. Dabei handelte es sich um eine jener Linien, welche die Triestiner Versicherungs- und Schifffahrtsgesellschaft vier Jahre zuvor samt sechs Fahrzeugen von der DonauDampfschifffahrtsgesellschaft übernommen hatte. Als Destination erschien der Umschlagplatz für Wolle, Seide, Holz und Metallwaren attraktiv, bot er doch nicht nur eine Basis für Handel und Transport in der östlichen Schwarzmeerregion, sondern auch einen Zugang nach Transkaukasien. 1850 legten monatlich zwei Dampfboote des Lloyd an. Zwar ging der Verkehr in der Folge deutlich zurück und kam aufgrund des Krimkrieges drei Jahre später völlig zum Erliegen. Als Batum nach einem weiteren russländisch-osmanischen Krieg 1878 Russland einverleibt wurde, intensivierten sich die Kontakte aber wieder.

Lev Feliksovicˇ Lagorio, Batum, 1881, © Orenburgskij oblastnoj muzej izobrazitel’nych iskusstv [Orenburger Gebietsmuseum der darstellenden Künste]

Im Frühling 1879 nahm der Lloyd den wöchentlichen Schiffsverkehr auf und im Oktober erlangte Österreich-Ungarn die Bewilligung, einen Vizekonsul in der

100

Wolfgang Mueller

Stadt zu ernennen. Die Beziehungen zwischen der Habsburgermonarchie und Russland hatten sich damals nach der tiefen Krise des Krimkrieges wieder erholt. Am 17. Juni 1884 genehmigte Kaiser Franz Joseph die Ernennung des lokalen Lloyd-Agenten, Anton Terenzio, zum Honorar-Vizekonsul, am 17. September 1888 wurde Ernst Ritter von Cischini zum Vizekonsul bestellt und am 25. Dezember 1896 Stephan (István) von Ugron zu Ábránfalva zum Konsul in Tiflis (Tbilisi, Georgien), dem nunmehr der Vizekonsul in Batum, der bisher an jenen in Odesa berichtet hatte, unterstand. Das folgende Kapitel skizziert zentrale Entwicklungen in der Region aus der Sicht der österreichisch-ungarischen Konsuln. Die Darstellung fokussiert soziale Veränderungen und revolutionäre Ereignisse und bietet damit einen Einblick in den dynamischen Strukturwandel an der imperialen Peripherie. Dabei werden zentrale Themen und Besonderheiten des von Kerstin Jobst als »eigenständige Geschichtsregion« positionierten Schwarzmeerraumes deutlich.1

Wirtschaft und Gesellschaft Von der Angliederung an das Russländische Imperium bis 1886 profitierte Batum von seinem Status als Freihafen. Durch die Erdölgewinnung am Kaspischen Meer, den Anschluss an die Bakuer Eisenbahnlinie 1883 und Erdölleitung 1886 stieg es zum bedeutendsten Ölhafen Russlands auf. Zu den größten Unternehmen zählten die Rothschild’sche Batumer Erdöl-Industrie- und Handelsgesellschaft (BNITO), die Raffinerie der Gebrüder Nobel sowie Fabriken für Ölfässer und Holzkisten zu deren Verschiffung. Etwa 5 % des via Batum exportierten Erdöls waren für Österreich-Ungarn bestimmt. Andere Exporte betrafen Teppiche und Pelze. Aus der Habsburgermonarchie wurden Holz für die genannten Kisten, weiters Medikamente, Gusseisen- und Stahlprodukte, insbesondere Werkzeug und Sensen, eingeführt. Ferner war sie nach dem British Empire der zweitgrößte Transporteur in die Region; 1895 legten 220 britische und 89 österreichisch-ungarische Dampfschiffe in Batum an. Die Wirtschaftskontakte erwiesen sich als resistent gegenüber den zwischenstaatlichen Krisen Russlands und der Donaumonarchie. Dennoch gingen infolge der Erschließung des galizischen Erdöls der österreichische Ölimport und infolge der Umstellung des Erdölexports auf Tankschiffe der Batumer Holzimport deutlich zurück. Der Anteil der Donaumonarchie am Export lag 1907 bei 0,5 % und am Import bei 2,5 %.2 1 Jobst, Schwarzmeerregion. Zu den k.u.k. Behörden in Batum und Tiflis: Agstner, ÖsterreichUngarn, 10–11. Sowie: Agstner, Österreich im Kaukasus. 2 Agstner, Österreich im Kaukasus, 17–18.

Batum zwischen Industrialisierung, Migration und Revolution

101

Der Wirtschaftsboom zog Arbeitskräfte an und verfünffachte die Bevölkerungszahl Batums von 4.970 Personen3 1873 auf 28.508 Personen 1897. Die größte Sprachgruppe waren Armenier (24 %), gefolgt von Russen (22 %), Georgiern (18 %), Griechen (10 %), Türken (5,8 %), Juden (3,7 %) und »Kleinrussen« (Ukrainern, 3 %).4 Der Zustrom von Arbeitern hatte vor allem den Anteil der Russen verdoppelt; krass wirkte er sich aber auch auf das Geschlechterverhältnis aus: 20.439 Männern standen nur 8.069 Frauen gegenüber. Neben den Einheimischen lebten in Batum auch Untertanen anderer Staaten, darunter 300 der Donaumonarchie. Nur etwa 100.000 der über 9 Millionen Einheimischen Transkaukasiens arbeiteten in der Industrie, die tägliche Arbeitslast betrug 11 bis 12 Stunden, der Tageslohn etwa 50 bis 60 Kopeken; Pauperisierung, Elend und Kinderarbeit waren, wie der k. u. k. Konsul aus Tiflis im Juni 1900 berichtete, verbreitet. Der Wirtschaftsboom machte sich auch in Form enormer Teuerung bei Brot, Fleisch und Brennholz und durch Geldknappheit bemerkbar, welche die Bankfilialen veranlasste, Barauszahlungen »längere Zeit hindurch« auszusetzen.5 Da die Bauern für ihre Parzellen Pacht zu entrichten bzw. Kredite zurückzuzahlen hatten, nahm auch unter der Landbevölkerung die Unzufriedenheit zu.

Migration Neben der sozialen sorgte auch die nationale Frage für Unruhe. 1896 lebten in Transkaukasien etwa 958.371 Armenier mit Schwerpunkten in den Gouvernements Erivan (Armenien) und Elisabethpol (Ganja, Aserbaidschan), wo sie 56 bzw. 35,4 % der Bevölkerung stellten. Der k. u. k. Vizekonsul lobte ihren Charakter als »arbeitsam, geschickt, unternehmend, für die Bildung gut angelegt, sparsam und strebsam«, weshalb sie den Großteil des Handels und bedeutsame Ämter in Verwaltung, Militär, unter Ärzten, Advokaten, Lehrern und Journalisten übernommen hätten. Sie hätten Schulen, Zeitungen, Druckereien und eine Buchgesellschaft gegründet und würden sich auf ihre Kirche, »in welcher der Separatismus mit der größten Energie aufrechterhalten wird«, stützen. Von Seiten russischer Nationalisten würden die Armenier daher als ein die Reichseinheit bedrohendes Element dargestellt und Maßnahmen zu deren »energische[n] Russifizierung« verlangt. Dabei seien, so der Vizekonsul, schon jetzt die 3 Brokgauz/Efron, Novyj e˙nciklopedicˇeskij slovar’, 412. 4 Trojnicki, Pervaja vseobsˇcˇaja perepis’, 88–89. 5 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Ministerium des Äußeren, Politisches Archiv (HHSTA, MdÄ, PA) XXXVIII, Konsulate 1900, Karton (K) 317, Über die wirthschaftliche [!] Lage im südlichen Kaukasus und über die Lage seiner Arbeiterbevölkerung, ad Bericht Nr. 27 des k. u. k. Konsulats Tiflis, 24. 6. 1900.

102

Wolfgang Mueller

Überwachungsmaßnahmen für Armenier im Kaukasus streng, 160 ihrer 201 Schulen geschlossen und die armenische Unterrichtsprache und Geschichtsinterpretation durch die russische ersetzt worden.6 Dazu kam die auf eine Zwangsvereinigung mit der Russisch-Orthodoxen Kirche abzielende zarische Politik. Verschärft wurde die Lage durch die massenhafte Flucht von Armeniern aus dem Osmanischen Reich infolge antiarmenischer Pogrome. Aus dem grenznahen Batum berichtete der k. u. k. Vizekonsul am 30. September 1896: »Die letzten Ereignisse in Constantinopel haben die kaukasischen Armenier lebhaft berührt und ihrem nationalen Gefühle neue Nahrung gegeben.«7 Unter dem Eindruck der Massaker im Osmanischen Reich und in Erwartung weiterer seien im vorangegangenen Monat circa 2.000 armenische Flüchtlinge in Batum gelandet. Bis Mitte Januar 1897 habe die Zahl der auf dem Landweg Eingewanderten circa 10.000 betragen,8 Ende Mai wurde die Zahl armenischer Immigranten auf insgesamt circa 50.000 bis 60.000 geschätzt.9 Dabei schienen viele Maßnahmen der Autoritäten nicht dazu angetan, Spannungen zwischen den Nationalitäten zu lindern, sondern sie vielmehr zu schüren. Der k. u. k. Konsul äußerte Kritik insbesondere am Oberkommandierenden der Kaukasischen Administration: Eine viel weniger glückliche Hand hat Fürst [Grigorij] Golitzyn in der Nationalitätenfrage gehabt. Dieselbe nimmt seit seinem Régime an Bedeutung zu. Grusiner u. Armenier stehen sich feindlicher gegenüber denn je, u. wird dieses schlechte Verhältniss durch einzelne der Regierung nahe stehende Blätter künstlich gefördert. Aber auch die Beziehungen zwischen den Behörden u. den Eingeborenen sind namentlich in den von Grusinern und Armeniern bewohnten Gegenden ein viel schlechteres [!] geworden. Hiezu hat der Umstand bedeutend beigetragen, dass Fürst Golitzyn, – um angeblich eine strammere Administration einzuführen –, die Eingeborenen von allen besseren einflussreicheren Stellen entfernt; dieselben mit Russen besetzt. Thatsächlich sind alle grusinischen Gouverneure durch ihn nach der Reihe entlassen worden; kein einziges Gouvernement wird derzeit von einem Eingeborenen verwaltet. Aber auch die anderen besserbezahlten Stellen bleiben Russen reserviert.10

Dem armenischen Zuzug stand die Abwanderung anderer Minoritäten gegenüber. Im Juli 1898 wandte sich eine Delegation von Duchoborzen, einer den Staat 6 Bericht des k. u. k. Vizekonsulats Batum, 24. 4. 1896. In: Agstner, Österreich im Kaukasus, 22. 7 Bericht des k. u. k. Vizekonsulats Batum, 30. 9. 1896. In: Agstner, Österreich im Kaukasus, 23. 8 Bericht des k. u. k. Vizekonsulats Batum, 14. 1. 1897. In: Agstner, Österreich im Kaukasus, 24. Den unter Sultan Abdul Hamid II. durchgeführten Massakern an der armenischen Bevölkerung fielen 80.000 bis 300.000 Menschen zum Opfer. Bei Massakern und Todesmärschen im Osmanischen Reich 1915/16 kamen weitere circa 300.000 bis 1,5 Millionen Armenier und Armenierinnen ums Leben. 9 Bericht des k. u. k. Konsulats Tiflis, 30. 5. 1897. In: Agstner, Österreich im Kaukasus, 38. 10 HHSTA, MdÄ, PA XXXVIII, Konsulate 1898, K 311, Politischer Bericht Nr. 20 des k.u.k. Konsulats Tiflis, 3. 9. 1898.

Batum zwischen Industrialisierung, Migration und Revolution

103

und die Amtskirche ablehnenden russisch-orthodoxen Sekte, die im Transkaukasus etwa 8.000 Mitglieder zählte, infolge »systematischer Unterdrückung durch die russischen Autoritäten« an das britische Konsulat in Batum mit der Bitte um Einreiseerlaubnis in Zypern. Im Dezember brachen 2.500 Duchoborzen in Richtung Kanada auf. Seitens des k.u.k. Konsulats Tiflis wurde die Auswanderung der als »nüchtern, sparsam, arbeitsam« beschriebenen Menschen als »eminenter Verlust« bezeichnet.11 Die Zahl zarischer Untertanen griechischer Nationalität in Transkaukasien, die sich laut Bericht infolge des steigenden Russifizierungsdruckes, der Schließung ihrer Gemeindeschulen und des Verbots ihres Sprachunterrichts 1899 zur Auswanderung entschlossen, wurde auf 20.000 geschätzt.12 Ferner verzeichnete das k. u. k. Konsulat Tiflis die Ausreiseabsicht von 6.000 bei Elisabethpol angesiedelten Muslimen. Hinzu kamen Umsiedelungsmaßnahmen wie die polizeiliche Anordnung an alle »wohnhaften, jedoch nicht ansessigen [!] u. in die Gemeinde eingeschriebenen Juden« der Stadt Baku 1898, diese »in kürzester Frist zu verlassen«13.

Revolution Bald spitzte sich auch die soziale Frage zu. Bereits im März 1902 hatten Streiks in den Batumer Erdölkistenfabriken und deren Niederschlagung 13 Tote und 19 Verletzte gefordert. Im Juni 1903 folgte ein Generalstreik, anlässlich dessen man rote Fahnen sehen und Rufe »Nieder mit dem Zaren« hören konnte.14 Nationale, soziale und politische Konflikte eskalierten in der Revolution von 1905, als Batum, wie der k. u. k. Gerent berichtete, von Anarchie erfasst wurde: Die revolutionären Führer haben die Arbeiter so stark bearbeitet, dass diese zu ihren blinden und gehorsamen Werkzeugen geworden sind […] Einschüchterung und Terror haben ihren Höhepunkt erreicht und die Handelswelt weiß nicht mehr, welchen Hei-

11 Berichte des k. u. k. Vizekonsulats Batum, 29.7. und 22. 12. 1898; des k. u. k. Konsulats Tiflis, 14.8. und 2. 11. 1898. In: Agstner, Österreich im Kaukasus, 24–25; 39; HHSTA, MdÄ, PA XXXVIII, Konsulate 1898, K. 311, Politischer Bericht Nr. 2 des k. u. k. Vizekonsulats Batum, 4. 1. 1899. 12 Berichte des k. u. k. Vizekonsulats Batum, 29. 8. 1899, des k. u. k. Konsulats Tiflis, 21. 3. 1898. In: Agstner, Österreich im Kaukasus, 25. 13 HHSTA, MdÄ, PA XXXVIII, Konsulate 1898, K 311, Politischer Bericht Nr. 4 des k. u. k. Konsulats Tiflis, 12. 5. 1898. 14 Berichte des k. u. k. Vizekonsulats Batum, 25. 3. 1902 und 5. 8. 1903. In: Agstner, Österreich im Kaukasus, 25–26.

104

Wolfgang Mueller

ligen sie sich zuwenden soll […] Morde, Plünderungen, Raubüberfälle sind an der Tagesordnung.15

Anfang Juli alarmierte die Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potëmkin die Batumer Garnison, elektrische Scheinwerfer suchten in der Nacht die offene See ab. Am 8. Juli brach ein offener Aufstand los und der k. u. k. Gerent notierte hastig: »Heute allgemeiner Aufstand. Behörde trifft Maßregeln um Ordnung; patrouillieren Soldaten, Kosaken, Geschwader erwartet.«16 Das zarische Oktober-Manifest brachte keine Beruhigung der Lage, sondern wurde mit einem Generalstreik und dieser wiederum mit der militärischen Besetzung der Stadt beantwortet. Vom 11. bis 14. Dezember befand sich das Stadtzentrum wieder in der Hand Aufständischer; bei Kämpfen waren neun Tote und 40 Verwundete zu beklagen. Die Erschießung eines der Anführer, des Advokaten Dinin, beantwortete das Revolutionskomitee von Batum mit einem Attentat auf den Distriktkommandanten, dem auch ein ihn begleitender Bey zum Opfer fiel. Im Februar 1906 entspannte sich zwar die Situation so weit, dass der provisorische Gouverneur General Nikolaj Vasil’ev den k. u. k. Gerenten versicherte, die Schifffahrt nach Batum könne wieder aufgenommen werden. Doch bereits Ende September informierte die lokale Militärregierung das diplomatische Corps, dass man neue Unruhen erwarte und angesichts drohender Attentate die Konsuln auffordere, stets offen eine Pistole zu tragen.17 Zwar blieb eine neue Eskalation vorerst aus, doch belegen Berichte aus den folgenden Jahren eine Welle politischer Attentate, unpolitischer Entführungen, Lösegelderpressungen und Morde sowie der regelmäßigen Entdeckung illegaler Werkstätten zur Herstellung von Bomben.

Ausblick und Zusammenfassung Als der Erste Weltkrieg begann, wurden die k. u. k. Behörden in Tiflis und Batum geschlossen. Die durch die Schwarzmeerschifffahrt eingeleiteten, durch den Handel vorangetriebenen und von den Krisen zwischen der Habsburgermonarchie und Russland lange relativ unberührten Beziehungen zum östlichen Schwarzmeerraum kamen damit zu ihrem vorläufigen Ende. Die Schlüssel des Konsulatsgebäudes wurden dem Hauswart, Stefan Witmann, einem zarischen 15 Bericht des k. u. k. Vizekonsulats Batum, 1. 2. 1905. In: Agstner, Österreich im Kaukasus, 26. Übersetzung durch den Autor. 16 Bericht des k. u. k. Vizekonsulats Batum, 8. 7. 1905 (Zitat), 8.11. und 29. 12. 1905. In: Agstner, Österreich im Kaukasus, 27. 17 Berichte des k. u. k. Vizekonsulats Batum, 6.3. und 28. 9. 1906. In: Agstner, Österreich im Kaukasus, 27.

Batum zwischen Industrialisierung, Migration und Revolution

105

Untertanen deutscher Nationalität, zur Verwahrung ausgehändigt, der allerdings im folgenden Jahr wegen angeblicher Spionage verhaftet und nach Samara deportiert wurde. Dank der Intervention des US-Konsuls konnte Witmann befreit werden.18 Nach der kriegsbedingten Unterbrechung konsularischer Kontakte wurde im Juni 1918 Georg von Franckenstein zum k. u. k. Vertreter in der neu konstituierten Republik Georgien ernannt. Die Anerkennung durch die Republik Österreich erfolgte am 11. Februar 1921. Die hier skizzenhaft analysierten Konsulatsberichte aus Batum spiegeln nicht die Spannungen zwischen den beiden Imperien wider, jedoch die dynamischen Veränderungen auf der wirtschaftlichen, sozialen, ethnischen und politischen Landkarte, welche sich in sozialen Kämpfen, Massakern, Migrationsströmen und schließlich der Revolution von 1905 entluden. Dabei zeigen sich auch mehrere der von Kerstin Jobst für den nördlichen Schwarzmeerraum identifizierten Charakteristika, namentlich die Bedeutung des Handels, die ethnische Durchmischung und die damit verbundenen Verwerfungen an der Peripherie multinationaler Staatsgebilde.19

Literatur Rudolf Agstner (Bearb.), Österreich im Kaukasus 1849–1918. Wien 1999. Rudolf Agstner, Österreich-Ungarn & Georgien. In: Botschaft Georgiens in Österreich (Hg.), 20 Jahre Diplomatische Beziehungen Georgien – Österreich. Wien 2013, 10–11. F. A. Brokgauz [Friedrich Arnold Brockhaus]/I[l’ja] A. Efron (Hg.), Novyj enciklopedicˇeskij slovar’, Bd. 5, St. Peterburg 1911. Ronald Grigor Suny, Armenian Genocide, 26. 5. 2015. In: International Encyclopedia of the First World War 1914–1918 (2015), https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article /armenian_genocide (26. 11. 2021). Kerstin S. Jobst, Geschichte der Krim: Iphigenie und Putin auf Tauris. München 2020. Kerstin S. Jobst, Nördliche Schwarzmeerregion. In: Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz (Hg.), Europäische Geschichte Online (EGO) (20. 10. 2015), http://ieg -ego.eu/de/threads/crossroads/grenzregionen/kerstin-susanne-jobst-noerdliche-schw arzmeerregion (26. 11. 2021). Wolfgang Mueller/Olga Pavlenko, Russland und die Habsburgermonarchie 1853–1914: Von Krisen zum Untergang. In: Stefan Karner/Alexander Tschubarjan (Hg.), Österreich – Russland: Stationen gemeinsamer Geschichte. Graz 2018, 63–89. N. A. Trojnicki (Red.), Pervaja vseobsˇcˇaja perepis’ naselenija Rossijskoj imperii 1897, Bd. LXVI, St. Peterburg 1905.

18 Agstner, Österreich im Kaukasus, 36. 19 Jobst, Schwarzmeerregion, 34.

106

Wolfgang Mueller

Marija Wakounig, Dissens versus Konsens: Das Österreichbild in Russland während der franzisko-josephinischen Ära. In: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VI, Teilbd. 2. Wien 1993, 436–490.

Stefaniya Ptashnyk

Die Darstellung der ruthenischen Sprache im Galizien-Band des Kronprinzenwerks

Vorbemerkungen Das enzyklopädische Werk mit dem Titel Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild wurde von Kronprinz Rudolf initiiert und zwischen 1885 und 1902 in Wien und in Budapest auf Deutsch sowie auf Ungarisch veröffentlicht. Mit diesem Kronprinzenwerk (im Weiteren: KPW) verfolgte Rudolf das Ziel, den nationalen Bewegungen in der Monarchie den Gedanken der Zusammengehörigkeit und der gegenseitigen Toleranz entgegenzustellen, um so »die für die Gegenwart und Zukunft überzeugende Berechtigung eines Vielvölkerstaates« unter Beweis zu stellen.1 Das KPW widmete sich unter anderem der Sprachenvielfalt der Habsburger Monarchie, die mehrere slawische Sprachen umfasste. Dazu gehörte auch das Ruthenische, eine historische Varietät der ukrainischen Sprache bzw. die Sprache der westukrainischen Bevölkerung, die in den Gebieten der k. u. k. Monarchie bis 1918 gesprochen und geschrieben wurde. In den öffentlichen Diskursen des 19. Jahrhunderts wurde der Stellenwert des Ruthenischen als eigenständige Sprache oft hinterfragt. Auch das Verhältnis zwischen den Bezeichnungen Ruthenisch und Ukrainisch blieb lange Zeit ungeklärt. Im Folgenden soll deshalb erörtert werden, wie das Ruthenische im KPW beleuchtet wurde. Als Analysematerial werden dafür Texte aus dem Band 19 über das Kronland Galizien (KPW 19) herangezogen. Dieser Band wurde 1898 gedruckt und umfasst knapp 900 Seiten. Die philologischen Beiträge des Bandes stammen von dem Slawisten Lucian Malinowski (über die polnischen Mundarten), dem Linguisten und Schriftsteller Johann Werchratskij2 (über die ruthenischen Mundarten), dem 1 Bendix, Ethnographie, 295. 2 Hier und im Weiteren wird die Schreibung aller Eigennamen, also sowohl Personen- und Ortsnamen als auch Gruppen-, Sprachen- und Varietätenbezeichnungen, in der Originalorthographie des KPW übernommen, auch wenn diese Schreibweisen innerhalb des Bandes teilweise differieren. Auf eine philologisch-phonetische Transkription wird aus Platzgründen verzichtet.

108

Stefaniya Ptashnyk

polnischen Literarhistoriker und Publizisten Stanislaus Graf Tarnowski (über die polnische Literatur) sowie dem Professor der Lemberger Universität Emil Ohonowskij (Ogonowski) sowie seiner Mitarbeiter O. Makarusˇka und Wł. Kocowskij (über die ruthenische Literatur).

Die Darstellung des Ruthenischen im Galizien-Band (KPW 19) Die linguistischen Besonderheiten des Ruthenischen sind im dreizehnseitigen Beitrag des Lemberger Sprachforschers und Schriftstellers Johann Werchratskij »Die ruthenischen Mundarten« detailliert beschrieben.3 Hier ist zu lesen: Sämmtliche Dialecte der Ruthenen Galiziens gehören zur rothrussischen Mundart der ruthenischen (kleinrussischen) Sprache und lassen sich in zwei Gruppen, die westruthenische und die ostruthenische scheiden. Doch muß hiebei bemerkt werden, daß die einzelnen Dialecte wohl nach ihren Merkmalen zusammengestellt, doch nicht immer ganz scharf von einander getrennt werden können, da die Dialecte auf vielfache Weise in einander übergehen und zusammenfließen.4

Auffällig an der Aussage Werchratskijs ist zunächst die mangelnde Eindeutigkeit in der Beschreibung der Sprache der galizischen Ruthenen. Einerseits fasst er das Ruthenische als einen Bestandteil der »kleinrussischen« Sprache auf; andererseits verwendet er die Bezeichnung »rothrussische Mundart«, worunter mehrere Dialekte subsummiert sind. Aus philologischer Sicht werfen diese Äußerungen mehrere Fragen auf, etwa: Wie ist nun das Verhältnis zwischen »kleinrussisch« und »rotrussisch«? Und zwischen »Dialekt« und »Mundart«? Werchratskij vertritt ferner die Ansicht, das Ruthenische als Sprache sei ein Kontinuum, das aus verschiedenen Dialekten bestehe, welche ineinander übergehen und nicht immer klar voneinander zu unterscheiden sind. In seinem Beitrag geht er ausführlich auf die einzelnen Dialekte jener regionalen Bevölkerungsgruppen ein, die er zur ruthenischen Nationalität zählt, wie zum Beispiel Lemken, Bojken, Opolaner, Huzulen etc. Diese Dialekte werden hinsichtlich des Vokalismus, des Konsonantismus, der Flexion und der Wortschatzbesonderheiten beschrieben. Dabei weist Werchratskij auf die Gemeinsamkeiten mancher Dialekte des Ruthenischen mit den polnischen Dialekten hin. Dies gelte beispielsweise für die Dialekte der Lemken und der Zamisˇcˇantzen, in welchen der Wortakzent stets auf die vorletzte Silbe fällt, was auch im Polnischen der Fall sei. Ferner werden Bezüge zum benachbarten Rumänischen und Ungarischen thematisiert. Insbesondere treffe das für den huzulischen Dialekt zu:

3 Werchratskij, Die ruthenischen Mundarten, 510–523. 4 Ebd., 510–511.

Die Darstellung der ruthenischen Sprache im Galizien-Band des Kronprinzenwerks

109

Der huzulische Wortschatz gehört auch zu den reichhaltigsten; doch gibt es drin manche dem Rumunischen oder Magyarischen entlehnte Wörter, welche anderen ruthenischen Mundarten fremd bleiben.5

Die Ausführungen Werchratskijs über ruthenische Dialekte umfassen nicht nur linguistische Aussagen, sondern auch auditiv-ästhetische Charakteristiken, etwa die Bewertungen des Klangs: Die Gebirgsdialecte (Haupt-Repräsentanten: die Idiome der Lemken, Bojken und Huzulen) klingen im Ganzen rauher und härter, haben aber größeren Reichtum an Ausdrücken und größere Mannigfaltigkeit an Formen, als die Mundarten des Flachlandes, die sich durch ihren weicheren Klang und beständigere grammatische Formen auszeichnen.6

Auch für die wolhynisch-podolische Mundart hebt der Autor den besonderen Wohlklang hervor: »Viele Volkslieder in dieser Mundart werden vom ruthenischen Volke, selbst hie und da von Lemken mit Vorliebe gesungen.«7 Weitere Einblicke in die zeitgenössische Auffassung des Ruthenischen bietet der Beitrag über die »Ruthenische Literatur«, der von Emil Ohonowskij (Ogonowski) begonnen und nach seinem Tod von den jüngeren Kollegen O. Makarusˇka und Wł. Kocowskij fertiggestellt wurde.8 Der Fokus dieser Abhandlung liegt auf der ruthenischen Schriftlichkeit, deren Anfänge mit dem 11. Jahrhundert datiert werden, also der Zeit, als die Gebiete Ostgaliziens zum Kiewer Großfürstentum gehörten. Die Autoren treffen eine klare Unterscheidung zwischen dem Ruthenischen und anderen, in der Vergangenheit auf dem Territorium Galiziens gebräuchlichen Schriftsprachen. So wird vermerkt, dass mit der Christianisierung in diese Gebiete auch der Gebrauch des Kirchenslawischen Einzug gehalten habe, welches – »wie das Altgriechische im Osten und das Lateinische im Westen, die gesammte Literatur der von Constantinopel anhängigen Slaven, folglich auch jene der Ruthenen, beherrschte«.9 In dieser kirchenslawischen Schriftlichkeit würden sich jedoch Spuren der Volkssprache finden: Die Schriftgelehrten der ersten Periode, zumeist Mönche, bedienten sich in ihren Werken der kirchenslavischen Sprache, welche von der Volkssprache des damaligen Südrußlands weit abstand. Da aber nicht jeder Schreibende diese Sprache vollkommen beherrschte, so kommen in den damaligen Sprachdenkmälern, namentlich in denje-

5 6 7 8 9

Ebd., 518. Ebd., 522. Ebd., 521. Ohonowskij, Ruthenische Literatur, 649–664. Ebd., 649.

110

Stefaniya Ptashnyk

nigen, die von Laien verfaßt wurden, mitunter Wortformen und Wendungen vor, welche der Volkssprache entnommen sind.10

Einen zentralen Platz im Galizien-Band nehmen die thematischen Stränge der Eigenständigkeit des Ruthenischen, seines Gebrauchs als Literatursprache und seiner Normierung ein. In diesem Kontext wird das Jahr des Völkerfrühlings 1848 als eine wichtige Zäsur für die Entwicklung des Ruthenischen genannt: Das Jahr 1848 ist in der Geschichte der Wiedergeburt der ruthenischen Nation hauptsächlich deshalb wichtig, weil am 19. October die sogenannte Gelehrtenversammlung in Lemberg zusammentrat, um über die Art und Weise der Hebung der ruthenischen Sprache und Literatur zu berathschlagen […] Sie betonten mit großem Nachdruck die Bildungsfähigkeit der ruthenischen Sprache und behaupteten, daß das ruthenische Volk den Russen und Polen gegenüber seine eigene Literatur haben müsse.11

Werchratskij hebt aus der Gesamtheit der Dialekte des Ruthenischen die wolhynisch-podolische Varietät hervor als diejenige »Mundart […], deren Formen in der Büchersprache der Ruthenen zum größten Theile herrschend wurden«.12 Ohonowskij, Makarusˇka und Kocowskij schreiben dem ukrainischen Geistlichen und Gelehrten Sˇasˇkewycˇ eine wichtige Rolle in der Etablierung der ruthenischen Literatursprache zu, denn er habe »die im Munde des gemeinen Volkes in Galizien und in der Ukraine fortlebende ruthenische Sprache für literarische Zwecke« genutzt.13 Sˇasˇkewycˇ verfasste 1850 ein ruthenisches Lesebuch für Schulkinder, übersetzte die Evangelien von Matthäus und Johannes in die ruthenische Sprache und schrieb populäre Predigten in der Volkssprache. Somit gelte er, nach Ansicht der Autoren, als Begründer der national-ruthenischen Literatur in Galizien.14 Darüber hinaus geht Werchratskij auf die zeitgenössischen Diskussionen über die Stellung des Ruthenischen innerhalb der slawischen Sprachfamilie bzw. um seine Abgrenzung gegenüber dem Polnischen und dem Russischen ein. Bekanntlich schieden sich in dieser Frage die Geister, die für Sprachenkämpfe im 19. Jahrhundert sorgten: Während Sˇasˇkewycˇ sich ein bestimmtes Ziel in seiner literarischen Thätigkeit steckte und dasselbe consequent verfolgte, während er sich der Selbständigkeit des Ruthenischen gegenüber den benachbarten slavischen Sprachen klar bewußt war, sind seine Schicksalsgenossen Holowackij und Wahylewycˇ ihren ursprünglichen Ideen insofern untreu geworden, als Holowackij den sprachlichen Anschluß der Ruthenen an die

10 11 12 13 14

Ebd. Ebd., 657. Werchratskij, Die ruthenischen Mundarten, 521. Ohonowskij, Ruthenische Literatur, 656. Ebd., 655.

Die Darstellung der ruthenischen Sprache im Galizien-Band des Kronprinzenwerks

111

Russen verfocht, Wahylewycˇ aber seine Geisteskräfte größtentheils der Förderung polnischer Literatur widmete.15

Im Kontext der Normierungsprozesse des Ruthenischen im 19. Jahrhundert sowie in den Diskursen um seine Eigenständigkeit stellte das ruthenische (kyrillische) Alphabet ein sehr wichtiges und viel diskutiertes Thema dar, was der bereits erwähnte Beitrag von Ohonowskij, Makarusˇka und Kocowskij bezeugt. Darin wird der bekannte »Alphabetkrieg« um die Mitte des 19. Jahrhunderts erwähnt, als den Ruthenen »die Landesregierung das lateinische Alphabet aufoctroyiren wollte«.16 Die Autoren machen ihre eigene Position in dieser Frage deutlich, indem sie die »Selbständigkeit des Ruthenischen« mit einem eigenen, kyrillischen Alphabet gutheißen und die anderen Positionen, etwa von dem Folkloristen und Professor für Ruthenische Sprache und Literatur an der Universität Lemberg Jakob Hołowackij (Głowacki) oder von dem Historiker ukrainischer Literatur, Schriftsteller und Philologen Johann Wahyłewycˇ als »untreu« bewerten, da die beiden die Zukunft des Ruthenischen entweder in einer engeren Bindung an das Polnische oder an das Russische gesehen hätten. Ohonowskij, Makarusˇka und Kocowskij kritisieren ferner »die sprachlichen Experimente« von Zeitgenossen wie des Theologen, Schriftstellers und Journalisten Johann Husˇalewycz. Letzterer hätte sich »auf der Suche nach einer Literaturnorm« einer »Zwittersprache« bedient, die »weder ruthenisch, noch russisch« war.17 Lobend werden im Band 19 die zeitgenössischen Grammatiken und Wörterbücher des Ruthenischen erwähnt, da sie einen deutlichen Beitrag zur Pflege des Ruthenischen leisteten. Ohonowskij, Makarusˇka und Kocowskij nennen eine Reihe wichtiger Akteure, die an der Normierung des Ruthenischen aktiv beteiligt gewesen seien: Ruthenische Grammatiken haben nachstehende Schriftsteller veröffentlicht: Łucˇkay, Josef Łewyckij, Josef Łozyn´skij, Johann Wahyłewycˇ, Jakob Hołowackij, Philipp D’acˇan, Michael Osadca, […] Stefan Smal-Stockij, Gregor Sˇasˇkewycˇ, Johann Hlibowyckij, Emil Popowycˇ und andere […] Auf dem Gebiete der Lexikographie waren mehrere Fachmänner thätig: Emil Partyckij redigierte und veröffentlichte aus den in den SechzigerJahren von den griechisch-katholischen Seminarzöglingen gesammelten Materialien ein deutsch-ruthenisches Wörterbuch, und Eugen Z˙ełechowskij (Z˙ełechiwskyj) gab ein ruthenisch-deutsches Wörterbuch heraus […] Zu den Lexikographen gehört auch Konstantin Łewyckij, welcher im Jahre 1893 die juridische Terminologie herausgegeben hat.18

15 16 17 18

Ebd., 656. Ebd., 658. Ebd. Ebd., 662–663.

112

Stefaniya Ptashnyk

Trotz der regen zeitgenössischen Debatten um die Stellung des Ruthenischen blieb – wie eingangs erwähnt – bis ins späte 19. Jahrhundert das Verhältnis zwischen den Bezeichnungen »Ruthenisch« und »Ukrainisch« nicht genau festgelegt. Werchratskyj etwa verwendet die beiden Ausdrücke nebeneinander: In dem am meisten gegen den Osten gelegenen Theil Galiziens zwischen Zbrucz und Seret (Nebenfluß des Dniestr), sowie auch in der Umgegend von Brody, Złoczów, zum Theile von Kaminka strumiłowa und Sokal bis an den Bug wird die sogenannte wolhynisch-podolische Mundart gesprochen, die sich durch ihre Reinheit, Vorliebe zu den offenen Vocalen a und я, ihren Wohlklang und große Verwandtheit mit der ukrainischen Mundart auszeichnet.19

Aus den analysierten Beiträgen geht insgesamt hervor, dass zum Zeitpunkt der Entstehung des KPW das Ruthenische und das Ukrainische als zwei verschiedene Sprachen aufgefasst wurden. Zugleich wurde für eine Abgrenzung des Ruthenischen vom Polnischen und vom Russischen plädiert. Als ein wichtiges Leitmotiv lässt sich in den Schilderungen des Ruthenischen der Grundgedanke oder vielmehr ein Appell festhalten, dass es sich beim Ruthenischen um eine eigenständige Sprache handle, die sich trotz enger Verwandtschaft von den Nachbarsprachen klar unterscheide und eine eigenständige Schriftlichkeit besitze bzw. entwickle. Diesen Gedanken greifen auch die Abschlussformulierungen von Ohonowskij, Makarusˇka und Kocowskij auf, welche ihrerseits betonen, dass die galizischen Ruthenen »unter der constitutionellen österreichischen Regierung in der Entwicklung ihrer Sprache und Literatur vorwärts schreiten und somit in ihren Culturbestrebungen […] Erhebliches geleistet haben«.20

Fazit In der bestehenden Sekundärliteratur wurde vielfach hervorgehoben, dass mit dem Kronprinzenwerk ein »hegemoniales Instrument« geschaffen wurde, mit dessen Hilfe der breiten Öffentlichkeit »ein monarchisch kontrolliertes Bild des Nebeneinanders im Vielvölkerstaat« präsentiert werden sollte.21 Für die Darstellung des Ruthenischen scheint dieses Instrumentarium im ausgehenden 19. Jahrhundert, zur Zeit der Entstehung des KPW, immer noch nicht ausgereift gewesen zu sein. Einerseits folgen die Darstellungen der Ruthenen und ihrer Sprache denselben Prinzipien wie die offiziellen Statistiken, in welchen diese Sprache als eine eigenständige Entität erfasst wurde. Andererseits sind in den analysierten Bänden Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Abgrenzung 19 Werchratskij, Die ruthenischen Mundarten, 521. 20 Ohonowskij, Ruthenische Literatur, 664. 21 Bendix, Ethnographie, 303–304.

Die Darstellung der ruthenischen Sprache im Galizien-Band des Kronprinzenwerks

113

der ruthenischen Schriftlichkeit von der polnisch- und russischsprachigen Literatur belegt. Auch das Verhältnis zwischen dem Ruthenischen in ÖsterreichUngarn und der Sprache der (Ost-)Ukrainer jenseits der österreichisch-russischen Grenzen findet keine eindeutige Erläuterung. Zudem finden sich im Galizien-Band des KPW Konkurrenzbezeichnungen wie »rotrussisch« oder »kleinrussisch«. Im Endeffekt bleibt die Reichweite des Begriffes »Ruthenisch« ambig und wenig konturiert. Mit Sicherheit spiegeln die analysierten Äußerungen die vorherrschenden zeitgenössischen historischen und philologischen Ansichten wider, da ihre Autoren größtenteils kaiserlich-königliche Bildungseinrichtungen durchlaufen hatten und entsprechend mit diesem Denkstil verbunden waren. Somit sind die Schilderungen des Ruthenischen im KPW als Symptome für breit geführte öffentliche Diskurse zu sehen, die um den Stellenwert und die Eigenständigkeit des Ruthenischen sowie seiner Schriftlichkeit um 19. Jahrhundert in der Monarchie geführt wurden.

Quellen Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Auf Anregung und unter Mitwirkung seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen Erzherzog Rudolf [KPW]. 24 Bände. Wien 1886–1902. Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, 19. Band: Galizien [KPW 19]. Wien 1898. Emil Ohonowskij (Ogonowski), Ruthenische Literatur. Nach dem Tode des Verfassers redigirt von O. Makarusˇka und Wł. Kocowskij. In: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, 19. Band: Galizien. Wien 1898, 649–664. Johann Werchratskij, Die ruthenischen Mundarten. In: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, 19. Band: Galizien. Wien 1898, 510–522.

Literaturverzeichnis Regina Bendix, Kaiserlich-königliche Ethnographie: Motivationen und Praxen von Wissensorganisatoren und -produzenten zwischen Zentrum und Peripherie. In: Wladimir Fischer/Waltraud Heindl/Alexandra Millner/Wolfgang Müller-Funk (Hg.), Räume und Grenzen in der österreichisch-ungarischen Monarchie von 1867 bis 1918. Kulturwissenschaftliche Annäherung. Tübingen 2010, 293–304. Jurij Fikfak/Reinhard Johler, Einbegleitung. In: Jurij Fikfak/Reinhard Johler (Hg.): Ethnographie in Serie. Zu Produktion und Rezeption der »Österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild«. Wien 2008, 7–27.

114

Stefaniya Ptashnyk

Philipp Hofeneder, Galizisch-ruthenische Mittelschullehrbücher und ihre sprachliche bzw. inhaltliche Ausrichtung. In: Kakanien revisited 1 (2009), 1–11 (http://www.kakanien-re visited.at/beitr/fallstudie/PHofeneder1.pdf, zuletzt eingesehen am 29. 12. 2021). Michael Moser, Die sprachliche Erneuerung der galizischen Ukrainer zwischen 1772 und 1848/1849 im mitteleuropäischen Kontext. In: Ivo Pospísˇil/Michael Moser (Hg.), Contemporary Cultural Studies in Central Europe. Brno 2004, 81–118. Zoltán Szász, Das »Kronprinzenwerk« und dessen Konzeption. In: Endre Kiss/Czaba Kiss/ Justin Stagl (Hg.), Nation und Nationalismus in wissenschaftlichen Standardwerken Österreich-Ungarns, ca. 1867–1918. Wien u. a. 1997, 65–70.

Elisabeth Haid-Lener

Von der Monarchie zur Republik. Demokratisierung und ihre Grenzen in Ostgalizien

Angesichts der Auflösung der Habsburgermonarchie im Herbst 1918 beanspruchten sowohl polnische als auch ukrainische politische Akteure das multiethnische Ostgalizien für ihren künftigen Nationalstaat – als Kerngebiet eines westukrainischen oder als Teil eines vereinigten polnischen Staates. Ukrainische Aktivisten konnten sich auf eine ukrainische Bevölkerungsmehrheit, polnische auf eine polnische Elite in der Region berufen. Kurz nach der ukrainischen Machtergreifung im November 1918 kulminierte die polnisch-ukrainische Konkurrenz in einem Krieg um Ostgalizien. Die nach der ukrainischen Niederlage 1919 erfolgte Eingliederung in den polnischen Staat blieb in der ukrainischen Bevölkerung umstritten. Weit weniger umstritten war der Übergang von der Monarchie zur Republik. Sowohl die kurzlebige Westukrainische Volksrepublik als auch die Zweite Polnische Republik bekannten sich zu demokratischen Prinzipien und verankerten in ihren Verfassungen das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. Inwieweit wurden diese demokratischen Prinzipien jedoch in die Praxis umgesetzt? Inwiefern unterschieden sich die neuen Regime von der konstitutionellen Monarchie der späten Habsburgermonarchie? Im Folgenden sollen politische Strukturen und Möglichkeiten politischer Partizipation sowie Hürden und Grenzen der Demokratisierung untersucht werden. Besonderes Augenmerk liegt auf dem Vergleich zwischen staatlicher und lokaler Ebene. Während mit Blick auf das Parlament erweiterte Partizipationsmöglichkeiten und Abbau von Privilegien deutlich werden, unterlag die lokale Selbstverwaltung weiteren Beschränkungen. Eine wesentliche Herausforderung stellte in beiden Fällen das Problem der von Heidi Hein-Kircher und Steffen Kailitz beschriebenen double transformation dar, d. h. der verflochtene Prozess von Demokratisierung und Nationsbildung. Ostgalizien ist hierfür ein gutes Beispiel. Das Parlament kann bereits in der Habsburgermonarchie (zumindest in der österreichischen Reichshälfte) als ein Vorreiter der Demokratisierung gelten. Ein wichtiger Schritt erfolgte 1907 mit der Abschaffung des Kurienwahlsystems und der Einführung des allgemeinen, gleichen Männerwahlrechts für das Abgeord-

116

Elisabeth Haid-Lener

netenhaus des Reichsrats. Weitere Schritte folgten im Übergang von der Monarchie zur Republik – in Hinblick auf die Kompetenzen des Parlaments, aber auch hinsichtlich des Kreises der Wahlberechtigten. Sowohl die Westukrainische als auch die Zweite Polnische Republik erweiterten den Kreis der Wähler vor allem durch die Einführung des Frauenwahlrechts, aber auch durch die Senkung des Wahlalters von 24 auf 21 Jahre. Das polnische Parlament war zwar wie der österreichische Reichsrat ein Zweikammerparlament. Im Gegensatz zum österreichischen Herrenhaus wurde der polnische Senat allerdings gewählt, und zwar nach den gleichen Prinzipien wie das Abgeordnetenhaus. Zudem wurde die Rolle des Parlaments gegenüber dem Staatoberhaupt deutlich gestärkt. Die Macht des Reichsrats war durch die Vorrechte des Monarchen beschränkt gewesen: Die Regierung wurde vom Kaiser ernannt und entlassen und war gegenüber diesem, nicht dem Parlament, verantwortlich. Andererseits gestand die polnische Verfassung von 1921 dem Präsidenten nur eine repräsentative Rolle zu. Weitere Reformen begünstigten die Repräsentation von Minderheiten. Diese war in dem im April 1919 verabschiedeten Wahlrecht der Westukrainischen Volksrepublik, welches das Konzept der nationalen personalen Autonomie aufgriff, besonders ausgeprägt. Zwar hatte dieses Konzept, das die Bevölkerung in nationale Kataster einteilte, auf regionaler Ebene bereits vor dem Ersten Weltkrieg in einzelnen habsburgischen Kronländern (darunter Galizien) Anwendung gefunden, allerdings im Rahmen eines sozial differenzierenden Kurienwahlsystems. Das ukrainische Wahlrecht basierte hingegen auf allgemeinen, gleichen Wahlen, und die einzelnen Nationalitäten – worunter, anders als in der Habsburgermonarchie, neben Ukrainern, Polen und Deutschen auch Juden verstanden wurden – sollten entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil repräsentiert sein. In der Polnischen Republik kam das Verhältniswahlrecht nationalen und politischen Minderheiten zugute. In der Habsburgermonarchie hatte das Mehrheitswahlrecht bei Reichsratswahlen gerade in Galizien für reale Ungleichheiten gesorgt. Eine galizische Besonderheit waren Zweimandatskreise gewesen, in denen die beiden stärksten Kandidaten ein Mandat erlangten. Dies sollte eine Repräsentation der polnischen Minderheit in den ländlichen Wahlkreisen Ostgaliziens sichern. In den städtischen Wahlkreisen, wo Polen zumeist die Mehrheit stellten, galt dieses System der Minderheitenrepräsentation nicht. Zudem privilegierte das galizische Wahlsystem städtische gegenüber ländlichen Gemeinden hinsichtlich der Zahl der Mandate im Verhältnis zur Zahl der Wahlberechtigten. Die Einführung des Verhältniswahlrechts und die Abschaffung der Zweimandatskreise minderten solche Ungleichheiten. Allerdings begünstigte die Wahlkreiseinteilung auch in der Polnischen Republik polnische gegenüber ukrainischen Kandidaten: So war die Zahl der Mandate im Verhältnis zur Zahl

Von der Monarchie zur Republik

117

der Wähler in überwiegend polnischen Bezirken deutlich höher als in überwiegend ukrainischen. Wahlrechtsreformen allein bedeuteten noch keine stärkere politische Partizipation, behinderte doch der Krieg um Ostgalizien zunächst die Durchführung von Wahlen. So fanden in der Westukrainischen Volksrepublik bis zu ihrer Auflösung im Sommer 1919 keine Parlamentswahlen statt. In Polen wurden schon im Jänner 1919 Wahlen zum konstituierenden Parlament durchgeführt. Allerdings blieben auch hier zahlreiche von Polen beanspruchte Gebiete aufgrund der anhaltenden Grenzkämpfe ausgeschlossen. Die Vertretung Ostgaliziens im ersten polnischen Parlament bestand daher, ähnlich wie in der Westukrainischen Republik, aus ehemaligen Abgeordneten des österreichischen Reichsrats. In Ostgalizien waren die Wahlen zum polnischen Parlament 1922 die ersten allgemeinen Wahlen seit dem Ende der Habsburgermonarchie und die ersten Wahlen unter allgemeinem Männer- und Frauenwahlrecht. Die Eingliederung Ostgaliziens in die Zweite Polnische Republik war allerdings umstritten und wurde erst 1923 international anerkannt. Daher riefen einerseits ukrainische Politiker zum Boykott der Wahlen auf, denn eine Teilnahme an polnischen Parlamentswahlen konnte als Anerkennung der Zugehörigkeit zum polnischen Staat gedeutet werden. Dementsprechend war in Ostgalizien die Wahlbeteiligung 1922 sehr niedrig und die Zahl ukrainischer Abgeordneter minimal. Andererseits zogen polnische Nationalisten das Recht nationaler Minderheiten in Zweifel, an politischen Entscheidungsprozessen in einem polnischen Nationalstaat teilzunehmen, und standen ukrainischen oder jüdischen Parlamentsabgeordneten ablehnend gegenüber. Entgegen der in der Verfassung verankerten staatsbürgerlichen Gleichberechtigung gingen sie von einem ethnischen Verständnis der polnischen Nation aus. Insgesamt wurde der Parlamentarismus in Polen im Zuge politischer und wirtschaftlicher Krisen zunehmend zur Zielscheibe von Kritik. Rechte wie linke politische Akteure betrachteten den jeweiligen politischen Gegner und die »Parlamentsherrschaft« als Gefahr für die Sicherheit des Staates. Dies ebnete den Weg für Marschall Piłsudskis Staatsstreich im Mai 1926 und sein autoritäres Regime. Rechtlich änderte sich zunächst, abgesehen von einer Stärkung des Präsidenten gegenüber dem Parlament, wenig. Die Verfassung von 1935 kehrte allerdings in manchen Punkten zum Stand der Vorkriegszeit zurück: Das Mehrheitswahlrecht und die Zweimandatskreise wurden wieder eingeführt, das Wahlalter auf 24 Jahre erhöht und ein Teil der Senatoren vom Präsidenten ernannt. In der Praxis nahmen Repressionen gegenüber politischen Gegnern zu und die Regierung nahm Einfluss auf Wahlen. Am Übergang von der Monarchie zur Republik war somit zwar ein Demokratisierungsschub zu beobachten – dieser wurde jedoch im Lauf der Zwischenkriegszeit teilweise rückgängig gemacht.

118

Elisabeth Haid-Lener

Zudem beschränkt sich politische Partizipation nicht auf Parlamentswahlen; nicht weniger wichtig ist die lokale Ebene. Hier stellt sich wiederum die Frage nach den Kompetenzen der jeweiligen Organe sowie nach deren Zusammensetzung. In der Habsburgermonarchie hatte die regionale und lokale Selbstverwaltung zwar weitreichende Zuständigkeit, hingegen war der Kreis der Wahlberechtigten deutlich eingeschränkter als bei Parlamentswahlen. Für Landtage und Gemeinderäte blieb das Kurienwahlsystem bis zum Ende der Habsburgermonarchie erhalten. Auf lokaler Ebene ist allerdings auch mit dem Übergang zur Republik keine wesentliche Demokratisierung zu verzeichnen – weder hinsichtlich der Kompetenzen noch hinsichtlich des Wahlmodus. Lediglich im Rahmen der ukrainischen Staatsbildung spielte der Impetus der Demokratisierung auch auf lokaler Ebene eine wichtige Rolle und war eng mit einer Stärkung der durch das Kurienwahlsystem benachteiligten ukrainischen Bevölkerungsmehrheit verbunden. So rief der ukrainische Nationalrat unmittelbar nach seiner Machtübernahme zur Auflösung der österreichischen Organe und zu Wahlen von Bezirks- und Gemeindevertretungen auf. Diese sollten nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht stattfinden. In der Realität folgten die im November 1918 durchgeführten lokalen Wahlen allerdings keinen einheitlichen Regeln. Oft wurden Repräsentanten von lokalen ukrainischen politischen und kulturellen Organisationen entsandt, in manchen Bezirken stellten auch Polen, Juden und Deutsche Vertreter. Mitunter existierten Stadt- bzw. Gemeinderäte parallel zu lokalen Nationalräten ohne eine klare Abgrenzung der Kompetenzen. In dieser Umbruchsphase waren Bevölkerungsschichten, die zuvor davon ausgeschlossen gewesen waren, in den Aufbau der Lokalverwaltung involviert. Allerdings erfolgten zumeist keine direkten Wahlen und die Entscheidungsprozesse waren unübersichtlich, wodurch die individuellen Partizipationsmöglichkeiten schwer einzuschätzen sind. Zudem waren in der Westukrainischen Republik während ihres kurzen Bestehens die Kompetenzen und das Verhältnis der Selbstverwaltung zu den staatlichen Behörden nicht klar geregelt. So konnten Regierungsvertreter Bezirks- und Gemeindevorsteher ernennen, bestätigten jedoch in der Regel die zuvor gewählten. Die realen Machtverhältnisse unterschieden sich von Bezirk zu Bezirk. Die sich abzeichnende militärische Niederlage stärkte wiederum die Rolle der Militärverwaltung. In der Polnischen Republik wurde die Selbstverwaltung der Staatsverwaltung unterstellt und war zudem nur auf Gemeindeebene von Relevanz. Die Verfassung sah zwar auch für die Bezirke und Wojewodschaften (als oberste Verwaltungseinheit, in die 1920 auch das ehemalige Galizien überführt wurde) eine Selbstverwaltung vor. Um die Zustimmung der Alliierten zur Eingliederung Ostgaliziens in die Zweite Polnische Republik zu gewinnen, wurde sogar eine weiterreichende Autonomie mit Sonderregelungen für die ostgalizischen Wojewodschaften beschlossen. Diese wurde allerdings nie umgesetzt. Während das Verwaltungssystem

Von der Monarchie zur Republik

119

in den unterschiedlichen Territorien des neuen Staates in kurzer Zeit vereinheitlicht wurde, blieben Gesetze der Vorkriegszeit in den einzelnen Regionen grundsätzlich in Kraft, bis sie durch neue ersetzt wurden. In vielen Bereichen, darunter der lokalen Selbstverwaltung, blieben somit von Region zu Region unterschiedliche rechtliche Regelungen über Jahre bestehen. Im ehemaligen Galizien galt weiterhin die österreichische Gemeindewahlordnung. In der Praxis wurden Gemeindewahlen jedoch ausgesetzt mit Verweis auf das veraltete Wahlrecht, das im Widerspruch zu dem in der Verfassung verankerten Prinzip allgemeiner und gleicher Wahlen stand. Über ein Jahrzehnt wurde keine politische Einigung über ein neues Wahlgesetz erreicht, hätte doch die Abschaffung des Kurienwahlrechts in Regionen wie Ostgalizien einen Machtverlust für die lokale Elite und die »polnische Nation« bedeutet. Das Argument polnischer nationaler Interessen überwog hier gegenüber demokratischen Prinzipien. Somit blieben entweder die Gemeinderäte im Amt oder die polnischen Bezirksbehörden ernannten neue. Letzteres war gerade in Ostgalizien der Fall, wo die bestehenden Gemeinderäte zumeist unter ukrainischer Herrschaft etabliert wurden. Angesichts zunehmender Kritik an den ernannten Räten wurden 1927 schließlich Gemeindewahlen durchgeführt – mangels eines neuen Gesetzes allerdings nach der leicht adaptierten österreichischen Wahlordnung. So wurde dem bisherigen auf Steuerzahler und bestimmte Berufe beschränkten Kuriensystem eine vierte, allgemeine Kurie hinzugefügt, in der auch Frauen wählen durften. Dies änderte jedoch wenig an den lokalen Machtverhältnissen. Erst 1933 führte ein neues einheitliches Gemeindegesetz auch auf lokaler Ebene allgemeine und gleiche Wahlen ein – also zu einer Zeit als demokratische Prinzipien durch die politische Praxis unterminiert wurden. Die zunehmende staatliche Kontrolle der lokalen Selbstverwaltung schränkte eine direkte politische Partizipation auf lokaler Ebene weiter ein. Während in Ostgalizien gemäß den Verfassungen nach 1918 eine deutliche Demokratisierung zu verzeichnen ist, wurde diese nur teilweise in die Praxis umgesetzt. Einschränkungen werden insbesondere auf der lokalen Ebene deutlich, wo die verfassungsrechtlich verankerten allgemeinen, gleichen und direkten Wahlen über Jahre hinweg nicht stattfanden. Während die Kompetenzen gewählter Organe auf gesamtstaatlicher Ebene (zumindest bis 1926) deutlich erweitert wurden, erfuhren sie auf lokaler Ebene weitere Einschränkungen. Eine wesentliche Hürde für eine erweiterte politische Partizipation waren nationale Interessen. Während aus ukrainischer Perspektive Demokratisierung und nationale Interessen Hand in Hand gingen, gefährdete eine Demokratisierung Ostgaliziens die Vorherrschaft der polnischen Eliten. Auf breite Akzeptanz stieß hingegen das Frauenwahlrecht, das als eine der wesentlichsten Neuerungen gelten kann.

120

Elisabeth Haid-Lener

Literatur Harald Binder, Galizien in Wien. Parteien, Wahlen, Fraktionen und Abgeordnete im Übergang zur Massenpolitik. Wien 2005. Karl Braunais, Die Fortentwicklung des altösterreichischen Nationalitätenrechtes nach dem Kriege. Wien 1938. Heidi Hein-Kircher, Zum Wechselspiel von verpasster Konsolidierung, Demokratiekritik und Diskursen der Versicherheitlichung in der Zweiten Republik Polens (1918 bis 1926). In: Totalitarismus und Demokratie – Zeitschrift für internationale Diktatur und Freiheitsforschung 12 (2015), 97–117. Heidi Hein-Kircher/Steffen Kailitz, »Double transformations:« Nation Formation and Democratization in Interwar East Central Europe. In: Nationalities Papers 46/5 (2018), 745–758. Jacek Je˛druch, Constitutions, Elections and Legislatures of Poland, 1493–1993. A Guide to their History. New York 1998. Börries Kuzmany, Habsburg Austria: Experiments in Non-Territorial Autonomy. In: Ethnopolitics 15/1 (2016), 43–65. Oleh Pavlysˇyn, Organizacija cyvil’noji vlady ZUNR u povitach Halycˇyny (lystopad–hruden’ 1918 roku). In: Ukrajina moderna 2–3 (1999), 132–193. Josef Redlich, Das Wesen der österreichischen Kommunal-Verfassung. Leipzig 1910. Franciszek Ryszka/Juliusz Bardach, Historia pan´stwa i prawa Polski. Warszawa 1962. Borys J. Tysˇcˇyk, Zachidno Ukraïn’ska Narodna Respublika (1918–1923). L’viv 2005. Torsten Wehrhahn, Die Westukrainische Volksrepublik. Zu den polnisch-ukrainischen Beziehungen und dem Problem der ukrainischen Staatlichkeit in den Jahren 1918 bis 1923. Berlin 2004. Oleksandr Zajcev, Vybory 1922 roku u Zachidnij Ukrajini. In: Ukrajina moderna 2–3 (1999), 194–205. Stephanie Zloch, Polnischer Nationalismus: Politik und Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen. Köln 2010.

Kerstin von Lingen

Lemberg 1942

Im Oktober 1919 betraten zwei junge Männer, Hersch Lauterpacht und Otto Wächter, zum ersten Mal das Juridicum der Universität Wien. Beide kamen auf sehr unterschiedliche Weise während des Zweiten Weltkriegs zu Bekanntheit, und ihre Lebenswege und die ihrer Familien sollten sich schließlich auf tragische Weise kreuzen. Ausgehend von dieser Begegnung im Hörsaal wird in diesem Essay der Kreuzungspunkt dieser beiden Leben, die nationalsozialistische Besatzung in der Ukraine am Beispiel Lemberg skizziert. Im Wiener Universitätsarchiv lagern die Studienunterlagen über Hersch Lauterpacht, geb. 1897, und Otto Wächter, geb. 1901, und zwar vom Zeitpunkt ihrer Immatrikulation an der Universität Wien 1919 bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihre Doktortitel erhielten und die Universität verließen, Hersch Lauterpacht im Juni 1921 und Otto Wächter im März 1924.1 Wächter studierte demnach bei Stephan Brassloff (geb. 1875 in Wien, ermordet 1943 in Theresienstadt) und Joseph Hupka (geb. 1875 in Wien, ermordet 1944 in Theresienstadt), Lauterpacht bei den Professoren Hans Kelsen und Alexander Hold-Ferneck. Lauterpacht emigrierte nach seiner Promotion nach England und wurde zu einem prominenten Völkerrechtler; als Lehrstuhlinhaber zunächst an der London School of Economics und dann an der University of Cambridge (1938–1955) machte er Karriere. Der andere, Otto Wächter, reüssierte in der NSDAP und stieg in der NS-Bürokratie nach dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 sukzessive auf. Qualifiziert durch seine zuvor illegale Mitgliedschaft in der Partei war Wächter einer derjenigen österreichischen Nazis der ersten Stunde, die im März 1938 im Gefolge deutscher Truppen zurückkehrten und hinter Adolf Hitler auf dem Balkon der Hofburg stehen durften, als jener die frenetischen Huldigungen der Bevölkerung entgegennahm.2 1942 wurde Wächter zum NS-Gouverneur von 1 Universitätsarchiv Wien, AT-UAW, Jur. Nat. SS 1920 Lauterpacht Hersch und AT-UAW, Jur. Nat. SS 1920 Waechter, Otto. 2 Zu Wächter vgl. Sands, Ratline.

122

Kerstin von Lingen

Lemberg in Galizien befördert. Dort hatte Lauterpacht seine Familie zurückgelassen – seine Eltern, seinen Bruder David sowie seine Schwester Sabina. Tatsächlich fiel die gesamte Familie Lauterpacht bis auf ein Mädchen – Lauterpachts Nichte – dem Holocaust in Lemberg zum Opfer, während Wächter dort Gouverneur war.3 Lemberg steht heute in der Forschung gleichsam als Chiffre für die Radikalisierung der nationalsozialistischen Vernichtungs- und Besatzungspolitik. Der Holocaust im Osten ist mit den NS-Dienststellen verflochten, die oft in starker Konkurrenz zueinander standen. In den besetzten Gebieten hinter der Ostfront ermordeten extra aufgestellte Einsatzgruppen Juden, Kommunisten, Sinti und Roma.4 Darüber hinaus tobte ein erbitterter Partisanenkrieg, der von beiden Seiten mit äußerster Brutalität geführt wurde. Eine Politik der Vernichtung und Radikalisierung bestimmte das Frontleben im Osten in jeder Hinsicht. Armeeeinheiten, Wirtschaftsbüros, die versuchten, das Land auszubeuten; Gouverneure und ihre Mitarbeiter, Befehlshaber der Sicherheitspolizei und ihre Truppen sowie die mobilen Tötungskommandos der Einsatzgruppen durchkämmten die Region nach Menschen, Arbeitskräften und Lebensmitteln.5 Die Zahl der Opfer der NS-Besatzung im Distrikt Galizien, einem der fünf Distrikte des sogenannten Generalgouvernements in Polen, beläuft sich auf 525.000 Menschen, die an Verfolgung, Zwangsarbeit und Hunger starben.6 Dem Nazi-Terror fielen Juden, Polen und Ukrainer zum Opfer, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Für die jüdische Bevölkerung waren die Konsequenzen der Besatzung jedenfalls tödlich. In der Folge der deutschen Besatzung wurde die Ukraine systematisch ausgeraubt. Die Ukrainer hatten die Deutschen 1941 als Befreier vom sowjetischen Joch begrüßt und träumten von einem unabhängigen ukrainischen Staat innerhalb eines Verbands gleichgesinnter Nationen.7 Dies entsprach jedoch nicht Hitlers Vorstellungen für Osteuropa, der nur versklavte Helotenvölker vorsah. Insbesondere die Bevölkerung der Sowjetunion wurde durch eine rücksichtslose Hungerpolitik (Ausrichtung der Lebensmittelproduktion auf den deutschen Bedarf) ausgerottet oder als Sklavenarbeiter ins Reich deportiert, wo sie mit äußerster Brutalität behandelt wurden.8 In Galizien wurden ganze Dörfer im Rahmen von Anti-Partisanen-Maßnahmen niedergebrannt und alle Bewohner 3 Lauterpacht, Life. 4 In diesem Aufsatz wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet, es sind immer auch die weiblichen Zugehörigen der jeweiligen Volksgruppe mitgemeint. 5 Pohl, Verfolgung und Massenmord, 48. 6 Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung; Pohl, Verfolgung und Massenmord, 96. 7 Rudling, Historical representation. 8 Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung.

