129 13 3MB
German Pages [505] Year 2017
Patrick Zoll
Perfektionistischer Liberalismus Warum Neutralität ein falsches Ideal in der Politikbegründung ist
BAND 89 PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495818343
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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
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https://doi.org/10.5771/9783495818343 .
Dürfen in der Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt Argumente eine Rolle spielen, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht? Während Politische Liberale behaupten, dass ein Rückgriff auf derartige Argumente illegitim ist, weil damit gegen ein Neutralitätsprinzip verstoßen wird, lehnen Perfektionistische Liberale ein solches Prinzip ab und argumentieren, dass eine Verwendung solcher Argumente nicht grundsätzlich unzulässig ist. Dieses Buch analysiert die in der Debatte vertretenen Positionen, kritisiert die beiden bisher entwickelten Modelle eines Perfektionistischen Liberalismus als unbefriedigend und präsentiert abschließend einen eigenen Ansatz, der beansprucht, sich einem Politischen Liberalismus als überlegen zu erweisen.
Der Autor: Patrick Zoll, geb. 1977, studierte Philosophie (M.A.) und Theologie (B.A.) in München und Madrid und wurde mit der vorliegenden Arbeit an der Universität Bonn in Philosophie promoviert. Derzeit forscht und lehrt er an der Hochschule für Philosophie in München.
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Patrick Zoll Perfektionistischer Liberalismus
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 89
https://doi.org/10.5771/9783495818343 .
Patrick Zoll
Perfektionistischer Liberalismus Warum Neutralität ein falsches Ideal in der Politikbegründung ist
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495818343 .
Gedruckt mit der Genehmigung der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48834-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81834-3
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Übersicht
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
I.
27 27 58
Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kartographie der Neutralitätsdebatte . . . . . . . . . . . 2. Struktur eines Perfektionistischen Liberalismus . . . . . .
II.
Kritik: Schwächen des sektiererischen und quasi-naturrechtlichen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eine neue dialektische Situation . . . . . . . . . . . . 4. Die defensive Schwäche des sektiererischen Modells . 5. Die konstruktive Schwäche des quasi-naturrechtlichen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . 157 . . 159 . . 184 . . 237
III. Verteidigung: Das Konvergenzmodell . . . . . . . . . . . 6. (Neo-)aristotelischer Naturalismus . . . . . . . . . . . . 7. Die Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung . .
303 306 360
Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
469
Literatur
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister
485
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496
Abkürzungsverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
I.
27
Analyse
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Kartographie der Neutralitätsdebatte . . . . . . . . . 1.1 Anti-Perfektionistischer Liberalismus . . . . . . . . 1.1.1 Politisch begründeter Anti-Perfektionistischer Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Umfassend begründeter Anti-Perfektionistischer Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Perfektionistischer Liberalismus . . . . . . . . . . . 1.2.1 Umfassend begründeter Perfektionistischer Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Politisch begründeter Perfektionistischer Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
27 33
. .
33
. . . .
39 43
. .
44
. .
45
2. Struktur eines Perfektionistischen Liberalismus . . . . . . 2.1 Das defensive Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Ablehnung einer staatlichen Neutralität . . . . . . 2.1.1.1 »Neutralität« als anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip . . . . . . . . . . . 2.1.1.2 Der Begriff »Konzeption eines guten Lebens« 2.1.1.3 Die zentrale Bedeutung des Asymmetrievorwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Ablehnung von drei Kompatibilitätsmodellen . . . 2.1.2.1 Das thematische Modell . . . . . . . . . . 2.1.2.2 Das akteurszentrierte Modell . . . . . . . . 2.1.2.3 Das modus procedendi Modell . . . . . . .
58 59 59
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59 61 75 93 94 106 111
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Inhalt
2.2 Das konstruktive Element . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die politische Dimension . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Erste notwendige Bedingung: Individuenrelativität . . . . . . . . . . . 2.2.1.2 Zweite notwendige Bedingung: Direktheit 2.2.1.3 Erste Option: Monozentrisch oder multizentrisch? . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.4 Zweite Option: Gerechtigkeitsbasiert oder nicht-gerechtigkeitsbasiert? . . . . . . . . 2.2.2 Die ethische Dimension . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Erste notwendige Bedingung: Objektivität 2.2.2.2 Zweite notwendige Bedingung: Realismus 2.2.2.3 Erste Option: Starker oder schwacher Realismus? . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.4 Zweite Option: Nicht-naturalistischer oder naturalistischer Realismus? . . . . . . . . II.
. 121 . 124 . 125 . . . .
4. Die defensive Schwäche des sektiererischen Modells 4.1 Das sektiererische Modell . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Identifikation des Problems . . . . . . . . . 4.1.2 Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.1 Erste Variante: Schwache moralische Rechtfertigungspflicht . . . . . . . .
. . . .
. . . .
128 134 135 143
. 152 . 153
Kritik: Schwächen des sektiererischen und quasi-naturrechtlichen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Eine neue dialektische Situation . . . . . . . . . . . . . 3.1 Rechtfertigung einer Asymmetrie . . . . . . . . . . . 3.1.1 Politischer Liberalismus zwischen Perfektionismus und Libertarismus . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Zwei Arten vernünftiger Uneinigkeit . . . . . . . 3.1.2.1 Abgrenzung zu einem Politischen Libertarismus . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Abgrenzung zu einem Perfektionistischen Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Mögliche Strategien einer Erwiderung . . . . . . . . . 3.2.1 Angriff auf die Prämissen . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Angriff auf den ersten Schritt . . . . . . . . . . 3.2.3 Angriff auf den zweiten Schritt . . . . . . . . .
10
. 120 . 121
157
. 159 . 160 . 160 . 162 . 162 . . . . .
166 174 174 178 179
. . . .
184 185 185 188
. . . 189
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Patrick Zoll
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Inhalt
4.1.2.2 Zweite Variante: Externalismus und einfache Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.3 Dritte Variante: Aufgabe des Freiheitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Kritik am sektiererischen Modell . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Moralische Rechtfertigungspflicht oder nicht? . . . 4.2.2 Kritik am Externalismus und Begriff politischer Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.1 Externalistische Gegenbeispiele? . . . . . . 4.2.2.2 Eine überzeugende Konzeption politischer Rechtfertigung? . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Der anti-liberale Charakter des sektiererischen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die konstruktive Schwäche des quasi-naturrechtlichem Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das quasi-naturrechtliche Modell . . . . . . . . . . . 5.1.1 Identifikation des Problems . . . . . . . . . . . 5.1.2 Zweistufiger Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . 5.1.2.1 Ablehnung eines metaethischen Subjektivismus . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.2 Verteidigung eines naturalistischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Kritik am quasi-naturrechtlichen Modell . . . . . . . 5.2.1 Kritik am Erklärungspotential . . . . . . . . . . 5.2.1.1 Das Konstitutionsproblem . . . . . . . . 5.2.1.2 Das Trivialitätsproblem . . . . . . . . . . 5.2.1.3 Das Spezifikationsproblem . . . . . . . . 5.2.1.4 Das Entsprechungsproblem . . . . . . . . 5.2.2 Kritik am Anti-Essentialismus . . . . . . . . . . 5.2.2.1 Rekonstruktion der metaethischen Argumentation . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.2 Das notwendige Bekenntnis zu einem AntiEssentialismus . . . . . . . . . . . . . .
197 202 208 209 214 214 225 229
5.
Perfektionistischer Liberalismus
. . . .
237 238 238 245
. 247 . . . . . . . .
265 281 281 282 286 287 291 293
. 294 . 299
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Inhalt
III.
Verteidigung: Das Konvergenzmodell . . . . . . . . . . .
6. (Neo-)aristotelischer Naturalismus . . . . . . . . . . . 6.1 Essentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 »Gut« als attributives Adjektiv . . . . . . . . . . 6.1.2 Natürliche Gutheit bei Lebewesen . . . . . . . . 6.2 Natürliche Gutheit beim Menschen . . . . . . . . . . 6.2.1 Anwendbarkeit des »Musters natürlicher Normativität« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Unterschiede bei der Evaluation von Menschen . . 6.2.3 Widerspruchslosigkeit in der Anwendung . . . . 6.3 Attraktivität eines Essentialismus . . . . . . . . . . . 6.3.1 Einheitsgebende Erklärung . . . . . . . . . . . . 6.3.1.1 Objektive Güter . . . . . . . . . . . . . 6.3.1.2 Kultur des Anstands und guten Geschmacks 6.3.2 Lösung der Probleme eines Anti-Essentialismus . 6.3.2.1 Lösung des Konstitutionsproblems . . . . 6.3.2.2 Lösung des Trivialitätsproblems . . . . . . 6.3.2.3 Lösung des Spezifikationsproblems . . . . 6.3.2.4 Vermeidung des Entsprechungsproblems . 7. Die Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung . 7.1 Das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung (PÖR) . . . . 7.1.1 Herleitung von PÖR . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Interpretation von PÖR . . . . . . . . . . . . . 7.1.2.1 Konsens- und Konvergenzkonzeptionen öffentlicher Rechtfertigung . . . . . . . . 7.1.2.2 Drei Theorien öffentlicher Gründe . . . . 7.2 Lösung des Problems der öffentlichen Rechtfertigung . 7.2.1 Der Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Unterscheidung von anderen Lösungsvorschlägen 7.2.2.1 Unterschied zum einfachen sektiererischen Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2.2 Unterschied zum reformulierten sektiererischen Modell . . . . . . . . . . 7.2.2.3 Unterschied zum quasi-naturrechtlichen Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
303
. . . . .
306 306 311 319 328
. . . . . . . . . . . .
329 330 331 335 335 336 343 347 348 353 355 358
. . . .
360 363 363 373
. . . . .
373 376 384 384 396
. 398 . 400 . 404
Patrick Zoll
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Inhalt
7.3 Einwände gegen eine Konvergenzkonzeption . . . . . 7.3.1 Der Unehrlichkeitseinwand . . . . . . . . . . . 7.3.1.1 Motivation und Tragweite . . . . . . . . 7.3.1.2 Formulierung . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1.3 Strategien zur Entkräftung . . . . . . . . 7.3.2 Der Fanatismuseinwand . . . . . . . . . . . . . 7.3.2.1 Motivation und Tragweite . . . . . . . . 7.3.2.2 Formulierung . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2.3 Entkräftung . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Ein Argument für eine Konvergenzkonzeption . . . . 7.4.1 Der Integritätseinwand . . . . . . . . . . . . . 7.4.1.1 Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1.2 Formulierung . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1.3 Tragweite und erfolglose Entkräftungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Entkräftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2.1 Drei Vorbemerkungen . . . . . . . . . . 7.4.2.2 Erfolgreiche Entkräftung . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . .
410 410 411 411 417 426 426 428 436 442 443 443 447
. . . .
451 462 462 464
Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
469
Literatur
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister
485
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496
Abkürzungsverzeichnis
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Vorwort
Das vorliegende Buch wurde im Wintersemester 2014/15 mit dem Titel Perfektionistischer Liberalismus – Analyse, Kritik und Verteidigung einer Alternative zu einem Politischen Liberalismus von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Christoph Horn für sein Vertrauen in das Thema und für seine ermutigende und konstruktive Kritik, die entscheidend zur Endgestalt dieser Arbeit beigetragen hat. Ebenso möchte ich hier Prof. Dr. Dieter Sturma nennen, der die Mühe der Zweitbegutachtung auf sich genommen hat. Den Herausgebern der Reihe Praktische Philosophie bin ich dankbar, dass sie meiner Dissertation durch die Aufnahme in diese Reihe eine vielversprechende Chance gewährt haben, um wahrgenommen zu werden. Gleiches gilt für Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber, und zwar nicht nur als Übermittler der freudigen Nachricht, dass diese Arbeit mit dem Karl Alber Preis 2016 ausgezeichnet worden ist, sondern vor allem auch für seine Geduld und sein Verständnis bei den kommunikativen Hürden und Schwierigkeiten, die es während meines halbjährigen Aufenthalts auf Kuba zu überwinden galt, und für die gute Zusammenarbeit bis zur Drucklegung. Damit ein derartiges Projekt realisiert werden kann, bedarf es vor allem guter struktureller Rahmenbedingungen. Hier sei die Bischöfliche Studienförderung Cusanuswerk e. V. nicht nur wegen der finanziellen Förderung genannt, sondern auch für die Möglichkeit, sich im Kreis von anderen Promovierenden inhaltlich und methodisch auszutauschen. Ralf Klein SJ und Martin Löwenstein SJ haben ohne zu zögern die mühsame Arbeit des Korrekturlesens auf sich genommen und zahlreiche sprachliche Verbesserungsvorschläge unterbreitet. Dieses Buch wäre jedoch nie zustande gekommen, wenn nicht auch die emotionalen Rahmenbedingungen gestimmt hätten. Hier Perfektionistischer Liberalismus
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Vorwort
denke ich zunächst an meine Eltern, meine Geschwister mit ihren Familien (vor allem Laura!) und meine Oma. Es sind sie, die das Fundament gelegt haben, und unsere Begegnungen sind für mich immer noch eine beständige Wegzehrung, die mir das Gehen meines Lebenswegs ermöglicht. Eine wichtige Stütze meines Lebens sind aber auch die vielen Freunde und Freundinnen, die mich treu auf meinen Wegen und Umwegen begleiten und die mich immer wieder erfahren lassen, dass Freundschaft viel wichtiger für ein gutes Leben ist als aller Erfolg in der Arbeit. Es fällt mir schwer, angemessene Worte des Dankes für dieses kostbare Geschenk zu finden. Gewidmet sei dieses Buch dem Jesuitenorden, der mich in den vergangenen 18 Jahren menschlich hat reifen lassen und für mich zur Heimat geworden ist. München, den 17. März 2016
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Patrick Zoll
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Einleitung
Mit dieser Arbeit leiste ich einen Beitrag zu einer Debatte innerhalb der Politischen Philosophie, die zwischen Vertretern eines »Anti-Perfektionistischen Liberalismus« 1 und Befürwortern eines »Perfektionistischen Liberalismus« 2 geführt wird. Perfektionistische Liberale behaupten, dass es ohne Widerspruch möglich ist, sowohl an zentralen liberalen Überzeugungen und Werten festzuhalten als auch die Geltung eines staatlichen Neutralitätsprinzips abzulehnen. 1 Als bedeutsame Vertreter können hier genannt werden: Bruce A. Ackerman, Social Justice in the Liberal State (New Haven: Yale University Press, 1980); Brian Barry, Justice as Impartiality (Oxford: Clarendon Press, 1995); Ronald Dworkin, A Matter of Principle (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1985); Charles E. Larmore, Patterns of Moral Complexity (Cambridge: Cambridge University Press, 1987); Steven Lecce, Against Perfectionism: Defending Liberal Neutrality (Toronto: University of Toronto Press, 2008); Thomas Nagel, Equality and Partiality (Oxford: Oxford University Press, 1991); Jonathan Quong, Liberalism without Perfection (Oxford: Oxford University Press, 2011); John Rawls, Political Liberalism (New York: Columbia University Press, 22005; 1993); A Theory of Justice (Oxford: Oxford University Press, 1999; 1971). Ihnen gemeinsam ist, dass sie für die Geltung eines Neutralitätsprinzips im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt eintreten. 2 Für eine solche Position stehen z. B. folgende Autoren und Autorinnen: Clare Chambers, Sex, Culture, and Justice: The Limits of Choice (University Park, Pennsylvania: Pennsylvania State University Press, 2008); Joseph Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, Philosophy and Public Affairs 29, no. 1 (2000); Peter De Marneffe, Liberalism and Prostitution (Oxford: Oxford University Press, 2010); Vinit Haksar, Equality, Liberty, and Perfectionism (Oxford: Oxford University Press, 1979); Thomas Hurka, Perfectionism (Oxford: Oxford University Press, 1993); Joseph Raz, The Morality of Freedom (Oxford: Oxford University Press, 1986); George Sher, Beyond Neutrality: Perfectionism and Politics (Cambridge: Cambridge University Press, 1997); Jeffrey Stout, Democracy and Tradition (Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 2004); Steven Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint (Cambridge: Cambridge University Press, 1998); Kimberly A. Yuracko, Perfectionism and Contemporary Feminist Values (Bloomington, Indiana: Indiana University Press, 2003).
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Einleitung
Die Debatte darüber, ob man eine solche Position in kohärenter Weise vertreten kann, setzt spätestens mit der Publikation von Joseph Raz’ The Morality of Freedom im Jahre 1986 ein. In ihrem Verlauf hat sie sich auf die Frage zugespitzt, welche Rolle Argumente in der Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt spielen dürfen, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht. 3 Anti-Perfektionistische Liberale behaupten, dass derartige Argumente niemals den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen können, weil sie gegen ein »Neutralitätsprinzip« verstoßen, wonach staatliches Handeln nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn es mit Überlegungen gerechtfertigt wird, die jeder in der relevanten Öffentlichkeit als Grund akzeptieren kann. Perfektionistische Liberale hingegen argumentieren, dass es Fälle gibt, in denen staatliches Handeln Legitimität beanspruchen kann, auch wenn es ausschließlich mit Argumenten gerechtfertigt wird, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Die Diskussion hat sich dahingehend entwickelt, dass scheinbar nur zwei kohärente, aber zugleich radikale Positionen in diesem Konflikt übrig geblieben sind, die allerdings beide – aufgrund ihrer Radikalität – mit erheblichen Problemen zu kämpfen haben. Derzeit führende Vertreter eines Anti-Perfektionistischen Liberalismus wie Jonathan Quong gestehen offen zu, dass die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips einen hohen »Preis« hat. Ein Anti-Perfektionistischer Liberalismus zwingt – theoretisch wie praktisch – zur Übernahme äußerst kontraintuitiver revisionärer Annahmen. Ein NeutralitätsDiese Debatte hat natürlich auch historische Wurzeln. Einen ideengeschichtlichen und durchaus kritischen Überblick über den Einfluss perfektionistischen Denkens auf die Entwicklung der Politischen Philosophie bietet John A. Passmore, The Perfectibility of Man (Indianapolis, Indiana: Liberty Fund, 32000; 1970). In engerem Bezug zur Geschichte des Liberalismus weist z. B. David Brink darauf hin, dass sich schon klassische liberale Autoren wie T. H. Green um eine Integration eines perfektionistischen Elements in eine liberale Politische Philosophie bemüht haben und die Studie von Steven Lecce macht deutlich, dass die in dieser Arbeit untersuchte Kontroverse innerhalb des jüngeren Liberalismus auch schon ähnliche historische Vorgänger hat, vgl. David O. Brink, Perfectionism and the Common Good: Themes in the Philosophy of T. H. Green (Oxford: Clarendon Press, 2003); Lecce, Against Perfectionism. Ich beschränke mich in meiner Untersuchung auf die »moderne« bzw. »zeitgenössische« Variante dieser Debatte, deren Beginn und Form mit der Erscheinung von Rawls’ A Theory of Justice und den methodologischen und epistemologischen Annahmen von Rawls’ Reformulierung der Sozialvertragstradition liberalen Denkens verknüpft ist.
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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Patrick Zoll
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Einleitung
prinzip zum Kriterium für legitimes Staatshandeln zu machen hat die revisionäre theoretische Konsequenz, dass viele gute (perfektionistische) Argumente für die Rechtfertigung politischen Handelns nicht mehr zulässig sind. Denn zu fordern, dass man sich auf eine Konzeption eines guten Lebens im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt nur berufen darf, wenn diese Konzeption unkontrovers ist bzw. ein Konsens über sie besteht, führt dazu, dass eine Vielzahl von perfektionistischen Urteilen im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung keine Rolle mehr spielen dürfen, selbst dann, wenn man gerechtfertigt ist, diese Urteile für wahr zu halten. Eine solche empfindliche Ausdünnung von perfektionistischen Argumenten auf einer theoretischen Ebene hat aber – auch dies gesteht Quong zu – äußerst revisionäre praktische Folgen. 4 Denn es scheint der Fall zu sein, dass in modernen und demokratischen Gemeinwesen vielfach perfektionistisches Staatshandeln intuitiv gebilligt oder sogar begrüßt wird, obwohl dies nicht mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die von Annahmen über das gute Leben unabhängig sind, welche in einer pluralen Gesellschaft kontrovers diskutiert werden können. Die Liste an Beispielen für staatliches Handeln, das sich demnach sehr wahrscheinlich nicht mehr öffentlich rechtfertigen lässt und deshalb keine Legitimität mehr beanspruchen kann, ist bei Quong beeindruckend lang 5: Gesetzliche Verbote oder Einschränkungen von Glücksspiel, Prostitution, Pornographie und Konsum leichter Drogen können nicht mehr damit gerechtfertigt werden, dass derartige Verhaltensweisen bzw. Lebensweisen unmoralisch oder schlecht sind; die Verpflichtung bestimmter religiöser Minderheiten, ihre Kinder am staatlichen Bildungswesen teilhaben zu lassen, kann nicht mehr mit dem Hinweis auf den Wert der Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit gerechtfertigt werden; religiöse Einwände gegen Abtreibung, die Homo-Ehe oder embryonenverbrauchende Stammzellenforschung dürfen im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt keine Rolle mehr spielen. Ebenso ist sehr wahrscheinlich die öffentliche Förderung von Kunst und Kultur, wie auch jede staatlich subventionierte Schaffung von Anreizen, damit Bürger als wertvoll erachtete Tätigkeiten bzw. Lebensweisen wählen, nicht mehr öffentlich rechtfertigbar und damit illegitim. 4 5
Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 1–2, 4. Vgl. ibid., 4.
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Einleitung
Gegen einen Anti-Perfektionistischen Liberalismus spricht also, dass mit der Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips und der damit verbundenen Einschränkung der Menge von Argumenten und Gründen, die in der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt eine Rolle spielen dürfen, eine erhebliche Revision der politischen Praxis liberaler Staaten einhergehen muss. Gemäß einem Anti-Perfektionistischen Liberalismus ist staatliches Handeln in vielen Bereichen – z. B. den oben aufgeführten – aus prinzipiellen Gründen nicht mehr öffentlich rechtfertigbar, selbst wenn dies in der betreffenden Öffentlichkeit gar nicht problematisch erscheint und viele liberale Bürger der gerechtfertigten Überzeugung sind, dass es gute (perfektionistische) Argumente bzw. Gründe gibt, die ein derartiges staatliches Handeln rechtfertigen können. 6 Angesichts dieser revisionären Implikationen eines Anti-Perfektionistischen Liberalismus legt sich die Frage nahe, ob ein Perfektionistischer Liberalismus nicht eine attraktive Alternative darstellt. Da Perfektionistische Liberale das Neutralitätsprinzip ablehnen und behaupten, dass es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt wird, können sie auch die revisionären Konsequenzen eines Anti-Perfektionismus vermeiden. Weil auf einer theoretischen Ebene zumindest prinzipiell nicht ausgeschlossen wird, dass kontroverse perfektionistische Argumente im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung politischer Zwangsgewalt eine Rolle spielen dürfen, besteht die Chance, dass perfektionistisches Staatshandeln auf einer praktischen Ebene öffentlich gerechtfertigt werden kann, was ohne einen Bezug auf Vorstellungen über das gute Leben sonst nicht gerechtfertigt werden könnte. Ein Perfektionistischer Liberalismus scheint als Theorie somit besser den Intuitionen vieler liberaler Bürger und der politischen Praxis demokratischer und liberaler Gemeinwesen gerecht zu werden, als ein Anti-Perfektionistischer Liberalismus. Das grundlegende Problem einer solchen Strategie Perfektionistischer Liberaler besteht allerdings darin, dass Anti-Perfektionistische Liberale geltend machen, dass das Neutralitätsprinzip sich aus einer konstitutiven und unaufgebbaren Grundannahme einer moderEine kritische Auseinandersetzung mit einer derartigen »ethischen Enthaltsamkeit« des Staates bzw. der Politik bietet Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen (Berlin: Suhrkamp, 2014), 30–52.
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nen liberalen Politischen Philosophie ableitet, nämlich einem Prinzip öffentlicher Rechtfertigung. 7 Gemäß diesem Prinzip darf der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt in einer Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern nur dann als öffentlich gerechtfertigt gelten, wenn er mit Überlegungen gerechtfertigt wird, die jedes vernünftige Mitglied dieser Gesellschaft als Grund anerkennen kann. Eine Negierung des Neutralitätsprinzips scheint Perfektionistische Liberale somit zur Negierung der Gültigkeit eines Prinzips öffentlicher Rechtfertigung und damit zur Aufgabe einer zentralen Prämisse eines modernen »public reason liberalism« zu zwingen. 8 Perfektionistische Liberale – so der anti-perfektionistische Vorwurf – können die revisionären Implikationen eines public reason liberalism also nur vermeiden, indem sie sich mit der Aufgabe des Prinzips öffentlicher Rechtfertigung aus dem Lager eines public reason liberalism verabschieden. Damit ist ein Perfektionistischer Liberalismus aber keine echte Alternative mehr. Dieser Vorwurf wiegt umso schwerer, da derzeit führende Perfektionistische Liberale wie Steven Wall in der Tat auch bereit zu sein scheinen, diesen Preis zu bezahlen, also willens sind, sich vom Ideal der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zu verabschieden. Wenn ein Perfektionistischer Liberalismus allerdings nur noch mit derart radikalen MaßnahSo argumentieren z. B. Charles E. Larmore, »Political Liberalism«, Political Theory 18(1990): 342, 349; Stephen Macedo, Liberal Virtues: Citizenship, Virtue, and Community in Liberal Constitutionalism (Oxford: Clarendon Press, 1990), 78; Jeremy Waldron, »Theoretical Foundations of Liberalism«, in Liberal Rights: Collected Papers 1981–91. Jeremy Waldron (Hg.) (Cambridge: Cambridge University Press, 1993), 36–37. In diesem Prinzip drückt sich auch das in Fußnote 3 angesprochene Spezifikum bzw. Unterscheidungsmerkmal eines »modernen« von einem »klassischen« Liberalismus aus. Eine Begründung dieser Unterscheidung und weitergehende Klassifizierung moderner liberaler Theorien findet sich bei Gerald F. Gaus, Contemporary Theories of Liberalism: Public Reason as a Post-Enlightenment Project (London: Sage, 2003). 8 Ich verwende den englischen Ausdruck, weil er sich als termnius technicus in der – vornehmlich anglo-amerikanischen – Debatte etabliert hat und bisher keine deutsche Alternative offeriert worden ist, die in so prägnanter Weise das Spezifikum eines modernen Liberalismus benennt. Folgt man Gaus, so unterscheidet sich ein »klassischer« von einem »modernen« Liberalismus durch sein Verhältnis zum »Aufklärungsprojekt« bzw. dem Vernunftbegriff der Aufklärung. Während ein klassischer Liberalismus mit der Aufklärung davon ausgeht, dass alle Uneinigkeiten und Konflikte prinzipiell durch die Vernunft lösbar sind, gibt ein moderner Liberalismus diese Vorstellung mit der Anerkennung des Faktums eines vernünftigen Pluralismus auf, vgl. Contemporary Theories of Liberalism, 1–19. 7
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men zu verteidigen ist, dann diskreditiert er sich meiner Meinung nach als ernstzunehmende Alternative zu einem Anti-Perfektionistischen Liberalismus. Will sich ein Perfektionistischer Liberalismus als eine kohärente und attraktive Alternative im Rahmen einer liberalen Politischen Philosophie bzw. eines public reason liberalism etablieren, so muss er deshalb eine andere – weniger radikale – Strategie wählen. Ein Perfektionistischer Liberaler muss darlegen, dass es für ihn möglich ist, das »Problem der öffentlichen Rechtfertigung« zu lösen. Er muss also demonstrieren, dass er das Neutralitätsprinzip ablehnen kann, ohne damit zugleich ein Prinzip zu negieren, das ihn auf die öffentliche Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt verpflichtet. In dieser Arbeit werde ich zeigen, dass es mit dem »sektiererischen Modell« Steven Walls und dem »quasi-naturrechtlichen Modell« George Shers derzeit zwei Varianten eines Perfektionistischen Liberalismus gibt, deren Lösungsvorschläge für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung aber jeweils nicht zu überzeugen wissen. Im letzten Teil meiner Arbeit präsentiere ich deshalb mit einem »Konvergenzmodell« eine neue Variante eines Perfektionistischen Liberalismus und argumentiere, dass dieses Modell Perfektionistische Liberale in die Lage versetzt, das Neutralitätsprinzip abzulehnen, ohne damit zugleich eine Verpflichtung zur öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zu negieren. Gelingt mir dies, so ist gezeigt, dass es im Rahmen einer liberalen Politischen Philosophie nicht nur eine Alternative zu dem derzeit dominanten AntiPerfektionistischen bzw. Politischen Liberalismus gibt 9, sondern darüber hinaus eine äußerst attraktive Alternative, weil diese keine empfindliche Beschränkung der Menge von Argumenten notwendig macht, die für die öffentliche Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt in Frage kommen, und damit auch nicht zu einer bedeutsamen Diskreditierung und Revision einer politischen Praxis nötigt, die viele liberale Bürger nicht nur für legitim, sondern auch für intuitiv plausibel halten. Um die These zu begründen, dass es sich bei einem Perfektionis-
Wie ich später noch ausführlicher darlegen werde (siehe 1.1), handelt es sich bei einem »Politischen Liberalismus« genau genommen um eine Variante eines »AntiPerfektionistischen Liberalismus«. Da ich aber die These vertrete, dass die besten antiperfektionistischen Theorien von Politischen Liberalen wie Quong vertreten werden, verwende ich beide Ausdrücke weitestgehend synonym.
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tischen Liberalismus um eine kohärente und attraktive Alternative zu einem Anti-Perfektionistischen Liberalismus handelt, gliedert sich meine Arbeit in drei Teile. Im ersten Teil verteidige ich zunächst die Grundannahme, dass es sich bei der sogenannten »Neutralitätsdebatte« um eine Kontoverse innerhalb des Liberalismus handelt, und erstelle auf der Grundlage dieser Prämisse eine systematische Karte der Diskussionslandschaft (Kapitel 1). Es wird sich hier zeigen, dass man sowohl im Lager eines Anti-Perfektionistischen Liberalismus als auch bei einem Perfektionistischen Liberalismus noch einmal differenzieren muss zwischen »umfassend begründeten« und »politisch begründeten« Positionen. Das zweite Kapitel offeriert eine genauere Analyse der Struktur eines Perfektionistischen Liberalismus. Ich weise nach, dass diese Position sich notwendigerweise aus einem defensiven und einem konstruktiven Element konstituiert. Mit »defensivem Element« ist gemeint, dass ein Perfektionistischer Liberalismus nur zu überzeugen vermag, wenn er in der Lage ist, die Forderung nach der Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips zurückzuweisen. Ich werde darlegen, dass für dieses Unterfangen der sogenannte »Asymmetrievorwurf« zentral ist, welcher besagt, dass ein Neutralitätsprinzip solange zurückgewiesen werden kann, wie Anti-Perfektionistische bzw. Politische Liberale ihrerseits nicht begründen können, warum Argumente, die von kontroversen Prämissen darüber ausgehen, was gerecht ist, weiterhin im Prozess der öffentlicher Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt zulässig sein sollen. Ein Perfektionistischer Liberalismus definiert sich aber nicht allein durch Ablehnung und Defensive, sondern auch durch ein konstruktives Element, da er behauptet, dass wenigstens manchmal auch kontroverse perfektionistische Urteile den Gebrauch staatlicher Gewalt rechtfertigen können. Sie können dies auch ohne Konsens – also trotz ihrer Kontroversalität –, eben weil es sich hier um Urteile handelt, deren Wahrheitswert unabhängig davon ist, ob es einen Konsens hinsichtlich ihrer Wahrheit gibt. Perfektionistische Liberale müssen demnach eine objektive Wert- und Gütertheorie vertreten bzw. behaupten, dass sich der Objektivitätsanspruch der von ihnen favorisierten Theorie eines guten Lebens verteidigen lässt. Ich werde hier durch eine Reihe von begrifflichen Unterscheidungen zum einen herausarbeiten, wie eine möglichst attraktive Variante eines Perfektionistischen Liberalismus aussehen kann, und zum anderen nachweisen, dass durch diese begrifflichen Differenzierungen hinsichtlich Perfektionistischer Liberalismus
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der politischen wie der ethischen Dimension eines Perfektionistischen Liberalismus eine Reihe von Einwänden und Bedenken gegen diesen schon im Vorfeld der eigentlichen Argumentation zurückgewiesen bzw. entkräftet werden können. Der zweite Teil meiner Arbeit gliedert sich in drei Kapitel und unternimmt eine Kritik zweier Modelle eines Perfektionistischen Liberalismus, die sich aus den Arbeiten von Steven Wall und George Sher rekonstruieren lassen. Ausgangspunkt meiner Kritik wird der Nachweis sein, dass mit der Veröffentlichung von Jonathan Quongs Liberalism without Perfection aus dem Jahre 2011 eine neue dialektische Situation in der Neutralitätsdebatte eingetreten ist, weil Quong in diesem Werk eine sehr überzeugende Entkräftung des Asymmetrievorwurfs präsentiert (Kapitel 3). Dies ist für Perfektionistische Liberale zum einen problematisch, weil Anti-Perfektionistische Liberale damit eine asymmetrische Behandlung von Argumenten, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was gerecht ist, und Argumenten, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, rechtfertigen können. Zum anderen drängt dieser dialektische Zug Quongs die Perfektionistischen Liberalen in die Defensive, weil er die Beweislast in der Debatte zu ihren Ungunsten verschiebt und sie zwingt, eine eigene Lösung für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt zu präsentieren. Im vierten Kapitel demonstriere ich, dass sich angesichts dieser neuen Herausforderung eine Schwäche im defensiven Element von Walls sektiererischem Modell eines Perfektionistischen Liberalismus offenbart. Befragt man dieses Modell darauf hin, ob es über die Ressourcen verfügt, um Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs zu widerlegen bzw. das damit aufgeworfene Problem der öffentlichen Rechtfertigung zu lösen, so zeigt sich, dass es nicht zu überzeugen vermag. Wall kann das Problem der öffentlichen Rechtfertigung nur durch eine Uminterpretation des Begriffs »öffentliche Rechtfertigung« lösen, die deshalb nicht akzeptabel ist, weil sie ihn zur Negierung zentraler liberaler Grundüberzeugungen nötigt. Der von Wall vertretene Perfektionistische Liberalismus verabschiedet sich also in der Tat aus dem Lager eines public reason liberalism. Die Arbeiten von Sher stehen für ein quasi-naturrechtliches Modell eines Perfektionistischen Liberalismus, welches eine andere Lösung für das von Quong aufgeworfene Problem der öffentlichen Rechtfertigung bereit hält (Kapitel 5). Sher identifiziert das Problem 24
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der öffentlichen Rechtfertigung mit dem Problem der Rechtfertigung des Objektivitätsanspruchs einer Theorie eines guten Lebens. Hat man das Problem gelöst, wie man den objektiven Wert bzw. die objektive Gutheit bestimmter Aktivitäten, Lebensweisen und Charaktereigenschaften in einer einheitsgebenden Weise rechtfertigen kann, so hat man auch Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs und das daraus resultierende Problem der öffentlichen Rechtfertigung gelöst. Wenn sich der Objektivitätsanspruch einer Theorie eines guten Lebens rechtfertigen lässt, dann ist der Bezug auf kontroverse perfektionistische Urteile genauso problematisch bzw. genauso unproblematisch wie die Referenz auf kontroverse Urteile darüber, was gerecht ist. Anders als bei Wall trägt in diesem Modell somit das konstruktive Element die Hauptlast. Ich argumentiere jedoch dafür, dass auch dieses Modell nicht zu überzeugen vermag, gerade weil es diesmal eine Schwäche im konstruktiven Element aufweist. Ich lege dar, dass Shers Versuch scheitert, den Objektivitätsanspruch einer Theorie eines guten Lebens ohne Rückgriff auf kontroverse metaphysische bzw. essentialistische Annahmen über die menschliche Natur zu verteidigen, und damit auch sein Ansatz zur Lösung des Problems der öffentlichen Rechtfertigung nicht mehr funktioniert. Die offengelegten Schwächen der bisherigen Modelle eines Perfektionistischen Liberalismus bestimmen die Aufgabenstellung für den dritten Teil meiner Arbeit. Die These, dass ein Perfektionistischer Liberalismus eine kohärente und zudem noch attraktive Alternative zu einem Anti-Perfektionistischen bzw. Politischen Liberalismus darstellt, ist nur vertretbar, wenn es gelingt, die aufgezeigten Schwächen der bisherigen Modelle zu beseitigen. Ich beanspruche, dass mir dies mit dem von mir entwickelten »Konvergenzmodell« gelingt. Im sechsten Kapitel argumentiere ich deshalb zunächst dafür, dass das Problem der Rechtfertigung des Objektivitätsanspruchs einer Theorie eines guten Lebens nur gelöst werden kann, wenn man – anders als Sher – einen Bezug auf kontroverse Annahmen metaphysischer bzw. essentialistischer Art für zulässig erachtet. Ich behaupte, dass ein (neo-)aristotelischer Naturalismus – wie er maßgeblich von Philippa Foot, Rosalind Hursthouse, Richard Kraut, Alasdair MacIntyre oder Michael Thompson vertreten wird 10 – sich in der Lage erweist, die Als einflussreiche Werke können hier genannt werden: Philippa Foot, Natural Goodness (Oxford: Oxford University Press, 2001); Rosalind Hursthouse, On Virtue Ethics (Oxford: Oxford University Press, 2001; 1999); Richard Kraut, What Is Good
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Schwäche des konstruktiven Elements eines Perfektionistischen Liberalismus zu beheben. Im siebten und letzten Kapitel meiner Arbeit präsentiere ich schließlich einen Vorschlag für eine Widerlegung von Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs und biete eine Lösung für das damit aufgeworfene Problem der öffentlichen Rechtfertigung an. Gelingt dieses Unterfangen, so ist damit auch die Schwäche des defensiven Elements eines Perfektionistischen Liberalismus behoben. Um dies zu leisten, greife ich auf jüngere Arbeiten von Jeffrey Stout, Fred D’Agostino, Gerald Gaus und Kevin Vallier zurück, die zwischen einer »Konsenskonzeption« und einer »Konvergenzkonzeption« öffentlicher Rechtfertigung unterscheiden. 11 Diese Differenzierung wird es mir ermöglichen, die anti-perfektionistische Forderung nach der Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips zurückzuweisen, ohne damit zugleich eine Verpflichtung zur öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ablehnen zu müssen. Es ist also ohne Widerspruch möglich, folgende beiden Thesen für wahr zu halten: (1) Der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt ist nur dann legitim ist, wenn er öffentlich gerechtfertigt ist. (2) Es gibt Fälle, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich gerechtfertigt ist, auch wenn er »nur« mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht. and Why: The Ethics of Well-Being (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 2007); Alasdair MacIntyre, Dependent Rational Animals: Why Human Beings Need the Virtues (Chicago and La Salle, Illinois: Carus Publishing Company, 52006; 1999); Michael Thompson, Life and Action: Elementary Structures of Practice and Practical Thought (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 2012; 2008). 11 Für die Herausarbeitung dieser Unterscheidung kann verwiesen werden auf: Fred D’Agostino, Free Public Reason: Making It Up As We Go (New York: Oxford University Press, 1996), 30–33; Stout, Democracy and Tradition, 65–85; Gerald F. Gaus und Kevin Vallier, »The Roles of Religious Conviction in a Publicly Justified Polity: The Implications of Convergence, Asymmetry and Political Institutions«, Philosophy & Social Criticism 35, no. 1–2 (2009); Gerald F. Gaus, »The Place of Religious Belief in Public Reason Liberalism«, in Multiculturalism and Moral Conflict. Dimova-Cookson und Peter M. R. Stirk (Hg.) (London: Routledge, 2010); Kevin Vallier, »Convergence and Consensus in Public Reason«, Public Affairs Quarterly 25, no. 4 (2011); Liberal Politics and Public Faith: A Philosophical Reconciliation (Ann Arbor: ProQuest, Umi Dissertation Publishing, 2012).
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I. Analyse 1. Kartographie der Neutralitätsdebatte
Bevor ich in diesem Kapitel eine Kartographie möglicher Positionen innerhalb der sogenannten »Neutralitätsdebatte« anbiete, ist es erforderlich, zunächst eine Grundannahme einer derartigen Nachzeichnung der Diskussionslandschaft zu plausibilisieren. Ich behaupte, dass es sich bei der sogenannten »Neutralitätsdebatte« bzw. der Auseinandersetzung zwischen Perfektionistischen und Anti-Perfektionistischen bzw. Politischen Liberalen um eine Kontroverse innerhalb des Liberalismus bzw. innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie handelt. Die Gegenthese lautet, dass die Kontroverse rund um ein »Neutralitätsprinzip« besser als eine Debatte zwischen einer Position innerhalb der liberalen Politischen Philosophie (z. B. Politischer Liberalismus) und einer Position innerhalb einer perfektionistischen Politischen Philosophie (z. B. Liberaler Perfektionismus) verstanden werden sollte. Auch wenn in der Literatur die Begriffe »Perfektionistischer Liberalismus« und »Liberaler Perfektionismus« nahezu bedeutungsgleich verwendet werden, so halte ich es aus systematischen Gründen für stringenter sie zu unterscheiden und von einem »Perfektionistischen Liberalismus« zu sprechen. Dies soll deutlich machen, dass es sich hier um eine Position handelt, die den Boden einer liberalen Politischen Philosophie nicht verlässt. Ob meine These haltbar ist, hängt natürlich entscheidend von der Definition des Begriffs »Liberalismus« im Rahmen einer Politischen Philosophie ab. Aus meiner Sicht sprechen für die Formulierung meiner Problemstellung und die noch zu leistende Kartographie der Debatte als Kontroverse innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie zwei Argumente. Ein erstes Argument ist historischer Natur und besagt, dass ein »Perfektionistischer Liberalismus« nur dann nicht als Position innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie in Frage kommt, wenn man jegliches »glücksfunktionale« bzw. perfektionistische Staatshandeln für unvereinbar mit einem liberalen
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Staatsverständnis hält. 1 Historisch gesehen würde dies aber bedeuten, dass man damit »klassische« liberale Positionen – wie z. B. die von John S. Mill oder Thomas H. Green – aus der Tradition des Liberalismus herausdefinieren würde. 2 Mill sah es z. B. als eine legitime Aufgabe des Staates an, Bürger durch politische Maßnahmen zur Führung eines guten Lebens zu ermutigen, solange diese Maßnahmen nicht zwangsbewehrter Natur waren. 3 Gemäß einer klassischen Definition des Terminus »Liberalismus« ist perfektionistisches Staatshandeln also im Rahmen einer liberalen Politischen Philosophie möglich und legitim, solange der Staat die Begrenzungen akzeptiert, die ihm durch seine freiheitsfunktionale Aufgabe gesetzt werden. 4 Anders formuliert: Die Versuche des Staates, durch die Schaffung von positiven oder negativen Anreizen zur Wahl und zum Führen eines guten Lebens zu ermutigen, sind nur dann legitim und mit einem liberalen Staatsverständnis vereinbar, wenn der Staat dabei seine Bürger als freie und gleiche Personen respektiert und ihre individuellen Freiheitsrechte achtet. Ich werde im Zusammenhang mit der Erörterung der politischen Dimension eines Perfektionistischen Liberalismus (siehe 2.1) und der normativen Konkretisierung der Theorie eines guten Lebens, die dem hier verteidigten Perfektionistischen Liberalismus zu Grunde gelegt wird (siehe 7.4), aufzeigen, dass diese
Den Begriff »glücksfunktional« in seiner Gegenüberstellung zu »freiheitsfunktional« übernehme ich von Christoph Horn, Einführung in die Politische Philosophie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 22009; 2003), 19–20; »Liberalismus und Perfektionismus – ein unversöhnlicher Gegensatz?«, in Modelle politischer Philosophie. Rolf Geiger, Jean-Christophe Merle, und Nico Scarano (Hg.) (Paderborn: Mentis Verlag, 2003), 220–221. 2 Nähere Untersuchungen zu den perfektionistischen Elementen im Liberalismus von Mill und Green finden sich z. B. bei Brink, Perfectionism and the Common Good (Oxford: Claredon Press, 2003); Christoph Henning, »John Stuart Mill: Ein Perfektionist? Moralischer Fortschritt und Philosophie der Arbeit bei einem Klassiker des Liberalismus«, SCALA Discussion Paper, no. 18 (2009). Ebenso ist jüngst von Brink eine sehr interessante Monographie zu Mills ethischem und politischem Perfektionismus vorgelegt worden, David O. Brink, Mill’s Progressive Principles (Oxford: Oxford University Press, 2013), insbesondere 46–78, 255–259. Ferner kann man sagen, dass Raz mit seinen Arbeiten an diese Millsche Traditionslinie anknüpft. 3 Auf diesen Punkt und entsprechende Stellen bei Mill weist Thomas Hurka hin, vgl. Thomas Hurka, »Indirect Perfectionism: Kymlicka on Liberal Neutrality«, The Journal of Political Philosophy 3, no. 1 (1995): 36–37. 4 Eine nähere Spezifikation bzw. Konkretion hierzu bietet Horn, Politische Philosophie, 19–20. 1
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Grenzen glücksfunktionalen bzw. perfektionistischen Staatshandelns nicht nur respektiert, sondern ihrerseits gerechtfertigt werden. Ein zweites Argument für meine These, dass es sich bei der Neutralitätsdebatte um eine Kontroverse innerhalb des Liberalismus handelt und ein Perfektionistischer Liberalismus deswegen am besten als eine Position innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie verstanden wird, ist reflexiver Natur. Die Debatte als Kontroverse innerhalb des Liberalismus zu konzipieren, ist berechtigt, weil es eben derzeit strittig ist, was es genau impliziert, sich einem »Liberalismus« zuzurechnen. Relativ unkontrovers dürfte sein, dass man seit dem Erscheinen von John Rawls’ A Theory of Justice und seiner Anknüpfung an liberale Sozialvertragstheorien von einem »justificatory turn« innerhalb der Tradition des Liberalismus sprechen kann. 5 Gemeint ist damit, dass der Terminus »Liberalismus« nun gemeinhin als Ausdruck für politische Theorien verstanden wird, für die die These zentral ist, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus an Konzeptionen von einem guten Leben nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn er öffentlich rechtfertigbar ist. Unter dem maßgeblichen Einfluss von Rawls wird die Tradition des Liberalismus in der Politischen Philosophie derzeit also vornehmlich als Theoriefamilie eines public reason liberalism verstanden und diskutiert. Damit hat sich die Problemstellung aber auch verschoben. Während ein klassischer Liberalismus danach fragt, ob ein glücksfunktionales bzw. perfektionistisches staatliches Handeln kompatibel ist mit der freiheitsfunktionalen Aufgabe eines liberalen Staates, fragt ein public reason liberalism danach, ob staatliches Handeln Legitimität beanspruchen kann, welches mit kontroversen perfektionistischen Urteilen über den Wert bestimmter Aktivitäten, Lebensweisen und Charaktereigenschaften gerechtfertigt wird. Will man hier nun argumentieren, dass es sich bei der Debatte um das Neutralitätsprinzip nicht um eine Debatte innerhalb des Liberalismus handelt, so muss man behaupten, dass zur Definition des Terminus »Liberalismus« – verstanden als public reason liberalism – die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips gehört. Anders formuliert: Zur Tradition eines public reason liberalism können nur Positionen zugerechnet werden, die ein Neutralitätsprinzip vertreten. Den Begriff »justificatory turn« übernehme ich von Gerald F. Gaus, Justificatory Liberalism: An Essay on Epistemology and Political Theory (Oxford: Oxford University Press, 1996), vii-viii.
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Genau darum geht es aber in der sogenannten »Neutralitätsdebatte«. Es stellt sich die Frage, ob man im Rahmen einer Politischen Philosophie ein Neutralitätsprinzip ablehnen kann, ohne sich damit aus der Tradition eines public reason liberalism zu verabschieden. Ähnlich wie bei der Fragestellung eines klassischen Liberalismus die freiheitsfunktionale Aufgabe des Staates seine mögliche glücksfunktionale Tätigkeit begrenzt, so ist es diesmal die Forderung nach der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt, was liberale von nicht-liberalen Positionen innerhalb der Politischen Philosophie unterscheidet. Nicht zur Tradition eines public reason liberalism gehören Positionen bzw. Theorien, die einen Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt für legitimierbar halten, der sich nicht öffentlich rechtfertigen lässt. Die strittige Frage ist nun aber, ob die Rückbindung der Legitimität staatlichen Handelns an die Bedingung öffentlicher Rechtfertigung notwendigerweise die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips impliziert. Ich werde in dieser Arbeit dafür argumentieren, dass dies nicht der Fall ist. Ob es sich bei der Position eines Perfektionistischen Liberalismus also wirklich um eine liberale Position handelt und ob es sich bei der Neutralitätsdebatte wirklich um eine Kontroverse innerhalb eines public reason liberalism handelt, kann demnach nur vom Ende dieser Untersuchung her beantwortet werden. Sie mit dieser Hypothese zu beginnen, rechtfertigt sich reflexiv aber damit, dass es eben derzeit umstritten ist, was es genau impliziert, sich zur Tradition eines public reason liberalism zu bekennen. Die nachfolgende Skizzierung der Kontroverse zwischen Politischen und Perfektionistischen Liberalen muss demnach von zwei Voraussetzungen ausgehen. Um eine genuin liberale Position darzustellen, muss ein Perfektionistischer Liberaler akzeptieren, dass liberale Grundüberzeugungen bzw. –werte (z. B. die Geltung individueller und unveräußerlicher Freiheitsrechte; Gleichheit; Autonomie) perfektionistischem staatlichen Handeln prinzipielle Grenzen setzen. Will ein Perfektionistischer Liberalismus sich zudem als attraktive Alternative zu einem Politischen Liberalismus etablieren, dann muss er zweitens daran festhalten, dass perfektionistisches Staatshandeln nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn es öffentlich rechtfertigbar ist. Die Akzeptanz dieser Beschränkungen bzw. Bedingungen gewährleistet, dass ein Perfektionistischer Liberalismus »liberal« bleibt. Umgekehrt wird es eine meiner Hauptaufgaben in dieser Arbeit sein, zu zeigen, dass damit das unterscheidend »perfektionisti30
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sche« Element nicht völlig verloren geht bzw. aufgegeben werden muss. Nach der Herausarbeitung der Gemeinsamkeiten, die gegeben sein müssen, damit es Sinn macht, die Kontroverse zwischen AntiPerfektionistischen bzw. Politischen Liberalen und Perfektionistischen Liberalen als eine Debatte innerhalb des Liberalismus zu konzipieren, nun noch einige Worte zu dem Kriterium, anhand dessen man derzeit innerhalb der liberalen Tradition vier Positionen unterscheiden kann. Die verschiedenen Positionen innerhalb der Neutralitätsdebatte lassen sich anhand der möglichen Antworten auf zwei Fragen klassifizieren: (1) Kann es in einem liberalen Staat Fälle geben, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Lebens ist und ausmacht? (2) Darf ein liberaler Staat zur Rechtfertigung einer Antwort auf (1) auf Argumente zurückgreifen, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Lebens ist und ausmacht? 6 Bevor ich die vier Optionen vorstelle, die sich aus der unterschiedlichen Beantwortung dieser zwei Fragen innerhalb der liberalen Politischen Philosophie ergeben können, ist es zunächst wichtig, sich bewusst zu machen, dass diese Fragen auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind: Bei (1) geht es um die vornehmlich praktische Frage, ob ein liberaler Staat bei der öffentlichen Rechtfertigung seiner politischen Maßnahmen ein Neutralitätsprinzip akzeptieren muss, also ein Prinzip, welches ihm untersagt, den Gebrauch politischer Zwangsgewalt mit Argumenten bzw. Gründen zu rechtfertigen, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht. 7 Verneint man Frage (1), dann akzeptiert Die Idee einer solchen Taxonomie übernehme ich von Quong, der seinerseits auf ein von Stephen Mulhall und Adam Swift entwickeltes Klassifikationsschema zurückgreift. Allerdings arbeite ich mit anderen Klassifizierungsfragen und weiche z. T. auch inhaltlich von den beiden bisher präsentierten Taxonomien ab, vgl. Stephen Mulhall und Adam Swift, Liberals and Communitarians (Oxford: Blackwell Publishing, 2 1996; 1992), 249–258; Quong, Liberalism without Perfection, 15–21. 7 Vgl. Liberalism without Perfection, 15–16; Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 3. 6
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man ein Neutralitätsprinzip, mit der Folge, dass dann politische Maßnahmen nur Legitimität beanspruchen können, wenn sie mit Argumenten gerechtfertigt werden, die unabhängig von kontroversen Annahmen über das gute Leben sind. Bei (2) handelt es sich um eine vornehmlich theoretische bzw. metaphilosophische Frage, die darauf reflektiert, wie Antworten auf (1) gerechtfertigt werden. 8 Anders formuliert: Hier wird reflexiv danach gefragt, ob es zulässig ist, dass ein liberaler Staat für die öffentliche Rechtfertigung seiner Befürwortung oder Ablehnung eines Neutralitätsprinzip auf Argumente zurückgreift, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Verneint man (2), dann tritt man dafür ein, dass auch auf einer metaphilosophischen Ebene ein Neutralitätsprinzip gilt, was eine Menge von Argumenten bzw. Gründen für die Rechtfertigung einer Antwort auf (1) ausschließt. Dies bedeutet, dass man beansprucht, dass ein Neutralitätsprinzip, welches auf einer primär praktischen Ebene regelt, welche Argumente bzw. Gründe zur Menge von Argumenten bzw. Gründen gehören können, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen können, auch auf sich selbst angewendet werden kann und muss. Vereinfacht ausgedrückt: Verneint man (2), dann behauptet man, dass die Befürwortung eines Neutralitätsprinzips auf Ebene (1) nur dann als öffentlich gerechtfertigt gelten kann, wenn dies mit Argumenten geschehen kann, die unabhängig von kontroversen Vorstellungen von einem guten Leben sind. Gemäß der von mir vorgeschlagenen Kriteriologie ergeben sich demnach vier Optionen innerhalb der Tradition eines Liberalismus, von denen zwei als anti-perfektionistisch und zwei als perfektionistisch bezeichnet werden können. Damit erweist sich zunächst einmal, dass die Neutralitätsdebatte nicht vorschnell auf die Kontroverse zwischen Politischen und Perfektionistischen Liberalen reduziert werden darf. Innerhalb des Lagers Anti-Perfektionistischer wie Perfektionistischer Liberaler gibt es – aufgrund der unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten der Antworten auf (1) und (2) – jeweils noch eine alternative Position. Ich werde im Folgenden deshalb nicht nur die einzelnen liberalen Positionen näher charakterisieren, sondern mittels ihrer Diskussion zugleich begründen, warum ich die in dieser Arbeit vorausgesetzte Fokussierung der Problemstellung dennoch für angebracht halte. 8
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Vgl. Mulhall und Swift, Liberals and Communitarians, 249–250.