Lemberg 1942

123

erschossen. Infolgedessen wuchs der ukrainische Widerstand mit jedem Tag deutscher Besatzung, und entwickelte sich ab 1943 zu einem Krieg hinter der Front. Eine besondere Rolle spielte dabei die Durchgangsstraße IV oder Rollbahn Süd, eine zentrale Verkehrsverbindung zwischen Berlin und Lemberg, über Breslau und Krakau Richtung Osten.9 Um sie instand zu halten und den Nachschub zu sichern, existierten schließlich 1942 30 Lager mit einer Gesamtanzahl von ca. 12.000 Zwangsarbeitern. Dieses Lagerimperium wurde zu einem Lieblingsobjekt Heinrich Himmlers.10 Während in der westlichen Öffentlichkeit die Namen wie Auschwitz und Treblinka als Synonym für die Vernichtung des europäischen Judentums stehen, war der industrielle Massenmord in Konzentrationslagern im Osten nicht die Regel. Vielmehr erlebten die östlichen Bloodlands, ein von Timothy Snyder geprägter Begriff 11, einen »Holocaust durch Kugeln«. Im Gegensatz zu den nahezu industriellen Tötungsstätten in Auschwitz, wo täglich Tausende von Menschen in den Gaskammern getötet werden konnten, beschreibt der »Holocaust durch Kugeln« die individuelle Art des Tötens, von Angesicht zu Angesicht. Während der Krieg an der Front noch mit äußerster Brutalität wütete, wurde im Hinterland die Tötung der jüdischen Bevölkerung ebenso intensiviert. Von einer Vorkriegsbevölkerung von 450.000 Juden in Galizien sollten 1944 nach der Befreiung nur noch 15.000 überlebt haben.12 Wie war ein solches Ausmaß möglich, wenn wir wissen, dass der »Holocaust durch Kugeln« individuell verübt wird? Wie wurde dieser Holocaust im Distrikt Galizien organisiert? Ab 8. Juli 1941 war Ostgalizien in deutscher Hand.13 Nach der Wehrmacht marschierten SS- und Polizeieinheiten in Ostgalizien ein.14 Unterstützung erhielten deutsche Einheiten von ukrainischen Nationalisten, die ihre Chance sahen, sich endlich von zwei Gruppen, Juden und Polen, zu befreien, und sich freiwillig zu einer ukrainischen Polizeieinheit meldeten.15 Auch der seit Langem bestehende Antisemitismus in Galizien spielte eine Rolle. In Lemberg wurde Otto Wächter 1942 zum Gouverneur ernannt, nachdem es zu einem Korruptionsskandal um seinen Vorgänger gekommen war.16 Seine Aufgabe war die Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Besatzungspolitik. Während Wächter mit hehren Vorstellungen über ein »menschliches Gesicht

9 10 11 12 13 14 15 16

Yones, Lemberg, 1990. Pohl, Judenverfolgung, 166. Synder, Bloodlands. Pohl, Judenverfolgung, 385. Sandkühler, Endlösung, 460. Pohl, Judenverfolgung, 44. Ebd., 54–55; Yones, Lemberg, 31–38. Rudling, Historical representation; Pohl, Judenverfolgung; Schenk, Professorenmord, 169. Sands, Ratline, 90.

124

Kerstin von Lingen

der Besatzungspolitik«17 zumindest gegenüber den kollaborationswilligen Ukrainern angetreten war, hatte er kein Interesse an der Erhaltung der polnischen und jüdischen Bevölkerung. Sie kamen in seinen Schriften grundsätzlich nicht vor. Hans Frank, als Generalgouverneur Vorgesetzter Wächters, gab die Richtung vor, indem er im Dezember 1941 in Krakau in einer Rede an seine Offiziere die »Judenfrage« folgendermaßen angesprochen hatte: »Wir müssen alle Juden vernichten, wo immer wir sie antreffen, um sicherzustellen, dass die Struktur unseres Deutschen Reiches im Osten reibungslos funktioniert.«18 Das Jahr 1942 wurde zu einem mörderischen Jahr. Der eigentliche Holocaust in Lemberg wurde von einer Sonderformation unter dem SS- und Polizeiführer des Distrikts Galizien, Fritz Katzmann, durchgeführt.19 In Lemberg operierte Katzmann 1942 in drei Wellen: im März, im August und im Oktober. Tötungsstätten waren das Ghetto, das Janowska-Lager für Sklavenarbeit und die Sandgruben außerhalb der Stadt, Piaski genannt.20 Selbst ein Wehrmachtsbericht der Propagandaeinheit beklagte die schlechte Situation während der Verfolgungen. Ich zitiere aus einem Bericht vom 16. Oktober 1942: Die Evakuierung der Juden hat Formen angenommen, die der deutschen Kulturnation unwürdig sind. Die Ereignisse verleiten dazu, die Methoden der Gestapo mit den Maßnahmen der kommunistischen Geheimpolizei zu vergleichen. […] Die Leichen liegen tagelang auf den Straßen herum.21

Als Katzmann im Juni 1943 Galizien verließ, lieferte er stolz einen Bericht mit Fotos ab. Es ist das wahnsinnige Zeugnis eines glühenden Antisemiten, der sich mit seinen vermeintlichen »Erfolgen« brüstet. Er behauptete, dass seine Einheiten bis November 1942 254.989 Juden und bis Juni 1943 im gesamten Bezirk insgesamt 434.329 Juden getötet hätten.22 Er prahlte damit, dass den Juden 16 Mio. Złoty geraubt worden seien, Geld, Juwelen oder anderes Eigentum. Ich möchte meinen Essay mit zwei Zitaten beenden, die uns zu den Protagonisten und damaligen Studenten der Universität Wien zurückführen. Zwei Frauen schrieben über den Sommer 1942, als sie auf ihr Leben zurückblickten. Die eine ist Inka Katz, die einzige Überlebende der großen Familie Lauterpacht,

17 Sands, Ratline, 91, sowie Charlotte Wächter, Tagebuch 1942–1945, Privatbesitz (Kopie im Besitz der Autorin). 18 Diensttagebuch Hans Frank, 16. 12. 1941, abgedruckt in: International Military Tribunal Nürnberg, Band XXVI, Exhibit 709-PS; Schenk, Professorenmord, 173. 19 Ebd., 158. 20 Yones 1990, 27. 21 Bundesarchiv, B 162/14365, 33, zit. nach Schenk, Professorenmord, 176. 22 Ebd., 213.

Lemberg 1942

125

die andere ist Charlotte Wächter aus Wien, die ihren Mann Otto Wächter nach Lemberg begleitete. Charlotte Wächters Erinnerungen, die sie im Rückblick 1979 zusammenstellte, bestechen durch ihr Schweigen über die Gewalt des Sommer 1942 in Lemberg. Ihre Aufzeichnungen bilden eine heitere Erzählung über die Freizeitvergnügungen der deutschen Oberschicht, mit Zerstreuungen wie Reiten und Fuchsjagd, Geschichten über üppige Feste und über Opern- und Theaterbesuche. In ihren Schilderungen ist das Mitleid allenfalls für sich selbst (»langweiliges Provinzleben« für die Wienerin) oder für die eigenen Leute reserviert: Das gute Leben in Galizien empfand ich manchmal als Last, wenn ich an das ganze Elend meiner Leute zu Hause und an die armen Kerle in Lemberg dachte, und so beschloss ich, mich für freiwillige Arbeit zur Verfügung zu stellen, um anderen Frauen ein gutes Beispiel zu geben.23

Das andere Zitat stammt von Inka Katz, der Nichte von Lauterpacht. In einem Brief an Elihu Lauterpacht aus dem Jahr 2001 beschreibt sie den Moment, als sie im Sommer 1942 in Lemberg von der Familie getrennt wurde und ihre Eltern deportiert wurden. Sie war 12 Jahre alt, wohnte in einem bürgerlichen Viertel der Stadt und sah die Szene durch ein Dachfenster aus einem Versteck heraus.24 Inka Katz schreibt: Zwei Tage später, am 18. August 1942, kam die (ukrainische) Polizei zu uns. An diesem Tag sollten sie nur die alten nutzlosen Leute und die Kinder verhaften. Großmutter wurde in einem Schrank versteckt und ich im deutschen Teil der Wohnung. Der Tag war das Ende für uns. Aus dem Fenster im zweiten Stock sah ich, wie meine Mutter von den Ukrainern und Soldaten gehetzt wurde. Meinem Vater muss gesagt worden sein, was geschah, denn ich sah, wie er ihr hinterherlief (ich sehe die Szene immer noch vor mir: das Kleid und die hochhackigen Schuhe, die meine Mutter an diesem Tag trug, der graue Anzug meines Vaters. Ich habe sie nie wieder gesehen.) […] Ich ließ Großmutter aus dem Schrank. Haben wir geredet, haben wir geweint? Ich weiß es nicht mehr. Am nächsten Tag fuhren mein Onkel und meine Großmutter ins Ghetto. […] Meine Eltern müssen sofort getrennt worden sein. Einige Monate später gelang meinem Vater die Flucht, er bezahlte seinen Weg aus dem Janoswski-Lager in Lwow. Wir waren wieder für einige Monate zusammen. Mein Vater zahlte sehr viel Geld. Als er nachts ausging, wurde er verhaftet und ich am nächsten Morgen (aus der Wohnung) rausgeschmissen. Einen Monat später (ich war Putzfrau) beim Abwasch konnte ich das brennende Ghetto riechen, ein furchtbarer Gestank. Warum hast du geweint, sagte die Frau. »Die Juden grillen, na und? » »Mein Zahn tut weh, Madame«, sagte ich. Ich habe meine Arbeit verloren.

23 Charlotte Wächter, Tagebuch 1942–1945, Privatbesitz (Kopie im Besitz der Autorin). Es ist hier wichtig sich klarzumachen, dass mit den »armen Kerle in Lemberg« die deutschen und österreichischen Soldaten gemeint sind. 24 Lauterpacht, Life, 312.

126

Kerstin von Lingen

Sie überlebte in einem Kloster. Im Jahr 1947 gelangte sie über ein DP-Camp in Österreich zu ihrem Onkel Hersch Lauterpacht nach England, der verzweifelt nach Neuigkeiten über seine Angehörigen geforscht hatte. Die Geschichte endet mit einigen deprimierenden Zahlen. Von allen Tätern in Lemberg und Galizien ist nur eine Handvoll vor Gericht gestellt worden. Otto Wächter starb unter ungeklärten Umständen am Vorabend seiner Flucht nach Lateinamerika 1949 in Rom.25 Friedrich Katzmann tauchte unter falschen Namen unter und starb 1957 unentdeckt als Bruno Albrecht.26 Generalgouverneur Hans Frank wurde in Nürnberg verurteilt und 1946 hingerichtet. Österreich brachte drei Männer vor Gericht, die alle zu Haftstrafen verurteilt und nach einigen Jahren begnadigt wurden. Der ungeheuerlichste Fall waren die Brüder Johann und Wilhelm Mauer, die wegen der Ermordung von 12.000 Juden am »Blutsonntag« in Stanislau, einer Stadt in der Nähe von Lemberg, angeklagt waren.27 Zunächst freigesprochen, wurden sie 1966 zu einer Gefängnisstrafe von acht und 12 Jahren verurteilt, die jedoch als verbüßt galt.28 Das Verhalten des Publikums und eben jenes milde Urteil zeigen, wie wenig die nationalsozialistischen Verbrechen zu dieser Zeit gesellschaftlich aufgearbeitet wurden.29 Hersch Lauterpacht wiederum gelang es als Völkerrechtler, eine normative Antwort auf den Holocaust zu finden. Er war einer der Väter des Konzepts von Crimes against Humanity30, mit welchem in Nürnberg erstmals Massenmord an Zivilisten systematisch geahndet werden konnte, und nahm an den Nürnberger Prozessen als Berater des britischen Anklägers Sir Hartley Shartcross teil. Er war zugegen, als gegen Generalgouverneur Hans Frank das Todesurteil fiel; seinen ehemaligen Kommilitonen Otto Wächter konnte er jedoch nicht vor Gericht bringen.

25 26 27 28

Sands, Ratline; Schenk, Professorenmord, 223. Ebd. Ebd., 184–187. Pohl, Judenverfolgung, 354, 413, 417. Vgl. auch die Zusammenfassung des Prozesses auf der Seite des Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, http://www.nachkriegs justiz.at/prozesse/geschworeneng/ermittlung_stanislau.php. 29 Loitfellner, Hitlers Opfer, 50–169. 30 Lingen, Crimes against Humanity.

Lemberg 1942

127

Quellen International Military Tribunal Nürnberg, Bd. XXVI, Exhibit 709-PS, Frank, Diensttagebuch, 16. 12. 1941. Universitätsarchiv Wien AT-UAW, Jur. Nat. SS 1920 Lauterpacht Hersch, AT-UAW, Jur. Nat. SS 1920 Waechter, Otto. Charlotte Wächter, Tagebuch 1942–1945, Privatbesitz (Kopie im Besitz der Autorin).

Literatur Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, http://www.nachkriegsjustiz.a t/prozesse/geschworeneng/ermittlung_stanislau.php. Elihu Lauterpacht, The Life of Sir Hersch Lauterpacht. Cambridge 2010. Kerstin von Lingen, »Crimes against Humanity.« Eine Ideengeschichte der Zivilisierung von Kriegsgewalt, 1864–1945. Paderborn 2018. Sabine Loitfellner, Hitlers erstes und letztes Opfer? Zwischen »Anschluss« und AuschwitzProzess. In: Kerstin von Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis. Paderborn 2009. Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941–1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens. Berlin/München/Boston 1997. Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933–1945. Darmstadt 2003. Per Anders Rudling, Historical Representation of the Wartime Accounts of the Activities of the OUN–UPA (Organization of Ukrainian Nationalists – Ukrainian Insurgent Army). In: East European Jewish Affairs 36/2 (2006), 163–189. Thomas Sandkühler, »Endlösung« in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941–1944. Bonn 1996. Philippe Sands, The Ratline. Love, Lies and the Trail of a Nazi Fugitive. London 2020. Dieter Schenk, Lemberger Professorenmord und Holocaust in Galizien. Bonn 2007. Timothy Synder, Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin. London 2010. Eliyahu Yones, Die Straße nach Lemberg. Zwangsarbeit und Widerstand in Ostgalizien 1941–1944. Frankfurt/Main 1990.

Rinna Kullaa

Die UdSSR als Mittelmeerstaat? Das Schwarze Meer und die Mittelmeerflotte der Sowjetunion zwischen globaler Konnektivität und imperialer Militärstrategie

Ende 1991 hatte Russland bereits sowjetische Häfen und Stützpunkte an der Ostsee an die Balten abgetreten; die Abspaltung der Ukraine würde bedeuten, dass der russische Staat neunzehn von zweiundzwanzig Häfen am Schwarzen Meer verlieren würde. Das Gefühl, dass das russisch-ukrainische Abkommen ungerecht sei, sollte in den kommenden Jahren zur Hauptquelle des Konflikts werden.1

In seiner 2021 erschienenen politischen Geschichte des Zusammenbruches der Sowjetunion unterstreicht der bekannte Historiker des Kalten Krieges Vladislav Zubok die aktuelle Interpretation der Zeitgeschichte durch den Kreml. Klagen über die Zugehörigkeit der Schwarzmeerhäfen zur Ukraine und die Auswirkungen des Endes der Sowjetunion auf das militärische Gleichgewicht entlang mehrerer Wasserstraßen, einschließlich der Ostsee und des Mittelmeers, sind von zentraler Bedeutung für Zuboks Argumentation. Die anhaltende Besetzung der Krim durch Russland, sein Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Bedrohung Europas haben Fragen der Demokratisierung, Erweiterung der Europäischen Union, politisch-kulturellen Selbstverortung Russlands sowie die Geschichte der Schwarzmeerregion ganz allgemein zu Brennpunkten der heutigen Weltpolitik gemacht. Die multiethnische Schwarzmeerregion von der Kiever Rus’ bis zum Russländischen Reich sowie von der Sowjetunion bis heute ist für die globale und europäische Geschichte von größerer Bedeutung als in der jüngsten Vergangenheit häufig wahrgenommen. Wenn es um eine Abwägung zentraler Argumente und Fragen der aktuellen internationalen Beziehungen sowie von Gesellschaft und Identität geht, erscheint ein gründliches Verständnis der Geschichte des Schwarzmeerraums unabdingbar. Dieser Beitrag konzentriert sich auf einen Aspekt der Geschichte dieses Raumes, der zum Verständnis der heutigen Spannungen von besonderer Bedeutung ist: die Geschichte des sowjetischen Marinegeschwaders im Mittelmeer. 1 Zubok, Collapse, 326.

130

Rinna Kullaa

Er möchte daher die Sowjetunion als Seemacht im Schwarzen, aber auch im Mittelmeer wieder stärker in das Bewusstsein rücken.

Die Sovmedron Die unter westlichen Marinehistorikern und Offizieren kurz als Sov-med-ron (Soviet Mediterranean Squadron; russ.: 5-ja Sredizemnomorskaja eskada) bekannte Flotte ist aus den militärischen Traditionen der kaiserlich-russländischen Flotte samt ihren geographisch-strategischen Kenntnissen der Mittelmeerküste und der dortigen Anlegepositionen hervorgegangen. In weiterer Folge diente Sovmedron als Grundlage für die Marineeinrichtungen und -strategie der Russländischen Föderation. Ähnlich wie im Kalten Krieg sollen diese in einem globalen Wettbewerb um Handelsrouten, nukleare und konventionelle maritime und submaritime Vorherrschaft insbesondere den Flotten der Vereinigten Staaten, Frankreichs, Großbritanniens, Chinas und Australiens die Stirn bieten. Dazu gehört, den eigenen militärischen Bewegungsspielraum zu maximieren und weltweite Aufklärungsmissionen durchzuführen. Russlands Marinestrategie trägt auch dazu bei, die Verhandlungspositionen und die Macht des Kremls in instabilen Staaten wie Syrien zu sichern. Die derzeitige chinesische Marinestrategie mit ihren Häfen in Eritrea und Piräus (Griechenland) als Zugangspunkten ahmt in mancherlei Hinsicht die Strategie der Sovmedron nach. Während des Kalten Krieges legitimierte die Sowjetunion ihre Präsenz im Mittelmeer mit dem Argument, dass sie ein Anrainerstaat sei. Sie habe aufgrund ihrer Schwarzmeerküste und der dortigen Häfen auch einen Rechtsanspruch auf eine Flotte im Mittelmeer, da es sich schließlich um dasselbe Meer handele. Diese Rechte waren insofern vorteilhaft, als von den fünf 1814 als Anrainerstaaten anerkannten europäischen Großmächten nur noch Frankreich direkt an das Mittelmeer grenzte. Ihre Präsenz bot der Sowjetunion einen günstigen Ausgangspunkt für ihre angestrebte Vormachtstellung, denn schließlich war die andere Supermacht, die Vereinigten Staaten von Amerika, kein Mittelmeerstaat. Das Mittelmeer ist, wie das Schwarze Meer, ein Binnenmeer. Von Sevastopol aus gibt es zwar nur eine Schifffahrtsroute ins Mittelmeer, aber von da zwei Ausfahrten in die Weltmeere: den Suezkanal und die Straße von Gibraltar. Damit verbindet das Mittelmeer drei Kontinente, und die Sowjetunion knüpfte mit ihrer Präsenz an die traditionelle Expansion Russlands nach Süden an. Das russländische Imperium hatte große Anstrengungen unternommen, um aus dem Schwarzen Meer »auszubrechen« und eine Mittelmeermacht zu werden. Mit deutlich weniger Pomp als die imperiale Flotte baute die sowjetische Marine in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine starke Überwachung der Straße von Gibraltar auf. Da die Wasserstraße um die Spitze der

Die UdSSR als Mittelmeerstaat?

131

Iberischen Halbinsel nur 13 Kilometer lang ist, hatte die UdSSR keine großen Schwierigkeiten, die Bewegungen in den und aus dem Atlantik zu überwachen. In den frühen 1950er Jahren argumentierte Josef Stalin, die Sowjetunion habe einen den Vereinigten Staaten »ebenbürtigen Machtanspruch« auf eine Präsenz im Mittelmeer.2 Diese solle der Sowjetunion aufgrund ihres Beitrages zu den Kriegsanstrengungen der Alliierten zugestanden werden. Stalins Vorgehensweise stellte eindeutig den eigenen Großmachtanspruch und nicht die kommunistische Ideologie in den Vordergrund – in einer der heutigen russländischen Außenpolitik ähnlichen Sprache. So wollte er die gegen Frankreich aufbegehrenden Bevölkerungsteile Algeriens nicht unbedingt zu Kommunisten machen, aber auf jeden Fall zu Verbündeten der Sowjetunion. Die Mittelmeerstrategie der Sowjetunion war darauf ausgerichtet, mit der Seemacht der USA und der Präsenz von deren Sechster Flotte zu konkurrieren, sie zu kontern und letztlich zu übertreffen. Das Ziel der Sowjetunion war es, den politischen Einfluss der USA weltweit zu verringern und die eigene Macht über das Mittelmeer hinaus auf den Nahen Osten, Afrika und auch Westeuropa auszudehnen. Ab den 1960er Jahren sollte die Anbindung des Mittelmeers an den Indischen Ozean und an den Atlantik diesen globalen Zielen dienen und nicht nur der Expansion nach Südwesten.

Fernprojektionen – von Sevastopol bis Muscat, nach Bombay und darüber hinaus Als sich die Länder des südlichen und östlichen Mittelmeerraums in den Jahren 1952 bis 1962 vom Kolonialismus befreiten, war Nikita Chrusˇcˇëv in der Lage, die damit einhergehenden Konflikte zum Vorteil der Sowjetunion zu nutzen. Er trug dazu bei, den sowjetischen Einfluss in den arabischen Staaten des Mittelmeers, darunter Tunesien und Ägypten, zu stärken, indem er sie mit Waffen aus dem sowjetischen Machtbereich versorgte, um ihre Abhängigkeit von den westlichen Staaten zu beenden. In der Folgezeit baute die Sowjetunion weitere wirtschaftliche und politische Beziehungen auf der Grundlage von Waffenlieferungen auf, die sich an den Eigeninteressen der jeweiligen Staatsführung orientierten und nicht an einem einheitlichen Konzept für alle. Dies war möglich, da das ideologische Bündnis vage war und sich nicht auf Sozialismus, sondern auf Antikolonialismus bezog. Diese Strategie ermöglichte Gespräche mit dem monarchischen Marokko, der Republik Tunesien, dem revolutionären Algerien, dem

2 Kostev, Podvodnyj flot, 43.

132

Rinna Kullaa

arabisch-nationalistischen Ägypten und Syrien sowie mit Militärjuntas in aller Welt. Der Aufbau des sowjetischen Mittelmeergeschwaders in seiner modernen Form wurde von Chrusˇcˇëv initiiert. Zwischen 1960 und 1967 bestand die Flotte aus etwa 20 Schiffen. Diese kleinere Formation profitierte von den Reparatureinrichtungen der Marine an der Adriaküste Jugoslawiens und Albaniens, allerdings nur bis 1961, bis die beiden Balkanstaaten die militärischen Andockprivilegien für sowjetische Schiffe widerriefen. Nach dem Wegfall der Militärhäfen der kommunistischen Staaten an der Adria machte Moskau Ägypten zu seinem Hauptstützpunkt für Marineanlagen im östlichen Mittelmeer. Das sowjetische Geschwader erreichte 1967 seine volle Stärke. Zu diesem Zeitpunkt gab es insgesamt 19 reguläre, über das gesamte Mittelmeer verteilte Ankerplätze (Abb. 1). Die sowjetische Marine zog es vor, an der Seeküste anzudocken und nicht zu versuchen, Zugang zu Marinehäfen zu erhalten oder Personal an Land zu stationieren. Aus geografischen Gründen konzentrierte sich die Flotte auf das östliche Mittelmeer. Hier sind die küstennahen Meeresabschnitte an vielen Stellen seicht. Dies bedeutete, dass in den Sommermonaten, wenn sich das Wasser erwärmte, die Ortung durch Sonar erschwert wurde. Die Wasserstraßen zwischen Malta und Italien sowie Tunesien und Italien waren relativ schmal, was die sowjetische Ausspähung von Bewegungen in das östliche Mittelmeer und von dort erleichterte. Die Aktivitäten der Sovmedron erreichten 1967 während des Sechstagekrieges zwischen Israel und den arabischen Staaten ihren Höhepunkt. Moskau hatte Berater in Ägypten stationiert und, was noch wichtiger ist, dem Land für den Bau des Assuan-Staudamms etwa dreimal so viel Entwicklungshilfe gewährt als anderen nordafrikanischen Staaten, die es ebenfalls zu seinen Verbündeten machen wollte. Moskaus Unterstützung zielte auch darauf ab, eine engere außenpolitische Verbindung zwischen Ägypten und Jugoslawien zu verhindern. In den Jahren nach 1961 hatte sich nämlich auf Initiative des jugoslawischen Präsidenten Josip Broz Tito und Ägyptens Gamal Abdel Nasser die Bewegung der Blockfreien gegründet. Moskau versuchte zu verhindern, dass solche alternativen internationalen Bündnisse im Mittelmeerraum wichtiger als die Bindungen an die UdSSR würden. Der Sechstagekrieg begann mit der Blockade der Straße von Tiran im Roten Meer durch die Marine Ägyptens. Israelische Schiffe konnten nicht von Eilat zum Suezkanal oder zum Roten Meer fahren. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten im Warschauer Pakt brachen mit Ausnahme des widerstrebenden Rumäniens ihre Beziehungen zu Israel ab. Die Sowjetunion baute ihre Präsenz im Mittelmeer auf 90 Schiffe aus und vervierfachte damit ihre Stärke. Im Zeitraum von 1967 bis 1976 stabilisierte sich die Größe des Geschwaders im Mittelmeer auf durchschnittlich 50 Schiffe, darunter 14 Kampfschiffe und

Die UdSSR als Mittelmeerstaat?

133

Abb. 1: Sowjetische Luft- und Marinestützpunkte im Mittelmeer und im Indischen Ozean 1989. Quelle: MRE, Direction d’Europe: URSS: Secret OTAN: L’Union Soviétique et le monde arabe. Bruxelles, 24. 7. 1989. E (584) Annex 3 89.

134

Rinna Kullaa

15 U-Boote. Die Flotte beteiligte sich in großem Umfang an weltweiten Seeübungen, deren erste namens OKEAN-I im Jahr 1970 stattfand.3 Dabei war die Sovmedron für die Verbindung in den Atlantik und den Indischen Ozean zuständig. Die Sov-ind-ron, die sowjetische Flotte im Indischen Ozean, mit ihren etwa zehn Schiffen stützte sich auf Häfen und Marineeinrichtungen in Indien, Somalia und Südjemen. Der jemenitische Hafen von Aden wurde nach dem Abbruch der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Somalia 1977 zum wichtigsten Stützpunkt. Im selben Jahr erwarb die Sowjetunion einen Ankerplatz vor der eritreischen Inselgruppe Dahlak. Die ständigen Ankerplätze an der Seeküste Afrikas unterstützten ähnlich der Praxis im östlichen Mittelmeer die Route zum Indischen Ozean.

Endstation Syrien Trotz Fortschritten der internationalen Entspannung in den 1970er Jahren und der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) blieben Bündnisse ein zentrales Thema im Mittelmeerraum. 1976 verlor Moskau seine Rechte auf die Nutzung von Marineeinrichtungen in Ägypten, als Anwar el-Sadat auf die Seite der USA wechselte und sowjetische Militärberater sowie sowjetische Schiffe und Mitarbeiter aus Alexandria und Port Said verbannte. Die sowjetische Marine entschied sich für die syrische Küstenlinie, wo sie bereits über Reparatureinrichtungen in Latakia verfügte. Der Verlust der Basen in Ägypten wirkte sich auf die Zahl der im Mittelmeer eingesetzten U-Boote aus. Ihre Stärke wurde auf sieben Einheiten reduziert. Die sowjetische Präsenz erholte sich erst 1979, als sie in Verbindung mit der Invasion in Afghanistan auf 46 Schiffe verstärkt wurde. In der Generalversammlung der Vereinten Nationen wurde die sowjetische Invasion fast einstimmig verurteilt. Unter den afrikanischen Staaten stimmten nur Mosambik, Angola und Äthiopien gegen die Verurteilung der Sowjetunion. Alle diese Länder hatten Freundschafts- und Kooperationsverträge mit der UdSSR abgeschlossen, so lagen etwa die Ankerplätze der sowjetischen Marine und deren Präsenz in Dahlak direkt vor der Küste Eritreas. Auf dem Treffen der Außenminister afrikanischer und asiatischer Staaten im Rahmen der Islamischen Konferenz im Januar 1980 in Islamabad sprachen sich alle zwölf anwesenden afrikanischen Delegationen für eine Verurteilung der sowjetischen Intervention aus. Eines der wenigen arabischen Länder, das die Sowjetunion weiter unterstützte, war Syrien. Infolge dieser Unterstützung vergrößerte die Sowjetunion ihre Mittelmeerflotte erneut. Im Januar 1980 besuchte der sowjetische Außenminister Andrej Gro3 Gorsˇkov, Morskaja mosˇcˇ’ gosudarstva, 22.

Die UdSSR als Mittelmeerstaat?

135

myko den syrischen Präsidenten Hafez al-Assad und den Führer der PLO Jassir Arafat in Damaskus. Der anhaltende libanesische Bürgerkrieg forderte immer mehr Aufmerksamkeit. Im Juli 1981 befanden sich über 2000 sowjetische Militärberater in Syrien, und die Truppen beider Staaten führten nach einer zehnjährigen Pause zum ersten Mal gemeinsame Marineübungen durch.

Perestrojka, das Ende der Sowjetunion, aber nicht des Seewettbewerbs Das sowjetische Mittelmeergeschwader hatte sich zwar als konkurrenzfähig erwiesen, jedoch bestand die einzige Möglichkeit zur Erlangung der Überlegenheit gegenüber den USA im Mittelmeerraum darin, entweder Washington zu überzeugen, einer atomwaffenfreien Zone zuzustimmen, oder sowjetische Truppen von Ungarn nach Jugoslawien oder von Bulgarien nach Griechenland zu verlegen. Letztere Optionen hätten den Einsatz von Gewalt erfordert. Unter diesen großmachtpolitischen Prämissen ging Michail Gorbacˇëv in den ersten Jahren seiner Reformen an die Rolle der Sowjetunion in dieser Region heran. Er war praktisch gesinnt. So rief er zum vollständigen Abzug der israelischen Streitkräfte aus dem Libanon auf, forderte aber auch die arabischen Staaten auf, die Unabhängigkeit des Libanon zu respektieren. Die Perestrojka mit ihrer Neuausrichtung der politischen Prioritäten und den Einsparungen bei wirtschaftlichen Unterstützungen für die Verbündeten führte dazu, dass der Handel mit Afrika zwar von 3,6 Mrd. Rubel im Jahr 1987 auf 1,8 Mrd. im Jahr 1989 zurückging, aber nicht vollständig verschwand.4 Die Marinepolitik basierte bereits weitgehend auf freiwilliger Zusammenarbeit. Die Sowjetunion konzentrierte nunmehr den größten Teil ihrer finanziellen Hilfe auf Standorte, die für die Flotten im Mittelmeer und im Indischen Ozean wichtig waren: 2,5 Mio. Rubel an Algerien, 1,7 Mio. Rubel an Libyen und ähnliche Beträge an Mosambik, Angola, und Äthiopien. 1990 lebten wie schon 1970 über 3000 sowjetische Militärexperten in Algerien. Selbst unter Gorbacˇëvs Reformen, die in Innen- und Außenpolitik so tiefgreifende Änderungen hervorbrachten, setzte man in der Marinepolitik auf Kontinuität. Der Zerfall der Sowjetunion bedeutete in dieser Hinsicht jedoch ein abruptes Ende: 19 von 22 Schwarzmeerhäfen lagen in einer nunmehr unabhängigen Ukraine. Dies war für die zentrale militärische Führung in Moskau nicht vorhersehbar gewesen. In den Jahrzehnten nach dem Ende der Sowjetunion wurde die Marinestrategie wiederbelebt, da viele für sie relevante Faktoren weiterbestanden und der 4 MRE, Direction d’Europe: URSS: Ambassade de France URSS: A/S: Présence et action de l’URSS en Afrique – Relations commerciales et coopération économique, Moscou, 2. 7. 1990.

136

Rinna Kullaa

Wettbewerb um Einfluss wieder zunahm. Nach dem Abzug der sowjetischen Militärberater aus Algerien fragte letzteres an, ob Ungarn und Rumänien, die nun ihr kommunistisches System abgeschüttelt hatten, weiterhin Produkte verkaufen würden, die sie zuvor im Rahmen des sowjetischen Handels geliefert hatten. Marokko strebte ebenfalls an, den Handel mit Bulgarien und Polen fortzusetzen, der 1990 aufgrund der sowjetischen Abkommen 140 Mio. Rubel aus Warschau und 200 Mio. Rubel aus Sofia betragen hatte. Für die wenigen verbliebenen kommunistischen Staaten wie etwa Kuba und die Volksrepublik China bedeutete das Ende der UdSSR nicht, ihr politisches System oder ihre Strategien aufzugeben. Peking übernahm viele der Taktiken der sowjetischen Marine und erwarb einen Marinestützpunkt in Eritrea nahe dem Horn von Afrika am Eingang zum Roten Meer, womit die Zufahrt zum Suezkanal gesichert werden sollte. China erwarb 2016 auch den Hafen von Piräus. Im Zuge des Syrienkrieges erhöhte Russland wieder sein Engagement und seine militärischen Aktivitäten in Syrien, so errichtete es etwa in Latakia und Tartus Marine- und Luftwaffenstützpunkte in nie dagewesener Größe. Von hier aus dienen See- bzw. Luftverbindungen zur Machtprojektion in instabile Regionen Afrikas, unter anderem in die Zentralafrikanische Republik. Die Richtung, welche die sowjetische Marinestrategie mit der Verlagerung nach Syrien im Jahr 1973 einschlug, und die allgemeine Bedeutung, die sie den Verbindungen vom Schwarzen Meer in die weite Welt beimaß, stellt ein großes Problem für die Bemühungen der Ukraine dar, ihre Unabhängigkeit zu wahren. Die Marinegeschichte der sowjetischen Flotten im Mittelmeer und im Indischen Ozean ist dabei nur eine, wenn auch aufschlussreiche Erweiterung der Geschichte des Schwarzmeerraumes.

Literatur S[ergej] G. Gorsˇkov, Morskaja mosˇcˇ’gosudarstva. Moskva 1976. Kerstin S. Jobst, Geschichte der Krim: Iphigenie und Putin auf Tauris. Berlin/Boston 2020. I[van] G. Kostev, Podvodnyj flot ot Stalina do Putina (kniga 1). Moskva 2008. Vladislav Zubok, Collapse: The Fall of the Soviet Union. New Haven 2021. Mara Kozelsky, Crimea in War and Transformation. London 2018.

Imperialismus, Kolonialismus und Orientalismus

Anna Guboglo

Russische Fotografie in den südlichen Peripherien des Reiches: Ein Werkzeug imperialer Politik (1839–1900)

Innerhalb weniger Monate nach ihrer ersten öffentlichen Vorstellung im Jahr 1839 in Paris wurde die Daguerreotypie-Technik, die die Fotografie revolutionierte, in der russischen Hauptstadt mit Enthusiasmus aufgegriffen. Noch schneller als im Rest Europas verbreiteten sich die Technik und Fotoateliers, die diese anwandten, in den größten Städten des Landes. Dies zeigen die Eindrücke ausländischer Besucher*innen, die in ihren Briefen und Erinnerungen das dichte Angebot und die Qualität der Bilder hervorhoben. Seitdem wurde die Fotografie zu einem Medium, das ethnografisches Wissen über die Bevölkerung des Russländischen Reiches vermittelte und vielfach bisherige visuelle Darstellungen wie Bilder, Karten und Gemälde ersetzte. Zusammen mit den russischen Kolonisatoren und Ethnographen sowie französischen, schweizerischen und deutschen Reisenden erreichte das neue Medium auch Zentralasien, den Kaukasus und die Krim. Fotografische Aktivitäten spielten sich nicht nur in Städten wie Tiflis, Samarkand und Taschkent ab, sondern ebenso in ländlichen Gegenden und in der Wildnis, da die russischen Ethnografen im Zuge fotografischer Expeditionen das ganze Reich bereisten. Für moderne Historiker*innen stellen Fotografien daher eine einzigartige Quelle dar, ein Zeugnis, das die Einordnung der russischen fotografischen Praxis in die Kolonialagenda Europas nahelegt. Die postkoloniale Forschung, insbesondere Linda Nochlins The Politics of Vision und John Taggs The Burden of Representation, haben eine Diskussion über die koloniale Instrumentalisierung und den inhärenten Orientalismus der bildenden Kunst und Ethnologie angestoßen. Darauf hat sich eine kritischere Perspektive auf die der Fotografie inhärente Illusion der Objektivität durchgesetzt und die Aufmerksamkeit wurde den Aspekt der Konstruktion gelenkt, welcher fotografischer Praxis innewohnt. Die Verbindung der Geschichte des Kolonialismus mit jener der visuellen Repräsentation ermöglicht es uns, Fotografie als ein Medium der Konstituierung und Aufrechterhaltung von kolonialer Macht zu verstehen. Die Fotografie visualisierte Unterschiede, aus denen sich das koloniale Wissen und die koloniale Ordnung von ethnografischen Sammlungen konstituierten.

140

Anna Guboglo

Die Anfänge der Fotografie im Russischen Reich Wie in Europa wurde im Russischen Reich der Fotografie in der frühen Phase entweder künstlerischer oder dokumentarischer Wert zugeschrieben. Die technische Entwicklung der Fotografie, insbesondere das Erreichen scharfer Abbildungen, besserer Farbkontraste und abwechslungsreicher Effekte förderte gegen Ende des Jahrhunderts ihre Verwendung als Kunstmittel. Dagegen wurde die Wahrnehmung ihres dokumentarischen Wertes von Debatten in der Presse und in wissenschaftlichen sowie künstlerischen Kreisen vorangetrieben. Im Jahr 1856 beschrieb Wladimir Wassiljewitsch Stassow, der Begründer und Leiter der ersten öffentlichen fotografischen Sammlung in der Abteilung für Kunst und Technik der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek in Sankt Petersburg, die Fotografie als eine Erfindung, die zur Herstellung von Abbildungen wertvoller Originale diene, für das künstlerische Schaffen selbst aber nachrangig sei. Solche Abbildungen könnten zwar der Bildung der Massen dienen, seien aber im Vergleich zu den Originalen unbefriedigend. Jahre später, als er die Qualität der Fotografie mit der von Gravuren auf eine Stufe stellte, erkannte er ihren Nutzen für kunstgeschichtliche und ethnografische Studien und weitete die Sammlung der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek auf die Geschichte und Ethnografie der Völker Russlands, Kunstwerke, Porträts, Landschaften und Alben aus. Dagegen waren Fotoateliers schon früh Orte der Zusammenarbeit zwischen Fotografen und Malern, die entweder selbst als Fotografen oder als Retuscheure arbeiteten. Dadurch, dass Maler die Fotografie als ein neues visuelles Hilfsmittel nutzten, wurde sie mit dem künstlerischen Umfeld verknüpft. In den 1850er Jahren leitete die carte de visite einen Umbruch im Interesse an Fotografie ein. Da in der Auftragsmalerei Porträts und Landschaften äußerst beliebte Motive waren, zeigten sich ähnliche Tendenzen bei der Themenwahl und Komposition von den cartes de visite und Ansichtskarten (otkrytki von otkrytoe pismo, »offener Brief«), nämlich Porträtfotografien bzw. Fotografien von Natur oder Architektur. Der Fotografie kam somit neben der künstlerischen und wissenschaftlichen auch eine kommerzielle Bedeutung zu. Sowohl die kommerzielle als auch die dokumentarische Anwendung der Fotografie wurde durch den technischen Fortschritt, die Vereinfachung des Verfahrens und die verbesserte Beweglichkeit von Kameras und Glasplatten ermöglicht. In den späten 1850er Jahren begann der Albuminsilberdruck die bisher gängigen Techniken der Daguerreotypie und Kalotypie zu ersetzen, da das Verfahren billiger und die Abzüge somit für einen größeren Teil der Bevölkerung zugänglich waren. Mehrere Negativbilder konnten auf einer Glasplatte belichtet werden; sie wurden dann auf Papier gedruckt und auf kleine Pappstücke geklebt. Die durch diese Albumintechnik hergestellten Bilder können leicht an ihrem charakteristischen Glanz und den vorherrschenden Brauntönen erkannt werden.

Russische Fotografie in den südlichen Peripherien des Reiches

141

Die kommerzielle Fotografie war in Russland anfangs von Ausländern dominiert, und auch für russische Fotografen waren Reisen und Studienaufenthalte im Ausland oft maßgeblich für die Kompetenz im Umgang mit der Technik und Kunst der Fotografie. Jossif Mygurski, der im Jahr 1858 die erste Russische Fotografische Gesellschaft in Odessa gründete, hatte in Frankreich gearbeitet, bevor er das erste russischsprachige Handbuch zur Fotografie verfasste. Daher waren seine Positionen zu Kunst und Fotografie und seine Verwendung von verschiedenen Beleuchtungsarten und feinen Tonabstufungen, die die Ausdruckskraft zu steigern vermochten, von seinen Kontakten zu französischen Fotografen geprägt. Aufgrund von Mygurskis Arbeit im Südosten des Russischen Reiches verfügen wir über Abbildungen von Sehenswürdigkeiten aus ukrainischen Städten, Südbessarabien und der Krim aus den späten 1860er Jahren. Auch Zeichner, die sich bisher auf Handzeichnungen stützten, wandten sich nun der Fotografie zu, um ihren Darstellungen größere Originaltreue zu verleihen. 1872 legte die Russische Geografische Gesellschaft Richtlinien zur Unterscheidung zwischen physiognomischer und ethnografischer Fotografie fest. Dadurch wurde es möglich, bei der Darstellung von Gesichtern, Kleidung oder Szenen aus dem Alltagsleben auch künstlerische Ambitionen einfließen zu lassen. Die ersten ethnografischen Fotografien in Russland stellten ›ethnische Typen‹ dar – eine Fortsetzung des populären Porträts, der Darstellung ethnischer Archetypen und der Beschäftigung mit dem ländlichen Leben. Dies hat sich mit den ähnlichen Erscheinungen in der künstlerischen Umgebung parallel entwickelt, denn seit den 1870er Jahren verlegte die »Wander«-Bewegung (peredvizˇniki) ihre Ausstellungen in entlegene Städte des Reiches. Die archetypischen Bilder, die Bauern, Kosaken oder Vertreter verschiedener Berufe zeigten, waren beliebte Souvenirs. Um Fotografien von diesen ›Typen‹ bereitzustellen, reisten kommerzielle Fotografen in die Peripherie des Reiches, in den Kaukasus, die Ukraine und nach Zentralasien. Das Album war ebenfalls eine geschätzte Form zur systematischen Organisation ethnografischen Wissens und zu dessen Vermittlung an die russische Öffentlichkeit. Eine besonders große Vielfalt und hohe Qualität der Darstellungsmethoden wiesen das Turkestanskij al’bom (Das Turkestan-Album, 1871– 1872) und das Album Tipy narodnostej Srednej Azii (Völkertypen Mittelasiens, 1876) auf, die beide 1876 auf dem Dritten Internationalen Orientalistenkongress in St. Petersburg vorgestellt wurden. Die Herstellungsbedingungen der Alben unterschieden sich jedoch. Das Album Völkertypen Mittelasiens wurde von den Kongressorganisatoren in Auftrag gegeben. Diese entsandten russische Militärangehörige, die die Objekte der Fotografien, Menschen unterschiedlicher Ethnien, in das Fotostudio in Taschkent bringen sollten. Das Turkestan-Album hingegen wurde vom damaligen Generalgouverneur Turkestans, Konstantin Petrowitsch von Kaufman, in Auftrag gegeben, und ein Großteil der Bilder wurde

142

Anna Guboglo

an verschiedenen Orten Zentralasiens aufgenommen. Das monumentale Album enthält fast 1.220 Albuminabzüge und besteht aus sechs Bänden zu verschiedenen Themen, die von der Archäologie über Ethnografie bis hin zur Militärgeschichte reichen. Die vollständigste Dokumentation im Kaukasus wurde von der Militärisch-Topographischen Abteilung der Kaukasischen Militärregion nach Ende des Kaukasuskrieges 1864 durchgeführt. Auch die verschiedenen Sehenswürdigkeiten auf der Krim wurden bei Besuchen der kaiserlichen Familie fotografisch festgehalten, wodurch umfangreiche Alben entstanden. Diese können heute im Archiv für Film-, Foto- und Tondokumente in St. Petersburg gesichtet werden. Auffallend ist die Kontinuität zwischen den ethnografischen Darstellungen des 18. Jahrhunderts und der Ära der Fotografie. Den Abbildungen mit ›zivilisatorischer‹ Tendenz gingen zwei Entwicklungen voraus, einerseits die Übernahme westlicher Modelle der Wissensklassifizierung (wie Museen, Atlanten, Bücher und Karten) durch die kaiserliche Akademie der Wissenschaften in der Petrinischen Zeit und andererseits die Erforschung der sibirischen Bevölkerung im Zuge der russischen Expansion nach Osten.

Koloniale Fotografie? Die im Russländischen Reich entstandenen ›Typen‹ von Turkestanern, Kosaken, Kaukasiern oder Tataren gleichen in ihrem Zweck und ihrer Ausführung den in Bosnien von österreichischen Fotografen verbreiteten essentialisierten ›Typen‹, die sich beispielsweise in der Fotosammlung des Österreichischen Volkskundemuseums in Wien befinden, und sind allesamt Produkte des in ganz Europa am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmenden Kulturtourismus. Mit dem Kulturtourismus war das Interesse an jenen Kulturen gestiegen, die als außereuropäisch wahrgenommen wurden. Auf diese Weise trugen die Fotografien zur imperialistischen Konstruktion ›imaginierter Geografien‹ und zur Schaffung eines Spektakels der ›exotischen‹ einheimischen Bevölkerung bei. Diese Rekonfiguration des unbekannten kolonialen Raums erfolgte häufig durch ästhetisierte pittoreske Darstellungen und trug zur Schaffung eines Bildes vom ›unterwürfigen Anderen‹ bei. Darüber hinaus strebte die ethnografische Fotografie, die das Ziel der Wissensvermittlung im Rahmen wissenschaftlicher Institutionen verfolgte, danach universelle Typologien zu etablieren, anhand derer die imperialen Untertanen im Rahmen der physischen Anthropologie klassifiziert wurden. Die Darstellungen betonten die Verbindung zwischen physischer Erscheinung einerseits und Kultur und Verhalten andererseits. Sie präsentierten damit ein typisiertes, entindividualisiertes Bild des Fotografierten. Die Fotografie fungierte somit als Auf-

Russische Fotografie in den südlichen Peripherien des Reiches

143

zeichnungs- und Organisationsinstrument, das Machtbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie festigte und letztlich einen Kontroll- und Unterdrückungsmechanismus darstellte. Bildwissenschaftler wie John Tagg gehen noch weiter, indem sie sich auf die ›Autorität der Bilder‹ und die konstruierte Natur ihrer Beweiskraft konzentrieren. Fotografien blieben Werkzeuge, um die Herrschaft des Staates über seine Untertanen zu demonstrieren. Sie können als Materialisierung, und damit als Bekräftigung des kolonialen Blicks verstanden werden. Ihre Nutzung zeugte von sich wandelnden Beziehungen zwischen Auftraggebern, Fotografen und Fotografierten. Während das Turkestan-Album den Unterschied zwischen der russischen und der einheimischen Kultur Zentralasiens hervorhob und verstärkte, stellte der Ansatz, den lokalen Einwohnern bei ihren täglichen Besorgungen und häuslichen Aufgaben abzubilden und dabei oft auch die Namen der Porträtierten anzugeben, eine Beziehung zwischen Fotografen und Fotografierten dar und gab letzteren damit ihre Individualität zurück. Aus der Perspektive des Staatsapparats blieb im imperialen Zeitalter die wichtigste Funktion der Fotografie die Schaffung einer diskursiven Ordnung, der Organisation und des Besitzes, während parallel dazu staatliche Institutionen zur Ausstellung, Bewahrung und Archivierung aufgebaut wurden. Fotografien von kolonisierten nicht-russischen Regionen und Menschen wurden in Europa (vor allem durch ihre Präsentation auf Ausstellungen) eingesetzt, um Machtbeziehungen zu bestätigen und die Größe und Vielfalt des Landes sowie die Effizienz der zarischen Verwaltung zu unterstreichen. Wenngleich die ethnografische Fotografie den Anspruch hatte, ›objektive‹ und ›wissenschaftlich präzise‹ Dokumente zu erzeugen, wurde die entpersonalisierte und stereotypisierte Darstellung ethnischer ›Typen‹ fortgeschrieben und vervielfacht. Das bereits bestehende Konzept der Darstellung von Verschiedenheit und Exotik blieb bestehen, ebenso das entsprechende System der Produktion und Rezeption der Bilder. Infolge der oben genannten Eigenschaften der Kolonialfotografie, d. h. der Erstellung von Typologien und Ordnung, waren Fotografien Repräsentationsmedien, die sowohl Völker als auch Orte essentialisierten und Vorstellungen von anderen Kulturen und ihren heimischen Umgebungen prägten. Damit trugen sie zum Ausbau und zum Erhalt des Imperiums bei.

Literatur Jelena Barchatova, Realismus und Dokumentation: Photographie als Fakt. In: David Elliot (Hg.), Russische Photographie 1840–1940. Katalog zur Wanderausstellung Hundert Jahre Photographie in Rußland 1840–1940. Berlin 1993, 41–50.

144

Anna Guboglo

Margaret Dikovitskaya, Central Asia in Early Photographs: Colonial Attitudes and Visual Culture. In: Tomohiko Uyama (Hg.), Empire, Islam, and Politics in Central Eurasia. Hokkaido 2007, 99–121. Elizabeth Edwards/Janice Hart, Introduction. Photographs as Objects. In: Elizabeth Edwards/Janice Hart (Hg.), Photographs Objects Histories: On the Materiality of Images. Routledge 2004, 1–15. Kate Fitz Gibbon, Emirate and Empire: Photography in Central Asia 1858-1917. In: SSRN Electronic Journal (2009), 1-34. Online unter http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.1480082 (08. 2. 2022). Eleanor M. Hight/Gary D. Sampson, Introduction. In: Eleanor M. Hight/Gary D. Sampson (Hg.), Colonialist Photography: Imag(in)ing Race and Place. Documenting the Image. London 2004, 1–19. Anna. V. Maksimova, Rossijskaja fotografija vtoroj poloviny XIX – pervoj poloviny XX veka v kollekcii Gosudarstvennogo muzejno-vystavocˇnogo centra ROSFOTO. In: Ekaterina A. Vasilieva (Hg.), Collection of Contributions of the International Conference »Photography in the Museum«, 2–4 October 2012. Moskau 2012, 151–159. Linda Nochlin, The Politics of Vision: Essays on Nineteenth-Century Art and Society. New York 1991. John Tagg, The Burden of Representation: Essays on Photographies and Histories. Minneapolis, Minn 1993. Meike Sach, Symbols, Conventions, and Practices: Visual Representation of Ethnographic Knowledge on Siberia in Early Modern Maps and Reports. In: Roland Cvetkovski/Alexis Hofmeister (Hg.), An Empire of Others: Creating Ethnographic Knowledge in Imperial Russia and the USSR. Budapest 2013, 171–210. Elena B. Vinogradova, The Invention of Photography and V. Stasov, one of the Founders of Library Collection of Photo-Documents: to the Anniversary Dates. In: Bibliotekovedenie 6 (2014), 65-74. Wendy Shaw, Possessors and Possessed: Museums, Archaeology, and the Visualization of History in the Late Ottoman Empire. Berkeley 2003.

Ulrich Hofmeister

Bosnien, Turkestan und der Kolonialismus: Imperiale Herrschaft im Vergleich

Kerstin Jobst hat den eigentümlichen Sonderstatus der Krim innerhalb des Zarenreichs anschaulich beschrieben. Die Halbinsel im Schwarzen Meer wurde von den Zeitgenossen sowohl als Wiege des russischen Christentums als auch als exotischer Orient beschrieben und galt damit als russisches Kernland und als Kolonialbesitz des Zarenreichs zugleich. Vielleicht war es diese ambivalente Position seiner Heimat, die den krimtatarischen Intellektuellen und Aktivisten Ismail Gasprinskij für die besondere Lage auch anderer imperialer Randgebiete sensibilisierte. So war Gasprinskij einer der ersten, der die russländischen Besitzungen in Zentralasien mit Bosnien unter der Herrschaft der Habsburger verglich. In einem Zeitungsartikel aus dem Sommer 1909 kritisierte Gasprinskij nämlich das mangelnde aufklärerische Engagement des Zarenreichs im Emirat von Buchara, einem der Protektorate des Zarenreichs in Zentralasien. Dabei verglich er Buchara mit anderen Regionen unter der »zivilisierenden Oberherrschaft« von Europäern.1 Gasprinskij beklagte, dass es in Buchara auch nach vierzig Jahren russischer Schutzherrschaft lediglich bettelnde Derwische und Geschichtenerzähler gebe, während in Bosnien längst islamische Zeitungen und Bücher gedruckt würden. Dieser Verweis auf Bosnien war im Kontext Zentralasiens äußerst ungewöhnlich: Im Zarenreich betrachtete man Bosnien als Teil Europas, während die russischen Besitzungen in Zentralasien dem Orient zugerechnet wurden, so dass sich ein Vergleich scheinbar verbat. Tatsächlich verband die beiden Regionen geographisch und kulturell nur wenig: In den Wüsten, Steppen und Gebirgen Zentralasiens lebten Nomaden mit ihren Viehherden, und die Flussoasen – ehemalige Knotenpunkte der Seidenstraße – waren alte Zentren islamischer Gelehrsamkeit. Die Bewohner Zentralasiens waren fast ausschließlich Muslime, sprachlich changierten sie zwischen türkischen und persischen Dialekten. Bosnien und die Herzegowina hingegen, ein von Mittelgebirgen und Karstlandschaften geprägtes Land in Südosteuropa, hatte eine durchgehend sesshafte Bevölkerung mit einer gemeinsamen südslawischen Umgangssprache. 1 Gasprinskij, Kuda my vedëm Bucharu?

146

Ulrich Hofmeister

Die Muslime stellten hier neben orthodoxen Serben und katholischen Kroaten nur ein Drittel der Bevölkerung, sie bildeten aber traditionell die Oberschicht. Dass Gasprinskij Zentralasien dennoch mit Bosnien assoziierte, lag vor allem an dem Umstand, dass hier wie dort ein europäisches Imperium über eine (zumindest teilweise) muslimische Bevölkerung herrschte. Gasprinskij führte seinen Vergleich nicht weiter aus, und auch in der Forschung wurden Zentralasien und Bosnien bisher kaum miteinander verglichen. Dabei ist Gasprinskijs Ansatz, die beiden Regionen gemeinsam in den Blick zu nehmen, durchaus erhellend. Allerdings eignet sich das Protektorat Buchara, dessen interne administrative Strukturen kaum angetastet wurden, für den Vergleich der Herrschaftspraktiken weniger gut als diejenigen zentralasiatischen Gebiete, die als Generalgouvernement Turkestan direkt dem Zarenreich angeschlossen und daher – wie Bosnien und die Herzegowina – unmittelbar vom Imperium verwaltet wurden. Sowohl Turkestan als auch Bosnien und die Herzegowina waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kontext der kolonialen Expansion Europas erobert worden und bildeten nun eine kontinentale Erweiterung eines europäischen Landimperiums. Zeitgenossen betrachteten die beiden Regionen daher häufig als Äquivalente zu den Überseekolonien der anderen Großmächte. Ebenso wie dort wurde die imperiale Herrschaft in Bosnien wie auch in Turkestan mit einer angeblichen Verpflichtung des Imperiums gerechtfertigt, zivilisatorischen Fortschritt zu bringen. Dies war auch der Punkt, auf den Gasprinskijs Vorwurf an das Zarenreich zielte, als er beklagte, dass dieses in Buchara – im Gegensatz zum Habsburgerreich in Bosnien – seine »aufklärerische Mission« vernachlässige. Auch die Verwaltung der beiden imperialen Randregionen weist gewisse Parallelen auf: Ähnlich wie die meisten Überseekolonien wurden weder Bosnien und die Herzegowina noch Turkestan zu gleichwertigen Bestandteilen des imperialen Staates. In Zentralasien bestanden das Emirat Buchara und das Khanat Chiva als Protektorate fort, und die übrigen russischen Eroberungen wurden als Generalgouvernement Turkestan dem Kriegsministerium in St. Petersburg unterstellt. Die einheimische Bevölkerung Turkestans wurde nicht in das Ständesystem des Zarenreichs integriert, sondern bekam einen Sonderstand als »Eingeborene« (tuzemcy) zugewiesen. Bosnien und die Herzegowina wiederum wurden 1878 vom Habsburgerreich zunächst lediglich besetzt und blieben offiziell weiterhin Teil des Osmanischen Reichs. Erst 1908 wurde das Gebiet auch formal von Österreich-Ungarn annektiert. Es wurde allerdings keinem der beiden Teilstaaten angeschlossen, sondern dem gemeinsamen Finanzministerium unterstellt. Dies führte dazu, dass die Landesbewohner keine Mitsprachemöglichkeit bei den Zentralstellen des Reichs hatten. Bosnien hatte also ebenso wie die zentralasiatischen Gebiete einen administrativen Sonderstatus inne, der seine Bewohner gegenüber der Bevölkerung des Kernlandes benachteiligte. Es gab aber

Bosnien, Turkestan und der Kolonialismus: Imperiale Herrschaft im Vergleich

147

einen entscheidenden Unterschied zwischen Bosnien und Turkestan: In Turkestan war die Benachteiligung der Einheimischen politisch beabsichtigt, die Sonderstellung Bosniens hingegen war vor allem eine Folge der komplizierten Machtverhältnisse innerhalb der Doppelmonarchie. Rechtlich galten die Landesangehörigen Bosniens als den anderen Untertanen des Kaisers prinzipiell gleichwertig. Das Landesstatut von 1910, das die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz proklamierte, legte auch fest, dass Personen aus den anderen Teilen des Imperiums, die in der Landesverwaltung arbeiteten, den gebürtigen Bosniern gleichgestellt sein sollten. Es gab daher in Bosnien keine Kolonialherrenschicht, die allein durch ihre Herkunft rechtlich privilegiert gewesen wäre. Damit unterscheidet sich die Zugehörigkeit Bosniens zum Habsburgerreich nicht nur von der Zarenherrschaft in Turkestan, sondern auch vom Kolonialismus der Überseeimperien, der auf der Abgrenzung zwischen Kolonialherren und Kolonisierten beruhte. In Bosnien und der Herzegowina wurden erstmals Muslime in einer nennenswerten Zahl Untertanen des Kaisers. Damit stand das Habsburgerreich – ebenso wie das Zarenreich – vor der Frage, welchen Regelungen das islamische Leben im Land unterworfen werden sollte. In den beiden Kontinentalimperien hatte diese Frage eine viel größere Bedeutung als in den Überseeimperien, da die rechtliche Unterscheidung zwischen Kolonie und Mutterland hier weniger ausgeprägt war. Im Folgenden soll daher kurz gegenübergestellt werden, welche Strategien das Habsburgerreich und das Zarenreich im Umgang mit den islamischen Strukturen der jeweiligen Region verfolgten. Das Zarenreich hatte im Umgang mit dem Islam bereits lange Erfahrung, waren doch schon seit der Mitte des 16. Jahrhunderts Muslime in großer Zahl Untertanen des Zaren. Nach mehr als zwei Jahrhunderten, die vom Wechsel zwischen Zwangsmaßnahmen und Toleranz gegenüber den Muslimen geprägt waren, stellte Katharina II. die russländische Islampolitik auf neue Beine. Der Islam und seine Vertreter sollten nun nicht mehr bekämpft, sondern vielmehr in den Dienst des Imperiums gestellt werden. Katharina richtete daher 1788 zunächst für die Muslime der Wolga-Ural-Region die Orenburger islamische geistliche Versammlung ein, später folgten entsprechende Einrichtungen auch für die Krim und die Kaukasus-Region. Diese Institutionen wurden nach dem Vorbild einerseits der Russisch-Orthodoxen Kirche und andererseits der islamischen Strukturen im Osmanischen Reich geformt und sollten dazu dienen, die Loyalität der islamischen Funktionsträger gegenüber dem Staat zu sichern. Die Islamischen geistlichen Versammlungen standen unter dem Vorsitz eines vom Zaren ernannten Muftis und waren für die Ausbildung von religiösen Funktionären sowie den Bau und Erhalt von Moscheen zuständig. Außerdem dienten sie als Berufungsinstanz für islamische Gerichte und nahmen auf das religiöse Schulwesen Einfluss. Die Geistlichen Versammlungen saßen aber von Anfang an

148

Ulrich Hofmeister

zwischen zwei Stühlen: Ihre Nähe zu den Behörden nahm ihnen in den Augen mancher Gläubigen die Legitimität, zugleich wurden sie von den offiziellen Stellen verdächtigt, dem Staat gegenüber nicht ausreichend loyal zu sein. Nachdem als Folge des langen und blutigen Kriegs im Kaukasus das Misstrauen der russländischen Eliten gegenüber dem Islam immer mehr zunahm, wurde das Modell der Geistlichen Versammlungen nicht mehr auf Turkestan ausgedehnt. Der dortige Generalgouverneur Konstantin von Kaufmann (Amtszeit von 1867 bis 1882) war überzeugt, dass eine Institutionalisierung den Islam letztlich stärken würde und dass dies den Interessen des Staates zuwiderliefe. Ohne staatlichen Rückhalt hingegen, so hoffte Kaufmann, würde der Islam von selbst an Bedeutung verlieren. Kaufman untersagte daher der Orenburger geistlichen Versammlung jede Aktivität in Turkestan und gab seiner Verwaltung die Anordnung, den Islam und seine Vertreter zu ignorieren. Allerdings bedeutete dies keine vollständige Abkehr von der Zusammenarbeit mit islamischen Eliten, vielmehr setzte Kaufman nun auf inoffizielle Kontakte zu muslimischen Würdenträgern. Als sich jedoch Kaufmans Erwartung eines baldigen Niedergangs des Islam nicht erfüllte, stellten seine Nachfolger Überlegungen an, nun doch eine eigene Geistliche Versammlung für Turkestan einzurichten, um zumindest ein gewisses Maß an staatlicher Kontrolle zu ermöglichen. Doch alle derartigen Pläne verliefen letztlich im Sand. Die k. u. k. Verwaltung in Bosnien und der Herzegowina wählte eine Strategie, die dem Vorgehen des Zarenreichs unter Katharina in vielerlei Hinsicht ähnelte, und setzte auf die Kooperation mit den islamischen Eliten. So proklamierte Kaiser Franz Joseph gleich zu Beginn der Besetzung Bosniens und der Herzegowina, dass die bestehenden Gesetze und Einrichtungen vorerst beibehalten werden sollten. Dies bedeutete, dass für die muslimische Bevölkerung in gewissen Bereichen auch die Scharia und die islamische Gerichtsbarkeit in Kraft blieben. Zugleich bemühte sich die imperiale Verwaltung, die islamischen Strukturen unter staatliche Kontrolle zu stellen. Schritte dazu waren unter anderem die Einrichtung einer vom Staat ernannten Kommission, die über religiöse Stiftungen wachen sollte, sowie – wohl nach dem Vorbild Französisch-Algeriens – die Schaffung einer Berufungsinstanz für Scharia-Gerichte. Am bedeutendsten aber war die Neuorganisation der islamischen Hierarchien insgesamt. Bisher hatte an deren Spitze der Sultan in Konstantinopel gestanden, der in seiner Funktion als Kalif vom Scheich-ul-Islam vertreten wurde. Doch nun richteten die neuen Verwalter eine eigene bosnische religiöse Hierarchie ein, an deren Spitze die neu geschaffene Position des Reis-ul-ulema stand, der nun vom Kaiser ernannt wurde, und dem ein vierköpfiges Beratergremium, die Medzˇlissi-ulema, zur Seite gestellt wurde. Diese neue Institution, die die Eignung von islamischen Richtern überprüfte, orientierte sich an den bisherigen osmanischen Strukturen, wobei allerdings die institutionelle Verbindung nach Konstantinopel gekappt

Bosnien, Turkestan und der Kolonialismus: Imperiale Herrschaft im Vergleich

149

wurde. Ähnlich war die imperiale Verwaltung zuvor schon im Falle der orthodoxen und der katholischen Kirche vorgegangen, bei denen ebenfalls der Einfluss der im Ausland gelegenen religiösen Zentren geschwächt worden war. Erst als nach der Annexion Bosniens und der Herzegowina im Jahr 1908 der politische Einfluss des Osmanischen Reichs keine reale Bedrohung mehr für die imperiale Verwaltung darstellte, räumte das 1909 erlassene Statut zur religiösen und kulturellen Autonomie der Muslime dem Sultan doch noch ein eingeschränktes Mitspracherecht bei der Ernennung des Reis-ul-uema ein. Das Statut sah außerdem ein behördenartiges vierstufiges System von Repräsentationsorganen vor, zu deren Kompetenzen unter anderem die Schulaufsicht sowie die Kontrolle der islamischen Stiftungen gehörte. Während diese Regelungen nur Bosnien und die Herzegowina betrafen, wurden 1912 bzw. 1916 auch für Cisleithanien und Ungarn Gesetze erlassen, die den Islam als Religionsgemeinschaft anerkannten und unter staatlichen Schutz stellten. Insgesamt ähnelte die vom Habsburgerreich geschaffene islamische Hierarchie in Bosnien und der Herzegowina den Islamischen geistlichen Versammlungen im Zarenreich, auch wenn keine Hinweise darauf bekannt sind, dass diese tatsächlich als Vorbild gedient hätten. Vielmehr orientierten sich die imperialen Verwaltungen in beiden Fällen an den Regelungen im Osmanischen Reich und an den Strukturen der christlichen Kirchen. Mit der offiziellen Anerkennung des Islam auch im eigenen Kernland nahmen das Habsburgerreich und das Zarenreich aber eine Sonderrolle unter den Großmächten der Zeit ein, und bis heute ist der Status des Islam in Österreich, Bosnien-Herzegowina und Russland fast einzigartig in Europa. Allerdings fällt auf, dass das Zarenreich diesen Weg gerade in Turkestan nicht weiterverfolgte und hier auf eine Institutionalisierung der islamischen Strukturen verzichtete. Während das Habsburgerreich Neutralität in religiösen Belangen verkündete, wurde der Islam in Turkestan stets als potenzielle Bedrohung der imperialen Verwaltung wahrgenommen. Die Parallelen bestehen in diesem Fall also gerade nicht zwischen Bosnien und Turkestan, sondern vielmehr zwischen Bosnien und denjenigen Gebieten des Zarenreichs, die schon länger unter russländischer Herrschaft standen. Eine Erklärung für diese Divergenz könnte darin liegen, dass die staatliche Anerkennung des Islam nur dort für notwendig erachtet wurde, wo die Muslime als vollwertige Untertanen des Imperiums galten. In Turkestan hingegen, das von einer kolonialen Segregation der Gesellschaft geprägt war, wurden die Muslime als eine im Grunde fremde Bevölkerungsgruppe betrachtet, die daher auch weniger staatlicher Regulierung bedurfte. Dies deutet darauf hin, dass sich der Status Bosniens und seiner Muslime innerhalb des Imperiums grundsätzlich von dem Turkestans und seiner Bevölkerung unterschied. Während das Zarenreich gegenüber den Muslimen Turkestans eine Politik der kolonialen Nichteinmischung verfolgte, galten die Muslime

150

Ulrich Hofmeister

Bosniens und der Herzegowina als gleichberechtigte Untertanen des Kaisers. Ihre religiösen Angelegenheiten wurden derselben staatlichen Kontrolle unterworfen und unter denselben staatlichen Schutz gestellt wie die der christlichen Landesangehörigen. Dies spricht dafür, die Herrschaft des Habsburgerreichs in Bosnien und der Herzegowina begrifflich nicht als Kolonialismus, sondern eher als Beispiel für innereuropäische Expansionsdynamiken zu betrachten. Doch auch wenn die beiden Landimperien nicht im gleichen Maß als Kolonialmächte gelten können, ist ein Vergleich ihrer Herrschaftspraxis doch fruchtbar und aufschlussreich.

Literatur Mehmed Bec´ic´, Novi pogled na transformaciju ˇserijatskih sudova u Bosni i Hercegovini: Da li je 1883. godine nametnut kolonijalni model primjene sˇerijatskog prava? In: Godisˇnjak pravnog fakulteta u Sarajevu LX (2017), 59–82. Daniel R. Brower, Turkestan and the Fate of the Russian Empire. London 2003. Ninja Bumann, Der weibliche Blick auf die imperiale Peripherie: Die Wahrnehmung Zentralasiens und Bosnien-Herzegowinas um 1900 im Vergleich. Unveröff. Masterarbeit, Universität Wien 2016. Ninja Bumann, Scharia nach k. u. k. Verordnung: Islamisches Recht und dessen Grenzen im habsburgischen Bosnien-Herzegowina (1878–1918). In: Antje Flüchter/Christina Brauner (Hg.), Recht und Diversität: Lokale Konstellationen und globale Perspektiven von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Bielefeld 2020. Partha Chatterjee, The Nation and Its Fragments: Colonial and Postcolonial Histories. Princeton 1993. Robert D. Crews, For Prophet and Tsar: Islam and Empire in Russia and Central Asia. Cambridge 2006. Robert J. Donia, Islam under the Double Eagle: The Muslims of Bosnia and Hercegovina, 1878–1914. Boulder/New York 1981. Benno Gammerl, Staatsbürger, Untertanen und Andere: Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich, 1867–1918. Göttingen 2010. Ismail Gasprinskij, Kuda my vedëm Bucharu? In: Terdzˇiman 27/4 (30. 6. 1909). Kerstin S. Jobst, Die Perle des Imperiums: Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz 2007. Clemens Ruthner, Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie: Eine Einführung. In: Clemens Ruthner/Tamara Scheer (Hg.), Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn: Annäherungen an eine Kolonie. Tübingen 2018, 15–44.

Stephanie Weismann

Uns stinkt’s! Geruchsperlen und Ordnungsversuche aus dem imperialen Dunstkreis

Getrocknetes Blut, verklebt mit Federn, umherliegende Innereien, der Geruch von Verwesung, Geflügelkadaver an Haken, empörte Anrainer – soweit der Schauplatz an der Browarna-Straße/Ecke Probostwo-Straße in der Stadt Lublin. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg rang die Sanitärkommission der Stadt – unter russischer, habsburgischer sowie polnischer Verwaltung – mit den unliebsamen Ausdünstungen zweier Geflügelschlachtereien in unmittelbarer Nachbarschaft. Diese trotzten offenbar über Jahrzehnte sämtlichen imperialen und nationalen Disziplinierungsmaßnahmen. Die Befriedung städtischer Geruchslandschaften, vor allem der Kampf gegen organische Abfälle und ihren entsprechenden Gestank, waren ein maßgebliches Anliegen europäischer Stadtverwaltungen seit dem 18. Jahrhundert. Anfangs noch der Bekämpfung gesundheitsschädlicher Miasmen gewidmet, waren mit dem 19. Jahrhundert urbane Sanitärmaßnahmen und Deodorisierungsprojekte fixer Bestandteil einer generellen Modernisierungsmission. In das Regulieren und Disziplinieren von Lublins städtischem Atem mischten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts imperiale wie nationale Interessen: Die von wechselnden Obrigkeiten lancierten Sanitärkampagnen reichten von Hygienemaßnahmen zur Seuchenbekämpfung bis zum Aufruf zur nationalen ›Volksgesundheit‹. Geruchsspuren aus dem Archiv gewähren Einblick in diesen Kampf gegen schlechte Gerüche – und seine Erfolglosigkeit. Innerhalb weniger Jahre versuchten sich vom zarischen Landeshauptmann (Gubernator) über den k. u. k. Militärgouverneur bis zum Leiter der Lubliner Stadtverwaltung während der Zweiten Polnischen Republik am Gestanksfall Browarna-/Probostwo-Straße. Die erste von der Autorin geortete Zuschrift wurde am 1. August 1911 von den Hausbesitzer/innen und Hausbewohner/innen der Probostwo-Straße in russischer Sprache abgefasst.1 Adressiert an »Ihro Hochwohlgeboren, den Präsident der Stadt Lublin«, erheben sie Beschwerde über 1 Archiwum Pan´stwowe w Lublinie (APL): 352205.4.23.39367 O sanitarnom osmotre nedvizˇimosti v gor. Lûbline i cˇastnyh kvartir 1911–1914, 93.

152

Stephanie Weismann

die infrastrukturelle Vernachlässigung ihrer (Neben-)Straße gegenüber Lublins Hauptstraßen. Nicht nur mangele es an Beleuchtung, es stinke auch gewaltig. Denn abgesehen von der generellen Unbill sei in der Straße ungefragt eine Geflügelschlachterei errichtet worden, »welche einen üblen Geruch sowie Unordnung verbreitet«. Fünf Hausbesitzer, den Namen nach ethnisch gemischt, unterzeichneten diese Bittschrift. Sie beriefen sich darin auf die von der Sanitärkommission vorgeschriebenen Hygienestandards und deren öffentlichen Appell für eine saubere Stadt. Obgleich die im russischen Teilungsgebiet gelegenen polnischen Städte für die zarische Verwaltung gewiss nicht an erster Dringlichkeitsstelle standen, wenn es um gezielte Investition und Modernisierung ging, versuchte man durchaus, den üblichen Herausforderungen und Anliegen der Zeit gerecht zu werden. Die Aktenlage zeigt, dass die Stadtadministration sich entsprechend mit Fragen der Trinkwasserqualität, der Abwasserregelung, der Entsorgung organischer Abfälle, der Nominierung von Hausmeistern zur Einhaltung von Hygieneverordnungen und vielen anderen Maßnahmen, vor allem zur Eindämmung von Epidemien, beschäftigte. Proaktive Bürgerzuschriften wie die oben erwähnte waren gewiss nicht allzu üblich, aber möglich – und zwischen höflichen Zeilen und formvollendeten Formulierungen lassen sich durchaus lokale Missstände herauslesen, die offenbar das Maß des Erträglichen überschritten hatten. Doch des Zaren Mühlen mahlen langsam. Erst ein knappes Jahr später verzeichnet ein Protokoll vom 10. Mai 1912, dass ein Lokalaugenschein des beanstandeten Schauplatzes stattgefunden hat. Hierbei wurde festgestellt, dass die koschere Geflügelschlachterei von Moszek Wajngarten sich in unmittelbarer Nachbarschaft von Wohnhäusern befinde und direkt zum Trottoir hin ausgerichtet sei. Weiters heißt es: Die Schlachtkammer wird offensichtlich selten und auch dann nur unzureichend gesäubert, worauf das auf Boden und Wänden eingetrocknete sowie im Zustand der Verwesung befindliche Blut hinweist. […] Die Federn wiederum kleben überall am Boden bzw. fliegen in der ganzen Nachbarschaft durch die Luft, teilweise bis in die Wohnungen der anliegenden Häuser. In der Schlachterei riecht es abstoßend nach verfaultem Blut; Geflügelinnereien und andere organische Abfälle liegen im Hof und auf der Straße umher, verströmen einen furchtbaren Gestank und verpesten die Luft. In der Schlachterei selbst ist es eng, dunkel und es fehlt ein Wasseranschluss. […] Insgesamt befindet sich das Lokal in einem höchst unhygienischen Zustand, die Nähe zu Wohnhäusern lässt es zu einem Ansteckungsherd für Krankheiten werden.2

Das Gleiche galt für das Unternehmen von Mendel Bekerman in der BrowarnaStraße ums Eck, wo zudem der Rinnstein, »der die Abwässer zum nahe gelegenen Flüsschen führt, mit Federn und allerlei Unrat verstopft [sei]«. Den beiden wurde 2 Ebda., 111.

Uns stinkt’s!

153

eine dreimonatige Frist gewährt, um ein Behältnis für ihre Abfälle einzurichten, den Anschluss an die städtische Wasserleitung und Installierung eines Wasserhahns vorzunehmen, öfters zu reinigen und eine betonierte Senkgrube für Abwasser und Blut anzulegen, die regelmäßig von der Müllabfuhr geleert werden musste. Sollte diesen Forderungen nicht Folge geleistet werden, seien die Geflügelschlachtereien zu schließen. So weit, so üblich. Feststellung des Vergehens, Anordnung der Bedingungen, Festlegung einer Frist und die zu erwartenden Konsequenzen bei Nichteinhaltung, meist die Stilllegung des Unternehmens, entsprechen dem üblichen Prozedere der Sanitärkommission. Inwieweit diesen Maßnahmen in diesem Falle Folge geleistet wurde, konnte nicht eruiert werden. Zu vermuten ist jedoch, dass sich die Beschuldigten wenig beeindruckt vom mahnenden Finger der Obrigkeit zeigten, denn am 25. Juli 1916 taucht der Fall Browarna-/Probostwo-Straße wieder in den Akten auf, nun bereits in der Verantwortung des k. u. k. Generalgouvernements unter österreichisch-ungarischer Besatzung während des Ersten Weltkriegs. Die Lage scheint unverändert. Sowohl Mendel Bekerman aus der Browarna- als auch Moszek Wajngarten aus der Probostwo-Straße scheinen in einem Rapport des Marktplatz-Inspektors an das k. u. k. Kreiskommando der Stadt Lublin auf. Beide Häuser werden als »furchtbar schmutzig gehalten« beschrieben, »obgleich sie beide bereits mehrmals Strafen zahlen mussten (zuletzt 50 Rubel)«.3 Der Kommissar verdonnerte Wajngarten und Bekerman erneut zur Gewährleistung grundlegender Sauberkeit. In Anbetracht der generellen sanitären Missstände in Lublin wurde im gleichen Schreiben verabschiedet, dass für die Einhaltung von Sauberkeit und Ordnung dem Inspektor zusätzliches Aufsichtspersonal zugeteilt werden sollte. Denn sanitäre Kalamitäten gab es zur Genüge. Ob es der bürokratischen Natur der habsburgischen Verwaltung oder aber dem tatsächlich besorgniserregenden hygienischen Zustand Lublins geschuldet ist – die Archivakten der Sanitärkommission aus der Zeit des k. u. k. Militärgouvernements sind höchst umfangreich. Ihre Rapporte verzeichnen vor allem mangelnde Hygiene in Geschäften und Werkstätten, unter anderem Fliegenschwärme auf Kuchen und Fleischwaren, fehlende Spucknäpfe und dementsprechender Bodenzustand, nicht vorhandenes Fließwasser in Geschäftslokalen und dergleichen weiteres Übel. Zahlreiche Protokolle und verzweifelte Appelle an die Militärverwaltung lassen anklingen, dass man ob heillos überfüllter Aborte und verstopfter Rinnsteine buchstäblich ›in der Scheiße saß‹, ganz zu schweigen von den olfaktorischen Nebenwirkungen. Neben zahlreich dokumentierten Strafverfügungen – vor allem gegen Kleinbzw. Familienbetriebe und Straßenhändlerinnen – finden sich zunehmend Einsprüche von Privatpersonen, die sich gegen die verhängte Strafe auflehnen, darunter teilweise recht kuriose Ausreden und Rechtfertigungen. Diese Bür3 APL, 352206.13.388 Kary za wykroczenia sanitarne 1916–17, 81–84.

154

Stephanie Weismann

ger/innenzuschriften lassen vermuten, dass das Vertrauen der Einwohner/innen Lublins in Behörden und rechtliche Strukturen wuchs. Während also der Kampf um Hygiene mithilfe sozialer Kontrolle von zweifelhaftem Erfolg gekrönt war, erleben zivilgesellschaftliche Regungen offenbar eine Blüte. Abgesehen von den bisher intern abgewickelten behördlichen Maßnahmen begann sich auch eine neue Öffentlichkeit herauszubilden. Die gelockerte Zensur unter der k. u. k. Verwaltung hauchte der Lubliner Presselandschaft neues Leben ein. Urbane Missstände wurden nun nicht mehr ausschließlich hinter den verschlossenen Türen der städtischen Administration abgehandelt, sondern zunehmend öffentlich debattiert. So berichtete die Lubliner Tageszeitung Głos Lubelski (Die Stimme Lublins) am 18. August 1916 davon, dass sich die Anrainer der Probostwo-Straße zu Recht bereits seit Langem über den Zustand ihrer Straße beschwerten, »Sie können ihre Fenster nicht öffnen, da der unerträgliche Gestank des auf der Straße und in den Rinnsteinen faulenden Unrats die Luft ihrer Wohnung verpestet«.4 Zahlreiche ähnliche Beschwerden füllten nun die Stadtchronik der Lokalpresse. Die Sommermonate verschärften die ohnehin angespannte Situation, denn die Geruchslandschaften einer Stadt sind jahreszeitenabhängig: Im Hochsommer waren gärende Abfallhaufen, Tierhaltung im Hof inklusive der dazugehörigen Fäkalien und Fliegenplage, stagnierende und fermentierende Abwässer ein viel beanstandetes, virulentes Problem. Ob der Vielzahl anderer olfaktorischer Herausforderungen verliert sich hier die Spur der Übeltäter Wajngarten und Bekerman. Gründe für ihr Abtauchen (aus den Archivquellen) gäbe es zahlreiche. Naheliegend wäre, dass ihre Unternehmen nach jahrelanger Strafverfolgung nun endlich auf Druck der Sanitärbehörde oder aber auch der Anrainer/innen geschlossen wurden. Oder fielen die ungerührten Metzgermeister den allgemeinen Kriegswirren anheim? Ging den beiden aufgrund ihrer mangelhaften Hygiene irgendwann der Kundenstock verloren? Zehn Jahre später stolpert man abermals über die amtsbekannte Probostwo-/ Browarna-Straße – mitsamt der vertrauten Kulisse: »Der gesamte Innenhof ist mit faulenden Abfällen verunreinigt«, berichtete Głos Lubelski am 20. Oktober 1929.5 Die Besitzer würden sich um keine Ordnung scheren, weder in noch vor dem Haus. Der Sanitärkommission wurde dringlichst nahegelegt, einmal einen Blick hinein zu werfen. Die Vorwürfe waren nicht neu, die Sachlage offenbar unverändert. Bisherige Strafandrohungen und Strafen scheinen wenig gegriffen zu haben. Mit der polnischen Unabhängigkeit ab 1918 etablierte sich die Presse als breitenwirksames Informationsorgan – auch für städtische Missstände. Eine 4 Głos Lubelski, 18. 8. 1916, 3 (Kronika z miasta). 5 Głos Lubelski, 20. 11. 1929, 5 (Kronika, Wiadomos´ci potoczne).

Uns stinkt’s!

155

Vielzahl neuer Zeitungen wurde gegründet, die sich zunehmend als Sittenwächter gerierten. Die öffentlichen Debatten der Zweiten Polnischen Republik gewähren auch einen Einblick in die ideologische Vielfalt der nunmehr demokratischen Pressenlandschaft. Diese reichte von der jiddischsprachigen Lubliner Sztyme (Lubliner Stimme) des Jüdischen Arbeiterbundes über die regierungsnahe, konservative Ziemia Lubelska (Lubliner Land) bis zum nunmehr offensiv nationaldemokratischen Głos Lubelski, der sich von Rechtsaußen in die Debatten mischte. Dafür, dass Letztere in den 1920er Jahren mit Vorliebe den »Schmutz der Juden«, die »mit ihrem Gestank christlich-polnischen Raum verpesten«, behandelten,6 fiel ihr Naserümpfen hinsichtlich der Geflügelschlachterei im zuvor erwähnten Beitrag auffallend gemäßigt aus. Es war die Ziemia Lubelska, die sich im November 1929 scharf dazu äußerte. »Das rituelle Schlachthaus in der Browarna-Straße«7, so die Überschrift, wollte man möglichst unvoreingenommen schildern, um sich nicht »dem Vorwurf des Antisemitismus« oder der »Einmischung in Fragen des jüdischen Schächtens« auszusetzen – ein Hinweis auf die bereits stark aufgeheizte antijüdische Stimmung jener Jahre. Es gehe ihnen vor allem um Fragen der öffentlichen Gesundheit und um grundlegend humanitäre Standpunkte. Hierzu das Bild: Blut auf dem Trottoir der kleinen Straße, Blut mit der übelriechenden Note von Verwesung, deren Spuren in jenen Innenhof führen, wo sich das rituelle Schlachthaus befindet. […] Gehen wir weiter über die Schwelle. Dreck, vermischt mit Federn und Blut.

Nach einer drastischen Schilderung der zuckenden Geflügelkörper an Haken folgt noch der Hinweis auf den »sicherlich seit langem nicht gereinigten« Boden, der einen »faulen Geruch von Verwesung verströmt«. Der Beitrag appelliert sowohl an die Stadtverwaltung als auch an die jüdische Gemeinde sowie deren Interesse am gesundheitlichen Wohl ihrer Konfessionsbrüder und -schwestern sowie an ihrer eigenen Reputation. Der ›wohlmeinend‹ warnende Ton des Beitrags bekommt durch einen anderen Artikel, zwei Seiten weiter, eine zusätzliche Note. Denn dort wird beanstandet, dass »Lublin für seine über 80 Tausend christlichen Einwohner keine einzige christliche Geflügelschlachterei besitzt«8. Mangelnde Hygiene und schlechte Gerüche wurden nun offensiver für ethnische Distanzierung und Separierung instrumentalisiert, diese zugespitzte Stimmung wurde in den Pressedebatten der späten 1920er Jahre immer spürbarer. Die Herausforderungen und Maßnahmen der Sanitärkommission unter unterschiedlichsten Verwaltungen waren sehr ähnliche. Die sichtliche Erfolglosigkeit ihrer Ordnungsversuche, besonders offenbar am Beispiel Wajngarten und 6 Głos Lubelski, 28. 8. 1923, 3. 7 Ziemia Lubelska, 15. 9. 1929, 1. 8 Ebd., 3.

156

Stephanie Weismann

Bekerman, ist aber doch überraschend. Daran zeigt sich u. a. die Hartnäckigkeit alteingesessener Geruchslandschaften bzw. die Machtlosigkeit von Obrigkeiten gegenüber lokalem Eigensinn. Gerade Gerüche halten sich durch ihren ephemeren Charakter nicht an Grenzen und entziehen sich damit auch einer Festlegung, Messbarkeit und Disziplinierung. Es geht hier aber weniger um die Gerüche bzw. den beanstandeten Gestank an sich, sondern vielmehr darum, wie sich die Haltung Lublins und seiner Einwohner/innen gegenüber organischen Gerüchen veränderte. Das verstärkte kollektive Naserümpfen war auch den Großstadtambitionen Lublins in der Zweiten Republik geschuldet. Am Fall Browarna-/Probostwo-Straße lässt sich außerdem nachspüren, wie sehr die öffentliche Debatte in der Presse an der verschärften Stimmung hinsichtlich (in-)tolerabler Ausdünstungen Anteil hatte. Individuelle Befindlichkeiten vermischten sich bald mit generellen Ressentiments, lokale Missliebigkeiten wurden zu allgemeinen Missständen erhoben und subjektive Wahrnehmungen zu salonfähigen Wissensregimen. Mit seiner wachsenden Bedeutung als Wojwodschafts- und Universitätsstadt suchte Lublin sich vom alten Mief zu befreien. Unliebsame Gerüche wurden zunehmend als gefährliche Kontaminierung einer polnischen Stadt kommuniziert und die polnische Presse schwang seit den späten 1920er Jahren offen die anti-jüdische Keule. Die Säuberungsaktionen des neuen Regimes ab 1939 haben dem Störfall Browarna-/Probostwo-Straße wohl endgültig den Garaus gemacht.

Sarah Lemmen

Der Osten ist immer woanders, der Westen auch. Zur Ambivalenz orientalistischer Diskurse im Zentraleuropa der Zwischenkriegszeit

Prager Ouvertüre Es war ein kalter Mittwoch im Januar 1922, als die Nationalversammlung der Tschechoslowakischen Republik das Gesetz Nr. 27/Sb. »zur Gründung des Slawischen und des Orientalischen Instituts« beschloss. Die Aufgabe des zweitgenannten Instituts war es, wie es weiter im Gesetzestext hieß, die »wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Orient« zu pflegen. Dieser Gesetzesbeschluss war ein simpler parlamentarischer Vorgang und doch von tiefgreifender Bedeutung. Denn hiermit manifestierte die neu gegründete Tschechoslowakische Republik ein deutliches Interesse nicht nur an intensiven Kontakten mit slawischen Ländern, sondern auch und ganz besonders an Beziehungen zum so genannten Orient. Das Interesse am Orient sowie dessen Bedeutung für den neuen zentraleuropäischen Staat wurden von höchster Stelle betont. Staatspräsident Tomásˇ G. Masaryk selbst war Initiator des Orientalischen Instituts. Bereits im ersten Jahr der Republik förderte er die Gründung eines solchen Instituts nicht nur mit Worten, sondern auch mit der Bereitstellung einer nicht unerheblichen finanziellen Unterstützung. Er war es auch, der 1919 den renommierten mährischen Orientalisten und Theologen Alois Musil von Wien an die Prager Universität holte und ihm, aufbauend auf dessen Erfahrungen mit ähnlichen Ambitionen in der kaiserlichen Hauptstadt, die Planung des Orientalistischen Instituts übertrug. Ein solches Interesse am Orient schien nicht selbstverständlich, gar für ein zentraleuropäisches Binnenland, das weder über historische Beziehungen noch über politische Ziele im (nur vage definierten) Orient verfügte. Musils Versuch, dem Projekt in der Prager Gesellschaft zu mehr Renommee zu verhelfen, manifestierte sich in einer Denkschrift, die 1920 zuerst in der Zeitschrift Nasˇe Doba (Unsere Zeit) erschien und dann separat als Sonderdruck veröffentlicht wurde. Hier wehrte er sich explizit gegen die Vorstellung, die Beschäftigung mit dem Orient sei »exotisch« sowie ein reiner Luxus, den sich nur die »reichen Engländer

158

Sarah Lemmen

und Franzosen« leisten könnten. Im Gegenteil betonte er die Bedeutung vor allem von wirtschaftlichen Beziehungen zum Orient für die weitere Entwicklung der Tschechoslowakei und damit auch die Notwendigkeit einer professionellen Beschäftigung mit dieser Region. Eine solche Positionierung verwies auf die politische Bedeutung des Projekts. Fern der Vorstellung der Orientstudien als einer »reinen Wissenschaft« war bereits die Entscheidung für die Beschäftigung mit dem Orient, ebenso die Frage nach der regionalen, fachlichen und thematischen Schwerpunktsetzung innerhalb des Instituts von politischer Tragweite weit über das zu gründende Orientalische Institut hinaus.1 Dabei war Musils Verweis auf die »reichen Engländer und Franzosen« von großer Symbolkraft, zeigten sich hier doch sowohl Ambitionen auf eine Annäherung an die führenden westlichen Nationen als auch das Eingeständnis, dass der Abstand zwischen ihnen und der jungen Tschechoslowakei – immerhin eine der zehn führenden Volkswirtschaften der Zwischenkriegszeit – auf der Wirtschaftsskala und vor allem auf der Skala weltweiter politischer Verflechtung enorm war. Und trotzdem: Die Bedeutung, die dem Orientalischen Institut zugesprochen wurde, verweist auf das Interesse innerhalb der Tschechoslowakei, sich, auch ohne kolonialen Ballast oder imperiale Verflechtungen, als europäische Nation global zu verorten und ihre Position zwischen dem ›Westen‹ und dem ›Osten‹ zu bestimmen.

Saids Orientalismus in Ost(-mittel-)europa Der geschichtswissenschaftliche Blick auf diese und ähnliche Institutionen zur Erforschung des Orients wurde vor allem durch Edward W. Saids Buch Orientalism (1978) geprägt. In diesem epochemachenden Werk betonte er die Bedeutung von wissenschaftlichen Produktionsstätten für die akademische Konstruktion des Orients (ein Fokus, den er in seinem späteren Buch Imperialism and Culture um andere Diskurse erweitert). Über 40 Jahre nach Erscheinen von Orientalism sind seine zentralen Thesen durchweg bekannt und das Konzept des Orientalismus hat trotz aller – teilweise grundlegender – Kritik seinen festen Platz in den wissenschaftlichen Nachschlagewerken. Orientalismus wurde, so Said, lange Zeit als akademische Disziplin verstanden, die sich mit dem Orient beschäftigte, wenn diese Bezeichnung auch bereits vor Erscheinen des Buches immer stärker von Begriffen wie Orientalistik oder Oriental Studies abgelöst wurde, ein Vorgang, der seit dem Erscheinungsjahr 1978 wesentlich schneller vonstattenging. Denn Said prägte den Begriff Orientalismus zwar weiterhin im akademischen Kontext, nun aber vor 1 Musil, Nasˇe úkoly v Orientalistice, 6–7.

Der Osten ist immer woanders, der Westen auch

159

allem im Sinne einer »corporate institution for dealing with the Orient – dealing with it by making statements about it, authorizing views of it, describing it, by teaching it, settling it, ruling over it«. Seine ergänzende Ausführung, Orientalismus sei demnach »a Western style for dominating, restructuring, and having authority over the Orient«2, explizierte ein westliches Selbstverständnis der Überlegenheit und Arroganz gegenüber dem Orient, das letztendlich auch im Kontext von Kolonisierung und imperialer Eroberung seine Wirkung entfaltete. Dieser Bezug zu direkter Einflussnahme verweist gleich auf ein doppeltes Dilemma seiner Argumentation, das gerade die Osteuropäische Geschichte vor ein Problem stellt. Zum einen sieht Said den Orientalismus als Denkstil des (europäisch geprägten) ›Westens‹. Zum anderen aber beschränkt er seine Analyse auf diejenigen, die direkte Autorität und Macht über den Orient ausübten, und fokussiert dementsprechend vor allem die europäischen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich sowie – für spätere Jahrzehnte – ebenfalls die USA. Den »Deutschen, Russen, Spaniern, Portugiesen, Italienern und Schweizern«3 spricht er in dieser spezifischen Ost-West-Beziehung weitgehend die Bedeutung ab. Nicht einmal erwähnenswert erscheinen hier gar die Habsburgermonarchie und ihre Nachfolgestaaten. Aus der Perspektive der ost(-mittel-)europäischen Geschichte dagegen wird die Anwendung des Orientalismuskonzepts als durchaus fruchtbar gesehen. Ausgehend von einem der zentralen Kritikpunkte an Saids Konzept, nämlich, dass hier der westliche – imperial gedachte – Blick auf den Orient im Fokus stehe, der »umgekehrte Blick« des Orients auf den Westen und somit der Einfluss auf die europäischen Gesellschaften selbst aber außen vor bleibe, steht nun die Frage im Raum, wie auch außerhalb der großen westlichen Imperialmächte über den Orient geschrieben, gedacht oder gelehrt wurde. Im deutschsprachigen Raum gehört Kerstin S. Jobst zu den Ersten, die Osteuropa innerhalb des Orientalismus-Konzepts verorteten. Im Sinne der Postcolonial Studies beschreibt sie dabei das Russländische Imperium als (bis dato oft übersehene) Kolonialmacht mit seinem ganz eigenen vostok, dem eigenen Osten des russischen Imperiums. Dieses Imperium griff immer weiter nach dem »russischen Morgenland«4 und war ebenfalls mit dem Orient beschäftigt (dealing with [its] Orient) im Sinne Saids, nämlich durch »making statements about it, authorizing views of it, describing it, by teaching it, settling it, ruling over it«, wenn auch ohne die für das Narrativ der französischen sowie britischen Kolonien und Einflusssphären so wichtige Meerespassage, sondern vielmehr als Teil einer großen, binnenkolonialen Landmasse. Kerstin S. Jobst beschreibt das Russlän2 Said, Orientalism, 3. 3 Ebd., 1. 4 Jobst, Wo liegt das russische Morgenland?

160

Sarah Lemmen

dische Imperium demnach zum einen als weitere Kolonialmacht, die ebenfalls mit Texten und Diskursen einen ähnlichen Einfluss auf »ihren Orient« ausübte wie etwa die westeuropäischen Kolonialmächte. Zum anderen jedoch war auch den Vertretern des Russländischen Imperiums klar, dass sie, aus westeuropäischer Perspektive, selbst schon halb dem Orient zugerechnet wurden: »In Europa«, fasste Fjodor Dostojewski diese Ambivalenz zusammen, »waren wir Tataren, in Asien aber sind wir Europäer.«5 Andere Stimmen nutzen das Orientalismus-Konzept, um die Beziehung zwischen Ost- und Westeuropa zu erklären, wobei dem Osten Europas die Rolle des östlichen ›Anderen‹ zukommt. Larry Wolff argumentiert in Inventing Eastern Europe (1994), dass Osteuropa seit der Aufklärung von westlichen Philosophen und Reisenden »erfunden« wurde, indem sie in ihren Texten eine Zweiteilung Europas in Orient und Okzident beschrieben, die ebenfalls einer kulturellen Hierarchie unterlag. Maria Todorova entwickelte diese Argumentation weiter in Imagining the Balkans (1997). Südosteuropa wurde laut Maria Todorova gegen Anfang des 20. Jahrhunderts Europas ganz eigener Orient, dem Eigenschaften wie Instabilität, Brutalität, Opportunismus oder Faulheit zugeschrieben wurde. Die civilizing mission der europäischen Imperien war nun auch auf den Balkan übertragbar. Ohne Saids Konzept unhinterfragt zu übernehmen, aber in deutlicher Anlehnung und Inspiration, wurde Orientalism für die Osteuropäische Geschichte somit auf verschiedene Weise fruchtbar gemacht. In starkem Kontrast zu Said wird hier von seiner – relativ vagen – geographischen Verortung des Orients abgewichen und die Lage des Ostens vom Auge des Betrachters abhängig gemacht. Gleichzeitig wird Osteuropa – an sich ein Konstrukt wie der Balkan, der Orient oder selbstverständlich sein »natürliches« Gegenüber Westeuropa – mal dem Orient und mal dem Okzident zugeschlagen beziehungsweise mal als Zentrum und mal als Peripherie verstanden.

Prager Debatten um Ost und West Wie steht es nun aber um die Beziehungen zwischen den kleineren Staaten Ostmitteleuropas und dem Orient, die nicht durch direktes »involvement«6 miteinander verbandelt waren? Die Professionalisierung der Auseinandersetzung mit der Region des Orients (mit Kulturen und Sprachen des arabischen Raumes, des Vorderen Orients oder auch Ost- und Südostasiens) begann noch in 5 Fjodor M. Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers 1881, 591, zitiert nach Jobst, Wo liegt das russische Morgenland?, 83. 6 Said, Orientalism, 3.

Der Osten ist immer woanders, der Westen auch

161

der Zeit der imperialen Ordnung Ostmitteleuropas. Wie das Beispiel von Alois Musil, dem Orientalisten aus dem mährischen Richtersdorf, zeigt, war die professionelle Beschäftigung mit dem Orient vor allem auf die imperiale Hauptstadt Wien konzentriert, wo das auf den Orient ausgerichtete k.k. österreichische Handels-Museum und schließlich die Orient- und Überseegesellschaft gegründet wurden, um sich diesem Gebiet zu nähern. Mit dem Zerfall der zentraleuropäischen Imperien und der Gründung von Nationalstaaten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde auch die Beschäftigung mit dem und Deutung des Orients in die neuen nationalen Hauptstädte geholt. So wurde in Polen kurz nach der Staatsgründung die Planung eines Orient-Instituts in Angriff genommen und dieses bereits 1922 gegründet. Im Fall der Tschechoslowakei war es das Orientalische Institut, das – neben der Gesellschaft für kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen mit der Schwarzmeerregion und dem Orient – sprachliche, kulturelle und wirtschaftliche Kenntnisse über diese weite Region, die hier von Griechenland und Südosteuropa über Nordafrika, den Vorderen Orient sowie ganz Asien reichte, im tschechoslowakischen Kontext für eine Professionalisierung des Diskurses sorgen sollte. Die Beschäftigung mit dem Orient, und mit der außereuropäischen Welt im Allgemeinen, brachte auch in den neuen Staaten Ostmitteleuropas die Frage nach eigenen Kolonien hervor. Während sich ein solcher Kolonialdiskurs im tschechoslowakischen Kontext vor allem auf eine Reihe von Publikationen zum Thema stützte, wurde im polnischen Fall 1930 der See- und Kolonialbund (Liga Morska i Kolonialna) als Organisation für die breite Bevölkerung gegründet, die neben dem Auf- und Ausbau einer Handelsflotte und Marine auch polnische Kolonien und Überseebesitzungen forderte. Trotz dieser – letztendlich unerfüllten – Kolonialpläne verharrten die Diskurse über den Orient in einer Mischung aus genuinem Interesse, Eroberungsphantasien und der Wahrnehmung der orientalischen Geschäftspartner als ebenbürtig. Das Prager Orientalische Institut jedenfalls sollte die Gunst der orientalischen Staaten mit Blick auf den Ausbau wirtschaftlicher Handelsbeziehungen gerade deshalb gewinnen, weil die Tschechoslowakei eben nie selbst Kolonialmacht gewesen war. So wurde noch in der Gründungsphase hoffnungsvoll und mit Seitenhieb auf die westlichen Kolonialmächte postuliert: »Der Orient nimmt uns sehr gerne auf, denn er weiß, dass wir weder politische noch religiöse Hintergedanken haben.«7

7 Musil, Nasˇe úkoly v Orientalistice, 3.

162

Sarah Lemmen

Schlussworte Das ambivalente Verhältnis zum Orient und dessen Bedeutung für die Entwicklung der Tschechoslowakei lässt sich auch anhand der Komplikationen und Verzögerungen rund um die Gründung des Orientalischen Instituts ablesen. Nach dem frühzeitigen Gesetzeserlass und dem enthusiastischen Werben um eine breitere gesellschaftliche Unterstützung Anfang der 1920er Jahre verhinderten interne Konkurrenzkämpfe eine zügige Ausführung. Erst 1928 konnte die Gründungsversammlung abgehalten werden, während sich die Aufnahme der Arbeit um noch ein weiteres Jahr verzögerte. Zu diesem Zeitpunkt war der ursprünglich als Gründungsmitglied vorgesehene Alois Musil bereits längst mit anderen Projekten beschäftigt und hatte das Interesse am Prager Institut weitgehend verloren. Diese Ambivalenz im Hinblick auf den Orient, aber auch in der Beziehung zu den westlichen Großmächten prägte das generelle Selbstverständnis ostmitteleuropäischer Staaten. Der Versuch, mit den Großmächten gleichzuziehen, aber doch einen eigenen Weg zu gehen, wird hier ebenso deutlich wie das Schwanken zwischen der Suche nach ebenbürtigen Partnern im Orient und dem Wunsch, als Kolonialmacht aufzutreten. Letztendlich kann die komplexe Verortung zwischen ›Ost‹ und ›West‹, die Kerstin S. Jobst für das Russländische Reich festmacht, in gewissem Umfang auch für die neuen Staaten in Ostmitteleuropa in der Zwischenkriegszeit konstatiert werden. Auch sie schauten auf ihren eigenen Orient, waren selbst aber nicht ganz im Westen verortet.

Literatur Fjodor M. Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers 1881. Fragen und Antworten. Übertragung und Nachwort von E. K. Rahsin. In: Ders., Sämtliche Werke in zehn Bänden, Bd. 5, München-Zürich 1977, 589–596. Kerstin S. Jobst, Orientalism, E.W. Said und die Osteuropäische Geschichte. In: Saeculum 52/2 (2000), 250–266. Kerstin S. Jobst, Wo liegt das russische Morgenland? Orient-Diskurs und imperiale Herrschaft im Zarenreich. In: Robert Born/Sarah Lemmen (Hg.), Orientalismen in Ostmitteleuropa. Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Bielefeld 2014, 65–84. Adéla Ju˚nová Macková/Pavel Zˇd’árský/Tomásˇ Gecko, Korespondence Aloise Musila I. Alois Musil a pocˇátky Orientálního ústavu v korespondenci »otcu˚ zakladatelu˚«. Praha 2019. Sarah Lemmen, Tschechen auf Reisen. Repräsentationen der außereuropäischen Welt und nationale Identität in Ostmitteleuropa 1890–1938. Köln/Weimar/Wien 2018. Alois Musil, Nasˇe úkoly v Orientalistice a v Orienteˇ. Praha 1920.

Der Osten ist immer woanders, der Westen auch

Edward W. Said, Orientalism. London 2003 (1978). Maria Todorova, Imagining the Balkans. Oxford 1997. Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. Stanford 1994.

163

Lars Fredrik Stöcker

Kolonialpolitik und Kolonialdiskurs an der sowjetischen Peripherie

Das koloniale Erbe Europas wirft lange Schatten. Daran erinnerte zuletzt die Black-Lives-Matter-Bewegung, die im Pandemiesommer 2020 eine kontroverse Debatte über das Fortwirken kolonialer Strukturen im öffentlichen Raum auslöste. Während diese auch auf Länder überschwappte, die nur indirekt in das koloniale Weltwirtschaftssystem eingebunden gewesen waren, verhallte der Ruf nach einer dekolonialen Erinnerungskultur in Russland weitgehend ungehört. Obwohl nicht zuletzt die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 sowie die darauffolgenden Menschenrechtsverletzungen an den Krimtataren unweigerlich Assoziationen an den russischen Siedlerkolonialismus vergangener Jahrhunderte weckten, werden postkoloniale Perspektiven auf die Geschichte Russlands und der UdSSR von russischen Historikern immer noch als westliches Zerrbild diskreditiert. In der Verweigerung der Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit hallt nicht nur die Rhetorik des marxistisch-leninistischen Antiimperialismus nach. Schon in den 1840er Jahren konstatierte der russische Historiker Sergej Solov’ev, dass Russland, wenn überhaupt, höchstens sich selbst kolonisiert habe, und entsprechend ist die Überzeugung, selbst Opfer des Sowjetkommunismus gewesen zu sein, auch in der heutigen russischen Gesellschaft tief verwurzelt. Dessen ungeachtet ist Russland längst in den Fokus der jüngeren postkolonialen Forschung gerückt, deren grundlegende Ideen sich in den 1980er Jahren im Zuge kultur- und literaturwissenschaftlicher Debatten im angelsächsischen Raum entwickelten. Aufbauend auf der These der Kontinuität kolonialer Machtstrukturen über die Dekolonisierung hinaus eröffnete diese Denkschule neue Perspektiven auf die vielschichtige Verflechtungsgeschichte zwischen Kolonie und Metropole. Der Postkolonialismus beschränkte sich dabei nicht nur auf die Machtasymmetrien zwischen Nord und Süd, sondern öffnete den Blick auf verschiedenste Formen innereuropäischer Hegemonien, wodurch auch eine entsprechende Lesart der irischen, samischen oder bosnischen Geschichte möglich wurde. Um die Jahrtausendwende erreichten postkoloniale Impulse schließlich die Postsozialismusforschung. Angelehnt an die Ideen des Litera-

166

Lars Fredrik Stöcker

turwissenschaftlers David Chioni Moore, der sich angesichts der fast ungebrochenen Kontinuität russischer und sowjetischer Herrschaft über den Kaukasus, Zentralasien, aber auch Teile Ostmitteleuropas für eine Verquickung beider Ansätze aussprach, entwickelte sich somit Mitte der 2000er Jahre auch die Vorstellung des Baltikums als postkolonialer Raum, vertreten vor allem durch Moores baltische Fachkolleginnen Violeta Kelertas und Epp Annus. In der wissenschaftlichen Debatte blieb das Bild der Sowjetunion als Kolonialmacht lange umstritten. Die Postkolonialismusforschung war von Beginn an als Nabelschau des Westens konzipiert, die im Überschwang des gewonnen Kalten Krieges die Schattenseiten westlicher Hegemonie aufzeigen sollte. Für die untergegangene UdSSR als Anführerin der ehemaligen Zweiten Welt war in diesem Narrativ kein Platz, nicht zuletzt weil die vorrangig marxistisch geprägten Vordenker postkolonialer Theorien nicht gewillt waren, das Mutterland des Marxismus-Leninismus auf eine Stufe mit kapitalistischen Kolonialmächten wie Frankreich oder Großbritannien zu stellen. Dennoch haben sich postkoloniale Perspektiven auf Moskaus Herrschaftspraxis durchgesetzt, insbesondere in Bezug auf die muslimisch geprägten Regionen des Kaukasus und Zentralasiens. Auch die sowjetische Einflusspolitik im Globalen Süden wird mittlerweile vermehrt durch das Prisma des Postkolonialismus betrachtet. In der Baltikumforschung dagegen hat sich der Ansatz jenseits der Literaturwissenschaft kaum etablieren können. Anders als die Ukraine, in der postkoloniale Denkansätze angesichts der anhaltenden russischen Aggression derzeit in größerem Umfang rezipiert werden, lassen sich die baltischen EU- und NATO-Mitgliedstaaten nur schwer in die Rolle des Subalternen drängen. Schon zu Sowjetzeiten waren die postulierte kulturelle Zugehörigkeit zum Westen und die damit verbundene Ablehnung der Idee einer sowjetischen mission civilisatrice zentrale Elemente der baltischen Selbstwahrnehmung, was das traditionelle Herrschaftsgefälle zwischen Zentralmacht und Peripherie auf den Kopf stellte. Obgleich postkoloniale Theorien als Schlüssel zum Verständnis der postsowjetischen Gegenwart im Baltikum daher zurecht wenig Anklang gefunden haben, hat sich die Vorstellung einer von einer eindeutig als kolonial definierten Fremdherrschaft gezeichneten Vergangenheit dennoch tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Dies manifestierte sich zuletzt in einer Kontroverse im Frühjahr 2021, die ihren Ursprung in einer Sonderausstellung des Tallinner Kunstmuseums KUMU nahm. Der Versuch des US-amerikanischen Kurators, über die Darstellung des nichtweißen Anderen in der estnischen Malerei der Zwischenkriegszeit einen Kolonisationsbegriff einzuführen, der alle weißen Nationen Europas miteinbezieht, stieß auf heftige öffentliche Ablehnung. Estland sei schließlich, so der Tenor, selbst Opfer des deutschen, russischen und schließlich des sowjetischen Kolonialismus gewesen und die Negierung dieser Tatsache mache den Kurator selbst zum

Kolonialpolitik und Kolonialdiskurs an der sowjetischen Peripherie

167

»Missionar« und »Kolonisator«, wie ein prominenter Historiker postulierte.1 In der Debatte schwang ein Kolonialismus-Konstrukt mit, dessen integrative und mobilisierende Kraft den baltischen Unabhängigkeitskampf und die nationalen Gegenerzählungen zur sowjetischen Mär des freiwilligen Anschlusses von 1940 maßgeblich geprägt hat, wie im Folgenden anhand des estnischen Beispiels nachgezeichnet werden soll. Das Bild des ›Roten Kolonialismus‹ war eine Kopfgeburt des Kalten Krieges, ursprünglich erdacht zur Diskreditierung der Sowjetunion als selbsternannte moralische Instanz im Kampf für die Dekolonisierung. In den Archiven des USKongresses lässt sich die Beschreibung der Lage im okkupierten Baltikum als die »einer ausgebeuteten Kolonie im Roten Kolonialreich«2 bereits für das Jahr 1954 belegen. Ähnliche Formulierungen tauchten wenig später auch in der baltischen Exilpresse auf. Besonders nach Nikita Chruschtschows berühmter Brandrede gegen den Imperialismus des Westens vor der UN-Vollversammlung im Herbst 1960 zielten baltische Exilorganisationen systematisch auf die Diffamierung der UdSSR als letzte imperiale Macht der Welt. Im Zeitalter globaler Dekolonisation halte der sowjetische Kolonialismus als der »grausamste und umfassendste der Gegenwart«3, so der Tenor der konzertierten Kampagnen, ehemals souveräne europäische Staaten mit militärischer Gewalt in Unfreiheit. Von der Verknüpfung der baltischen Frage mit einer der globalen Kerndebatten der 1960er Jahre erhofften sich die Exilaktivisten die notwendige Rückendeckung für die Aufrechterhaltung der westlichen Nichtanerkennungsdoktrin, die unverändert als politische Lebensversicherung der baltischen Nationen galt. Das Schreckbild des ›Roten Kolonialismus‹ blieb bis weit in die 1970er Jahre hinein elementarer Bestandteil des rhetorischen Arsenals antisowjetischer Exilkampagnen, bis sich deren Fokus nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki im Jahre 1975 in Richtung der internationalen Menschenrechtsdebatte verlagerte. Bereits Mitte der 1960er Jahre findet sich das Motiv der kolonialen Ausbeutung durch die Moskauer Zentralregierung auch in ukrainischen Untergrundpublikationen. 1971 erreichte der Kolonialdiskurs schließlich den estnischen Samizdat, eingeführt durch den ukrainischstämmigen Dissidenten Artjom Jusˇkevitsˇ. Im Memorandum der estnischen Dissidentenorganisationen an die Vereinten Nationen, welches im Folgejahr verfasst wurde, nahm der Topos des sowjetischen Kolonialismus bereits eine zentrale Rolle ein. Das Dokument war das erste einer ganzen Reihe baltischer Appelle, die den Status quo im Baltikum dezidiert als koloniale Unterjochung definierten. Als im Jahre 1983 das Europaparlament bezugnehmend auf den sogenannten Baltischen Appell, der 1979 1 Vahtre, Veel Kumu uuest püsinäitusest. 2 Annus, Soviet Postcolonial Studies, 85. 3 Nerman, För Balticums frihet, 20.

168

Lars Fredrik Stöcker

von einer Gruppe estnischer, lettischer und litauischer Menschenrechtsaktivisten verfasst worden war, die Außenminister der EG-Mitgliedsstaaten dazu aufrief, die baltische Frage dem Entkolonisierungsausschuss der Vereinten Nationen vorzulegen, war dies somit nicht nur ein symbolischer Sieg der baltischen Dissidenten. Die Initiative illustriert auch eindrücklich, wie sich das Bild der Sowjetunion als Kolonialmacht wechselseitig über die Blockgrenzen hinweg manifestierte und konsolidierte, was langfristig auch Auswirkungen auf die allgemeine Selbstwahrnehmung der baltischen Nationen haben sollte. Nach mehreren Verhaftungswellen zu Beginn der 1980er Jahre verstummten die estnischen Dissidentenstimmen schließlich, doch die Debatte um das sowjetische Kolonialregime brach sich nur wenige Jahre später erneut Bahn, diesmal ganz offen und unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Die Massenproteste des Frühjahrs 1987 gegen die durchgesickerten Pläne der Zentralregierung für großflächigen Phosphorabbau in Estland waren eine Art Testballon, der die Grenzen der Glasnost-Politik auslotete und den Kolonialdiskurs als Form des aktiven Widerstands etablierte. Ein breites gesellschaftliches Bündnis verurteilte die Gigantomanie der Moskauer Industriepolitik und ihre Nonchalance gegenüber ökologischen Folgekosten als Paradebeispiel kolonialen Denkens und schuf damit einen Referenzrahmen für die weitere Debatte über Inhalte und Umsetzung der Perestroika. In den Fokus einer zunehmend kritischen Öffentlichkeit gerieten vor allem die zentral gesteuerten Großbetriebe, die von der relativ gut entwickelten Infrastruktur Estlands profitierten, sämtliche Gewinne jedoch direkt nach Moskau abführten und dabei verheerende Umweltschäden hinterließen. Der an die zentralen Industrieministerien gerichtete Vorwurf der ökonomischen Kolonisierung heizte damit die aufkommende Diskussion um die Idee der wirtschaftlichen Selbstverwaltung auf Republikebene weiter an. »Ich bin kein Ökonom und weiß nicht, nach welchen Kriterien ein Land als Kolonie gilt«, erklärte der Schriftsteller Aivo Lõhmus im April 1988 auf dem Plenum der Kreativen Verbände. »Aber eine Republik, deren Wirtschaft zu neunzig Prozent nicht von der lokalen Regierung kontrolliert wird, ist in meinen Augen eine Kolonie. Ob es sich hierbei um sozialistischen oder kapitalistischen Kolonialismus handelt, ist zweitrangig.«4 Die estnische Forderung nach Wirtschaftsautonomie fand nicht nur in den baltischen Nachbarrepubliken Anklang, sondern auch weit darüber hinaus, was wesentlich zur Destabilisierung des sowjetischen Machtgefüges beitrug. Als Brandbeschleuniger wirkte dabei die Darstellung der Zentralregierung als koloniale Instanz, da sie das Augenmerk nicht nur auf die wirtschaftlichen, sondern auch auf die demographischen Folgen der sowjetischen Industriepolitik richtete. Die stetig anwachsende, aus anderen Teilrepubliken eingewanderte russisch4 Zit. nach Küng, Estland vaknar, 97.

Kolonialpolitik und Kolonialdiskurs an der sowjetischen Peripherie

169

sprachige Arbeiterschaft der direkt von Moskau aus administrierten Betriebe Sowjetestlands schürte die Angst vor Überfremdung und stärkte die Kritik an der Zentralwirtschaft, die als Motor der Russifizierung diffamiert wurde. Der Diskurs traf den Nerv vieler Esten, in deren Augen die vielpropagierte Freundschaft der sowjetischen Völker nicht mehr als das Feigenblatt einer aggressiven Kolonisierungspolitik war. Lange schon schwelten unter dem Banner des Internationalismus ethnisch konnotierte Konflikte zwischen der autochthonen Bevölkerung und den Neuankömmlingen, die nicht nur aufgrund ihrer systematischen Privilegierung bei der Wohnraumvergabe als Kolonisatoren gesehen wurden. Man muss David Chioni Moore nicht zustimmen, wenn er die russischsprachige Minderheit im Baltikum mit den weißen Siedlern in Südafrika vergleicht, aber die Haltung vieler Immigranten konnte durchaus paternalistische Züge annehmen. Der Status der russischen Sprache als Lingua franca der UdSSR stärkte den Anspruch alles Russischen als Leitkultur, aber auch das Bewusstsein der »politischen Mission des Imperialismus«5, das den russischen Blick auf die Peripherie seit dem 19. Jahrhundert prägte. Die Kulturträgerthese lebte im Motiv der aufklärerischen UdSSR fort und leitete viele russischsprachige Einwanderer in Estland in ihrer Überzeugung, dass die Einheimischen der Sowjetmacht nicht nur für die Befreiung vom Faschismus, sondern auch für den Einzug der industriellen Moderne zu Dank verpflichtet seien. Im Baltikum gelangte der Mythos der UdSSR als Herold der Moderne jedoch an seine Grenzen. Estland hatte schon zu Zarenzeiten zu den industriell höchstentwickelten Provinzen mit einer der niedrigsten Analphabetenraten gehört. Nach der Unabhängigkeitserklärung im Februar 1918 entmachtete die junge Republik die deutschbaltischen Großgrundbesitzer ganz ohne bolschewistischen Terror, schlug einen Pfad der industriellen und landwirtschaftlichen Modernisierung ein und erhob mit der Estonisierung der altehrwürdigen Universität Tartu das Estnische zur Wissenschaftssprache, die keinerlei Russizismen bedurfte. Auch als Teil der Sowjetunion bewahrte sich Estland eine Sonderstellung als Unionsrepublik mit dem höchsten Lebensstandard, nicht zuletzt dank einer sprichwörtlich ›teutonischen‹ Effizienz, die regelmäßig Produktivitätsrekorde brach und die Estnische SSR in ein Experimentierfeld für ökonomische Reformen verwandelte. Besonders nach der Wiedereröffnung des Fährverkehrs zwischen Tallinn und Helsinki im Jahre 1965, der die estnische Kapitale zu einer der Hauptdestinationen des internationalen Tourismus in der UdSSR machte, forcierte die Zentralregierung gezielt den Aufbau Estlands zur sowjetischen Musterrepublik. Auch innerhalb des Landes galt Tallinn, wo neben nationalen Fernseh- und Rundfunkprogrammen wie selbstverständlich auch finnische

5 McReynolds, The Prerevolutionary Russian Tourist, 31.

170

Lars Fredrik Stöcker

Sendungen konsumiert wurden, als Inbegriff des »sowjetischen Auslands«6, das, wie einst das imperiale St. Petersburg, ein Fenster zum Westen aufstieß. Entsprechend entwickelte sich der estnische Blick auf die proletarisierten Massen zugewanderter Arbeitskräfte aus dem sowjetischen Kernland, die nur wenig mit dem offiziell propagierten Bild russischer Hochkultur gemein zu haben schienen. Als Spiegelbild des russischen Orientalismus im Kaukasus und in Zentralasien verfestigte sich das Stereotyp des faulen, nachlässigen und unkultivierten ›Homo Sovieticus‹, der außer Leibeigenschaft und Kommunismus nichts kannte, welches spätestens mit Beginn der Reformdebatten der Perestroika auch politische Sprengkraft entfaltete. Das Sowjetregime hatte in Estland gewissermaßen eine bessere Version seiner selbst geschaffen, in der das sowjetische Modernisierungsnarrativ letztendlich nicht mehr ausreichte, um den Herrschaftsanspruch der Zentralregierung zu legitimieren. Entgegen einer der grundlegenden Prämissen postkolonialer Theorien war es der kulturelle Überlegenheitsanspruch der Esten, der das Verhältnis von Zentrum und Peripherie definierte und an dem der zivilisatorische und missionarische Auftrag der Hegemonialmacht scheiterte. Eine ähnliche Ambivalenz kennzeichnete das schwierige Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zur Gruppe der zu Sowjetzeiten eingewanderten russophonen Minderheit im postsowjetischen Estland, in dem die internationale öffentliche Meinung eher das Machtgebaren eines typisch osteuropäischen Nationalchauvinismus vernehmen mochte als eine Folge der Dekolonisierung. Die Interpretation der Sowjetherrschaft in Estland als koloniale Erfahrung mag also in dieser Hinsicht ein Oxymoron bleiben, wie viele Kritiker der baltischen Postkolonialismus-Debatte angemerkt haben. Dennoch hat sich die Kolonialrhetorik, die den Prozess des nationalen Wiedererwachens nach dem Trauma von Krieg, Terror und Massendeportationen stetig begleitete, in der estnischen Gesellschaft längst verinnerlicht. Das Motiv der kolonialen Ausbeutung durch die sowjetische Zentralregierung vermählte sich dabei mit dem nationalromantischen Mythos der siebenhundertjährigen Versklavung, der das nationale Erwachen des 19. Jahrhunderts geprägt hatte, und erlaubte es, einen geschichtlichen Bogen von der Landnahme des Deutschen Ordens bis zum Molotov-Ribbentrop-Pakt zu ziehen. So wurden in der Debatte, die das Tauziehen zwischen Metropole und Peripherie begleitete, estnische Kolchosniks zu Leibeigenen und die sogenannten ›roten Barone‹ auf den Kolchosen und Sowchosen zu den »neuen Gutsherren«7. Wie über ein Jahrhundert zuvor war es erst die semantische Selbstkolonisierung, die das Freiheitsstreben nährte sowie artikulierte und auch heute noch das Narrativ der Selbstbefreiung vom Joch des Sowjetkommunismus prägt. 6 Gorsuch, All This Is Your World, 50. 7 Made, Eesti ärkab, 173.

Kolonialpolitik und Kolonialdiskurs an der sowjetischen Peripherie

171

Literatur Epp Annus, Soviet Postcolonial Studies: A View from the Western Borderlands. London 2018. Epp Annus, The Problem of Soviet Colonialism in the Baltics. In: Journal of Baltic Studies 43/1 (2012), 21–45. Anne E. Gorsuch, All This Is Your World: Soviet Tourism at Home and Abroad after Stalin. Oxford 2011. Mary Ann Heiss, Exposing ›Red Colonialism‹: U.S. Propaganda at the United Nations, 1953–1963. In: Journal of Cold War Studies 17/3 (2015), 82–115. Linda Kaljundi/Bart Pushaw/Aro Velmet, Renaming Is About Respect: Museums on Race (3. 5. 2021), https://www.eurozine.com/renaming-is-just-about-respect/ (5. 11. 2021). Violeta Kelertas (Hg.), Baltic Postcolonialism. Amsterdam 2006. Andres Küng, Estland vaknar. Stockholm 1990. Tiit Made, Eesti ärkab. Stockholm 1988. Louise McReynolds, The Prerevolutionary Russian Tourist: Commercialization in the Nineteenth Century. In: Anne E. Gorsuch/Diane P. Koenker (Hg.), Turizm: The Russian and East European Tourist under Capitalism and Socialism. Ithaca 2006, 17–42. David Chioni Moore, Is the Post- in Postcolonial the Post- in Post-Soviet? Toward a Global Postcolonial Critique. In: Publications of the Modern Language Association of America 116/1 (2001), 111–28. Birger Nerman, För Balticums frihet: Baltiska Kommittén 1943–1968. Stockholm 1969. Lauri Vahtre, Veel Kumu uuest püsinäitusest (4. 3. 2021). https://laurivahtre.ee/veel-kum u-uuest-pusinaitusest/ (5. 11. 2021).

Julia Obertreis

Gender und Imperiengeschichte – ein Plädoyer

2008 publizierte ein Autorinnentrio, bestehend aus Kerstin S. Jobst, Ricarda Vulpius und der Verfasserin dieser Zeilen, in der Zeitschrift Comparativ einen Aufsatz, der den damaligen Stand der Forschung zur vergleichenden Imperiengeschichte des Habsburgerreiches und des Russischen Reiches mit Verweisen auf das Osmanische Reich und unter Einbeziehen der Sowjetunion umriss und damit Impulse für weitere Forschung gab. Die Autorinnen stellten fest, dass die Unterschiede zwischen Kontinentalimperien wie den genannten und den Überseeimperien wie beispielsweise dem British Empire nicht solch grundsätzlicher Natur waren, wie es ein Großteil der älteren Imperienforschung suggeriert hatte. Sie legten ihr Augenmerk unter anderem auf das Selbstverständnis der Eliten und imperiale Identitäten und plädierten dafür, »die auch von der Forschung selbst konstruierten, überholten Ost-West-Gegensätze« hinter sich zu lassen.1 Seit dieser Bestandsaufnahme von 2008 ist in der vergleichenden Imperienforschung viel passiert. Mit einem Blick auch für den Ost-West-übergreifenden Vergleich wurden diverse Themenfelder näher beleuchtet, darunter Monarchie und Repräsentation oder die im 19. Jahrhundert innovativen Wissenschaften der Erfassung und Klassifizierung von Untertanen (Statistik, Demographie) und deren konkrete Umsetzung etwa in Volkszählungen. Auch die Stadtgeschichte hat sich der vergleichenden imperialen Perspektive verstärkt angenommen. Eines der Schwerpunktthemen, die sich in der Forschung herauskristallisiert haben, ist die Entwicklung von Professionen und Expertenkulturen. Formung und Aufstieg solcher Berufe und Berufskulturen wie die der Ingenieure oder Agrarexperten konstituierten und spiegelten den dynamischen sozialen Wandel der Epoche und standen in enger Verbindung mit der Produktion von Wissensbeständen, die die imperiale Herrschaft immer dringender benötigte. Ein weiteres Schwerpunktthema sind autobiographische Praktiken, die vor dem Hintergrund des raschen sozialen und politischen Wandels des späten 19. und 1 Jobst et al., Imperiumsforschung, 56.

174

Julia Obertreis

frühen 20. Jahrhunderts einen Boom erlebten. Anhand von Selbstzeugnissen wie Briefen, Memoiren oder Tagebüchern lassen sich Selbstverortungen der »imperial subjects«2 untersuchen. Bei allem Respekt für die imponierenden Leistungen in diesem dynamischen Forschungsfeld bleibt zu kritisieren, dass eine zentrale Kategorie der Sozial- und Kulturgeschichte, nämlich Gender, in der Imperienforschung bislang viel zu wenig berücksichtigt wurde. Im Folgenden werde ich diese Feststellung etwas näher begründen und Punkte aufzeigen, an denen eine Verknüpfung der Geschlechter- mit der Imperiengeschichte bereits besteht oder sinnvoll erscheint. Die Forschungen zu den oben genannten Themen präsentieren mit ganz wenigen Ausnahmen Männer (Militärs, Beamte, Reisende, Ingenieure usw.) als historische Akteure. Damit wird das Bild perpetuiert, dass die genannten Imperien von Männern regiert und ›gemacht‹ worden seien und Frauen und andere Geschlechter dabei keine nennenswerte Rolle gespielt hätten. Selbst als von staatlicher, imperialer Politik Betroffene finden sie häufig keine Beachtung. Die (Konstruktion von) Männlichkeit der Akteure wird in der Regel kaum thematisiert, auch wenn dies bei Aspekten wie etwa militärischer Ehrenkodex oder Naturbeherrschung naheliegend wäre. Den historischen Blick auf Ämter und politische Positionen zu konzentrieren, verengt ihn zugleich aus der GenderPerspektive. Dabei bleibt natürlich in Rechnung zu stellen, dass Frauen, abgesehen von den berühmten Zarinnen und Kaiserinnen, tatsächlich von formaler politischer Macht weitgehend ausgeschlossen waren und von Analphabetismus stärker betroffen waren als Männer. Das bedeutet jedoch nicht, dass Informationen über Frauen und andere Geschlechter wegen fehlender Quellen nicht zu erschließen wären. Wie sieht es in der allgemeinen, zunehmend globalgeschichtlich ausgerichteten, auf die nichtosteuropäischen Imperien fokussierten Forschung aus? Bereits seit den 1990er Jahren sind Studien erschienen, die Geschlechter- und Imperienforschung miteinander verknüpfen. Ganz überwiegend bezogen sie sich aber auf das British Empire, während alle anderen imperialen und kolonialen Kontexte inklusive der osteuropäischen außen vor blieben. Seit 2018 liegt ein Band zu Gender und Empire vor, der im Sinne der Ausweitung des Blickwinkels einen – nur, aber immerhin einen – Beitrag zu den Imperien des östlichen Europas enthält. Die Herausgeberinnen Ulrike Lindner und Dörte Lerp weisen darauf hin, dass zu den thematischen Neuerungen in diesem Feld Männlichkeit sowie die Untersuchung von häuslichen Bediensteten in kolonialen Kontexten und inter-imperiale Transfers gehören. Lindner und Lerp sehen die aktuelle Herausforderung darin, Dichotomien wie Kolonisierende/Kolonisierte und weiblich/männlich zu hinterfragen. Theore2 Aust/Schenk, Imperial Subjects.

Gender und Imperiengeschichte – ein Plädoyer

175

tisch betrachtet geht es ganz grundlegend um die Produktion und Rezeption von Differenz in Imperien. Die beiden Herausgeberinnen sprechen von »gendered imperial practices«3 und möchten untersuchen, wie die Wirkungen von Gender in imperialen Kontexten von lokalen Bedingungen, aber auch von allgemeineren strukturellen Faktoren beeinflusst wurden. Dabei sind vielfältige intersektionale Verschränkungen von Interesse. Die Forschung zu Intersektionalität nimmt nicht nur Identitäten und individuell erlebte Diskriminierung, sondern auch juristische und politische Rahmensetzungen, Machtstrukturen und Diskurse in den Blick. Betrachten wir aus dieser neuen Perspektive die Forschungen zu den kontinentalen Imperien, so ist zu konstatieren, dass bisher – etwa in den sozialgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten von Andreas Kappeler zum Russischen Reich – zwar Verschränkungen wie Konfession und Nationalität/Ethnie oder auch Ethnie und Stand durchaus Gegenstand der Betrachtung waren. Eine große Lücke ergibt sich aber bei der Kombination von Gender mit allen weiteren Differenzkategorien, mit der partiellen Ausnahme von Stand. Dabei existieren selbstverständlich und schon seit Längerem Studien zur Frauen- und Geschlechtergeschichte der uns interessierenden Imperien; diese wurden aber mit dem imperial turn kaum in Zusammenhang gesehen oder gebracht. Für das Russische Reich konzentrierte sich die Forschung zum einen auf die Frauen der Intelligenzija und der narodniki, aber auch auf Terroristinnen, die schon auf Zeitgenossinnen und Zeitgenossen eine besondere Faszination ausübten. Zum anderen wissen wir dank sozial- und alltagsgeschichtlicher Arbeiten von US-amerikanischen und deutschen Historikerinnen relativ viel über die Land-Stadt-Migration von Frauen, deren Motive und Folgen, und über die Bedingungen, unter denen Frauen in den Hauptstädten St. Petersburg und Moskau arbeiteten und lebten, etwa als Dienstbotinnen oder Fabrikarbeiterinnen. Für das Habsburgerreich liegen verschiedene Beiträge zur Frauenbewegung vor. Susan Zimmermann hat beispielsweise in einer umfassenden Studie aus den 1990er Jahren die ungarische Frauenbewegung zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und 1918 untersucht und ihre verschiedenen Strömungen und Themen differenziert dargestellt. Während sie einerseits die Parallelen zu und den Austausch mit verschiedenen anderen europäischen Ländern betont – wobei sie von Ungarn aus nach Westen, nicht nach Osten, schaut –, benennt sie andererseits die Unterschiede zu westlichen Ländern und zu den österreichischen Kernlanden: Dass etwa der ungarische ONI, der Landes-Frauenerwerbsverein, nicht so prosperierte wie der Lette-Verein in Deutschland, hing, so konstatiert die Autorin, mit der spezifischen Einbindung Ungarns in die wirtschaftliche Arbeitsteilung 3 Lindner/Lerp, Introduction, 10.