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Anti-Perfektionistischer Liberalismus
1.1 Anti-Perfektionistischer Liberalismus Meine erste klassifikatorische Frage ist die grundlegendere. An ihrer Beantwortung spaltet sich ein Liberalismus in ein anti-perfektionistisches und ein perfektionistisches Lager. Das unterscheidende Merkmal eines Anti-Perfektionistischen Liberalismus gegenüber einem Perfektionistischen Liberalismus besteht darin, dass er Frage (1) verneint und damit ein Neutralitätsprinzip akzeptiert. Anti-Perfektionistische Liberale vereint also die Überzeugung, dass in einem liberalen Staat der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt niemals Legitimität beanspruchen kann, wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die von kontroversen Urteilen über den intrinsischen oder inhärenten Wert gewisser Handlungen, Charaktereigenschaften oder Lebensweisen abhängen.
1.1.1 Politisch begründeter Anti-Perfektionistischer Liberalismus Im Lager eines Anti-Perfektionistischen Liberalismus muss nun aber zwischen zwei Positionen differenziert werden, was sich aus der Möglichkeit ergibt, dass die Verneinung von Frage (1) mit einer Verneinung oder Bejahung von Frage (2) kombiniert werden kann. In Anlehnung an die Rawlssche Terminologie kann ein Anti-Perfektionistischer Liberalismus, der (2) bejaht, als »umfassend« begründeter Anti-Perfektionistischer Liberalismus bezeichnet werden, während ein Anti-Pefektionistischer Liberalismus, der (2) negiert, dementsprechend als »politisch« begründeter Anti-Perfektionistischer Liberalismus betitelt werden kann. Ich möchte zunächst den letztgenannten Fall betrachten. Der wohl bekannteste Vertreter einer solchen Position ist John Rawls mit seinem Entwurf eines Politischen Liberalismus. Ihr können aber alle Ansätze innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie zugerechnet werden, die beide oben genannten klassifikatorischen Fragen verneinen. 9 Was impliziert die Verneinung von Frage (1) genauer? Positiv gewendet bedeutet die Negierung der Frage (ob es in einem liberalen Staat Fälle geben kann, in denen der Gebrauch staatlicher Einen guten Überblick über die verschiedenen Konzeptionen öffentlicher Rechtfertigung, die in der zeitgenössischen liberalen Philosophie vertreten werden, bietet Gaus, Contemporary Theories of Liberalism, 25–231.
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Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Lebens ist und ausmacht), dass politische Maßnahmen nur dann Legitimität beanspruchen können, wenn sie mit Gründen gerechtfertigt werden, die kein Bürger vernünftigerweise ablehnen kann. Die Negierung von (1) scheint einer Intuition gerecht zu werden, die ich im Folgenden kurz skizzieren möchte. Liberale Gesellschaften zeichnen sich durch eine irreduzible Pluralität an vernünftigen Vorstellungen über das gute Leben aus. Will man nun eine stabile und faire soziale Ordnung unter solchen Bedingungen etablieren, dann muss dies auf der Grundlage von Gerechtigkeitsprinzipien geschehen, die unabhängig von partikulären Konzeptionen eines guten Lebens sind. Dies lässt sich an einem einfachen Beispiel veranschaulichen: Nehmen wir an, Bürger A und Bürger B vertreten zwei vernünftige, aber miteinander inkompatible Konzeptionen eines guten Lebens. Ferner haben A und B einen Konflikt darüber, wie die Ressourcen ihrer Gesellschaft am besten verteilt werden sollten. Gemäß A sollten die Ressourcen der Gesellschaft nach der Gerechtigkeitskonzeption GA verteilt werden, während B der Ansicht ist, dass die Verteilung gemäß Gerechtigkeitskonzeption GB erfolgen sollte. Wann kann die Durchsetzung einer der beiden Gerechtigkeitskonzeptionen nun Legitimität beanspruchen? Nur dann, wenn sie öffentlich gerechtfertigt werden kann, also mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die sowohl A als auch B als relevant akzeptieren können. Dies bedeutet umgekehrt, dass z. B. die Durchsetzung von GA keine Legitimität beanspruchen kann, wenn A diese gegenüber B nur mit Argumenten rechtfertigt, die die Akzeptanz von As Vorstellung von einem guten Leben voraussetzen. Derartige Argumente können nicht in den Prozess der öffentlichen Rechtfertigung einer Gerechtigkeitskonzeption einfließen, weil aufgrund des Faktums eines vernünftigen Pluralismus B derartige Argumente vernünftigerweise ablehnen kann. 10 Eine stabile soziale Kooperation zwischen A und B erscheint Genau genommen trifft dies gemäß dem Rawlsschen Ansatz nur auf politische Maßnahmen zu, die grundlegende Gerechtigkeitsfragen oder Verfassungsfragen betreffen. Ich werde später argumentieren, dass es aber nicht gelingt, ein dafür notwendiges Unterscheidungskriterium zu benennen (siehe 2.1.2.1). Deshalb und weil andere Vertreter eines politisch begründeten Anti-Perfektionismus diese Unterscheidung nicht vornehmen, vernachlässige ich sie hier, um die Darstellung nicht unnötig zu verkomplizieren.
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deshalb nur möglich, wenn sowohl A als auch B davon Abstand nehmen, ihre jeweiligen Gerechtigkeitsvorstellungen mit Argumenten zu begründen, die von Annahmen abhängen, die der andere vernünftigerweise ablehnen kann. Legitimität können nur diejenigen politischen Maßnahmen beanspruchen, die mit Gründen gerechtfertigt werden können, die kein vernünftiger Bürger ablehnen kann, weil ansonsten die Basis einer fairen und stabilen sozialen Kooperation unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus gefährdet würde. Meiner Ansicht nach ist es diese Grundintuition, die die Verneinung von (1) motiviert. Es kann niemals legitim sein, dass ein liberaler Staat eine politische Maßnahme mit Argumenten rechtfertigt, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Lebens ist und ausmacht, weil derartige Argumente eine faire und stabile soziale Kooperation unmöglich machen. Folglich ist ein Neutralitätsprinzip zu akzeptieren, das eine Menge von Gründen für die Rechtfertigung politischer Maßnahmen ausschließt, nämlich Gründe, die sich aus Argumenten ableiten, die von kontroversen Annahmen über das gute Leben abhängen. Wie die vorausgegangene argumentative Skizze deutlich gemacht haben dürfte, ist es weder schwer zu verstehen, was die Verneinung von (1) intuitiv plausibel macht, noch was dies für das Unterfangen einer öffentlichen Rechtfertigung impliziert. Schwieriger liegt der Fall nun hinsichtlich der Verneinung von Frage (2). Ein politisch begründeter Anti-Perfektionistischer Liberalismus definiert sich laut meiner Klassifikation ja nicht allein durch eine Verneinung von (1), sondern kombiniert diese mit einer Verneinung von (2). Vertreter einer solchen Position behaupten also, dass die Argumente bzw. Gründe, die sie für die Verneinung von (1) vorbringen, ihrerseits nicht von kontroversen Annahmen darüber abhängig sein dürfen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Anders formuliert: Ihre Argumentation für die Geltung eines Neutralitätsprinzips auf Ebene 1 muss ihrerseits auf Ebene 2 einem Neutralitätsprinzip genügen, also öffentlich rechtfertigbar sein. Dies zu erreichen erweist sich aber als schwierig, macht die Position eines politisch begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus angreifbar und damit – zumindest prima facie – unattraktiv. Dies lässt sich z. B. am oben vorgebrachten Argument für die Verneinung von (1) veranschaulichen. Es wurde argumentiert, dass ein staatliches Handeln niemals Legitimität beanspruchen kann, wenn es ausschließlich mit Gründen gerechtfertigt wird, die manche Bürger verPerfektionistischer Liberalismus
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nünftigerweise ablehnen können, weil durch ein solches Handeln eine faire und stabile soziale Kooperation unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus gefährdet ist bzw. gefährdet wird. Dagegen könnten Perfektionistische Liberale aber einwenden, dass eine derartige Begründung des Neutralitätsprinzips selbst nicht neutral ist, sondern einen versteckten Bezug auf eine kontroverse Konzeption eines guten Lebens impliziert, also auf Ebene (2) ein Neutralitätsprinzip verletzt. Ein Perfektionistischer Liberaler könnte zugestehen, dass die Aussicht auf eine faire und stabile soziale Kooperation ein hohes Gut ist und es deshalb sehr häufig angebracht ist, politische Maßnahmen nur mit Argumenten zu rechtfertigen, bei denen die realistische Aussicht besteht, dass deren Prämissen von niemandem vernünftigerweise abgelehnt werden können. Abgewogen werden müssen insofern die Güter, die erreicht werden können, wenn Politik gemäß den Werten und Überzeugungen gestaltet wird, die der eigenen Vorstellung von einem guten Leben entsprechen, gegen das Gut eines stabilen sozialen Zusammenlebens. Die Folgerung aber, dass das Gut einer stabilen sozialen Kooperation immer Vorrang hat vor einer politischen Realisierung der eigenen Vorstellung von einem guten Leben bzw. derartige Güterabwägungen niemals zulässig sein können, ist nur schlüssig, wenn man zusätzlich annimmt, dass das Gut einer stabilen sozialen Kooperation das höchste Gut darstellt, dem alle anderen Güter an Wert nachstehen. Dies ist aber eine äußerst kontroverse Annahme, die manche Bürger aufgrund ihrer Konzeption eines guten Lebens vernünftigerweise ablehnen können. 11 Insbesondere bei Bürgern mit religiösen Überzeugungen erscheint es plausibel anzunehmen, dass sie es, wenn sie mit der Mehrheitsgesellschaft in Konflikt geraten, für wichtiger erachten, im Einklang mit ihren tiefsten Überzeugungen zu leben, statt diese um der sozialen Kooperationsfähigkeit willen aufzugeben. Jedoch erscheint mir dies kein Spezifikum religiöser Konzeptionen eines guten Lebens. Man kann sich etwa auch Szenarien vorstellen, in denen Tier- und Umweltschützer oder Atomkraftgegner dem Schutz bestimmter Werte einen höheren Wert beimessen als dem Wert sozialer Kooperation. Wenn das Gut einer stabilen sozialen Kooperation immer das höchste Gut wäre, dann müsste man im übrigen die religiös motivierten Bürgerrechtler Derartige Konzeptionen eines guten Lebens ihrerseits als »unvernünftig« zu qualifizieren, bedeutet eine petitio principii zu begehen, wie Stephen Mulhall und Adam Swift nachweisen, vgl. Mulhall und Swift, Liberals and Communitarians, 223–246.
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der 60er Jahre in den USA, aber auch die für sexuelle Befreiung und Gleichberechtigung eintretenden Teilnehmer der Studentenrevolten in Europa allesamt als »unvernünftig« disqualifizieren, weil sie gerade darauf abzielten, die etablierte stabile Ordnung zu erschüttern, um bestimmten Werten und Zielen Geltung zu verschaffen. Zusammengefasst: Das Stabilitätsargument, welches von Anti-Perfektionistischen Liberalen für die Rechtfertigung der Verneinung von (1) vorgebracht wird, scheint eine Priorisierung von Gütern oder Werten vorauszusetzen, die sich aus einer kontroversen Konzeption eines guten Lebens ableitet, nämlich der Ansicht, dass »politische« Güter bzw. Werte – wie eine stabile soziale Ordnung – immer Vorrang vor »nicht-politischen« Gütern bzw. Werten haben. Die Position eines politisch begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus erweist sich also als anspruchsvoll und nicht leicht zu verteidigen. Sie kohärent zu vertreten, bedeutet die Verpflichtung einzugehen, für die Verneinung von (1) Argumente zu präsentieren, die unabhängig sind von der Akzeptanz einer kontroversen Vorstellung von einem guten Leben. Ob dies gelingt, ist vor allem Gegenstand der sogenannten »Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse« gewesen und wird in der Literatur auch unter dem Stichwort »Reflexivitätsproblem« diskutiert. 12 Ohne hier ein letztes Urteil fällen zu wollen, so scheint sich doch ein Konsens in dieser Debatte darüber abzuzeichnen, dass z. B. Rawls erhebliche Probleme hat, in einer nicht-zirkulären Weise zu begründen, warum nur Konzeptionen eines guten Lebens als »vernünftig« gelten sollen, die in einem prinzipiellen Sinne annehmen, dass die Realisierung politischer Güter (wie z. B. sozialer Kooperation) immer Vorrang hat vor anderen nicht-politischen Gütern, ohne dass diese Güterhierarchisierung für die Definition von »Vernünftigkeit« selbst schon voraussetzt wird. 13 Es würde den Rahmen dieser Arbeit hoffnungslos sprengen, Diskussionen dieses Problems finden sich unter anderem bei D’Agostino, Free Public Reason, 56–88; Lecce, Against Perfectionism, 162–180. 13 Für eine knappe Darstellung dieser komplexen Problematik kann auf die schon erwähnte Untersuchung von Swift und Mulhall verwiesen werden, Mulhall und Swift, Liberals and Communitarians, 223–246. Sie wird ebenfalls behandelt von Sher, Beyond Neutrality, 72–105; Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 70–82. Quong erkennt diese Schwachstelle eines Politischen Liberalismus an und macht explizit, dass seine Begründung einer liberalen Politischen Philosophie eine Akzeptanz einer solchen Priorisierung von politischen Güter im Sinne einer kontroversen bzw. »liberalen« Konzeption des guten Lebens voraussetzt. Allerdings übertreibt er meiner Ansicht nach rhetorisch, wenn er alle kritischen Anfragen an diese Priorisierung als 12
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wenn ich jetzt auch nur ansatzweise versuchen würde, diese Einschätzung der Rawlsschen Position argumentativ zu untermauern und zu diskutieren, ob sich im Werk von Rawls selbst Ansätze zur Lösung dieses Problems finden. Mir geht es ja um die Verteidigung der These, dass ein Perfektionistischer Liberalismus eine attraktive Alternative zu einem Politischen Liberalismus darstellt. Dennoch möchte ich ein Argument nennen, das für die These spricht, dass der »Reflexivitätsvorwurf« eine ernste Anfrage an die Position eines politisch begründeten Anti-Perfektionismus bzw. Politischen Liberalismus formuliert. Führende Vertreter einer jüngeren Generation Politischer Liberaler – wie z. B. Steven Lecce und vor allem Jonathan Quong – erkennen die Notwendigkeit an, einen Politischen Liberalismus so zu reformulieren, dass er in der Lage ist, dieses Problem zu lösen. 14 Quong etwa unterscheidet zwischen einer »externalen« und einer »internalen« Konzeption eines Politischen Liberalismus und löst das skizzierte Reflexivitätsproblem dadurch, dass er den Adressatenkreis einer öffentlichen Rechtfertigung auf liberale Bürger einschränkt. 15 »Vernünftig« ist in diesem Sinne per Definition nur derjenige, der an bestimmten liberalen Grundüberzeugungen festhält, aus denen sich wiederum eine Verpflichtung zur Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips ableiten lässt. 16 Meiner Ansicht nach weist Quong in einer überzeugenden Weise nach, dass die von ihm favorisierte »internale« Konzeption eines Politischen Liberalismus dadurch das Reflexivitätsproblem lösen und den damit verbundenen Zirkularitätsvorwurf entkräften kann. Dies – und die Probleme eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus – rechtfertigt zum einen, warum ich in dieser Arbeit die Position eines Perfektionistischen Liberalismus vornehmlich im Kontrast zur Position eines politisch begründeten AntiPerfektionistischen Liberalismus erörtere, und rechtfertigt zum anderen, warum ich insbesondere dem Werk von Jonathan Quong so viel Aufmerksamkeit schenke. Er hat eben nicht nur eine hervorragende Kritik an der Position eines Perfektionistischen Liberalismus formuliert, sondern in konstruktiver Weise auch eine neue Variante eines »illiberal« qualifiziert und mit dem Hinweis wegwischt, dass man mit Nazis nicht diskutieren kann, Quong, Liberalism without Perfection, 7–8. 14 Vgl. Lecce, Against Perfectionism, 201–225; Quong, Liberalism without Perfection, 6–7. 15 Vgl. Liberalism without Perfection, 137–160. 16 Vgl. ibid., 214.
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Politischen Liberalismus formuliert, die – meiner Ansicht nach – viele der Schwächen der Rawlsschen Position auszubessern versteht.
1.1.2 Umfassend begründeter Anti-Perfektionistischer Liberalismus Aus der Charakterisierung eines politisch begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus im vorigen Abschnitt ergab sich, dass dieser eine äußerst anspruchsvolle Position darstellt, der leicht Schwierigkeiten aus ihrer Verpflichtung zu einem Neutralitätsprinzip auf Ebene (2) erwachsen. Es stellt sich somit die Frage, ob es für AntiPerfektionistische Liberale nicht klüger ist, an der Verneinung von (1) festzuhalten, aber den Anspruch aufzugeben, dass die Rechtfertigung eines Neutralitätsprinzips ebenfalls »neutral« sein muss, also nicht mit Argumenten gerechtfertigt werden darf, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Ein umfassend begründeter Anti-Perfektionistischer Liberalismus hat mit einem politisch begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus also die Verneinung von (1) gemeinsam, unterscheidet sich aber von diesem darin, dass er die klassifikatorische Frage (2) bejaht. Einer solchen Position lassen sich klassische Autoren wie John Stuart Mill, aber auch zeitgenössische Politische Philosophen wie Will Kymlicka oder Ronald Dworkin zuordnen. 17 Die Grundintuition eines solchen Ansatzes lässt sich wie folgt skizzieren: Eine Neutralitätsprinzip, d. h. die Verneinung von (1), wird am besten mit Argumenten gerechtfertigt, die von kontroversen – aber liberalen – Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Die Bejahung von (2) stellt somit eine elegante Antwort auf das oben erwähnte »Reflexivitätsproblem« dar. Politische Liberale liegen falsch, wenn sie annehmen, ein liberaler Staat könne in der Bestimmung dessen, was er als legitimen Gebrauch staatlicher Macht ansieht, ohne kontroverse Annahmen über ein gutes Leben auskommen. Jede Konzeption Politischer Philosophie – so Vertreter eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen 17 Vgl. Ronald Dworkin, Sovereign Virtue: The Theory and Practice of Equality (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 2000); Will Kymlicka, Liberalism, Community and Culture (Oxford: Clarendon Press, 1989); John Stuart Mill, On Liberty (London: Penguin, 2010; 1851).
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Liberalismus – setzt eine philosophische Anthropologie voraus und macht Annahmen darüber, worin ein gutes menschliches Leben besteht. Eine liberale Politische Philosophie geht etwa von der Prämisse aus, dass zum Führen eines guten Lebens bestimmte Güter notwendig sind – vor allem Autonomie und diverse Freiheitsgüter. Ferner nimmt sie an, dass es bestimmte Hierarchisierungen zwischen den Gütern gibt, die für die Realisierung eines guten Lebens in einem liberalen Sinne erforderlich sind. Zum Beispiel wird das Freiheitsgut, seinen künstlerischen Neigungen nachgehen zu können, dem Freiheitsgut körperlicher Unversehrtheit ceteris paribus nachgeordnet, da das letztgenannte Gut eine Voraussetzung für die Realisierungsmöglichkeit des Guts freier künstlerischer Entfaltung ist. 18 Probleme erwachsen der Position eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus aus der Frage, ob ein Perfektionismus auf Ebene (2) nicht den Anti-Perfektionismus von Ebene (1) unterminiert. Denn wenn man (2) schon bejaht, muss man dann nicht auch einen staatlichen Perfektionismus begrüßen und (1) bejahen? Anders formuliert: Wenn man es für legitim hält, die Ablehnung eines Neutralitätsprinzips mit Argumenten zu rechtfertigen, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht (Bejahung von 2), warum sollte man sich dann einen Rekurs auf derartige Argumente verwehren, wenn es um die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt geht (Verneinung von 1)? Folgt aus der Bejahung von (2) nicht zwangsläufig, dass man dem liberalen Staat die Aufgabe zubilligen muss, seine Bürger in der Wahl und im Führen eines Lebens zu unterstützen, das den Vorstellungen einer liberalen Konzeption eines guten Lebens entspricht? Vertreter eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus – wie z. B. Kymlicka oder Dworkin – behaupten, dass diese Schlussfolgerung nicht zwingend bzw. sogar falsch ist, was ihrer Meinung nach seinen Grund in der spezifisch »liberalen« Konzeption eines guten Lebens hat. Gemäß einer liberalen Konzeption eines guten Lebens – so ein gängiges Argumentationsschema – spielt der Wert von Autonomie eine herausragende Rolle, also die Möglichkeit, der »Autor« der eigenen Entscheidungen und des eigenen Lebens zu sein. Nur wenn der Wert von Autonomie geachtet wird, könVgl. Horn, »Liberalismus und Perfektionismus – ein unversöhnlicher Gegensatz?«, 240.
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nen Menschen aus einer Bandbreite von wertvollen Lebensmöglichkeiten wählen und ihrem Leben eine individuelle Richtung und Prägung geben. Rechtfertigt ein Staat eine politische Maßnahme mit Argumenten, die von kontroversen Urteilen über den intrinsischen oder inhärenten Wert einer bestimmten Lebensweise abhängen, dann greift er aber entweder der Wahl seiner Bürger vor und verhindert, dass diese ihrem Leben Individualität und Wert verleihen, indem sie die Herausforderung eines autonom geführten Leben bewältigen, oder aber er zwingt seine Bürger mit Gründen zum Führen eines guten Lebens, die diese – weil sie eine andere vernünftige Konzeption eines guten Lebens realisieren wollen – vernünftigerweise ablehnen können. Menschen zu etwas zu zwingen – so Vertreter eines umfassend begründeten Anti-Perfektionisten Liberalismus –, was sie selbst nicht als wertvoll oder gut einsehen, macht ihr Leben aber nicht besser, sondern ist vielmehr kontraproduktiv. Was von der Bejahung von (2) zur Verneinung von (1) führt, also der Befürwortung einer staatlichen Neutralität, ist demnach die Annahme, dass ein gutes Leben ein autonomes Leben ist und ein perfektionistisches Staatshandeln Menschen daran hindert, ein in einem liberalen Sinne gutes Leben zu führen. Mit anderen Worten: Vertreter eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus argumentieren, dass der Staat eine liberale Vorstellung des guten Lebens – in der der Wert von Autonomie eine zentrale Rolle spielt – am besten dadurch fördert, dass er sich gegenüber den Zielen bzw. Gütern, die seine Bürger auf autonome Weise wählen, neutral verhält. 19 Dies impliziert, dass er den Gebrauch seiner Zwangsgewalt nicht mit Argumenten rechtfertigen darf, die von Urteilen über den intrinsischen oder inhärenten Wert der einzelnen Wahlmöglichkeiten abhängen. Diese Verteidigungsstrategie kann meiner Ansicht nach nicht überzeugen. Das Grundproblem dieser Position bleibt ihre Instabilität, die die Gefahr in sich birgt, in einen staatlichen Perfektionismus zu kollabieren. Wiederum kann ich hier aufgrund der Grenzen, die mir meine Themenstellung auferlegt, nicht tiefer in die Erörterung Es ist Mulhall und Swift darin zuzustimmen, dass ein umfassender Anti-Perfektionist genau genommen mit zwei unterschiedlichen Begriffen von »Konzeption eines guten Lebens« operiert. Zu unterscheiden ist eine abstrakte Bedeutung, wonach ein gutes Leben in einem autonomen Leben besteht, von einer konkreten Bedeutung, die sich aus den Zielen oder Gütern ergibt, die in einer autonomen Weise gewählt werden, Mulhall und Swift, Liberals and Communitarians, 254–255.
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dieser Problematik vordringen. Dennoch möchte ich kurz die Schwachstellen der eben skizzierten Verteidigungsstrategie aufzeigen, damit die Fokussierung meiner Fragestellung auf die Kontroverse zwischen Politischen Liberalen und Perfektionistischen Liberalen nicht gänzlich unbegründet bleibt. Aus meiner Sicht offenbart die Position eines umfassend begründeten Anti-Perfektionismus mitsamt ihrer Verteidigung gegen den Vorwurf, dass sie in sich instabil ist, drei Schwachpunkte. Erstens können Perfektionistische Liberale den Autonomie- bzw. Freiheitsbegriff eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus angreifen. Autoren wie Joseph Raz oder Charles Taylor argumentieren, dass Freiheit nicht nur eine Möglichkeitskonzeption, sondern auch eine Verwirklichungskonzeption ist, was besagen will, dass der Wert von Autonomie bzw. Freiheit sich nicht nur aus dem reinen Wählenkönnen ergibt, sondern auch davon abhängt, was gewählt wird. 20 Der Wert eines autonomen Lebens bemisst sich demnach nicht allein daran, ob Menschen wählen können, sondern auch daran, was sie wählen. Entsprechend dieser Überlegung argumentiert Raz erstens, dass ein kleiner Eingriff in die negative Freiheit von Bürgern – z. B. im Sinne einer Eliminierung von in sich wertlosen Wahloptionen – keinen Totalverlust an Autonomie darstellt, und zweitens, dass die Realisierung eines autonomen Lebens einer gewisse Bandbreite an in sich wertvollen Wahloptionen bedarf, die ihrerseits auf eine staatlichen Unterstützung angewiesen sind, um erhalten zu bleiben. 21 Zudem könnte ein Perfektionist aber auch die These eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus angreifen, dass eine liberale Konzeption eines guten Lebens – in der der Wert von Autonomie zentral ist – einen staatlichen Anti-Perfektionismus begründet. Wenn das Argument ist, dass die Ausübung staatlicher Zwangsgewalt zur Förderung eines guten Lebens aus prinzipiellen Erwägungen kontraproduktiv ist, so könnte ein Perfektionistischer Liberaler entgegnen, dass ein liberaler Staat eine liberale Vorstellung des guten Lebens auch auf nichtzwangshafte Weise fördern kann, etwa durch steuerliche Anreize, Förderprogramme oder Subventionen. Ein solcher »sanfter Paternalismus«, der derzeit in der Verhaltensökonomie kontrovers diskutiert 20 Vgl. Raz, The Morality of Freedom; Charles Taylor, »Der Irrtum der negativen Freiheit«, in Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Charles Taylor (Hg.) (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992). 21 Vgl. Raz, The Morality of Freedom, 319–320; 378–381.
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wird, lässt Menschen prinzipiell die Freiheit sich anders zu entscheiden, aber »stupst« sie gleichzeitig in die Richtung einer Entscheidung, die für sie in einem objektiven Sinne gut wäre. 22 Die Bejahung von (2) führt also nicht zu einem staatlichen Anti-Perfektionismus – der Verneinung von (1) –, sondern schließt bestenfalls zwangshafte Methoden zur Förderung des guten Lebens aus. 23 Drittens kann ein Perfektionistischer Liberaler die Annahme eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus angreifen, dass eine staatliche Neutralität für die Entfaltung eines autonomen Lebens förderlich sei. Vor allem feministische Autorinnen wie Clare Chambers und Kimberly Yuracko argumentieren, dass es eine Illusion ist zu meinen, das Individuum sei durch einen staatlichen Anti-Perfektionismus »frei« von Manipulationsversuchen und könne völlig befreit von einer Einflussnahme zwischen Optionen auf einem »kulturellen Marktplatz« wählen. 24 Es sei vielmehr umgekehrt der Fall – so Chambers und Yuracko –, dass es einer staatlichen Einflussnahme brauche, um zu verhindern, dass Frauen ihre Autonomie gebrauchen, um Optionen zu wählen, die ihren Status als freie und gleiche Personen unterminieren, indem sie sich an sexistische und ungerechte Rollenbilder anpassen, die in unserer Kultur dominant sind und tradiert werden. Ebenso wie der Staat kann auch die Zivilgesellschaft bzw. die dominierende Kultur die Entfaltung von Autonomie bedrohen, weshalb es zumindest manchmal aus perfektionistischen Gründen heraus gerechtfertigt sein kann, dass ein Staat alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzt, um diesen Einflüssen entgegenzuwirken. 25
1.2 Perfektionistischer Liberalismus Während Anti-Perfektionistische Liberale verbindet, dass sie Frage (1) verneinen, also ein Neutralitätsprinzip bzw. eine staatliche Neutralität bejahen, so ist Perfektionistischen Liberalen gemeinsam, dass sie (1) bejahen und damit ein Neutralitätsprinzip ablehnen, das eine
Vgl. Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein, Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth and Happiness (London: Penguin Books, 22009; 2008). 23 Vgl. Hurka, »Indirect Perfectionism«, 40. 24 Vgl. Chambers, Sex, Culture, and Justice; Yuracko, Perfectionism and Contemporary Feminist Values. 25 Vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 29–30. 22
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Menge von Gründen von der Rechtfertigung politischer Maßnahmen ausschließt, nämlich Gründe, die aus Argumenten resultieren, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Doch auch innerhalb eines Perfektionistischen Liberalismus können zwei Positionen unterschieden werden, in Abhängigkeit davon, wie sie Frage (2) beantworten. Ich verfolge in diesem Abschnitt also wiederum zwei Ziele. Zum einen möchte ich plausibilisieren, dass in der Debatte zwischen AntiPerfektionistischen und Perfektionistischen Liberalen auch auf der Seite eines Perfektionistischen Liberalismus – anhand der von mir vorgeschlagenen klassifikatorischen Fragen – zwischen zwei Positionen differenziert werden muss. Zum anderen werde ich begründen, warum ich mich in dieser Arbeit auf eine Analyse, Kritik und Verteidigung der Position eines umfassend begründeten Perfektionistischen Liberalismus beschränke und eine weitergehende Erörterung eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus außer Acht lasse.
1.2.1 Umfassend begründeter Perfektionistischer Liberalismus Da das gesamte zweite Kapitel meiner Arbeit der Analyse eines umfassend begründeten Perfektionistischen Liberalismus gewidmet ist, möchte ich in diesem Unterabschnitt – der systematischen Vollständigkeit halber – nur kurz benennen, wodurch sich ein umfassend begründeter Perfektionistischer Liberalismus von einem politisch begründeten unterscheidet. Befürworter eines umfassend begründeten Perfektionistischen Liberalismus bejahen die erste klassifikatorische Frage (1), weshalb sie dem Lager eines Perfektionistischen Liberalismus zugerechnet werden. Darüber hinaus halten sie es aber auch für unbedenklich, ihre Ablehnung eines Neutralitätsprinzips – also die Bejahung von (1) – mit Argumenten zu rechtfertigen, die mit liberalen – aber kontroversen – Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Dies bedeutet, dass sie Frage (2) ebenfalls bejahen, womit sie sich als Vertreter eines umfassend begründeten Perfektionistischen Liberalismus innerhalb des Lagers Perfektionistischer Liberaler von Befürwortern der Position eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus unterscheiden. Die praktische Relevanz dieser begrifflichen Unterscheidung wird deutlicher, nachdem ich im nächsten 44
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Unterabschnitt die Position eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus vorgestellt habe.
1.2.2 Politisch begründeter Perfektionistischer Liberalismus Damit komme ich zur argumentativen Untermauerung der von mir weiter oben formulierten zwei Thesen (siehe 1.2). Die erste These besagt, dass es sich bei einem politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus nicht nur um eine logische bzw. begriffliche Option handelt, die sich aus meinem Klassifikationsschema ergibt, sondern auch um eine Variante eines Perfektionistischen Liberalismus, die es Wert ist, dass man ihr Aufmerksamkeit schenkt. Dies ist nicht unumstritten. Stephen Mulhall und Adam Swift etwa bezweifeln, dass es sich bei einem politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus um eine viable und in sich kohärente Position handelt. 26 Um dies näher beurteilen zu können, möchte ich zunächst versuchen, die Grundintuition hinter dieser Variante eines Perfektionistischen Liberalismus freizulegen. Sie lässt sich meiner Ansicht nach folgendermaßen skizzieren: Perfektionistische Liberale vereint die Überzeugung, dass es in einem liberalen Staat Fälle geben kann, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Lebens ist und ausmacht. Gemeinsam sind ihnen also die Bejahung von (1) und die damit verbundene Ablehnung eines Neutralitätsprinzips. Im Unterschied zu Vertretern eines umfassend begründeten Perfektionistischen Liberalismus verneinen Befürworter eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus aber (2), d. h. sie behaupten, dass eine solche Ablehnung eines Neutralitätsprinzips auf der Ebene von (1) selbst den Ansprüchen eines Neutralitätsprinzips auf einer höhergeordneten Ebene (2) genügen muss. Die Ablehnung eines Neutralitätsprinzips auf Ebene (1) kann also nur Legitimität beanspruchen, wenn sie mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die kein vernünftiger Bürger ablehnen kann, was – unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus – bedeutet, dass die Ablehnung eines Neutralitätsprinzips auf Ebene (1) nicht mit Argumenten gerechtfertigt werden darf, die von kontroversen Annahmen darüber 26
Vgl. Mulhall und Swift, Liberals and Communitarians, 252–253.
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abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Eine »politische« Begründung eines staatlichen Perfektionismus erfordert also, dass für die Ablehnung eines Neutralitätsprinzips Argumente bzw. Gründe vorgebracht werden, die unabhängig sind von kontroversen Annahmen über das gute Leben und in diesem Sinne neutral sind. Dies hört sich in der Theorie komplizierter an, als es in der Praxis wirklich ist. Eine einfache Version einer solchen argumentativen Strategie findet sich z. B. bei Amy Gutman und kann als »demokratische bzw. majoritaristische Rechtfertigung« eines staatlichen Perfektionismus bezeichnet werden. 27 Gemäß dieser Strategie kann es in einem liberalen Staat Fälle geben, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Dies kommt dann vor, wenn derartige Maßnahmen in einem demokratischen Prozess und durch eine demokratische Mehrheit gebilligt werden. Es kann eben auch unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus sein, dass sich für perfektionistisches Staatshandeln demokratische Mehrheiten finden. Für die Legitimität staatlichen Handelns ist also nicht relevant, mit welchen inhaltlichen Argumenten es gerechtfertigt wird, sondern ob es in einem demokratischen Verfahren von einer Mehrheit gebilligt worden ist. Es sprechen jedoch vor allem zwei Gründe dagegen, im Rückgriff auf eine solche argumentative Strategie für die Viabilität der Position eines »politisch begründeten« Perfektionistischen Liberalismus zu argumentieren. Erstens kann die Frage gestellt werden, ob eine solche Position noch genuin »liberal« ist, jedenfalls im Sinne eines public reason liberalism. Gemäß diesem ist für die Legitimität staatlichen Handelns nicht maßgeblich, dass es in einem demokratischen Verfahren und von einer demokratischen Mehrheit gebilligt wird, sondern dass es allen vernünftigen Bürgern gegenüber öffentlich gerechtfertigt werden kann. Gemäß Gutman könnte es aber legitimes Staatshandeln geben, das nicht öffentlich gerechtfertigt ist. Gegen die Übernahme einer solchen Strategie spricht also, dass ein derart »politisch begründeter« Perfektionismus nicht mehr »liberal« im Sinne eines public reason liberalism wäre. Ein zweites Problem eines Rückgriffs auf eine derartige Strategie 27 Vgl. Amy Gutmann, Democratic Education (Princeton: Princeton University Press, 1987), 258–263.
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besteht darin, dass die damit gerechtfertigte Position nicht mehr erkennbar »perfektionistisch« ist. Ein politisch begründeter Perfektionistischer Liberalismus will ja begründen, warum es auf Ebene (1) Fälle geben kann, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt Legitimität beanspruchen kann, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Dies begründet er aber nicht wirklich, wenn seine »politische« Begründung demokratisch-majoritaristischer Natur ist. Mit der Negierung von (1) – also der Ablehnung eines Neutralitätsprinzips – behaupten Perfektionistische Liberale, dass bestimmte kontroverse inhaltliche (perfektionistische) Überlegungen in manchen Fällen den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen können. Die »politische« Rechtfertigung dieser Behauptung auf Ebene (2) besagt nun aber, dass die Legitimität staatlichen Handelns gar nicht an inhaltliche Kriterien rückgebunden ist, sondern rein formal bzw. prozedural bestimmt wird. Die Ebenen (1) und (2) arbeiten also mit zwei unterschiedlichen Kriterien für die Legitimität staatlichen Handelns. Das Problem liegt nun darin, dass die rein formale bzw. prozedurale Bestimmung von Legitimität auf Ebene (2) nicht rechtfertigt, warum auf Ebene (1) bestimmte inhaltliche bzw. perfektionistische Überlegungen eine positive Rolle in der Bestimmung des Umfangsbereichs legitimen staatlichen Handelns spielen sollen. Anders formuliert: Die Neutralität auf der theoretischen Ebene (2) scheint zu einer Rechtfertigungsneutralität auf der praktischen Ebene (1) zu führen, da inhaltliche (perfektionistische) Erwägungen für die Rechtfertigung der Legitimität einer politischen Maßnahme nicht mehr ausschlaggebend sind bzw. keine Rolle mehr spielen. 28 Im Folgenden werde ich nun im Rückgriff auf die Arbeiten von Joseph Chan eine alternative und komplexere Variante eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus erörtern. 29 Von leitenAuf diesen Einwand gegen einen »demokratischen Perfektionismus« bzw. einen politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus hat Joseph Chan in ähnlicher Weise hingewiesen, vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 36. Ich werde weiter unten dafür argumentieren, dass dieser Einwand aber auch gegen ihn selbst und die von ihm vertretene Variante eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus gewendet werden kann. 29 Jüngst hat Andrew Lister ebenfalls einen solchen Ansatz vorgestellt, der sich auf das höhergeordnete Gut ziviler Freundschaft beruft, vgl. Andrew Lister, Public Reason and Political Community (London: Bloomsbury, 2013), 105–133. 28
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dem Interesse sind auch hier meine beiden Ausgangsfragen: Ist eine solche Position kohärent und wenn ja, was spricht dagegen, sie einem umfassend begründeten Perfektionistischen Liberalismus vorzuziehen? Anders als Gutman verweist Chan für die »politische Begründung« der Legitimität perfektionistischen Staatshandelns nicht auf ein »demokratisch-majoritaristisches« Prinzip, sondern auf ein genuin kontraktualistisches. 30 Sehr vereinfacht ausgedrückt ist es laut Chan möglich, mittels eines Kontraktualismus auf Ebene (2) – also einer Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips auf dieser Ebene – einen Perfektionismus auf Ebene (1) – d. h. eine Ablehnung der Geltung eines Neutralitätsprinzips auf dieser Ebene – zu rechtfertigen. Um dieses Argument richtig verstehen und bewerten zu können, ist es erforderlich, es kurz innerhalb der Debatte zwischen Perfektionistischen und Anti-Perfektionistischen Liberalen zu verorten. Ausgangspunkt ist das anti-perfektionistische Argument, dass aus der Annahme, dass es eine vernünftige Uneinigkeit über Konzeptionen eines guten Lebens gibt, sowie der kantianisch inspirierten Prämisse, dass Menschen nicht als Zwecke an sich respektiert werden, wenn sie dazu gezwungen werden, ein Ziel zu verfolgen, was sie vernünftigerweise ablehnen können, folgt, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt niemals im Rückgriff auf Gründe legitimiert werden darf, die aus Argumenten resultieren, die abhängig sind von kontroversen Annahmen darüber, was ein gutes Leben ist und ausmacht. 31 Rechtfertigt ein Staat sein Handeln derart, dann behandelt er einen Teil seiner Bürger nicht mit dem Respekt, der ihnen als freien und gleichen Personen zusteht. Die perfektionistische Erwiderung auf derlei Argumente besteht gewöhnlich darin, den Anti-Perfektionisten mit dem sogenannten »Asymmetrie-Vorwurf« zu konfrontieren. Demnach muss ein AntiPerfektionistischer Liberaler begründen, warum er es für legitim hält, wenn ein Staat eine politische Maßnahme mit Argumenten rechtfertigt, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was Gerechtigkeit ist und ausmacht, aber es für illegitim hält, wenn er dies mit Argumenten tut, die kontroverse Annahmen über das gute Leben voraussetzen. Ich folge hier ich in wesentlichen Zügen der Argumentation von Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«. 31 Ich habe das von Chan rekonstruierte anti-perfektionistische Argument leicht abgewandelt, vgl. ibid., 21. 30
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Ein Anti-Perfektionistischer Liberaler hat nun zwei Möglichkeiten, um diesen Vorwurf zu entkräften: Entweder er akzeptiert, dass politische Maßnahmen niemals Legitimität beanspruchen können, wenn sie nur mit Argumenten gerechtfertigt werden können, deren Prämissen manche Bürger vernünftigerweise ablehnen können, oder er muss ein Argument dafür vorbringen, warum er kontroverse Gerechtigkeitskonzeptionen anders behandelt, als kontroverse Konzeptionen eines guten Lebens. Die erstgenannte Möglichkeit hat radikalrevisionäre Konsequenzen für unsere politische Praxis, würde zu einem libertaristischen Minimalstaat führen und wird von den meisten Liberalen abgelehnt. Denn vielfach lässt sich z. B. die Legitimität wohlfahrtstaatlichen Handelns eben nur im Rückgriff auf Argumente rechtfertigen, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was gerecht ist. Will ein Politischer Liberaler also an der prinzipiellen Möglichkeit der Legitimität wohlfahrtstaatlichen Handelns festhalten und sich gegenüber einem Libertarismus abgrenzen, scheidet die erste Option aus. Es ist aber die Wahl der zweiten Option, die dem Asymmetrievorwurf erst seine Plausibilität verleiht. Mit welchem Recht bzw. welcher Begründung gesteht sich ein Politischer Liberaler eine Ausnahme von einem allgemeinen Prinzip für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zu, während er sie einem Perfektionistischen Liberalen verweigert? Die Beweislast liegt also bei Vertretern eines Politischen Liberalismus. Sie müssen plausibel machen, warum alle Bürger mit dem erforderlichen Respekt behandelt werden, wenn der Gebrauch staatlicher Gewalt mit Argumenten gerechtfertigt wird, die eine Gerechtigkeitskonzeption voraussetzen, die manche Bürger vernünftigerweise ablehnen können, aber nicht alle Bürger mit dem erforderlichen Respekt behandelt werden, wenn der Gebrauch staatlicher Gewalt mit Argumenten gerechtfertigt wird, die eine Konzeption eines guten Lebens voraussetzen, die manche Bürger vernünftigerweise ablehnen können. Soweit die dialektische Ausgangslage. Chan versucht nun zwei Dinge zu demonstrieren: Erstens behauptet er, dass Thomas Nagel einer der wenigen Anti-Perfektionistischen Liberalen ist, die die Wahl der zweiten Option zu begründen versuchen, also eine Rechtfertigung einer solchen asymmetrischen Behandlung von Gerechtigkeitsfragen und Fragen des guten Lebens liefern. 32 Zweitens argumentiert Chan dafür – und darin besteht der 32
Chan bezieht sich hier auf Nagel, Equality and Partiality, 130–168.
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genuine und wichtige Beitrag seines Artikels –, dass Nagels kontraktualistisches Argumentationsschema aber auch verwendet werden kann, um eine neutrale Rechtfertigung der Ablehnung eines Neutralitätsprinzips, also eine »politische Begründung« eines Perfektionistischen Liberalismus zu leisten. Wie sieht laut Chan nun Nagels Argument zur Rechtfertigung der Asymmetrie aus? Die Strategie Nagels besteht darin, das skizzierte anti-perfektionistische Respektargument dahingehend zu modifizieren, dass die respektvolle Behandlung von Menschen impliziert, dass man Menschen nicht zur Verfolgung eines Zieles zwingt, das sie vernünftigerweise ablehnen können, außer die Bedingung einer höhergeordneten Einigkeit ist erfüllt. 33 Diese ist dann erfüllt, wenn sich Bürger trotz einer vernünftigen Uneinigkeit darüber, wie ein politisches Problem gelöst werden soll, auf einer höheren Ebene darin einig sind, dass es besser ist, eine kontroverse politische Entscheidung zu haben, als gar keine Entscheidung. Angewandt auf den Asymmetrievorwurf bedeutet das für Nagel, dass die asymmetrische Behandlung von Fragen des guten Lebens damit gerechtfertigt wird, dass bei einer vernünftigen Uneinigkeit über Fragen des guten Lebens, die Bedingung einer höhergeordneten Einigkeit nicht erfüllt ist bzw. erfüllt werden kann. Dies liegt laut Nagel vor allem daran, dass es diesbezüglich keine praktische Notwendigkeit gibt, die eine höhergeordnete Einigkeit erzeugen kann, die ihrerseits erforderlich ist, damit der Staat kontroverse politische Entscheidungen rechtfertigen kann, ohne manchen seiner Bürger den gebührenden Respekt zu verweigern. 34 Ich möchte in einer modifizierten Weise Nagels Beispiel der nationalen Verteidigung aufgreifen, um diesen Punkt zu illustrieren: Es hat in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der deutschen Öffentlichkeit eine vernünftige Uneinigkeit darüber bestanden, ob der deutsche Staat sich an einer militärischen Intervention im Bosnien-Konflikt beteiligen soll. Trotz dieser Tatsache kann rückblickend die Entscheidung zugunsten einer militärischen Intervention Legitimität beanspruchen, weil Menschen, die sie vernünftigerweise ablehnen können, zugleich einsehen können, dass es eine praktische Notwendigkeit darstellt, dass der deutsche Staat in diesen und ähn-
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Vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 23. Vgl. ibid., 23–24.
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lichen Fällen Entscheidungen trifft, auch wenn diese kontrovers sind. Die Legitimität solcher Entscheidungen leitet sich also aus der Einigkeit darüber ab, dass ein einheitliches und koordiniertes staatliches Handeln für eine effektive staatliche Außen- und Verteidigungspolitik notwendig ist. Dieser ordnungspolitische Gedankengang kann nun auch auf Fragen grundlegender sozialer Gerechtigkeit übertragen werden: Es mag eine vernünftige Uneinigkeit darüber geben, wie eine gerechte Gesellschaft aussieht. Aufgrund der praktischen Notwendigkeit einer Regelung bezüglich der Verteilung von Ressourcen, Etablierung von gesellschaftlichen Institutionen etc. hat aber jeder vernünftige Bürger Grund anzunehmen, dass ein koordiniertes und einheitliches staatliches Handeln – auch wenn es kontrovers ist – besser ist, als die Lösung von Gerechtigkeitsproblemen einfach dem freien Spiel individueller Bürger zu überlassen. Die Durchsetzung kontroverser politischer Maßnahmen kann also Legitimität beanspruchen und behandelt Bürger, die sie als suboptimale Lösung realer Probleme vernünftigerweise ablehnen können, nicht respektlos, weil es einen höhergeordneten Konsens darüber gibt, dass jede suboptimale Lösung besser ist als gar keine Lösung. Anhand von Chans Erwiderung auf dieses Argument Nagels kann nun anschaulich gemacht werden, wie eine »politische« bzw. kontraktualistische Begründung eines Perfektionistischen Liberalismus aussehen könnte. Chans argumentative Strategie gegen Nagels Argument einer höhergeordneten Einigkeit vollzieht sich in zwei Schritten: Erstens zeigt Chan, dass Nagels Argument einen staatlichen Anti-Perfektionismus – also eine Verneinung von Frage (1) – nicht wirklich unterstützt. Zweitens behauptet Chan, dass das Argument einer höhergeordneten Einigkeit auch zur Rechtfertigung eines perfektionistischen Staatshandeln verwendet werden kann und somit ein Politischer Perfektionismus, der (1) bejaht, aber (2) verneint, eine kohärente Position innerhalb einer liberalen politischen Philosophie darstellt. Ich möchte zunächst Chans ersten Schritt betrachten: Warum unterstützt Nagels Argument einen staatlichen Anti-Perfektionismus nicht? Laut Chan besteht die Schwierigkeit von Nagels Rechtfertigung einer asymmetrischen Behandlung von politischen Maßnahmen, die Fragen des guten Lebens betreffen, und anderen politischen Maßnahmen darin, ein Kriterium dafür zu liefern, welche Art von praktischer Notwendigkeit vorliegen muss, damit alle vernünftigen Menschen sich darin einig sind, dass ein kontroverses Perfektionistischer Liberalismus
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staatliches Handeln besser ist als kein staatliches Handeln. 35 Das Problem eines solchen Kriteriums von Notwendigkeit besteht darin, dass es entweder so stark ist, dass gemäß ihm nicht nur ein perfektionistisches Staatshandeln, sondern auch viele andere traditionale Staatsaufgaben nicht mehr gerechtfertigt werden können, oder aber so schwach ist, dass es die asymmetrische Behandlung von Argumenten, die auf kontroverse Konzeptionen des guten Lebens zurückgreifen, nicht mehr rechtfertigen kann. Betrachten wir zunächst die Möglichkeit eines starken Kriteriums von Notwendigkeit. Eine solche Art von Notwendigkeit scheint dann vorzuliegen, wenn von einem einheitlichen und koordinierten staatlichen Handeln das Überleben der Gesellschaft abhängt. Formuliert man ein derart starkes Kriterium, dann kann gut die asymmetrische Behandlung von Fragen des guten Lebens gerechtfertigt werden: Fragen der nationalen Verteidigung oder Fragen grundlegender Gerechtigkeit sind in der Lage, eine höhergeordnete Einigkeit zu generieren, weil das Überleben der Gesellschaft auf dem Spiel steht; bei Fragen des guten Lebens ist dies hingegen nicht der Fall, weshalb ein kontroverses staatliches Handeln in Bezug auf Fragen der nationalen Verteidigung oder Fragen grundlegender Gerechtigkeit aufgrund der Möglichkeit einer höhergeordneten Einigkeit legitim sein kann, ein kontroverses staatliches Handeln in Bezug auf Fragen des guten Lebens aber nicht. Der Nachteil eines solch starken Kriteriums für praktische Notwendigkeit besteht aber darin, dass damit viele traditionale Staatsaufgaben nicht mehr gerechtfertigt sind, wenn es diesbezüglich eine vernünftige Uneinigkeit gibt. Politische Maßnahmen, die Fragen der Bildung, Kultur, Erziehung, Gesundheit oder des Umweltschutzes betreffen, sind nur noch dann legitim, wenn sie mit Argumenten gerechtfertigt werden, die von keinerlei kontroversen Annahmen darüber abhängen, was Bildung, Erziehung oder Kultur ist und ausmacht. Denn das direkte Überleben einer Gesellschaft hängt nicht davon ab, ob es ein öffentliches Bildungs- oder Gesundheitssystem gibt. 36 In diesem Fall ist die Asymmetrie gerechtfertigt, allerdings zu dem hohen Preis, dass viele traditionale Staatsaufgaben nicht mehr gerechtfertigt werden können. Gibt es nun eine Möglichkeit, die revisionären Implikationen des Arguments einer höhergeordneten Einigkeit zu vermeiden? Diese 35 36
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Vgl. ibid., 25. Vgl. ibid.
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Möglichkeit besteht nur, wenn man ein schwächeres Kriterium für praktische Notwendigkeit vertritt. Demnach kann eine politische Maßnahme über deren Rechtfertigung eine vernünftige Uneinigkeit besteht, dann legitim sein, wenn eine Art von »prudentieller« Notwendigkeit für eine höhergeordente Einigkeit besteht. Demnach haben Individuen Grund, eine kontroverse politische Maßnahme als legitim zu betrachten, wenn sie einsehen, dass solch ein staatliches Handeln im allgemeinen erforderlich ist, um ihre individuellen Ziele zu erreichen. Nehmen wir das Beispiel von Gesundheit und Bildung: Obwohl man gute Gründe haben kann, die konkreten bildungs- bzw. gesundheitspolitischen Maßnahmen abzulehnen, können sich Bürger auf einer höhergeordneten Ebene einig sein, dass es für die Realisierung von Gütern wie Bildung und Gesundheit kollektiver und staatlich koordinierter Anstrengungen bedarf. Vorausgesetzt, dass es wenigstens prinzipiell möglich ist, auf staatliche Entscheidungen Einfluss zu nehmen, und die entsprechenden politischen Maßnahmen die Rechte Andersdenkender respektieren, haben alle Bürger Grund anzunehmen, dass – zumindest auf lange Sicht – eine einheitliche und koordinierte staatliche Politik in Fragen der Gesundheit oder Bildung ihren Interessen mehr dient als der Versuch, ihre kontroverse Konzeption von Gesundheit oder Bildung individuell zu realisieren. 37 Der Vorteil dieses schwächeren Kriteriums für praktische Notwendigkeit besteht klar darin, dass mittels dessen ein Argument höhergeordneter Einigkeit konstruiert werden kann, das ein kontroverses Staatshandeln bezüglich Fragen der nationalen Verteidigung, öffentlicher Bildung und Erziehung rechtfertigen kann. Der Nachteil ist aber, dass ein so konstruiertes Argument höhergeordneter Einigkeit nicht mehr die asymmetrische Behandlung von Fragen der Gerechtigkeit und Fragen des guten Lebens rechtfertigen kann. Die Rechtfertigung einer politischen Maßnahme mittels einer kontroversen Konzeption eines guten Lebens kann legitim sein, weil Bürger sich auf einer höhergeordneten Ebene darin einig sein können, dass es für die Schaffung der Bedingungen, die das Führen eines guten Lebens ermöglichen, kollektiver und staatlich koordinierter Anstrengungen bedarf. Anders formuliert: Aus der Überlegung, dass jeder Grund hat, intrinsisch oder inhärent wertvolle Dinge zu fördern, und der Einsicht, dass wir diese Dinge nicht individuell in effektiver Weise fördern können, sondern es dazu kollektiver und staatlich koordinierter 37
Vgl. ibid., 26–28.
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Anstrengungen bedarf, folgt, dass jeder Grund hat, es für legitim zu halten, dass der Staat intrinsisch oder inhärent wertvolle Dinge fördert, auch wenn man vernünftigerweise darüber uneinig ist, was jeweils intrinsisch oder inhärent wertvoll ist. 38 Wie in Fragen der Bildung oder Erziehung kann man einsehen, dass ein kontroverses perfektionistisches Handeln des Staates besser ist, als gar kein staatliches Handeln. 39 Anders als die demokratisch-majoritaristische Variante eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus von Gutman, kann die kontraktualistische Variante von Chan den Vorwurf entkräften, sich aus dem Lager eines public reason liberalism zu verabschieden. Die Legitimität staatlichen Handelns bleibt daran rückgebunden, ob es allen vernünftigen Bürgern gegenüber gerechtfertigt werden kann. Neu ist lediglich Chans Versuch, die These, dass es Fälle geben kann, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, damit zu begründen, dass es in solchen Fällen eine höhergeordnete Einigkeit gibt, die ein derartiges staatliches Handeln legitimiert. Wie sieht es aber mit dem zweiten Einwand aus? Kann Chans Variante eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus auch den Vorwurf entkräften, nicht mehr wirklich »perfektionistisch« zu sein? Wenn Chan behauptet, dass es möglich ist, die Bejahung von (1) – also einen staatlichen Perfektionismus – mit einem kontraktualistischen Argument zu begründen, also einem Argument, das erlaubt (2) zu verneinen, dann stellt sich auch hier die Frage, inwieweit die Argumente, die auf der praktischen Ebene von Frage (1) vorgebracht werden, noch irgendeine rechtfertigende oder legitimierende Funktion haben. 40 Trifft also auch ihn der Vorwurf, dass eine Verneinung von (2) in der Praxis zu einer Rechtfertigungsneutralität führt und seine Position insofern nicht mehr als eine Variante eines Perfektionistischen Liberalismus bezeichnet werden kann bzw. darf? Chan antizipiert diesen Vorwurf und antwortet darauf, dass ein Kontraktualismus nicht darauf festgelegt ist, Legitimität allein prozedural zu definieren, sondern dass er – wie Vertreter deliberativer 38 39 40
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Vgl. ibid., 26. Vgl. ibid., 28–34. Die Argumentation Chans habe ich hier stark vereinfacht. Vgl. ibid., 36.