176

Julia Obertreis

innerhalb der Habsburgermonarchie und Europas zusammen. Hier wäre eine Brücke zur aktuellen Imperienforschung gegeben, die sich zunehmend für wirtschaftliche Zusammenhänge interessiert. Zur osmanisch-türkischen Frauenbewegung liegt ebenfalls mittlerweile eine Studie von Elife Biçer-Deveci vor, die die Frauenbewegung in den Kontext internationaler Organisationen stellt. Ninja Bumann zeigt in ihrem Beitrag zum vorliegenden Band, dass sich an der Debatte zur Frauenfrage im Osmanischen Reich selbstverständlich auch Musliminnen beteiligten, die wie ihre männlichen Mitstreiter eine Versöhnung des Islams und islamischer Traditionen mit den Herausforderungen der modernen Zeit anstrebten. Ein eher kulturwissenschaftlich geprägtes Themenfeld, das zumindest für Russland vor und nach 1917 schon ansatzweise bearbeitet wurde, ist das der Männlichkeiten. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, welche Männer- und Heldenbilder für welche historischen Epochen charakteristisch waren, oder um das um 1900 aufkommende Phänomen des Sich-Abhärtens (zakal), das weit in die sowjetische Periode hineinwirkte. Auch in diesen Arbeiten wird, wie in den oben genannten zur Frauengeschichte, selten ein Bezug hergestellt zur Verfasstheit des Russischen Reiches und der Sowjetunion als multiethnische, multikonfessionelle bzw. multikulturelle und durch bestimmte Symbole und Selbstbilder zusammengehaltene Imperien bzw. Vielvölkerreiche oder zur russischen Kolonialgeschichte. Eine Ausnahme stellt ein Beitrag von Benjamin Schenk dar. Er befragt die wohl in den 1930er Jahren entstandenen Memoiren von Vera Nikolaevna Edler von Rennenkampf (1877–1969), Frau und später Witwe des in der Militärgeschichte gut bekannten Generals Paul von Rennenkampf (1854– 1918), auf die Wechselwirkungen von Vorstellungen von Imperium und Gender. Edler von Rennenkampf nimmt wiederholt Bezug auf die ›Ritterlichkeit‹ ihres 1918 von den Bolschewiki ermordeten Gatten, der als Militär im Berufsleben stets mutig und entschlossen, im familiären Leben edel, zuvorkommend und zärtlich gewesen sei. »Ritterlichkeit« und weitere solcher Gender-Wertesysteme in größerem Rahmen zu untersuchen, bleibt Aufgabe künftiger Forschung. Was wäre in dem großen Themenbereich Gender und Imperium darüber hinaus wichtig zu untersuchen? Inspiriert von den oben genannten neueren Forschungen zu anderen Weltregionen und von intersektionalen Ansätzen lässt sich eine recht lange Liste von Aspekten erstellen, die hier nur begonnen werden kann und zu weiteren Überlegungen anregen soll. Für männliche Angehörige verschiedener Berufsgruppen ist deutlich geworden, welch bedeutende Rolle geographische Mobilität spielen konnte, wenn wir etwa an die polnischen Militärärzte in russischen Diensten denken, die bei der Erforschung Sibiriens mitwirkten und die weit entfernt vom politischen Zentrum des Reiches wichtige Positionen einnahmen. Ähnliches gilt für hohe Verwaltungsbeamte, die nacheinander an ganz verschiedenen »Ecken« des Reiches eingesetzt wurden und als

Gender und Imperiengeschichte – ein Plädoyer

177

eine Art Peripherie-Experten galten. Für Frauen und weitere Geschlechter ist der Zusammenhang zwischen geographischer Mobilität und anderen Lebensbereichen wenig erforscht, mit Ausnahme der Land-Stadt-Migration. In Bezug auf Mobilität ist etwa an das Wirken von Ehefrauen der viel reisenden imperialen Vertreter zu denken (siehe den einschlägigen Aufsatz von Benjamin Schenk zu Varvara Duchovskaja, der Gattin eines Generalgouverneurs), aber auch an weitere reisende und schreibende Frauen, deren Wahrnehmungen und Darstellungen des Reichs bislang wenig Niederschlag in der Forschung gefunden haben. Frauen waren durchaus auch in Diensten des Imperiums angestellt, wie Sara Bernasconi in einer Pionierstudie zu staatlichen Hebammen gezeigt hat. Diese waren im Auftrag des Habsburgerreiches in Bosnien-Herzegowina im Einsatz, und ihre Tätigkeit wurde im Kontext des imperialen Modernediskurses und der Zivilisierungsmission verhandelt. So gut wie gar nicht untersucht sind Genderaspekte hinsichtlich der Zusammensetzung und Tätigkeit imperialer Vereine wie etwa die einflussreiche und viel zitierte Russische Geographische Gesellschaft oder der jüngst untersuchte Oesterreichisch-Ungarische Musiker-Verband. Das Wirken von Frauen in und für koloniale Vereinigungen sowie in kolonialen Gesellschaften in den Randgebieten und in den Zentren wäre ebenfalls von großem Interesse. Zu den Ausnahmen in der bisher dargestellten Forschungslandschaft – Imperien ohne Gender, Gender ohne Imperien – zählt die Studie von Ulrich Hofmeister zur russischen Zivilisierungsmission in Zentralasien. In Turkestan wie in anderen europäischen Kolonien der Zeit war die Verschleierung der Frauen ein aufgeladenes Thema. Hofmeister konstatiert, dass die »Lage der Frauen – und speziell ihre Präsenz in der Öffentlichkeit – als Gradmesser für die Zivilisiertheit der Gesellschaft betrachtet wurde«.4 Er zeigt zudem auf, dass die Frauenpolitik einen zentralen Platz in den Erziehungs- und Zivilisierungskonzepten der imperialen Eliten einnahm, unter anderem wegen der Bedeutung der Frauen bei der Erziehung künftiger Generationen. Neben Bildung und Zivilisierungskonzepten ist die rechtliche Stellung von Frauen ein weiteres relevantes Themenfeld. Nihan Altınbas¸ analysiert Änderungen im Familienrecht vor dem Hintergrund der Suche des späten osmanischen Staates nach neuen Familien- und Genderkonstellationen. Für alle drei hier behandelten Imperien ist weiter zu erforschen, wie sich Gender, Ethnie, Konfession und Stand überkreuzten und wie diese Differenzkategorien in der jeweiligen Verschränkung wirkten, etwa bei den Musliminnen und Muslimen an der Wolga oder in Turkestan. Rozaliya Garipova untersucht beispielsweise die Hintergründe der Wahl des ersten weiblichen Qa¯dı¯ (islamischen Rechtsgelehrten) im Mai 1917 in der Zentralen Geistlichen Verwaltung der Muslime des 4 Hofmeister, Bürde, 232.

178

Julia Obertreis

Inneren Russlands und Sibiriens – ein Vorgang, der in der modernen muslimischen Welt präzedenzlos war. Zurückzuführen ist diese Erfolgsgeschichte unter anderem auf die gefestigte Position der muslimischen Frauen im traditionellen muslimischen Bildungswesen in der Wolga-Ural-Region, auf das Wirken der Dschadidisten, der muslimischen Reformer, und auf die katalysierende Wirkung des Revolutionsjahres 1917. Last, but not least bleiben Genderaspekte der imperialen Symboliken, Rollenbilder und Selbst- und Fremdbeschreibungen zu erforschen. Wie und auf wen wirkten etwa Männlichkeitskonstruktionen bei den »Helden des Imperiums«, den men on the spot, die die territoriale und machtpolitische Ausdehnung des Russischen Reiches bewerkstelligten? Welche männlichen, weiblichen und weiteren gegenderten Attribute und Eigenschaften wurden in imperialen Diskursen den Einwohner*innen von nicht-russischen Regionen zugeschrieben? Wie wurden deren Geschlechterrollen rezipiert und instrumentalisiert? Die Autorinnen des eingangs erwähnten Aufsatzes von 2008 benannten Gender noch nicht als Desiderat der vergleichenden Imperienforschung. Immerhin aber betraten sie gemeinsam ein damals und bis heute männlich dominiertes Forschungsfeld. Warum es sich lohnt, Gender stärker zu berücksichtigen: Es ist eine grundlegende Untersuchungskategorie historischer Gesellschaften, und Genderforschung ist ein theoretisch produktives Forschungsfeld. Die beiden hier thematisierten Perspektiven, Imperiengeschichte und Geschlechtergeschichte, können und werden sich gegenseitig weiter bereichern – auch im Hinblick auf die in diesem Essay behandelten Kontinentalimperien.

Literatur Nihan Altınbas¸, Marriage and Divorce in the Late Ottoman Empire: Social Upheaval, Women’s Rights, and the Need for New Family Law. In: Journal of Family History 39/2 (2014), 114–125. Martin Aust/Frithjof Benjamin Schenk (Hg.), Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Habsburger, Romanovs und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2015. Sara Bernasconi, Habsburgs Hebammen in Bosnien-Herzegowina. Unveröff. Dissertation, Universität Zürich 2021. https://doi.org/10.5167/uzh-205356 (13. 12. 2021). Elife Biçer-Deveci, Die osmanisch-türkische Frauenbewegung im Kontext internationaler Frauenorganisationen: eine Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte von 1895 bis 1935. Göttingen/Bonn 2017. Tim Buchen/Malte Rolf (Hg.), Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918)/Imperial Biographies in Russia and AustriaHungary (1850–1918). Berlin/Boston 2015.

Gender und Imperiengeschichte – ein Plädoyer

179

Barbara Evans Clements/Rebecca Friedman/Dan Healey (Hg.), Russian Masculinities in History and Culture. Basingstoke/Hampshire/London 2002. Rozaliya Garipova, Muslim Female Religious Authority in Russia. How Mukhlisa Bubi Became the First Female Qa¯d¯ı in the Modern Muslim World. In: Die Welt des Islams ˙ 57/2 (2017), 135–161. Ulrich Hofmeister, Die Bürde des Weißen Zaren. Russische Vorstellungen einer imperialen Zivilisierungsmission in Zentralasien. Stuttgart 2019. Kerstin S. Jobst/Julia Obertreis/Ricarda Vulpius, Neuere Imperiumsforschung in der Osteuropäischen Geschichte: die Habsburgermonarchie, das Russländische Reich und die Sowjetunion. In: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 18/2 (2008), 27–56. Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen (Hg.), Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century. Göttingen 2012. Ulrike Lindner/Dörte Lerp, Introduction: Gendered Imperial Formations. In: Dies. (Hg.), New Perspectives on the History of Gender and Empire. Comparative and Global Approaches. London 2018, 1–28. Julia Obertreis, Intersektionalität im Russischen Reich? Wechselwirkungen zwischen Kategorien sozialer Differenz im 19. Jahrhundert und der spatial turn. In: Moritz Florin/ Victoria Gutsche/Natalie Krentz (Hg.), Diversität historisch. Repräsentationen und Praktiken gesellschaftlicher Differenzierung im Wandel. Bielefeld 2018, 161–192. Paolo Sartori, Visions of Justice. Sharı¯ʿa and Cultural Change in Russian Central Asia. Leiden/Boston 2016. Frithjof Benjamin Schenk, »Er war ein wahrer Ritter in jeder Hinsicht«. Imperiale Nostalgie und Genderkonzepte in den Erinnerungen einer russischen Adeligen. In: Anna Becker u. a. (Hg.), Körper – Macht – Geschlecht. Einsichten und Aussichten zwischen Mittelalter und Gegenwart. Frankfurt/New York 2020, 397–410. Frithjof Benjamin Schenk, »Ich bin des Daseins eines Zugvogels müde«. Imperialer Raum und imperiale Herrschaft in der Autobiographie einer russischen Adeligen. In: L’Homme 23/2 (2012), 49–64. Susan Zimmermann, Die bessere Hälfte? Frauenbewegungen und Frauenbestrebungen im Ungarn der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918. Wien 1999.

Martin Rohde

Orientalismen und die ukrainische Geschichte

Vor gut 20 Jahren hat Kerstin Jobst mit »Orientalism, E. W. Said und die Osteuropäische Geschichte« einen wichtigen Aufsatz vorgelegt, der die »verspätete Rezeption«1 des Ansatzes in unserem Fach problematisiert und Potentiale hinsichtlich der Anwendung auf das Russische Imperium auslotet. Mit ihrem Plädoyer dafür, Kolonialismus auch als Kulturgeschichte zu untersuchen, Gender-Aspekte nicht zu vernachlässigen, Wechselwirkungen zwischen Peripherie und Metropole herauszuarbeiten und an die Frontier-Forschung anzuknüpfen, hat sie wichtige Aspekte vorweggenommen, die heute zum Repertoire der ost(-mittel-)europäischen Imperienforschung gehören. Nationale und imperiale Selbst- und Fremdbilder lassen sich damit auf neue Weise dekonstruieren. So scheint es nicht mehr verwegen, die Blickrichtung umzukehren und eine frontier diverser Imperien- und Nationsbildungsprozesse in den Blick zu nehmen, wie hier im Fall der ukrainischen Länder geschehen soll. Aufgrund ihrer vielfältigen Verflechtungen dienen sie als Fallbeispiel, um Möglichkeiten und Herausforderungen der Orientalismusforschung für Ost(-mittel-)europa zu reflektieren. Mit Jobst2 lassen sich sechs ukrainische Geschichtsregionen unterscheiden: die drei ehemals zu Österreich-Ungarn gehörenden Regionen im Westen, Galizien, Bukowina und Transkarpatien, sowie die drei ehemals zaristischen Gebiete, die rechts- und linksufrige Ukraine und die im 18. Jahrhundert kolonisierte Südukraine (historisch: Neurussland, ru. Novorossija) mit der Halbinsel Krim. Der von Ulrich Schmid und Oksana Myshlovska herausgegebene Band Regionalism without Regions hat angesichts dieser Heterogenität argumentiert, anstelle von Einheitsnarrativen regionale Fluchtpunkte zur Erforschung der Ukraine zu wählen. Während ich aufzeige, dass partielle Parallelen bestehen, lässt sich doch keine Kohärenz von den Waldkarpaten bis zu den ukrainischen Ansiedlungsgebieten im Nordkaukasus feststellen. In diesem Sinne plädiere ich

1 Jobst, Orientalism, 250. 2 Jobst, Geschichte, 56–57.

182

Martin Rohde

künftig für regional angelegte Vergleiche in den differierenden imperialen Kontexten.

›Leere‹ und ›unzivilisierte‹ Grenzländer Die Vorstellungen ›leerer‹, zu kolonisierender und zu zivilisierender Räume sind charakteristisch für die Imagination der ukrainischen Länder, doch hat sie nicht erst die deutsche ›Ostforschung‹ geprägt. Sie waren etwa Bestandteil des polnischen Grenzland-Mythos, der die polnische Dominanz über die (West-)Ukraine rechtfertigen sollte und gleichsam als kulturelle Ressource der Literatur und Malerei galt. In Russland fand sich bis zum 18. Jahrhundert ein Pendant in der vielseitig instrumentalisierten Idee vom Wilden Feld (ru. Dikoe pole, ukr. Dyke pole, pl. Dzikie pola), das die Steppenlandschaft der heutigen Süd- und Ostukraine bezeichnete und eine frontier des Russischen Imperiums blieb, solange das Osmanische Reich politischen Einfluss geltend machte. Einen exotisierenden Blick richteten polnische Kulturschaffende auf die archaisch wirkenden, ostkarpatischen Huzulen, während die Krim seit dem späten 18. Jahrhundert als russischer Sehnsuchtsort mit überhöhter antiker Vergangenheit galt. Kosaken sind ob ihrer militärischen Erfolge oft als ›wild‹, ›grausam‹ oder ›barbarisch‹ wahrgenommen worden; dies wandelte sich erst im 19. Jahrhundert, als sie Teil des Kleinrussland-Mythos wurden und allmählich zu einem mythisierten Teil imperialer Kavalierstouren aus den nördlichen Hauptstädten avancierten. Reisende aus St. Petersburg und Moskau begaben sich gen Süden in das »russische Italien« oder »russische Hellas«3, um pittoreske Landschaften und kosakische Erinnerungsorte zu besuchen; andere pilgerten ob der religiösen Stätten nach Kiew. Diese Praxis trug dazu bei, dass die ukrainischen Länder eine Ressource für die zunächst imperiale, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch zunehmend nationale russische Kultur wurden. Im Zeitalter nationaler Konflikte galten Ukrainerinnen und Ukrainer als ›Bauernvolk‹, wobei die Färbung des Arguments politischer wurde: Im habsburgischen Galizien diente das Narrativ einer mangelnden Kulturfähigkeit der ruthenischen Sprache als zentrales Argument dafür, den Ausbau des höheren ukrainischsprachigen Bildungswesens und damit einhergehende Aufstiegschancen abzulehnen. Das othering war im russischen Ukrainebild dagegen weniger zentral, doch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts galt das ›Kleinrussische‹ als Dialekt des Russischen, welcher wissenschaftlicher oder literarischer Publikationen unwürdig sei. Teil einer russischen Orientkonzeption war dagegen allein die nicht als ukrainisch angesehene Halbinsel Krim. 3 Tolochko, Fellows, 162.

Orientalismen und die ukrainische Geschichte

183

Gänzlich von diesen Vorstellungen getrennt war der Raum, aus dem die heutige ukrainische Provinz Transkarpatien hervorging. Die ruthenisch besiedelten Gebiete Nordostungarns (Uhors’ka Rus im ukrainischen Duktus) wurden 1919 als Podkarpatská Rus Teil der Tschechoslowakei. Im ungarischen Narrativ lag der Weg zur Zivilisierung der Region in der Magyarisierung. Die tschechoslowakische Verwaltung perpetuierte zwar die Idee einer essenziell indolenten Lokalbevölkerung, dagegen idealisierten Reiseführer die Naturbelassenheit der Region, um einen konstruierten Binnenexotismus touristisch nutzbar zu machen. Die Tschechoslowakei war in ihrer Orientalisierung von Missständen noch drastischer und zielte damit ebenso auf die Legitimation der eigenen Herrschaft ab. Kern der Argumentation war allerdings, in Ungarn die Wurzel allen Übels – etwa des frappierenden Bildungsniveaus und des kaum existierenden Gesundheitswesens – zu sehen. Die Lokalbevölkerung wurde damit gleichsam für unmündig erklärt. Diesen heterogenen Sehgewohnheiten auf ukrainische Bevölkerungsgruppen ist vor allem eines gemeinsam: Die Orientalismen dienten der Rechtfertigung von Herrschaft, im polnischen und tschechoslowakischen Fall mit Zivilisierungsmissionen, im russischen Fall tritt anstelle der Alterisierung von Kosaken die Betonung von Gemeinsamkeiten. Wie sieht es dagegen mit Orientalismen ukrainischer Akteure aus? Die ukrainische Nationalbewegung, besonders in Galizien, bediente sich zentral- und westeuropäischer Stereotype von russischer ›Barbarei‹ und ›Despotie‹. Eine eigene Facette fügte sie dem Diskurs hinzu, weil sie aus dem Verbot ukrainischsprachiger Publikationen eine generelle ›Kulturfeindlichkeit‹ des Imperiums ableitete. In Diskussionen um nationalen Charakter kontrastierte sie ukrainische ›Freiheitsliebe‹ und ›demokratische Gesinnung‹ – die auf kosakische Traditionen fußen würden – mit einer russischen Neigung zur ›Unfreiheit‹ und ›Unterwerfung‹. Im ukrainischen Russlandverständnis diente ein orientalisierendes Bild also dazu, Herrschaft bzw. Herrschaftspraktiken abzulehnen und sich vom Narrativ des dreieinigen russischen Volkes als eigenständige Nation abzugrenzen. In Disputen um ostslawische Ethnogenese gedieh dieses Argument so weit, Kernrussland als Land slawisierter Finnen mit anhaltendem mongolischem Einfluss zu betrachten, während in der Ukraine die ursprünglichsten Slawen zu finden seien.

184

Martin Rohde

Orientalismen aus ukrainischer Feder und Herausforderungen (post-)imperialer Verflechtung Wie die Forschungen zur russisch-ukrainischen oder auch polnisch-ukrainischen Geschichte in den letzten Dezennien herausgestellt haben, ist eine Entflechtung jener Ambivalenzen, die langfristige gemeinsame Geschichten hervorgebracht haben, oft nicht derart möglich, wie in den aufgezeigten Makroperspektiven. Kondensiert lässt sich diese Herausforderung anhand des Orientalisten Ahatanhel Ju. Kryms’kyj (ru. Agafangel E. Krymskij, krimtat. Ag˘atang˘el Efim Qırımlı, 1871–1942) zeigen. Er entstammte einer Familie mit krimtatarischen Wurzeln, die im 16. Jahrhundert nach Polen-Litauen kam, seinen Vater beschrieb er jedoch als Belarussen, der sich als Russe fühlte und als Lehrer an der frontier der Depolonisierung seiner Region zu kämpfen glaubte; seine Mutter stammte aus der Nähe von Minsk. Er wurde in Volodymyr-Volyns’kyj im russischen Gouvernement Wolhynien geboren, absolvierte seine höhere Schulbildung in Kiew und begab sich dann an das Lazarevskij-Institut für orientalische Sprachen in Moskau. Nach seiner Ausbildung besetzte er rasch zwei Professuren, für arabische Philologie und für Geschichte des muslimischen Ostens. Damit verfolgte er eine Bilderbuchkarriere im Rahmen der institutionalisierten Wissenschaft des Zarenreiches und galt als Koryphäe der Orientalistik, gleichsam riskierte er seinen Status seit den 1890er Jahren durch den Schmuggel verbotener ukrainischer Publikationen. Er bezeichnete sich selbst als Ukrainophilen, und als Sekretär der Ukrainischen Akademie der Wissenschaft im Jahr 1918 wird er bis heute weithin als ukrainischer Akteur wahrgenommen, für seine frühere Biografie ist dies allerdings kaum haltbar. Als Professor am Lazarevskij-Institut bildete er Übersetzer und Diplomaten aus, verfasste Lehrbücher und übersetzte hierfür auch religiöse Texte aus dem Arabischen ins Russische. Zeitgleich übertrug er persische und arabische Literatur und Folklore für galizische Literaturzeitschriften ins Ukrainische, hinzu kamen eigene poetische Werke, die sich thematisch aus seinem zweijährigen Forschungsaufenthalt in Syrien und dem Libanon – den das Russische Kaiserreich finanziert hatte – ergaben. Als polyglottes Sprachtalent arbeitete er sowohl in russischer als auch ukrainischer Sprache. Seine literarischen Arbeiten schrieb er erst auf Ukrainisch und übersetzte sie dann ins Russische, sein einflussreiches wissenschaftliches (und dezidiert rassistisches) Werk Der Islam und seine Zukunft erschien 1899 in russischer, 1904 in ukrainischer Sprache. Zweifelsohne beinhalteten manche seiner Arbeiten einen »ukrainische[n] Akzent«4, sie stellten aber keinen dezidierten Bruch mit der russischen Wissenschaft dar. Die Frage, ob

4 Pavlycˇko, Nacionalizm, 177.

Orientalismen und die ukrainische Geschichte

185

und wann Kryms’kyj einen ukrainischen oder russischen Orientalismus vertrat, kann aufgrund seiner imperialen Biografie trotz ukrainischer Nationalgefühle nicht sinnvoll beantwortet werden. Eindeutig ist lediglich, dass sein Blick auf die krimtatarische Kultur nicht von seiner Herkunft, sondern von wissenschaftlichem Interesse und seiner abwertenden, aus den westeuropäischen Rassendiskursen importierten, Haltung gegenüber Turkvölkern geprägt war. Dabei ging er von einer kulturellen und ›rassischen‹ Überlegenheit des christlichen Europas aus, in dem er Russland und die Ukraine klar verortete – allerdings mit- und nicht gegeneinander. In globaler Perspektive zeigte er damit eher verbindende Elemente auf. In weiten Teilen entspricht Kryms’kyjs Orientbild demjenigen der westlichen Orientliteratur. Einerseits entwarf er etwa den syrischen Garten als Sehnsuchtsort voller exotischer Pflanzen und Gewürze, andererseits war er besonders an sexueller Freizügigkeit interessiert und widmete sein Interesse dem Harem. Auffällig ist die überwiegend positive Konnotation homosexueller und Abwertung heterosexueller Kontakte, wie Solomija Pavlycˇko herausgearbeitet hat. So thematisierte Kryms’kyj in seinen Beiruter Erzählungen, dass sich »arabische Mädchen und Frauen« schon seit dem Kindesalter im Harem über sexuelle Praktiken austauschen würden, die »selbst die schlimmste europäische Prostituierte erröten ließen.«5 Dagegen galten ihm die Möglichkeiten homosexueller Liebe, die er auf antike persische Traditionen zurückführte und damit als kulturell angemessen betrachtete, als Beleg größtmöglicher Freiheit, im betonten Gegensatz zur konservativen Kultur des Zarenreiches. Mit einer positiven Konnotation des antiken Orients bediente er sich dabei eines klassischen Topos des Said’schen Orientalismus. Seine Sympathie gegenüber der Homosexualität – verbunden mit ungewöhnlich positiver Stimmung während seiner Zeit in Syrien und im Libanon – hat Pavlycˇko6 spekulieren lassen, ob Kryms’kyj womöglich eine homosexuelle Erfahrung in dieser Zeit hatte. Abseits gängiger europäischer Orientstereotype zeigt sich ein individueller, biographisch geprägter Orientalismus.

Fazit und Ausblick Diese Tour de Force durch Orientalismen in ukrainischen Kontexten hat die regionale Vielfalt und zeitliche Wandelbarkeit der Ukraine-Bilder demonstriert. Im Falle der ukrainischen Länder sowie ukrainischer Intellektueller des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts handelt es sich um dichte, multiperspektivische 5 Kryms’kyj, Beiruter Erzählungen, zit. nach: Pavlycˇko, Nacionalizm, 209. 6 Pavlycˇko, Nacionalizm, 206.

186

Martin Rohde

Orientalismen, wenngleich nicht jede Form kultureller Aneignung als solcher gelten kann. Dabei muss auch kritisch geprüft werden, ob Alterisierungen ideologisch verwurzelt oder lediglich funktional ausgelegt waren, dauerhaft oder lediglich situativ Verwendung fanden. Insbesondere das Aufkeimen der Nationalbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte die Grundbedingungen einschlägiger Diskurse und ihrer Abwehr. Bei Kryms’kyjs Abgrenzung vom Orient (und insbesondere von Turkvölkern) scheinen dagegen russisch-ukrainische Gemeinsamkeiten relevanter als die Gegensätze, die die Nationalbewegung betonte, mit der er ansonsten eng interagierte. Das resümierende Plädoyer kann deshalb nur lauten, individuelle oder regionale Positionen nicht zwangsläufig als repräsentativ für die Ukraine zu betrachten. Jüngst hat Taras Kuzio die Ukraine-Wahrnehmung westlicher OsteuropaSpezialist*innen als academic orientalism problematisiert, zumal diese sich meist russischer Quellen bedienen würden. Ukrainische Alternativangebote – die auch in russischer Sprache bestünden – würden dabei übersehen, was dazu führe, dass die Ukraine gleich dem imaginierten Orient als passiv und subaltern betrachtet werde. Eine weitere Gemeinsamkeit sieht er darin, dass Nationalismen ehemaliger Kolonien ausschließlich negativ konnotiert seien.7 Die Argumentation ist damit zu relativieren, dass einerseits die Ukraine-Forschung gelegentlich russische Literatur übergeht und andererseits neben den Spezifika durch den russisch-ukrainischen Konflikt durchaus Gemeinsamkeiten mit den anderen postsowjetischen Ländern bestehen. Das Beispiel zeigt aber eindrücklich, wie flexibel (und bisweilen überdehnt) der Orientalismusbegriff Anwendung finden kann.

Literatur Kerstin S. Jobst, Geschichte der Ukraine. Stuttgart ²2015. Kerstin S. Jobst, Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz 2007. Kerstin S. Jobst, Orientalism. E. W. Said und die Osteuropäische Geschichte. In: Saeculum 51/2 (2000), 250–266. Andreas Kappeler, Vom Land der Kosaken zum Land der Bauern. Die Ukraine im Horizont des Westens vom 16. bis 19. Jahrhundert. Köln/Wien/Weimar 2020. Agafangel Krymskij, Musul’manstvo i ego budusˇcˇnost’. Moskva 1899. Taras Kuzio, Crisis in Russian Studies? Nationalism (Imperialism), Racism and War. Bristol 2020, https://www.e-ir.info/publication/crisis-in-russian-studies-nationalism-i mperialism-racism-and-war/ (30. 09. 2021).

7 Kuzio, Crisis, 66–81, Zitat: 66.

Orientalismen und die ukrainische Geschichte

187

Solomija Pavlycˇko, Nacionalizm, seksual’nist’, orientalizm. Skladnyj svit Ahatanhela Kryms’koho. Kyjiv 2000. Sebastian Ramisch-Paul, Fremde Peripherie – Peripherie der Unsicherheit? Sicherheitsdiskurse über die tschechoslowakische Provinz Podkarpatská Rus (1918–1938). Marburg 2021. Martin Rohde, Nationale Wissenschaft zwischen zwei Imperien. Die Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften, 1892–1918. Göttingen 2022. Ulrich Schmid/Oksana Myshlovska (Hg.), Regionalism without Regions. Reconceptualising Ukraine’s Heterogeneity. Budapest 2020. Oleksiy Tolochko, Fellows and Travelers. Thinking about Ukrainian History in the Early Nineteenth Century, in: Georgiy Kasianov/Philipp Ther (Hg.), A Laboratory of Transnational History. Ukraine and Recent Ukrainian Historiography. Budapest 2009, 149–168.

Translokale Geschichten

Marija Wakounig

Vom Problemlöser zum Problemmacher? Agenor Graf Gołuchowski der Jüngere als k. u. k. Außenminister (1895–1906)

Wenn man sich im Rahmen der Geschichte der Internationalen Beziehungen und der Diplomatiegeschichte mit den Akteur*innen intensiver beschäftigt, gehören ausgewogene und annähernd realistische Einschätzungen derselben häufig zu den schwierigeren Unterfangen. Zu diesen Persönlichkeiten zählt auch der polyglotte, ambitionierte und jüngste Außenminister der k. u. k. Monarchie, Agenor Maria Adam Graf Gołuchowski (1849–1921), bei dem man nicht weiß, ob er zu den verkannten oder gar überbewerteten Politikern der Habsburgermonarchie im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zählt und ob er sich vom Problemlöser zum Problemmacher entwickelt hat. Gołuchowski, der gerne mit Anglizismen kokettierte, würde den Titel des Beitrages etwa so nennen: Vom troubleshooter zum troublemaker. Tatsache ist, dass die Zeitgenossen, allen voran die deutschen Diplomaten, eifrig um ein negatives Image des österreichischungarischen Außenministers bemüht waren; deren Berichterstattung schloss sich in Folge auch die Historiographie an. Die Frage, ob sich die Präjudizierungen seitens sorgfältig edierender Historiker zur bestimmenden Konstante in der Einschätzung des Außenministers aufschwangen oder ob sie die realen Verhältnisse widerspiegelten, stellt ein work in progress dar. Für mögliche Antworten bzw. realistischere Beurteilungen lohnen sich Vergleiche mit seinem Vorgänger Gustav Graf Kálnoky.

Herkunft und Karriere Gołuchowski wurde am 25. März 1849 (†1921) als ältestes von sechs Kindern des gleichnamigen galizischen Statthalters und österreichischen Innenministers (1812–1875) in L’viv (Lwiw, Lwów, L’vov, Lemberg) geboren. Seine außergewöhnliche Begabung für Sprachen erwies sich als vorteilhaft für den diplomatischen Dienst, in welchen er zu Beginn der 1870er Jahre eintrat: 1872 wurde er als Attaché nach Berlin berufen, wo er zum Botschaftssekretär avancierte; 1874 kam er als Legationsrat an die Pariser Botschaft, die er kurzfristig (1882/1883) inte-

192

Marija Wakounig

rimistisch leitete. Die Pariser Jahre (1874–1887) waren in jeder Hinsicht prägend: Obwohl sich der konservativ-katholische Diplomat in der ersten Gesellschaft der republikanischen Metropole größter Beliebtheit erfreute, scheint er innerhalb des Diplomatischen Corps nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen zu sein. Den Ausschlag dazu gaben weder sein etwas hochmütiges Auftreten noch seine offen zur Schau getragene Antipathie gegenüber einigen Kollegen, sondern die 1885 geschlossene Ehe mit Anna Napoléon Caroline Alexandrine Prinzessin Murat (1863–1940). Die Verehelichung führte Gołuchowski zwar in die napoleonische Aristokratie ein, verhinderte aber Jahre später die erhoffte und erwünschte Rückberufung als Botschafter nach Paris. 1887 wurde er als Gesandter nach Bukarest geschickt, von wo er sich 1893 schmollend auf seine galizischen Majorate Skała nad Zbruczem und Janów zurückzog. Der Rückzug ins Privatleben dauerte nicht lange. Im Frühjahr 1895 geriet der österreichisch-ungarische Außenminister Kálnoky wegen ungarischer Belange (bekannt als ›Affaire Agliardi‹) in schwere Turbulenzen. Der Zeitpunkt für seine Demission war ziemlich ungünstig, bahnten sich doch erstmalig nach dem Krimkrieg (1853–1856) freundschaftliche Beziehungen zwischen der Donaumonarchie und dem Russischen Reich an. Zu verdanken war dieser Umstand Kálnokys umsichtiger Personalpolitik: Im Dezember 1894 nämlich besetzte er den diffizilen Botschafterposten in St. Petersburg mit Franz de Paula Prinz von und zu Liechtenstein. Die Betrauung des aus einem souveränen Haus stammenden, vermögenden, umfassend gebildeten, eloquenten und politisch versierten Hochadeligen, der kaum diplomatische Praxis besaß, erwies sich innerhalb kürzester Zeit als goldrichtig, zumal es diesem gelang, die Vorbehalte in St. Petersburg, das durch die drohende Ablöse Kálnokys einen radikalen Kurswechsel in der österreichisch-ungarischen Außenpolitik befürchtete, mit Fingerspitzengefühl zu zerstreuen. Der tatsächliche Rücktritt Kálnokys im Mai 1895 löste innerhalb der europäischen Diplomatie weniger Verwunderung aus als die Berufung des kaum 45-jährigen Gołuchowski zu seinem Nachfolger. Die Mutmaßungen reichten vom Vorschlag seines Vorgängers bis zum persönlichen Wunsch des Kaisers. Die allgemeine Annahme in der Forschung, die Gesandtentätigkeit in Bukarest hätte als Sprungbrett zum Außenminister (le tremplin des ambassadeurs) gedient, ist insofern nicht ganz von der Hand zu weisen, als auch Aloys Lexa Freiherr Aehrenthal, der Nachfolger Gołuchowskis als k. u. k. Außenminister, Gesandter in Bukarest gewesen war. Doch die schriftlichen Vermerke des Kanzleidirektors des Abgeordnetenhauses Heinrich Halban von Blumenstock verleiten zur Annahme, dass für die Berufung von Gołuchowski dessen Ruf, ein energischer Mann zu sein, sowie die Interventionen des galizischen Statthalters Kazimierz Graf Badeni bei Kaiser Franz Joseph ausschlaggebend gewesen seien. Diese Hintergrundinformationen kommen den Tatsachen ziemlich nahe, denn Badeni war ein Lieb-

Vom Problemlöser zum Problemmacher?

193

kind des Kaisers und Halban stand mit seinen polnischen Kollegen im regen Kontakt. Zieht man jedoch Badenis Engagement für Gołuchowski Karrieresprung in Betracht, so verwundern die Bedenken des Letzteren anlässlich der ein paar Monate später erfolgten Berufung des Ersteren zum Ministerpräsidenten der cisleithanischen Reichshälfte; angeblich hatte der k. u. k. Außenminister Vorbehalte gegen zwei Polen an der österreichischen Staatsspitze. Zunächst waren am Wiener Ballhausplatz keine Änderungen im außenpolitischen Kurs erkennbar. Gołuchowski räumte zwar ein, dass »ein Personenwechsel stattgefunden« habe, er jedoch an den so erfolgreichen Prinzipien seines Vorgängers Kálnoky in »jeder Hinsicht« festhalten wolle.1 Diese Redewendung war dringend angeraten, weil der gesamte diplomatische Dienst dem neuen Außenminister mit Skepsis und Zurückhaltung begegnete. Wollte er diese in »Bereitschaft zur Mitarbeit« transformieren2, so musste er den ersten Schritt tun und die Kontinuität in der außenpolitischen Zielrichtung der Monarchie betonen. Auch die europäischen Kabinette taten sich mit dem Wiener Amtskollegen schwer, allen voran der russische Außenminister Aleksej Borisovicˇ LobanovRostovskij – wohl, weil Gołuchowski Pole war.3 Die Animosität beruhte auf Gegenseitigkeit und setzte sich nach dem überraschenden Tod Lobanov-Rostovskijs 1896 unter allen weiteren russischen Amtskollegen (Nikolaj P. Sˇisˇkin 1896–1897, Michail N. Murv’ev 1897–1900, Vladimir N. Lamzdorf 1900–906) fort. Denn als »Anwalt des Berliner Vertrages« (1878)4 – wie sich Gołuchowski wiederholt selbst bezeichnete – beäugte und kommentierte er argwöhnisch die russische Außenpolitik auf der Balkanhalbinsel, wo sich die Interessenssphären der beiden Kaiserreiche empfindlich rieben. Außerdem bewies er bei politischen Fragen, die die Donaumonarchie nicht direkt tangierten, wenig Gespür. Das Jahr 1897 kann als entscheidend für die eher negative Einschätzung von Gołuchowski angenommen werden: Im Februar führte er den russischen Amtskollegen Murav’ev hinters Licht, als er ihn wissen ließ, dass die Donaumonarchie bereit sei, gemeinsam mit dem Zarenreich den Status quo am Balkan aufrechtzuerhalten. Diesen Vorschlag unterbreitete er allerdings erst, nachdem er sich mit dem russischen Botschafter in Wien geeinigt hatte, dass Konstantinopel und die Meerengen europäische Fragen seien, die übrigen Balkanfragen (wie die Annexion von Bosnien und Herzegowina oder der Ausbau einer Ei1 Stein, Die Neuorientierung der österreichisch-ungarischen Außenpolitik, 12–14; Wakounig, Ein Grandseigneur der Diplomatie, 135. 2 HFL Vaduz 217, Gołuchowski an Liechtenstein, Wien, 28. 5. 1895. 3 Liechtenstein berichtete nach Wien, wie schwer sich Lobanov anfänglich mit Gołuchowski tat. Vgl. dazu HHStA Wien, Nachlass Aehrenthal, Liechtenstein an Aehrenthal, St. Petersburg, 22. 12. 1895/3. 1. 1896. 4 Zit. nach Stein, Neuorientierung, 28.

194

Marija Wakounig

senbahnstrecke bis nach Saloniki) jedoch nur Österreich-Ungarn und Russland tangieren würden. Bei der einige Monate später in St. Petersburg stattfindenden Kaiserentrevue wurde die österreichisch-ungarische Delegation von einem derart angenehmen Ambiente überrascht, dass Gołuchowski auf die Protokollierung höchst brisanter Unterredungen lässlich verzichtete. Die eigentlichen Probleme fingen erst nach der Abreise an, als Gołuchowski eine schriftliche Fixierung einforderte, Murav’ev aber nicht bereit war, die österreichischen Wünsche zu bestätigen, die keine Garantien für Russland enthielten, denn Konstantinopel und die Meerengen waren zu europäischen Fragen erhoben worden. Schließlich gelang es dem k. u. k Botschafter Liechtenstein unter Aufbietung seiner Beziehungen, eine mündliche zehnjährige Entente zwischen den beiden Kaiserreichen abzuschließen. Führende k. u. k. Diplomaten sprachen unverhohlen vom »Leichtsinn und (der) Plauderwut« ihres Vorgesetzten und warnten davor, der »Verlogenheit« des Ministeriums auf den Leim zu gehen.5 Diese Einschätzung hielt sich bis zum Rücktritt des Außenministers im Jahr 1906. 1897 legte außerdem ein Ereignis den Grundstein für Gołuchowskis Demission neun Jahre später, als er wenig weitblickend die Rückkehr des serbischen ExKönigs Milan Karad¯jordevic´ aus Frankreich nach Belgrad wohlwollend duldete. Damit riskierte der k. u. k. Außenminister sowohl eine Verstimmung mit Russland, die einher ging mit einer beispiellosen Zeitungskampagne gegen ihn, als auch einen Konflikt zwischen Bulgarien und Serbien. Der Einfluss Wiens in Belgrad endete mit der Ermordung von König Aleksandar im Juni 1903 und mit dem Übergang auf die russlandfreundliche Dynastie der Obrenovic´i. Obwohl damit die schönen Jahre der Donaumonarchie in Serbien ein abruptes Ende fanden, wollte sich der Außenminister damit nicht abfinden. Der schwindende Einfluss bedeutete nämlich, Russland die Vorherrschaft auf der Balkanhalbinsel einzuräumen und auch die Wirtschaft der Habsburgermonarchie empfindlich zu beschneiden. Als Serbien Ende 1905 versuchte, sich via Handelsverträgen mit Frankreich und mit Bulgarien aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit seines wichtigsten Handelspartners Österreich-Ungarn zu befreien, verhängte die besonders betroffene ungarische Regierung unter dem Deckmantel der Seuchengefahr ein Einfuhr- und Transitverbot (für Vieh, Geflügel, Schweine und Agrarprodukte). Auf das Embargo reagierte Serbien, dem eine Wirtschaftskatastrophe drohte, mit Maximalzöllen auf alle Waren der Habsburgermonarchie. Obwohl Wien darüber sehr verstimmt war, goutierte es nicht die Vorgehensweise der transleithanischen Regierung. Die Vermittlungsversuche des Außenministers im so genannten Schweinekrieg scheiterten, auch, weil ihm Budapest wegen seiner beharrlichen Weigerung, Ungarisch als zweite Kommandosprache in der 5 HHStA Wien, Nachlass Aehrenthal, Liechtenstein an Aehrenthal, St. Petersburg, 28/16. 12. 1898.

Vom Problemlöser zum Problemmacher?

195

Armee einzuführen, einen Misstrauensantrag androhte. Dem kam er zuvor und trat im Oktober 1906 als Außenminister zurück. Das Paradoxe war, dass die ungarische Reichshälfte sowohl am Beginn (1895) als auch am Ende des Außenministeramtes von Gołuchowski (1906) Pate stand.

Zum Amtsverständnis Wie bereits angedeutet, wurde Gołuchowski 1895 völlig überraschend für die politische Öffentlichkeit und den diplomatischen Dienst zum Außenminister ernannt. Nach dem Motto »Neue Besen kehren gut«, krempelte er das Ministerium relativ rasch nach der Amtsübernahme völlig um. Durch die Schaffung neuer politischer Referate (insgesamt fünf) wurde die Aktenausfertigung weg vom Minister zu den jeweiligen Sektionschefs verlagert, was nicht nur eine wesentliche Arbeitsentlastung für den Außenminister mit sich brachte, sondern auch eine längst fällige Amtsstruktur entstehen ließ. Da die Außenpolitik die Domäne des Kaisers war und der zuständige Minister zugleich als Minister des Kaiserlichen Hauses die Vorgaben und Wünsche des Monarchen ausführen musste, war eigenständiges politisches Handeln der Diplomaten unerwünscht. Die Missionschefs hatten sich jeder nicht vorgeschriebenen Initiative zu enthalten. Obwohl Gołuchowski 1893 seinen Bukarester Gesandtenposten deswegen verließ, weil er sich mit seinen diplomatischen und beruflichen Vorstellungen bei seinem Vorgesetzten Kálnoky nicht durchsetzen konnte, machte er sich die Auffassung von bloß berichterstattenden und repräsentierenden Diplomaten sofort nach seiner Amtsübernahme als Außenminister zu eigen. Aus eigener Erfahrung wusste er nur zu gut, dass es inopportun war, der übergeordneten Instanz zu widersprechen, und es die Loyalität zum Herrscherhaus verbat, eigenständig zu handeln. Gołuchowski war in vielerlei Hinsicht anders als sein Vorgänger: Während Kálnoky großen Wert auf episch breite Berichte gelegt hatte, reklamierte Gołuchowski dies für seine Weisungen und Repliken. Während Kálnoky trotz verschiedener, teilweise abweichender außenpolitischer Auffassungen seiner Botschafter auf Kontinuität setzte, trachtete Gołuchowski danach, eigenständig denkende Diplomaten so rasch wie möglich vom Posten abzuziehen. Mit sachlicher Kritik konnte er kaum umgehen, interpretierte er sie doch als Infragestellung seiner Person. Auf die ab 1896 wiederholt in russischen Zeitungen gegen ihn lancierten und kaum einzudämmenden Kampagnen reagierte der zutiefst Verletzte mit einer subtilen, teilweise erfolgreichen Gegenstrategie. Bereits sein Vorgänger Kálnoky hatte sich bis zum Rücktritt für die Verbreitung offiziöser Nachrichten durch das Literarische Büro monatlich etwa 5.000 Gulden kosten lassen. Unter seinem Nachfolger stiegen die Kosten ab Jänner 1896 um das Vier-

196

Marija Wakounig

bis Fünffache im Monat an, wurde der Leiter Ludwig Doczi mit der Androhung gefügig gemacht, Ordnung zu machen und dafür zu sorgen, auf internationale Nachrichten über die Einmischung Wiens mit gegenteiligen zu antworten, die die neutrale Haltung der Donaumonarchie betonten. Die interventionistische, vor allem aber kostenintensive Instrumentalisierung des Literarischen Büros schließlich lockte den ehemaligen Außenminister Kálnoky aus der Reserve: Dieser beschwerte sich bei Aehrenthal, dem Nachfolger seines Nachfolgers darüber, dass der leichtsinnige Doczi nicht nur die Öffentlichkeit beeinflussen, sondern auch die Wahrnehmung internationaler Ereignisse durch Gołuchowski ermöglichen lasse. Hinsichtlich des Aktenmaterials brach mit Gołuchowski ebenfalls ein neues Zeitalter an. Während Kálnoky umsichtig alle außenpolitischen Schriftstücke archivieren ließ und bei den eigenen Konzepten akribisch die Uhrzeit, teilweise sogar den Ort der Erledigung festhielt, ordnete sein Nachfolger entweder eine großzügige Skartierung oder kaum auffindbare Ablagen von brisanten Akten an. Trotzdem hängt im Erdgeschoß des Haus-, Hof- und Staatsarchivs am Wiener Minoritenplatz eine Gedenktafel für Gołuchowski. Auch das soziale Ambiente eines Außenministers änderte sich unter Gołuchowski entscheidend. Während der unverheiratete und kaum vermögende Kálnoky die Amtsstube suchte, sagten seinem Nachfolger bereits dessen Zeitgenossen die Zimmerflucht nach. Tatsächlich fanden wichtige Unterredungen mit fremden Missionschefs außerhalb der Amtsräume, zumeist bei einem festlichen Diner statt, deren Organisation die Handschrift der Dame des Hauses trug. Abschließend ist festzuhalten, dass Gołuchowski derjenige k. u. k. Außenminister war, der das Außenministerium als Selbstdarstellungsbühne verstand: Als er 1895 zum Minister ernannt wurde, gehörte er zu den jüngsten und unbekanntesten in Europa; es blieb ihm offenbar nichts anderes übrig, als sich mit unkonventionellen, für Österreich-Ungarn weniger zuträglichen Aktionen innerhalb der europäischen Mächte ins Spiel zu bringen. Weder seine Vorgänger noch seine Nachfolger trugen aufgrund ihrer Herkunft gegenüber ihren europäischen Kollegen ethnisch bedingte Antipathien so offen zur Schau und verschanzten sich dabei hinter dem Amt, das sie ausübten. Gołuchowski war nicht nur der erste Außenminister, der dem Außenamt und der Konsularakademie eine zeitgemäße Struktur verpasst und sein Amt auch vergesellschaftlicht hat, er war aufgrund unerfreulicher Erfahrungen überhaupt einer der ersten, der die Macht der öffentlichen Meinung erkannt, für sich genützt und dieser auch entgegengesteuert hat. Wegen seines überheblichen Auftretens bei den meisten Diplomaten unbeliebt, deutete er 1906 die Zeichen richtig und trat von sich aus zurück. Seine elfjährige Amtszeit als ereignisarm oder als eher negativ zu interpretieren, entspricht nicht der Realität, sondern folgt dem Tenor der deutschsprachigen Forschung seit den 1920er Jahren.

Vom Problemlöser zum Problemmacher?

197

Quellen Hausarchiv der Regierenden Fürsten von Liechtenstein in Vaduz (HFL Vaduz). Karton 216, 217. Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHSA): Botschaftsarchive Paris, St. Petersburg; Personalakten; Politisches Archiv, Nachlass Aehrenthal. Johann Lepsius/Albrecht Mendelssohn Bartholdy/Friedrich Thimme (Hg.), Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, 40 Bde. Berlin 1922–1927, 21924–1927. Ernst Rutkowski (Hg.), Briefe und Dokumente zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie unter besonderer Berücksichtigung des böhmisch-mährischen Raumes, Teil 1: Der Verfassungstreue Großgrundbesitz 1880–1899. Wien/München 1983.

Literatur Gerhard Dabringer/Marija Wakounig, »So liegen einmal die Verhältnisse in Österreich, daß man nicht mit rechter Freude ans Werk geht.« Ein Vergleich der Kabinette Fürst Alfred Windisch-Graetz und Graf Kazimierz Badeni. In: Studia Austro-Polonica 5 (1996): Österreich – Polen. 1000 Jahre Beziehungen, 275–294. Elfriede Hecht, Graf Goluchowski als Außenminister von 1895–1900 (in bezug auf Russland und den Balkan). Unveröff. Dissertation Universität Wien 1951. Peter Hohenbalken (Hg.), Heinrich Lützow, Im diplomatischen Dienst der k. u. k. Monarchie. Mit einer Einleitung von Reinhard Wittram. Wien 1971. Heinz Jankowsky, Graf Agenor Maria Adam Gołuchowski der Jüngere und seine Balkanpolitik. In: Władysław S. Kucharski (Hg.), Polaci w austriackim parlamencie. W 130. rocznice˛ Klubu Polskiego / Polen im österreichischen Parlament. Zum 130. Jahrestag des Polenklubs. Lublin/Wieden´ 1997, 163–187. Erwin Matsch, Geschichte des Auswärtigen Dienstes von Österreich(-Ungarn) 1720–1920. Wien/Köln/Graz 1980. Walter Rauscher, Zwischen Berlin und St. Petersburg. Die österreichisch-ungarische Außenpolitik unter Gustav Graf Kálnoky 1881–1895. Wien/Köln/Weimar 1993. Helmut Rumpler, Die rechtlich-organisatorischen Rahmenbedingungen für die Außenpolitik der Habsburgermonarchie 1848–1918. In: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. 6/1: Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen. Wien 1989, 1–121. Peter Stein, Die Neuorientierung der österreichisch-ungarischen Außenpolitik 1895–1897. Ein Beitrag zur europäischen Bündnispolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert. Göttingen/Zürich/Frankfurt 1972. Marija Wakounig, »Das Sitzen zwischen zwei Stühlen«. Sozial-politische Entwicklungstendenzen in den Anfangsjahren der Ära Agenor Gołuchowski (1895). In: Studia Historica Slovenica 2/2 (2002), 387–397.

198

Marija Wakounig

Marija Wakounig, Ein Grandseigneur der Diplomatie. Die Mission von Franz de Paula Prinz von und zu Liechtenstein in St. Petersburg 1894–1898. Wien/Berlin 2007.

Ninja Bumann

Die »muslimische Frauenfrage« im habsburgischen Bosnien-Herzegowina: Diskurse, Akteur*innen und Verflechtungen mit und in der islamischen Welt

Im Dezember 1907 und Januar 1908 veröffentlichte die wichtigste muslimische Literaturzeitschrift im habsburgischen Bosnien-Herzegowina, Behar (Blüte), eine bosnische Übersetzung eines auf Osmanisch verfassten, polemischen Artikels von einer gewissen V. Saima binti Mustafa. Darin reagierte die Autorin, über die kaum etwas bekannt ist, auf die von Europäer*innen häufig geäußerte Kritik an muslimischen Traditionen und Bräuchen, besonders im Hinblick auf die Situation von Frauen und das Familienleben. Entgegen der in Europa vorherrschenden Ansichten erachtete sie Musliminnen im Vergleich zu Europäerinnen als bessergestellt. So schrieb sie: Es ist bekannt, dass in ganz Europa seltsame Ansichten über die Muslimin und das islamische Familienleben herrschen; ja den Muslimen wird sogar allgemein ein Familienleben abgesprochen, und die Frau betrachtet man als das unglücklichste Geschöpf. Dass die Muslimin jeglichen Rechts beraubt ist, verkünden die Europäer sowohl mündlich als auch schriftlich. […] Im Gegenteil, gerade bei uns [Muslim*innen] gibt es ein Familienleben, weil bei uns die Frau rechtlich verheiratet und die einzige Gebieterin [upraviteljica] in der Familie ist. Mit gutem Recht kann ich sagen, dass die muslimische Frau als glücklicher und zufriedener als die europäische Frau gelten kann; die islamische Frau betrachtet sogar mit Verachtung einige Bräuche in Europa, zum Beispiel die Ehe.1

In diesem Text benannte V. Saima nicht nur die Vorzüge, die die soziale Stellung der Muslimin mit sich bringen würde, sondern verwies damit implizit auf wichtige Charakteristika der damals polemisch diskutierten »muslimischen Frauenfrage«. Die gesellschaftliche Stellung der Frau und das Eheleben von Muslim*innen wurden nicht nur von Europäer*innen debattiert, sondern ebenso unter Muslimen und Musliminnen, die eine Anpassung der Familienverhältnisse und der Situation von Frauen an »moderne« Verhältnisse anstrebten, allerdings zumeist auf Basis islamischer Grundsätze. Dagegen lehnten traditionelle muslimische Eliten eine Veränderung der Geschlechterverhältnisse ab. 1 Mustafa, Zˇena, 257.

200

Ninja Bumann

Darüber hinaus zirkulierten die Debatten sowohl unter Muslim*innen als auch unter Nicht-Muslim*innen in einer trans-osmanischen Sphäre, die sich über Zentralasien, den Kaukasus, die Krim, das Osmanische Reich und die ehemals osmanischen Gebiete in Nordafrika und Südosteuropa – einschließlich des nun habsburgischen Bosnien-Herzegowinas – erstreckte.

Die muslimische Frau und Familie im habsburgischen Orientalismus Wie bereits Edward Said, der mit seiner 1978 erstmals erschienenen Studie zum Orientalismus den Grundstein der postcolonial studies legte, bemerkte, war die soziale Situation von muslimischen Frauen ein viel diskutiertes Thema im Orientdiskurs des westlichen Europas. Dazu gehörten die Topoi der Verschleierung, der Abgeschiedenheit der Frauen im Harem und der Polygamie, wobei diese vielfach mit sexuellen Fantasien verbunden wurden. In der Osteuropa-Forschung ist ausführlich diskutiert worden, ob im östlichen Europa ein vergleichbarer Orientdiskurs geherrscht habe. Kerstin Jobst hat etwa am Beispiel des Russländischen Reiches aufgezeigt, dass die Beschäftigung mit dem »Orient« Ausdruck eines internalisierten Unterlegenheitsgefühls gegenüber (West-)Europa gewesen sei. Daher könne nicht von dem Orientalismus, sondern nur von Orientalismen in der Mehrzahl gesprochen werden. Forschungen zur Habsburgermonarchie heben ebenfalls die Notwendigkeit hervor, die verschiedenen Varianten von Orientalismen zu unterscheiden. Der Ethnologe Andre Gingrich beispielsweise hat mit dem »Grenz-Orientalismus« (frontier orientalism) eine typisch österreichische Spielart des Orientalismus ausgemacht, in dem es neben dem Feindbild des »Türken« auch eine Darstellung des »guten Muslims« gebe, der etwa in Bosnien-Herzegowina anzutreffen sei. Johannes Feichtinger spricht vom »komplexen k.u.k. Orientalismus« und stellt heraus, dass es neben dem Rückgriff auf das Türkenfeindbild eine Darstellung der »islamisierten Südslawen« als »zivilisierbar« gegeben habe. Einen weiteren Unterschied zum klassischen Said’schen Orientalismus konnten Gingrich und Feichtinger dahingehend feststellen, dass erotische und sexualisierte Phantasien über muslimische Frauen eine geringe Rolle gespielt hätten. Auch wenn diese Motive im habsburgischen Bosniendiskurs nicht im Vordergrund standen, so zeigen einzelne Bosnienberichte doch, dass der Harem sowie die Verschleierung der muslimischen Frau durchaus einen erotischen Reiz des Verbotenen ausübten. Die Erotisierung der Topoi findet sich nicht nur bei Schriftstellern, sondern ebenso bei Schriftstellerinnen. Blanche von Kübeck schrieb in ihrem 1897 in der Illustrirten Curorte-Zeitung veröffentlichten Rei-

Die »muslimische Frauenfrage« im habsburgischen Bosnien-Herzegowina

201

sebericht zu Bosnien-Herzegowina etwa von den »verschleierten Türkenfrauen, aus deren weißer Umhüllung dann und wann gleich einem lockenden Räthsel ein gluthvolles Feuerauge blitzt«.2 Während also einige auch im Bosniendiskurs die Assoziierung des »Orients« mit Sexualität, Sinnlichkeit und Verführung aufgriffen, zeichneten andere ein nüchternes und positives Bild vom dortigen muslimischen Familienleben. Heinrich Renner schrieb in seinem 1896 erschienenen Bosnienreisebericht, »dass auch die Moslims trotz der Polygamie und der Abgeschlossenheit der Frauen Fleisch von unserem Fleisch sind, dass sich bei ihnen alles findet, was wir in unserem Volksleben beobachten. Nur ein grosser Teil der Laster mangelt und das ist entschieden kein Fehler«.3 Und der in Bosnien-Herzegowina tätige Lehrer Antun Hangi beschrieb den bosnischen Muslim als »zärtlichen Gatten« und »ausgezeichneten Familienvater«. Andere wiederum interpretierten die Verhüllung und Abgeschiedenheit der muslimischen Frau als Zeichen von Rückständigkeit, so etwa die Ethnologen Adolf Strausz und Amand Schweiger-Lerchenfeld, die den Harem als einen Ort der Entbehrung, Armut und Unsittlichkeit beschrieben.

Muslimische Stimmen zur »Frauenfrage« Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine von bosnischen Muslim*innen geführte Debatte über die Rolle von Frauen in einer »modernen« Gesellschaft. Osman Nuri Hadzˇic´, einer der bekanntesten Vertreter dieser sich »fortschrittliche Muslime« (napredni muslimani) nennenden Richtung, widersprach etwa in seiner 1894 veröffentlichten Schrift Islam i kultura (Islam und Kultur) in Europa weit verbreiteten Vorurteilen über das muslimische Familienleben. Die muslimische Frau sei keine Sklavin ihres Ehemannes, sondern könne frei über ihr eigenes Vermögen verfügen. Und nach dem Koran sei die Frau nicht benachteiligt, würde dieser doch ausdrücklich festlegen, dass Mann und Frau vor Gott gleich seien. Nicht zuletzt sei nach der Scharia die Ehe ein »Nest häuslichen Glücks, Friedens und der Liebe«.4 Bosnisch-muslimische Reformintellektuelle diskutierten aber nicht nur die Rolle der Frau in der Familie, vielmehr bewegte sie auch das Thema der Bildung für Frauen. Gerade an habsburgischen Schulen und Universitäten ausgebildete muslimische Reformer propagierten Bildung für muslimische Frauen – waren doch 1910 noch 99,7 % der bosnischen Musliminnen Analphabetinnen. Die Debatten erreichten einen Höhepunkt, als der damalige reis-ul-ulema (das reli2 Kübeck, Reisebilder, 8. 3 Heinrich Renner, Durch Bosnien, 75, zit. nach Ruthner, »Dark Continent«, 278. 4 Hadzˇic´, Islam, 82–94.

202

Ninja Bumann

giöse Oberhaupt der bosnischen Muslim*innen) Sulejman Sˇarac 1910 ein Komitee einrichtete, welches die Lage des islamischen Schulwesens überprüfen und Reformvorschläge entwickeln sollte. Ein wichtiger Punkt war hierbei Bildung für Frauen und Mädchen. Interessanterweise argumentierten sowohl die Befürworter von Bildungseinrichtungen für muslimische Mädchen als auch die Gegner auf derselben Grundlage: Beide Lager schrieben muslimischen Frauen die Rolle der Mutter und Hausfrau in der häuslichen Sphäre zu. Dabei meinten die einen, dass Bildung sie zu besseren Müttern werden lasse, während die anderen dachten, dass Schulen nicht die notwendigen Fertigkeiten für die Führung eines Haushalts vermitteln würden. In der Praxis führten diese Debatten aber zu keinen nachhaltigen Änderungen. Allerdings existierten zu diesem Zeitpunkt bereits einzelne Schulen für Musliminnen, wie etwa die 1897 errichtete Grundschule für muslimische Mädchen in Sarajevo oder die 1901 gegründete muslimische Lehrerinnenanstalt. Mehrere ihrer Absolventinnen beteiligten sich am öffentlichen Diskurs und publizierten Abhandlungen zur »muslimischen Frauenfrage«. Darunter war Sˇefika Bjelevac, die neben ihrer Anstellung als Lehrerin schriftstellerisch tätig war. 1913 veröffentlichte sie einen Artikel zu »Erziehung und Schule« (Odgoj i ˇskola), in dem sie die Wichtigkeit von Bildung für zukünftige Mütter hervorhob. Während sich diese Schriftstellerinnen für die Bildung von Musliminnen stark machten, kritisierten sie häufig spezifische »westliche« Praktiken und verteidigten muslimische Traditionen, wie etwa die Verschleierung der Frau. Wie auch die männlichen muslimischen Intellektuellen, verknüpften somit Schriftstellerinnen Reformansprüche mit islamischen Konzepten und Normen.

Pan-islamische und transimperiale Verflechtungen Die bosnischen Muslim*innen, welche die Situation von Frauen debattierten, bewegten sich in Diskursen aus der gesamten islamischen Welt. Denn Ende des 19. Jahrhunderts entstand überall in der trans-osmanischen muslimischen Welt von Nordafrika über das Osmanische Reich bis nach Russland ein Reformdiskurs, der eine Anpassung der Gesellschaft an »moderne« Entwicklungen auf islamischen Grundlagen forderte. Bosnische Muslim*innen lasen und zitierten beispielsweise die ägyptischen Intellektuellen Muhammad Abduh und Qasim Amin. Darüber hinaus wurden Texte und Beiträge von muslimischen Intellektuellen ins Bosnische übersetzt und in Bosnien-Herzegowina verbreitet, so etwa das Buch des ägyptischen Reformintellektuellen Muhammad Farid Wajdi, welches zunächst in bosnischer Übersetzung in der Zeitschrift Biser (Perle) und 1915 als separates Buch unter dem Titel Muslimanska zˇena (Die muslimische Frau) herausgegeben wurde. Auch die Bücher und Artikel von bekannten osmanischen

Die »muslimische Frauenfrage« im habsburgischen Bosnien-Herzegowina

203

Schriftstellerinnen, wie Fatma Aliye Topuz, Makbule Leman und Nigar Hanım binti Osman, wurden übersetzt und diskutiert. Wie Fabio Giomi aufgezeigt hat, verwiesen die Akteur*innen in ihren Texten auf eine geteilte muslimische Kultur – etwa durch die Verwendung einer islamischen Terminologie oder durch den Vergleich mit anderen muslimischen Gesellschaften. So veröffentlichte die bosnische Schriftstellerin Hatidzˇa "ikic´ 1910 in der bosnischen Zeitschrift Gajret (Eifer) eine »Bitte von Töchtern an ihre Väter« (Molba kc´eri ocˇevima), in der sie sich für die Förderung von Frauenbildung durch muslimische Väter aussprach. Darin führte sie die Musliminnen in Baku – dem kulturellen Zentrum der Muslim*innen im Kaukasus – als positives Vorbild für bosnische Musliminnen an. Solche transimperialen Verflechtungen wurden nicht nur von bosnischen muslimischen Intellektuellen gedacht und gelebt, sondern auch von habsburgischen Beamten. Diese beobachteten, wie muslimische Untertan*innen in anderen Imperien – wie etwa dem Russländischen, Britischen oder Französischen – verwaltet wurden. So orientierte sich die österreichisch-ungarische Verwaltung bei der Inkorporation der Schariagerichte, die für die Verwaltung von Ehe- und Familienangelegenheiten der muslimischen Bevölkerung zuständig waren, an der Organisation des islamischen Gerichtswesens in Algerien unter französischer Kolonialverwaltung. Zugleich gab es auch Ideentransfers in die umgekehrte Richtung: Die britische Kolonialverwaltung in Ägypten nahm beispielsweise bei der Einrichtung einer Ausbildungsstätte für Kadis (Richter an Schariagerichten) die bereits seit 1887 bestehende Scharia-Richterschule in Sarajevo als Vorbild. Dies veranschaulicht, dass Wissen und Vorstellungen über muslimische Frauen und Familien sowohl in den Debatten von bosnischen Muslim*innen als auch von nicht-muslimischen Österreicher*innen nicht nur innerhalb Bosnien-Herzegowinas oder der Habsburgermonarchie zirkulierten, sondern über deren Grenzen hinaus.