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Demokratietheorien – auch darauf bestehen kann, dass das Ergebnis eines demokratischen Prozesses nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn in einer angemessenen Weise über alle inhaltlich relevanten Gesichtspunkte für eine Entscheidung deliberiert wurde. 41 In diesem Sinne spielen auch perfektionistische Überlegungen und Gründe für die Legitimität einer politischen Maßnahme eine Rolle. Das kontraktualistische Argument einer höhergeordneten Einigkeit ist demnach in einem formalen Sinne nicht von kontroversen Annahmen darüber abhängig, was ein gutes Leben ist und ausmacht, und ist im Sinne von (2) ein neutrales Argument für die Rechtfertigung eines staatlichen Perfektionismus, ohne dass dadurch perfektionistische Überlegungen für die Rechtfertigung politischer Maßnahmen irrelevant werden. 42 Natürlich bedürfte es hier noch einer vertiefenden Reflexion, jedoch erscheint mir dies zumindest prima facie ein guter und überzeugender Ansatzpunkt für eine Entkräftung des Vorwurfs zu sein, dass die Negierung von Frage (2) zwangsläufig dazu führt, dass kontroverse perfektionistische Argumente gar keine Rolle mehr bei der Frage spielen, ob der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigbar ist und damit Legitimität beanspruchen kann. Mir scheint insofern die Annahme berechtigt, dass Chan gute Chancen hat, seine kontraktualistische Variante eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus gegen den Vorwurf verteidigen zu können, dies sei keine »perfektionistische« Position mehr. Damit kann ich die erste der beiden Fragen, die für mich in diesem Unterabschnitt erkenntnisleitend waren, beantworten: Im Gegensatz zu dem Urteil von Mulhall und Swift und den Zweifeln von Quong, halte ich die Position eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus für eine theoretisch viable und kohärente Option innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie. 43 Dies bestätigt wiederum, dass die von mir vorgeschlagene Klassifikation hilfreich ist, um eine Kartographie der Neutralitätsdebatte zu erstellen. Noch ausstehend ist aber die Beantwortung meiner zweiten Frage. Wenn es Sinn macht, innerhalb des Lagers eines Perfektionistischen Liberalismus zwischen zwei Positionen zu differenzieren, warum beschränke ich mich in dieser Arbeit dann lediglich auf die Analyse und Vgl. ibid., 37. Vgl. ibid., 37–38. 43 Vgl. Mulhall und Swift, Liberals and Communitarians, 252–253; Quong, Liberalism without Perfection, 20. 41 42
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Verteidigung eines umfassend begründeten Perfektionistischen Liberalismus? Meine Antwort hierauf lautet, dass ein politisch begründeter Perfektionistischer Liberalismus mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat, die ein umfassend begründeter Perfektionistischer Liberalismus vermeiden kann, und letzterer deshalb dem Erstgenannten vorzuziehen ist. Denn auch wenn Chans kontraktualistische Variante eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus theoretisch viabel ist, so ist zu fragen, ob sie praktisch wirklich konsequent durchzuhalten ist. Ist z. B. eine Begründung und Formulierung der Bedingungen für eine höhergeordente Einigkeit wirklich ohne einen Rückgriff auf kontroverse Annahmen bezüglich eines guten Lebens möglich? Chan argumentiert, dass Bürger aufgrund einer »prudentiellen« Notwendigkeit Grund haben, ein perfektionistisches Staatshandeln als legitim zu betrachten, das sie vernünftigerweise ablehnen können. Die Frage ist aber, ob diese schwache Notwendigkeit ausreicht, um allen Bürgern Grund dafür zu geben, einem Staat die Autorität zu Entscheidungen über Fragen des guten Lebens zuzubilligen, unabhängig davon, welche Inhalte hier zur Diskussion stehen, und unabhängig davon, wie diese Entscheidungen ausfallen werden. Dies scheint nur dann der Fall zu sein, wenn man die kontroverse Konzeption eines guten Lebens vorauszusetzt, nach der die politischen Güter bzw. Werte sozialer Kooperation und sozialen Friedens immer Vorrang vor anderen substantiellen Gütern bzw. Werten haben. Christopher Eberle etwa weist darauf hin, dass Bürger mit radikal pazifistischen Überzeugungen die These negieren würden, dass sie Teil eines höhergeordneten Konsenses sind, aus dem sich für sie ein Grund ableitet, einem Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt zu kriegerischen Zwecken zuzustimmen. 44 Angesichts solcher Schwierigkeiten stellt sich die von Mulhall und Swift berechtigterweise aufgeworfene Frage, warum Vertreter eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus sich auf einer theoretischen Ebene – also der Ebene von Frage (2) – den Rekurs auf die Ressourcen verweigern sollten, die sie sich auf einer praktischen Ebene – also bei der Beantwortung von Frage (1) – zugestehen. 45 Ein kontraktualistisches Argument zur Rechtfertigung eines staatlichen Perfektionismus könnte z. B. sehr schlagkräftig sein, Vgl. Christopher J. Eberle, »Religion, Pacifism, and the Doctrine of Restraint«, The Journal of Religious Ethics 34, no. 2 (2006). 45 Vgl. Mulhall und Swift, Liberals and Communitarians, 252. 44
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wenn man es mit der perfektionistischen Überlegung verbindet, dass Menschen politische Lebewesen sind und eine politische Gemeinschaft nicht nur Bedingung der Möglichkeit eines guten Lebens ist, sondern eine politische Betätigung innerhalb einer solchen Gemeinschaft Teil eines guten Lebens ist. 46 Genau deshalb besteht eine prudentielle Notwendigkeit zu einer höhergeordneten Einigkeit und genau deshalb haben Menschen manchmal Grund, einem Staat Legitimität für kontroverse Entscheidungen bezüglich Fragen des guten Lebens zuzubilligen. Die Anfrage an einen politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus ist also erstens, ob er wirklich konsequent einen Bezug auf kontroverse Annahmen eines guten Lebens zur Rechtfertigung einer Bejahung von (1) – also einem staatlichen Perfektionismus – vermeiden kann, und zweitens, ob eine solche Vermeidung – selbst wenn sie möglich wäre – eine perfektionistische Position innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie nicht unnötig schwächt. Da ein umfassend begründeter Perfektionistischer Liberalismus diese Schwierigkeiten durch seine Bejahung von (2) aus dem Weg räumen kann, erscheint mir diese Position einem politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus überlegen. 47
Diese Möglichkeit wird erwogen von Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 35–36. 47 Eine überzeugende Kritik, warum eine solche Referenz auf eine »höhergeordnete« Einigkeit nicht funktioniert, findet sich ebenfalls bei Lister, Public Reason and Political Community, 81–103. 46
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2. Struktur eines Perfektionistischen Liberalismus
Nachdem ich im vorausgehenden Kapitel eine systematische Kartographie der Neutralitätsdebatte erstellt habe und dafür argumentiert habe, dass es sich bei dieser Debatte um eine Kontroverse innerhalb der liberalen Politischen Philosophie handelt, werde ich in diesem Kapitel näher analysieren, was es bedeutet bzw. impliziert, einen umfassend begründeten Perfektionistischen Liberalismus zu vertreten. Durch die Analyse verspreche ich mir nicht nur eine größere Klarheit darüber, was mit dem Begriff »Perfektionistischer Liberalismus« gemeint ist und was nicht, sondern auch, dass einige Vorurteile bzw. Einwände gegen diese Position schon im Vorfeld ausgeräumt werden können. Mein Hauptaugenmerk wird auf der Verteidigung von drei Thesen ruhen: Die erste These lautet, dass ein Perfektionistischer Liberalismus notwendigerweise aus einem defensiven und einem konstruktiven Element besteht und für die Verteidigung des defensiven Elements der sogenannte Asymmetrievorwurf zentral ist (siehe 2.1.1). Zweitens argumentiere ich dafür, dass ein Perfektionistischer Liberaler gute Gründe hat, mögliche Kompatiblitätsmodelle abzulehnen, also zu negieren, dass sich die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips mit der Position eines Perfektionistischen Liberalismus widerspruchsfrei verbinden lässt (siehe 2.1.2). Meine dritte These besagt schließlich, dass durch begriffliche Differenzierungen beim konstruktiven Element viele Bedenken gegen einen Perfektionistischen Liberalismus entkräftet werden können, und eine plausible und attraktive Variante einer solchen Position identifiziert werden kann (siehe 2.2).
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Das defensive Element
2.1 Das defensive Element 2.1.1 Ablehnung einer staatlichen Neutralität Anhand meiner Klassifikation im vorausgehenden Kapitel ist evident, dass für die Position eines Perfektionistischen Liberalismus ein »defensives« Element konstitutiv ist. Ein Perfektionistischer Liberalismus kann nur dann eine viable und attraktive liberale Alternative zu einem Politischen Liberalismus darstellen, wenn es gelingt, überzeugende Gründe dafür vorzutragen, dass es in einem liberalen Staat Fälle geben kann, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Lebens ist und ausmacht. Derartige Fälle kann es aber nur geben, wenn es im Rahmen eines public reason liberalism nicht notwendigerweise erforderlich ist, ein »Neutralitätsprinzip« zu akzeptieren. Denn ein solches untersagt im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt einen Bezug auf Argumente, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Die zu erbringende »defensive« Leistung eines Perfektionistischen Liberalismus muss also darin bestehen, die Forderung nach der Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips zurückzuweisen. Bevor ich darlege, warum aus meiner Sicht der sogenannte »Asymmetrievorwurf« für dieses Unterfangen zentral ist (siehe 2.1.1.3), möchte ich in den nächsten beiden Unterabschnitten zunächst zwei vorbereitende begriffliche Präzisierungen vornehmen. 2.1.1.1 »Neutralität« als anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip Eine erste Präzisierung betrifft den Begriff »Neutralität«. 1 Sie ist erforderlich, um genauer zu fassen, wofür Politische Liberale bzw. wogegen Vertreter eines Perfektionistischen Liberalismus argumentieren. In der sogenannten »Neutralitätsdebatte« zwischen Politischen und Perfektionistischen Liberalen geht es nicht – oder wenn, dann nur sekundär – um die Frage, ob das Handeln eines liberalen Staates sich neutral zu den Konzeptionen eines guten Lebens seiner Bürger Ich folge hier im Wesentlichen den Unterscheidungen, die Richard Arneson prägnant herausgearbeitet hat, vgl. Richard J. Arneson, »Liberal Neutrality on the Good: An Autopsy«, in Perfectionism and Neutrality: Essays in Liberal Theory. George Klosko und Steven Wall (Hg.) (Oxford: Rowman & Littlefield, 2003), 193.
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verhalten muss. Politische Liberale vertreten nicht die sehr schwer zu verteidigende These, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur dann legitim ist, wenn seine Auswirkungen sich neutral zu den verschiedenen Konzeptionen eines guten Lebens seiner Bürger verhalten. Die von Politischen Liberalen eingeforderte Neutralität bezieht sich vielmehr auf die Gründe bzw. Argumente, die für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt vorgebracht werden. Wie unter anderem Sher ausführt, ist es deshalb in der Kontroverse wichtig, zwischen einer starken und schwachen Bedeutung von »Neutralität« zu unterscheiden: Ein starker Neutralitätsbegriff fordert eine »Ergebnisneutralität« staatlichen Handelns, wonach der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt illegitim ist, wenn die entsprechenden politischen Maßnahmen den Effekt haben also zu dem Ergebnis führen, dass eine konkrete Konzeption des guten Lebens dadurch bevorzugt oder benachteiligt wird, während ein schwacher Neutralitätsbegriff lediglich verlangt, dass staatliches Handeln nicht darauf abzielt, irgendeine Konzeption des guten Lebens zu begünstigen bzw. zu benachteiligen. 2 Da es aber – wie Wall und Klosko anschaulich darstellen – sehr schwer ist zu beurteilen, aufgrund welcher Intentionen oder Motive die verantwortlichen Politiker ein bestimmtes Gesetz bzw. eine politische Maßnahme wirklich verabschieden, gehen Vertreter eines schwachen Neutralitätsbegriffs gewöhnlich dazu über, eine Neutralität für die Argumente bzw. Gründe zu fordern, die für eine bestimmte politische Maßnahme vorgebracht werden. 3 Es ist ein so verstandener Neutralitätsbegriff, um den es in der Debatte zwischen Politischen und Perfektionistischen Liberalen geht. In der Begrifflichkeit Will Kymlickas ausgedrückt: Anti-Perfektionistische Liberale fordern keine »Ergebnisneutralität« staatlichen Handelns, sondern lediglich eine »Rechtfertigungsneutralität«. 4 Wie Larmore und Sher hervorheben, ist es deshalb nahezu Konsens, dass Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 4. Vgl. Steven Wall und George Klosko, Perfectionism and Neutrality: Essays in Liberal Theory (Lanham, Maryland: Rowman & Littlefield, 2003), 7. 4 Vgl. Will Kymlicka, Contemporary Political Philosophy: An Introduction (Oxford: Oxford University Press, 22002; 1990), 218; »Liberal Individualism and Liberal Neutrality«, Ethics 99, no. 4 (1989): 883–886. Ich stimme Kymlicka darin zu, dass es weniger verwirrend wäre, statt von »staatlicher Neutralität« konsequent von einem »staatlichen Anti-Perfektionismus« zu reden, vgl. Contemporary Political Philosophy, 218. Da sich dieser Vorschlag aber nicht durchgesetzt hat, verwende ich weiterhin auch das Wortfeld »Neutralität«. 2 3
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wenn eine »staatlicher Neutralität« gefordert wird, sich dies nicht auf die Ergebnisse staatlichen Handelns bezieht, sondern auf die Gründe, die für die Rechtfertigung staatlichen Handelns angeführt werden. 5 Genau genommen geht es also darum, ob es im Rahmen einer liberalen Politischen Philosophie notwendig ist, ein »Neutralitätsprinzip« anzuerkennen, gemäß welchem der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn er mit Argumenten bzw. Gründen gerechtfertigt wird, die keine kontroversen Annahmen darüber voraussetzen, was ein gutes Leben ist und ausmacht und in diesem Sinne »neutral« sind. Bei einem solchen Neutralitätsprinzip handelt es sich demnach um ein anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip zweiter Ordnung, das bestimmt, welche Argumente bzw. Gründe erster Ordnung für die Rechtfertigung einer politischen Maßnahme vorgebracht werden und in die Bewertung einer politischen Handlung bzw. Regelung einfließen dürfen. 6 Die Unterscheidung dieser zwei Ebenen macht die »Radikalität« des Neutralitätsprinzips deutlich: Bei einem solchen Prinzip handelt es sich um ein Metaprinzip, welches anhand eines formalen Kriteriums eine ganze Reihe von Gründen vom Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ausschließt, völlig unabhängig davon, ob es sich hier um inhaltlich gute bzw. triftige Gründe handelt oder nicht. Es ist diese Radikalität, die meiner Ansicht nach einen Politischen Liberalismus so unattraktiv macht und letzten Endes zu den oben skizzierten revisionistischen Annahmen nötigt. Wenn nämlich – aufgrund des Neutralitätsprinzips – im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt kein Argument mehr eine Rolle spielen darf, das mit kontroversen Prämissen darüber operiert, was ein gutes Leben ist und ausmacht, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass viele politische Maßnahmen, die darauf abzielen, Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens zu unterstützen, nicht mehr gerechtfertigt werden können, und der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt in diesen Fällen als illegitim angesehen werden muss. 2.1.1.2 Der Begriff »Konzeption eines guten Lebens« Eine zweite begriffliche Präzisierung betrifft den Terminus »Konzeption eines guten Lebens«. Sie wird strukturell erforderlich aufgrund 5 6
Vgl. Larmore, Patterns of Moral Complexity, 44; Sher, Beyond Neutrality, 22–23. Vgl. Beyond Neutrality, 27.
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der im vorigen Abschnitt vorgestellten Charakterisierung des Neutralitätsprinzips. Wenn dieses Prinzip – als Prinzip zweiter Ordnung – verlangt, dass im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt Gründe bzw. Argumente, die auf kontroversen Konzeptionen eines guten Lebens aufruhen, niemals eine Rolle spielen dürfen, dann müssen Politische Liberale klar umreißen, was sie unter einer »Konzeption eines guten Lebens« verstehen. Perfektionistische Liberale können ihrerseits die Beweislast für ihre Position verringern, indem sie den Begriff »Konzeption eines guten Lebens« vom Terminus »umfassende Lehre« abgrenzen. Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass diese begriffliche Präzisierung relevant ist, weil anhand ihrer zwischen einer plausiblen und »moderaten« Variante eines Perfektionistischen Liberalismus und einer unplausiblen und »extremen« Form eines Perfektionistischen Liberalismus differenzieren werden kann. Bevor ich mich der Begründung dieser These zuwende, ist es noch kurz erforderlich, eine begriffliche Vorklärung zu leisten. Ich hatte bisher den Ausdruck »Konzeption eines guten Lebens« (conception of the good life) verwendet, um damit die Menge von Annahmen bzw. Überzeugungen zu bezeichnen, die – laut Anti-Perfektionistischen Liberalen – bei der Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt nicht verwendet werden dürfen. In der Literatur ist aber auch häufig der Ausdruck »Konzeption des Guten« (conception of the good) zu finden. Wie verhalten sich diese beiden Begriffe zueinander? Versteht man mit Quong unter »Konzeption des Guten« eine Menge von Überzeugungen oder Urteilen darüber, was für Ziele oder Güter ein Mensch verfolgen sollte, damit sein Leben gut oder wertvoll ist, oder definiert man wie Sher diesen Ausdruck als Überzeugung darüber, was das Leben von Menschen besser macht, dann kann dieser Ausdruck als nahezu bedeutungsäquivalent zum Begriff »Konzeption eines guten Lebens« verstanden werden. 7 Da diese begriffliche Unterscheidung in der sogenannten »Neutralitätsdebatte« also keinen signifikanten praktischen Unterschied macht, was sich darin zu bestätigen scheint, dass viele Protagonisten der Debatte diese Begriffe als austauschbar verwenden, werde ich sie vernachlässigen und in einem einheitlichen Sinne den Begriff »Konzeption eines guten Lebens« gebrauchen. Anders liegt der Fall bei der Unterscheidung zwischen dem Be7
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Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 13; Sher, Beyond Neutrality, 37.
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griff »Konzeption eines guten Lebens« und dem, was man in Anlehnung an Rawls eine »vollständig umfassende Lehre« bzw. einfacher ausgedrückt, eine »vernünftige umfassende Lehre« nennen könnte, also eine moralische Lehre, die im Gegensatz zu einer rein politischen Gerechtigkeitskonzeption, eine Menge von Urteilen erster Ordnung darüber umfasst, was in einem Leben wertvoll bzw. gut ist, und zudem eine Menge von Urteilen zweiter Ordnung darüber, wie diese Güter in eine systematische Rangfolge zu bringen sind. 8 Das Verhältnis beider Begriffe kann folgendermaßen gefasst werden: Jede umfassende Lehre ist eine Konzeption eines guten Lebens, aber nicht jede Konzeption eines guten Lebens ist auch eine umfassende Lehre. Der Begriff »Konzeption eines guten Lebens« ist insofern im Begriff »umfassende Lehre« impliziert, aber nicht umgekehrt. Dies lässt sich an folgendem Beispiel veranschaulichen: Es kann ohne Probleme eine Konzeption des guten Lebens vorgestellt werden, die nur eine Menge von Urteilen über bestimmte Aspekte des menschlichen Lebens umfasst, also behauptet, dass bestimmte Güter oder die Verfolgung bestimmter Ziele ein menschliches Leben gut machen, aber diese Güter nicht in eine bestimmte Hierarchie bringt, sondern als gleichwertig betrachtet. Man könnte hier z. B. an einen Menschen denken, dem es in gleicher Weise wichtig ist, dass er in einer liebevollen Partnerschaft lebt, eine erfüllende Arbeit ausübt und zugleich gesund ist, der aber darüber hinaus nicht groß über den Sinn des Lebens nachdenkt und auch nicht verschiedene Lebensentwürfe miteinander vergleicht. Eine solche Person hat eine kleine Menge von Urteilen darüber, was ein gutes Leben ausmacht und kann diesen entsprechend leben, ohne sie notwendigerweise in eine hierarchische Ordnung bringen zu müssen. Anders formuliert: Je umfassender die Menge von Überzeugungen oder Urteilen erster Ordnung – also darüber, was ein Leben gut bzw. wertvoll macht – und je umfassender die Menge von Überzeugungen bzw. Urteilen zweiter Ordnung, die die verschiedenen Güter bzw. Ziele systematisch hierarchisieren, je wahrscheinlicher handelt es sich um eine Konzeption des guten Lebens, die auch eine umfassende Lehre darstellt. Meine These ist nun, dass diese begriffliche Unterscheidung relevant ist, weil sich daraus zwei unterschiedlich plausible Varianten eines Perfektionistischen Liberalismus – eine moderate und eine extreme Form – ableiten. Auf die praktische Relevanz dieser begriff8
Vgl. Rawls, Political Liberalism, 13; 59.
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lichen Präzisierung haben vor allem Quong und Chan aufmerksam gemacht. 9 Wie Quong hervorhebt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Konzeptionen des guten Lebens miteinander konfliktieren, umso größer, je mehr sie einer umfassenden Lehre ähneln. Dies wird – ich folge hier weiterhin Quong – an folgender Überlegung ersichtlich: Eine vollständig umfassende Lehre beinhaltet nicht nur die größtmögliche Menge an perfektionistischen Urteilen erster Ordnung, also an Urteilen darüber, ob die Realisierung eines bestimmten Ziels oder Guts ein Leben wertvoll bzw. gut macht (also ein Aspekt des Lebens »a« ein Gut »G« darstellt oder nicht, also entweder »a ist G« oder »–a ist G« wahr ist), sondern beinhaltet auch all die Urteile zweiter Ordnung, die erforderlich sind, um diese Güterliste (a-z) nach Wichtigkeit und Werthaftigkeit für ein gutes menschliches Lebens zu ordnen. 10 Daraus folgt, dass zwei Lehren, die in diesem Sinne beanspruchen, vollständig umfassend zu sein, entweder miteinander im Konflikt stehen müssen oder aber identisch sind. 11 Quong zufolge ist dies bei Konzeptionen des guten Lebens, die keine umfassenden Lehren sind, nicht notwendigerweise der Fall: Eine Konzeption des guten Lebens L, die lediglich Urteile über die Werthaftigkeit bestimmter Aspekte des Lebens trifft (z. B. behauptet, dass gilt »a ist G, b ist G, c ist G, d ist G« etc.), aber kein Urteil über deren Priorisierung fällt, muss mit einer Konzeption des guten Lebens M, die behauptet, dass gilt »d ist G, f ist G, h ist G, k ist G« und ebenfalls kein Urteil über die Priorisierung dieser Güter trifft, nicht in Konflikt geraten. 12 Wie Quong richtig analysiert, ist eine Pluralität an inkommensurablen Konzeptionen eines guten Lebens also weitaus weniger bedenklich als eine Pluralität an umfassenden Lehren. Anders formuliert: Urteile erster Ordnung über Einzelaspekte des guten Lebens sind weitaus weniger problematisch als Urteile zweiter Ordnung, die diese Einzelaspekte in eine systematische und hierarchisierende Beziehung miteinander bringen. Diese Erkenntnis hat aber nun wichtige Implikationen für die Plausibilität der Bejahung der klassifikatorischen Frage (1), also der These Perfektionistischer Liberaler, dass es in einem liberalen Staat Fälle geben kann, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt
9 Vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 11–14; Quong, Liberalism without Perfection, 28–29. 10 Liberalism without Perfection, 29. 11 Vgl. ibid. 12 Vgl. ibid.
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legitim ist, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Lebens ist und ausmacht. Wenn Perfektionistische Liberale dafür plädieren, dass wenigstens manchmal der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim sein kann, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, dann impliziert dies nicht notwendigerweise, dass der Staat dafür eine umfassende Lehre zur Grundlage seines Handelns machen muss. Die Bejahung von (1) impliziert lediglich notwendigerweise die These, dass bei der Erörterung politischer Maßnahmen perfektionistische Urteile über Aspekte des Lebens, die von dieser politischen Maßnahme berührt sind, mit berücksichtigt werden dürfen und sollen, selbst wenn es keinen Konsens über den Wahrheitswert dieser Urteile gibt. 13 Wie Quong zugesteht, besteht die einzige Alternative zu einem Anti-Perfektionistischen Liberalismus, der die klassifikatorische Frage (1) negiert, also nicht in einer perfektionistischen Position, die behauptet, dass der Staat, wenn er die Legitimität einer politischen Maßnahme im Rekurs auf perfektionistische Urteile rechtfertigen will, zugleich eine umfassende Lehre vertreten muss. Diese Position kann – in Anlehnung an Chan – als »extremer« Perfektionistischer Liberalismus bezeichnet werden. 14 Sie erscheint unattraktiv und unplausibel, weil ein Perfektionistischer Liberaler dann nicht nur auf kontroverse perfektionistische Urteile erster Ordnung zurückgreifen würde, sondern darüber hinaus auch den Rückgriff auf kontroverse perfektionistische Urteile zweiter Ordnung – also die von ihm favorisierte Hierarchisierung von Gütern bzw. Zielen – rechtfertigen müsste. Weitaus attraktiver und plausibler scheint hingegen die Position eines »moderaten« Perfektionistischen Liberalismus zu sein. 15 Ein solcher verbindet die Bejahung der klassifikatorischen Frage (1) mit der weitaus bescheideneren Forderung, dass perfektionistische Gründe, die sich aus einer begrenzten Menge von perfektionistischen Urteilen über gewisse Aspekte des menschlichen Lebens ableiten, in politischen Deliberationen – neben nicht-perfektionistischen Gründen –
13 14 15
Vgl. ibid. Vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 16. Diese Bezeichnung geht ebenfalls auf Chan zurück, vgl. ibid.
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eine Rolle spielen dürfen und sollen. 16 Gemäß einer solch bescheideneren bzw. »moderaten« Variante eines Perfektionistischen Liberalismus soll es erlaubt sein, dass ein Staat zur Rechtfertigung politischer Maßnahmen aus einem »Pool« von Gründen schöpfen darf, in dem neben »neutralen« auch perfektionistische Gründe vorhanden sind. Wenn der Staat perfektionistische Gründe aus diesem Pool verwendet, dann impliziert dies aber eben nicht notwendigerweise, dass er sich damit eine umfassende Lehre – im Sinne von Rawls – zu Eigen macht. Einen Gedankengang Shers aufgreifend, kann der Unterschied zwischen Anti-Perfektionistischen bzw. Politischen und Perfektionistischen Liberalen demnach folgendermaßen reformuliert werden: Politische Liberale unterscheiden mittels des Neutralitätsprinzips schon auf der Ebene von Argumenten bzw. Gründen zwischen »legitimen« und »illegitimen« Gründen und ordnen alle Gründe, die sich aus kontroversen perfektionistischen Urteilen darüber ableiten, was ein gutes Leben ist und ausmacht, einer Klasse von »illegitimen« Gründen zu, die von Erörterungen über die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ausgeschlossen werden sollen. 17 Das Neutralitätsprinzip stellt insofern eine Art von inhaltlichem »Filter« dar, der die Argumente bzw. Gründe aussieben soll, die nicht für eine Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt gebraucht werden dürfen. Perfektionistische Liberale hingegen geben mit dem Neutralitätsprinzip diese Unterscheidung auf und lassen zunächst einmal alle Argumente bzw. Gründe für eine mögliche Rechtfertigung einer politischen Maßnahme zu, jedenfalls alle Argumente bzw. Gründe, die nicht in einem direkten Widerspruch zu liberalen Grundüberzeugungen bzw. Werten stehen, und sind damit einem epistemischen Holismus verpflichtet, der eine Aufteilung normativer Behauptungen anhand eines inhaltlichen Kriteriums in zwei epistemische Klassen ablehnt. Durch die Möglichkeit, einen solchen »moderaten« Perfektionistischen Liberalismus zu vertreten, gerät die Position eines Politischen Liberalismus aber unter Druck: Denn – zumindest prima facie – erscheint es »liberaler«, bei Deliberationen über die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zunächst einmal die Formulierung aller Argumente zuzulassen, um erst dann zu bewerten, ob da16 17
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Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 29. Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 4.
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mit gute oder schlechte Gründe vorgebracht werden, anstatt schon vorher eine inhaltliche Zensur vorzunehmen, so dass eine ganze Klasse von Argumenten bzw. Gründen gar nicht erst in den Deliberationsprozess einfließen kann. Einem Politischen Liberalen muss in der Neutralitätsdebatte also daran gelegen sein nachzuweisen, dass die eben skizzierte »moderate« Variante eines Perfektionistischen Liberalismus keine in sich kohärente und viable Position darstellt. Meiner Ansicht nach könnte ein Politischer Liberaler für dieses Unterfangen zwei Argumente vorbringen. Ein erster Einwand hat die Form eines »Dammbrucharguments« (slippery slope) und besagt, dass die mit dem epistemischen Holismus verbundene Weigerung, bestimmte Argumente aus inhaltlichen Gründen aus dem Deliberationsprozess auszuschließen, in der Praxis dazu führt, dass man auch unliebsame illiberale Argumente nicht mehr für unzulässig erklären kann. 18 Auch wenn die Position eines Perfektionistischen Liberalismus auf den ersten Blick aufgrund ihres inhaltlichen Holismus »liberaler« als die Position eines Politischen Liberalismus erscheint, so entpuppt sich bei näherem Hinschauen, dass eine solche »Liberalität« in der praktischen Umsetzung ziemlich illiberale Konsequenzen hat. Denn wenn man den durch das Neutralitätsprinzip gewährleisteten inhaltlichen »Filter« weglässt, einen epistemischen Holismus übernimmt und damit prinzipiell erst einmal alle Argumente bzw. Gründe für eine mögliche Rechtfertigung politischer Maßnahmen zulässt, dann kann es eben auch Fälle geben, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt für legitim erklärt wird, auch wenn er mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von kontroversen und diskriminierenden Annahmen über Rasse, Geschlecht, Religion oder sexueller Orientierung abhängen. Mit anderen Worten: Eine solche »Liberalität« unterminiert sich selbst, weil sie diskriminierende und illiberale Argumente bzw. Gründe für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt für zulässig erklärt. Es bieten sich zwei unterschiedliche Strategien an, um einen derartigen Einwand zu entkräften. Eine Erste findet sich bei Sher 19: Er argumentiert, dass die Aufgabe des Neutralitätsprinzips und das AufEine nähere Definition und Analyse der Struktur derartiger Argumente bietet Douglas N. Walton, Informal Logic: A Pragmatic Approach (Cambridge: Cambridge University Press, 22008; 1989), 315–321. 19 Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 5. 18
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geben des Unterfangens, mittels eines inhaltlichen Kriteriums zwischen legitimen und illegitimen Gründen zu unterscheiden, nicht impliziert, dass auch aufgegeben wird, zwischen »guten« und »schlechten« Argumenten bzw. Gründen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung sei ausreichend, um diskriminierende und illiberale Argumente für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zu desavouieren. Wird der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt etwa mit rassistischen Argumenten gerechtfertigt, dann ist er nicht deshalb illegitim, weil er mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von Annahmen abhängig sind, die inhaltlich einer illegitimen Klasse von Urteilen zugehören. Ein derartiger Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt wird von Perfektionistischen Liberalen vielmehr deshalb als illegitim abgelehnt, weil die sexistischen oder rassistischen Argumente, mittels derer er öffentlich gerechtfertigt werden soll, schlecht sind und nicht zu überzeugen wissen. Derartige Argumente sind von Prämissen abhängig, die sich als falsch erwiesen haben oder als falsch erwiesen werden können. Die »Legitimität« einer politischen Maßnahme wird also nicht dadurch gewährleistet, dass diese Maßnahme ausschließlich mit Gründen gerechtfertigt wird, die einer Menge von Gründen zugehören, die es durch den »Filter« des Neutralitätsprinzips geschafft haben, sondern Legitimität kann eine politische Maßnahme beanspruchen, wenn sie mit guten Gründen gerechtfertigt worden ist. Umgekehrt gilt, dass eine politische Maßnahme als illegitim betrachtet werden kann, wenn die besten Argumente für ihre Begründung widerlegt werden können. 20 Vereinfacht ausgedrückt: Legitimität ist keine Vorbedingung politischer Deliberation, sondern deren Ergebnis. Kennzeichnend für Shers Strategie zur Entkräftung des anti-perfektionistischen Dammbrucharguments ist also, dass er die zentrale Prämisse des Arguments akzeptiert, die eben besagt, dass ein Perfektionistischer Liberaler mit der Ablehnung des Neutralitätsprinzips alle Argumente bzw. Gründe für den Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zulassen muss. Das ganze Gewicht von Shers Argumentation ruht dann auf der These, dass dieses Zugeständnis – anders als Politische Liberale behaupten – aber nicht fatal ist, weil sich eben im deliberativen Prozess z. B. rassistische oder sexistische Gründe als »schlechte« Gründe erweisen und damit keinen Einfluss nehmen auf eine Entscheidung darüber, 20
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Vgl. ibid.
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ob sich der fragliche Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich rechtfertigen lässt. Zugrunde liegt hier wohl ein großer Optimismus und ein Vertrauen in die selbstregulativen Kräfte eines freien und demokratischen Diskurses. Obwohl ich glaube, dass Sher Recht darin hat, dass bestimmte extreme und »schlechte« Argumente keine Chance in einer halbwegs funktionierenden und gebildeten demokratischen Öffentlichkeit haben, sehe ich den Schwachpunkt seiner argumentativen Strategie doch darin, dass er der Intuition nicht gerecht wird, dass Liberale auch aus prinzipiellen bzw. normativen Erwägungen heraus etwas gegen den Gebrauch von rassistischen oder sexistischen Argumenten bzw. Gründen im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung vorbringen sollten. Einfach darauf zu vertrauen, dass derartige Argumente sich nicht durchsetzen bzw. es ihnen an Überzeugungskraft mangelt, erscheint unbefriedigend, weil derartige Argumente bzw. Gründe in direktem Widerspruch zu liberalen Grundüberzeugungen (z. B. einer grundlegenden Freiheit und Gleichheit von Bürgern) stehen. In dieser Arbeit verfolge ich deshalb eine andere argumentative Strategie, die ich hier nur kurz skizzieren möchte, weil ich sie unten weiter entfalten werde (siehe insbesondere 7.3). Anders als Sher bestreite ich die Prämisse des Dammbrucharguments, wonach die Ablehnung des Neutralitätsprinzips einen Perfektionistischen Liberalen dazu zwingt, alle Argumente bzw. Gründe unabhängig von inhaltlichen Erwägungen für zulässig zu erklären. Auch ein Perfektionistischer Liberaler kann daran festhalten, dass z. B. rassistische oder sexistische Argumente bzw. Gründe aus der Menge von Gründen, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen können, ausgeschlossen werden sollen. Anders als Politische Liberale meinen, ist es dafür aber nicht nötig, ein Neutralitätsprinzip zu akzeptieren, sondern lediglich erforderlich, bestimmte liberale Grundüberzeugungen bzw. –werte zum unhintergehbaren normativen Ausgangspunkt allen Nachdenkens über die Legitimität des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zu erklären. Dies ermöglicht zum einen, den Ausschluss von sexistischen bzw. rassistischen Argumenten aus dem Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt zu begründen, ohne dadurch zum anderen zugleich jeglichen Bezug auf kontroverse perfektionistische Urteile unmöglich zu machen. Im Gegensatz zu Sher behaupte ich also, dass der sogenannte »Dammbruch« gar nicht stattfinden muss, um kontroversen perfektionistischen Urteilen Raum im Prozess der Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt zu Perfektionistischer Liberalismus
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schaffen, und im Gegensatz zu Politischen Liberalen argumentiere ich, dass es zur Verhinderung des besagten »Dammbruchs« nicht erforderlich ist, ein Neutralitätsprinzip zu akzeptieren, welches einen Bezug auf kontroverse perfektionistische Urteile zur Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt aus prinzipiellen Erwägungen heraus für unzulässig erklärt. Ein zweiter Einwand, den ein Politischer Liberaler gegen eine »moderate« Variante eines Perfektionistischen Liberalismus vorbringen kann, ist begrifflicher Natur und richtet sich direkt gegen die eingeführte Unterscheidung zwischen den Begriffen »umfassende Lehre« und »Konzeption eines guten Lebens«. Anders als Perfektionistische Liberale behaupten, macht es praktisch keinen Unterschied, welchen der beiden Begriffe man verwendet. Die begriffliche Unterscheidung ist aus folgendem Grund praktisch irrelevant: Wenn Argumente, die für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt vorgetragen werden, von Annahmen darüber ausgehen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, dann impliziert dies zugleich perfektionistische Urteile darüber, was ein schlechtes Leben ist und ausmacht, oder zumindest, was gut und weniger gut ist. Der entscheidende Punkt ist also, dass jedes perfektionistische Urteil menschliche Lebensweisen vergleicht, damit also ein Urteil über die Hierarchisierung von Gütern impliziert und in diesem Sinne »umfassend« ist. Nehmen wir als Beispiel die Besteuerung von Zigaretten. Wenn diese politische Maßnahme mit dem Argument gerechtfertigt wird, dass Rauchen der Gesundheit schadet, dann impliziert dies nicht nur das perfektionistische Urteil, dass ein Leben als Nicht-Raucher besser ist, als ein Leben als Raucher, sondern auch eine Güterhierarchisierung, die das Gut der Gesundheit jenem Gut vorordnet, das aus dem Genuss von Zigaretten resultiert. Die letztgenannte Hierarchisierung ist es gerade, die dem perfektionistischen Urteil Plausibilität verleiht, dass ein Leben als Nicht-Raucher besser ist. Es mag nicht so häufig vorkommen, es ist aber nicht völlig abwegig, sich Personen vorzustellen, die ein derartiges Argument für die Besteuerung von Zigaretten ablehnen, weil sie die dort implizierte Güterhierarchisierung ablehnen, nach dem Motto: Lieber ein kurzes und ungesundes Leben ohne Genussverzicht, als ein langes und gesundes Leben der Askese! Es ist also irreführend – so Politische Liberale – zwischen einer unplausiblen »extremen« und einer plausibleren »moderaten« Variante eines Perfektionistischen Liberalismus mittels der angeführten Unterscheidung zwischen den Begriffen »Konzeption eines guten Lebens« und 70
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»umfassende Lehre« zu differenzieren, weil sich Perfektionistische Liberale mit ihrem Rekurs auf eine Konzeption eines guten Lebens in ihren Argumenten für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zugleich immer auch auf eine umfassende Lehre berufen. Was kann ein Perfektionistischer Liberaler, der mit einer moderaten Variante sympathisiert, auf diesen Einwand erwidern? Mein »Pool«-Bild von oben aufgreifend, muss er die These verteidigen, dass der Staat sich einzelne perfektionistische Gründe oder Begründungen aus dem Pool von Argumenten bzw. Gründen herausfischen kann und sie für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt verwenden kann, ohne sich damit zugleich eine umfassende Lehre zu Eigen zu machen. Um zu demonstrieren, dass bzw. wie diese These verteidigt werden kann, greife ich in der Folge auf Überlegungen von Chan zurück. Laut Chan lassen sich drei Arten perfektionistischer Urteile unterscheiden: Zum einen gibt es perfektionistische Urteile, die sich auf Güter beziehen, die das gute Leben konstituieren (z. B. Tugenden eines Handlungsakteurs), zum andern gibt es Urteile, die etwas als externes Gut qualifizieren, d. h. als Gut oder Wert, der zur Realisierung eines guten Lebens beiträgt. Eine dritte Art von perfektionistischen Urteilen sind schließlich vergleichende Urteile über Lebensweisen, also über die Arten und Weisen, wie Menschen in ihrem Leben konstitutive und externe Güter priorisieren und realisieren. 21 Chans Argument ist nun, dass es für perfektionistische Urteile der dritten Art, die Lebensweisen vergleichen, nicht notwendig ist, eine umfassende Lehre zu vertreten. Für den Vergleich zwischen einzelnen Lebensweisen ist es lediglich notwendig, auf perfektionistische Urteile darüber zurückzugreifen, was konstitutive und externe Güter eines menschlichen Lebens darstellt, also eine »Konzeption eines guten Lebens« zu haben bzw. zu vertreten. Eine umfassende Lehre zu haben ist nur von Nöten, wenn man eine Entscheidung zwischen zwei Lebensweisen L und M treffen muss, die in etwa dieselbe Menge an Gütern realisieren. Dies ist aber z. B. in dem oben vorgetragenen Beispiel über das Rauchen nicht der Fall. Bei dem Urteil, dass Rauchen der Gesundheit schadet, handelt es sich um ein perfektionistisches Urteil darüber, dass Gesundheit ein menschliches Gut darstellt, dass es gut für Menschen ist, gesund zu sein. Wenn Rauchen der Gesund21
Vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 11, 14.
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heit schadet, dann ist es gut, nicht zu rauchen. Dies ist der perfektionistische Grund, der die politische Maßnahme rechtfertigt, die mit einer Verteuerung von Zigaretten darauf abzielt, Anreize zu schaffen, nicht zu rauchen. Damit ist also gezeigt, dass zumindest manche perfektionistische Urteile mit ihrem Verweis auf eine Konzeption eines guten Lebens nicht zugleich einen Bezug auf eine umfassende Lehre implizieren. Die begriffliche Unterscheidung zwischen den Termini »Konzeption eines guten Lebens« und »umfassende Lehre« ist eben doch praktisch relevant und eine »moderate« Variante eines Perfektionistischen Liberalismus bleibt eine Option. Ein Politischer Liberaler könnte meiner Ansicht nach in zwei Schritten auf einen solchen Entkräftungsversuch seines Einwands gegen die Viabilität eines moderaten Perfektionistischen Liberalismus reagieren. In einem ersten Schritt müsste er bestreiten, dass das fragliche perfektionistische Urteil – z. B. »Rauchen schadet der Gesundheit« – einfach nur Ausdruck einer Konzeption eines guten Lebens ist, die behauptet, dass Gesundheit ein Gut ist. Er müsste plausibel machen, dass mit dem perfektionistischen Urteil »Rauchen schadet der Gesundheit« zugleich über eine ganze Lebensweise geurteilt wird bzw. ein vergleichendes Werturteil zwischen den Lebensweisen von Rauchern und Nicht-Rauchern getroffen wird. Ich halte schon diesen ersten Schritt für nicht besonders erfolgsversprechend, denn ein Politischer Liberaler müsste plausibel machen, dass es sich bei der Tätigkeit des »Rauchens« wirklich um eine »Lebensweise« handelt. Nun kann man sich dies mit etwas Phantasie – man denke an Altkanzler Helmut Schmidt – noch irgendwie vorstellen. Absurd wird es dann aber, wenn »Nicht-Rauchen« zur Lebensweise erklärt wird, da viele Menschen sich vielleicht nie bewusst für ein Leben als Nicht-Raucher entschieden haben und die These ablehnen würden, dass ihr »NichtRauchen« einen zentralen Aspekt ihrer Konzeption eines guten Lebens ausmacht. Im Sinne des Arguments möchte ich jedoch einem passioniert rauchenden Politischen Liberalen zugestehen, dass Rauchen eine so zentrale Tätigkeit in seinem Leben sein kann, dass sie als Lebensweise in Betracht kommt, die eine bestimmte Hierarchisierung von konstitutiven und externen Gütern vornimmt. Des Weiteren möchte ich im Sinne des Arguments zugestehen, dass »NichtRauchen« als eine Lebensweise betrachtet werden kann, und deshalb im Urteil »Rauchen schadet der Gesundheit« zwischen zwei Lebensweisen verglichen wird. Mein Argument ist nun, dass selbst dann, wenn man Politischen 72
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Liberalen so weitreichende Zugeständnisse macht, ihr Einwand gegen die Viabilität einer moderaten Variante eines Perfektionistischen Liberalismus trotzdem nicht erfolgreich ist. Anders formuliert: Selbst wenn ein Politischer Liberaler einen moderaten Perfektionistischen Liberalen zu dem Zugeständnis zwingt, dass perfektionistische Urteile wie »Rauchen schadet der Gesundheit« immer auch ein vergleichendes perfektionistisches Urteil über Lebensweisen implizieren – in diesem Fall zwischen der Lebensweise eines Nichtrauchers (NR) und eines Rauchers (R) –, dann ist damit noch nicht gezeigt, dass damit auch notwendigerweise eine umfassende Lehre übernommen wird. Dies kann an folgender Überlegung plausibilisiert werden: Hinsichtlich des Vergleichs von (NR) und (R) kann ein moderater Perfektionistischer Liberaler argumentieren, dass er für diesen Vergleich keinen Bezug auf eine umfassende Lehre benötigt. Er kann argumentieren, dass hier nicht zwei Lebensweisen miteinander verglichen, die in etwa eine gleich große Menge an konstitutiven und externen Gütern realisieren, sondern vielmehr eine Lebensweise, die eine bestimmte Menge an Gütern realisiert (NR) mit einer Lebensweise (R) verglichen wird, die deutlich weniger oder vielleicht sogar gar keine Güter realisiert, die konstitutiv für ein gutes Leben sind oder instrumental nützlich, um ein gutes Leben zu realisieren. In Bezug auf (R) kann erstens angezweifelt werden, dass das Erleben eines Genusses oder einer Lust, die nachweislich schädlich ist, ein Gut darstellt. Doch selbst dann, wenn man dies zugestehen würde, dürfte klar sein, dass Lebensweise (R), die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Krankheit und einem verkürzten Leben führt, mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich weniger Güter realisiert, als Lebensweise (NR). Denn es dürfte unstrittig sein, dass Gesundheit nicht nur ein Gut ist, das konstitutiv für ein gutes menschliches Leben ist, sondern als externes Gut auch eine notwendige Bedingung für die Realisierung vieler anderer menschlicher Güter darstellt. Gezeigt ist somit, dass selbst wenn alle perfektionistischen Urteile immer auch einen Vergleich zwischen verschiedenen Lebensweisen implizieren, dies nicht in allen Fällen bedeutet, dass dies notwendigerweise auch einen Bezug auf eine umfassende Lehre impliziert. Somit ist auch der zweite Einwand Politischer Liberaler gegen die These der Viabilität einer moderaten Variante eines Perfektionistischen Liberalismus zurückgewiesen worden. Was in Fällen geschieht, in denen ein perfektionistisches Urteil einen Vergleich zweier Lebensweisen impliziert, die jeweils eine nahezu identische Menge an menschlichen Gütern realisieren, bedarf Perfektionistischer Liberalismus
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einer eigenen Erörterung, die ich an dieser Stelle aber nicht weiter auszuführen brauche. In gewisser Weise »entschärft« sich dieses Problem durch die von mir weiter unten vorgestellte »Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung« (siehe Kapitel 7). An diesem Punkt der Arbeit kommt es mir lediglich darauf an demonstriert zu haben, dass ein Rückgriff auf perfektionistische Urteile bei der Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt einen Perfektionistischen Liberalen nicht notwendigerweise auf die Übernahme einer umfassenden Lehre verpflichtet und ihm damit auch nicht notwendigerweise abverlangt, ein Urteil darüber zu treffen, welche wertvolle Lebensweise man aus einer Menge an wertvollen Lebensweisen als die Beste bevorzugt. Diese Erkenntnis ist für die Verteidigung meiner Hauptthese, dass es sich bei einem Perfektionistischen Liberalismus um eine kohärente und attraktive Alternative zu einem Politischen Liberalismus handelt, von besonderer Wichtigkeit, denn ein moderater Perfektionistischer Liberalismus ist wesentlich einfacher zu verteidigen als eine extreme Variante eines Perfektionistischen Liberalismus. Moderaten Perfektionistischen Liberalen genügt es, wenn sie in ihren Argumenten für die Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt auf perfektionistische Urteile darüber rekurrieren dürfen, was menschliche Güter sind, und von diesen her vergleichende Urteile zwischen Lebensweisen treffen dürfen, die eine Fülle dieser Güter realisieren, und Lebensweisen, die derartige Güter kaum oder gar nicht realisieren. Anders formuliert: Den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten zu rechtfertigen, die von vergleichenden Urteilen über den Wert von Lebensweisen abhängig sind, impliziert nicht notwendigerweise, dass ein Staat damit eine umfassende Lehre übernehmen muss, die ein vergleichendes Urteil zwischen in etwa gleich wertvollen Lebensweisen erlaubt. Es impliziert lediglich, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten gerechtfertigt werden darf, die Lebensweisen auf der Grundlage von Urteilen darüber miteinander vergleichen, was konstitutive und externe menschliche Güter sind, und inwieweit die zu vergleichenden Lebensweisen eine Menge dieser Güter realisieren oder nicht. 22 Als Ergebnis dieses Unterabschnitts können wir also Folgendes festhalten: In der sogenannten Neutralitätsdebatte zwischen Politischen und Perfektionistischen Liberalen muss zwischen der unplausiblen Variante eines »extremen« Perfektionistischen Liberalismus und 22
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Vgl. ibid., 12–14.
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der plausiblen Variante eines »moderaten« Perfektionistischen Liberalismus unterschieden werden. Ein extremer Perfektionistischer Liberalismus verteidigt die These, dass die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt mittels Argumenten, die mit kontroversen Annahmen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, die Übernahme einer umfassenden Lehre erfordert, die – ausgehend von einer objektiv vorgegebenen Hierarchisierung von konstitutiven und externen Gütern – Lebensweisen in einem globalkomparativen Sinne miteinander vergleichen und bewerten kann. Ein moderater Perfektionistischer Liberaler hingegen bescheidet sich mit der Verteidigung der weitaus schwächeren These, dass es für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt mittels Argumenten, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, nicht erforderlich ist, über eine solch systematische Ordnungsvorstellung zu verfügen, sondern es für lokal-vergleichende perfektionistische Urteile über und zwischen Lebensweisen ausreicht, wenn man sich auf eine Konzeption eines guten Lebens bezieht, also auf Urteile über konstitutive und externe menschliche Güter. Wiederum die Metapher des »Pools« aufgreifend, bedeutet dies: Wenn der Staat aus einem Pool von Gründen perfektionistische Gründe herausfischt, weil ihm diese als gute Gründe für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt erscheinen, dann impliziert dies laut einem moderaten Perfektionistischen Liberalismus eben nicht notwendigerweise, dass er damit automatisch eine umfassende Lehre vertritt, sondern lediglich, dass er sich eine Konzeption eines guten Lebens zu Eigen macht. 2.1.1.3 Die zentrale Bedeutung des Asymmetrievorwurfs Nach den begrifflichen Vorklärungen in den beiden vorangehenden Unterabschnitten möchte ich nun meine These verteidigen, dass dem sogenannten »Asymmetrievorwurf« eine zentrale Stellung in der Neutralitätsdebatte zukommt. Dies scheint zwischen Politischen und Perfektionistischen Liberalen zunächst einmal gar nicht strittig, denn auch Autoren wie Steven Lecce oder Jonathan Quong erkennen durch ihre explizite und umfassende Auseinandersetzung mit diesem Argument dessen Relevanz und Bedeutung für die Neutralitätsdebatte an. 23 Ich möchte mich jedoch mit diesem faktischen Hinweis nicht 23 Vgl. Lecce, Against Perfectionism, 162–182, 201–225; Quong, Liberalism without Perfection, 6–7, 192–220.
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begnügen, sondern im Folgenden in einer systematischen Weise begründen, warum die Frage, ob der Asymmetrievorwurf verteidigt oder entkräftet werden kann, von entscheidender Bedeutung für die Beantwortung der Frage ist, ob man einen Perfektionistischen Liberalismus der Position eines Politischen Liberalismus vorziehen sollte. 24 Der Asymmetrievorwurf ist deshalb so zentral und in gewisser Weise für Politische Liberale so unabwendbar, weil er sich strukturell aus dem Neutralitätsprinzip selbst ergibt bzw. ableitet. Vertreter eines Anti-Perfektionistischen Liberalismus behaupten, dass Liberale mit dem Neutralitätsprinzip zur Akzeptanz eines Prinzips zweiter Ordnung verpflichtet sind, welches bestimmt, welche Argumente bzw. Gründe erster Ordnung zur Menge der Gründe gehören, die im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt eine Rolle spielen dürfen. Es kann eben keine Fälle geben, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, der nur mit Argumenten gerechtfertigt wird, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, weil derartige Argumente – gemäß dem Neutralitätsprinzip – nicht zur Menge der Gründe gehören, die im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung berücksichtigt werden dürfen. Daraus ergibt sich für Politische Liberale aber die Verpflichtung, ein klares Demarkationskriterium anzugeben, anhand dessen nachvollziehbar ist, welche Argumente bzw. Gründe erster Ordnung zur Menge der Gründe gehören, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen können, und welche Argumente nicht. Der Asymmetrievorwurf lautet nun, dass es Politischen Liberalen nicht gelingt, ein solches Demarkationskriterium zu benennen. Entweder ist dieses Kriterium zu restriktiv, so dass damit auch normative Überzeugungen und Überlegungen für unzulässig erklärt werden, auf die Politische Liberale im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt nicht verzichten wollen, oder aber es ist zu permissiv, so dass ein Bezug auf manche kontroversen Konzeptionen eines guten Lebens zulässig bleibt. Ich möchte nun so vorgehen, dass ich in einem ersten Schritt drei Klassen von Argumenten vorstelle, die in der Neutralitätsdebatte Eine ähnliche argumentative Strategie verfolgt Christine Bratu in ihrer jüngst erschienenen Dissertation, Christine Bratu, Die Grenzen staatlicher Legitimität – Eine philosophische Untersuchung zum Verhältnis von Liberalismus und Perfektionismus (Münster: Mentis, 2014), 159–210.