Literatur Harun Buljina, Empire, Nation, and the Islamic World. Bosnian Muslim Reformists between the Habsburg and Ottoman Empires, 1901–1914, unveröff. Dissertation, New York 2019. Dennis Dierks, Scripting, Translating, and Narrating Reform. Making Muslim Reformism in the European Peripheries of the Muslim World at the Turn of the 19th Century. In: Evelyn Dierauff/Dennis Dierks/Barbara Henning/Taisiya Leber/Ani Sargsyan (Hg.), Knowledge on the Move in a Transottoman Perspective. Dynamics of Intellectual Exchange from the Fifteenth to the Early Twentieth Century. Göttingen 2021, 157–222. Johannes Feichtinger, Komplexer k.u.k. Orientalismus. Akteure, Institutionen, Diskurse im 19. und 20. Jahrhundert in Österreich. In: Robert Born/Sarah Lemmen (Hg.), Ori-

204

Ninja Bumann

entalismen in Ostmitteleuropa. Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Bielefeld 2014, 31–63. Andre Gingrich, Grenzmythen des Orientalismus. Die islamische Welt in Öffentlichkeit und Volkskultur Mitteleuropas. In: Erika Mayr-Oehring/Elke Doppler (Hg.), Orientalische Reise. Malerei und Exotik im späten 19. Jahrhundert. Wien 2003, 110–129. Fabio Giomi, Making Muslim Women European. Budapest/New York 2021. Osman Nuri Hadzˇic´, Islam i kultura. Zagreb 1894. Kerstin S. Jobst, Wo liegt das russische Morgenland? Orient-Diskurs und imperiale Herrschaft im Zarenreich. In: Robert Born/Sarah Lemmen (Hg.), Orientalismen in Ostmitteleuropa. Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Bielefeld 2014, 65–84. Blanche von Kübeck, Bosnisch-herzegowinische Reisebilder. In: Illustrirte Curorte-Zeitung 22/1 (1897), 8. Nikola Ornig, Diversität und Anerkennung. Die Rezeption der muslimischen Bevölkerung Österreich-Ungarns in ethnographischen Werken. In: Kakanien Revisited (2004), https://www.kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/NOrnig1.pdf (31. 10. 2021). Clemens Ruthner, Habsburgs »Dark Continent«. Postkoloniale Lektüren zur österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert. Tübingen 2018. V. Saima binti Mustafa, Zˇena i obiteljski zˇivot u Islamu. S turskog preveo Ahmed Rasˇidkadic´. In: Behar 8/17 (1907), 18 (1908), 257–260, 273–276.

Kirsten Bönker

»Mit den Sowjets über den Jungfernstieg«: Die Städtepartnerschaft Hamburg – Leningrad als translokale Verflechtungsgeschichte des Kalten Krieges

»Mit den Sowjets über den Jungfernstieg« titelte die BILD-Zeitung in ihrer Hamburger Ausgabe vom 8. Oktober 1957. Der Umstand, dass mitten im Kalten Krieg »Sowjets« über Hamburgs vornehme Einkaufsmeile flanierten, schien der BILD-Zeitung offenbar so mitteilenswert und auch verkaufsträchtig, dass sie dem Besuch einer Leningrader Delegation in Hamburg eine Seite mit vier großen Fotografien und einem kurzen Bericht widmete. Auch an den beiden folgenden Tagen berichtete die BILD-Zeitung wie auch die übrige Hamburger Tagespresse über den Besuch aus Leningrad. Der Aufenthalt der Leningrader Abordnung bildete zusammen mit der Reise einer Hamburger Delegation um den Hafen- und Wirtschaftssenator Ernst Plate in die Neva-Metropole im Juni 1957 den Auftakt der Städtepartnerschaft zwischen der Hansestadt und der zweitwichtigsten Stadt der Sowjetunion. Diese erste und bis zur Perestroika einzige Partnerschaft zwischen einer bundesdeutschen und einer sowjetischen Stadt etablierte bis dato ganz ungewöhnliche Beziehungen über den Eisernen Vorhang hinweg. Sie wird daher im Folgenden als Teil einer translokalen Verflechtungsgeschichte des Kalten Krieges gedeutet, die jenseits der Außenpolitik auf Makroebene und bereits deutlich vor der sogenannten Neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt eine westdeutsch-sowjetische Annäherung praktizierte. Im Sinne der Neuen Politikgeschichte wird hier gefragt, mit welchen Interessen und sprachlichen Ritualen die Akteure diese Beziehungen in der Anfangszeit ausgestalteten und wie sie in der Öffentlichkeit inszeniert wurden.

206

Kirsten Bönker

Die sowjetische Umarmungsoffensive und die Hamburger »Politik der Elbe« Der Aufenthalt der vom Leningrader Stadtsowjet entsandten Delegation in der Hansestadt kam 1957 angesichts der internationalen Spannungen im Ost-WestKonflikt einer Sensation gleich. Die Bundesrepublik und die Sowjetunion hatten nicht einmal ein Jahr davor Ende 1956 ihre Botschafter entsandt und offizielle diplomatische Beziehungen aufgenommen. Die diplomatische Annäherung war neben der Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion ein wichtiges Ergebnis der Gespräche, die Bundeskanzler Konrad Adenauer im September 1955 in Moskau mit der sowjetischen Führungsspitze um Nikita S. Chrusˇcˇev geführt hatte. Dennoch blieben die Beziehungen mit der Sowjetunion nicht zuletzt wegen der deutschen Teilung und der verlorenen ehemaligen Ostgebiete ebenso angespannt, wie ihre Ausgestaltung innenpolitisch zwischen den politischen Parteien der Bundesrepublik äußerst umkämpft war. Daher dürften bereits in den Tagen des 26. und 28. März 1957 wohl viele Hamburger*innen ihren Augen nicht getraut haben, als auf dem noblen Hotel Atlantic an der Außenalster und am Rathaus sowjetische Flaggen wehten. Anlass war der Besuch des sowjetischen Botschafters Andrej A. Smirnov in der Hansestadt, der allerdings nicht der Stadt Hamburg galt. Vielmehr machte Smirnov Hamburgs Erstem Bürgermeister Dr. Kurt Sieveking in dessen Eigenschaft als Präsidenten des Bundesrats seine Aufwartung. Dabei übermittelte der sowjetische Botschafter aber Sieveking als Bürgermeister eine Einladung des Exekutivkomitees des Leningrader Stadtsowjets, die Hafenstadt an der Neva zu besuchen. Die Leningrader verbanden ihre Einladung, wie an verschiedener Stelle mehrfach betont worden ist, mit der Hoffnung, nicht nur die Freundschaft zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion zu festigen, sondern auch den Frieden in der Welt zu sichern.1 Auch dieser unverblümte außenpolitische Anspruch machte die Kontaktaufnahme der sowjetischen Seite mit dem Hamburger Senat im März 1957 zu einem Politikum ersten Ranges. Zudem ging sie angesichts der sowjetischen Entscheidungsstrukturen nicht auf eine lokale Leningrader Initiative zurück, sondern war Teil der neuen Strategie, die Nikita S. Chrusˇcˇev seit 1956 etablierte. Als regelrechte Charmeoffensive warb die sowjetische Außenpolitik fortan auch mit Mitteln der soft power (Joseph Nye jr.) und der cultural diplomacy um die Herzen und Köpfe der Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs. In Hamburg stießen die sowjetischen Annäherungsversuche auf großes Interesse. Der Hamburger Senat bekam jedoch die schwierige innen- und außen1 StAHH, 131-1, Senatskanzlei II, 4851, Schreiben des Exekutivkomitees des Leningrader Stadtsowjets an Dr. Kurt Sieveking, 22. 12. 1956; Die WELT, 26. 6. 1957.

»Mit den Sowjets über den Jungfernstieg«

207

politische Konstellation mit Blick auf den Umgang mit der Sowjetunion unmittelbar zu spüren. Zunächst ließ das Auswärtige Amt den Senat wissen, dass eine Reise offizieller Vertreter Hamburgs nach Leningrad »nicht sehr gebilligt« werde. Die Hamburger Senatsspitze reagierte allerdings selbstbewusst und wollte sich von Bonn nicht reinreden lassen. Senatssyndikus Dr. Wilhelm Drexelius versicherte dem Hafensenator Ernst Plate, dass der Hamburger Senat »eben nicht das Auswärtige Amt« sei und daher »das Recht« habe, »undoktrinär und sogar falsch« zu handeln.2 Plate musste er sowieso nicht davon überzeugen, dass Beziehungen zur Sowjetunion von Vorteil für Hamburg sein könnten. Ganz im Sinne des hanseatischen Kaufmannsgeists hatte Plate offenbar ohne ideologische Vorbehalte vor allem im Blick, dass Stadt und Hafen wirtschaftlich von Beziehungen zur Sowjetunion nur profitieren könnten. So verhandelte der Hafensenator zu diesem Zeitpunkt bereits mit Sovfracht, der sowjetischen Frachtgesellschaft, über eine Handelsniederlassung im Hamburger Hafen, um den Transithandel mit der Sowjetunion an Hamburg zu binden. Außerdem schlug Bürgermeister Sieveking der Bürgerschaft vor, für die Eröffnung eines sowjetischen Generalkonsulats in Hamburg zu werben. Diese außenpolitischen Ambitionen Hamburgs standen in der hanseatischen Tradition des selbstbewussten Selbstverständnisses. Die Stadt betrieb seit Jahrhunderten eine eigenständige Außenpolitik, sobald sie ihre wirtschaftlichen Interessen sichern wollte. Seit der Ära Kurt Sievekings, der von 1953 bis 1957 regierte, bezeichnete die »Politik der Elbe« die spezifische Wirtschaftsstrategie Hamburgs, die auf den europäischen Osten ausgerichtet war. Es galt, alte Handelsbeziehungen, die die Stadt durch den Zweiten Weltkrieg zusammen mit ihrem sogenannten »Hinterland« verloren hatte, trotz der ideologischen Konkurrenz im Ost-West-Konflikt über den Eisernen Vorhang hinweg wieder aufzubauen. Bis zum Krieg hatte der Handel mit Ostmittel- und Osteuropa einen Großteil des Güterumschlags des Hamburger Hafens ausgemacht. Insbesondere der Hafen litt unter den Embargo- und Export-Bestimmungen des Coordinating Committee on Multilateral Export Controls (CoCom), die einen Technologietransfer in die Staaten des Warschauer Pakts verhindern sollten. Die Hamburger entwickelten somit aus wirtschaftlichem Interesse früh eigenständige ostpolitische Initiativen, die die politische Frontstellung im Kalten Krieg infrage stellten. Die konzeptionelle Idee für die »Politik der Elbe« stammte vom erwähnten Hafensenator Ernst Plate. Zu seinen Vorstellungen passte die Leningrader Einladung hervorragend.3 So war es auch Plate als Hafenfachmann, der als erster offizieller Vertreter Hamburgs nach dem Zweiten Weltkrieg im Juni 1957 anstelle des Ersten Bürgermeisters nach Lenin2 StAHH, 131-1, Senatskanzlei II, 4851, Schreiben von Senatssyndikus Dr. Drexelius an Senator Plate, 19. 6. 1957. 3 Brill, Politik der Elbe, 7.

208

Kirsten Bönker

grad reiste und dort die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen als kommunikative Brücke in den Vordergrund stellte: »Unter Kaufleuten und Hafensachverständigen weht ein Wind, der das gegenseitige Verstehen erleichtert.«4

Sprachliche Rituale und mediale Inszenierungen Dass die Hamburger so unideologisch auf die sowjetische Kontaktaufnahme reagierten, war für die stark antikommunistisch geprägte politische Kultur in der Bundesrepublik untypisch. Noch 1956 hatte Adenauer die Sowjets als »Todfeinde« und 1957 den neuen Außenminister Andrej A. Gromyko als »Hunnen« bezeichnet.5 In dieser konfrontativen Situation war ein Ziel der Einladung an Hamburg, einen translokalen Kommunikationsraum zu schaffen, in dem, wenn auch gerahmt von den großen Themen und Begriffen, eine Art Diplomatie »von unten« betrieben werden konnte. Für die sowjetische Seite hatte diese Strategie eindeutig den Vorteil, dass sie ein stückweit an Bonn und dem strengen Auswärtigen Amt vorbei kommunizierte und auf lokaler Ebene Vertrauen gewinnen konnte. Dazu setzten die Leningrader von Anbeginn an die neuen sprachlichen Leitlinien Moskaus um und nutzten in der Kommunikation mit dem Hamburger Senat die zentralen propagandistischen Schlagworte: Neben »Verständigung«, »Freundschaft«, »Verbesserung der Beziehungen«, »Erfahrungsaustausch« und »Annäherung« rückte bald der Symbolbegriff des »Friedens« auch in dem translokalen Rahmen in den Vordergrund. Ähnlich betonte Bürgermeister Sieveking beim Empfang der Leningrader Delegation im Rathaus im Oktober 1957, dass der Besuch dazu dienen möge, die »Freundschaft zwischen den beiden Nationen« zu festigen. Elegant griff er das russische Sprichwort »Die Furcht hat große Augen« auf, um neben der Freundschaft ein weiteres sprachliches Symbol zu besetzen und die Beziehungen programmatisch aufzuladen. Aus den Augen der Furcht sollten nämlich solche »des gegenseitigen Verständnisses« werden. Verstehen könne man sich jedoch nur, wenn man sich gut kenne; und um sich besser kennenzulernen, müssten sich die »Grenzen mehr und mehr öffnen und ein kultureller und wissenschaftlicher Austausch« etabliert werden.6 Damit berührte er einen wunden Punkt, denn die Leningrader waren von den Moskauer Vorgaben abhängig, wie weit sie in den transnationalen Beziehungen gehen durften. So gab es immer wieder Phasen, in denen sie es bei freundlichen Absichtserklärungen beließen, konkrete Hamburger Angebote zum Austausch von Kunstausstellungen und Ähnlichem mo4 Hamburger Abendblatt, Der günstige Wind (dpa), 28. 6. 1957. 5 Der SPIEGEL, Nr. 17, 24. 4. 1958: Ein Asiat in Bonn, 18. 6 Die WELT, 11. 10. 1957: Sowjets speisten im Rathaus.

»Mit den Sowjets über den Jungfernstieg«

209

natelang nicht beantworteten. Dies lässt darauf schließen, dass das Außenministerium in Moskau im Hintergrund zögerte. So griff der Vorsitzende des Exekutivkomitees des Leningrader Sowjets, Nikolaj Smirnov, in seinem Schreiben, in dem er für den warmen Empfang der ersten Leningrader Delegation im Oktober 1957 in Hamburg dankte, die sprachlichen Vorlagen Sievekings zwar auf, blieb aber deutlich zurückhaltender. Er betonte, dass Leningrad sich von dem Austausch nicht nur »zunehmende Verbindungen zwischen den Städten« erhoffe, sondern auch eine bessere Verständigung und mehr Vertrauen zwischen den Völkern.7 Dieser erste Besuch einer Leningrader Delegation in Hamburg stellte in verschiedener Hinsicht eine Zäsur dar. Nicht nur, dass überhaupt eine Delegation eines Sowjets in einer deutschen Stadt zu Gast war und offiziell im Rathaus empfangen wurde. Auch die Hamburger Presse stand vor der Herausforderung, wie sie dem heimischen Publikum den Besuch aus dem Land der »Hunnen« und »Todfeinde« präsentieren sollte. Im Gegensatz zu dem Rat, den das Auswärtige Amt der Hamburger Delegation noch im Juni 1957 mit auf den Weg nach Leningrad gegeben hatte, nämlich den sowjetischen Gastgebern mitzuteilen, »dass wir Deutsche vor ihnen Angst hätten«8, bemühten sich die Hamburger Zeitungen, das Bild des bedrohlichen Sowjets mit menschelnden Darstellungen zu dekonstruieren. Obwohl die Begleittexte wiederholt leichtes Erstaunen über die »Menschlichkeit« und »Normalität« der sowjetischen Gäste suggerierten, konterkarierten die Journalisten die binäre Logik des Kalten Krieges, die der jeweils anderen Seite Aggressivität unterstellte. Damit richteten sie das Bild der »Sowjetmenschen« neu aus und zeichneten sie als neue Freunde aus Leningrad. Nur die Springer-Zeitung Die Welt berichtete zwar nicht ohne Sympathie, aber doch deutlich nüchterner als die anderen Presseorgane. Insbesondere verzichtete Die Welt auf die menschelnden Bilder, die die Aufmerksamkeit der Leser*innen auf die Gäste als Touristen, die die Schönheiten Hamburgs genossen, lenkten. Diese redaktionelle Entscheidung verweist darauf, dass die mediale Darstellung nicht auf die Beobachtung der Symbolpolitik zu reduzieren ist, sondern auf beiden Seiten selbst ein wichtiges Element der symbolpolitischen Inszenierung darstellte. Die sowjetischen Behörden werteten alle Berichte über die Leningrader Delegation akribisch aus und waren mit der Darstellung insgesamt zufrieden. Verständigung, Freundschaft und Vertrauen blieben als sprachliche Marker wichtig, aber im Verlauf der 1960er Jahre rückte die Selbstrepräsentation der Sowjetunion als Friedensstifterin sprachlich in den Vordergrund. Einer der Nachfolger Smirnovs an der Spitze des Leningrader Sowjets, Aleksandr A. Sizov, 7 Central’nyj Gosudarstvennyj Archiv Sankt-Peterburga, f. R-7384, op. 37a, d. 19, l. 71. 8 StAHH, 131-1, Senatskanzlei II, 4851, Schreiben von Senatssyndikus Dr. Drexelius an Senator Plate, 19. 6. 1957.

210

Kirsten Bönker

verdeutlichte dies in seinen Schreiben ab 1966. In ihrer Eigenschaft als Friedensstifterin zöge die Sowjetunion, wie es Sizov 1968 – kurz nach der Moskauer Invasion in Prag – exemplarisch in einem Interview mit der Hamburger Wochenzeitschrift Blinkfüer ausdrückte, »den Kampf auf dem Fußballfeld dem Kampf auf dem Schlachtfeld« vor. Auf der außenpolitischen Ebene wurde die Friedensrhetorik häufig von dem Vorwurf begleitet, dass in der Bundesrepublik revanchistische und neonazistische Kräfte an Einfluss gewönnen. Dennoch lehre die Erfahrung, so Sizov, dass Freundschaft möglich und für beide Länder vorteilhaft sei. Um Kriege zu vermeiden, »seien die persönlichen Kontakte so wichtig«. Gleichzeitig unterstrich Sizov die sowjetische Friedensliebe mit dem Hinweis auf die extrem hohen Opferzahlen, die der Krieg gerade Leningrad durch die deutsche Blockade gekostet habe.9 Der Aspekt, für den Frieden in Europa und der Welt zu wirken, stand auf deutscher Seite zunächst eher im Hintergrund. Dass er auch in den Hamburger Schreiben zunehmend häufiger auftauchte, war also möglicherweise das Ergebnis der Suche nach einer gemeinsamen Sprache.10 Zwar ist es vor dem Hintergrund der Krisen im Verlauf der 1960er Jahre um den abgeschossenen U-2Piloten Powers, um Berlin, Kuba und Prag nicht verwunderlich, dass »Frieden« ein beidseitiges Bekenntnis war. Allerdings drückte der Begriff nicht dieselben Intentionen aus. Da die Hamburger den Begriff mit dem Anspruch auf Freiheit als notwendige Voraussetzung für Frieden verbanden, ist der semantische Wandel nur teilweise als Annäherung zu verstehen, sondern eher als Hybridisierung: Die Formen der Kommunikation wurden ähnlicher, aber beide Stimmen und kulturelle Differenzen, wie es in Anlehnung an Michail Bachtin formuliert werden könnte, blieben weiterhin hörbar. Dennoch wurde der Wille, eine gemeinsame Sprache zu finden, in den folgenden Jahren auf beiden Seiten wiederholt deutlich. 1970 weilte zum Beispiel eine Gewerkschaftsdelegation aus Leningrad in Hamburg. Ein deutscher DGB-Vorstandsvertreter nahm das Treffen zum Anlass, den Status Berlins und die sowjetische Haltung in der Deutschlandfrage zu kritisieren. Diplomatisch entgegnete der stellvertretende Vorsitzende der sowjetischen Gewerkschaft Petr T. Pimenov, man sei wegen der Kontakte zu Leningrad in Hamburg. Er betonte, dass »auch ›Kalte Krieger‹Reden die uns noch trennenden Gewässer nicht wieder zu Eis frieren lassen« würden. Von Hamburg würden sie jedenfalls »als Freunde scheiden«.11 Angesichts solcher Worte überrascht es nicht, dass sich die Hamburger auch in den 9 StAHH, Senatskanzlei II, 6706: Blinkfüer, 21.11.68, Interview mit Leningrads Oberbürgermeister Sizov, 1–2. 10 StAHH, 131-1, Senatskanzlei II, 6706: Staatliche Pressestelle Hamburg, 1. 11. 1972: Rege Beziehungen zwischen Leningrad und Hamburg von Regierungsinspektor Jürgen Kirmse, 1. 11 StAHH, 131-1, Senatskanzlei II, 6706: Vermerk über Besuch einer russischen Gewerkschaftsdelegation in Hamburg, 2. 6. 1970, 2.

»Mit den Sowjets über den Jungfernstieg«

211

folgenden Jahren bemühten, durch Austausch und Kontakte Freundschaft, Verständnis und Vertrauen zu mehren. Damit verfolgten sie eine translokale Strategie des Wandels durch Annäherung.

Quellen Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 131-1, Senatskanzlei II, 4851, 6706. Central’nyj Gosudarstvennyj Archiv Sankt-Peterburga, f. R-7384. Hamburger Abendblatt, Der günstige Wind (dpa), 28. 6. 1957. Der SPIEGEL, Nr. 17, 24. 4. 1958: Ein Asiat in Bonn, 18. Die WELT, 26. 6. 1957. Die WELT, 11. 10. 1957: Sowjets speisten im Rathaus.

Literatur Hartmuth Brill, Die »Politik der Elbe«: Hamburgische Ostpolitik in der Ära Sieveking (1953–1958). Norderstedt 2014.

Susanne Schattenberg

Von Schlössern und Touristen, oder: Wie Österreich in die EWG wollte und sowjetisches Gas bekam (1966–1968)

Das Schloss am See Schloss Hernstein ist heute ein Hotel und wirbt mit seiner romantischen Lage im Wiener Wald am See für Traumhochzeiten und Events. Kein Hinweis findet sich jedoch darauf, dass hier einst europäische Geschichte geschrieben wurde. Im September 1967 logierte 14 Tage lang eine elfköpfige sowjetische Delegation, die sowjetisches Erdgas für österreichische Stahlrohre bot. Auch wenn im Schloss am See der Durchbruch nicht gelang, sondern erst im Januar 1968 in Moskau, und auch wenn die Delegation unter Leitung des stellvertretenden sowjetischen Außenhandelsministers Nikolai Osipov seit 1966 bereits mit Italien verhandelte, war Österreich das erste westeuropäische Land, das neun Monate später, am 1. Juni 1968, einen Vertrag über die Lieferung von sowjetischem Erdgas unterschrieb und dieses nur weitere drei Monate, ab 1. September 1968, tatsächlich bezog. Die Vorreiterrolle, die Österreich dabei spielte, das Zeitalter des »roten Gases« in Westeuropa einzuleiten, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, wenngleich dies heute kaum bekannt ist. Welche Rolle das romantische Schloss am See für den Verhandlungserfolg spielte, mag natürlich hinterfragt werden. Gespräche hatte es seit Herbst 1966 auf verschiedenen Ebenen von Wirtschaftsvertretern und Regierungsrepräsentanten gegeben. Aber im Schloss traf zum ersten Mal die eigens zusammengestellte sowjetische Delegation mit sämtlichen Fachleuten ein, um intensiv und am Stück mit der österreichischen Seite zu verhandeln. Es wird kein Zufall gewesen sein, dass die österreichische Regierung die sowjetische Delegation in einer Idylle im Wiener Wald unterbrachte. Der Ort drückte Wertschätzung aus und bot gleichzeitig die Möglichkeit, fernab von neugierigen Augen und Ohren zu informellen Treffen und abendlichen Gesprächen zusammenzukommen. Was hier noch alles geschah – wir wissen es leider nicht, da es offenbar keine Überlieferung gibt und die offiziellen Verhandlungen dann doch in Wien stattfanden: Die vier Arbeitsgruppen zu Gas, Kredit, Röhren und Rechtsfragen trafen sich in Wien in den Unternehmenszentralen der Österreichischen Mineralölverwaltung (ÖMV), die das Gas an-

214

Susanne Schattenberg

kaufen und weiter verteilen würde, und der Vereinigten Österreichischen Eisenund Stahlwerke Linz (VÖEST), die die Rohre liefern würden, oder zu Gesprächen mit Bundeskanzler Josef Klaus in dessen Residenz sowie mit dem Vizekanzler Fritz Bock in dessen Handelsministerium. Weder ist bekannt, welchen Besuch die Herren – denn es waren alles Herren – auf Hernstein/Berndorf empfingen und welche Gelage sie gegebenenfalls feierten, noch welche Bekanntschaften sie machten, welche Eindrücke sie sammelten, welche Freundschaften sie gegebenenfalls schlossen. Aber elf sowjetische Männer 14 Tage in einem romantischen Schloss zu Gast bei zwei Großkonzernen, die auf den Jahrhundertdeal hofften, lassen viel Raum für Spekulationen …

Ein Präsident in Linz Dem vorausgegangen war ein nicht weniger historischer Besuch des sowjetischen Präsidenten Nikolai Podgorny in Wien im November 1966. Nach Nikita Chruschtschows Besuch in Wien 1960 war es der erste hochrangige sowjetische Besuch, der erste Auslandsbesuch Podgornys zudem – noch dazu in Begleitung seiner Tochter Natascha, der die Presse auf Schritt und Tritt folgte. Historisch waren aber weder das viel beachtete Damenprogramm noch der Fußmarsch des sowjetischen Präsidenten von der Wallnerstraße zum Ballhausplatz. Historisch war die Arbeitssitzung am 15. November 1966, bei der der sowjetische Präsident unmissverständlich klar stellte, dass die Sowjetunion einen Handelsvertrag Österreichs mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) nicht tolerieren würde. Der Trostpreis, den Podgorny zwei Tage später am Stammsitz der VÖEST in Linz offerierte, war – sowjetisches Erdgas: Statt der wirtschaftspolitischen Assoziierung mit der EWG erhielt Österreich den Anschluss an die Pipeline Bratstvo (Bruderschaft). Auch das ist kaum bekannt: dass Wien Europa wollte und rote Energie bekam. Bereits zuvor hatte der sowjetische Außenminister Andrei Gromyko dem österreichischen Außenminister Lujo Toncˇic´-Sorinj in New York erklärt, dass in den Augen Moskaus eine Bindung an Brüssel gegen den österreichischen Staatsvertrag und das Neutralitätsgebot verstoße. Eine »kalte Dusche für Österreich«, urteilte die Presse, die »Illusion« »sei ausgeträumt«, der harmlose Antrittsbesuch geriet zur »Schlacht um Österreich«.1 Allerdings, so mutmaßten die Medien, galt die Angst weniger der EWG als der Gefahr, dass Österreich ganz unter die Kontrolle der »reaktionär-aggressiven« BRD geraten könne; die in der Ablehnung enthaltene Warnung vor einem Rendezvous mit 1 OeSTA, AdR, BMfaA, Sektion II-pol, 1967, USSR 1, Kiste 1207, Mappe Podgorny-Besuch, Presseecho, darin: Kleine Zeitung Graz (Beil. 135 / 22. 11. 1966); Vorarlberger Nachrichten (Beil. 121 / 22. 11. 1966).

Wie Österreich in die EWG wollte und sowjetisches Gas bekam

215

Brüssel hätte weniger Österreich als den sowjetischen Satellitenstaaten gegolten, die begierig ihre Fühler nach Westen ausstreckten. So oder so statuierte die Sowjetunion an Österreich ein Exempel, das so deutlich wie simpel lautete: Bis hier und nicht weiter! Ein Kapitel wurde zu-, ein anderes dafür aufgeschlagen: das einer grenzüberschreitenden Erdgaspipeline – europäische Wirtschaftsintegration ›à la soviétique‹!

Touristen in Moskau War das sowjetische Erdgas politisch nur ein Trostpreis, so stellte das Röhrengeschäft für die österreichische Stahlbranche den Hauptgewinn dar. Die Stahlindustrie befand sich in einer »defizitären«, »katastrophalen« Lage und suchte händeringend nach Aufträgen, seitdem die sowjetischen Stahlunternehmen sie von den Märkten im Iran, in der Türkei, in Indien und Nordkorea verdrängten. Kein Wunder also, dass es der charismatische, 1967 tragisch verunglückte Geschäftsführende Direktor der VÖEST, Rudolf Lukesch war, der die Idee eines Gas-Pipeline-Deals mit aller Kraft vorantrieb. Er bildete ein Gespann mit Ludwig Bauer, dem Generaldirektor der ÖMV, der seinerseits dem sowjetischen Gas keineswegs abgeneigt war. Tatsächlich befand sich Österreich nicht nur in einer Stahl-, sondern auch in einer Energiekrise, denn die niederösterreichischen Gasfelder gingen zur Neige und Ersatz musste dringend her. Lukesch wollte so lange warten, bis sich die Politiker näherkamen und endlich offizielle Einladungen an sie ergingen. Getarnt als Touristengruppe reiste er mit einer Delegation der VÖEST Mitte Oktober 1966, einen Monat vor Podgornys Reise nach Wien, über Leningrad nach Moskau, um dort über die Beteiligung am Bau einer Pipeline Sowjetunion-Italien zu sprechen. Sicherheitshalber ließ Lukesch sich vom österreichischen Botschafter Walter Wodak ankündigen und auch Inturist über die wahren Absichten der vorgeblichen Touristen informieren. Als Anfang Dezember 1966, nur zweieinhalb Wochen nach Podgornys Abreise aus Wien, Vizekanzler Bock nach Moskau kam, lud sich Lukesch erneut mit seinem Generaldirektor Herbert Koller und Kollegen Bauer von der ÖMV selbst nach Moskau ein. Ein erstes Angebot über Stahlrohre hatte er bereits vorher durch den österreichischen Botschafter überbringen lassen. Als sie am 9. Dezember 1966 in Moskau mit den stellvertretenden Ministern für Handel, Michail Kusmin, und Gas, Aleksei Sorokin, zusammentrafen, eröffneten diese ihnen eine Perspektive, die ihre Herzen vermutlich höherschlagen ließ und ihr erstes Angebot obsolet machte: Die Beteiligung am Bau einer 5.000 Kilometer langen Pipeline von Sibirien nach Österreich, denn um Italien und Österreich zu beliefern, reichten die europäischen Gasvorräte der Sowjetunion nicht. Die österreichischen Rohre würden durch einen Kredit der Österreicher finanziert, den die Sowjetunion mit

216

Susanne Schattenberg

Gaslieferungen tilgen würde. 520.000 Tonnen Röhren – das war wahrhaft ein Hauptgewinn und sollte 1968 der beste Abschluss werden, den die VÖEST je erzielt hatte.

Ein Bayer in Wien Elektrisiert von diesem Angebot war auch der bayerische Wirtschaftsminister Otto Schedl, den in München ähnliche Probleme wie die Regierung in Wien plagten: Die bayerischen Gasfelder gingen zur Neige und billige Energie wurde dringend benötigt, um das halb-agrarische Bayern endlich ins Industriezeitalter zu katapultieren. Die Alpenländer verband nicht nur die geographische Lage – einander nah, aber von Seehäfen und Energiequellen weit entfernt –, sondern auch zahlreiche Männerfreundschaften, die Schedl mit Bruno Kreisky oder auch Rudolf Lukesch pflegte. Genaugenommen war es sein Anwalt und Freund, Hans Heinrich Ritter von Srbik, der für Schedl die Strippen zog und diskret Kontakte herstellte – ihn im selben Hotel wie Kreisky urlauben ließ, damit sich die Herren dort unbeobachtet über Energiefragen austauschen konnten, für ihn mit dem österreichischen Finanzminister Stephan Koren ein Dinner in Salzburg arrangierte oder ihn beim Opernball in der Loge des Finanzexperten Georg ZimmerLehmann platzierte. Ritter von Srbik hatte auch für Schedl im Sommer 1966 den Kontakt zur ÖMV hergestellt, als Österreich begann, mit Algerien über Gaslieferungen aus der Sahara zu verhandeln, an denen Schedl äußerst interessiert war. Während der Bayer von einem Konsortium mit Italien, Österreich, der Schweiz, ˇ SSR träumte, das 15 Milliarden Baden-Württemberg, Jugoslawien und der C Kubikmeter Saharagas im Jahr würde abnehmen können, scheiterten die Pläne bereits im Herbst 1966 an der Frage, wer den Pipeline-Bau in der Wüste finanzieren würde und wie das Gas über das Mittelmeer käme. Umso begieriger war Schedl, über Ritter von Srbik einen Fuß in die Tür zu den Verhandlungen über sowjetisches Gas zu bekommen. Doch sein sowohl über den österreichischen Botschafter Wodak als auch durch Lukesch und Bauer und schließlich die italienische Energiegesellschaft Ente Nazionale Idrocarburi (ENI) unterbreitetes Anliegen, der ÖMV bzw. ENI doch etwas mehr Gas zu verkaufen, um dies nach Bayern weiterzuleiten, beschied Moskau mit einem eindeutigen ›Njet!‹. Selbst ein nur mittelbares Geschäft mit der ›revanchistischen‹ BRD galt im Politbüro als nicht opportun, auch wenn Schedl nicht für Bonn sprach und die deutsche Bundesregierung allenfalls sporadisch informierte. Doch der Bayer gab nicht auf und lancierte über Wien und Ritter von Srbik zweieinhalb Jahre lang immer wieder neue Versuche, die UdSSR doch noch zu Gaslieferungen nach Bayern zu bewegen, bis er endlich Erfolg hatte und im Juni 1969 reguläre Verhandlungen aufnehmen konnte – natürlich in Wien.

Wie Österreich in die EWG wollte und sowjetisches Gas bekam

217

Kompressoren in Baumgarten Derweil plagten die Herren Koller von der VÖEST und Bauer von der ÖMV in Hernstein/Berndorf zwei große Fragen: Woher sollten sie die enorme Menge an Stahlrohren nehmen, die sie über sieben Jahre verteilt liefern wollten, während Osipov die komplette Bestellung binnen zwei Jahren verlangte? Und wie konnten sie ihrerseits die UdSSR dazu bewegen, das dringend benötigte Gas bereits ab 1968 über die Bratstvo-Pipeline einzuspeisen und damit den »kleinen Plan« durchsetzen, während Osipov erklärte, sie könnten Österreich frühestens 1971 mit der transeuropäischen Leitung nach Italien versorgen und damit nur dem »großen Plan« zustimmen? Während bei den Gasverhandlungen mit Italien und Frankreich der Preis immer die strittigste Frage war, über die freilich auch Moskau und Wien lange feilschten, war es hier in erster Linie die Frage nach den zwei Lieferterminen, die dafür sorgte, dass es in den 14 Tagen in Hernstein/ Berndorf, trotz der romantischen Idylle, nicht zu einem Durchbruch kam. Dafür durften sich die deutschen Stahlunternehmer von Thyssen und Mannesmann an den Verhandlungen im Wiener Wald erfreuen. Während Schedl nicht eingeladen war, da er kein Gas bekommen sollte, waren die deutschen Röhrenvertreter im Schloss am See gern gesehene Gäste, da sie die VÖESTaus der Bredouille retteten, nicht selbst ausreichend schnell und genügend Rohre für den sowjetischen Bedarf produzieren zu können, und deren Zulieferung von Osipov akzeptiert wurde. Und so zogen sich zwar einerseits die Verhandlungen vom Herbst 1966 bis zum Sommer 1968 über fast zwei Jahre, waren aber letztlich vom beidseitigen Druck bestimmt, hier die Energie- und Stahlkrise, dort das Röhrendefizit schnellstmöglich zu beenden. Sowohl Osipov als auch Koller und Bauer konnten schließlich ihre Maximalforderungen durchsetzen: die Rohre bis 1970 zu erhalten und dafür noch 1968 mit der Gaslieferung zu beginnen. Innerhalb rekordverdächtiger Bauzeit wurde Österreich an die Bratstvo-Gasleitung angeschlossen. Pünktlich zum 1. September floss das erste Gas und zur feierlichen Einweihung der Kompressorenstation in Baumgarten am 1. November 1968 reiste der sowjetische Gasminister Alexey Kortunov an, um sich dort mit dem österreichischen Verkehrsminister Ludwig Weiß medienwirksam die Hände zu schütteln. Österreich hatte statt eines Abkommens mit Brüssel eine Verbindung nach Sibirien bekommen. Baumgarten war die neue Schnittstelle zwischen Ost und West – ein weiterer historischer Ort von europäischer Bedeutung, den kaum einer kennt.

218

Susanne Schattenberg

Der Brückenkopf nach Osten Trotz dieser Vorreiterrolle, die Österreich spielte, mit der es allen zeigte, dass ein Gas-Röhren-Geschäft mit der Sowjetunion nicht nur möglich war, sondern auch funktionierte, so dass sich die BRD und Italien beeilten, nun auch endlich zum Zug zu kommen, und die Regierung in Paris nervös wurde, weil sie zu lange gezögert hatte und fürchtete, nichts mehr abzubekommen, trotz alledem wurden bald in österreichischen Wirtschaftskreisen und Medien schwere Vorwürfe erhoben, Wien hätte einen zu hohen Gaspreis akzeptiert. Tatsächlich wurden alle folgenden Verträge, auch die weiteren österreichischen, zu einem günstigeren Abnahmepreis abgeschlossen. Das änderte aber nichts an der grundsätzlichen Bedeutung dieses ersten Deals wie auch Österreichs selbst. Verwundert vermeldete die österreichische Presse, dass die Medienpräsenz, die Österreich in der Sowjetunion genösse, nicht der tatsächlichen Größe des Landes entspräche und die Bedeutung der Alpenrepublik als »neutrale Brücke« zwischen Brüssel und Moskau »fast zu hoch«2 eingeschätzt würde. Gleichwohl befand der österreichische Botschafter in Moskau, dass Österreich immer eine »special relationship«3 mit der Sowjetunion unterhalten hätte. Wie einst Chruschtschow mit dem Staatsvertrag wolle die Führung in Moskau offenbar diesmal mit der transeuropäischen Pipeline an Wien ein Exempel statuieren. Die Rechnung ging auf: Wien bekam statt der Assoziation mit Brüssel den Anschluss an die »Bruderschaft« – und alle anderen folgten begierig. Angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Jahr 2022 wird heute als Geißel empfunden, was einst im Märchenschloss im Wiener Wald begann: der Aufbau einer transnationalen Energieinfrastruktur, die sich nicht kurzfristig entflechten lässt.

Quellen Österreichisches Staatsarchiv (OeSTA), Archiv der Republik (AdR), Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten (BMfaA), Sektion II-pol, 1966, USSR 1, Box 1074 1967, USSR 1, Box 1207; USSR 2, Box 1208, 1968, USSR 2, Box 1404 1969, USSR 2, Box 1552 2 OeSTA, AdR, BMfaA, Sektion II-pol, 1967, USSR 1, Box 1207, Mappe Podgorny-Besuch, Presseecho, darin: Die Wochenpresse (Beil. 120 / 23. 22. 1966). 3 OeSTA, AdR, II-pol, 1969, USSR 2, Box 1552, Botschafter Wodak in Moskau an Wien: Besuch des Nationalratspräsidenten Dr. Alfred Maleta, 19. 3. 1969.

Wie Österreich in die EWG wollte und sowjetisches Gas bekam

219

Archiv der Österreichischen Industrieholding Aktiengesellschaft, Unternehmensdokumente, ÖMV AG, Box 135, Box 136 Unternehmensdokumente, VÖEST, Box 325 Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv E˙konomiki (RGAE˙), f. 413, op. 31, d. 1104, 1675, 1926, 2294, 2985. Bayrisches Hauptstaatsarchiv, Nachlass Otto Schedl, Akten 109, 130, 247, 253, 255.

Literatur Thane Gustafson, The Bridge. Natural Gas in a Redivided Europe. New Haven 2020. Per Högselius, Red Gas. Russia and the Origins of European Energy Dependence. Basingstoke 2013.

Stefan Rohdewald

Das Auge des Sturms: Zugänge zu transosmanischen Dynamiken am Beispiel der Krim

Mit dem Anliegen, das Krimkhanat nicht nur als am Rande der Imperien oder als osmanischen Vasallen ohne eigenen Handlungsspielraum zu verstehen, sind bereits mehrere wichtige Beiträge erschienen. Die jüngste Monographie von Kerstin Jobst ragt dabei heraus. In dem vorliegenden kurzen Text soll dennoch eine überregionale, transosmanische Kontextualisierung versucht werden, die die Krim im Zentrum und als Teil langfristiger sowie weiträumiger und über politische Grenzen hinweg reichender gesellschaftlicher Vernetzungen betrachtet. Das Schwerpunktprogramm Transottomanica der Deutschen Forschungsgemeinschaft untersucht gesellschaftliche und (trans-)kulturelle Verflechtungen zwischen dem Moskauer Reich bzw. dem Petersburger Imperium, Polen-Litauen, dem Osmanischen Reich und Persien von der frühen Neuzeit bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die betrachteten Verflechtungen konstituieren keine abgrenzbare Geschichtsregion, sondern stellen einen bewusst an den Rändern unscharf gefassten Raum dar, der über Jahrhunderte hinweg einen wichtigen Umschlagplatz für wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Austausch von wechselnder Dichte und Intensität zwischen der Indian Ocean World und der Welt des Mittelmeers darstellte. Die in den Verflechtungen entstandene überregionale Migrationsgesellschaft prägte alle: Auch die Situation der auf den ersten Blick ›Immobilen‹ wurde durch die Mobilität der anderen verändert. Insbesondere die Erforschung der Krim und der mit ihr verbundenen transosmanischen Kontexte verspricht, Aufschluss zu geben über soziale Praktiken der Mobilität und Migration, die sozialräumliche Bedeutung und eine longue durée aufweisen.

222

Stefan Rohdewald

Transosmanische Migrationsgesellschaft: weg von der Nationalgeschichte Weder die Geschichte heutiger (National-)Staaten noch die früherer Imperien sollte isoliert von ihren Nachbarn betrachtet werden. Die ukrainischen oder belarusischen Regionen etwa sind nicht aus ihrem historischen Kontext der Verflechtung mit den übrigen früheren Gebieten des Großfürstentums Litauen und Polens zu lösen. Auch sind sie nicht getrennt von den benachbarten osmanischen Vasallen, das bedeutet dem Krimkhanat, den Fürstentumern der Moldau und der Walachei, dem gesamten Osmanischen oder dem Russländischen Reich zu verstehen. Ebenso hat die Berücksichtigung der Tataren im Rahmen einer ukrainisch perspektivierten Geschichte inzwischen eingesetzt. Tatarische wie auch jüdische oder armenische und griechische Geschichte ist aber zudem als konstitutiver Teil einer transnationalen europäisch-nahöstlichen Verflechtungsgeschichte zu betrachten. Daher ist es das Ziel des Schwerpunktprogramms Transottomanica, von einzelnen Herrschaftsverbänden oder Staaten ausgehende Geschichtsentwürfe als Teil großräumiger, transimperialer Konkurrenzen und Kooperationen umzukonzipieren. Rund um das Schwarze und Kaspische Meer festigten sich das Osmanische und das Moskauer Reich als postmongolische und posttimuridische Imperien zwischen dem Steppensystem der Goldenen Horde und ihrer Nachfolgekhanate, Persien und dem schrumpfenden Byzantinischen Reich sowie dem aufstrebenden litauischen Großfürstentum. Die Erweiterung Litauens nach Kiew und in die Steppe unter Witold/Vytautas im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts erfolgte auf Kosten der Goldene Horde, aber gemeinsam mit dem Dschengiziden Toktamisch (tat. Tuqtamıs¸), dem Nachkommen Dschingis Khans in der Auseinandersetzung mit dem Heerführer Timur (türk. Temür) und dem Deutschen Orden: Toktamisch und seine Anhänger hatten sich nachdem es ihnen nicht gelungen war, die Macht über die Goldene Horde zu erhalten, 1395 ins Großfürstentum geflüchtet, um von dort aus Timur zu bekämpfen. Seither leben bis heute muslimische Tataren in Litauen, Polen und Belarus. In der frühen Neuzeit zählten sie zum (nicht gänzlich gleichberechtigten) privilegierten Adel und übernahmen die polnische oder die belarusische Umgangssprache. Wie in Polen-Litauen waren in Russland muslimische Tataren bei der Sicherung der großen Grenzgebiete hilfreich, veränderten aber auch die Gesellschaft im Kern- und im Hinterland: Tataren wurden später im ehemals Nowgoroder Gebiet angesiedelt; einige wurden in den Bojarenrang, in den Rang von Großgrundbesitzern, aufgenommen. Auch mit der Expansion Litauens und Polens veränderte sich das gesamte Gemeinwesen im Kern, und nicht nur in den Grenzräumen: Der wachsende Einfluss von Magnaten, die gerade in den neuen Gebieten großen Landbesitz erwarben, zeigte

Das Auge des Sturms

223

sich besonders im Zentrum Polen-Litauens. Ausgeprägte Mehrsprachigkeit und konfessionelle sowie religiöse Heterogenität vor allem in den Städten waren hier und in den Nachbarreichen von Anfang an charakteristisch für die Gesellschaft im gesamten transosmanischen Fokus. Die Teilhabe von Turkvölkern von der Wolga bis zur Krim an den nahöstlichosteuropäischen Reichen reicht über ihre Rolle bei der Expansion der Personenverbandstaaten bis hin zur retrospektiven Erinnerungskultur: Im anonymen risale-i Tatar-i Leh (Erzählung der Tataren Polens) von 1558, das Sultan Süleyman über die Tataren in Polen durch einen dieser Tataren, der sich auf Pilgerreise in Istanbul befand, unterrichten sollte, findet sich der Hinweis auf Noahs Sohn Japhet als angeblicher Urahn der Slawen. Dieser Verweis ist ganz analog zur christlichen hoch- und spätmittelalterlichen Chronistik in Polen und in der Rus: Wenn da wie dort gerade die in der byzantinischen wie in der arabischen Geschichtsschreibung verbreitete biblische Genealogie an den Anfang der je eigenen Geschichte gestellt wurde, so stand diese diskursive Praxis in einem übergreifenden, transosmanischen Rahmen zirkulierender und reproduzierter Konzepte vom Mittelalter bis zum Ende der frühen Neuzeit.

Die Krim als Scharnier transimperialer Geschichte vor 1700 In dem transosmanischen Zusammenhang überregionaler Verflechtung wird das Krimkhanat von der (multiplen) Peripherie folglich mit Gewinn in eine zentrale Position als interregionaler Kommunikationsknotenpunkt gerückt. Wegweisend für eine ukrainisch-osmanische Perspektive waren bereits die Forschungen von Omeljan Pritsak etwa mit einem Aufsatz zum osmanisch-kosakischen Bündnis von 1648. Dariusz Kołodziejczyk hat mit Quelleneditionen zu den Beziehungen der Khane und der osmanischen Sultane mit Polen-Litauen neue Maßstäbe gesetzt. Zahlreiche Forschungsbeiträge zeigen, dass Kaufleute nirgends isoliert von der übrigen Gesellschaft lebten – sie standen überall im Zentrum der transimperialen Migrationsgesellschaft. Eine Annäherung an den Moskauer Adel und seine Integration in die Moskauer Gesellschaft wurde insbesondere für die Surozˇane und ihre Nachfahren beobachtet. So wurden Fernhändler genannt, die von Sudak/Surozˇ auf der Krim aus im Handel mit der Goldenen Horde, Byzanz und dem Nahen Osten tätig waren. Die Krimtataren waren in der Lage, den Schwarzmeer- und Kaukasushandel im Osmanischen Reich durch Überfälle auf ostslawische, polnische und kaukasische Siedlungen mit Sklaven zu versorgen und so die steigende Nachfrage zu befriedigen. Sklaven aus dem nördlichen Schwarzmeergebiet waren von Istanbul bis Kairo in überaus vielen städtischen Haushaltungen anzutreffen und veränderten lokale Gesellschaften in einem überregionalen Zusammenhang. Umge-

224

Stefan Rohdewald

kehrt gelangten als Ergebnis von Raubzügen der Kosaken auch muslimische Sklaven nach Russland. Das Beispiel der Beziehungen zwischen Moskau und dem Krimkhanat zeigt, dass muslimische Vasallen der Osmanen und christliche Staaten durchaus schon um 1500 bereit waren, miteinander »ewige« Friedensschlüsse einzugehen: 1474 schlug Großfürst Iwan III. dem Zaren und dem Krim-Khan Mengli Giray vor, »Liebe und Brüderlichkeit und ewige[n] Frieden« (ljubov’ i bratstvo i vecˇnyj mir) zu vereinbaren, was der tatarische »Zar« akzeptierte.1 Der 1506/1507 geleistete Eid eines Gesandten des Khans und osmanischen Vasallen Mengli Giray gegenüber dem polnischen König Sigismund versicherte explizit »ewigen Frieden«. Das Krimkhanat manövrierte in diesem überregionalen Beziehungsgeflecht zu seinem eigenen Vorteil und nicht als bloßer Vasall der Osmanen. Wechselnde Bündnisse der tatarischen Nachfolgekhanate der Goldenen Horde oder des Krimkhanats mit Polen-Litauen, den Dnjeprkosaken, Moskau oder dem Oberherrscher des Khanats, dem Osmanischen Reich, stellten ein Gleichgewicht der Mächte im erweiterten Schwarzmeerraum her, das bis ins 18. Jahrhundert bestehen blieb. Auch das Angebot Süleymans von 1533, mit Polen auf immer Frieden zu schließen (was 1607, 1634 und 1699 bekräftigt wurde), zeigt, dass es im osmanischen Repertoire eben nicht bis zum »ewigen Frieden« mit Petersburg von 1720 undenkbar war, mit christlichen Mächten Friedensschlüsse einzugehen. Anders als bis vor kurzem argumentiert, wurden solche Friedensschlüsse sehr viel früher, gerade im transosmanischen Kontext, zu einem interregional geläufigen Konzept – und zwar mit wesentlicher Beteiligung des Krimkhanats. Die kleineren Herrschaftsgebiete wie Siebenbürgen, die Walachei, die Moldau und das Krimkhanat zwischen Konstantinopel, Warschau und Moskau waren für Aushandlungen untereinander sowie mit den jeweiligen Oberherrschaften und benachbarten Reichen mehrfach bedeutsam und wurden so zu zentralen Faktoren einer transimperialen Gesellschaft. Als kaiserliche und osmanische Truppen das kalvinistische Debrecen im 17. Jahrhundert plünderten, fand die Stadt Unterstützung seitens der reformierten Herrscher von Siebenbürgen, zu dem Zeitpunkt ein Vasall des Osmanischen Reichs. Bald ergaben sich Bündnisse zwischen dem Krimkhanat, den Kalvinisten in Siebenbürgen und orthodoxen Bojarengruppen in der Moldau – einem Vasallen gleichzeitig einerseits PolenLitauens und andererseits des Osmanischen Reiches – und in der Walachei – zunächst ein Vasall Ungarns, dann des Osmanischen Reiches. Kalvinisten und Antitrinitarier der Region waren nicht unglücklich, auf diesem Weg der katholischen Gegenreformation zu entgehen. Siebenbürgen selbst war das Erzeugnis 1 Dela Krymskie, Nr. 1. In: Pamjatniki diplomaticˇeskich snosˇenij Moskvovskago gosudarstva s Krymskoju i nagajskoju ordami i s Turciej, Bd. 1, 1474–1505, hg. v. T. F. Karpov. SanktPeterburg 1884, 1–20, hier 4.

Das Auge des Sturms

225

eines großräumigen heterogenen Kommunikationsgeflechts unter maßgeblicher Mitwirkung der Osmanen.

Transimperiale Geschichte am Beispiel des Schwarzmeerhinterlandes nach 1772 Auch für die Zeit nach 1772 kann die Krim als zentral für transosmanische Zusammenhänge gelten. Mit der Expansion Russlands nach Süden wurden der Nordkaukasus und das weite Hinterland der Schwarzmeerküste zu einem umfassenden Überschneidungsgebiet der Imperien. Die Geschichte dieser Konfrontation und die Annexion der Krim veränderte alle beteiligten Reiche: Moskau wurde zu einem Imperium von transkontinentaler Bedeutung, während das Osmanische Reich den Großmachtstatus verlor. Die frühneuzeitlichen Netzwerke, die in der transosmanischen Sphäre etabliert worden waren, blieben in der russländischen Gesellschaft bis ins 20. Jahrhundert von Bedeutung: Etwa wurden Krim-Armenier zur Peuplierung der neuen Besitzungen nach Nachitschewan deportiert, der neben Rostow am Don gegründeten Siedlung, deren Namen an die alte armenische Region und Stadt Nachitschewan in den damals iranischen Gebieten erinnern sollte. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts unterstützten Großbritannien und Frankreich das Osmanische Reich mit einer Intervention auf der russländischen Krim, damit Russland nicht die Vorherrschaft über das Schwarze Meer, Istanbul und das östliche Mittelmeer erlangen und so zu einer Weltmacht würde. Als Antwort auf die das Reich erschütternde Niederlage unternahm Russland umfangreiche Reformen, die in einem größeren europäischen und globalen Kontext standen. Sie lassen sich aber auch durch die unmittelbare Konkurrenz mit dem vom Westen unterstützten Osmanischen Reich erklären, das sich in den Jahren vor und nach den russischen Reformen ganz wie Iran gleichfalls reformierte, um Unterstützung des Westens zu erhalten. Umgekehrt erfolgten sie auch, um die Chancen für ein Comeback aus eigener Kraft zu erhöhen. Seit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelten sich neue Identitätskonzepte wie Turkismus und Panturkismus im Russischen wie im Osmanischen Reich. Wesentlich hierfür waren nicht nur bekannte Akteure wie der Krimtatar Ismail Gasprinskij/Gaspıralı I˙smail, sondern zahlreiche Intellektuelle nicht zuletzt aus Baku und Tbilissi. Um 1900 zirkulierten Revolutionäre und mit ihnen Konzepte, die es wachsenden Kreisen der städtischen Bevölkerungen ermöglichten, konstitutionelle Revolutionen in Russland, Persien und dem Osmanischen Reich zu wünschen oder zu unterstützen. Erneut im russischen

226

Stefan Rohdewald

Bürgerkrieg und auch im Zweiten Weltkrieg stand die Krim im Fokus strategischer Überlegungen unterschiedlicher Akteure.

Die Krim im Zentrum neoimperialer Infrastrukturstrategien nach 1991 Beispiele der jüngsten Infrastrukturgeschichte weisen auf, wie die Krim im (post-)transosmanischen Kontext wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit überregional interessierter Akteure steht. Ab 2002 plante ein Konsortium mit USamerikanischer, aber ohne russische Beteiligung eine Ölpipeline, die von Georgien über den ukrainischen Schelf an der Küste der Krim verlegt werden sollte. Das Projekt hätte die Möglichkeit eröffnet, nicht nur Russland, sondern auch die Türkei zu umgehen, die – so schien es einigen Beobachtern 2009 – den Export aserbaidschanischen Öls zu bremsen drohte. Bereits die damaligen Konflikte um russisches Erdgas, das über die Ukraine transportiert wurde, ließen diese Route aber als zu riskant erscheinen. Seit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 sind solche Projekte unmöglich geworden. Die Ukraine verlor mit der Krim nicht nur die Hälfte ihrer Erdgasvorkommen, es wurden auch ukrainische Ölplattformen und die Häfen der Schwarzmeerflotte von Russland in direkten Besitz genommen. Dennoch ist die Krim weiterhin auf ukrainische Energie- und Wasserlieferungen angewiesen. Die Annexion steht nicht zuletzt für die Stärkung der Position Russlands in der ganzen Schwarzmeerregion und damit auch gegenüber der Türkei und dem Nahen Osten insgesamt. Seit dem 24. Februar 2022 dient die Krim im verstörenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine als wichtiger Brückenkopf.

Die Krim im Zentrum einer transosmanischen Welt Die Beispiele für die Zeit nach 1800 zeigen die Bedeutung der Krim für das Verhältnis Russlands zum Osmanischen Reich und für die Beziehungen zwischen deren Nachfolgestaaten. Auch die für die Frühneuzeit hier mit dem Beispiel der Krim in den Blick genommenen Zusammenhänge lassen sich mit transepochalen Gemeinsamkeiten beschreiben. In transimperialer Kooperation wie Konfrontation befand sich die Krim mehrfach nicht nur als Objekt, sondern als Akteur im Zentrum eines überregionalen Sturms. Jedenfalls erscheinen diese Kontexte nicht einfach als Funktionen eines orthodoxen ›postbyzantinischen Commonwealth‹, einer linearen ›Osmanisierung‹ bzw. ›Russifizierung‹ oder einfach

Das Auge des Sturms

227

als ›Persianate Societies‹. Der multiperspektivische ›transosmanische‹ Blick hingegen kann die übergreifenden großräumigen Dynamiken sichtbar machen.

Literatur Adrian Brisku, Political Reform in the Ottoman and Russian Empires. A Comparative Approach. London/New York 2017. Kerstin S. Jobst, Geschichte der Krim. Iphigenie und Putin auf Tauris. Berlin/Boston 2020. Andreas Kappeler, Rußlands erste Nationalitäten. Das Zarenreich und die Völker der Mittleren Wolga vom 16. bis 19. Jahrhundert. Köln 1982. Georgiy Kasianov/Philipp Ther (Hg.), A Laboratory of Transnational History. Ukraine and Recent Ukrainian Historiography. Budapest 2009. Gábor Kármán/Lovro Kuncˇevic´ (Hg.), The European Tributary States of the Ottoman Empire in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Leiden 2013. Michael Khodarkovsky, Russia’s Steppe Frontier. The Making of a Colonial Empire, 1500– 1800. Bloomington 2002. Dariusz Kołodziejczyk, Ottoman-Polish Diplomatic Relations (15th–18th Century). An Annotated Edition of ’Ahdnames and other Documents. Leiden etc. 2000. Dariusz Kołodziejczyk, The Crimean Khanate and Poland-Lithuania. International Diplomacy on the European Periphery (15th–18th Century). A Study of Peace Treaties Followed by Annotated Documents. Leiden 2011. Denise Klein (Hg.), The Crimean Khanate between East and West. Wiesbaden 2012. Joanna Kulwicka-Kamin´ska/Czesław Łapicz (Hg.), Tatarzy Wielkiego Ksie˛stwa Litewskiego w historii, je˛zyku i kulturze/Tatary Velikogo knjazˇestva Litovskogo v istorii, jazyke i kul’ture/The Tatars of the Grand Duchy of Lithuania in History, Language, and Culture. Torun´ 2013. James H. Meyer, Turks Across Empires. Marketing Muslim Identity in the Russian-Ottoman Borderlands, 1856–1914. Oxford 2014. Omeljan Pritsak, Das erste türkisch-ukrainische Bündnis (1648). In: Oriens 6/2 (1953), 266– 298. Victor Ostapchuk, The Human Landscape of the Ottoman Black Sea in the Face of the Cossack Naval Raids. In: Oriente Moderno n.s. 20/1 (2001), 23–95. Alfred J. Rieber, The Struggle for the Eurasian Borderlands. From the Rise of Early Modern Empires to the End of the First World War. Cambridge 2014. Stefan Rohdewald, »bu sulh u salah mukarrer ve mü’ebbed«/»Pax perpetua« Polnischlitauische Friedensformeln und Allianzen mit Osmanen und Krimtataren bis 1790. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 65/2 (2016), 167–192. Stefan Rohdewald, Vom ukrainischen »Antemurale Christianitatis« zur politischen Nation? Geschichtsbilder der Ukraine und muslimischen Krimtataren. In: Katrin Boeckh/ Oleh Turij (Hg.), Religiöse Pluralität als Faktor des Politischen in der Ukraine. München 2015, 268–286. Stefan Rohdewald/Stefan Conermann/Albrecht Fuess (Hg.), Transottomanica: Osteuropäisch-osmanisch-persische Mobilitätsdynamiken. Perspektiven und Forschungsstand. Göttingen 2019.

228

Stefan Rohdewald

Stefan Rohdewald/David Frick/Stefan Wiederkehr (Hg.), Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.–18. Jahrhundert)/Lithuania and Ruthenia. Studies of a Transcultural Communication Zone (15th–18th Centuries). Wiesbaden 2007. Ricarda Vulpius, Die Geburt des Russländischen Imperiums: Herrschaftskonzepte und -praktiken. Göttingen 2020. Christoph Witzenrath (Hg.), Eurasian Slavery, Ransom and Abolition in World History, 1200–1860. Farnham 2015.

Geschichte zwischen Gedächtnis und Literatur

Johannes Feichtinger / Johann Heiss

Memoria filia temporis. Christliche Türken, muslimische Polen. Wer wird wann erinnert?

Am 25. November 2010 enthüllte der Staatspräsident der Republik Polen Bronisław Komorowski im Park Orun´ski in Gdan´sk/Danzig ein Denkmal für die polnischen Tataren. Es stellt einen leicht bewaffneten tatarischen Reiter in der Uniform des 13. Regiments der Wilnaer Ulanen der polnischen Armee dar (Abb. 1).

Abb. 1: Park Orun´ski in Gdan´sk/Danzig: Denkmal für die polnischen Tataren, enthüllt 2010 von Staatspräsident Bronisław Komorowski, Quelle: wikicommons, gemeinfrei.

In der Hand hält er eine Standarte mit Rossschweifen. Der Reiter nimmt eine friedfertige Haltung ein. Bemerkenswert ist, dass Komorowski im Jahr 2010 durch das Standbild einer Bevölkerungsgruppe Aufmerksamkeit schenkte, die bislang kaum ins Rampenlicht der öffentlichen Debatte getreten war. In seiner Rede machte der Präsident die bedeutungsvolle Aussage, dass es »nicht nur eine

232

Johannes Feichtinger / Johann Heiss

Form von Patriotismus« gäbe, nämlich die christlich-polnische, sondern mehrere Formen. So hätten die Tataren, die von der Schlacht bei Tannenberg (1410) über den Entsatz von Wien (1683) bis zum Zweiten Weltkrieg für Polen gekämpft hätten, in der polnischen Geschichte gezeigt, dass auch Muslime polnische Patrioten seien. Ihre Verbindung zu Polen sei »eng mit der Zeit verbunden, als Polen eine Republik vieler Nationen war, ein großer Schmelztiegel, in dem Menschen verschiedener Nationalitäten, Religionen und Kulturen aufeinandertrafen.«1 In seiner Rede bedankte sich Präsident Komorowski für die Loyalität der Tataren gegenüber dem Vaterland, dem sie seit über 600 Jahren gedient hätten. Der Großfürst von Litauen Witold hatte sie damals gerufen, um im Verbund mit dem König von Polen Władysław Jagiello die Ritter des Deutschen Ordens aus Litauen zu vertreiben. Komorowski enthüllte das Denkmal in einer spezifischen historischen Situation: Die Muslime in Polen bestanden 2010 – so wie auch heute noch – längst aus zwei unterschiedlichen Gruppen, zum einen aus polnisch-nationalbewussten Tataren, zum anderen aus Zuwanderern, die sich nach 1989 vor allem aus arabischen Ländern kommend in polnischen Städten niedergelassen hatten. Letztere machten schon 2010 den größeren Teil der muslimischen Bevölkerung Polens aus. Beide Gruppen hatten sich verbandsmäßig organisiert: die Tataren in der 1925 gegründeten Muslimischen Vereinigung (Muzułman´ski Zwia˛zek Religijny w Rzeczypospolitej Polskiej, MZR), die Zuwanderer in der 2001 gegründeten, 2004 staatlich anerkannten Muslimischen Liga (Liga Muzułman´ska w Rzeczypospolitej Polskiej). Die ungleiche Verteilung zeigen bereits die Mitgliederzahlen: 510 (2020) versus 3.800 (2010, heute rund 35.000). Beide Vereinigungen hatte der Staatspräsident wohl im Sinn, als er die Enthüllungszeremonie zum Anlass nahm, »Einigung« und nicht die »Vermehrung von Konflikten« einzumahnen und auf die für die Gegenwart beispielgebenden Errungenschaften der ehemaligen Adelsrepublik Polen, nämlich »Toleranz und Zusammenarbeit«, hinzuweisen.2

Plan einer Moschee in Warschau Der Präsident beließ es aber nicht bei der Enthüllung des den Tataren gewidmeten Denkmals in Gdan´sk/Danzig, sondern lud am 17. Februar 2011 rund 100 Vertreter muslimischer polnischer Organisationen und Imame in den Präsidentenpalast, um mit ihnen den 85. Jahrestag der Errichtung der Muslimischen Vereinigung in Polen zu feiern. 1936 war nicht nur im 13. Wilnaer Ulanen1 Oficjalna strona Prezydenta Rzeczypospolitej Polskiej. 2 Ebd.