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von Politischen Liberalen vorgebracht werden, um die Notwendigkeit einer Akzeptanz des Neutralitätsprinzips zu begründen. Verbunden mit der Klassifikation werde ich zudem demonstrieren, dass sich hinter jeder Klasse von Argumenten ein unterschiedliches Demarkationskriterium verbirgt. In einem zweiten Schritt argumentiere ich dann dafür, dass alle diese Argumente und Demkarkationskriterien mit dem Asymmetrievorwurf gekontert werden können und Vertreter eines Politischen Liberalismus in empfindliche Schwierigkeiten bringen. Eine erste Klasse von Argumenten, die Politische Liberale vorbringen, um zu begründen, warum es ein Neutralitätsprinzip notwendigerweise braucht, kann als »pragmatisch« bezeichnet werden. 25 Die motivierende Grundintuition hinter derartigen Argumenten kann folgendermaßen umschrieben werden: Unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus an Wert- und Gütervorstellungen ist ein friedvolles und geregeltes Zusammenleben nur möglich, wenn die Mitglieder einer solchen Gesellschaft für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt nur auf Argumente zurückgreifen, die entweder unabhängig von Annahmen darüber sind, was ein menschliches Leben gut bzw. wertvoll macht, oder aber abhängig sind von geteilten bzw. unkontroversen Annahmen darüber, was ein gutes menschliches Leben ist und ausmacht. Rechtfertigen die Mitglieder einer solchen pluralen Gesellschaft den Gebrauch der staatlichen Zwangsgewalt mit Argumenten, die von kontroversen Urteilen darüber abhängen, was ein menschliches Leben gut oder wertvoll macht, dann führt dies notwendigerweise zu Konflikten, die die Möglichkeit einer sozialen Kooperation, die Stabilität und das friedliche Zusammenleben in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft bedrohen. Für die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzip, welches die Legitimität von politischen Maßnahmen davon abhängig macht, ob diese mit Argumenten gerechtfertigt werden, die unabhängig sind von kontroversen Annahmen darüber, was ein gutes Leben ist oder ausmacht, sprechen demnach pragmatische Gründe. Wird ein solches anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip zweiter Ordnung nicht von allen akzeptiert, die sich in einer solchen Gesellschaft an politischen Deliberationen über den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt beteiDie Idee einer solchen Klassifikation habe ich von Sher übernommen, der zudem noch zwischen verschiedenen Neutralitätsprinzipien unterscheidet, vgl. Sher, Beyond Neutrality, 20–44.
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ligen, dann wird ein friedliches und stabiles Zusammenleben unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus unmöglich. 26 Das sich hinter dieser pragmatischen Argumentation verbergende Demarkationskriterium ist offensichtlich soziologischer Natur. Ein Neutralitätsprinzip soll all jene Argumente bzw. Gründe aus dem Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ausschließen, die mit Prämissen arbeiten, die in einem soziologischen Sinne kontrovers sind. Eine zweite Klasse von Argumenten, die für die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips vorgebracht werden, ist skeptischer Natur. 27 Die motivierende Grundintuition ist diesmal, dass der Gebrauch politischer Zwangsgewalt nicht mit Argumenten gerechtfertigt werden sollte, die mit Urteilen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, weil der Wahrheitswert derartiger Urteile nicht bestimmbar ist. Der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt kann nicht legitim sein, wenn seine Rechtfertigung von Überzeugungen abhängt, deren Wahrheitswert für uns unerkennbar ist. Dies würde zum einen zu einer rational nicht auflösbaren Uneinigkeit hinsichtlich der Legitimität politischer Maßnahmen führen und zum anderen ermöglichen, dass äußerst fragwürdigen »mystischen« oder sonstigen obskuren Überzeugungen eine legitimatorische Rolle im politischen Diskurs zuerkannt wird. Ein Neutralitätsprinzip hat demnach die Aufgabe, Argumente von einer Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt auszuschließen, die von Überzeugungen abhängen, deren Wahrheitswert epistemologisch unzugänglich ist und denen gegenüber deshalb eine berechtigte Skepsis angebracht ist. Das einem derart begründeten Neutralitätsprinzip zu Grunde liegende Demarkationskriterium ist in diesem Fall epistemologischer Natur. Das Neutralitätsprinzip sortiert demnach Argumente aus dem Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt aus, die mit epistemologisch fragwürdigen Annahmen operieren. Drittens und letztens können Argumente für die Akzeptanz So argumentieren z. B. Larmore, Patterns of Moral Complexity, 47; John Rawls, »Justice as Fairness: Political not Metaphysical«, Philosophy and Public Affairs 14, no. 3 (1985): 223. 27 Als typische Vertreter einer solchen Argumentationslinie können angeführt werden: Ackerman, Social Justice; Barry, Justice as Impartiality. Eine detaillierte und überzeugende Kritik an einer derartigen Strategie findet sich bei Sher, Beyond Neutrality, 140–155; Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 91–100. 26
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eines Neutralitätsprinzips identifiziert werden, die moralischer Natur sind. 28 Derartige Argumente versuchen einer Intuition gerecht zu werden, die folgendermaßen umrissen werden kann: Der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt kann nicht legitim sein, wenn er mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, weil derartige Argumente den moralischen Status von Menschen als freie, gleiche und autonome Personen nicht respektieren. Genau dies soll das Neutralitätsprinzip verhindern. Als anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip zweiter Ordnung soll es gewährleisten, dass der mit dem Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt verbundene Eingriff in die Autonomie von Bürgern nur dann legitim ist, wenn er mit Überlegungen gerechtfertigt werden kann, die die Betroffenen aus ihrer epistemischen Perspektive nachvollziehen können. Daraus folgt, dass es niemals Fälle geben kann, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt wird, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, weil Bürgern mit divergierenden Konzeptionen eines guten Lebens damit keine Gründe genannt werden, warum sie aus ihrer epistemischen Perspektive einem Eingriff in ihre Autonomie zustimmen sollten. Sollte eine politische Maßnahme trotzdem durchgesetzt werden und nur mit derartigen Gründen gerechtfertigt werden, können diese Bürger den berechtigten Einwand gegen die Legitimität eines derartigen Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt vorbringen, dass dieser sie nicht ihrem moralischen Status gemäß als freie, gleiche und autonome Personen behandelt. Das hinter einem derart begründeten Neutralitätsprinzip stehende Demarkationskriterium ist moralischer Natur. Zur Menge derjenigen Argumente bzw. Gründe, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen können, gehören nur diejenigen Argumente bzw. Gründe, die als Gründe aus der epistemischen Perspektive jedes vernünftigen Bürgers anerkannt werden können. Gemäß einem moralischen Demarkationskriterium werden Argumente, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, eben aus der Menge von Argumenten ausgeschlossen, die im Prozess der öfAls exemplarische Vertreter einer solchen Argumentationslinie können genannt werden: Gaus, Justificatory Liberalism; The Order of Public Reason: A Theory of Freedom and Morality in a Diverse and Bounded World (Cambridge: Cambridge University Press, 2011); Rawls, Political Liberalism; Theory of Justice.
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fentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt vorgebracht werden dürfen, weil derartige Argumente manche Bürger nicht in ihrem moralischen Status als freie und gleiche Personen respektieren. Bevor ich in einem zweiten Schritt belege, dass alle drei Klassen von Argumenten mit ihren unterschiedlichen Demarkationskriterien für eine Variante des Asymmetrievorwurfs anfällig sind, möchte ich kurz eine Beobachtung festhalten, die für die Beurteilung der Neutralitätsdebatte relevant, aber oft nicht klar formuliert ist. Die oben skizzierte Klassifizierung von möglichen Argumenten für das Neutralitätsprinzip macht deutlich, dass es Perfektionistische Liberale nicht mit einer geschlossenen anti-perfektionistischen Front zu tun haben, sondern sich das Lager Politischer Liberaler in mindestens drei Fraktionen aufteilt, die aber nur bedingt miteinander koalitionsfähig sind. Dies ist argumentationstheoretisch interessant und relevant, weil dies bedeutet, dass Politische Liberale nicht alle Argumente, die möglicherweise für die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips sprechen, zugleich vertreten können. Dies ist nicht möglich, weil die den entsprechenden Argumenten zu Grunde liegenden Demarkationskriterien nicht miteinander kompatibel sind. Ich möchte nur ein Beispiel nennen, um diesen Punkt zu illustrieren: Eine friedliche und stabile soziale Kooperation in einer Gesellschaft zu erreichen, in der es eine Vielzahl von miteinander inkompatiblen religiösen Weltanschauungen gibt, ist nur wahrscheinlich, wenn deutlich gemacht werden kann, dass die dafür erforderliche Gerechtigkeitskonzeption nicht erfordert, einen prinzipiellen Skeptizismus gegenüber religiösen Glaubensüberzeugungen einzunehmen. Anderenfalls würden Bürger mit religiösen commitments vor die Wahl gestellt, entweder an der Wahrheit ihrer religiösen Überzeugungen festzuhalten, oder in eine friedliche und stabile soziale Kooperation einzuwilligen. Autoren wie Rawls bemühen sich z. B. sehr darum, den Eindruck zu vermeiden, dass die Akzeptanz eines Politischen Liberalismus nur zum Preis eines epistemischen Skeptizismus gegenüber den Wahrheitsansprüchen der eigenen religiösen Überzeugungen zu haben ist. 29 Einem Politischen Liberalen, der vornehmlich pragmatische Argumente – wie z. B. Stabilitätserwägungen – vorträgt, um die Notwendigkeit der Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips zu begründen, stehen demnach nicht zugleich auch skepti29
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Vgl. Political Liberalism, 62–63.
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sche Argumente für dieses Unterfangen zur Verfügung. Dies bedeutet, dass in der Erörterung der Frage, ob ein Perfektionistischer Liberalismus eine in sich kohärente und attraktive Alternative zu einem Politischen Liberalismus darstellen kann, berücksichtigt werden muss, mit welcher Variante eines Politischen Liberalismus er kontrastiert wird. Dass ich mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgelegt habe, welche Version eines Politischen Liberalismus ich als die derzeit beste Variante eines Politischen Liberalismus betrachte, ist nicht weiter tragisch, da ich nun in einem zweiten Schritt zeigen möchte, dass es egal ist, auf welche Klasse von Argumenten bzw. Demarkationskriterien ein Politischer Liberaler rekurriert, weil sie sich alle als anfällig für den Asymmetrievorwurf erweisen. Rein formal gesehen läuft der Asymmetrievorwurf immer darauf hinaus, die Position eines Politischen Liberalismus in folgendes Dilemma zu bringen: Entweder ist das von ihnen gebrauchte Demarkationskriterium zu restriktiv, so dass damit auch normative Überzeugungen und Überlegungen für unzulässig erklärt werden, auf die Politische Liberale im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt nicht verzichten wollen, oder aber es ist zu permissiv, so dass ein Bezug auf manche kontroversen Konzeptionen eines guten Lebens zulässig bleibt. Anders formuliert: Entweder werden Argumente bzw. Gründe aus der Menge von Gründen ausgeschlossen, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen können, auf die ein Politischer Liberaler nicht verzichten will bzw. kann, oder aber es können nicht erfolgreich alle kontroversen perfektionistischen Argumente aus dem Prozess der öffentlichen Rechtfertigung eliminiert werden. Ich möchte zunächst die Klasse pragmatischer Argumente für ein Neutralitätsprinzip und das sich hinter ihnen verbergende soziologische Demarkationskriterium einer kritischen Betrachtung unterziehen. Gemäß einem solchen Demarkationskriterium hat das Neutralitätsprinzip die Aufgabe, all jene Argumente bzw. Gründe aus dem Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt herauszufiltern, die mit Prämissen arbeiten, die in einem soziologischen Sinne kontrovers sind. Auf den ersten Blick scheint dies gut zu funktionieren: Der Gebrauch von Argumenten, die von kontroversen Prämissen zu den Themen »Gesundheit«, »Sicherheit«, »Freiheit« oder »Gerechtigkeit« abhängen, ist zulässig, hingegen ist die Verwendung von Argumenten, die mit kontroversen Prämissen zu den Themen »Religion« oder »Sexualität« operieren, Perfektionistischer Liberalismus
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nicht zulässig. Mit einem soziologischen Demarkationskriterium scheinen also unter dem Begriff »kontroverse Konzeption eines guten Lebens« all jene Überzeugungen subsumiert werden zu können, die geeignet sind, ein friedliches und stabiles soziales Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft zu verunmöglichen, wenn auf sie referiert wird, um den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt zu rechtfertigen. Mittels des Asymmetrievorwurfs können nun zwei schwerwiegende Probleme eines Neutralitätsprinzips, welches sich auf ein soziologisches Demarkationskriterium beruft, identifiziert werden. Perfektionistische Liberale können gegenüber Politischen Liberalen erstens geltend machen, dass dieses zu restriktiv ist. Es sind eben nicht nur Argumente, die auf kontroverse Überzeugungen zu den Themen »Sexualität« oder »Religion« rekurrieren, also Themen, die man intuitiv unter dem Begriff »Konzeption eines guten Lebens« subsumiert, sondern auch Argumente, die von kontroversen Überzeugungen zu den Themen »Freiheit«, »Gesundheit«, »Sicherheit« und »Gerechtigkeit« abhängen, die als Argumente für unzulässig erklärt werden. Als Beispiele können hier die Kontroversen zwischen Egalitaristen und Libertariern (Gerechtigkeit), die regelmäßigen Debatten in Amerika über den Umfang des Freiheitsrechts zum Waffenbesitz (Sicherheit) und der erbitterte Konflikt um eine verpflichtende staatliche Krankenversicherung (Gesundheit) erwähnt werden. Auch wenn es hier schwierig ist, ohne verlässliches empirisches Material eine gute Einschätzung vorzunehmen, so dürfte doch plausibel sein, dass manche dieser Themen ein Konfliktpotential in sich bergen, das eine friedliche, stabile und dauerhafte Kooperation gefährden kann. Gemäß des Asymmetrievorwurfs würde dies aber bedeuten, dass ein Politischer Liberaler mittels eines soziologischen Demarkationskriteriums nicht nur Argumente für unzulässig erklärt, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, sondern zur Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt auch von Argumenten absehen muss, die mit kontroversen Überzeugungen zu den Themen »Gerechtigkeit«, »Freiheit«, »Sicherheit« oder »Gesundheit« arbeiten. Das Neutralitätsprinzip ist also weitaus restriktiver als es vielen Politischen Liberalen lieb ist. 30 Ein zweites Problem ist noch gravierender, denn ein soziologiUnter anderem scheinen allerdings Larmore als auch Gaus – allerdings in unterschiedlichem Maße – bereit, diese Konsequenz zu akzeptieren, vgl. Gerald F. Gaus, »Liberal Neutrality: A Compelling and Radical Principle«, in Perfectionism and Neu-
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sches Demarkationskriterium ist in vielen Fällen nicht nur zu restriktiv, sondern in einigen Fällen auch zu permissiv. Als Beispiele können hier das in Deutschland jüngst bestätigte Inzestverbot, das Verbot von Polygamie, die staatliche Förderung von Kunst, Kultur und Sport oder die Kirchensteuer genannt werden. Überzeugungen zu diesen Themen sind in einem soziologischen Sinne fast gar nicht kontrovers (z. B. Inzest, Polygamie, staatliche Förderung von Kunst, Kultur, Sport) oder doch nicht so kontrovers, dass sie in einem pragmatischen Sinne eine friedliche, stabile und dauerhafte soziale Kooperation verunmöglichen (z. B. Kirchensteuer). Politische Liberale, die pragmatisch argumentieren, müssten also zugestehen, dass Argumente, die mit kontroversen Prämissen zu den Themen »Inzest«, »Polygamie« oder »Kunst und Kultur« operieren, weiterhin vorgebracht werden dürfen, um den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt zu rechtfertigen. Das eigentlich tieferliegende Problem eines soziologischen Demarkationskriteriums wird aber an der Aufzählung der Beispiele deutlich, denn es offenbart, dass ein Neutralitätsprinzip nicht auf einer normativen, sondern auf einer kontingenten Basis definiert, welche Argumente für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt vorgebracht werden dürfen. Zugespitzt formuliert: Die Argumente, die gemäß einem soziologischen Demarkationskriteriums zur Menge der Argumente gehören, die im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt eine Rolle spielen können und dürfen, reflektiert den gesellschaftlichen Status quo und die dort vorhandenen Mehrheitsverhältnisse. Dies hat zur problematischen Konsequenz, dass die Frage, welche Argumente den Gebrauch von Macht rechtfertigen können, selbst zur Machtfrage wird, und eine kritische Distanz zum faktischen Status quo verloren geht. Die geschilderten zwei Probleme belegen, dass der Asymmetrievorwurf erfolgreich gegen pragmatische Argumente für eine Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips und eines soziologischen Demarkationskriteriums vorgebracht werden kann. Politische Liberale, die ein soziologisches Demarkationskriterium vertreten, müssten zum einen akzeptieren, dass dieses viel restriktiver ist, als sie wollen, und ihnen untersagt, auf Argumente zur Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zurückzugreifen, die mit Überzeugungen trality: Essays in Liberal Theory. Steven Wall und George Klosko (Hg.) (Oxford: Rowman & Littlefield, 2003), 156–162; Larmore, Patterns of Moral Complexity, 47. Perfektionistischer Liberalismus
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zu den Themen »Gerechtigkeit«, »Gesundheit«, »Freiheit« oder »Sicherheit« operieren, die geeignet sind, eine friedliche und stabile soziale Kooperation zu gefährden. Zum anderen ist ihr Neutralitätsprinzip aber auch zu permissiv, denn es lässt Argumente für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zu, deren kontroverse Prämissen über Fragen des guten Lebens von einer kontingenten gesellschaftlichen Mehrheit akzeptiert werden. Skeptischen Argumenten für ein anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip zweiter Ordnung ergeht es nicht besser. 31 Wie ich oben ausgeführt habe, lässt sich hinter diesen Argumenten ein epistemologisches Demarkationskriterium identifizieren. Ein derartiges Kriterium soll garantieren, dass das Neutralitätsprinzip Argumente aus dem Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt aussortiert, die mit epistemologisch fragwürdigen Annahmen operieren. Der Unterschied zwischen Argumenten, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was gerecht ist, und Argumenten, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, ist epistemologischer Natur. Der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt ist nur dann legitim, wenn er mit Argumenten gerechtfertigt wird, bei denen der Wahrheitswert ihrer Prämissen uns epistemologisch zugänglich ist. Der Unterschied zwischen Prämissen über kontroverse Gerechtigkeitskonzeptionen und Prämissen über kontroverse Konzeptionen eines guten Lebens besteht darin, dass sie aufgrund ihres unterschiedlichen epistemologischen Status zu zwei unterschiedlichen Formen rationaler Uneinigkeit führen. Im Gegensatz zu Konflikten über verschiedene Gerechtigkeitskonzeptionen handelt es sich bei Konflikten über Fragen des guten Lebens um Konflikte, die letztlich in persönlichen Standpunkten gründen. 32 Der Vorteil eines epistemologischen Demarkationskriteriums gegenüber einem soziologischen liegt auf der Hand. Ob Argumente für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zulässig sind oder nicht, wird nicht von kontingenten Fakten darüber abhängig gemacht, welche Überzeugungen in einer Gesellschaft sich einer hohen Akzeptanz oder Ablehnung erfreuen. Vielmehr wird ein Im Folgenden greife ich einige Überlegungen von Shers Auseinandersetzung mit skeptischen Argumenten auf, konstruiere sie aber zu einem neuen bzw. eigenständigen Argument, vgl. Sher, Beyond Neutrality, 39–41. 32 Vgl. ibid., 44. 31
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inhaltliches Unterscheidungskriterium für Überzeugungen formuliert, das von soziologischen Mehrheitsverhältnissen unabhängig ist. Gemäß diesem inhaltlichen bzw. epistemologischen Demarkationskriteriums geht die Argumentation wie folgt: Argumente, die mit kontroversen Prämissen über die Themen »Sexualität«, »Religion« oder allgemein über das Thema des guten Lebens operieren, dürfen im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt keine Rolle spielen, weil es sich hier um normative Fragen handelt, deren eindeutige Beantwortung Menschen in einem prinzipiellen Sinne epistemologisch unmöglich ist. Argumente hingegen, die mit kontroversen Prämissen über die Themen »Freiheit«, »Sicherheit«, »Gesundheit« oder allgemein über das Thema »Gerechtigkeit« operieren, dürfen eine Rolle im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt spielen, weil es sich hier um normative Fragen handelt, deren eindeutige Beantwortung Menschen lediglich derzeit epistemologisch nicht möglich ist. Für die Legitimität staatlichen Handelns bedeutet dies das Folgende: Wird der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten gerechtfertigt, die von kontroversen Prämissen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, dann können Bürger, die die entsprechende Konzeption eines guten Lebens vernünftigerweise ablehnen, geltend machen, dass sich hier lediglich ein persönlicher Wahrheits- bzw. Wissensanspruch durchsetzt, der aber nicht weiter begründet werden kann. Die Rechtfertigung politischer Zwangsgewalt wäre nichts anderes, als zu sagen: »Hier steh’ ich nun und kann nicht anders!«. Im Gegensatz dazu darf der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten gerechtfertigt werden, die auf kontroverse Gerechtigkeitskonzeptionen rekurrieren, weil hier eine Lösung eines möglichen Dissenses auf einer objektivierbaren Sachebene offen steht und nicht zwangsläufig bei persönlichen Standpunkten enden muss. 33 Eine derartige skeptische Argumentationsstrategie für ein Neutralitätsprinzip und das dahinterstehende epistemologische Demarkationskriterium ist aber wiederum durch den Asymmetrievorwuf angreifbar. Perfektionistische Liberale können erstens anführen, dass es zu restriktiv ist. Beruft sich ein Politischer Liberaler wie Barry oder Thomas Nagel vertritt in ähnlicher Weise eine solche argumentative Strategie, vgl. Thomas Nagel, »Moral Conflict and Political Legitimacy«, Philosophy and Public Affairs 16, no. 3 (1987): 231–233.
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Nagel auf skeptische Überlegungen, dann stellt sich die Frage, warum sich diese Skepsis nur auf ein Wissen um Fragen des guten Lebens beziehen soll, nicht aber generell auch auf moralisches Wissen, ein Wissen um Werte und auch ein Wissen um Gerechtigkeitsfragen. Perfektionistische Liberale wie Sher und Wall haben überzeugend dargelegt, dass es Autoren wie Barry nicht gelingt, ihren Skeptizismus hier auf Fragen des guten Lebens zu begrenzen. 34 Sobald man aber den Skeptizismus derart einschränkt, dass moralisches Wissen bzw. ein Wissen um Gerechtigkeitsfragen möglich ist, wird – so der Asymmetrievorwurf – das epistemologische Demarkationskriterium zu permissiv, weil dann auch ein Wissen um Fragen des guten Lebens nicht mehr gänzlich unmöglich ist bzw. genauso möglich ist, wie ein Wissen um moralische Fragen oder Werte. Zweitens weiß auch eine skeptische Argumentationsstrategie wie sie Nagel vertritt nicht zu überzeugen. Wie oben skizziert, unterscheidet Nagel zwischen zwei Formen rationaler Uneinigkeit. Bei Fragen des guten Lebens ist die Uneinigkeit permanent und prinzipiell unauflösbar, weil sie letztlich in persönlichen Standpunkten gründet. Bei Gerechtigkeitsfragen ist die Uneinigkeit lediglich temporär und prinzipiell auflösbar, weil der Konflikt hier nicht in persönlichen Standpunkten, sondern in objektivierbaren Sachkonflikten gründet. Das Problem einer derartigen Argumentationsstrategie ist zunächst wiederum, dass sie viel zu restriktiv ist. Denn worin gründet sich z. B. genau die Hoffnung, dass die rationale Uneinigkeit bezüglich einer Konzeption von Gerechtigkeit in einem prinzipiellen Sinne lösbar ist, wenn der Streit um den Gerechtigkeitsbegriff so alt wie die Philosophiegeschichte selbst ist? Hält man angesichts dieser langen Geschichte rationaler Uneinigkeit daran fest, dass Gerechtigkeitsfragen keine Fragen des persönlichen Geschmacks sind, sondern eine Antwort auf sie möglich ist, deren Wahrheitswert uns prinzipiell zugänglich ist, warum sollte dies für Fragen des guten Lebens nicht gelten? Um diese Konsequenz zu verhindern, könnte ein Politischer Liberaler auf eine Art von empirischer Evidenz verweisen: Es ist eben empirisch evident, dass Uneinigkeiten über Themen wie »Sexualität«, »Religion« oder allgemein über »Fragen des guten Lebens« sehr viel wahrscheinlicher nicht auflösbar sind (weil sie in rational nicht mehr hinterfragbaren persönlichen Standpunkten oder TemperamenVgl. Sher, Beyond Neutrality, 140–155; Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 91–100.
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ten gründen) als Uneinigkeiten über Gerechtigkeitsfragen (die sehr viel wahrscheinlicher aus sachlich bzw. objektiv unterschiedlich bewertbaren Faktoren des debattierten Gegenstands resultieren). Gegen diesen Gedankengang kann aber folgendes – im Wesentlichen von Sher entwickeltes – Gegenargument vorgebracht werden 35: Erstens kann die Wahrheit der empirischen Prämisse der Argumentation angezweifelt werden. Ist es nicht mindestens ebenso häufig, dass sich Konflikte über Themen wie »Sicherheit«, »Freiheit«, »Gesundheit« oder »Gerechtigkeit« und insbesondere deren Unlösbarkeit auf persönliche Temperamente, Standpunkte oder Interessen zurückführen lassen? Ich denke hier etwa an die hitzigen Debatten der letzten Jahre um die Ursachen der Klimaveränderung oder die sogenannte »Obama-Care« in den USA, bei denen man nicht immer unbedingt den Eindruck hat, dass die rationale Uneinigkeit in objektivierbaren Sachfragen begründet ist. Gewichtiger als diese empirische bzw. probabilistische Entgegnung ist aber Shers Einwand prinzipieller Art, der besagt, dass Nagels Argument falsch konstruiert ist. Worin eine rationale Uneinigkeit gründet, hängt weniger vom Thema bzw. Inhalt ab, sondern mehr von der Einstellung der beteiligten Diskussionsteilnehmer, also davon, ob diese bereit sind, sich in ihrem Urteil von den erkennbaren Tatsachen über den Erkenntnisgegenstand leiten zu lassen, oder ob sie dies nicht sind und eher geneigt sind, sich von subjektiven Einstellungen oder persönlichen Sichtweisen bestimmen zu lassen. 36 Ob es zu rationalen Uneinigkeiten kommt, die in einem prinzipiellen Sinne nicht lösbar sind, weil sie in rational nicht mehr begründbaren subjektiven Präferenzen oder Einstellungen gründen, oder zu rationalen Uneinigkeiten, die vielleicht derzeit unlösbar sind, aber bei denen eine prinzipielle Lösung vielleicht in der Zukunft möglich ist, weil sie in objektivierbaren Sachkonflikten über den debattierten Gegenstand begründet sind, hängt somit nicht davon ab, welcher Inhalt diskutiert wird, sondern vielmehr davon, wer hier diskutiert. Um diesen Einwand zu entkräften, bleiben Nagel nur zwei Möglichkeiten: Entweder er muss ein epistemologisches Kriterium vorbringen, mittels welchem er erklären kann, warum Konflikte über Fragen des guten Lebens notwendigerweise zu rationalen Uneinigkeiten führen, die in persönlichen Standpunkten gründen, während 35 36
Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 39–41. Vgl. ibid., 41.