Memoria filia temporis

233

Regiment für die polnischen Tataren eine eigene Abteilung geschaffen worden, die sich 1939 zu Pferd Hitlers Wehrmacht entgegenstellen sollte, sondern auch das Gesetz über das Verhältnis des Staates zur Muslimischen Vereinigung in der Republik Polen verabschiedet worden. Damit wurde der Islam von Polen als drittem europäischen Land – nach Österreich und Finnland – staatlich anerkannt. Das Gesetz, aufgrund dessen muslimische Vereinigungen gefördert und muslimischer Religionsunterricht im öffentlichen Schulwesen angeboten werden konnten, ist bis heute in Kraft. Auch neue Moscheen durften errichtet werden. Als die Muslimische Liga, der Verband der Zuwanderer, die Errichtung einer Moschee im Zentrum von Warschau plante, formierte sich 2010, im Jahr der Denkmalsenthüllung, allerdings Protest. Eine Bürgervereinigung namens »Europa der Zukunft« empörte sich über angeblich muslimisch-terroristische Hintergründe. Als darauf hingewiesen wurde, dass die Tataren seit Jahrhunderten loyale Bürger Polens waren, gaben die Protestierenden ihre fundamental antiislamische Haltung auf und skandierten nur noch: »Tataren – Ja! Radikale Araber – Nein!«

Die Leistung der muslimischen Polen Die Moschee wurde schließlich nicht im Zentrum von Warschau errichtet, sondern an anderer, peripherer Stelle. Präsident Komorowski hatte 2010 und 2011 öffentlich demonstriert, dass der Islam auch eine polnische Religion sei. Sein Versuch, durch die Denkmalsenthüllung für die Tataren und den Empfang von Vertretern sämtlicher muslimischer Organisationen drohende Gräben unter den Muslimen Polens zuzuschütten und islamfeindliche Proteste zu unterbinden, war letztlich nicht von großem Erfolg gekrönt. Zu den Heldentaten der polnischen Tataren zählte der Staatspräsident ihren Einsatz für das Wohl der polnischen Nation ohne Rücksichtnahme auf ihre Religion. Komorowski im Wortlaut: »Es gab keinen Feind der Republik Polen, gegen den sie nicht ihre Waffen für das Wohl ihres Vaterlandes erhoben. Sie kämpften und vertrieben Russen, Schweden und sogar die Türken trotz ihrer gemeinsamen Religion, des Islams. Ohne sie wäre der denkwürdige Sieg in der Schlacht vor Wien nicht möglich gewesen, für den König Jan III. Sobieski sie besonders schätzte.«3 Komorowski machte auf den Anteil einer polnisch-muslimischen Bevölkerungsgruppe am Sieg Sobieskis von 1683 vor Wien aufmerksam, der bislang wenig gewürdigt wurde. Allein eine Episode blieb bis heute in Erinnerung: Die polnischen Tataren trugen auf ihren Helmen Strohbüschel, um sich von ihren 3 Ebd.

234

Johannes Feichtinger / Johann Heiss

muslimischen Glaubensbrüdern, den Tataren auf osmanischer Seite, zu unterscheiden. Erzählt wird, dass Nachfahren der Tataren, die heute als Touristen Wien besuchen, im Gedenken an die Leistung ihrer Vorfahren Strohhüte tragen.

Christliche Truppen im osmanischen Heer Die Schlachtordnung der osmanischen Armee vom 12. September 1683 (Abb. 3) weist 12.000 Ungarn, 5.000 Walachen und 4.000 Moldauer aus. Anzunehmen ist, dass diese Truppenteile, angeführt vom Woiwoden der Moldau Georg Ducas, dem Fürsten von Siebenbürgen Michael Apafi und dem Woiwoden der Walachei Serban Cantacuzino, mehrheitlich christlich waren. Unterstützung fand Kara Mustafa auch im ungarischen Führer der Kuruzzen Emmerich Thököly. Zusammen befehligten sie rund 20.000 Mann und standen, so wie auch der Khan der muslimischen Krimtataren Selim Giray mit seinen rund 20.000 Kämpfern, in einem Vasallenverhältnis zum Sultan. Die Vasallentruppen waren reguläre Teile der osmanischen Armee, wurden für ihre Teilnahme an der Belagerung Wiens aber nicht bezahlt. Dem walachischen Fürsten Serban Cantacuzino misstrauten die osmanischen Anführer – angeblich nicht zu Unrecht. Der kaiserliche Resident (Botschafter) in Konstantinopel, Georg Christoph Kunitz, der gezwungen wurde, das türkische Heer nach Wien zu begleiten, berichtete in seinem Diarium zum 22. August 1683, Serban habe ihm mitgeteilt, er würde bei einem Zusammentreffen mit den Kaiserlichen diesen den Vorteil überlassen. Der Walachenfürst errichtete am sogenannten Gatterhölzel, wo seine Truppen Holz für den Brückenbau fällten, ein mehr als vier Meter hohes Kreuz aus Eichenholz mit Marienbildnis, vor dem er täglich in Anwesenheit seiner Soldaten einer Messe beiwohnte. Vor dem überhasteten Abzug des osmanischen Heeres ließ Cantacuzino das Kruzifix vergraben mit dem Auftrag an Bischof Leopold Karl Graf Kollonitsch, es zu bergen und »an einem öffentlichen Orte aufrichten zu lassen, wo es vom Volke verehrt werden sollte«.4 Serban Cantacuzino erklärte selbst in der Inschrift des Moldauer Kreuzes (Abb. 2) die mit seiner Aufstellung verbundene Absicht, »zu seiner und der Seinigen Gedächtnis«. Damit machte er selbst das Kreuz zum ältesten Monument, das an die Türkenbelagerung erinnert. Es wurde 1684 nahe dem Ort seiner Auffindung wieder aufgestellt und von den Bewohnern bald, eigentlich fälschlich, als Moldauer Kreuz bezeichnet. Wie gering die Wirkung dieses Denkmals ist, zeigt nicht zuletzt, dass seine unrichtige Benennung noch niemanden aufgefallen ist. In der Türkei gab es bislang keinen Anlass, Serban Cantacuzino durch ein Denkmal in Erinnerung zu rufen. Die

4 Truxa, Erinnerungs-Denkmäler, 6.

Memoria filia temporis

235

rumänische Gemeinde Wiens ließ 1983 zum 300-jährigen Entsatzjubiläum neben dem Monument eine Büste für den Walachenfürsten errichten.

Abb. 2: Moldauer Kreuz nach einem Stich von Johann Martin Lerch, 1683. Quelle: Camesina, Wien’s Bedrängniß. Wien 1865, 135, gemeinfrei.

Fazit: Was lernen wir? 1. Erinnerung funktioniert anlassbedingt, ebenso aber auch das Vergessen. Warum wurde 2010 den polnischen Tataren ein Denkmal gewidmet? Komorowski wollte mit der Enthüllung des Tataren-Denkmals demonstrieren, dass der Islam längst eine polnische Religion sei. Ziel des Staatsoberhaupts war es, den befürchteten Konflikt zwischen den beiden islamischen Organisationen in Polen abzuwenden und den Protesten gegen einen Moscheebau in Warschau den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zu diesem Zweck setzte der Präsident eine konkrete politische Handlung: Er enthüllte für die muslimischen Tataren ein Denkmal und rief in seiner Rede deren historische Leistungen in Erinnerung. Der Patriotismus der Tataren, die 1683 gegen ihre osmanischen Glaubensbrüder gekämpft hatten, führte den in Warschau Protestierenden vor Augen, dass auch Muslime loyale polnische Staatsbürger werden konnten.

236

Johannes Feichtinger / Johann Heiss

2. Mit der Errichtung des Denkmals versuchte Komorowski, die Spannungen zwischen den muslimischen Verbänden in Polen 2010 zu lindern. Erst unter diesem Vorzeichen wurden die polnischen Tataren denkmalwürdig. Das Denkmal würdigte die Leistungen ihrer muslimischen Vorfahren, es war aber nie dafür vorgesehen, die Botschaft zu vermitteln, dass der Sieg vor Wien von Christen und Muslimen errungen worden war. 3. Während im christlichen Entsatzheer vor Wien 1683 muslimische Truppen gekämpft hatten (angeblich mindestens 60 polnische Tataren), waren unter den osmanischen Belagerern in bedeutend größerer Zahl auch christliche Truppen (mindestens 20.000 Mann) im Einsatz gewesen (Abb. 3).

Abb. 3: Die Zusammensetzung der Osmanischen Armee vor Wien. Christen waren unter den Walachen, Moldauern und Ungarn. Quelle: Camesina, Wien’s Bedrängniß. Wien 1865, 126, gemeinfrei.

4. Dass vor Wien 1683 nicht nur Muslime gegen Christen, sondern auch Christen gegen Christen und Muslime gegen Muslime kämpften, ist ein Aspekt, der bis heute in der Öffentlichkeit nur selten reflektiert wird. Er spielte weder in Polen noch in der Türkei eine Rolle. Kein Wunder: Zur Zeit des Entsatzes und verstärkt ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert herrschte in der Öffentlichkeit die Ansicht vor, dass in der Schlacht vor Wien das Abendland über das Morgenland, das Christentum über den Islam, das Kreuz über den Halbmond gesiegt habe. Muslimische Polen und christlichen Türken passten nicht in dieses populäre Bild. 5. In der Geschichtswissenschaft hat man sich hingegen längst auf den von dem Historiker Robert Kann vertretenen Standpunkt geeinigt, dass »in diesem

Memoria filia temporis

237

Krieg keine Entscheidung über die Herrschaft von Kreuz oder Halbmond«5 in Europa gefallen sei. In der neuesten, das heißt der 10. Auflage des Gebhart – Handbuch der deutschen Geschichte wird die Feststellung Kanns bestätigt: »Lange galt als ausgemacht, daß es um einen Großkonflikt zweier Religionen und Kulturen gegangen sei. […] Mittlerweile ist sich jedoch die Forschung einig, daß das Abendland nie wirklich in Gefahr war.«6 Wien war nicht das Abendland, und ein schlecht geplanter Feldzug eines osmanischen Heerführers reichte wohl nicht aus, um Europa zu beherrschen. Tatsächlich wurden die Osmanen danach zusehends zurückgedrängt. Dennoch wird 1683 vielfach noch heute öffentlichkeitswirksam von rechtsextremen Akteuren mit der Gefährdung des christlich geprägten Europa durch den Islam in Verbindung gebracht. Das zeigen die Manifeste der Attentäter von Oslo 2011 und von Christchurch 2019 deutlich, in denen auf Wien 1683 direkt Bezug genommen wird. Der Osloer Anschlag gab dem Historiker Dag Herbjørnsrud Anlass, in seinem Blog-Beitrag »The real Battle of Vienna« die seit Jahrzehnten gültige Lehrmeinung in der Geschichtswissenschaft in Erinnerung zu rufen: »So the Battle of Vienna wasn’t a war between the cross and the crescent. It was not a clash of civilisations, a mighty Christian victory over Islam.«7 Den letzten Beleg fand Dag Herbjørnsrud in Komorowskis Rede von 2010: Ihr entnahm der Historiker, dass Muslime auf christlicher Seite kämpften und somit von einem Religionskrieg nicht die Rede sein konnte. Diesen Aspekt hatte der Staatspräsident aber keinesfalls vor Augen, für ihn blieb die Schlacht vor Wien im Grund eine Schlacht zwischen zwei Religionen, in der sich die muslimischen Tataren aus Loyalität zu Polen und seinem König auf christlicher Seite bewährt hatten. Komorowski hatte den aktuellen innerpolnischen Konflikt vor Augen, der norwegische Historiker die in der Wissenschaft längst überlebte Ansicht, dass vor Wien 1683 die Entscheidung über Kreuz oder Halbmond in Europa gefallen sei. 6. Erst als in Polen Auseinandersetzungen zwischen muslimischen Gruppierungen und Proteste gegen einen Moscheebau im Zentrum Warschaus drohten, konnte die Pflege der Erinnerung an die muslimischen Tataren von 1683 eine Rolle im öffentlichen Raum einnehmen. In der Türkei gab es bislang keinen irgendwie vergleichbaren Anlass, die Rolle der christlichen Kämpfer auf osmanischer Seite in Erinnerung zu rufen. Ebenso ist es mit dem Vergessen: Solange die kriegerischen Ereignisse von 1683 als Kampf zwischen Kreuz und Halbmond erinnert werden, werden christliche Belagerer und muslimische Befreier vergessen. Das Moldauer Kreuz, das von einem Walachenfürsten zu seinem eigenen Andenken errichtet wurde, ist keine Ausnahme. Das Denkmal lässt seinen 5 Kann, Kanzel und Katheder, 19. 6 Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung, 144. 7 Herbjørnsrud, The Real Battle of Vienna.

238

Johannes Feichtinger / Johann Heiss

Aufenthalt vor Wien gemeinsam mit den osmanischen Truppen nicht vergessen, allerdings ließ sich mit dieser Erinnerung bislang noch nicht Politik machen. Aber, wer weiß, auch dafür kann eine Zeit kommen: Memoria filia temporis (sed et oblivio).

Literatur Christoph Augustynowicz, Kleine Kulturgeschichte Polens. Vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert. Wien 2017. Albert Camesina, Wien’s Bedrängniß im Jahre 1683. Wien und seine Bewohner während der zweiten Türkenbelagerung 1683. Begebenheiten außerhalb Wiens während der zweiten Türkenbelagerung 1683. Wien 1865. Patrice M. Dabrowski, Poland. The First Thousand Years. DeKalb 2016. Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens. München 20064. Marek M. Dziekan, Polnische Orientalisten tatarischer Herkunft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Rocznik Orientalistyczny 66/2 (2013), 5–13. Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 11 = Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763. Stuttgart 200610. Dag Herbjørnsrud, The Real Battle of Vienna. In: AEON (27. 4. 2018), https://aeon.co/essa ys/the-battle-of-vienna-was-not-a-fight-between-cross-and-crescent (15. 12. 2021). Kerstin S. Jobst, Geschichte der Krim. Iphigenie und Putin auf Tauris. Berlin/Boston 2020. Robert Kann, Kanzel und Katheder. Studien zur österreichischen Geistesgeschichte vom Spätbarock zur Frühromantik. Wien/Freiburg/Basel 1962. Das Kriegsjahr 1683 nach Acten und anderen authentischen Quellen, dargestellt in der Abtheilung für Kriegsgeschichte des k. k. Kriegs-Archivs. Wien 1883. Georg Christoph von Kunitz, Diarium Welches Der am Türckischen Hoff, und hernach beym Groß-Vezier in der Wienerischen Belägerung gewester Kayserl. Resident Herr Baron Kunitz eigenhändig beschrieben…. Wien 1684, k. Paginierung [Eintrag 22. August]. Agata S. Nalborczyk, The Political Participation of Polish Muslim Tatars – the Result of or the Reason for Integration? From Teutonic Wars to the Danish Cartoons Affair. In: Jorgen S. Nielsen (Hg.), Muslim Political Participation in Europe. Edinburgh 2013, 239– 254. Oficjalna strona Prezydenta Rzeczypospolitej Polskiej, https://www.prezydent.pl/kancela ria/archiwum/archiwum-bronislawa-komorowskiego/aktualnosci/wizyty-krajowe/niema-jednego-wzorca-patriotyzmu,15782 (23. 12. 2021). Hans Maria Truxa, Erinnerungs-Denkmäler der Befreiung Wiens aus der Türkennoth. Wien 1891. Lipka Tatars (4. 12. 2021). In: Wikipedia, The Free Encyclopedia, https://en.wikipedia.org /w/index.php?title=Lipka_Tatars&oldid=1058628342 (7. 12. 2021). Maria Wilczek, Tatar warriors saved the king of Poland, settled down and became friends with Prince Charles. In: The Times, 24. 8. 2020, https://www.thetimes.co.uk/article/tata r-warriors-saved-the-king-of-poland-settled-down-and-became-friends-with-prince-c harles-l3mj5pvmm.

Agnieszka Pufelska

Monumentale Selbstverherrlichung. Oder: warum Wien kein Sobieski-Denkmal bekommen soll

Dem Mythos nach verhinderte der polnische König Jan Sobieski im Jahr 1683 den Untergang Wiens. Mit der Entscheidungsschlacht am 12. September am Kahlenberg habe er die Haupt- und Residenzstadt von der osmanischen Belagerung befreit. Um an diesen abendländischen Sieg zu erinnern, treffen sich jeden September nicht nur Wiener Pol:innen, sondern auch hochrangige heimische und polnische Vertreter:innen aus Politik, Gesellschaft und Militär auf dem Kahlenberg. Die Feierlichkeiten verlaufen jedes Jahr nach dem gleichen Muster: Zunächst eine Messe in der St. Josefskirche, von wo aus die siegreichen Truppen angeblich in die Schlacht zogen, und dann die zahlreichen Kranz- und Blumenniederlegungen auf dem Granitsockel mit der Aufschrift »12. IX. 1683 der polnische König Jan III Sobieski«. Auffällig dabei ist die Abwesenheit des erinnerten Helden. Der Stützpfosten für sein Standbild steht nämlich leer. Wo bleibt der Polenkönig? 1983, zum 300. Jubiläum der Schlacht am Kahlenberg, wurde am Hauptportal der Josefskirche eine neue Gedenktafel errichtet. In der zweisprachigen Inschrift wird »Jan III. Sobieski«, »dem Oberbefehlshaber der verbündeten Heere«, für den Entsatz von Wien zur »Rettung der Christenheit« gedankt. Im selben Jahr erinnerte Papst Johannes Paul II. in einem in polnischer Sprache gehaltenen Teil seiner Rede auf dem Kahlenberg an den »Sieg der polnischen Armee und eine Koalition der europäischen Länder unter der Führung unseres Königs Jan III. Sobieski«1. 2011 wurde in polnisch-österreichischem Einverständnis beschlossen, den symbolträchtigen Erinnerungsort um ein Sobieski-Denkmal zu ergänzen. Zwei Jahre später fand eine feierliche Grundsteinlegung statt. Die Initiative des Projektes geht auf die Schützengilde und den Literarischen Kulturverein aus Krakau zurück. Doch bevor eine bilaterale Ausschreibung für das künftige Standbild eingeleitet wurde, legte 2013 das polnische Errichtungskomitee mit dem Krakauer Bürgermeister an der Spitze den fertigen Denkmalentwurf vor.

1 Feichtinger, Fakten.

240

Agnieszka Pufelska

Ohne jede Absprache mit den Wiener Partner:innen schuf der Krakauer Künstler Czesław Dz´wigaj ein Modell, das als eine 3 Meter hohe und 7,5 Meter lange Monumentalstatue ausgeführt wurde. Das in Bronze gegossene und 2018 dank zahlreicher Spenden fertiggestellte Denkmal stellt Sobieski als Heerführer dar. Mit einem Streitkolben in der Hand zeigt er die Richtung des Angriffs an, während hinter ihm Husarenflügel, Pferdeköpfe und Vertreter der Heere auftauchen, die an der Verteidigung Europas gegen das Osmanische Reich beteiligt waren. Mit Begeisterung wird das zwischen sozrealistischem Heroismus und kitschiger Science-Fiction oszillierende und 20 Tonnen schwere Monument von dem Vorsitzenden des Errichtungskomitees Piotr Zapart beworben. Seiner Ansicht nach symbolisiert es »den Nationalstolz der Polen, damit Europa erkennt, was es ihnen zu verdanken hat.«2 Doch die europäische Hauptstadt Wien zeigte sich von dieser polnisch-nationalen Selbstverherrlichung wenig begeistert und lehnte das Standbild 2018 ab. In den polnischen Medien wurde als Grund für die Ablehnung das Argument angeführt, das Denkmal könnte anti-türkisches Sentiment schüren. Der Wiener Landtagspräsident Ernst Woller ließ nur kurz vermelden: »Ich kann nur soviel sagen, dass der erste Entwurf nicht den Vorgaben entsprochen hat. Es wird einen weiteren geben, denn das Denkmal wird ganz sicher errichtet.«3 Diese Zusicherung ist ein intelligenter Schachzug, der jede Denkmaldebatte unterbindet und mehr Raum und Zeit für unbequeme Entscheidungen verschafft. Seit drei Jahren herrscht eine Pattsituation, wozu die polnische Seite durch ihr Beharren auf das existierende Standbild und den Standort am Kahlenberg wesentlich beiträgt. Die Unterstützung der österreichischen Rechtpopulisten für die polnischen Denkmalpläne hilft dabei wenig. Allein aufgrund des rechtspopulistischen Engagements für das SobieskiStandbild müsste die Auseinandersetzung darüber, ob das Denkmal, das mittlerweile in Krakau ausgestellt wird, aus ästhetischen oder politischen Gründen durch das Wiener Rathaus abgelehnt wurde, irrelevant bleiben. Viel wichtiger erscheint dagegen die Frage, welche Botschaft ein zeitgenössisches SobieskiDenkmal in einer sich selbst als multikulturell und offen begreifenden Stadt vermitteln könnte. Denkmäler sind Zeichen der Erinnerung. Sie ragen aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein, prägen deren äußere Erscheinung und innere Struktur. Sie offenbaren, inwiefern die künstlerisch-ästhetische Formsprache, die politischideologische Aussage oder der historische Kontext Bedeutung tragen und Provokationskraft haben. Gleichzeitig werden die Denkmäler samt ihren Zeichen und Inschriften zu geheiligten Orten erklärt, die, kultisch gepflegt, den Stif2 Król Sobieski wróci do Wiednia. 3 Sobieski-Denkmal am Kahlenberg.

Monumentale Selbstverherrlichung

241

Abb. 1: Monument to Jan III Sobieski, Wikimedia Commons.

ter:innen dazu dienen, sich in der Erinnerung an die historischen Geschehnisse wiederzufinden. Gewiss, die Stillagen und die ikonologischen Deutungsvorhaben ändern sich, aber »die siegenden oder sterbenden Krieger stehen immer wieder auf«4, wie Reinhart Koselleck vermerkte, und werden aufgefordert, in der Gegenwart zu kämpfen. Und worum soll der in Bronze gegossene polnische König heute noch kämpfen? Allen voran um das positive Bild der polnischen Nation. Der seit Jahrhunderten propagierte und gegenwärtig vor allem von der regierenden PiSPartei immer wieder instrumentalisierte Mythos von Polen als Bollwerk des Christentums und Wiege des europäischen Freiheitskampfes steht im Mittelpunkt der Denkmalkonzeption. Betont haben dies die lokalen Initiatoren des Standbildes selbst, als sie bei der Stadt Wien 2018 eine Petition einreichten, in der sie den Bürgermeister zur Denkmalenthüllung aufforderten, um »gemeinsam den Helden der Verteidigungskämpfe um Europa«5 zu gedenken. Die politisch moralisierende Inbesitznahme des europäischen Gedächtnisses ist die übliche Denkrichtung der nationalpolnischen Geschichtspolitik. Mit diesem Anspruch kann die europäische Geschichte den Wertvorgaben der nationalkonservativen Politik angepasst werden. Aus dieser – und nicht aus der Geschichte – wird dann die angemessene Definition dessen geschöpft, was als ›wahre‹ europäische Geschichte gelten darf und was nicht. Die Besonderheit der polnischen Geschichte wird dabei hervorgehoben, um der Besonderheit der eigenen nationalen Richtung einen Platz zu verschaffen, z. B. bei den Entscheidungen des EU-Parlaments. Somit bleibt es offenkundig, dass die Idee des Denkmals nicht auf dem Amboss 4 Koselleck, Einleitung, 10. 5 Schernthaner, Offenbar doch kein Sobieski-Denkmal.

242

Agnieszka Pufelska

der Geschichtsschreibung, sondern im Schmelztiegel der aktuellen polnischen Politik geformt wurde. Dass das Sobieski-Standbild vor allem die polnische Geschichtspolitik bedienen soll, machte auch der Autor des Denkmals Czesław Dz´wigaj ganz deutlich, als er, 2018 von der Haltung der Wiener Behörden überrascht, versicherte, es gebe nirgendwo einen Halbmond, keine türkischen oder islamischen Symbole. Viel wichtiger erschien ihm, daran zu erinnern, dass es in Wien zwei Denkmäler der tatarischen Kavallerie gibt, die in der Schlacht um Wien zusammen mit Sobieski gekämpft hat. Polen und der polnische König werden allerdings nirgendwo erwähnt. Was der Bildhauer offenbar als unwichtig empfunden hat, griff die österreichische Initiative »Gedenken 1683« auf, welche sich eigenen Aussagen zufolge der »Pflege des kulturellen Gedächtnisses an die Zweite Wiener Türkenbelagerung« widmet. In einer Presseaussendung verurteilte Philipp Huemer, der Sprecher der Initiative, die mutmaßliche Kehrtwende der Stadt Wien und hob hervor, dass die Verhinderung des Denkmals »aus Rücksicht auf vermeintliche Befindlichkeiten einer bestimmten Bevölkerungsgruppe ein verheerendes Signal und definitiv ein Schritt in die falsche Richtung«6 sei. Welche Richtung Huemer als angemessen ansieht, ist bei dem Kopf der Identitären Bewegung Österreich (IBÖ Wien) nicht schwer zu erraten. In einem Interview stellte er das Gedenken an das Jahr 1683 in den »Kontext der Herausforderungen, die durch Masseneinwanderung und Islamisierung entstehen«7. Man sieht: Denkmäler vermitteln nicht die Geschichte, sie instrumentalisieren die Vergangenheit als Mittel zur Aufrechterhaltung der idealisierten und geschichtspolitisch vermittelten Identität. Die Historiker:innen pflegen zwischen ›Überresten‹ und ›Denkmälern‹ zu unterscheiden. Die ›Überreste‹ sind unabsichtlich auf uns gekommene Zeugen einer Vergangenheit. Sie sind in dieser Weise nicht gegenwartsfixiert, denn sie sind zufällige Hinterlassenschaften einer vergangenen Epoche. Das ist bei ›Denkmälern‹ – in einem weit gefassten Sinn – etwas anders. Denkmäler können Zeugnisse, Urkunden, Inschriften, aber eben auch monumentale Bau- und Kunstwerke sein, die bewusst zu dem Zweck geschaffen wurden, an die zur Vergangenheit werdende Gegenwart zu erinnern, aus der sie stammen. Herrscht im Überrest die Vergangenheit über die Gegenwart, so herrscht im Denkmal die Gegenwart über die Vergangenheit. Bei Denkmälern handelt es sich um Botschaften aus einer Vergangenheit an künftige Generationen. Auch die geplante oder bereits realisierte Sobieski-Statue ist – ungeachtet der vielen Beteuerungen des ›Erinnerns‹ – in erster Linie ein Denkmal unserer Zeit für künftige Generationen. Es kündet eben nicht unmittelbar von der Schlacht 6 Ebd. 7 Interview mit Phillip Huemer. In: Tagesstimme (5. 9. 2018).

Monumentale Selbstverherrlichung

243

um Wien, sondern es ist ein Dokument dafür, wie unsere Zeit mit dem Gedenken an dieses Ereignis umgeht. Man muss die Formulierung enger fassen: Es ist ein Monument für das, was das nationalpolnisch gesinnte Errichtungskomitee und seine rechtspopulistischen Unterstützer:innen in Österreich als einen politisch notwendigen Umgang mit dem Jahr 1683 erachten. Dabei ist bis heute nicht mal geklärt, welchen Anteil Sobieski am Sieg vor Wien hatte und ob die berühmte Befreiungsschlacht tatsächlich am Kahlenberg stattfand. Diskutable Überreste sinndeutend zu einem Denkmal zu überformen bedeutet einen Angriff der Gegenwart auf die Vergangenheit, der nicht nur das Sobieski-Denkmal unglaubwürdig macht, sondern auch die Erinnerung an den legendären König beschädigt. Zwischen 1684 und 2018 sind insgesamt 13 Initiativen gescheitert, Jan III. Sobieski ein Denkmal in Wien zu setzten. Pläne für die nächsten Anläufe werden bereits geschmiedet. Bevor sich eine politische Gruppe mit ihrer Sobieski-Interpretation durchsetzt, wäre es angebracht, nach einer historisch reflektierten Alternative zu suchen. Seit den 1960er Jahren steht in Danzig eine Bronzestatue von Sobieski. Ursprünglich wurde dieses 5 Meter hohe Denkmal 1898 in L’viv errichtet, als es noch Lemberg hieß und zur Habsburgermonarchie gehörte.

Abb. 2: Pomnik Jana III. Sobieskiego we Lwowie, Wikimedia Commons.

Der unweit Lemberg geborene Sobieski wurde als ein polnischer Adliger und Heerführer dargestellt, der zu Ross über die auf dem Schlachtfeld zurückgelassenen Waffen springt. Nach der Übernahme der Stadt durch die Sowjets (1944) wurde ein Vorschlag unterbreitet, die Reiterstatue so umzubauen, dass sie dem Nationalhelden der Ukraine Bohdan Chmelnytsky ähnele. Letztendlich einigte man sich aber auf einen Abtransport nach Polen. Gewiss ist dieses Denkmal keine künstlerische oder ästhetische Höchstleistung, seine Bedeutung ist vielmehr historisch begründet. Denn es symbolisiert nicht nur die »Schlacht am Kahlen-

244

Agnieszka Pufelska

berg«, sondern auch eine transnationale Kultur- und Verflechtungsgeschichte in einem europäischen Prozess von Abgrenzungen, Annäherungen und Aushandlungen. Wäre daher ein bescheidenes Hauswandrelief mit dem Abbild des Lemberger Denkmals zwischen Säulengasse und Sobieskiplatz keine mögliche Kompromisslösung?

Quellen Król Sobieski wróci do Wiednia. Rozmowa z Piotrem Zapartem. In: Rzeczpospolita, 10. 6. 2014. Johannes Feichtinger, Fakten hinter dem Mythos Sobieski. In: https://science.orf.at/v2/sto ries/2934427/ (17. 10. 2021). Julian Schernthaner, Offenbar doch kein Sobieski-Denkmal auf Kahlenberg. In: Tagesstimme (30. 10. 2018). https://www.tagesstimme.com/2018/08/31/wien-offenbar-dochkein-sobieski-denkmal-auf-kahlenberg (17. 10. 2021). Interview mit Phillip Huemer. In: Tagesstimme (05. 09. 2018). https://www.tagesstimme.c om/2018/09/05/interview-huemer-gedenken-1683-brauchen-bewusstsein-fuer-geschic hte-und-identitaet (17. 10. 2021). Sobieski-Denkmal am Kahlenberg: Wie geht es jetzt weiter? In: Mein Bezirk/Döbling (2018). https://www.meinbezirk.at/doebling/c-lokales/sobieski-denkmal-am-kahlenbe rg-wie-geht-es-jetzt-weiter_a2878667 (17. 10. 2021).

Literatur Reinhart Koselleck, Einleitung. In: Reinhart Koselleck/Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne. München 1994, 9–20.

Alois Woldan

Ivan Mazepa – zwischen Ost und West, zwischen Geschichte und Literatur

Kerstin Jobst hat in ihren Arbeiten immer wieder literarische Quellen für die historische Forschung fruchtbar gemacht, ihre Bücher über die Krim sind ein schönes Beispiel dafür. Das kann als Anlass für die folgenden Überlegungen dienen, die am Beispiel der literarischen Schilderungen des ukrainischen Hetmans Ivan Mazepa (1639–1709), des wohl bekanntesten Ukrainers in Westeuropa, das Neben- und Ineinander von historischen Fakten und deren künstlerischer Überformung zeigen will. Der erste publikumswirksame Bericht über Mazepa in Westeuropa ist Voltaires Histoire de Charles XII, Roi de Suède (1731), in deren viertem Buch Mazepa auftaucht. Voltaire, später Historiker des französischen Hofs, hat dieses Werk zweifellos als ein historisches verstanden, heute ist man geneigt, es als belletrisierte Heldenbiographie zu betrachten, gerade wenn man es mit anderen historischen Werken des Autors vergleicht – etwa seiner Histoire de l’Empire De Russie sous Pierre le Grand (1759, 1763), in der Mazepa einmal mehr vorkommt. Die nur kurze Erwähnung Mazepas in der Biographie Karls XII. beinhaltet ›Dichtung und Wahrheit‹ in gleichem Maß. Die Angaben zur Biographie Mazepas entsprechen den historischen Fakten, abgesehen davon, dass Mazepa kein Pole (»un gentilhomme Polonais«), wie Voltaire meint, sondern ein Ukrainer war. Mazepas Liebesabenteuer am polnischen Hof und die darauffolgende Bestrafung durch den erzürnten Ehemann der Geliebten – Mazepa wird nackt an ein wildes Pferd gebunden, das mit ihm bis in die Ukraine läuft – lassen sich historisch nicht belegen. Genau diese Anekdote aber wurde von den Vertretern der europäischen Romantik aufgegriffen und diente als Kern für Bühnenwerke, Poeme, Kompositionen und Darstellungen in der Bildenden Kunst, die an der historischen Wahrheit kaum mehr interessiert waren. George Lord Byron ist der erste große Nutznießer von Voltaires Angaben, sowohl was die historischen Fakten, mehr aber noch, was die Legende vom unfreiwilligen Ritt betrifft. Mazepas Geschichte dient dem englischen Romantiker als Rahmenhandlung – Karl XII. und Mazepa müssen nach der verlorenen Schlacht von Poltava auf ihrer Flucht eine Rast einlegen, bei der der Hetman die

246

Alois Woldan

Geschichte des unfreiwilligen Ritts erzählt, der in der Binnenhandlung des Poems entfaltet wird. Auch wenn Byron mit seinem Poem Mazeppa (1819) die Wende hin zur Fiktion einleitet, verzichtet er nicht zur Gänze auf deren historische Verankerung. Die Flucht der Besiegten zu Pferd ist ebenso belegt wie die Überquerung des Dnipro, die das größte Hindernis auf dieser Flucht vor den russischen Verfolgern darstellte. Am Tag nach der Rast sollen Karl und Mazepa den Borysthenes überqueren, jenen Fluss, den der junge Mazepa bei seinem unfreiwilligen Ritt in die Gegenrichtung, von West nach Ost, schon einmal passiert hat und der auf diese Weise zum Bindeglied zwischen Rahmen- und Binnenhandlung wird. Im Anschluss an Byron betont die französische Mazepa-Rezeption den fiktiven Part an dessen Geschichte. Victor Hugos Poem Mazeppa, zehn Jahre nach Byrons gleichnamigem Text entstanden, lässt den historischen Sachverhalt fast zur Gänze weg, zugunsten einer symbolistischen Deutung, die auf dem unfreiwilligen Ritt basiert. Dafür ist neben Byron, dessen Oriental Poems bereits 1819 ins Französische übersetzt wurden, eine weitere Quelle maßgeblich, die nur in der französischen Mazepa-Rezeption breite Ausgestaltung fand, die Malerei. Hugo widmet sein Poem dem Maler Louis Boulanger, der auf seinem Gemälde Mazeppa die Szene des Gerichts über Mazepa darstellt: Zu Füßen eines alten Mannes, der offenbar das Urteil gesprochen hat, wird Mazepa von Knechten an ein wildes weißes Pferd gebunden. Unmittelbar darauf folgt der unfreiwillige Ritt, mit dem Hugo seine Erzählung beginnt. Mehr aber als dieses Bild haben andere Mazepa-Darstellungen der französischen romantischen Malerei Hugos Poem inspiriert, vor allem jene Darstellungen, die die enge Verbindung zwischen dem Ross und dem daran gefesselten menschlichem Körper betonen, wie etwa Théodore Géricaults Bild Mazeppa (1821–1824), das ein Pferd zeigt, das kraftvoll das Ufer eines Flusses erklimmt, mit einem reglosen Körper auf seinem Rücken. Solche Darstellungen illustrieren Szenen, die Byron im Binnenteil seines Poems schildert; sie stehen in der Tradition der romantischen Pferdemalerei, sie verschieben aber im Fall des ans Ross gefesselten Mazepa den Akzent auf die Einheit von Tier und Mensch im Kampf ums Überleben. An diese Deutung knüpft Hugo im zweiten Teil seines Poems an, das einen kosmischen Ritt schildert, in dem das Pferd mit dem Pegasus, der an das Tier gebundene Mensch aber mit dem Dichter gleichgesetzt wird. Das dichterische Genie treibt den von ihm besessenen Menschen zu Höhenflügen. Die reale Geschichte um Mazepa wird aus den Werken der französischen Romantiker fast völlig ausgeblendet. Quasi als Gegengewicht zur westeuropäischen Konzentration auf das phantastische Moment legt die russische Mazepa-Rezeption besonderes Gewicht auf die historische Seite des Phänomens. Aleksandr S. Pusˇkin will mit seinem Poem Poltava (1829), das ursprünglich Mazepa heißen sollte, jene Irrtümer widerlegen,

Ivan Mazepa – zwischen Ost und West, zwischen Geschichte und Literatur

247

welche andere romantische Dichter in Umlauf gebracht haben, und er will, wie er im Vorwort zur ersten Ausgabe des Poems betont, den wahren Charakter des Hetmans, so wie er aus den historischen Fakten hervorgeht, zeigen: Mazepa ist eine der bemerkenswertesten Personen dieser Epoche. Einige Literaten wollten aus ihm einen Freiheitshelden, einen zweiten Bogdan Chmel’nickij, machen. Die Geschichte zeigt ihn als einen eitlen Menschen, verstrickt in Intrigen und Übeltaten, als den Verleumder seines Gönners Samojlovicˇ, als denjenigen, der den Vater seiner unglücklichen Geliebten zu Grunde gerichtet, der Zar Peter vor seinem Sieg verraten und König Karl nach dessen Niederlage betrogen hat: Die Erinnerung an ihn, der von der Kirche mit dem Anathema-Fluch belegt wurde, muss den Fluch der Menschheit auf ihn lenken.1

Ohne im Einzelnen auf diese Vorwürfe, die alle in der zentralen Anschuldigung des Verrats gipfeln, einzugehen, kann doch gesagt werden, dass sie sich aus den historischen Fakten nicht ableiten lassen, sondern vielmehr jenem Bild Mazepas als Verräter entsprechen, das auf Befehl des Zaren Peter schon 1708 mit dem Anathema-Fluch geschaffen und von der literarischen Meisterschaft Pusˇkins mehr als hundert Jahre später erst recht verfestigt wurde. Pusˇkin greift mit dem Motto, das er seinem Poem voranstellt, »The power and glory of the war, Faithless as their vain votaries, men, / Had pass’d to the triumphant Czar«2, auf den historischen Rahmen von Byrons Poem zurück, nicht aber auf den unfreiwilligen Ritt des jungen Mazepa, der für Pusˇkin ins Reich der Phantasie gehört. An die Stelle jenes Ritts, der die westeuropäische Romantik so begeisterte, setzt Pusˇkin im dritten Teil seines Poems die Schlacht von Poltava, die von der Logik der Handlung kaum mehr mit den Teilen I und II verbunden ist, dafür aber deutlich nach historischen Vorlagen, vor allem Voltaires Berichten, gestaltet wird. Die Niederlage als Bestrafung Mazepas für seine in Teil I und II begangenen Übeltaten entspricht allerdings der Dramaturgie des Poems und nicht der historischen Wahrheit. Von besonderem Interesse, was das Oszillieren zwischen Geschichte und Fiktion betrifft, ist der deutschsprachige Mazepa-Diskurs, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer gewissen Verspätung im Vergleich zum englischen, französischen oder russischen, dafür aber umso intensiver einsetzt – es gibt mehr literarische Mazepa-Versionen in deutscher als in französischer oder auch russischer Sprache. Diese Texte, die heute allesamt vergessen sind, so wie auch ihre Verfasser, weisen eine beachtliche Kenntnis historischer Umstände auf, die als Basis für politisch-utopische Spekulationen dienen.

1 A[leksandr] S. Pusˇkin, Poltava. In: Polnoe Sobranie socˇinenij. Bd.5 Poe˙my 1825–1833. Moskva/ Leningrad 1948, 15–64, hier 18. 2 Ebd., 15.

248

Alois Woldan

Ein Beispiel dafür ist Andreas Mays Drama Der König der Steppe, das 1849 uraufgeführt wurde. Was die Handlung betrifft, so folgt May weitgehend den Teilen I und II von Poltava, nur dass seine Heldin Natalie ihrem Gatten Mazepa einen Schlaftrunk verabreicht, um ihren Vater Kotschubej zu retten und zusammen mit ihm aus dem Schloss Mazepas zu fliehen. Der große Unterschied zu Pusˇkins Poem liegt aber im politischen Programm, das Mays Mazepa vertritt – es weist deutlich pro-ukrainische Züge auf, auch wenn es nicht verwirklicht wird, weil Mazepa am Ende des Stücks von russischen Truppen gefangengenommen und standrechtlich erschossen wird. Im Gespräch mit Kotschubej erläutert Mazepa dieses Programm eines unabhängigen ukrainischen Staates: Freiwillig nur, des eig’nen Schutzes halber / Hat mein Kosakenvolk sich dereinst unter Rußlands Botmäßigkeit begeben. Es / Versprach dem Czaren Waffendienst; der Czar / Schwor ihm dagegen, seine Freiheiten / Und Privilegien aufrecht zu erhalten. / Dies Schutzverhältnis wurde bald zu Bürde. […] D i e Zeit soll aus sein, Bruder Kotschubej. / Ein freier Staat soll die Ukraine werden, / Ein freies Reich soll hier entsteh’n, selbstständig / Und unabhängig! Wie ein Riese soll es / Sich zwischen Osten und dem Westen lagern. / Ein Bollwerk gegen Rußland für Europa! / Freund, ein Kosakenreich, ein Königreich / Der Steppe!3

Diese Argumentation verweist auf gute historische Kenntnisse, auf eine Interpretation des Vertrags von Perejaslavl (1654) im Sinn der ukrainischen Historiographie, auf das Antemurale-Argument, das der historische Mazepa schon vor 1700 in einem Brief an den Wiener Hof verwendet hatte. Es bleibt unklar, woher May seine über Pusˇkin hinausgehende Kenntnis historischer Fakten und seine pro-ukrainische Einstellung übernommen hat – die antirussische Stimmung in Mitteleuropa nach dem Jahr 1848 allein kann das nicht erklären. Das am meisten gespielte und von der Kritik auch am häufigsten besprochene Mazepa-Drama stammt von Rudolf von Gottschall, Mazeppa. Geschichtliches Trauerspiel in fünf Aufzügen (1865), und verweist schon mit seinem Untertitel auf die Bedeutung der Geschichte in diesem Stück, mit der der Autor zum einen gut vertraut ist, mit der er zum anderen aber sehr frei umgeht: So ist Matrona nicht die Tochter Kotschubejs, sondern Iskras (Iskra war wie Kotschubej ein hochrangiger Kosakenoffizier und dessen engster Mitarbeiter), hat Mazepa eine Tochter namens Leodiska und wird dieser von seiner Geliebten Matrona vergiftet. Auch wenn sich Gottschall, was die Entwicklung der Handlung betrifft, primär an Poltava orientiert, lassen sich auch deutliche Rückgriffe auf die Byron’sche und die französische Mazepa-Tradition feststellen. So hängt in der Höhle einer Wahrsagerin ein Bild, das den an einen Pferderücken gefesselten Mazepa zeigt und an die Darstellungen der französischen romantischen Malerei erinnert. 3 Andreas May, Der König der Steppe. Drama in fünf Aufzügen. München 1849, 11–12.

Ivan Mazepa – zwischen Ost und West, zwischen Geschichte und Literatur

249

Auch die Deutung dieses Bildes, welche die Wahrsagerin im Gespräch mit Mazepas Tochter gibt, erinnert an die symbolische Interpretation, die Hugo in seinem Mazeppa für die Einheit von Mensch und Tier fand: »[S]ieh’ das große Bild – den Jüngling /Ans Roß gebunden! Dieses ist dein Vater – / Und nicht dein Vater blos, es ist der Mensch, / Den ein unbändig Wollen mit sich fortreißt!«4 Für einen der Interpreten dieses Stücks, Dmytro Doncov, den Ideologen der ukrainischen Rechten in der Zwischenkriegszeit, bedeutet die »wilde und blinde Leidenschaft«5, die nach Gottschall Mazepas Handeln bestimmt, nichts anderes als den von Nietzsche beschriebenen »Willen zur Macht«, der Mazepa zum Führer seines Volkes bestimmt. Nur ein Mensch, der von einem solchen Willen getrieben wird, kann einen unabhängigen ukrainischen Staat schaffen, von dem auch der Titelheld von Gottschalls Drama schwärmt. In seinem Aufsatz über »Hetman Mazepa in der europäischen Literatur« (1917) geht Doncov ausführlich auf Gottschalls Drama ein, dessen »kleine historischen Ungenauigkeiten« aber nicht einer intuitiv verspürten, höheren historischen Wahrheit im Wege stünden.6 Diese »historische« Wahrheit ist aber eine politisch-programmatische: Wer Mazepa als den zeigt, der die Unabhängigkeit der Ukraine zum höchsten Ziel seines Handelns macht, der zeigt den »wahren« Mazepa. Das Jahr 1909, in dem der russische Staat mit viel Pomp das zweihundertste Jubiläum des Sieges von Poltava feierte, ist auch für die ukrainische Seite ein Anlass, dieses Ereignisses und damit des Hetmans Mazepa zu gedenken. In diesem Jahr erschien eine kleine Schrift des bekannten Dichters Vasyl’ Pacˇovs’kyj, Mitglied der Lemberger Dichtergruppe »Moloda Muza« (Die junge Muse), V pamjat’ het’mana Ivana Mazepy i bytvy pid Poltavoju (Zum Gedenken an den Hetman Mazepa und die Schlacht bei Poltava), in der der Autor die Ereignisse von 1709 mit deutlich antimoskowitischer Ausrichtung, aber auch mit Kritik an der eigenen, ukrainischen Seite schildert. Seine Darstellung endet jedoch optimistisch und visionär: Mit der Gründung der Sicˇ-Organisation wäre das Erbe von Poltava in Galizien bewahrt und gerettet worden; aus den Ostkarpaten, die in der Folklore für ihre heroischen Räubergestalten bekannt sind, kämen heute die neuen Dnipro-Kosaken: »Die Sitsch kommt, sie kommt, sie kommt von der Tscharnohora. Die Ukraine steht auf, die Ukraine rumort …«7 Mit dieser Form von Geschichtsmythologie wird das Erbe Mazepas in die österreichische Westukraine transferiert – von dort kommt heute die befreiende Tat für die 4 Rudolf Gottschall, Mazeppa. Ein geschichtliches Trauerspiel in fünf Aufzügen. Leipzig 1865, 135. 5 Ebd., 192. 6 Dmytro Doncov, Het’man Mazepa v jevropejs’kij literaturi. In: Sˇljachy IV (1917), 283–291, hier 286. 7 Vasyl’ Pacˇovs’kyj, V pamjat’ het’mana Ivana Mazepy i bytvy pid Poltavoju (1709 r.). Kolomyja 1909, 31.

250

Alois Woldan

Ukraine. Das schien wenige Jahre später Wirklichkeit zu werden, als mit Beginn des Ersten Weltkriegs im Rahmen der österreichischen Armee die Sicˇ-Schützen aufgestellt werden durften, die als Beitrag zur Befreiung der Ukraine verstanden wurden. Neue Akzente in der Interpretation der historischen Figur des Hetmans finden sich in ukrainischen Mazepa-Bearbeitungen des frühen 20. Jahrhunderts, wie in Volodymyr Sosjuras (1898–1960) Poem Mazepa (1928/1959/1960). Das Dilemma des Autors zwischen kommunistischen Überzeugungen und ukrainischem Nationalismus spiegelt sich in seinem Poem wider, das erst in der Perestrojka-Zeit in voller Länge erscheinen konnte. Den Dichter und seinen Helden verbindet die gleiche ukrainische Identität, die ihn veranlasst, nicht nur die Tragödie Mazepas, sondern auch des ganzen ukrainischen Volkes zu zeigen: »Mit meinem Herzen will / ich die schreckliche Tragödie Mazepas zeigen / Und in ihr, in dieser fatalen Zwietracht / die Tragödie meines Volkes«8 – hier sind Anspielungen auf andere Tragödien der Ukraine zu späterer Zeit, wie etwa die Hungerkatastrophe des Holodomor, nicht zu überhören. Die Befreiung Mazepas vom Vorwurf des Verrats (»Er [Mazepa] liebte die Ukraine mit ganzer Seele / und war ihr kein Verräter«) durch Sosjura führt notwendigerweise zur Polemik mit Pusˇkin, der ja in seinem Poem diesen Vorwurf verfestigt hat: »O Pusˇkin, ich mag dich sehr / aber die Wahrheit mag ich noch mehr«.9 Sosjuras massive Kritik an Peter I. führt nicht nur diese Polemik mit Pusˇkin weiter, sondern steht auch im Widerspruch zur offiziellen sowjetischen Historiographie. In der Beurteilung Peters als »eine[n] Banditen, der in der Ukraine die Leibeigenschaft eingeführt hat«10 prallen die national-ukrainische und die sowjetisch-russische Geschichtsauffassung aufeinander, und dieser Konflikt ist auch von der Ideologie der geschwisterlichen Verbindung der Ukraine und Russlands im Sowjetreich nicht zu überbrücken. So ist Sosjuras Mazepa-Darstellung weniger an der historischen Wahrheit, als an der ideologischen Instrumentalisierung Mazepas interessiert. Zur selben Zeit, da Sosjura die Arbeit an seinem Poem aufnahm, schrieb ˇ ernjachivs’ka (1868–1941) ihr Drama Ivan Mazepa. Drama Ljudmyla Staryc’ka-C v V dij (Ivan Mazepa. Drama in 5 Akten, 1929). Aus der bürgerlichen ukrainischen Intelligenz im späten 19. Jahrhundert stammend unterstützte Staryc’kaˇ ernjachivs’ka ab 1917 die Ukrainische Nationale Republik in Kiew und verC suchte später ihre literarische Tätigkeit fortzusetzen. 1941, als die deutschen Truppen bereits von Kiew standen, wurde sie wegen »antisowjetischer Tätigkeit« verhaftet und starb auf dem Weg in ein Gefangenenlager.

8 Volodymyr Sosjura, Mazepa. Poema. Liryka. Kyjiv 2001, 49–50. 9 Ebd., 50. 10 Ebd.

Ivan Mazepa – zwischen Ost und West, zwischen Geschichte und Literatur

251

Es ist nicht verwunderlich, dass eine derartig negative Erfahrung mit dem bolschewistischen Regime sich auch in der Gestaltung ihres Mazepa niederschlägt. In ihrem Drama, das sich an der Konvention der Historiendramen des 19. Jahrhunderts orientiert, verzichtet die Autorin auf alle Elemente der Fiktion – es gibt keine Liebesaffären am polnischen Hof, keinen unfreiwilligen Ritt des jungen Mazepa, aber auch keine dramatischen Episoden aus der Geschichte, wie die Schlacht bei Poltava. Die Autorin verzichtet allerdings nicht auf eine private Intrige, die Liebe Mazepas zu Motrja, die sie mit der historischen Tragödie seines politischen Scheiterns verknüpft. Im dritten Akt, in dem die Handlung der Tragödie kulminiert, kommt es zu einem Zusammentreffen des Zaren mit dem Hetman, bei dem ersterer seinem Bundesgenossen seine Pläne in Bezug auf die Ukraine enthüllt: eine völlige Auslöschung der ukrainischen Eigenständigkeit und ein völliges Aufgehen der Ukraine im russischen Staat. Das ist für Mazepa der entscheidende Augenblick, in dem er erkennt, dass er sich um jeden Preis gegen die russische Vorherrschaft stellen und damit zum »Verräter« werden muss. Die massiven Vorwürfe an Peter, den »blinden Henker«, der nur mit Gewalt und Unterdrückung sein Russland erbaut, könnten ebenso gut auf Stalin gemünzt sein, der sich ja auch selbst gern mit Peter verglich: »Blinder Henker / Dein Koloss steht auf tönernen Beinen. Und mit der Knute, den Fesseln und der Folter erbaust / Du dein Russland und willst / Die Ukraine verschlingen, und unsere Freiheit austrinken bis an den Grund?! Du wirst sie nicht austrinken, auf ewig nicht!«11 Im fünften Akt, dem tragischen Ende des Helden gewidmet, stirbt Mazepa in Bender, allerdings nicht in Folge von Krankheit und Alter, sondern weil er selbst einen Giftbecher getrunken hat, um vor einer drohenden Auslieferung sicher zu sein. Ein solches Ende steht in deutlichem Widerspruch zu den historischen Fakten, es unterstreicht jedoch den definitiven Charakter von Mazepas Scheitern; seine Tragödie wird zugleich zur Tragödie der Ukraine. Hier zeigen sich, bei allen Unterschieden zwischen dem Poem des proletarisch-kommunistischen Dichters ˇ ernjachivs’ka, Sosjura und dem Drama der bürgerlich-konservativen Staryc’ka-C Konvergenzen im Plädoyer für die ukrainische Unabhängigkeit und in der Kritik an dem von Peter verkörperten russischen Absolutismus, der dieser Unabhängigkeit im Weg steht. Dieser Streifzug durch repräsentative Mazepa-Bearbeitungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert hat gezeigt, wie wichtig die historische Fundierung auch für fiktionale Texte ist und wie historische Fakten für die ideologische Botschaft der jeweiligen Texte instrumentalisiert werden.

ˇ ernjachivs’ka, Vybrani tvory. Kyjiv 2000, 271. 11 Ljudmyla Staryc’ka-C

Olaf Terpitz

Pauline Wengeroffs Memoiren – eine Frauenstimme in der jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Osteuropas

Einführung – eine Chronistin ihrer Zeit Als Pauline Wengeroffs deutschsprachige Memoiren einer Grossmutter. Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert 1908 (Band 1) und 1910 (Band 2) in Berlin erschienen, stießen sie in der deutsch-jüdischen Presse auf wohlwollende bis überaus positive Aufnahme, was angesichts der dargebotenen Thematik und der Erzählperspektive überraschen mag. So schrieb ein anonymer Rezensent in Die Welt: Überschauen wir das Ganze, so haben wir wirklich einen recht wertvollen, lebenswahren, anschaulichen Bericht über Leben und Gewohnheiten der wohlhabenden jüdischen Familien Rußlands, aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Die persönlichen Erlebnisse der Verfasserin […] werden in den Rahmen der großen, das Judentum tief berührenden Ereignisse jener Zeit der Wandlungen gestellt, erhalten durch sie und geben ihnen eine einzigartige und bedeutsame Beleuchtung.1

In der Allgemeinen Zeitung des Judentums wiederum pointierte der Literaturhistoriker Ludwig Geiger »Was aber die Lektüre des merkwürdigen Buches ganz besonders erquicklich macht, das ist der bei einer Frau verhältnismäßig seltene freie Sinn [sic!].«2 Benannt finden sich in diesen zeitgenössischen Einlassungen mindestens drei Momente, die die Verbreitung und Wahrnehmung von Wengeroffs Lebensbericht beeinflussten: die Begegnung der deutschen mit der russländischen Judenheit als »den Anderen« – und dies in einer sprachlich wie habituell zugänglichen Weise, die mehr noch titelgebend als »Kulturgeschichte« in der Zeit der »jüdischen Renaissance« angelegt war; die dargestellten transregionalen Verflechtungen und Verschränkungen in Europa; und nicht zuletzt die »Lebensgeschichte« einer Frau – sowohl als Eigenbeschreibung als auch als Markierung, wie sie etwa Geiger vornimmt. Alle drei Momente kulminieren ihrerseits in der Attraktivität des Genres der Memoiren in der Literatur der Zeit 1 Anon., Pauline Wengeroff, 265. 2 Geiger, Memoiren, 451.

254

Olaf Terpitz

(und auch im Interesse der Geschichtsschreibung an diesem hybriden Genre). Die Sichtbarkeit von Wengeroffs Memoiren wurde durch das der zweiten Auflage beigefügte Geleitwort von Gustav Karpeles, einem der führenden jüdischen Literaturhistoriker der Zeit, zwar wesentlich gefördert, aber die wiederholten zeitgenössischen Neuauflagen ihres Werks sprechen ebenso wie die Tatsache, dass Simon Dubnov sie in seiner Weltgeschichte des jüdischen Volkes (Vseobsˇcˇaja istorija evreev) zitiert, für sich. In ihren Memoiren schildert Wengeroff die gravierenden gesellschaftskulturellen Transformationsprozesse, Kataklysmen und Zäsuren, die die jüdische Bevölkerung im Russländischen Reich des 19. Jahrhunderts erfuhr. Vor dem Hintergrund individueller Erfahrung betrachtet sie allgemeine Tendenzen und Bewegungen, wie sie die Haskala, die jüdische Aufklärung, mit ihren Postulaten nach Emanzipation, bürgerlicher Gleichstellung und Teilhabe, wie sie das Integrationsprojekt der russländischen Regierungen mit Russifizierung hervorbrachten und damit zugleich neue Diskriminierungen perpetuierten. Die Diskrepanzen zwischen der Realisierung des einen und der Wahrnehmung des anderen waren enorm. Wengeroff stellt diese Prozesse und deren Fliehkräfte dabei nicht allein aus der Perspektive einer Frau dar, mehr noch situiert sie ihre Schilderung in der Position der »Großmutter«. In dieser Rolle bindet sie familiale Vorstellungen von Vertrautheit, Intimität und Transmission zusammen, kurzum ihr Anliegen ist kein geringeres als die Schaffung einer transgenerationalen Kontinuität, die Manifestierung eines kulturellen Gedächtnisses. Freilich berichtet sie dabei aus einer sozial privilegierteren Situation. 1833 als Pessele Epstein in Bobrujsk, dem heutigen belarussischen Babruisk, in einer vergleichsweise wohlsituierten Familie geboren, in Brest-Litovsk und Minsk aufgewachsen, führte sie ihr Lebensweg seit der Heirat mit Chonon (Afanasij) Vengerov, u. a. Direktor der Kommerzialbank in Minsk, über Wilna (Vilnius), Kaunas (Kowno), Helsingfors (Helsinki) und Petersburg schließlich nach Heidelberg, wo sie 1916 verstarb. Ihr Leben und Erfahrungshorizont waren somit geprägt von Mobilität, die transregionale, transkulturelle und translinguale Übergänge einschloss, die wiederum in der Frage nach transgenerationaler Vermittlung bzw. deren Möglichkeiten mündeten. Ihre Memoiren über die Lage der russländischen Judenheit verfasste sie in deutscher Sprache, der Sprache der frühen Aufklärung im Russländischen Reich, sei sie autodidaktisch oder später aus einem bildungsbürgerlichen Impetus heraus erworben worden. Die Stimmen von Frauen in der historischen Forschung zur Kulturgeschichte Ostmitteleuropas und ebenso zur jüdischen Kulturgeschichte der zentraleuropäischen bzw. ostmitteleuropäischen Regionen sind bemerkenswert marginal, womit zugleich die Frage nach ihrer Präsenz und ihrer Wahrnehmung aufgeworfen wird – wer nimmt wahr/erinnert/rezipiert wen wann unter welchen

Pauline Wengeroffs Memoiren

255

Umständen? Nichtsdestoweniger gestalteten Frauen die intellektuelle und literarische Entwicklung der jüdischen Aufklärung mit, wie etwa Sarah Meinkin Foner, die ihren hebräischen Roman Eine gerechte Liebe 1881 in Wilna veröffentlichte. In Bezug auf Wengeroff hält Shulamit S. Magnus jedenfalls fest, »we have nothing vaguely comparable in claim or scope from another woman in the history of Jewish literature«3.

Aspekte von Wengeroffs Memoiren In einem Vorwort zum zweiten Band kommentiert Wengeroff ihre Erzählweise und -strategie, ihre programmatische Agenda von literarischer Geschichtsvermittlung: »Dem Vorhaben gemäß, treu und ungekünstelt die Vergangenheit zu schildern, wie sie noch heute in meinem Herzen und meiner Erinnerung lebt, will ich hier den Faden meiner Erzählung weiterspinnen und Bilder entschwundener Zeiten vorbeiziehen lassen.«4 Ihre eigene Geschichte transzendierend führt Wengeroff hier mikrogeschichtliche Erfahrungen und makrogeschichtliche Beobachtungen in Form einer Familiengeschichte zusammen. Ihre Wahrnehmungs- und daraus folgende Darstellungsweise gründet wiederum in ihrer sozialen Position. Durch ihr bürgerliches Selbstverständnis nimmt sie Wertungen vor, die nicht nur aufschlussreich für die jüdische Geschichte im Russländischen Reich im Besonderen sind, sondern Einblicke in soziale Hierarchien im Allgemeinen gewähren (zum Beispiel das Verhältnis von Groß-, Kleinbürgertum und Adel). Wengeroffs Betrachtungszeitraum reicht von den 1830er Jahren bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in anderen (und auch ihren) Worten ontologisch allumfassend von Kindheit bis Alter. Solch ein weiter zeitlicher Blick, zudem die Verschmelzung von Perspektiven, d. h. das Einholen von individuellen und allgemeinen Entwicklungen in der Position des berichtenden Subjekts, zeigen sich als eher ungewöhnlich in der autobiografischen jüdischen Literatur. Die Autorin greift, inspiriert und zuweilen desillusioniert von der Haskala, diverse Facetten in ihrer Schilderung auf: Sie thematisiert das jüdische Bildungswesen, die Bedeutung der Naturwissenschaften, den Wandel jüdischer Gebräuche, der Mode, des Habitus, den Generationenkonflikt. So etwa konstatiert sie im Zuge des Wirkens des deutsch-jüdischen Bildungsreformers Max Lilienthal zu dessen Bildungsprojekt im Russland der 1840er Jahre: »In aller Stille nahm unter den Juden Rußlands die Kulturbewegung ihren Anfang. Die Jugend regte sich energisch; die geistige Arbeit begann. […] Eine erfrischende Luft wehte 3 Magnus, East and West, 231. 4 Wengeroff, Memoiren 2, 1.

256

Olaf Terpitz

durch die jüdische Gesellschaft der Stadt Brest, wie durch die aller anderen russisch-jüdischen Orte.«5 Der Rolle der Sprache im kulturellen Viereck zwischen Deutsch, Russisch, Jiddisch und Hebräisch widmet sich Wengeroff etwa in der Szene, in der es zu einer Überlagerung, gar Überschreibung von religiösen Praxen und säkularer Deutung kommt: Es war eines Morgens in dem denkwürdigen Sommer des Jahres 1842, als meine Schwäger, ohne zu ahnen, daß jemand sie hören könnte, die neuen Bücher aus ihrem Versteck holten, auf den offenen Talmudfolianten legten und im Vereine mit dem dritten, Reb Herschel, einem Melamed aus der Kehila Orlo, der genial war und große talmudische Kenntnisse besaß, laut schreiend über einen Satz im »Don Carlos« disputierten. Um einer immerhin möglichen Überraschung vorzubeugen, lasen und sprachen sie genau in derselben singenden Weise, in der sie sonst den Talmud zu lernen pflegten.6

Die Anverwandlung von Habitus, sprachlicher Praxis und intellektueller Aspiration (talmudische Gelehrsamkeit, Kenntnis europäischer Sprachen, Begeisterung für zeitgenössische Literatur) der frühen Aufklärer spitzt sich in einem Generationenkonflikt zu: Versprachen einerseits für die junge Generation die Schiller’schen Werke, im Geiste der französischen Revolution nach liberté, egalité, fraternité verfasst, Emanzipation und Freiheit, so deutete die ältere Generation seine Rezeption als eine Frage nach dem Bruch mit Traditionen. Die Reaktion von Wengeroffs Mutter steht hier sinnbildlich: »›Sind es also wirklich nur die sündigen ›Büchlech‹, mit denen sich die jungen Leute befassen?‹ dachte sie mit einem großen Weh im Herzen.«7 Den intergenerationalen Begegnungen und Konflikten wohnt in Wengeroffs Schilderung immer auch ein Moment von, wenn auch unfreiwilliger, Komik inne, wie sie in der Beobachtung zum Naturstudium aufscheint: Daß die jungen Leute Deutsch und Russisch lernen wollten, leuchtete ihr [der Mutter von P.W.] am Ende ein. Sie begriff schließlich das Vergnügen an Lektüre, sie selbst war in der hebräischen Literatur sehr belesen; allein, daß sich jemand und gar ihre Schwiegersöhne dafür interessierten, wie sich die Ameise fortbewegt oder wieviele Füße der Maikäfer oder welche Augen ein grüner Wurm hat, das konnte sie nicht verstehen!8

In ihrer finalen Zeitdiagnose konstatiert Wengeroffs Mutter jedoch recht nüchtern in germanisiertem Jiddisch: »›Zwei Dinge kann ich gewiß sagen: Ich un mein ›Dor‹ (Generation) wellen gewiß als Juden leben und sterben; unsere Ei-

5 6 7 8

Wengeroff, Memoiren 1, 131. Ebd., 134–135. Ebd., 135. Ebd., 138–139.

Pauline Wengeroffs Memoiren

257

niklach (Enkel) wellen gewiß nicht als Juden leben und sterben. Nor wos von unsere Kinder wet weren, kenn ich nit ›raten‹ (erraten, voraussehen).‹«9 Ihre Tochter, Pauline Wengeroff, wiederum spitzt diese Einschätzung in Hinblick auf die Rolle der jüdischen Frau im familialen und gesellschaftlichen Gefüge der Zeit, der sie die Funktion der Bewahrerin und Überlieferin der Tradition zuschreibt, noch zu: »Die Frau, die an den Traditionen noch mit jeder Fiber ihres Wesens hing, wollte sie auch ihrem Kinde beibringen […] Aber auf alle Bitten und Einwände erhielten sie von ihren Männern stets die gleiche Antwort: ›Die Kinder brauchen keine Religion!‹«10 Mehr noch kontrastiert sie die Diskrepanz zwischen der bei ihr weiblich konnotierten Bewahrung von Tradition und dem männlich konnotierten Aufbruch in neue Zeiten, die bis zur erzwungenen Aufgabe von »Scheitel« und koscherer Küche führten: »Alle modernen Ideen, wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, in der Gesellschaft predigend, waren diese jungen Leute zu Hause ihren Frauen gegenüber die größten Despoten, die rücksichtslos die Erfüllung ihrer Wünsche forderten.«11 Während Magnus Wengeroffs Memoiren im Sinne von Geschlechterkonstellationen deutet – Wengeroff, of course, does not use the term, »gender,« but her woman-centered narrative is profoundly gendered, asserting that women and men had very different experiences of modernity and that there was a power shift between them that led to the loss of Jewish tradition.12

–, verweist Arno Nadel in seiner zeitgenössischen Besprechung in Ost und West auf noch einen anderen Aspekt, und zwar den der Interaktion zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Wahrnehmung von Wengeroffs Werk: »Wenn man einem Andersgläubigen einen Begriff von echten Juden geben will, soll man ihm diese Lebensbeschreibung in die Hand geben.«13

Schlussbetrachtung und Ausblick Die Wahrnehmung von Frauen und ihrem Schaffen in der Kulturgeschichte Osteuropas ist nach wie vor ein Desiderat der historischen Forschung. Wem außerhalb von informierten Expert:innenkreisen sind etwa die hebräische Schriftstellerin Sarah Meinkin Foner oder die jiddische Schriftstellerin Esther Kreitman, die Schwester des Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer, bekannt? 9 10 11 12 13

Wengeroff, Memoiren 2, 134. Ebd., 135–136. Ebd., 136. Magnus, East and West, 231. Nadel, Memoiren, 633.

258

Olaf Terpitz

Wenngleich in anderen, rezenteren Zeitschichten Namen wie Mascha Kaléko oder Nelly Sachs, die Historikerin Selma Stern, die Autorinnen Ilse Aichinger oder Dina Rubina sehr wohl Bekanntheit erlangten, wenn Frauen in der mehrsprachigen jüdischen Literaturgeschichte durchaus vertreten waren und sind, so eröffnet sich hier die Problematik einer Rezeptions- und Wahrnehmungsgeschichte. Pauline Wengeroff, ihre Memoiren und Beiträge zur zeitgenössischen deutschsprachig-jüdischen Presse erfuhren in ihrer Zeit eine lebhafte Rezeption. So vermerkt Geiger, auch im Sinne eines wünschenswerten positiveren jüdischen Geschichtsbildes, das auf persönlicher und intellektueller Stärke und Integrität beruht und gleichermaßen Annahmen entgegentritt, dass die jüdische Geschichte allein auf Verfolgung und Diskriminierung fokussiert, in der Allgemeinen Zeitung des Judentums: Es ist unmöglich, in die Einzelheiten dieses hochinteressanten Buches einzugehen. Nur das eine soll noch hervorgehoben werden: Es ist eine wahrhafte Freude, wie die Verfasserin dieses anziehende Leben liebenswürdig und anregend schildert und wie sie nach dem vielen Schweren, das sie erfahren, nach den traurigen Wechselfällen, denen sie unterworfen war, keine Verstimmung und noch viel weniger Verzweiflung aufkommen läßt, sondern sich mit inniger Freude in die Vergangenheit versenkt und voll heiteren Vertrauens auch der Zukunft entgegensteht.14

Wengeroff war eine Chronistin ihrer Zeit, die aus einem spezifischen Blickwinkel über die Transformationen im Russländischen Reich berichtete – so etwa verwundert ihre positive Darstellung von Nikolaus I. insbesondere im Vergleich zu der des »Reformzaren« Alexander II. Sie bindet in ihre Erzählung Referenzen auf Psalmen und Tora ebenso ein wie das Gelegenheitsgedicht zum Herrscherlob, wobei ihre Erzählperspektive eine dialogische Form – sowohl zwischen zeitgenössischen Akteuren als auch mit prospektiven Leser:innen – intendiert. Bestand ihr Vorhaben zeitgenössisch darin, die jüdische Tradition im Spannungsfeld von Bewahrung, Transformation und Herausforderung zu schildern, so kam ihren Memoiren rezeptionsgeschichtlich bemerkenswert neues Interesse, gewissermaßen eine Wiederkehr in die Wahrnehmung, erst mit der geopolitischen Zäsur der 1990er Jahre zu: 2003 wurden sie ins Russische übersetzt, 2000 und 2016 ins Amerikanische. Abgesehen davon bieten die transnationalen Verflechtungen von Wengeroffs Werk und Familiengeschichte Einblicke in die Verschränkungen der europäischen Moderne. Der Verlag Poppelauer, in dem Wengeroffs Memoiren erschienen, wurde 1860 von Moritz (Moses) Poppelauer in Berlin gegründet. 1824 in Kalisz geboren, das damals zum Russländischen Reich gehörte, spielte die Stadt

14 Geiger, Memoiren, 453.

Pauline Wengeroffs Memoiren

259

eine eminente Rolle in der jüdischen Geschichte Osteuropas: 1264 wurde hier das Statut von Kalisz erlassen, ein Judenschutzbrief, der bis 1795 die Position der jüdischen Bevölkerung definierte. Poppelauer selbst studierte in Kalisz, Leipzig und Jena, bevor er seine Verlagsbuchhandlung eröffnete, die recht bald zu einem der renommiertesten jüdischen Verlage in Deutschland avancierte. Ein Blick in Wengeroffs Familiengeschichte selbst offeriert Einblicke in (trans-)kulturelle Verschränkungen: Während einer ihrer Söhne, Semën A. Vengerov, der mütterlicherseits mit dem Dichter des russischen Silbernen Zeitalters Osip È. Mandel’sˇtam verwandt war, ein eminenter russischer Literaturhistoriker seiner Zeit wurde, etablierte sich ihre Tochter Isabelle Vengerova als Pianistin und Musikpädagogin, die in Wien studiert hatte, wo sie mit Arthur Schnitzler befreundet war, und Mitte der 1920er Jahre in die USA übersiedelte, wo zu ihren Schülern u. a. Leonard Bernstein zählte. Pauline Wengeroffs Spur führt mithin bis in unsere Gegenwart.

Quellen Anon., Pauline Wengeroff. Memoiren einer Großmutter. In: Die Welt 15/12 (1911), 265. Ludwig Geiger, Memoiren von Pauline Wengeroff. In: Allgemeine Zeitung des Judentums 74/38 (1910), 451–453. Arno Nadel, Memoiren einer Grossmutter. In: Ost und West 10 (1910), 633–637. Pauline Wengeroff, Memoiren einer Grossmutter. Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert. Bd. 1 u. 2, Berlin 21913 [1908] u. 1910. Pauline Wengeroff, Rememberings. The World of a Russian-Jewish Woman in the Nineteenth Century. Übersetzt von Henny Wenkart, hg. mit einem Nachwort von Bernard D. Cooperman. Bethesda 2000. Polina Vengerov, Vospominanija babusˇki. Ocˇerki kul’turnoj istorii evreev Rossii v XIX veke. Moskva/Ierusalim 2003. Pauline Wengeroff, A Woman’s Life. Pauline Wengeroff and Memoirs of a Grandmother. Hg. von Shulamit S. Magnus. Oxford/Portland 2016.

Literatur Carole B. Balin, To Reveal Our Hearts. Jewish Women Writers in Tsarist Russia. Cincinatti 2000. Salo Baron, Ghetto and Emancipation. Shall We Revise the Traditional View? In: The Menorah Journal (1928), 515–526. Michael Brenner, The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany. Yale 1996. Sheila E. Jelen, Women and Jewish Literature. In: Nashim: A Journal of Jewish Women’s Studies and Gender Issues 16/2 (2008), 153–173.

260

Olaf Terpitz

Andreas Kilcher, Geteilte Freude. Schiller-Rezeption in der jüdischen Moderne. München 2007. Shulamit S. Magnus, Between East and West: Pauline Wengeroff and her Cultural History of the Jews of Russia. In: Steven Aschheim/Vivian Liska (Hg.), The German-Jewish Experience Revisited. Berlin/Boston 2015, 231–245. Marcus Moseley, Being for Myself Alone. Origins of Jewish Autobiography. Stanford 2006. Olaf Terpitz, Russisch als eine jüdische Sprache. Sprachkulturelle Dynamiken zwischen Imperium und Nation (1800–1930) (unveröff. Habilitationsschrift). Wien 2015.

Gerhard Langer

Das Bild Polens und der Polen bei Soma Morgenstern

Oft ist die Rede von der ›versunkenen Welt‹, wenn über das Judentum Ostmitteleuropas geredet wird. Ein maßgeblicher Teil der Kultur sei verloren, ein prägendes Element in Kunst, Kultur, Religion, ja ein sichtbarer und äußerst lebendiger Bestandteil des Alltags verschwunden. Fährt man heute durch die Länder, so freut man sich zwar an neuen Gemeinden und dem Versuch, Kultur museal und erinnerungstechnisch zu bewahren, der Eindruck der ›versunkenen Welt‹ ist dennoch allgegenwärtig. Zu den Opfern des Zivilisationsbruches gehört auch Soma Morgenstern. Mit seiner Romantrilogie Funken im Abgrund, mit der an alte jüdische Midraschim gemahnenden Erzählung »Die Blutsäule«, seinen autobiografischen Werken In einer anderen Zeit und Flucht aus Frankreich, den persönlichen Biografien zu Joseph Roth und Alban Berg und seinem wahrscheinlich unvollendeten Roman Der Tod ist ein Flop gehört er zweifellos zu den faszinierendsten Erscheinungen der deutschsprachigen Literatur über das Leben als Jude in einer Welt des Umbruchs und der Emigration. Morgenstern war in der Tradition verankerter Jude und gleichzeitig – oder vielleicht gerade deshalb – ein Verfechter eines tiefen Glaubens an die soziale und gesellschaftliche Gerechtigkeit, ein Zionist, der jedoch Amerika als Emigrant gegenüber Israel den Vorzug gab – Amerika, wo er 1976 starb, ohne einen wirklichen Durchbruch als Schriftsteller erreicht zu haben. Autoren wie Robert Musil und Stefan Zweig erkannten das große Potenzial, das in den Werken Morgensterns liegt, und jüngere literaturwissenschaftliche Arbeiten geben Grund zur Hoffnung, dass der Literat seine ihm zustehende Würdigung erhält. Die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten und der darauffolgende (kulturelle) Feldzug gegen das Judentum durch den Kommunismus beendete ein über Jahrhunderte währendes keineswegs friktionsfreies und lange vor Eintreffen der ›Deutschen‹ durch Antisemitismus geprägtes Zusammenleben von Juden und Nichtjuden. Und dennoch wäre es völlig verfehlt, die Geschichte des Miteinanders von Juden und Nichtjuden in Ostmitteleuropa ausschließlich als Geschichte der Feindschaft und der Pogrome zu begreifen. Viel differenzierter,

262

Gerhard Langer

vielschichtiger und bunter war dieses Leben, reich an Austausch und vielseitigem Kontakt. In diese Welt hinein wurde am 3. Mai 1890 in Budzanów bei Trembowla – einem Marktflecken mit rund 5.000 Einwohnern – dem chassidischen Händler Abraham und seiner aus wohlhabender Familie stammenden Frau Sara Morgenstern der kleine Salomo geboren, der sich als Schriftsteller später Soma Morgenstern nennen sollte. Der Ort liegt heute in der Ukraine, damals aber war er Teil der habsburgischen Monarchie und nach Ende des Ersten Weltkrieges gehörte er zu Polen. Stärker als Budzanów würde für Soma jedoch Dobropolje von Bedeutung sein, wohin die Familie nach einem mehrjährigen Zwischenaufenthalt in Loszniów 1898 übersiedelte. Dobropolje sollte der Ort sein, an dem seine große Trilogie Funken im Abgrund spielen würde, eine der bedeutenden Schilderungen des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden auf dem Land, die je geschrieben wurde. Ab 1904 besuchte Soma Morgenstern das polnische Gymnasium in Tarnopol (›Ternopil‹). Dieser Ort war einst im 16. Jahrhundert eine polnische Gründung gewesen, ein Militärstützpunkt mit Festung. Von 1569 bis 1772 war er Teil der Wojewodschaft Ruthenien und kam später zu Österreich. 1921 wiederum wurde Tarnopol Hauptstadt der gleichnamigen Wojewodschaft. Im Jahre 1939 hatte der Ort schon über 34.000 Einwohner, davon ca. 18.000 Juden. Salomo konnte natürlich bereits Polnisch, als er in die Schule kam. Seine Muttersprache, seine mame-loschn, war Jiddisch, aber Salomo lernte auch Ukrainisch, vor allem durch die von ihm hochverehrte Amme Donja, die er in Funken im Abgrund als Liebe seines Helden verewigte. In seiner in den 1970er Jahren, also knapp vor seinem Tod 1976, entstandenen Kindheitsbiografie In einer anderen Zeit beschreibt er seine wilde Entschlossenheit, auch gegen den Willen des Vaters in das – polnische – Gymnasium in Tarnopol zu gehen: Gestützt auf meine Kenntnisse der polnischen Grammatik und im Besitz eines ausgezeichneten Zeugnisses von der vierten Dorfschulklasse beschloss ich im Juli des folgenden Jahres alles zu tun, um einen Weg zur Aufnahmeprüfung für Gymnasium zu finden.1

Salomo kam zu spät zur Aufnahmeprüfung. Es war schließlich ein polnischer Lehrer, der ihm trotzdem diese Prüfung gestattete und ihm damit maßgeblich zu seinem weiteren Lebensweg verhalf. Der kleine bärtige Mann, der mein Leben gerettet hat, hieß – wie sollte ich seinen Namen je vergessen! – Gawalewicz. Leider weiß ich den Vornamen nicht mehr. In den acht Schuljahren war er nie Lehrer in meiner Klasse. Er hatte ein Haus voller Kinder, Mädchen und Buben, alle älter als ich. Als ich ihm mein erstes Zeugnis vorgelegt habe, 1 Morgenstern, In einer anderen Zeit, 194.

Das Bild Polens und der Polen bei Soma Morgenstern

263

sagte er: »Ich bin sehr stolz auf dich. Gut, daß ich dich noch zugelassen habe.« Er war ein Pole.2

In den Lebenserinnerungen Soma Morgensterns spielt noch ein weiterer polnischer Lehrer eine wichtige positive Rolle. Er hieß Tyszkowski: Dieser Professor Tyszkowski hatte noch nicht den Titel. Er war noch zu jung und war auch kein großes Kirchenlicht in Latein. Aber wir hatten ihn zwei Jahre für diesen Gegenstand, und wenn er auch hin und wieder eine lächerliche Bemerkung machte, gewann er den Respekt der ganzen Klasse, sogar der Brüder Pla˛skowski, wie kein anderer Lehrer.3

Tyszkowski wurde zu einer Art Förderer und Beschützer, der auch nach dem tragischen Tod des Vaters von Soma seinen Einfluss geltend machte, um eine Witwenrente für Somas Mutter zu beantragen. Daneben sind es einige Schüler, die Morgenstern in guter Erinnerung hat, mit denen er einst Austausch pflegte: Das Haus, in dem wir hier wohnten war ein Zwei-Familien-Haus. In der zweiten Wohnung wohnte der Ökonom, ein Pole namens Ga˛siorowski […] Mit dem jungen Ga˛siorowski ging ich öfters baden. Wir schwammen in der Strypa und saßen am Ufer und tauschten Lieder aus. Er sang mir polnische und ich ihm mehr ukrainische, die ihn sehr traurig stimmten4.

Ebenso positiv erscheint trotz etwas ambivalenter Betrachtung der Klassenlehrer Rybin´ski, der ein sehr kritisches Verhältnis zur Geschichte hatte und ein kluger und weitblickender Mensch war, was Morgenstern erst später verstand. Rybin´ski kritisierte Jan Sobieski, den Retter Wiens während der Belagerung durch die Türken, weil er durch seinen Schutz Österreichs letztlich an der Teilung Polens Mitschuld trüge. »Als Politiker war er »Bogu ducha winien król«, »ein Gott die Seele schuldiger König« – eine Phrase, die sowohl in polnischer als auch in jiddischer Sprache besagt, dass er als Politiker ein unschuldiger Dummkopf war.«5 Rybin´ski verspottete den polnischen Künstler Stanisław Wyspian´ski, den Morgenstern überaus schätzte, als Imitator lächerlich naiver bäuerlicher Weihnachtsspiele.6 Er kritisierte zudem die polnische Sprache: Er übte auch scharfe Kritik an vielen polnischen Wörtern, die unter dem Einfluss der deutschen Sprache entstanden waren, und gab Beispiele dafür, die mir heute als richtig einleuchten, obwohl ich mein Interesse an der polnischen Sprache und ihrer Literatur

2 3 4 5 6

Ebd., 200. Ebd., 237. Ebd., 250–251. Ebd. 274. Ebd. 274–275.

264

Gerhard Langer

längst habe verkümmern lassen aus Gründen, die ich als leichtverständlich erachte und hier nicht erörtern brauche.7

Auf diese kritische Bemerkung ist hier nicht näher einzugehen, doch noch ein Beispiel eher sympathischer Betrachtung des Polnischen: Professor Czerwinski, ein Historiker, war kein Antisemit. Aber es tat ihm leid, dass so viele jüdische Schüler deutsche Namen hatten. Abgesehen davon, dass sie deutsch waren, gefielen ihm die Namen nicht. »In dieser Klasse gibt es nur zwei deutsche Namen: Rosenmann und Morgenstern«, sagte er. Er linderte sein Leiden dadurch, dass er unsere Namen auf polnisch akzentuierte. In der polnischen Sprache haben alle Wörter, mit geringen Ausnahmen, den Akzent auf der vorletzten Silbe. Wenn er den Schüler Rosenmann aufrief, polonisierte er den Namen, obwohl er ihn schön fand, indem er Rosénmann sagte. Dasselbe machte er mit meinem Namen. Ich hieß bei ihm Morgénstern. Eines Tags fiel ihm ein, dass Morgenstern eigentlich kein deutscher, sondern ein nordischer Name ist, und er fing an, mich nicht mehr als Morgenstern aufzurufen, sondern als Oxenstierna.8

Zu vermerken ist auch, dass Morgenstern bei einem Besuch in Israel einen alten Schulfreund namens Roth besuchte, der mit ihm nur modernes Hebräisch sprach, mit Ausnahme von polnischen Zitaten, die sich auf den Freiheitskampf von 1812 bezogen, die Roth »mit dem Frühling verglich, der Israel Freiheit gebracht hatte«9. Für Soma Morgenstern war die polnische Kultur noch in einer anderen Hinsicht prägend. Er besuchte 1908 in Lemberg ein Theater, wo man das Stück Se˛dziowie (Die Richter) von dem von ihm verehrten Stanisław Wyspian´ski aufführte. Von diesem Zeitpunkt an beschloss Morgenstern, sich intensiv mit Literatur zu befassen. Tatsächlich war die Übersetzung von Se˛dziowie dann 1920 sein erster literarischer Versuch. Zu dieser Zeit lebte er in Wien, war allerdings aufgrund des Zerfalls der Monarchie polnischer Staatsbürger geworden. Morgenstern lernte seine spätere Frau (Hochzeit 1928) kennen, die Dänin Ingeborg von Klenau, die ihm auch seine spätere Langzeitstelle bei der Frankfurter Zeitung verschaffte. 1930 begann er, an seinem Romanzyklus Funken im Abgrund zu arbeiten, dessen erster Teil 1935 als Der Sohn des verlorenen Sohnes erschien. Der Roman ist eine grandiose Schilderung des Lebens von Juden – und Nichtjuden – am Ausgang einer Zeit des Miteinander in dem erst zu Galizien, dann zu Polen gehörenden Dorf Dobropolje, das einen alten Teil hatte, der von Ukrainern, und einen neuen Teil, der von Polen bewohnt wurde. Juden lebten vor allem im alten Teil. Der Inhalt kann hier nicht nachgezeichnet werden, ich beschränke mich auf ein paar Schlüsselelemente, in denen Polen eine Rolle spielen. Insgesamt fällt auf, 7 Ebd., 275. 8 Ebd., 320. 9 Ebd., 354.

Das Bild Polens und der Polen bei Soma Morgenstern

265

dass die Sympathien eher bei den Ukrainern liegen, die Morgenstern wohl als Minderheit im Land stärker den Juden verwandt sah. In der Autobiografie heißt es einmal: »Ich kann es nicht vermeiden, etwas über den Antisemitismus in den Mittelschulen Galiziens zu sagen. Es war derselbe katholische Antisemitismus, der in Österreich üblich war. Nur hatte er hier eine polnische Färbung.«10 Morgenstern lässt in der Trilogie Funken im Abgrund vor allem an einer Schlüsselszene das Blut gefrieren. Es handelt sich dabei um den Mord an einem jüdischen Knaben namens Lippusch, Lipale genannt. Lipa ist das polnische Wort für die Linde. Darauf verweist Soma Morgenstern selbst in In einer anderen Zeit in einer Erzählung, in der der Knabe durch ein Haferfeld streift. »Es war im Juli. Auf polnisch heißt der Lindenbaum: lipa. Und der Monat Juli heißt nach dem Lindenbaum auf polnisch: lipiec, weil dort der Lindenbaum im Monat Juli blüht.«11 Lipale ist nicht nur äußerst gescheit, ein unschuldiger, weiser Junge, der in Funken im Abgrund (Idyll im Exil) seinem alkoholkranken Vater einen Kirschbrand bringen will und dabei über den Gazon, ein Feld, das altes und neues Dorf trennt, nach Hause geht. Vom polnisch besiedelten neuen Dorf kommt die Gefahr. Die Menschen sind aufgestachelt vom Gemeindeschreiber, einem Mann mit Matura. In der langen Szene (acht Seiten!) wird der brutale Mord an Lippusch geschildert, den auch der zur Hilfe kommende Ukrainer Panjko, eine für die gesamte Erzählung wichtige Figur, nicht mehr verhindern kann. Die Szene ist religiös aufgeladen: Lippusch symbolisiert die Hoffnung der jüdischen Nation, einen der nach einer verbreiteten jüdischen Tradition in jeder Generation für das Erhalten der Welt notwendigen 36 Gerechten. Seine Ermordung nimmt die »Wehen des Messias«, die Schreckenszeiten vor Ankunft des Messias, die in Morgensterns großer Schoa-Aufarbeitung Die Blutsäule an ihren Höhepunkt gelangen, schon im Kleinen vorweg. Lipale wird wie eine »Taube zertreten«12 heißt es da in deutlicher Anspielung auf die Taube als das Symbol des leidenden Israel. Einer der Mörder tanzt nach dem Mord, genauso wie der Teufelsbote in der Blutsäule. Er ist von »Kirsch und Blut«13 volltrunken und bekommt schließlich auch noch sein eigenes Blut zu trinken, als Panjko in letzter Verzweiflung seine Sense schwingt. Der Text ist hier wie so oft bei Morgenstern voller tiefer Anklänge an jüdische (und christliche) Motive und vereinigt die religiöse Gedankenwelt von Rettung durch das Blut (Christi) und dem Martyrium mit dem Schreckensszenario des sinnlosen Mordens. Nicht zufällig wird der Ausspruch einer 10 11 12 13

Ebd., 276. Ebd., 41. Morgenstern, Funken im Abgrund, 341. Ebd., 339.

266

Gerhard Langer

Bäuerin, als Lippusch geschlagen wird und zu bluten beginnt, zitiert: »Jesu Blut und Wunden! […] Das sind die Mokrzycki-Brüder14, die Mörder!« Im Kontext erhält diese Form des »Um Gottes Willen« eine eigene Bedeutung als Hinweis auf die Funktion des Blutes im Opfer- und Täterkontext und darüber hinaus als Sühnemittel im Judentum ebenso wie im Christentum, wo das Blut Jesu versöhnend wirkt. Der katholische polnische Antisemitismus hat hier einen konkreten Namen: Mokrzycki. Neben den Brüdern Mokrzycki sind als negative Figuren noch der intrigante polnische Gemeindeschreiber, der »Mann mit Matura«, und der polnische Innenminister zu nennen, der die Stadt sogar zu einem wirtschaftlichen Boykott gegen die Juden aufruft, was zeigt, wie innerstaatliche Konflikte auf dem Rücken eines ›alten‹ Feindes ausgetragen werden. Der junge polnische Staat erscheint als nationalistisch und dabei antisemitisch gefärbt. Morgenstern schildert auch eine beeinflussbare Volksmenge, die sich von Einzelnen mitreißen lässt und beschreibt damit sehr drastisch das Bild einer Welt, die niemals heil war und deren scheinbare Stabilität durch Hetze und Intrige endgültig ins Wanken gerät. Das Bild Polens wandelt sich nicht zum Guten. Aus einem Brief des Komponisten Karol Rathaus an seinen Freund Morgenstern vom 31. März 1943 erfährt man über dessen Einstellung: Was ich erhielt, war unerwartet; auf die Aufwerfung des jüdischen Problems in Nachkriegs-Europa hast Du mir geantwortet, dass ein Rabbiner in Tarnopol ein Heiliger war. Auf meine Frage wie ein Modus vivendi für die Judenmassen in Polen zu finden wäre, dass die Polen Antisemiten sind und Mörder.15

Die Anschuldigung, dass Polen generell Antisemiten und Mörder waren, ist schwerwiegend und wird durch einen weiteren Brief vom 1. Mai 1956 erhärtet, den Morgenstern von seinem Freund, dem Grafiker, Zeichner und Schriftsteller Rafaello Busoni erhält: »Er [Hitler] hat gegen die [unleserlich] Polen, die nota bene genau so antisemitisch waren, wie er es wünschen konnte, [unleserlich] gewütet wie gegen Juden. […] Doch die Polen hatten immerhin a shadow of a chance.«16 In einem Brief von Karola Bloch an Morgenstern vom 31. Oktober 1969 wird deutlich Kritik an der kommunistischen polnischen Regierung geübt. Die Situation der Juden in Polen erscheint als dramatisch: »In der letzten Zeit bin

14 Die Gebrüder Mokrzycki kommen auch In einer anderen Zeit vor. Sie waren Mitschüler, die Morgenstern angeschwärzt hatten, ein Kätzchen getreten zu haben, ehe sich nach Ausforschungen des Direktors durch Zeugenaussage eines Mädchens herausstellt, dass die Mokrzycki-Brüder selbst das Kätzchen gequält hatten, Morgenstern, In einer anderen Zeit, 115– 116; 120. 15 EB 96/ 242-B.01.01.60, Karol Rathaus an Soma Morgenstern, 31. 3. 1943. 16 EB 96/242-B.01.0029, Busoni Rafaello an Soma Morgenstern, 1. 5. 1956.

Das Bild Polens und der Polen bei Soma Morgenstern

267

ˇ SSR und in ich ziemlich deprimiert wegen der entsetzlichen Entwicklung in der C Polen. Dort ist der Faschismus vollends ausgebrochen – man kann sich für die [unleserlich] Klique nur schämen.«17 Der politische Kontext ist bekannt. Am 8. März 1968 begannen Massenentlassungen von Juden und der Druck zur Emigration stieg. Morgenstern mag durch diese Ereignisse und durch den Eindruck, den sie auf die befreundeten Briefschreiber hinterließen, durchaus beeinflusst gewesen sein. Allerdings darf daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass Morgenstern vor allem gegen die Polen grundsätzlich negativ eingestellt gewesen wäre. Vielmehr drückte sich seine Enttäuschung gegenüber ganz Europa nach dem Krieg deutlich aus und umfasste nicht zuletzt die katholische Kirche, die er immer wieder kritisierte. Ein Lichtblick dabei war ihm Johannes XXIII, über den er in Der Tod ist ein Flop schrieb: Der Unterschied zwischen einem Heiligen Vater und einem wahren Heiligen ist so wie der Unterschied zwischen einem Generalmusikdirektor zu einem General. Der vom Himmel Gesandte hat für sich als Papst nicht etwa den Namen Pius XIII., sondern den würdigen Namen Jochanaan auf hebräisch, Johannes auf lateinisch gewählt. Obwohl ein alter Mann, hat er es unternommen, die Kirche auf den wahren Weg zurückzuführen. Er hat ein Konzil einberufen und gründliche Reformen in der Theologie gewagt. Auch das Verhältnis der Kirche zu den Juden und zu Israel hat er zum Wohl der Kirche und der Juden ins rechte Licht gerückt. […] Er hat uns ein Bußgebet für die Juden hinterlassen.18

In Der Tod ist ein Flop wird deutlich darauf verwiesen, dass der Grund für die besondere Wertschätzung dieses Papstes vor allem in seinem Einsatz als Bischof in der Türkei für die Juden in Bulgarien bestand, wo er einmal als apostolischer Visitator tätig war. Viele Juden konnten mit seiner Hilfe gerettet werden. Den ersten polnischen Papst der Geschichte, Karol Józef Wojtyła, Jan Paweł/Johannes Paul II. hat Soma Morgenstern nicht mehr erlebt. Dieser Papst war es, der wie kein anderer vor ihm die jüdisch-christliche Versöhnung auf den Weg gebracht und das Verhältnis zwischen Judentum und katholischer Kirche maßgeblich verbessert hat. Soma Morgenstern war ein Beobachter der Welt, einer, der mit wachem Auge und tiefer Emotion die Vorgänge des 20. Jahrhunderts schilderte und selbst an ihnen teilhatte, als Betroffener, als Verfolgter, Flüchtling, Exilant, als zu wenig beachteter und weithin unterschätzter Schreiber, den es wiederzuentdecken gilt. Sein Bild der Polen und Polens ist ambivalent und ausgestreckt zwischen einzelnen positiven Erinnerungen zum einen und der Erfahrung des Antisemitismus mit katholischer Prägung zum anderen. Ob dieses Bild überzeichnet ist oder sich endgültig in der modernen Geschichte Polens überholt hat, bleibt abzu17 EB 96/242-B.01.0020, Karola Bloch an Soma Morgenstern, 31. 10. 1969. 18 Morgenstern, Der Tod, 156.

268

Gerhard Langer

warten und – auch entgegen negativer Entwicklungen in manchen Bereichen – zu hoffen.

Quellen Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, Nachlass Soma Morgenstern, Frankfurt/Main (EB 96). Soma Morgenstern, Funken im Abgrund, 3 Bde.: Der Sohn des verlorenen Sohnes/Idyll im Exil/Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes, hg. von Ingolf Schulte. Lüneburg 1996. Soma Morgenstern, Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth, hg. von Ingolf Schulte. Lüneburg 1997. Soma Morgenstern, In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien, hg. von Ingolf Schulte. Berlin 1999. Soma Morgenstern, Der Tod ist ein Flop, hg. von Ingolf Schulte. Berlin 2001.

Claudia Theune

Formen des Gedenkens und deren Materialität

Am Abend des 2. November 2020 verübte ein Einzeltäter im Zentrum Wiens einen terroristischen Anschlag, bei dem der Attentäter innerhalb weniger Minuten vier Menschen ermordet und 17 weitere durch Schüsse verwundete, zudem verletzten sich etliche andere Personen. Nach rund zehn Minuten erschoss die Polizei den Attentäter. An diesem Abend – vor dem Beginn eines weiteren Lockdowns im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie am folgenden Tag – haben sehr viele Menschen in Wien die Gelegenheit genutzt, um noch einmal in die Wiener Innenstadt in eine Gaststätte, ein Kino zu gehen oder eine andere Kulturveranstaltung zu besuchen, so auch Kerstin Jobst und ich. Am 6. November haben wir die Orte des Anschlags zwischen dem Rabensteig, dem Desider-Friedmann-Platz, der Judengasse, dem Ruprechtsplatz, dem Morzinplatz und der Seitenstättengasse besucht. Wie so viele andere Menschen gedachten wir der Opfer und legten am Desider-Friedmann-Platz Blumen nieder. Zu dem Zeitpunkt hatten schon viele Menschen an dem Weg, den der Attentäter genommen und wo er wahllos getötet hatte, durch unzählige Blumen, Grabkerzen, Engelsfiguren, beschriebene Karten, Trauerkränze und anderes mehr ihrem Gedenken Ausdruck verliehen (Abb. 1). Am Morzinplatz wurden Laubblätter an eine Hauswand geheftet, auf denen Botschaften geschrieben werden konnten (Abb. 2). Ich selbst war am 12., am 22. November und am 21. Dezember noch einmal dort, die Zahl der Blumen und Kerzen und anderer Trauerbotschaften hatte weiter zugenommen. Nach dem Anschlag gab es einige Gedenkveranstaltungen mit offiziellen Repräsentanten der Stadt Wien und der Republik Österreich sowie verschiedener Glaubensgemeinschaften und anderer Organisationen, bei denen Trauerkränze dargebracht wurden. Gut sichtbar waren zu diesem Zeitpunkt noch Markierungen der Polizei an etlichen Stellen, die Hinweise zum Tathergang gaben; Einschusslöcher in Fenstern und Hauswänden waren erkennbar. Objekte, die mit der Tat in Zusammenhang standen, wie Geschosshülsen oder auch die Jacke des Attentäters, hatte die Polizei als Beweismittel schon mitgenommen. Diese Dinge dienen neben

270

Claudia Theune

Abb. 1: Desider-Friedmann-Platz, Blumen, Kerzen, Trauerkränze und andere Objekte des Gedenkens, links: 6. November 2020, rechts: 22. November 2020, © Claudia Theune.

Abb. 2: Morzinplatz, Laubblätter mit Botschaften, links: 6. November 2022, rechts: 22. November 2020, © Claudia Theune.

zahlreichen Fotos, Filmen, auch aus den sozialen Medien, sowie Aussagen von Zeuginnen und Zeugen, zur Aufklärung des Attentats. Am 25. Januar 2021 entfernten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Magistrates der Stadt Wien nach einer weiteren kleinen Gedenkveranstaltung alle Blumen, Kerzen und die anderen Dinge. Dies diente der Vorbereitung der Errichtung einer kleinen Gedenkstätte mit einem Gedenkstein am Desider-Friedmann-Platz. Nach Aussage des Wiener Bürgermeisters Michael Ludwig waren die über Wochen niedergelegten Gedenkobjekte »witterungsbedingt schon sehr beeinträchtigt«1. Ein Teil der Objekte befindet sich nun im Haus der Geschichte Österreichs bzw. im Wien Museum. Beide Institutionen sehen es als ihre Aufgabe an, das Gedenken seit November 2020 zu dokumentieren; dazu gehört auch die Aufbewahrung dinglicher Überreste.2 Aus weiteren Objekten, wie zahlreiche 1 Zit. nach ORF: https://wien.orf.at/stories/3086780/ (20. 9. 2021). 2 Austria Presse Agentur, Roland Schlager, 25. 1. 2021; Aktuell in Wien ORF.at, https://wien.orf.a t/stories/3086780/ (20. 9. 2021); freundliche Auskunft von Monika Sommer, Direktorin des Hauses der Geschichte Österreichs, und Matti Bunzl, Direktor Wien Museum.

Formen des Gedenkens und deren Materialität

271

Kerzen, Botschaften und Blumen, haben zudem Künstlerinnen und Künstler ein Kunstwerk (DENK Mahn MAL) gefertigt, welches bis März 2021 im Stephansdom zu sehen war. Der Gedenkstein an der neuen Gedenkstätte wurde am 23. Februar 2021 enthüllt. Er besteht aus Hartberger Granit mit der in Deutsch und Englisch verfassten Inschrift: »Im Gedenken an die Opfer des Terroranschlags vom 2. November 2020« / »In memoriam of the victims of the attack on 2 November 2020«. Die Namen der vier Opfer werden nicht genannt. Das Wappen der Stadt Wien und der Schriftzug »Stadt Wien« verweisen eindeutig auf den Initiator (Abb. 3).

Abb. 3: Desider-Friedmann-Platz, Gedenkstein der Stadt Wien, Aufnahme vom 2. Mai 2021, © Claudia Theune.

Der Gedenkstein am Desider-Friedmann-Platz fungiert seitdem als alleiniger offizieller Gedenkort und kann als institutionelles Mahnmal bezeichnet werden. Damit wird der Ort des Gedenkens fixiert. Nur an diesem Platz ist nun das

272

Claudia Theune

Attentat memoralisiert, nicht in der Judengasse, am Ruprechtsplatz, am Morzinplatz oder der Seitenstättengasse. Dies ist umso augenscheinlicher, da die anderen Spuren des Attentats inzwischen nicht mehr erkennbar sind. Die Einschusslöcher in den Hausfassaden wurden geschlossen, die Fenster repariert; die Bodenmarkierungen der Polizei sind nicht mehr zu sehen. Vereinzelt werden, etwa am Jahrestag, neben dem Gedenkstein – aber nicht mehr an den anderen Orten des Anschlags – weiterhin ab und zu Blumen, Grabkerzen oder auch Kränze niedergelegt, die aber nach einer Weile wieder entfernt werden. Dieses Beispiel zeigt, dass das Gedenken an die Opfer des Anschlags in unterschiedlicher Materialität ausgedrückt wurde und durch unterschiedliche Akteure, Privatpersonen, Institutionen bzw. offizielle Vertreter der Stadt und des Staates seinen Ausdruck findet. Eine entsprechende Veränderlichkeit der materiellen Gedenkformen kann weltweit bei gewalttätigen (terroristischen) Anschlägen und Amokläufen, bei denen Menschen getötet bzw. ermordet werden, beobachtet werden. Ähnliches gilt auch bei dem plötzlichen Tod berühmter Persönlichkeiten. Der wissenschaftliche Diskurs zum individuellen oder kollektiven Gedenken, zur Erinnerungskultur, zu Erinnerungsorten oder -räumen, zu widerstreitenden Gedenken (contested memory) ist kaum noch zu überblicken, jedoch wird weniger über den materiellen Ausdruck des Gedenkens bzw. dessen Veränderlichkeit im Verlauf der Zeit diskutiert. Im Folgenden soll diese Varianz und die Bedeutung der materiellen Kultur im Hinblick auf Gedenken diskutiert werden, wobei der Anschlag in Wien als Referenzpunkt herangezogen wird. Zudem werden die verschiedenen Akteurinnen und Akteure und deren Handeln in den Blick genommen. Im Falle des Anschlags in Wien wird das offizielle Narrativ und Gedenken von der Bevölkerung mitgetragen, kein zuwiderlaufendes Narrativ wurde in der Folge in den verschiedenen Medien diskutiert. Allerding sei erwähnt, dass bei einer Vielzahl von gewaltbeladenen Konflikten verschiedene Narrative und Erinnerungsformen durch unterschiedliche Gruppen und Institutionen miteinander konkurrieren können. Ein erstes materielles Gedenken kann zunächst einmal als ein individuelles und persönliches Gedenken an und Trauer um die Getöteten bezeichnet werden. Persönliches Gedenken wird durch die gezielte Adressierung an konkrete Opfer, etwa durch die Nennung des Namens, deutlich. Individuell meint hier, dass zahlreiche Menschen, aber auch Organisationen und Gruppen ihre Betroffenheit durch die Niederlegung von bestimmten Objekten ausdrücken; diese Personen haben die Opfer nicht gekannt, zeigen aber ihre Anteilnahme. Die Vielzahl dieser Gedenkbekundungen belegt, dass das Gedenken zunächst von einer großen Zahl von Menschen getragen wird, ein kollektives Gemeinschaftsgefühl der Betroffenheit wird so vermittelt, welches auch identifikationsstiftend wirkt.

Formen des Gedenkens und deren Materialität

273

Als Ausdruck eines solchen individuellen Gedenkens wurden in Wien in erster Linie Blumen niedergelegt, sie sollten Anteilnahme symbolisieren, versinnbildlichten aber auch Vergänglichkeit. Grabkerzen sind ursprünglich spezifisch katholisch-christliche Symbole des ewigen Lebens und der Seele des Verstorbenen. Weitere christliche Formen der Trauer und Erinnerung sind etwa kleine Engelsfiguren, denen eine beschützende Funktion zugeschrieben werden kann. Unterschiedliche Glaubensrichtungen und Religionen, aber auch agnostische oder atheistische Anschauungen werden durch Botschaften deutlich. Solche Sprüche oder Gedichte wurden auf Papier, Plakaten oder die Ummantelung der Grabkerzen geschrieben, und es wurden Zeichnungen angefertigt. Um Haltbarkeit zu gewährleisten, wurde teilweise das Papier laminiert. Andere Menschen notierten Botschaften auf den erwähnten Laubblättern. Auch diese Nachrichten sollen den Zusammenhalt der Hinterbliebenen ausdrücken. Zudem werden Anklagen und Ächtungen des Täters aufgeschrieben. In der Regel werden diese Objekte und Botschaften nicht personalisiert. Die Menschen, die die Blumen, Grabkerzen oder auch Sprüche an diesen Ort gebracht haben, bleiben anonym. Es ist unbekannt, wer seine Betroffenheit, seinem Gedenken Ausdruck verliehen hat. So weist auch nichts darauf hin, dass bestimmte Blumen von Kerstin Jobst oder mir stammen. Teilweise sind diese Objekte vergänglich, Blumen verwelken, (nicht laminiertes) Papier vergeht durch die Witterung, ebenso die Blätter. Anders die Ewigkeitskerzen, sowohl die Plastikummantelung wie auch das Wachs sind beständige Materialien, die erst über einen extrem langen Zeitraum zerfallen. Dasselbe gilt für die laminierten Texte. Jedoch dienten einige der vergänglichen Blumen, aber auch Ummantelungen der Grabkerzen und das Wachs als Materialien für das DENK Mahn MAL. Durch die Umformung zum Kunstobjekt sind diese Objekte jedoch verfremdet. Erwähnt werden sollen noch digitale Spuren, die sich in zahllosen elektronischen Geräten finden. Auf unzähligen privaten Smartphones sind z. B. Bilder, Videos und Textnachrichten gespeichert. Durch die breite Veröffentlichung in den sozialen Medien werden diese individuellen Erinnerungen kollektiv geteilt. Der Ausdruck des institutionalisierten Gedenkens ist durch andere Formen und eine andere Dinglichkeit gekennzeichnet. Vorherrschend sind zunächst Trauerkränze, die direkt nach dem Tötungsakt oder an Jahrestagen niedergelegt werden. Die Institutionen bekennen offen ihre Identität, sie bleiben nicht anonym. Auf die staatliche Repräsentation verweisen die rot-weiß-roten Schleifen, die Farben der Republik Österreich. Auch andere Institutionen, nichtstaatliche Organisationen oder religiöse Vertretungen, haben ihr Gedenken durch Kränze und durch die Nennung der jeweiligen Institution auf den Schleifen öffentlich gemacht. Ähnlich wie Blumen, Blätter und Papier sind allerdings auch Trauer-

274

Claudia Theune

kränze nicht lange haltbar. Durch die Vergänglichkeit der materiellen Zeichen ist das sichtbare Gedenken nur temporär. Eine nachhaltige Manifestation des Gedenkens findet durch einen Gedenkstein seinen Ausdruck, so auch in Wien. Wir kennen solche Steine von Friedhöfen, aber auch von zahlreichen Erinnerungsorten, die an die Opfer von Kriegen, Terror, Amokläufe oder (andere) Ermordungen mahnen. Steine symbolisieren durch ihre Materialität Unvergänglichkeit. Sie sind über viele Jahre, Jahrzehnte oder sogar gegebenenfalls Jahrhunderte haltbar. Stellt man sie im öffentlichen Raum auf, sind sie stets sichtbar. Ein Vergessen ist kaum möglich, insbesondere da die Inschrift in der Regel auf das Ereignis direkt Bezug nimmt. Durch den Text bzw. die Unterschrift wird auch deutlich, dass die jeweilige staatliche Institution Verantwortung für das weitere Gedenken übernimmt und das Narrativ bestimmt. Die Materialität des Gedenkens und die Akteurinnen und Akteure unterscheiden sich in einigen Punkten, die im Folgenden kurz diskutiert werden. Blumen, Blätter, Papier und auch Trauerkränze bestehen aus organischem, leicht vergänglichem Material. Sie sind fragil, verwelken und zerfallen nach einer relativ kurzen Zeit. Hier stimmt sicherlich die Aussage des Bürgermeisters, dass die Objekte »beeinträchtigt« gewesen seien. Dies gilt allerdings nicht für die mit einer Kunststoffummantelung versehenden Grabkerzen; sowohl Plastik, Wachs und Wachsersatz sind, wie erwähnt, sehr lange haltbar. Auch die kleinen Engel bestehen aus anorganischem Material und sind ebenso wie die Botschaften auf den laminierten Papieren beständig. Das Argument des Bürgermeisters als offizieller Repräsentant der Stadt Wien gilt hier nur bedingt. Es ist davon auszugehen, dass die Planungen für die Eröffnung der Gedenkstätte mit dem Gedenkstein so weit fortgeschritten waren, dass alle dort liegenden materiellen Objekte entfernt werden mussten, um dem Stein als alleinigen materiellen Gedenkform Raum zu geben. Die Stadt Wien hat so die offizielle Memorialisierung beansprucht, die individuellen Erinnerungszeichen mussten weichen. Es sollte zudem zwischen Objekten unterschieden werden, die, egal, ob leicht vergänglich oder lange haltbar, nur temporär im Gedenken Verwendung finden. Diese werden in der Regel nicht nur kurz nach dem Ereignis an den Tatort niedergelegt, sondern auch an besonderen Gedenktagen. Solche Objekte werden aber dann auch wieder entfernt. Im Gegensatz dazu ist das langfristige Gedenken immer an unvergängliches Material gebunden. Jedoch werden kaum Kunststoffe, Glas oder Metalle verwendet, die ebenfalls beständig sind. Das Material Stein und insbesondere Granit ist noch stärker als die genannten anderen Materialien mit Unvergänglichkeit konnotiert. Es ist von einer bewussten Wahl des Granits als Mahnmal auszugehen. Im Haus der Geschichte Österreichs befinden sich nun 59 Objekte, durch die sowohl das individuelle und persönliche als auch das institutionelle Erinnern

Formen des Gedenkens und deren Materialität

275

dokumentiert werden. Darunter sind Plakate mit Texten, laminierte Briefe und Postkarten, Zeichnungen, Botschaften, (selbstgebastelte) Papierlaternen, Grabkerzen mit individuellen Aufschriften, Gebete, Symbole unterschiedlicher Weltreligionen, Nationen und Organisationen, aber auch ein T-Shirt, eine Fahne, eine Fackel einer Trauerkundgebung vom 5. November 2021 sowie etliche beschriftete Schleifen von Trauerkränzen, die sowohl einzelnen Opfer gewidmet als auch Ausdruck institutionellen Gedenkens sind. Neben den Trauerbekundungen für die Opfer finden sich auch Anklagen an den Täter und Trauerbekundungen darüber, dass der Täter zum Täter wurde. Vergängliche Blumen, die am häufigsten vorkommende Kategorie am Gedenkort, werden jedoch in den Museen überhaupt nicht aufgehoben, nur eine Rose aus Kunststoff ist archiviert. Die Auswahl der Objekte durch das Museum spiegelt also kaum die Bandbreite und Anzahl der verschiedenen Gedenkobjekte wider. Das Bild wird verzerrt durch das Fehlen der natürlichen Blumen. Man hat darauf verzichtet, obwohl die Blumen durchaus durch Ausgießen in Kunstharz konservierbar und in dieser Form als vorherrschende Gedenkform symbolisch musealisierbar gewesen wären. Der Vorgang macht deutlich – und dies kann meiner Meinung in einen größeren Kontext gesetzt werden –, dass das Gedenken, welches zunächst von den Bürgerinnen und Bürgern allein durch die Vielzahl der Objekte, in erster Linie Blumen, bestimmt wurde, in ein von kommunaler bzw. staatlicher Seite gelenktes Gedenken mündete. Im Fall des Anschlages vom 2. November 2020 in Wien ist dies der Granitstein mit der genannten Inschrift. Nur wenige der anderen materiellen Gedenkformen bleiben der Nachwelt erhalten, nur ein Bruchteil und eine bestimmte Auswahl werden in den genannten Museen aufbewahrt bzw. wurden künstlerisch verarbeitet. Lediglich Bilder zeigen noch die ehemalige Vielfalt des materiellen Gedenkens.

Literatur Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2006. Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar 2011. Astrid Erll, Media and the Dynamics of Memory: From Cultural Paradigms to Transcultural Premediation. In: Brady Wagoner (Hg.), Handbook of Culture and Memory. New York 2018, 305–324. Hiro Saito, The Changing Culture and Politics of Commemoration. In: Laura Grindstaff/ Ming-Cheng M. Lo/John R. Hall (Hg.), Routledge Handbook of Cultural Sociology. London 2018, 648–656.

276

Claudia Theune

Claudia Theune, Spuren von Krieg und Terror. Archäologische Forschungen an Tatorten des 20. Jahrhunderts. Wien 2020. Brady Wagoner (Hg.), Handbook of Culture and Memory. New York 2018.

Identitäten und Alteritäten

Stefan Troebst

Wie wird man Osteuropahistoriker(in)? Ein britisches Dilemma

»On Trying to be a Historian of Eastern Europe« war der Essay überschrieben, in dem der britische Osteuropahistoriker Hugh Seton-Watson (1916–1984) in einem als Gedenkschrift für ihn selbst von seinen Schülern 1988 edierten Band eine Bilanz seines langen Berufslebens an der School of Slavonic and East European Studies (SSEES) der Universität London zog. Der erste Satz darin laute: »I have been trying for more than thirty years to find out, but I am still not at all sure, what is meant by a historian or by eastern Europe.«1 Und bereits zuvor hatte er für seine Person den Begriff des »Wissenschaftlers« (scholar) dahingehend problematisiert, dass er sich selbst – neben seiner Eigenschaft als Lehrenden – primär als lebenslang Lernenden (learner) sah. Hier identifizierte er überdies seine »fünf Loyalitäten« als »Schotte«, »Brite«, »Europäer«, »Angehöriger des Commonwealth« sowie »Christ« – mit englischen, französischen, deutschen, mediterranen, balkanischen und danubischen Prägungen.2 Als Gründe für seine Selbstzweifel bezüglich der Profession des Historikers und dessen, was eigentlich die Osthälfte Europas von ihren zentralen, westlichen, südlichen und nördlichen Teilen unterscheidet, nannte er zum einen den Einfluss, den die dramatischen Ereignisse im Europa des 20. Jahrhunderts auf sein Denken hatten, zum anderen die zunehmende Sinnentleerung des SlawentumParadigmas, also des Adjektivs »Slavonic« in der Bezeichnung seines Instituts.3 Während Hugh Seton-Watsons Skepsis bezüglich des Slawentum-Paradigmas sogar unter Slawisten verbreitet ist, verwundert seine Unsicherheit bezüglich des Berufes eines Historikers. Dies nicht zuletzt, weil er einer regelrechten Historiker-Dynastie entstammte: Sein Vater Robert William Seton-Watson (1879–1951) begründete die britische historische Südosteuropa- und Ostmitteleuropaforschung, zunächst an der Universität London in Gestalt der besagten SSEES, dann in Oxford; und Hughs jüngerer Bruder Christopher Seton-Watson (1918–2007) 1 Hugh Seton-Watson, On Trying to be a Historian, 1. 2 Hugh Seton-Watson, Reflections, 512–513. 3 Hugh Seton-Watson, On Trying to be a Historian, 5–6.

280

Stefan Troebst

wurde der führende britische Italien-Historiker, ebenfalls in Oxford. Die Söhne haben ihrem Vater 1981 in ihrer gemeinsamen biographischen Publikation The Making of a New Europe: R.W. Seton-Watson and the Last Years of AustriaHungary ein Denkmal gesetzt. Dass die Zunft der Historiker für die Vergangenheit und ihre Analyse in gewisser Weise auch für deren Deutung zuständig ist, steht außer Frage, desgleichen aber auch, dass sich das Berufsbild dieser Profession in den letzten Jahrzehnten dadurch deutlich erweitert hat. Denn zu ihrem Tätigkeitsprofil gehört mittlerweile auch die Analyse gegenwärtiger Erinnerungskulturen und der Geschichtspolitik gouvernementaler und parlamentarischer Instanzen sowie nichtstaatlicher Organisationen, desgleichen nicht zuletzt von Medien inklusive Blogs. Vor allem dadurch hat die Geschichtswissenschaft ihre in Erosion befindliche Deutungshoheit bezüglich der Vergangenheit angesichts der Instrumentalisierung der Geschichte durch die genannten Konkurrenten zumindest teilweise zurückgewonnen. Um das zu erkennen, ist Hugh Seton-Watson wohl zu früh, nämlich 1984, verstorben. Aber auch seine Schwierigkeiten mit dem Regionalbegriff ›Osteuropa‹ bzw. – im Sprachgebrauch seiner britischen akademischen und politischen Umwelt: – ›Eastern Europe‹ überraschen nicht. Anders als das deutsche ›Osteuropa‹ war das angelsächsische Äquivalent zu seinen Lebzeiten nur ein vermeintliches, da es die moskauischen, russländischen und sowjetischen Reichsbildungen in der Regel ausschloss, also eher dem deutschen ›Ostmitteleuropa‹ bzw. dem post-habsburgischen ›Zentraleuropa‹ entsprach, höchstens noch ›Südosteuropa‹ bzw. den ›Balkan‹, miteinschloss. Während seiner Zeit als prägender akademischer Lehrer (und Publizist) war das Land Lenins etwa im Organigramm des Foreign and Commonwealth Office des Vereinigten Königreichs dem »Northern Department« zugeordnet, die Staatenlandschaft von Polen bis Albanien hingegen auf die Departments »Central Europe« sowie »Southern Europe« aufgeteilt. Zum eigentlichen Osten – »Eastern Department« – gehörten damals ministeriumsintern diejenigen Staaten, die hierzulande einmal dem »Morgenland« bzw. dem »Orient« zugeordnet waren. Entsprechend bezog sich der Terminus ›Eastern Europe‹ im Titel von Seton-Watsons erster, 1945 erschienener Monographie – Eastern Europe between the Wars, 1918–1941 – nur auf Ostmittel- und Südosteuropa, nicht hingegen auf die Sowjetunion. Das hatte nicht zuletzt biographische Gründe, denn in seinen post-universitären ostmittel- und südosteuropäischen ›Wanderjahren‹ 1937 bis 1939 sowie in seinen verschiedenen diplomatischen und geheimdienstlichen Funktionen in britischen Diensten war Seton-Watson in Krieg und Nachkriegszeit neben Istanbul und Kairo in Bukarest, Belgrad und Budapest stationiert gewesen. An dieser letzten Station machte Seton-Watson übrigens die Bekanntschaft des ungarischen Soziologen und Politikwissenschaftlers István Bibó (1911–1979), woraus sich eine Freundschaft

Wie wird man Osteuropahistoriker(in)? Ein britisches Dilemma

281

entwickelte. Mit Bibó stimmte er überein, dass rassistisch unterfütterter xenophober Nationalismus in den Gesellschaften Ostmitteleuropas das Ergebnis historischer sozioökonomischer Rückständigkeit sei, wie er überdies hinter der Rhetorik der kommunistischen Monopolparteien hellsichtlich das konkurrierende nationale Paradigma wahrnahm. Seton-Watsons Perzeption des östlichen Europas änderte sich mit seiner Berufung auf den SSEES-Lehrstuhl für Russian History im Jahr 1951 – dem Todesjahr seines Vaters, der diesen Lehrstuhl, wie gesagt, begründet hatte: Jetzt erweiterte er seinen Eastern-Europe-Begriff auf Zarenreich und UdSSR. Während seine 1950 und 1953 erschienenen Bücher The East European Revolution und The Pattern of Communist Revolution. A Historical Analysis die Region von Bulgarien bis Polen in den Blick nahmen, legte er bereits 1952 die Monographie The Decline of Imperial Russia, 1855–1914 vor – ein Thema, das er dann 1967 in seiner umfassenden Darstellung The Russian Empire, 1801–1917 weiter ausbaute. Insofern vollzog er die ›Wanderung‹ der Verortung Russlands von der Himmelsrichtung ›Norden‹ in den ›Osten‹ Europas deutlich vor dem ihn umgebenden politischen Milieu nach. Allerdings – und das ist ein gewichtiges Allerdings – haben Hugh SetonWatsons ›Lehrlinge‹ und ›Gesellen‹ ihrer Huldigung für ihren Meister den Titel Historians as Nation-Builders gegeben. Mit anderen Worten: Dabei ging es nicht um transnationale Bezugsrahmen historisch-mesoregionaler Art (Stichwort Eastern Europe) oder um kultur- und sprachgeschichtliche Provenienz (das Label ›Slawentum‹), sondern um eindeutig nationale, gar nationalstaatliche Konzepte, an deren Ausgestaltung die geschichtswissenschaftliche Profession, so die These des Buchtitels, prägenden Anteil hatte. Keine Rolle spielte dabei für die Autor*innen das heuristische Konzept der ›Geschichtsregion‹, das sich in der deutschsprachigen historischen Osteuropaforschung durchgesetzt hat und eine erkenntnisleitende sowie global übertragbare Innovation ist, die in letzter Zeit interessanterweise vor allem in den Sozialwissenschaften, also nicht, wie zu vermuten wäre, primär in den Geistes- und Kulturwissenschaften, auf positive Resonanz stößt. Eastern Europe beziehungsweise, wie es im Titel der Gedenkschrift unter einem in gewisser Weise anachronistischen Rückgriff auf die britische Vorkriegstradition heißt, Central and South-East Europe war hier lediglich der Oberbegriff für einen Flickenteppich von aus Imperienzerfall hervorgegangenen kleinen bis mittelgroßen sowie in der Regel rivalisierenden Nationalstaaten – also das, was hierzulande als Ostmittel- und Südosteuropa firmiert. In seiner Londoner Zeit war Hugh Seton-Watson zweifelsohne der prominenteste britische Osteuropahistoriker, dort mit dem doppelten Schwerpunkt auf Russland und der Sowjetunion sowie dem, was er als East Central Europe bezeichnete. Aber am Ende seiner so erfolgreichen akademischen Laufbahn unternahm er – wie schon bei seinem Wechsel an die SSEES – einen neuerlichen

282

Stefan Troebst

thematischen Schwenk: Diesmal zur Globalgeschichte in Form eines letzten Opus magnum mit dem Titel Nations and States. An Enquiry into the Origins of Nations and the Politics of Nationalism, erschienen 1977. Im Schatten späterer Stars wie Benedict Anderson und Ernest Gellner, aber auch seines Schülers und Kollegen Anthony D. Smith (der ihm sein 1986 erschienenes Buch The Ethnic Origins of Nations widmete) stehend, hat Hugh Seton-Watsons Spätwerk zu Nationalbewegungen sowie Nations- und Nationalstaatsbildung in Europa, Asien, Afrika, Ozeanien und den Amerikas nur wenig Wirkung entfaltet. Dafür kam es mehr als ein Jahrzehnt vor dem Epochenjahr 1989 zu früh, war kaum sozialwissenschaftlich-theoretisch, sondern enzyklopädisch geprägt, und, da zu großen Teilen auf Historiographie und Autopsie beruhend, eher deskriptiv denn analytisch. Dennoch war es ein beherzter Versuch, die besagten Selbstzweifel bezüglich dessen, »what is meant by a historian or by eastern Europe«, mittels Sprengung des berufsständischen Rahmens zu überwinden. In der Außenperspektive ist diese seine Schlüsselfrage mit Blick auf seine Biographie in fünffacher Hinsicht zu beantworten: Erstens kam er als Kind und dann Jugendlicher durch die engen persönlichen Bindungen seines Vaters in direkten Kontakt mit zahlreichen politischen, zivilgesellschaftlichen, kulturellen und anderen Akteuren Ostmittel- und Südosteuropas. Zweitens war er im und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in offizieller sowie inoffizieller britischer Funktion hautnah mit den Geschehnissen in eben diesem Teil Europas befasst. Drittens beobachtete er in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre als Publizist minutiös die Stalinisierung Albaniens, Jugoslawiens, Bulgariens, Rumäniens, Ungarn, der Tschechoslowakei und Polens. Viertens widmete er sich in seiner Eigenschaft als Lehrstuhlinhaber zusätzlich zur Gegenwartsentwicklung der Geschichte des ›größeren Osteuropa‹ einschließlich des Zarenreiches und der Sowjetunion. Und fünftens schließlich erweiterte er seinen osteuropäischen Fokus sukzessive auf einen im Wortsinne globalen. Um noch einmal auf die deutschsprachige Teildisziplin der historischen Osteuropa-Forschung zurückzukommen: Das, was die jüngeren Vertreterinnen und Vertreter diese Zunft hierzulande in den vergangenen ca. zehn Jahren in Sachen eines Anschlusses an die geschichtswissenschaftliche Globalisierungsforschung angeschoben haben, hat der Londoner Osteuropahistoriker Hugh Seton-Watson mit seinem Buch von 1977 eindrücklich vorgezeichnet. Dies tat er natürlich basierend auf dem damaligen Erkenntnis- und Forschungsstand, aber primär aufgrund der einzigartigen Kombination von solider wissenschaftlicher Ausbildung, profunder analytischer Fähigkeiten, reisebedingter Vor-Ort-Inaugenscheinnahme, eines stimulierenden akademischen Umfeldes und nicht zuletzt familiärer Biographie. Dass er »a historian of Eastern Europe« wurde, war mit Blick auf seine ersten drei Lebensdekaden gleichsam naheliegend. Dass er dann aber sein wissenschaftliches Interesse – unter produktiver Überschreitung

Wie wird man Osteuropahistoriker(in)? Ein britisches Dilemma

283

der Fachgrenzen seiner osteuropahistorischen Mutterdisziplin – auf die vergleichende Untersuchung von Staats- und Nationsbildungsprozesses samt nationalen Bewegungen im globalen Maßstab ausweitete, kam wohl einem emanzipatorischen Befreiungsschlag gleich. Naheliegenderweise war seine Weltsicht stark durch das Prisma des Commonwealth geprägt, zugleich aber durch eine spezifische (schottische?) Europäizität, wie nicht zuletzt aus seinem autobiographischen Text »Reflections of a Learner« von 1980 hervorgeht. Dieser enthält eine ungewöhnlich emotionale Passage: I am also European […], and by plodding hard work I have acquired some knowledge of most languages of Europe. When some unilingual continental patronisingly commends me for knowing something of Europe in spite of being English (which I am not), I fume with suppressed rage, and ask myself, what does he or she know of Europe? What is Europe? Certainly not the lands of the EEC, the neo-Carolingian empire of Charlemagne and Charles de Gaulle. […] [T]hough at the political level I am on balance a supporter of the EEC, I can never admit that any concept which excludes Bohemia, Poland, Hungary and the heirs to Byzantium can be called ›Europe‹.4

Wohl nicht zufällig waren Hugh Seton-Watsons letzten beiden Vorträge dem Thema Europa gewidmet: »The Concept of West and East in Europe« und »What is Europe, Where is Europe?«. Unter explizitem Bezug auf die posthumen Veröffentlichungen dieser beiden Texte setzte Norman Davies 1996 in seinem monumentalen Werk Europe. A History seinem verstorbenen Kollegen seinerseits ein Denkmal: Seton-Watson was one of a select band of lonely runners who carried the torch of European unity through the long night of Europe’s eclipse. He was one of the minority of Western scholars who bestrode the barriers between East and West, and who saw Soviet communism for what it was. He died on the eve of the events which were to vindicate so many of his judgements. His intellectual legacy is the one which the present work is honoured to follow most closely.5

Literatur István Bibó, Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei. Aus dem Ungarischen von Béla Rásky. Frankfurt/Main 1922 (ungedr. Original Budapest 1946). John C. K Daly, Bibliography of the Works of Hugh Seton-Watson. In: Dennis Deletant/ Harry Hanak (Hg.), Historians as Nation-Builders. Central and South-East Europe. London 1988, 216–237. Norman Davies, Europe. A History. Oxford/New York 1996. 4 Hugh Seton-Watson, Reflections 512–513. 5 Davies, Europe, 15.

284

Stefan Troebst

Gerard Delanty, The Historical Regions of Europe: Civilizational Backgrounds and Multiple Routes to Modernity. In: Historická sociologie 3/1–2 (2012), 9–24. Dennis Deletant/Harry Hanak (Hg.), Historians as Nation-Builders. Central and SouthEast Europe. London 1988. Christian Giordano, Interdependente Vielfalt: Die historischen Regionen Europas. In: Karl Kaser/Dagmar Gramshammer/Robert Pichler (Hg.), Europa und die Grenzen im Kopf. Klagenfurt/Celovec 2003, 113–135. Hans Lemberg, Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom »Norden« zum »Osten« Europas. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 33 (1985), 48–91. Dimitri Obolensky, George Hugh Nicholas Seton-Watson 1916–1984. In: Proceedings of the British Academy 73 (1987), 631–642. Hugh Seton-Watson, Eastern Europe between the Wars, 1918–1941. London 1945. Hugh Seton-Watson, The East European Revolution. London 1950. Hugh Seton-Watson: The Decline of Imperial Russia, 1855–1914. London 1952. Hugh Seton-Watson, The Pattern of Communist Revolution. A Historical Analysis. London 1953. Hugh Seton-Watson, The Russian Empire, 1801–1917. London 1957. Hugh Seton-Watson, Is there an East Central Europe? In: Sylvia Sinanian/Istvan Deak/ Peter C. Ludz (Hg.): Eastern Europe in the 1970s. New York 1972, 3–12. Hugh Seton-Watson, Nations and States. An Enquiry into the Origins of Nations and the Politics of Nationalism. London 1977. Hugh Seton-Watson, Reflections of a Learner. In: Government and Opposition 15/3–4 (1980), 512–527. Hugh Seton-Watson, Nationalbewußtsein als historisches Phänomen. In: Südost-Forschungen 43 (1984), 271–285. Hugh Seton-Watson, Thoughts on the Concept of West and East in Europe. In: Government and Opposition 20/2 (1985), 156–165. Hugh Seton-Watson, What is Europe, Where is Europe? In: Encounter 65/2 (1985), 9–17. Hugh Seton-Watson, Hugh, On Trying to be a Historian of Eastern Europe. In: Dennis Deletant/Harry Hanak (Hg.): Historians as Nation-Builders. Central and South-East Europe. London 1988, 1–14. Christopher Seton-Watson/Hugh Seton-Watson: The Making of a New Europe: R.W. Seton-Watson and the Last Years of Austria-Hungary. London 1981. Anthony D. Smith, The Ethnic Origins of Nations. London 1986.

Dietlind Hüchtker

Zeiten und Räume. Männlichkeit und die Historizität anthropologischer Konstanten

»Some people think that boys are hard-wired so that they learn more slowly, perhaps because they evolved to fight off wolves more than to raise their hands in classrooms.«1 Die Korrelation von Geschlechterdifferenz mit Jäger- und Sammlergesellschaften findet sich immer wieder in den Feuilletons und auf diversen Internetseiten. Jungen seien benachteiligt, weil ihre aus Urzeiten stammenden Jägerinstinkte ihnen angesichts der heutigen Ansprüche an Friedfertigkeit und Stillsitzen im Weg ständen. »Ob es daran liegt, dass evolutionsbedingt Männer Jäger und Frauen Sammler sind, Männer eher auf Konfrontation gehen und Frauen emphatischer sein mussten, ist nicht erwiesen. Es ist aber ein Erklärungsversuch, warum Männer andere körperliche Impulse haben.«2 Was mich überrascht hat, ist weniger der Versuch, Privilegien zu verteidigen, wenn man den Eindruck hat, die Felle schwimmen einem davon, als vielmehr die Begründung, mit der dies geschieht: Selbst wenn ich innerhalb der Evolutionstheorie bleibe, überzeugt mich die Annahme nicht, dass ein seit Jahrtausenden nicht mehr adäquates Verhalten ohne jede Anpassung als unveränderte Konstante überlebt haben soll. Und schon ein kurzer Blick auf Jagd- und Männlichkeitspraktiken zeigt deren Historizität, ihre Veränderungen in Zeit und Raum. Während beispielsweise Jagd in Italien eine adelige Praktik blieb – mit allen Konnotationen von Elitenvergnügen –, wurde Jagd im deutschsprachigen Raum seit dem 19. Jahrhundert in einen Kontext eines konservativen Naturverständnisses von Wald- und Wildhege durch (männliche) Kontrolle gestellt. Dies wirft die Frage auf, was es mit der Korrelation von Männlichkeit und Urzeiten dann auf sich hat. Der Bezug auf unveränderte Urinstinkte bringt mich also zum Nachdenken über Repräsentationen von Männlichkeit und die Historizität ihrer Wahrnehmung als ahistorische Konstante. Während die feministische Kritik die Repräsentation von ahistorischer, mit Natur gleichgesetzter Weiblichkeit als diskursive Entmachtungs1 Kristof, The Boys Have Fallen Behind. 2 Resetarits, Wir erziehen Jungs völlig falsch.

286

Dietlind Hüchtker

strategie analysiert hat, bestätigt der Bezug auf Jäger- und Sammlergesellschaften, so scheint es, so etwas wie eine wahre, authentische Männlichkeit in schwierigen Zeiten. In der spätsozialistischen Volksrepublik Polen erschien 1984 Kamien´ na Kamieniu (Stein auf Stein, 1990) von Wiesław Mys´liwski, ein Roman über die Transformation des Ländlichen durch die sozialistische Gesellschaftsgestaltung und eine Familiengeschichte über das Scheitern. Der Roman beschreibt in epischer Breite die bäuerliche Familie Pietruszka. Szymon Pietruszka ist Ich-Erzähler und Protagonist. Der Roman ist in Rückblenden erzählt, er beginnt mit dem Ende: Szymon baut eine Art Mausoleum für seine Familie, für seine Brüder, die in der Stadt leben, und für seine toten Eltern, die er umbetten will. Dabei erinnert er sich an seine Vorkriegsjugend als Dorfheld und an sein Leben im Dorf nach seiner Rückkehr aus den Wäldern am Ende des Zweiten Weltkriegs, an seine verschiedenen Beschäftigungen, bis er den Hof der alten Eltern übernimmt, der nicht mehr viel einbringt, da er ihn der Kollektivierung entzieht. Zu einer eigenen Familiengründung kommt es nicht. Am Ende bleibt das Mausoleum. Die Erzählung ist nicht chronologisch aufgebaut, sondern springt zwischen Zeiten und Räumen: Von der Baustelle in die Wälder, in denen der Ich-Erzähler als Teil einer Widerstandsgruppe der polnischen Untergrundarmee im Zweiten Weltkrieg überlebt, in den Dorfgasthof der Zwischenkriegszeit, wo ein Dorffest stattfindet und er als Dorfcasanova und Raufbold auftritt, zum Hof der Eltern, wo die Gespräche über das Leben knapp und verständnislos bleiben, in das Dorf der Nachkriegszeit, in dem die Pferdefuhrwerke der Bauern von Autos überholt werden und der Protagonist verunglückt, zur Gemeindeverwaltung, wo er der einzigen Frau begegnet, in die er sich verliebt und die er heiraten möchte bis zu dem Zeitpunkt, als er von ihrem Abbruch einer durch ihn verursachten Schwangerschaft erfährt und die Beziehung gewaltsam beendet. Der Protagonist wird 1917 geboren – im Jahr der russischen Revolution. Im Zweiten Weltkrieg wird er Soldat der Untergrundarmee, bleibt aber ohne direkten Feindkontakt, er überlebt die Okkupation im Wald. Nach dem Krieg schlägt er sich als Friseur, Polizist und Gemeindeangestellter durch. Die Brüder ziehen in die Stadt; er bleibt, bis er aufgrund seines vom Unfall steif gebliebenen Beins auf den Hof zurückkehrt. Der Roman erzählt von gescheiterter Männlichkeit. Als junger Mann weiß der Ich-Erzähler, wie das Leben funktioniert. Er schildert Schlägereien (mit Messern) und viel Alkohol; und in einer umgangssprachlichen und direkten Weise thematisiert er Sexualität. Zwar spielen die Attraktivität der Mädchen und jungen Frauen eine Rolle, um Gefühle, so etwas wie Liebe, geht es Szymon aber nicht. Seine Kontaktaufnahme dient explizit nicht der Partnerwahl, sondern vor allem seiner Befriedigung und seinem Vergnügen.

Zeiten und Räume

287

Denn die Mädchen haben’s gern, wenn du sie vorher fröhlich stimmst, das ist so, als würdest du sie freisprechen von den Sünden. Zu allem Weiteren sind sie dann leichter zu überreden. Du triffst die eine oder die andre, wie sie mit dem Mittagessen aufs Feld geht, begleitest sie ein Stück, scherzt mit ihr, legst den Arm um ihre Schultern, und abends liegst du schon neben ihr am Fluss oder im Garten. Sie fürchtet sich nicht vor der Sünde – in der Jugend gesündigt ist ehrlich gesündigt. Und willst du etwas sehen, sie zeigt’s dir, läßt es dich sogar in der Hand halten wie eine Taube.3

Die Schilderung von Raufereien und Verführung können als Erfolgsgeschichte gelesen werden. Doch schon seine Zeit als Partisan bleibt überraschend vage. Szymon wird zwar Anführer einer Partisaneneinheit im Wald, doch so ein richtiger Held, der in einer lebensbedrohlichen Situation andere rettet, wird er nicht. Während die Zivilbevölkerung im Dorf erschossen wird, verstecken sich die Partisanen in einem Grab. Seine Erwerbstätigkeit nach dem Krieg bedient weder die Vorstellung von selbstständiger Vorkriegsbäuerlichkeit noch die des sozialistischen Arbeiters – und wäre es die des Landarbeiters. Er bleibt in der im Sozialismus unbestimmten Sphäre der Dienstleistungen – notwendig, doch wenig anerkannt. Zwar gelingt es ihm, seinen Beschäftigungen einen Sinn abzuringen, aber ein identitätsstiftender Bezug entsteht nicht. Die neuen sozialistischen Lebensumstände lassen auch seine Erfahrungen mit Männlichkeitspraktiken ins Leere laufen. Sein einziger Versuch, eine Liebesbeziehung aufzubauen, scheitert. Bei seiner Arbeit in der Verwaltung lernt er Małgorzata kennen, im Unterschied zu seinen draufgängerischen Jugendjahren ist er vorsichtig, distanziert, besucht ihre Eltern. Sie verbringen eine Nacht miteinander, einige Zeit später verreist Małgorzata. Nach ihrer Rückkehr überlegt Szymon, sie zu fragen, ob sie ihn heiraten möchte. Bevor es soweit kommt, gesteht sie ihm, dass sie schwanger gewesen sei und bei einem Arzt einen Abbruch habe durchführen lassen. Szymon ist außer sich. Er beschimpft sie als Hure, schlägt sie, betrinkt sich und geht zu seiner Geliebten, einer Art Dorfprostituierten. In dieser Episode prallen unvereinbare Vorstellungen von den Beziehungen zwischen den Geschlechtern aufeinander. Szymon lebt offenbar in einer Welt, in der Männer über Frauen als ›Heilige und Huren‹ urteilen und in erster Linie ihren eigenen Bedürfnissen folgen. Małgorzata dagegen nutzt die staatliche Fürsorgepolitik – Katherine Verdery spricht von »socialist paternalism«4 –, in diesem Fall die gesetzlich geregelten Möglichkeiten eines medizinisch betreuten Schwangerschaftsabbruchs. Vor allen Dingen hat sie die Entscheidung alleine gefällt. Szymon dagegen verliert seine patriarchalische Verfügungsgewalt über Małgorzata an den Staat. 3 Mys´liwski, Stein, 82–83. 4 Verdery, From Parent-State to Family Patriarchs, 19.

288

Dietlind Hüchtker

Trotz seiner ›erfolgreichen‹ Jugend ist Szymons Verhalten der Reproduktion der sozialen Struktur eines Dorfs nicht dienlich, weder gelingt die Familiengründung noch die Hofübernahme. Mit seinen Brüdern, die in die Stadt gezogen sind, verbindet ihn kaum noch etwas. Szymon findet keinen Platz in der sich wandelnden Dorfgemeinschaft, obwohl er nicht im eigentlichen Sinn marginalisiert ist. Aber ihm fehlen Verbindungen/Netzwerke und Kommunikationspraktiken. Die Brüder repräsentieren das moderne Leben im Sozialismus, das sich in der Stadt abspielt. Małgorzata steht für den Wandel sozialer Beziehungen, die auf Kommunikation und Emotionen statt auf der Befriedigung männlicher Bedürfnisse beruhen. Szymon dagegen verweigert die sozialistische Modernisierung. Er verharrt in einer dörflichen Vorkriegswelt. Eines der eindrücklichsten Bilder der Beziehungen zwischen Szymon, der Vorkriegswelt und der sozialistischen Moderne ist wohl sein Unfall. Ich fahre zum drittenmal, da steht der alte Kus´ am Straßenrand mit seiner Getreidefuhre und wartet. Die Autos sausen vorbei, in die eine, in die andere Richtung, eine dichte Kette. […] »Jesus von Nazareth, er fährt in den Tod! Halt, bleib stehen. Szymek!« […] Ein durchdringendes Hupen dicht, ganz dicht vor mir.5

Szymon verunglückt bei dem Versuch, die neue Dorfstraße zu überqueren und wird zum Krüppel. Sein Versuch scheitert, die neue Welt durch die Furchtlosigkeit und Starrsinnigkeit des lonesome cowboy zu bezwingen. Dennoch ist der Roman keine Erzählung über Männlichkeit, Männlichkeit ist ein Stilelement. Szymons Leben steht metonymisch für das Scheitern an der Umgestaltung des Dorfs und dessen Logiken und Werte im Sozialismus. Szymons patriarchale Sicht der Welt repräsentiert die gescheiterte Ordnung der Tradition. Stein auf Stein kann man als eine fiktionale Verarbeitung des gesellschaftlichen Wandels lesen, den die sozialistische Modernisierung der Produktions- und Lebensbedingungen – von Infrastruktur bis Elektrifizierung – mit sich brachte. Das Leben des Ich-Erzählers mit all seinen gescheiterten Ambitionen und distanzierten Beobachtungen verweist auf die Schwierigkeiten, die dieser Wandel mit sich brachte. Gleichzeitig kann man die Figur auch als Symbol für den Verlust lesen – den Verlust einer ländlichen Lebensweise, die durch den Verlust zu einer ureigentlichen sozialen Ordnung wird, für die es keinen Platz mehr gibt. Die alte Ordnung wird nicht nur zur besseren, sondern auch zur wahren Ordnung. In der Literaturkritik wird Stein auf Stein gelegentlich in die Tradition des erstmals 1902 bis 1908 in Fortsetzung erschienen und 1924 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Romans Chłopi (Die Bauern) von Władysław Reymont gestellt. Wie Reymonts Die Bauern wird Mys´liwskis Stein auf Stein vielfach 5 Mys´liwski, Stein, 104–105.

Zeiten und Räume

289

als gelungene Schilderung dörflichen Lebens angesehen, als »eindrucksvolles Bild von der polnischen Gesellschaft unseres Jahrhunderts«, so der Klappentext der deutschen Übersetzung. Beide Romane gelten als authentische Schilderungen bäuerlicher Lebenswelten. Achim Saupe hat in seinem Überblick über die Authentizitätsforschung herausgestellt, dass Authentizität seit den 1970ern ein erfolgreiches Schlagwort geworden ist. Vor dem Hintergrund des Endes des Fortschrittsoptimismus, der Vergangenheitsorientierung und Musealisierung von Lebenswelten sei Authentizität als Ausdruck einer Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit, Echtheit und Wahrhaftigkeit zu verstehen. Authentizität ist paradox, insofern sie einerseits etwas Essentielles meint, andererseits aber Beobachtung voraussetzt. Authentizität ist eine Zuschreibung in bestimmten Kommunikationssituationen. Authentisch ist gerade das, was von außen als authentisch beobachtet wird. Es ist nicht verwunderlich, dass der Roman als Sozialismuskritik gelesen wird, bemerkenswert ist wohl aber, dass Männlichkeit auf dem Dorf als gleichermaßen natürlich und archaisch erscheint, was insbesondere durch die direkte Sprache und die unvermittelte Befriedigung sexueller Bedürfnisse unterstrichen wird. Männlichkeit, Ländlichkeit und Tradition bestätigen einander als etwas Ahistorisches, Eigentliches – als anthropologische Konstante. Authentizität wird mit Unveränderbarkeit assoziiert und als anthropologische Konstante kann Männlichkeit diese Authentizität besonders gut repräsentieren. Vor dem Hintergrund des sozialistischen Staatspaternalismus und der transnationalen Debatten über Geschlechterverhältnisse in den 1970er und 1980er Jahren stellen die Männlichkeitsrepräsentationen im Roman Authentisierungspraktiken dar, diskursive Praktiken der Beglaubigung einer Vision von dörflichem Leben als authentisch. Damit steht der Roman im Kontext der seit den 1970er Jahren verbreiteten Moderne-Kritik, die nicht nur sozialistische Gesellschaften kritisierte, sondern auch in kapitalistischen und demokratischen Gesellschaften anzutreffen war. Vor diesem Hintergrund überrascht die Behauptung nicht mehr, es gäbe so etwas wie einen männlichen Jagdinstinkt, der die Jahrhunderte andauernde Evolution überlebt hat. Die Frage ist allerdings, welche Authentisierungspraktiken da am Werk sind. Handelt es sich um eine den Autor*innen unterlaufene Entmachtung von Männlichkeit oder um ein möglicherweise ebenso ungewolltes Zugeständnis an das Scheitern im Angesicht globaler Krisen? Wenn der Zirkelschluss zwischen Männlichkeit, Ländlichkeit und Tradition als Praktik gegenseitiger Authentisierung gelesen werden kann, so stellt sich die Frage, was der Zirkelschluss zwischen den anthropologischen Konstanten »Männlichkeit«, Jäger- und Sammlergesellschaften und schlechten Schulnoten authentisiert. Welche Ursprünglichkeit, welche Sehnsüchte werden da mobilisiert? Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive stellt sich vor allem die Frage nach der Histori-

290

Dietlind Hüchtker

zität. Welche historischen Bedeutungen haben anthropologische Konstanten, die (nur?) durch bis zu Jäger- und Sammlergesellschaften reichende Bezüge hergestellt werden können?

Literatur Nicholas Kristof, The Boys Have Fallen Behind. In: The New York Times 27. 3. 2010. https:// www.nytimes.com/2010/03/28/opinion/28kristof.html (27. 11. 2021). Wiesław Mys´liwksi, Stein auf Stein. Roman, übers. von Henryk Bereska. Berlin/Weimar 1990. Valentina Resetarits, Wir erziehen Jungs völlig falsch – bald zahlen wir den Preis dafür. In: Business Insider 15. 11. 2019. https://www.businessinsider.de/wissenschaft/wir-erziehe n-jungs-voellig-falsch-bald-zahlen-wir-den preis-dafuer-2017-5/ (27. 11. 2021). W[ładysław] St[anisław] Reymont, Die Bauern, übers. von Jean Paul d’Ardeschah. Düsseldorf/Köln 1975 [Jena 1926]. Achim Saupe, Historische Authentizität. Individuen und Gesellschaften auf der Suche nach dem Selbst – ein Forschungsbericht. In: H-Soz-Kult 15. 8. 2017. http://hsozkult.geschich te.hu-berlin.de/forum/2017-08-001 (12. 11. 2021). Katherine Verdery, From Parent-State to Family Patriarchs: Gender and Nation in Contemporary Eastern Europe. In: Irena Grudzin´ska-Gross/Andrzej Tymowski (Hg.), Eastern Europe. Women in Transition. Frankfurt/Main 2013, 13–44.

Nina Leonhard

Wie hältst du’s mit dem Sozialismus? Anmerkungen zur militärischen Erfahrungswelt vormaliger NVA-Offiziere im vereinigten Deutschland

NL:

Meine erste Frage ist: Wie war es denn bei Ihnen? Wie sind Sie dazu gekommen, Soldat zu werden? Hr. Becker: Oh, das ist ja viele Jahre her, mittlerweile 27 und von daher nicht ganz so einfach. Nee, ums zu versuchen auf den Punkt zu bringen, denke ich schon mal, war das Interesse mit jungen Menschen umzugehen und auch in jungen Jahren Verantwortung zu übernehmen, bis hin natürlich auch das Interesse zum Umgang mit Technik und technischen Entwicklung […], das was also auch das Soldatengeschäft, wenn ich das Politische alles mal außen vorlasse, im Endeffekt auch ausmacht. Und des, denk ich mal, bringt’s am ehesten auf den Punkt, weil die Aussichten auf Vorankommen, Karriere auch zu damaligen Zeiten doch sehr hoch eingestuft werden musste. Weil man doch A mit nem vernünftigen Studium einen entsprechenden Abschluss bekommen hat […] und man eigentlich in jungen Jahren eine hohe Verantwortung übertragen bekommen hat, das war eigentlich der entscheidende Reiz. Politische Dinge – aus heutiger Betrachtung muss man sowieso viele Dinge differenzieren, selbst in der Begrifflichkeit denke ich mal, nach vierzehn Jahren muss ich selber manchmal noch überlegen, wie so manche Dinge in der Vergangenheit vor über zwanzig Jahre gewesen sind – […] spielten dabei eigentlich ne eine untergeordnete bzw. keine Rolle. Denn wenn Sie das, das brauchen Sie heute auch nur vergleichen, wenn man sich entschieden hat zu ner Zeit, wo man 17 [war], denke ich mal, spielte es eher eine untergeordnete Rolle.

Diese leicht gekürzte Sequenz stammt aus einem Interview, das ich im Rahmen einer Studie über Berufsverläufe vormaliger DDR-Offiziere im vereinigten Deutschland anderthalb Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer mit einem Offizier führte, der 1977 in die Nationale Volksarmee der DDR eintrat und nach der Vereinigung von der Bundeswehr übernommen wurde. In Reaktion auf die Frage nach den Umständen der eigenen Berufswahl, mit der alle Interviews dieser Studie eingeleitet wurden, geht Herr Becker – wie ich ihn genannt habe – auf

292

Nina Leonhard

seine Motivlage ein.1 Dabei verwendet er – zugespitzt formuliert – fast genauso viel Platz, um zu begründen, dass »politische Dinge« hierfür keine Rolle gespielt haben, wie um zu erläutern, welche Aspekte für seine Verpflichtung als Offizier relevant waren – die guten Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten in der NVA, sein Interesse für Technik, für die Arbeit mit Menschen und so weiter. Dass er so ausführlich auf den Einflussfaktor Politik eingeht, dem seinem Bekunden nach eine »untergeordnete« Bedeutung zukam, erscheint daher ebenso aufschlussreich wie erklärungsbedürftig. Vergleicht man Herrn Beckers Darstellung mit den Reaktionen der anderen 35 von mir befragten Offiziere auf die Eingangsfrage, wird schnell ersichtlich, dass alle in irgendeiner Form eine Stellungnahme zu den politischen Hintergründen oder Implikationen ihrer Berufsentscheidung abgeben. Hierzu zwei weitere Beispiele: Das erste stammt aus dem Interview mit einem der ältesten Offiziere des Interviewsamples (Jahrgang 1931), der sich noch vor der offiziellen Aufstellung der NVA am 1. März 1956 bei den sogenannten bewaffneten Organen verpflichtet hatte und mit der Vereinigung aus dem Militärdienst entlassen worden war. Ich bin auch schon gefragt worden, warum ich mich denn gemeldet habe. Manche wollten hören: aus lauter Patriotismus und Friedensliebe. Das mag ganz unterschwellig eine Rolle gespielt haben. Das war aber nicht mein Grund, sondern mein Grund war es gewesen, dass ich eine vernünftige Entwicklung vor mir haben wollte und ein vernünftiges Einkommen. Ich war aus Schlesien mit meinen Eltern zusammen umgesiedelt nach Leipzig. Große Familie, fünf Kinder, und ich war der Älteste und bin dann aus der Familie raus und bin zum Bauern gegangen, um dort zu arbeiten […]. Aber das sagte mir natürlich nicht zu, und da habe ich mich gemeldet. Das war eigentlich der Hauptgrund und nicht das, was so offiziell dann später verkündigt wurde.2

Beim zweiten Beispiel handelt es sich um einen dreißig Jahre jüngeren Offiziere des Samples (Jahrgang 1961), der sich 1980 bei den Streitkräften verpflichtet hatte. Puh. Ja jut, ick hab in einer Zeit gelebt, wo, A die Mauer da war und die beeden Paktsysteme sich hier gegenübergestanden haben. Dann war des politisch zumindest sehr stark ja noch durch den Vietnamkrieg beeinflusst. [19] 73 durch die Ereignisse in Chile. Also, zumindest wer da so n bisschen weiter nach außen geguckt hat, der konnte feststellen, dass da so einige Dinge abliefen, die nicht so ganz in Ordnung waren. Und, ja, eben och aus damaliger Sicht in nem Land ja aufwachsend und zu nem Zeitpunkt, also wo die Mauer schon immer geschlossen gewesen ist, also des überhaupt keen Diskussionsgegenstand gewesen ist, dass da einfach det hätte anders kommen können, war des einfach […] ne interessante Sache. Die Armeen an sich, zumindest von außen sieht det 1 Interview mit Herrn Becker, Abs. 1–2. 2 Interview 23, Abs. 2. Alle hier zitierten Passagen sind bislang unveröffentlicht und stammen aus den Interviews, die im Rahmen der genannten Studie erhoben wurden.

Wie hältst du’s mit dem Sozialismus?

293

so aus, die erwecken immer den Eindruck, dass sie gut organisiert sind, dass sie gut strukturiert sind, effizient arbeiten. Man hat da viel mit Menschen zu tun, man hat viel mit Führung zu tun, Technik, und all die Dinge in der Gesamtsumme waren dann irgendwo, führten dazu, dass ich also mich für die Richtung da interessiert habe.3

Der Sprecher des ersten Beispiels weist politische Gründe für seine Berufsentscheidung ebenfalls zurück. Er distanziert sich dabei explizit von den offiziellen Erwartungen hinsichtlich der soldatischen Motivation – »das, was so offiziell dann später verkündigt wurde«, nämlich »Patriotismus und Friedensliebe«. Demgegenüber führt der Sprecher des zweiten Beispiels das Klima des Kalten Krieges an und begründet unter Rückgriff auf die damalige offizielle Argumentation – die Gefahren, die vom US-amerikanischen Imperialismus ausgingen –, warum er von der Notwendigkeit eines militärischen Beitrags für den Schutz des Friedens und des Sozialismus überzeugt gewesen sei und daher sowie aufgrund seines Interesses für Menschen und Technik eine Tätigkeit bei den Streitkräften ins Auge gefasst habe. Trotz der inhaltlich ganz unterschiedlich gelagerten Aussagen, die auf die unterschiedlichen Kontextbedingungen eines Militärdienstes in den 1950er sowie 1970er Jahren in der DDR verweisen, nehmen beide Interviewpartner – wie der eingangs zitierte Herr Becker – zum offiziell deklarierten Auftrag der DDR-Streitkräfte Stellung um darzustellen, wie bzw. warum sie Soldaten geworden sind. Zusammengefasst lässt sich somit festhalten, dass die vormaligen NVA-Offiziere in ihren berufsbiografischen Eingangserzählungen alle ein Problemfeld behandeln, das mit der Frage »Wie hältst du’s mit dem Sozialismus?« umschrieben werden könnte. Dass sich in den Interviewtexten ein solcher gemeinsamer Bezugspunkt herauskristallisiert, sagt aus historiografischer Sicht nur bedingt etwas über den individuellen Stellenwert politischer Motive für die damalige Berufswahl von NVA-Offizieren aus. In der Tat lässt sich schwer einschätzen, wie etwa Susanne Leinemann in ihrer Erfahrungsgeschichte der Aufbauzeit der NVA postuliert, ob es sich bei retrospektiv genannten Beweggründen »nicht um nostalgische Überbewertungen oder um ein nachträgliches Entlasten von einer systemkonformen Entscheidung handelt«4. Der eingangs zitierte Herr Becker scheint diese skeptische Sicht selbst zu teilen. Gleich im ersten Satz seiner Eingangserzählung weist er darauf hin, dass es »nicht so ganz einfach sei« zu sagen, wie er dazugekommen sei, Soldat zu werden, denn das sei »ja viele Jahre her, mittlerweile 27«. Dazu komme, dass man »aus heutiger Betrachtung […] sowieso viele Dinge« anders beurteilen müsse. Herr Becker macht also nicht nur auf den zeitlichen Abstand aufmerksam, der zwischen dem Zeitpunkt des Interviews und der ursprünglichen Berufsentscheidung knapp drei Jahrzehnte zuvor liegt, sondern 3 Interview 3, Abs. 2. 4 Leinemann, Erfahrungsgeschichten, 134.

294

Nina Leonhard

auch auf den kontextbezogenen Abstand, der angesichts des Umbruchs von 1989/90 jeden Rückblick auf das Leben in der DDR prägt. Dieser Hinweis, der auf die allseits bekannte gedächtnissoziologische Erkenntnis verweist, dass Vergangenheit stets vom Standpunkt der Gegenwart aus rekonstruiert wird, ist biografietheoretisch wie erfahrungsgeschichtlich zentral. Er zeigt an, dass das mit der Eingangsfrage aufgeworfene Thema der Berufswahl sowohl mit Erfahrungen zu DDR-Zeiten als auch mit Erfahrungen seit der Zäsur von 1989/90 verknüpft ist: Um von ihrem eigenen beruflichen Werdegang zu erzählen, können bzw. müssen die befragten Offiziere beides berücksichtigen – genauer gesagt können bzw. müssen sie sich entscheiden, auf welche Weise sie ihre einstige Entscheidung für den Offiziersberuf im Gespräch präsentieren und inwiefern sie sich hierzu auf vergangene oder gegenwärtige Deutungen und Bewertungskriterien berufen. Denn im Kontext der deutschen Vereinigung, die im Modus des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik erfolgte und mit einem umfassenden Institutionentransfer von West nach Ost einherging, ging es nicht nur um Geld und Personal, sondern auch um Wissen, insbesondere um die Deutungsmacht über die Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart des vereinigten Deutschlands, und damit um die Frage, wie die DDR im Allgemeinen und individuelle Erfahrungen in und mit der DDR im Besonderen legitimerweise vergegenwärtigt werden können, sollen oder gar müssen. Dass Politik ein Thema ist, das in allen Interviews von Beginn (mit) be- und verhandelt wurde, ist im vorliegenden Fall kein Zufall. Zum einen zeigt sich daran der zentrale Stellenwert, der der politischen Einbindung des Militärs und seiner Angehörigen in der DDR zukam und der sich entsprechend auch anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende der DDR in den berufsbiografischen Erzählungen von NVA-Soldaten niederschlägt. Also ich bin jetzt im 36. Dienstjahr. Also diese Entscheidung zum Militär zu gehen, die ist demzufolge schon ne ganze Weile zurückliegend. Aber diese Frage wurde natürlich besonders wenn man zu DDR-Zeiten, ich bin 1968 in die NVA eingetreten, immer wieder gestellt, weil es dort ja eine andere Rolle gespielt hat, die Einstellung dazu. Also, mehr oder weniger doch patriotische Gefühle wurden da erzeugt oder versucht zu erzeugen.5

In der DDR wurde eine Verpflichtung bei den bewaffneten Organen nicht nur als ein Bekenntnis zur DDR und zu der von ihr vertretenen Gesellschaftsordnung gewertet, sondern als solches auch und vor allem von Offizieren explizit eingefordert. Mit der Frage »Wie hältst du’s mit dem Sozialismus?« waren die befragten Offiziere zu DDR-Zeiten also wiederholt konfrontiert. Indem sie sich im Interview Jahre später mit der damaligen Erwartungshaltung auseinandersetzen, 5 Interview 34, Abs. 2.

Wie hältst du’s mit dem Sozialismus?

295

indem sie die offizielle Deutung der Berufsmotivation von NVA-Offizieren zurückweisen oder (in Teilen) aufgreifen und bestätigen, bestimmen sie den je individuellen Ausgangspunkt ihrer Berufsbiografie, der eine erste Definition ihres soldatischen Selbstverständnisses, aber auch ihres Verhältnisses zur DDR beinhaltet. Zum anderen ist die in den Interviews gleich zu Beginn thematisierte Bedeutung politischer Einflussfaktoren für die Wahl des Soldatenberufs in Zusammenhang mit der nach dem Mauerfall erfolgten öffentlichen Diskreditierung der DDR als politisches System und der sie stützenden Institutionen, wie etwa der Streitkräfte und ihrer Angehörigen, zu sehen. Im Zuge der Abwicklung der NVA und des Auswahl- und Übernahmeprozesses ihres Personals durch die Bundeswehr nach der Vereinigung wurde die Frage nach der politischen Haltung von NVA-Soldaten, nach ihren persönlichen Einstellungen zum Sozialismus, aktualisiert – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Von Berufsoffizieren wie anderen Funktionsträgern der DDR wurde nun ein Bekenntnis zu den vergangenen Bekenntnissen, eine Offenlegung der beruflichen sowie politischen Entwicklungen verlangt. Ein besonders ausgeprägtes politisches Engagement im sozialistischen Sinne, wie es zu DDR-Zeiten speziell von Offizieren erwartet wurde, erwies sich ab dem 3. Oktober 1990 zumindest für diejenigen, die eine weitere Beschäftigung im öffentlichen Dienst und namentlich in der Bundeswehr anstrebten, als Negativposten für die weitere berufliche Zukunft. Indem die befragten Offiziere in den Interviews auf Unterschiede zwischen früher und heute verweisen oder Parallelen hervorheben, positionieren sie sich in zustimmender oder ablehnender Weise auch zu der seit der Vereinigung etablierten ›neuen‹, bundesrepublikanischen Sicht auf die Rolle von Politik und Partei in der NVA bzw. der DDR und nutzen diese als Hintergrundfolie zur Erläuterung des eigenen beruflichen Werdegangs. Die in den Interviews von Anfang an be- und verhandelte Frage »Wie hältst du’s mit dem Sozialismus?« verweist letztlich auf eine der zentralen Problemstellungen, mit denen sich die befragten Offiziere in den Gesprächen auseinandersetzen und die man – plakativ – als »Wendehalsproblematik« bezeichnen könnte. Bei jeder biografischen Selbstthematisierung geht es darum, sich selbst und anderen gegenüber Auskunft zu geben, wie man geworden ist, was bzw. wie man heute, zum Zeitpunkt des Interviews, »ist«. Im vorliegenden Fall heißt das vor allem, Kontinuität und Wandel in Bezug auf den Übertritt von der DDR zur Bundesrepublik zu bestimmen – und zwar nicht zuletzt in politischer Hinsicht: Wie stark kann oder muss man den zu einer anderen Zeit verlangten und geleisteten Bekenntnissen die Treue halten, um nicht als Wendehals markiert zu werden? Wie stark kann oder muss man sich umorientieren, um nicht als sogenannter Ewiggestriger dazustehen? Und wie lässt sich dies im Gespräch mit

296

Nina Leonhard

einer westdeutschen Soziologin, die als solche in mehrfacher Hinsicht als Fremde wahrgenommen wird, verständlich machen? Wie diese und weitere Fragen von den befragten Offizieren beantwortet wurden, gibt nicht nur Aufschluss über ihre gesellschaftliche Verortung zum Zeitpunkt der Interviews. Anhand der hier nur in kleinen Ausschnitten präsentierten berufsbiografischen Darstellungen lassen sich sowohl Rückschlüsse auf den Erfahrungshintergrund im vereinigten Deutschland als auch zu Zeiten der DDR rekonstruieren. (Auto-)Biografische Erzählungen – oder Zeitzeugenzeugnisse, wie man sie auch unter historiografischen Vorzeichen bezeichnen könnte – eröffnen keinen direkten Zugang zu vergangenen Ereignissen und Handlungen. Gleichwohl thematisieren sie vergangenheitsbezogene Erfahrungen und erlauben Einsichten in deren Konstitutionsbedingungen, die für Soziolog*innen wie Historiker*innen, die sich für die Gegenwart von Vergangenheit und die Verarbeitung sowie Produktion von Geschichte in lebensweltlicher Hinsicht interessieren, gleichermaßen von Relevanz sind.

Literatur Hanna Haag/Pamela Heß/Nina Leonhard (Hg.), Volkseigenes Erinnern. Die DDR im sozialen Gedächtnis. Wiesbaden 2017. Susanne Leinemann, Erfahrungsgeschichten von Freiwilligen, Zeit- und Berufssoldaten in der Aufbauzeit der Nationalen Volksarmee der DDR. In: Constanze Hartan/Susanne Leinemann, Erfahrungsgeschichten von Freiwilligen, Zeit- und Berufssoldaten in der Aufbauzeit der Bundeswehr und der NVA. Osnabrück 2000, 124–241. Nina Leonhard, Integration und Gedächtnis. NVA-Offiziere im vereinigten Deutschland. Konstanz/Köln 2016.

Claudia Kraft

Leben und Forschen in der postmigrantischen Gesellschaft: Eine Lektürempfehlung für Mithu Sanyals Identitti

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich mag eigentlich keine Campus-Romane. Kriminalhauptkommissar*innen lesen wahrscheinlich auch keine Krimis. Und dann wurde Mithu Sanyals 2021 erschienener Roman Identitti in den Rezensionen nicht nur als Campus-Roman, sondern auch noch als Auseinandersetzung mit dem akademischen Kampf um »Identitätspolitiken« angepriesen: Als ob ich nicht bereits genug von den bestenfalls altväterlichen, schlimmstenfalls den Untergang des Abendlandes beschwörenden Kommentaren in meiner morgendlichen FAZ-Lektüre genervt wäre; oder mir oftmals selbst im Unialltag die Frage stelle, wie über Identitäten so zu reden wäre, dass wir sie nicht festschreiben, aber gleichzeitig doch irgendwie sprech- und bezeichnungsfähig bleiben. Aber auf der Verlagsseite stand, dass Mithu Sanyal über das leidige Thema schreibe, »als würden Sally Rooney, Beyoncé und Frantz Fanon zusammen Sex Education gucken«. Das klang auf nette Weise bürgerlich verkopft und so machte ich mich an die Lektüre und wurde nicht enttäuscht. Die Geschichte von Saraswati, einer Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf, die vorgibt, eine person of colour zu sein, dann aber als »biodeutsche« Sarah Vera Thielmann auffliegt und der Aneignung von Identität bezichtigt wird, ist in der Tat sehr lustig. Vor allem, weil Saraswatis Vorzeigestudentin Nivedita, Tochter eines indischen Vaters (und einer deutschen/polnischen (?) Mutter, dazu später mehr), eine hinreißende Figur ist, die sich als Bloggerin »Identitti« (und »Mixed-Race Wonder-Woman«) nennt und bei der lebensweltliche und akademische Selbstzweifel so eng verknüpft sind, dass man sie dauernd tröstend in den Arm nehmen möchte. Nivedita ist schwer geschockt von Saraswatis Identitätsschwindel und ihr fliegt ihr ganzes Weltbild um die Ohren. Das wird von Mithu Sanyal sehr witzig geschildert, weil Nivedita einerseits hyperreflektiert und woke ist, andererseits aber schon gerne weiß, woran sie ist – also mit dem Zustand, dass auf einmal alles ganz anders ist als gedacht, nur schwer umgehen kann. Zum Glück hat sie Kali, die indische Göttin, mit der sie (Selbst-)Gespräche führt, wenn sie die Komplexität der Welt mal wieder überfordert.

298

Claudia Kraft

Ich lese also angetan diesen Roman und bin ein wenig neidisch, dass die schlaue Autorin darin über das ganze komplexe Thema von Identitäten, Zuschreibungen und Wunsch nach Zugehörigkeiten so lustig und gleichzeitig so vielschichtig schreiben kann. Ich denke an meine eigene Ausbildung und meine scientific community, die sich natürlich nicht nur, aber zu einem guten Teil aus mit dem östlichen Europa Beschäftigten zusammensetzt. Ich habe immer das Gefühl, dass wir von den Kolleg*innen, die sich mit außereuropäischer Geschichte oder ganz generell mit postkolonialen Perspektiven beschäftigen, ein wenig mitleidig betrachtet werden, wenn wir versuchen, methodisch up to date zu sein, und uns an der Dekonstruktion von Konzepten und Begriffen beteiligen möchten. Es ist ja durchaus so, dass wir schon seit etlichen Jahren das Konzept der Identität kritisch beleuchten und versuchen, es eher prozessual zu fassen, das Denken in »Gruppen« hinter uns zu lassen, und uns auch an das Instrumentarium der Postcolonial Studies herantrauen. Aber irgendwie bleiben wir doch die, die für so altmodische Themen wie Nationalismus, Ethnizität und bestenfalls »multiple Identitäten« zuständig sind und nicht wirklich etwas zu den großen Fragen der Gegenwart beizutragen haben, etwa was an die Stelle von Identitäten in postkolonialen und postmigrantischen Konstellationen tritt und inwieweit auch historische Wissenschaften ihr konzeptuelles und begriffliches Instrumentarium erneuern könnten. Ich werde also beim Lesen etwas melancholisch und trauere einer Form von akademischer Coolness nach, die ich anscheinend aufgrund meiner Regionalexpertise nie erlangen werde. Bis ich auf Seite 340 angelangt bin! Dort spricht Nivedita mal wieder mit Kali und bekommt eine Lektion verpasst, die für mich den Roman endgültig zu einem Lese-Highlight dieser Büchersaison macht. Ich zitiere etwas ausführlicher, weil es so schön ist! Warum redest Du eigentlich mit mir?, unterbrach Kali [Kalis Rede ist immer kursiv] ihren Gedankenfluss […]. »Warum? Rede ich? Was?« stotterte Nivedita, die sich nicht bewusst gewesen war, gerade mit Kali gesprochen zu haben. Genau, warum mit mir? Und nicht zum Beispiel mit einer polnischen Göttin?, […] Nivedita begann zu verstehen, dass es hier um grundsätzliche Fragen ging. Was sie nicht verstand, war »Meinst Du Maria«? Nichts gegen Maria, aber was ist mit den vorchristlichen Gött*innen? Schon mal von den slawischen Gottheiten gehört? Okay, Nivedita hatte nichts verstanden. »Von wem?« Das meine ich! Du sprichst nicht mit ihnen, weil du sie nicht kennst, weil nichts von ihnen übrig geblieben ist, nicht einmal ihre Namen. »Namen?« wiederholte Nivedita. Soviel zu kulturellem Wissen! Kali stellte sich mit hüftbreit geöffneten Beinen vor sie, als hätte sie in einem Wendo-Kurs gerade den stabilen Stand trainiert. 966! »966?«, wiederholte Nivedita. 966, nickte Kali, gilt als das Schicksalsjahr, in dem die Polen getauft wurden. Das kannst Du Dir gerne aufschreiben. Und schreib Kulturkampf daneben. Die Polen wurden gezwungen zuzusehen, wie die Missionare ihre heiligen Stätten verwüsteten und den Gött*innenstatuen Stricke um die Hälse legten. »Stricke? Hälse? Wozu denn das? Kulturkampf eben!, sagte Kali ungeduldig. Es gibt Überlieferungen, wie die versammelten »Heiden« beim Anblick der von Pferden davongeschleiften und geschla-

Leben und Forschen in der postmigrantischen Gesellschaft

299

genen Gött*innen weinten und verzweifelten. Der Tod ihrer Gött*innen war der Tod ihrer Welt. Das ist es, was Saraswati meint, wenn sie sagt, dass die Weißen die ersten waren, die kolonialisiert wurden.

Keine Sorge, ich werde jetzt nicht zum x-ten Mal die Diskussion führen, ob die postkolonialen Theorien ein geeignetes konzeptuelles Instrumentarium für die Erforschung der Geschichte des östlichen Europas sind. Kerstin Jobst hat dazu in einem Aufsatz zu Edward Said und osteuropäischer Geschichte eine sehr frühe und sehr differenzierte Antwort gegeben. Ich werde auch nicht darüber reflektieren, dass postkoloniales Denken in Polen eher nicht dazu genutzt wird, Christianisierung als Kolonialisierung zu verstehen; häufiger wird der Bismarck’sche Kulturkampf als Form kolonialer Herrschaftspraxis beschrieben. Für das 20. Jahrhundert wird debattiert, inwieweit die Besatzung durch zwei große totalitäre Diktaturen im und nach dem Zweiten Weltkrieg als koloniale Herrschaft betrachtet werden kann; und neuerdings sehen manche Kreise in Polen »Brüssel« als Quelle ebensolcher Herrschaft. Mich interessiert vielmehr, weshalb Mithu Sanyal, Tochter eines indischen Vaters und einer deutschen/polnischen (?) Mutter, im letzten Viertel ihres Romans eher beiläufig auf Polen zu sprechen kommt und nach ein paar knappen, aber umso anregenderen Beobachtungen das Thema wieder fallen lässt. Kurz bevor Kali Nivedita auf die polnische Fährte ansetzt, erinnert sich letztere an die Lehrphilosophie Saraswatis. Da heißt es: »›Wir brauchen mehr kulturelles Wissen, um uns gegenseitig erkennen zu können‹ war ihr [Saraswatis] Motto, wenn sie ihnen mehr Texte mitgab als alle anderen Professor*innen zusammen.« Das Unterrichtspensum wird von Nivedita und ihren Kommiliton*innen zwar nicht immer begeistert, aber doch verständnisvoll angenommen, einerseits um die Wissenschaft zu dekolonisieren, andererseits aber auch, um sich selbst besser kennenzulernen, wie Nivedita bemerkt. Und beträchtliche Wissenslücken hat sie ja in ihrem Dialog mit Kali offenbart. Sie kann weder etwas mit der Jahreszahl 966 anfangen, noch mit den vorchristlichen slawischen Traditionen. Nun ja, historisches Faktenwissen ist nützlich, aber eigentlich auch nur, wenn man versteht, es in größere Sinnzusammenhänge einzuordnen, bzw. wenn es einem hilft, stereotypes Alltagswissen auszudifferenzieren. Aber auch damit sieht es bei Nivedita nicht sonderlich gut aus. Die einzige polnische »Göttin«, die ihr einfällt, ist … Maria. Damit hat sie ungefähr ein so differenziertes Bild von Polen, wie die Therapeutin von Niveditas Freundin Lilli von Indien, »die ihr [Nivedita] begeistert eröffnet hatte, dass die Inder – sie genderte nicht – so natürlich atmeten. Nivedita hatte höflich geatmet und die Therapeutin hatte sie bewundernd angestarrt«. Nun könnte man anführen, dass für eine Studentin der Postcolonial Studies Wissen über Polen nicht unbedingt zum Kerngeschäft gehört (Kali vertritt al-

300

Claudia Kraft

lerdings einen eher breiten Begriff von Kolonialismus, der auch Osteuropa durchaus inkludiert). Vor allem aber irritiert, dass Nivedita sich ziemlich intensiv mit dem väterlichen indischen Anteil an ihrer Biographie auseinandersetzt, während der andere, mütterliche Anteil bis kurz vor Ende des Buches, wenn überhaupt, nur beiläufig erwähnt wird. Erst Kalis Verweis auf polnische Gött*innen bringt sie dazu, auch diesem Teil ihrer Familiengeschichte mehr Aufmerksamkeit zu schenken: Zum ersten Mal in ihrem Leben dachte Nivedita darüber nach, warum sie eigentlich so fixiert auf Indien war, sich bisher aber nahezu nie Gedanken über Polen gemacht hatte. Wenn Birgit in der Küche Piroggi aufgebraten und mit Magda Piskorczyk im Gospel Duett Joshua fit the Battle of Jericho gesungen hatte […], hatte Nivedita lediglich überlegt, ob das nicht cultural appropriation von Schwarzem [sic] Leiden war.

Birgit, ihre Mutter, ist eine geborene Schimanski und steht, wie Nivedita leicht irritiert bemerkt, auf solche penetrant heteronormativen Typen, wie sie der Duisburger Tatort-Kommissar gleichen Namens verkörpert. Das Verhältnis von Mutter und Tochter ist – um es vorsichtig auszudrücken – nicht frei von Spannungen, wie etwa folgendes Zitat belegt: »Das Ruhrgebiet – wenn auch nicht Polen – war überhaupt eines der wenigen Themen, über das sie mit Birgit länger als 5 Minuten reden konnte, ohne Kettensägenfantasien zu entwickeln.« Über Birgits Verhältnis zum Ruhrgebiet führt Mithu Sanyal nun eine Perspektive ein, die das Postkoloniale mit einer ganz spezifischen Form des Postmigrantischen verbindet und ihrer ohnehin schon präzisen Analyse von bundesrepublikanischem Hochschulsystem und (west-)deutscher Gesellschaft eine weitere Facette hinzufügt. Auf einem abendlichen Spaziergang von Mutter und Tochter durch Essen-Frillendorf sagt Birgit: »Ich hatte immer ein Problem mit dieser Abwesenheit von Vergangenheit. Mit jedem Stein und jedem Fabriktor wurde achtlos ein Stück meiner Kindheit entfernt, als gäbe es in meinem Leben nichts zu erinnern außer leeren Flächen.« Hier spricht eine Frau mit Migrationshintergrund, der allerdings nicht näher ausgeleuchtet wird. Wir können vermuten, dass die polnischsprachigen Schimanskis aus dem Osten des Deutschen Reiches im 19. oder frühen 20. Jahrhundert ins Ruhrgebiet gekommen und dann als zunächst sprachlich und lange auch sozial diskriminierte Schicht maßgeblich am Aufbau des modernen deutschen Industriestaats beteiligt waren. »Herkunft« ist ein komplexer Begriff, das wissen wir nicht erst seit Sasˇa Stanisˇic´’ gleichnamigem Roman. Irgendwann trat die Herkunft der Schimanskis hinter andere Verortungen zurück. Und irgendwann verschwand die Industrie, die das Ruhrgebiet zu einem Anziehungspunkt von immer neuen Gruppen von Migrant*innen gemacht hatte. Auf einmal ist da neben der postkolonialen Perspektive noch eine andere, die uns nochmal ganz anders darüber nachdenken lässt, was Menschen zu dem

Leben und Forschen in der postmigrantischen Gesellschaft

301

macht, was sie zu sein glauben. Es sind nicht nur die Zuschreibungen von außen oder die identitätspolitischen Selbstermächtigungsakte, sondern auch die unaufhörliche Verschiebung zwischen dem, was man war, und dem, was man wird. Historizität rückt auf einmal in das Zentrum des Romans: Geschichte hinterlässt ihre Spuren, Herkunft ist relevant, aber nicht in dem Sinne, dass sie den Akteur*innen einen unveränderlichen Stempel aufdrückt. Vergessen spielt eine ebenso wichtige Rolle wie Erinnern. Vielleicht hat Mithu Sanyal das hier näher beleuchtete Kapitel mit »Decolonising the Mind« überschrieben, weil sie auch im postkolonialen Diskurs Leerstellen und Auslassungen identifiziert, die es aufzudecken gilt. Und vielleicht ist ein wenig Osteuropa-Expertise gar nicht so schlecht, um sich an dieser Detektivarbeit zu beteiligen. Nicht, weil es gilt, eine angebliche oder tatsächliche osteuropäische Kolonialerfahrung dem Bild hinzuzufügen, sondern weil in der postmigrantischen Gegenwart jede Herkunft wichtig ist. Die Episodenhaftigkeit der polnischen Herkunftsgeschichte kann als Parabel für die Aufmerksamkeitsökonomie – nicht nur in der akademischen Welt – einerseits für das in räumlicher Nähe gelegene »Ferne« (Osteuropa) und andererseits für die Überschichtungen von Herkunftserzählungen gelesen werden. Vielleicht will die Autorin gerade mit dieser etwas versteckten Geschichte zeigen, dass es noch viel mehr kennenzulernen gilt, als Nivedita und wir gemeinhin glauben. Das penetrant westdeutsche und irgendwie spießige Setting des Romans (Nivedita kommt aus Essen-Frillendorf, Saraswati wohnt in einer schicken Wohnung in Düsseldorf-Oberbilk – allein diese Namen versetzen einen sofort zurück in die Zeit der alten BRD, die sich noch weniger als Deutschland heute als Einwanderungsland oder gar als postkolonial betrachtete) steht nicht nur in einem Spannungsverhältnis zu den ganzen students of colour, die sich um Saraswati scharen, sondern auch zu anderen Anteilen, die diese Republik zu dem gemacht haben, was sie ist. Man kann auf Deutsch und vor allem auf Osteuropa bezogen eben nicht von »mixed-race« (gemischtrassig!) sprechen, wenn man die deutsch-osteuropäische Beziehungsgeschichte und vor allem den Zweiten Weltkrieg vor Augen hat. Aber dieser Erfahrungsraum – Ausgrenzung, Deportation, Massenmord, Flucht und Zwangsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg – macht unsere postmigrantische Gesellschaft aus; genauso wie die binnendeutsche Migration nach 1989 oder die vielen Flüchtlinge und Migrant*innen, die seit den 1990er Jahren etwa aus dem zerfallenden Jugoslawien oder als migrationspolitisch privilegierte »deutschstämmige« Menschen aus dem gesamten östlichen Europa in dieses Land kamen. Nivedita ist nicht zu beneiden, das biographisch und akademisch zusammenzudenken; aber Kali hat auch nie behauptet, dass die Dinge nicht kompliziert seien.

302

Claudia Kraft

Literatur Kerstin S. Jobst, Orientalism, Edward W. Said und die Osteuropäische Geschichte. In: Saeculum 51/2 (2000), 250–266. Mithu Sanyal, Identitti. München 2021. Sasˇa Stanisˇic´, Herkunft. München 2019.

Brigitta Schmidt-Lauber

Die Historikerin als Ethnologin der Zeit. Ein Annäherungsversuch

Das Begreifen anderer Welten ist ein Anliegen verschiedener, längst nicht nur anthropologischer Disziplinen. Die Suchbewegungen und Methoden variieren freilich erheblich je nach Untersuchungsgegenstand und Fragestellung. Bezogen auf die kulturelle Dimension des Gesellschaftlichen, auf ›eigene‹ wie ›fremde‹ Lebenswelten, Sinnhorizonte und Logiken beansprucht die Ethnologie – bei allen Namensverwirrungen im Karussell der Sozial- oder Kulturanthropologie, der (Europäischen) Ethnologie oder Empirischen Kulturwissenschaft – spezielle Expertise und Kompetenz: Sie entwickelt Strategien, das ›Fremde‹ zu verstehen und das ›Eigene‹ zu befremden, und findet darüber Wege, Erkenntnisse über gesellschaftliche Verhältnisse zu generieren. In der Methodik und Zugangsweise spiegelt sich dies besonders deutlich: Bei gegenwartsorientierten Erkundungsreisen setzt das Fach das methodische Instrumentarium der Ethnographie ein, der teilnehmenden Beobachtung von alltäglichen Situationen, gesellschaftlichem Miteinander und Handlungsroutinen sowie informeller Gespräche und Interviews mit Akteur*innen des Alltags. Dieses Vorgehen hat längst andere Arbeitsfelder wie die Marktforschung, Theologie oder Politikwissenschaft inspiriert, verspricht Ethnographie doch Kenntnis von und Zugang zu gelebten Alltagswelten bzw. alltäglichem Leben von Menschen zu erlangen. Nicht zuletzt dieses Versprechens wegen ist Ethnographie als Methode seit geraumer Zeit ›in‹. Als historisch argumentierende und arbeitende Disziplin erkundet die Europäische Ethnologie neben zeitgenössischen Alltagskulturen und Lebenswelten auch vergangene gesellschaftliche Verhältnisse. Diesbezüglich gab es rege methodologische Diskussionen darüber, inwiefern Ethnologie als Wissenschaft des alltäglichen Lebens sowie subjektiver Welten und Ethnographie als Modus der Erkenntnisgewinnung nicht nur zeitgenössische Untersuchungen, sondern ebenso historische Forschungen kennzeichnen bzw. auf sie übertragen werden können – eine Frage, die spätestens seit den 1970er Jahren die Gemüter fesselt und zu wesentlichen Neuausrichtungen innerhalb der Geschichtswissenschaft geführt hat: Mikro- und Alltagsgeschichte (und auch Biographieforschung) erfuhren ungeahnten Bedeutungszuwachs; auch gesellschaftlich manifestierte sich

304

Brigitta Schmidt-Lauber

das Interesse von unten in Geschichtswerkstätten und Erzählcafés; zwischen Geschichte und Volkskunde gab es produktive Berührungspunkte zum Konzept ›Volkskultur‹; die Zeitschrift Historische Anthropologie wurde als transdisziplinäres anthropologisch-historisches Projekt gegründet und das Publikum durch so blumige Titel wie »Missionare im Ruderboot« oder »Der Käse und die Würmer« angesprochen. Ja, die Analogie zwischen Ethnologie und Geschichte, historischem und ethnologisch-ethnographischem Forschen ist eine zweifelsohne spannende Frage. Deren Beantwortungsversuche führ(t)en mitunter aber auch mehr auf die schiefe Bahn denn zu erkenntnistheoretischer Schärfung. Von ›Begegnung‹ und ›Dialog‹ mit Quellen bzw. mit den hinter den Schriften erblickten Akteur*innen ist die Rede, aber nicht im metaphorischen oder analytischen Sinn, sondern unmittelbar und ›leibhaftig‹: Detailreich werden dann sinnliche Eindrücke oder Erfahrungen mit Menschen und Dingen beschrieben, und auch der Körperzustand der Forscherin im Prozess des Forschens kommt zur Sprache. Analog zu den Erfahrungen und Interaktionen der Ethnologin im Feld, aus deren Analyse zentrale Erkenntnisse generiert werden und die deshalb in ethnographischen Texten Sinn ergeben, werden nun auch die Bedeutung und Erfahrung der Archivsituation für die Historikerin, ihre Gefühle im Umgang mit staubigen Akten oder mit der gegebenenfalls schlecht gelaunten Archivarin behandelt. Ich möchte hier nicht weiter ins Detail gehen. Meine Einschätzung dürfte deutlich geworden sein: Analogien zwischen den Zugangsweisen und Analyseparametern historischer und gegenwartsbezogener Alltagskulturforschung wurden in derartigen Beiträgen über Gebühr strapaziert bzw. falsch ausgelegt. Pierre Bourdieu sprach in anderem Zusammenhang von »narzißtischer Reflexivität«, die auch hier am Wirken sein mag.1 Mitunter erfahren wir aus ethnographischen Texten tatsächlich mehr über das Innenleben der forschenden Person denn über den Gegenstand der Untersuchung. So hat sich neben der Metaanthropologie, die anthropologische Texte, Vorgehensweisen und Forschungsergebnisse analysiert (und nicht selbst empirisch forscht), mittlerweile eine ›Autoethnographie‹ etabliert, die auf reges Interesse stößt. Die Bedeutung der persönlichen Erfahrung für die Fragestellung angemessen im Blick zu bewahren, ist dabei eine Herausforderung (und Dringlichkeit), die nicht immer gelingt, wenn, wie oben beschrieben, die Erfahrung der Forschenden nicht als Quelle gewertet und konsequent auf die Untersuchungsfrage hin analysiert wird. Dann nämlich lesen wir vornehmlich Innenreflexionen eines forschenden Ichs, wiewohl wir zu Beginn der Lektüre die gewinnbringende Auseinandersetzung mit der sozialen Welt entlang einer wissenschaftlichen Fragestellung erwartet und erhofft hatten. 1 Bourdieu, Narzißtische und wissenschaftliche Reflexivität.

Die Historikerin als Ethnologin der Zeit. Ein Annäherungsversuch

305

Was bringt also die Analogie der Zugänge zu gegenwärtigen und historischen Alltagswelten? Macht eine ›historische Ethnographie‹ Sinn, die den Erkenntnisprozess des historischen Forschens als ›Begegnung‹ im Sinne von Erfahrung konzipiert? Genauer gesagt: In welchem Verständnis von ›Begegnung‹ zwischen wem und was würde die Rede von ›historischer Ethnographie‹ plausibel sein? Bei aller Gefahr und allem verständlichem Ärger angesichts allzu intensiver Fokussierung auf das forschende Ich in mancherlei Texten soll die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der Selbstreflexion im Forschungs- und Analyseprozess keinesfalls in Abrede gestellt werden. Diesbezüglich sehe ich sehr wohl Anregungs- und Erkenntnispotential einer Analogie zwischen Ethnologie und Geschichte bzw. ethnographischem und historischem Forschen – dann nämlich, wenn Ethnographie als epistemologisches Paradigma, als erkenntnistheoretisch geleitetes Erkunden und Begreifen (zeitlich, sozial oder kulturell) ferner Welten verstanden wird: Das Fremde, Unbekannte lesen und deuten zu können eint Ethnologie und Geschichte (als Anthropologien). Aber es scheint bezüglich Ethnographie ein weit verbreitetes Missverständnis, wenn nicht sogar eine Fehlinterpretation vorzuliegen. In den zuvor beschriebenen Analogien zwischen historischer und ethnologischer Forschung bildet das Verständnis von Ethnographie als spezifische Methodik des Forschens den Ausgangspunkt des Vergleichs: Ethnographie wird dabei als methodischer Zugang verstanden, als teilnehmende Beobachtung, als Dialog mit den Forschungspartner*innen und mithin Erfahrung und Begegnung, aus denen (Quellen-)Material generiert wird. Wird dieses Verständnis ethnographischer Forschung auf den Arbeits- und Erfahrungsprozess mit Akten oder im Archiv übertragen, läuft es Gefahr, in die Leere oder zu Banalitäten zu führen. Ich schlage deshalb vor, Ethnographie – für eine Analogie zwischen Ethnologie und Geschichte – als Modus der Annäherung an ›fremde‹ Welten und somit epistemologisch auszulegen. Und aus dieser Perspektive ergibt es Sinn, die Historikerin als ›Ethnologin der Zeit‹ zu bezeichnen. Dieser Spur möchte ich folgen und von da aus Kennzeichen ethnologischer Forschung als mögliche Anregung zur Diskussion stellen. Die Ethnologie versteht sich als reflexive Disziplin und hat diesbezüglich analytische Tools erarbeitet, deren Übertragbarkeit auf andere disziplinäre Suchbewegungen ich hiermit zur Diskussion stelle: einerseits die breite Kontextualisierung des generierten bzw. zusammengeführten Forschungsmaterials – die Ethnologie wird auch ›Kontextwissenschaft‹ genannt – und andererseits die selbstverständliche Reflexion der Entstehungsbedingungen des Feldes (Quellenkorpus) und damit der Rolle der Forscherin – die Ethnologie als reflexive Disziplin. Es gab reichlich Anlass, die Formen ethnologischen Forschens und Repräsentierens kritisch zu befragen und eine intensive metaanthropologische, reflexive Debatte zu führen, um daraus neue Parameter und Standards ethno-

306

Brigitta Schmidt-Lauber

graphischer Arbeit zu entwickeln. Beispiele von Restudies an ein und demselben Ort mit konträren Ergebnissen drängten Fragen nach der Rolle der unterschiedlichen Forschenden mit jeweils verschiedenen theoretischen und methodischen Zugängen und Foki sowie der Zeit und Umstände auf; als 1967 posthum die privaten Tagebücher Bronisław Malinowskis veröffentlicht wurden, entbrannte ein fachgeschichtliches Donnerwetter, das die Aufmerksamkeit verstärkt auf das ›Innenleben‹ des Forschers und seine Kompensationsstrategien in Folge zeithistorisch zu kontextualisierender ›Fremdheitserfahrungen‹ lenkte; und schließlich gaben die Writing-culture-Debatte und die Anregungen der feministischen Anthropologie und Postcolonial Studies Stoff, das eigene Tun zu überdenken und eine aktive, verantwortungsvolle Haltung als Forschende in einem von Machtverhältnissen geprägten Feld einzunehmen. Es ist das Verdienst vieler Debatten und Analysen, die Relevanz des Standorts der Forschenden für die Ergebnisse bzw. ihre soziokulturelle ›Brille‹ verdeutlicht und von da aus die Offenlegung der Standortgebundenheit gefordert, ja durchgesetzt zu haben: Die Reflexion und Berücksichtigung des Standorts und Forschungsprozesses und damit auch der Rolle als Forscherin ist als analytischer Schritt nunmehr Usus. Erst darüber werden die Gültigkeit und Reichweite der Ergebnisse offensichtlich. Für ethnologische Untersuchungen ist plausibel und vielfältig gezeigt worden: Als was die forschende Person gesehen wird, wie sie Zugang zu Forschungspartner*innen findet und ihr Anliegen plausibilisiert, welche Erwartungen und Interessen sie hat und welche wiederum an sie gestellt werden – all das ist konstitutiv für die Informationen und Quellen und damit das Ergebnis. Doch nicht nur aus ethnographischer Perspektive ist Reflexivität ein unerlässlicher Analyseschritt, auch die historisch Forschende findet im eigenen Standort und Zugang wichtige Hinweise, die es zu sehen und in die Analyse einzubeziehen gilt. Noch in anderer Hinsicht mag der Blick auf die Nachbardisziplin Ethnologie/ Anthropologie für die Historikerin aufschlussreich sein. Die Ethnologie blickt auf eine wechselhafte Geschichte ihrer wissenschaftlichen Legitimität und Legitimierung bzw. ihrer Absprache, die auch in dieser Hinsicht die Standortgebundenheit zu reflektieren gelehrt hat. Volks- und Völkerkunde (als Vorläuferfächer heutiger Ethnologien) sind im Zuge wachsenden nationalen Bewusstseins im 19. Jahrhundert entstanden – einer Zeit evolutionistisch geprägten Interesses an Kulturen sowie globaler Verflechtungen durch koloniale Machtund Herrschaftsverhältnisse. Nicht erst im Zuge der Postcolonial Studies sah sich die Ethnologie mit der Frage ihrer Legitimität, ›über‹ andere Menschen zu sprechen, konfrontiert. Die für sich in Anspruch genommene Autorität der Ethnologie, andere Kulturen zu kennen und zu beschreiben, wurde als Akt der Macht- und Herrschaftsausübung entlarvt. Mitunter untersagten Behörden europäischen Ethnolog*innen nach der Unabhängigkeit die staatliche Erlaubnis zu Feldforschungen in ehemaligen Kolonien. Die unabhängigen Staaten bean-

Die Historikerin als Ethnologin der Zeit. Ein Annäherungsversuch

307

spruchten nun selbst ethnologische Expertise. Sie hatten lange genug keine eigene Stimme gehabt. Die Frage der Autorisierung der eigenen Stimme und die Reflexion des Machtgestus im ethnologischen Forschen und Schreiben beschäftigte mithin Generationen von Studierenden der Ethnologie und ist fast schon so etwas wie ein disziplinäres Markenzeichen: die fortdauernde (ethnologische) Standortreflexion, die sich innerhalb von Machtgefügen und sozialen Ordnungen verortet und dadurch in die Analyse einbezogen wird. All dies hat zu erhöhter Sensibilität und neuen Wegen des Forschens und Schreibens geführt. Dialogische Anthropologie, kollaborative Forschungssettings und Versuche neuer Darstellungs- und Repräsentationsweisen sind nur einige Stichworte der fortdauernden Suchbewegungen nach einer wissenschaftlich, politisch und moralisch adäquaten Kulturforschung. Ähnliche Ausblicke auf die Erzeugnisse der eigenen Disziplin unternahm Hayden White mit seiner Metahistory; und auch im Hinblick auf die Repräsentation historischer Akteur*innen bzw. auf die multiple Auslegbarkeit von Quellen gibt es Darstellungsversuche, die mit Konventionen brechen. Auch die Historikerin ist mitunter mit Infragestellungen der Legitimität ihrer Forschungen konfrontiert – zwar weniger von den Beschriebenen, die sich zumeist nicht mehr zu Wort melden können, als vielmehr vom Kolleg*innenkreis. Wer in fremde Gefilde eindringt, sich als Deutsche zur ostafrikanischen oder osteuropäischen Geschichte zu Wort meldet, mag skeptische Reaktionen ernten und die Berechtigung mitzureden verteidigen müssen. In derartigen Absprachen der Expertise ist die Ethnologie geschult und hat Argumente bereitgestellt, die Sinnhaftigkeit des Außenblicks zu plausibilisieren. Darf ein Mann zu weiblichen Körpererfahrungen arbeiten oder eine intellektuelle Städterin zu agrarischen Lebenswelten im 19. Jahrhundert? Letztlich geht es Geschichtswissenschaft wie Ethnologie darum, fremde soziale Welten zu erschließen und verständlich zu machen. Dabei steht fest: ›Das Fremde‹ ist eine relationale Kategorie – eine Einsicht, die allzu überzeugte Possessivansprüche relativiert, wenn nicht entkräftet.

Literatur Pierre Bourdieu, Narzißtische und wissenschaftliche Reflexivität. In: Eberhard Berg/ Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt/Main 1993, 365–374. Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt/Main 1993. Bronisław Malinowski, A Diary in the Strict Sense of the Term. London 1967.

308

Brigitta Schmidt-Lauber

Brigitta Schmidt-Lauber, Orte von Dauer. Der Feldforschungsbegriff der Europäischen Ethnologie in der Kritik. In: Beate Binder/Thomas Hengartner/Sonja Windmüller (Hg.), Kultur – Forschung. Zum Profil einer volkskundlichen Kulturwissenschaft. Berlin 2009, 237–259.