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Konflikte über Gerechtigkeitsfragen notwendigerweise zu rationalen Uneinigkeiten führen, die in objektivierbaren Sachfragen ihren Ursprung haben. Damit muss er aber in irgendeiner Weise auf eine skeptische Strategie zurückgreifen, und es wiederholen sich die Schwierigkeiten, die sich bei Barry gezeigt haben. Oder aber Nagel muss ein empirisches bzw. soziologisches Kriterium vortragen, um seine These von den zwei Arten von rationalen Uneinigkeiten zu verteidigen, was ihn dann aber mit den Schwierigkeiten konfrontiert, die mittels des Asymmetrievorwurfs in der Auseinandersetzung mit Autoren wie Rawls oder Larmore formuliert worden sind. Es zeigt sich also, dass auch skeptische Argumente für ein Neutralitätsprinzip und ein dahinterstehendes epistemologisches Demarkationskriterium für den Asymmetrievorwurf anfällig sind. Damit möchte ich abschließend zur dritten Klassen von Argumenten kommen, die für die Notwendigkeit der Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips vorgebracht werden. Wie oben ausgeführt, ist diesen Argumenten gemeinsam, dass sie mit einem moralischen Demarkationskriterium operieren. Ein derartiges Demarkationskriterium wird unter anderem von Gaus vorgebracht. 37 Eine moralische Argumentation, die ein entsprechendes Demarkationskriterium verwendet, unterscheidet sich von soziologischen und skeptischen Argumentationen dadurch, dass sie epistemologische und moralische Überlegungen miteinander verknüpft. Die Grundintuition, der ein moralisches Demarkationskriterium gerecht zu werden versucht, lässt sich folgendermaßen skizzieren 38: Jeder Mensch genießt den moralischen Status einer freien und gleichen Person. Es gibt keine »natürlichen« Autoritätsverhältnisse zwischen erwachsenen Personen. Diesen Status zu besitzen impliziert, dass mir eine Rechtfertigung geschuldet ist, wenn ich zu etwas gezwungen werden soll. Etwas ist mir gegenüber gerechtfertigt, wenn mir Gründe genannt werden, die ich aus meiner epistemischen Perspektive nachvollziehen kann. In Bezug auf normative Aussagen über Werte bzw. Güter bedeutet dies, dass diese mir dann einen Grund liefern, etwas zu tun oder zu unterlassen, wenn ich aus meiner epistemischen Perspektive Eine Formulierung dieses Kriteriums findet sich z. B. in: Gerald F. Gaus, »The Moral Foundations of Liberal Neutrality«, in Contemporary Debates in Political Philosophy. Thomas Christiano und John Philip Christman (Hg.) (Oxford: Wiley-Blackwell, 2009). 38 Ich greife hier wiederum in loser Form auf einige Überlegungen Shers zurück, formuliere sie aber zu einem neuen Argument, vgl. Sher, Beyond Neutrality, 41–43. 37
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nachvollziehen kann, warum es sich hier um einen Wert oder ein Gut handeln soll. Die Notwendigkeit, ein Neutralitätsprinzip zu akzeptieren, leitet sich damit direkt aus der liberalen Grundüberzeugung ab, dass Menschen als freie und gleiche Personen zu behandeln sind: Es kann niemals der Fall sein, dass der Gebrauch politischer Zwangsgewalt legitim ist, wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, weil in diesem Fall manchen Bürgern gegenüber der Eingriff in ihren Freiheitsbereich nicht gerechtfertigt wird, und sie somit in ihrem Status als freie und gleiche Personen verletzt werden. Der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt kann in solchen Fällen keine Legitimität beanspruchen, weil er nicht öffentlich gerechtfertigt ist und zur Folge hätte, dass manche Bürger zu etwas gezwungen werden, das ihnen gegenüber nicht gerechtfertigt wird bzw. gerechtfertigt werden kann. Mittels eines moralischen Demarkationskriteriums kann eine Art von »Test« formuliert werden, anhand dessen klar bestimmt werden kann, welche Argumente bzw. Gründe zur Menge der Argumente bzw. Gründe gehören, die im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt vorgebracht werden dürfen 39: Argumente, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, dürfen im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung keine Rolle spielen, weil politischen Maßnahmen hier eine Eigenschaft attribuiert wird, die aus der Perspektive mancher Bürger nicht befürwortet oder bestätigt werden kann. Wenn mir z. B. als Rechtfertigung einer politischen Maßnahme das Argument genannt wird, dass die Übernahme einer bestimmten sexuellen Lebens- bzw. Verhaltensweise oder die Ausübung einer bestimmten religiösen Praxis »gut« für mich ist, ich aber gute Gründe habe, das entsprechende moralische oder religiöse Ideal abzulehnen, dann wird mein Leben eben nicht besser. 40 Anders verhält es sich hingegen mit Argumenten, die z. B. mit kontroversen Prämissen zu den Themen »Gesundheit«, »Sicherheit« oder »Gerechtigkeit« operieren. Auch wenn kontrovers darüber diskutiert werden kann, was genau »Gesundheit«, »Sicherheit« oder »Gerechtigkeit« bedeutet, so ist keiIn ähnlicher Weise argumentiert Sher, vgl. ibid., 41. Moralische Argumente formulieren die sogenannte »endorsement constraint« neu, die unter anderem von Will Kymlicka gegen einen staatlichen Perfektionismus vorgebracht worden ist, vgl. Kymlicka, Contemporary Political Philosophy, 216.
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ne vernünftige epistemische Perspektive vorstellbar, die nicht den Wert von Gerechtigkeit, Gesundheit oder Sicherheit befürworten würde. 41 Egal, welcher Religion ich angehöre, welche sexuelle Lebensweise ich bevorzuge oder welches Charakterideal ich anstrebe, Güter wie Gerechtigkeit, Gesundheit oder Sicherheit machen ein dementsprechendes Leben immer wertvoller bzw. besser. Gemäß einem moralischen Demarkationskriterium ist somit die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten, die mit kontroversen Prämissen zu Gerechtigkeitsfragen operieren, legitim, weil es sich hier um Argumente handelt, die mit Überlegungen operieren, die zumindest auf einer prinzipiellen Ebene von allen Bürgern als Gründe akzeptiert werden können, auch wenn die konkrete Konzeption von Gerechtigkeit, Gesundheit oder Sicherheit etc. abgelehnt werden kann. Anders verhält es sich hingegen mit Argumenten, die von kontroversen Prämissen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Hier wird auf Güter rekurriert, die nur für diejenigen »Güter« sind, die diese als solche befürworten. Derartige Argumente können den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nicht rechtfertigen, weil Bürger, die die vorgebrachten Güter bzw. Werte nicht als Güter oder Werte gemäß ihrer Konzeption eines guten Lebens befürworten, geltend machen können, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt ihnen gegenüber nicht gerechtfertigt wird. Derartige Argumente für die Rechtfertigung politischer Maßnahmen zuzulassen, würde bedeuten, es für legitim zu erklären, dass manche Bürger anderen Bürgern ihren politischen Willen ohne Rechtfertigung aufoktroyieren dürfen. Ein moralisches Demarkationskriterium scheint somit für Politische Liberale ideal, weil es unerwünschte perfektionistische Argumente von der Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ausschließt, aber nicht so restriktiv ist, dass es einen Bezug auf Argumente, die auf kontroverse Gerechtigkeitskonzeptionen verweisen, ebenfalls für unzulässig erklärt. Aber auch diese wohl ausgeklügeltste Argumentation für die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips ist nicht gegen den Asymmetrievorwurf Perfektionistischer Liberaler immun. Gegen die These, dass ein moralisches Demarkationskriterium wirklich in der gewünschten Weise die Menge von Argumenten beschränkt, die für die öffentliche Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt vorgebracht werden dürfen, führt Sher folgendes Gegenbei41
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Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 42.
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spiel an 42: Wollen Politische Liberale sich nicht völlig von der Vorstellung verabschieden, dass ein wohlfahrstaatliches Handeln zum legitimen Umfangsbereich staatlichen Handelns gehört, und verhindern, dass ihre Position in einen Libertarismus kollabiert, so müssen sie an der These festhalten, dass es wenigstens manchmal Fälle geben kann, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die von kontroversen Prämissen darüber abhängig sind, was gerecht ist. Nehmen wir nun z. B. an, jemand rechtfertigt eine politische Maßnahme, die auf eine Umverteilung der finanziellen Ressourcen einer Gesellschaft abzielt, mit einer Gerechtigkeitskonzeption, die ein solches Handeln als Herstellung von Gerechtigkeit definiert. Politische Liberale haben nun die Schwierigkeit, zu begründen, warum gemäß einem moralischen Demarkationskriterium ein solches – oder ähnliches – wohlfahrtstaatliches Umverteilungsargument noch zur Menge der Argumente bzw. Gründe gehört, die für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt vorgebracht werden dürfen. Ein Libertarier etwa kann argumentieren, dass Menschen, denen für die Umverteilung finanzielle Ressourcen gewaltsam entzogen werden, aus ihrer Perspektive geltend machen können, dass sie diese Maßnahme nicht als gut befürworten können, weil ihr Leben – zumindest prima facie – dadurch nicht besser wird. Ebenso wie bei Argumenten, die mit kontroversen Prämissen darüber argumentieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, können sie auch bei Argumenten, die auf kontroversen Gerechtigkeitsvorstellungen gründen, geltend machen, dass hier der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nicht legitim ist, weil er mit Argumenten gerechtfertigt wird, die sie in ihrem Status als freie und gleiche Bürger verletzen. Libertaristische Bürger könnten demnach argumentieren, dass sie eine Gerechtigkeitskonzeption vertreten, gemäß der jeder das bekommen sollte, auf was er durch erbrachte Leistung Anspruch erheben kann. Das skizzierte Umverteilungsargument Politischer Liberaler setzt nun aber die Akzeptanz einer anderen vernünftigen, aber inkompatiblen Gerechtigkeitskonzeption voraus. Libertarier können deshalb geltend machen, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt ihnen gegenüber mittels eines solchen Arguments nicht gerechtfertigt wird, weil Politische Liberale auf Überlegungen rekurrieren, die sie als Libertarier – aufgrund einer anderen Gerechtigkeitsvorstellung – nicht als Grund anerkennen 42
Vgl. ibid.
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können. Dieses Gegenbeispiel demonstriert somit, dass ein moralisches Demarkationskriterium viel restriktiver ist, als Politische Liberale behaupten, und sie dazu zwingt, Argumente aus der Menge von Gründen für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt auszuschließen, auf die sie angewiesen sind, um ein wohlfahrtstaatliches Handeln öffentlich rechtfertigen zu können. Mittels des Asymmetrievorwurfs können moralische Argumente für die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips und ein entsprechendes moralisches Demarkationskriterium aber nicht nur dahingehend unter Druck gesetzt werden, dass sie zu restriktiv sind, sondern es kann auch demonstriert werden, dass sie zu permissiv sind. Politische Liberale müssen die starke These vertreten, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt niemals Legitimität beanspruchen kann, wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die von kontroversen Prämissen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Betrachten wir nun aber den Fall, dass die staatliche Subventionierung von Theaterkarten damit begründet wird, dass ein regelmäßiger Theaterbesuch zu einem guten Leben dazugehört, und der Staat durch die Subventionierung möglichst vielen Menschen einen Theaterbesuch und damit ein gutes Leben ermöglichen will. Es handelt sich hier klar um ein kontroverses perfektionistisches Argument für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt. Es ist nur triftig, wenn die kontroverse normative Behauptung wahr ist, dass es zu einem guten Leben gehört, ins Theater zu gehen. Das Problem ist nun aber, dass gemäß einem moralischen Demarkationskriterium ein derartiges Argument nicht aus der Menge von Argumenten ausgeschlossen wird, die für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt vorgebracht werden dürfen. Warum? Einfach gesagt: Es wird hier niemand zu irgendetwas gezwungen. Die Macht des Staates wird lediglich dazu verwendet, um ein Angebot zu schaffen, dass es manchen Menschen erleichtert, ihre Konzeption des guten Lebens zu realisieren, aber dadurch nicht zugleich anderen erschwert, ihre zu verfolgen. Solange diese politische Maßnahme keinen erkennbaren unmittelbaren Effekt auf NichtTheatergänger hat, können diese gegen eine solche Begründung also nicht geltend machen, dass ihre epistemische Perspektive nicht berücksichtigt wird, weil sie schlichtweg nicht von dieser Maßnahme betroffen sind. Dies ist aber äußerst kontraintuitiv, denn dann würde eine Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips lediglich bedeuten, gewisse Me92
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thoden zur Umsetzung perfektionistischer Ziele auszuschließen (z. B. den Gebrauch direkter Zwangsgewalt), obwohl doch von den meisten Anti-Perfektionistischen Liberalen das Neutralitätsprinzip als ein Prinzip konzipiert und verstanden wird, das auf der Begründungsebene ansetzen soll und bestimmte Argumente bzw. Gründe von der Rechtfertigung politischer Maßnahmen ausschließen soll. Anders formuliert: Ein moralisches Demarkationskriterium ist zu permissiv, weil es nicht begründen kann, warum der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt illegitim sein soll, wenn dadurch niemand direkt in seiner Freiheit eingeschränkt wird, sondern nur Anreize oder Möglichkeiten geschaffen werden, und dies eben mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von kontroversen Annahmen darüber ausgehen, was ein gutes Leben ist und ausmacht
2.1.2 Ablehnung von drei Kompatibilitätsmodellen In dieser Arbeit vertrete ich die These, dass ein Perfektionistischer Liberalismus eine attraktive und kohärente Alternative zu einem Politischen Liberalismus im Rahmen einer liberalen Politischen Philosophie darstellt. Meine bisherigen Ausführungen zur Verteidigung dieser These sind von der Prämisse ausgegangen, dass gegen die Übernahme eines Anti-Perfektionistischen Liberalismus vor allem spricht, dass die dafür notwendige Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips äußerst revisionäre und kontraintuitive Implikationen für die politische Praxis liberaler Staaten hat und dass zudem – dies habe ich im vorigen Unterabschnitt ausgeführt (siehe 2.1.1) – die Argumente, die für das Neutralitätsprinzip vorgebracht werden, sowie das jeweils zu Grunde gelegte Demarkationskriterium für den sogenannten Asymmetrievorwurf anfällig sind. Bevor ich im zweiten Teil dieser Arbeit auf einen jüngeren und äußerst vielversprechenden Versuch Quongs eingehe, den Asymmetrievorwurf zu entkräften (siehe Kapitel 3), möchte ich mich an dieser Stelle zunächst mit drei Kompromissvorschlägen auseinandersetzen, die auf jeweils unterschiedliche Art und Weise behaupten, dass die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips erster Ordnung kompatibel ist mit der Bejahung der perfektionistischen These, dass es wenigstens einige Fälle gibt, bei denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die mit kontroversen Prämissen darüber Perfektionistischer Liberalismus
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operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Gemeinsam ist diesen Modellen jeweils, dass sie diese Kompatibilität durch eine Beschränkung des Geltungs- bzw. Umfangsbereich des Neutralitätsprinzips erreichen wollen. Der Nachweis, dass es gute Gründe gibt, diese Kompatibilitätsmodelle abzulehnen, ist nicht nur erforderlich, um zu demonstrieren, dass mein Klassifikationsschema richtig formuliert ist und das in dieser Arbeit rekonstruierte Problem nicht einfach nur ein »Scheinproblem« ist, sondern er liefert auch eine systematische Begründung dafür, warum sich die Debatte zwischen Anti-Perfektionistischen und Perfektionistischen Liberalen in gewisser Weise »radikalisiert« hat. Mit dem systematischen Ausschluss der in Kürze vorgestellten drei Kompatibilitätsmodellen begründe ich also nachträglich, warum ich mich in dieser Arbeit mit Vertretern einer jüngeren Generation in der sogenannten »Neutralitätsdebatte« befasse, die radikalere Positionen einnehmen als noch die Vorgängergeneration, für die Autoren wie Rawls oder Raz paradigmatisch stehen. 43 2.1.2.1 Das thematische Modell Entsprechend dem von mir vorgeschlagenen Klassifikationsschema kann als erstes Kompatibilitätsmodell das Modell eines politisch begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus identifiziert werden. Für dieses Modell steht vor allem John Rawls, es wird aber z. B. auch von Autoren wie Brian Barry oder Charles Larmore in modifizierter Form vertreten. 44 Ich möchte diesen Vorschlag als das »thematische Modell« bezeichnen, weil die Grundidee von Rawls darin besteht, dass die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips bzw. einer staatlichen Neutralität dann mit der perfektionistischen These kompatibel ist, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt in manchen Ich befasse mich ebenfalls nicht mit Modellen, die die ethische von der politischen Dimension eines Perfektionismus strikt trennen. Denn hier handelt es sich im strengen Sinne nicht um »Kompatibilitätsmodelle«, weil die Geltung eines Neutralitätsprinzips für den politischen Bereich nicht eingeschränkt wird. Es handelt sich in diesem Sinne eher um einen Politischen Liberalismus bzw. Libertarismus mit »privatem« Perfektionismus. Eine solche Position formulieren und verteidigen z. B. Douglas B. Rasmussen und Douglas J. Den Uyl, Norms of Liberty: A Perfectionist Basis for Non-Perfectionist Politics (University Park: The Pennsylvania State University Press, 2005). 44 Vgl. Rawls, Political Liberalism, 235; Barry, Justice as Impartiality, 161; Charles E. Larmore, The Morals of Modernity (New York: Cambridge University Press, 1996), 126. 43
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Fällen legitim ist, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden kann, wenn man die Trennung von zwei politischen bzw. thematischen Ebenen respektiert und berücksichtigt. 45 Getrennt wird demnach die Ebene eines politischen Rahmens von einer Ebene legislativer und administrativer Entscheidungen, die innerhalb eines solchen Rahmens getroffen werden. Der politische Rahmen bezeichnet die grundlegende Struktur einer Gesellschaft, womit Rawls vor allem soziale Institutionen wie die Verfassung und grundlegende ökonomische oder soziale Übereinkünfte meint, die z. B. regeln, wer welche Rechte und Pflichten hat und wie die Güter bzw. Ressourcen der Gesellschaft verteilt werden. Politische Maßnahmen, die nicht auf dieser grundlegenden Ebene anzusiedeln sind, sind für Rawls z. B. legislative und administrative Entscheidungen zum Schutze der Umwelt oder Gesetze zur Regulierung von Eigentumsfragen. 46 Während Rawls in A Theory of Justice (künftig: TJ) trotz dieser Unterscheidung noch dafür argumentiert, dass das Neutralitätsprinzip einen Bezug auf kontroverse Konzeptionen des guten Lebens sowohl bei Entscheidungen über die grundlegende Struktur der Gesellschaft als auch bei der Rechtfertigung politischer Maßnahmen innerhalb dieses Rahmens ausschließt – Rawls erwähnt hier die Subventionierung von Universitäten, Theatern oder Opern –, so korrigiert er diese Auffassung in Political Liberalism (künftig: PL) dahingehend, dass er dort perfektionistische Rechtfertigungen für den Ich werde in diesem Unterabschnitt nicht auf ein Kompatibilitätsmodell eingehen, das seinen Ausgang von Rawls’ »proviso-Argumentation« nehmen könnte, vgl. Rawls, Political Liberalism, li-lii. Eine solches Modell skizziert z. B. Patrick Neal, »Is Political Liberalism Hostile to Religion?«, in Reflections on Rawls. Shaun P. Young (Hg.) (Burlington: Ashgate, 2009), 154–158. Der Grund dafür liegt darin, dass Perfektionistische Liberale eine solche Reformulierung der Problemstellung ablehnen müssen, weil kontroversen perfektionistischen Gründe keine wirkliche kausale Rolle im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt zuerkannt wird. Derartigen Gründen kommt lediglich die Rolle als »Platzhalter« zu. Die eigentliche Aufgabe der Rechtfertigung übernehmen dann die »politischen« bzw. anti-perfektionistischen Gründe, durch die sie ersetzt werden müssen, damit der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt wirklich Legitimität beanspruchen kann. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Rawlsschen »proviso« und eine detailliertere Begründung, warum ein darauf aufbauendes Kompatibilitätsmodell nicht zu überzeugen vermag, findet sich bei Stout, Democracy and Tradition, 68–85. 46 Vgl. Rawls, Theory of Justice, 7; 332; Political Liberalism, 214. 45
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Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt zulässt, sofern damit nicht konstitutionelle Grundfragen oder Fragen grundlegender Gerechtigkeit berührt werden. 47 Rawls Entwicklung von TJ zu PL macht deutlich, dass die argumentative Strategie des Kompatiblitätsmodells eines politisch begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus darin besteht, das Neutralitätsprinzip bezüglich seines thematischen Umfangsbereichs zu beschränken. Auf die Begrifflichkeit von Wall und Klosko zurückgreifend, kann innerhalb eines politisch begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus somit eine weite von einer engen Interpretation des Neutralitätsprinzips unterschieden werden: Politische Liberale, die das Neutralitätsprinzip weit interpretieren – wie Rawls in TJ –, halten dafür, dass sowohl Überlegungen zur Gestaltung der grundlegenden Struktur der Gesellschaft als auch einzelne politische Entscheidungen innerhalb dieser Struktur keine Legitimität beanspruchen können, wenn sie nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden können. 48 Das Neutralitätsprinzip schließt in seiner weiten Interpretation, also sowohl bei der Erörterung von Fragen bezüglich der grundlegenden Struktur der Gesellschaft als auch bei Deliberationen über politische Entscheidungen innerhalb dieses Rahmens, einen Bezug auf Argumente aus, die von kontroversen Prämissen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Eine enge Interpretation des Umfangsbereichs des Neutralitätsprinzips vertritt Rawls hingegen in PL, weil er dort argumentiert, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt durch kontroverse perfektionistische Argumente bzw. Gründe gerechtfertigt werden darf, wenn es sich um nicht-grundlegende politische Fragen handelt, also Themen die nicht konstitutionell basal sind oder grundlegende Gerechtigkeitsfragen berühren. Im Hinblick auf die in dieser Arbeit untersuchte Problemstellung erscheint es nun attraktiv, ein Kompatibilitätsmodell zu vertreten, welches eine enge Interpretation des Neutralitätsprinzips übernimmt. Dies hat nämlich den Vorteil, den Vorwurf zurückweisen zu können, dass ein Politischer Liberalismus äußerst revisionäre Implikationen hinsichtlich des legitimen Umfangbereichs staatlichen Handelns hat. Beschränkt man nämlich – wie Rawls in PL – den Umgangs- bzw. Geltungsbereich des Neutralitätsprinzips in einem the47 48
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Vgl. Theory of Justice, 199; Political Liberalism, 214–215; 235. Vgl. Wall und Klosko, Perfectionism and Neutrality, 6–7.
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matischen Sinne, dann ist eine tiefgehende Revision der politischen Praxis in vielen der von Quong oben aufgelisteten Bereichen nicht erforderlich, weil z. B. die Subventionierung von Universitäten, des Theaters oder der Oper Legitimität beanspruchen kann, selbst wenn derartige politische Maßnahmen nur mit Argumenten gerechtfertigt werden können, die von kontroversen Annahmen über den intrinsischen Wert dieser kulturellen bzw. sozialen Institutionen abhängen. Solange gewährleistet ist, dass die vorgebrachten Argumente für die Rechtfertigung eines derartigen staatlichen Handelns sich auf der grundlegenden Ebene des politischen Rahmens neutral gegenüber den Konzeptionen des guten Lebens der Bürger verhalten, ist es laut einer engen Interpretation des Neutralitätsprinzips legitim, dass auf der Ebene des politischen Alltagsgeschäfts der Gebrauch politischer Macht damit gerechtfertigt wird, dass er kontroverse Konzeptionen eines guten Lebens fördert. Diese Entscheidungen werden dann z. B. durch entsprechende demokratische Mehrheitsvoten legitimiert. Arneson folgend können diese zwei Ebenen demnach auch als eine Verfassungsebene verstanden werden, die die basalen Regeln für das Treffen von politischen Entscheidungen festlegt, und einer Nicht-Verfassungsebene, auf der einzelne politische Entscheidungen im Rahmen dieser Regeln getroffen werden. 49 Während auf einer Verfassungsebene das Neutralitätsprinzip gilt, kann es auf der Nicht-Verfassungsebene legitim sein, den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt – z. B. durch ein Gesetz – im Rückgriff auf eine kontroverse Konzeption des guten Lebens zu begründen, was daran liegt, dass die Legitimität des Gesetzes nicht von der es begründenden Konzeption des guten Lebens abhängt, sondern es Legitimität beanspruchen kann, weil es mittels eines fairen Verfahrens und im Rahmen von Regeln entschieden wurde, die neutral rechtfertigbar sind. 50 Das Kompatibilitätsmodell eines Politischen Liberalismus argumentiert demnach, dass es genau dann widerspruchsfrei möglich ist, das Neutralitätsprinzip gemeinsam mit der perfektionistischen These zu vertreten, dass es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist (auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und
49 50
Vgl. Arneson, »Liberal Neutrality«, 207. Vgl. ibid.
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ausmacht), wenn man den Umfangs- bzw. Geltungsbereich des Neutralitätsprinzips im Sinne einer engen Interpretation thematisch einschränkt. Da gemäß einer engen Interpretation des Neutralitätsprinzips dieses nur dann gilt, wenn es um konstitutionelle Grundfragen oder Fragen grundlegender Gerechtigkeit geht, bleibt Raum für Fälle, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden kann. Daraus folgt, dass ein Politischer Liberalismus nicht notwendigerweise die revisionären Implikationen hinsichtlich der politischen Praxis liberaler Staaten hat, wie Perfektionistische Liberale behaupten und Anti-Perfektionistische Liberale wie Quong bereit sind zuzugestehen. Politische Maßnahmen wie gesetzliche Verbote oder Einschränkungen des Glücksspiels, Regelungen zum Umgang mit Pornographie, Prostitution, dem Konsum gewisser Drogen oder die staatliche Förderung von Kunst oder Sport können nach wie vor zum legitimen Umfangsbereich staatlichen Handelns gehören, weil es für die Rechtfertigung staatlichen Handelns erlaubt ist, auf kontroverse perfektionistische Argumente zurückzugreifen. Ein Politischer Liberaler – so die Argumentation dieses thematischen Kompatibilitätsmodells – behauptet mit der Akzeptanz des Neutralitätsprinzips lediglich, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt in Bezug auf Fragen grundlegender Gerechtigkeit oder konstitutionelle Grundfragen nie legitim sein kann, wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt wird, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Was spricht nun gegen diesen Lösungsvorschlag, der doch prima facie so attraktiv scheint? Zunächst einmal ist mit Sher und Chan festzuhalten, dass die Frage, ob das Neutralitätsprinzip am besten in einem weiten oder engen Sinne interpretiert wird, im Lager Politischer Liberaler selbst kontrovers diskutiert wird. 51 Politische Liberale wie Quong etwa argumentieren ausführlich dafür, dass jeglicher Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn er mit Argumenten gerechtfertigt wird, die unabhängig von kontroversen Annahmen darüber sind, was ein gutes Leben ist
Vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 7–8; Sher, Beyond Neutrality, 31. Autoren, die für ein Neutralitätsprinzip eintreten, aber eine enge Interpretation und damit das thematische Modell ablehnen, sind z. B. Gaus, Justificatory Liberalism; Order of Public Reason; Lecce, Against Perfectionism; Nagel, Equality and Partiality; Quong, Liberalism without Perfection.
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und ausmacht, also eine weite Interpretation des Neutralitätsprinzip übernommen werden sollte. 52 Da dieses Faktum aber bestenfalls als Indikator dafür gelten kann, dass es aus der Sicht von Befürwortern eines Neutralitätsprinzips gute Gründe zu geben scheint, eine enge Interpretation des Neutralitätsprinzips und das darauf aufbauende thematische Modell abzulehnen, ist es erforderlich, die Gründe für diesen Dissens im Einzelnen explizit zu machen. In Anlehnung an Wall und Arneson möchte ich drei – aufeinander aufbauende – Argumente für die These nennen, dass eine weite Interpretation des Neutralitätsprinzips einer engen Interpretation vorzuziehen ist, und sich deshalb das Kompatibilitätsmodell eines politisch begründeten AntiPerfektionistischen Liberalismus als nicht tragfähig erweist. Ein erstes Argument besagt, dass der späte Rawls – oder ein anderer Vertreter einer engen Interpretation des Neutralitätsprinzips – kein klares Kriterium für die Trennung des Gegenstandsbereichs in konstitutionelle Grundfragen bzw. Fragen grundlegender Gerechtigkeit und andere politische Themen nennen kann. Ein thematisches bzw. inhaltliches Kriterium ist demnach zu vage. Nicht bestritten wird von diesem Argument, dass es bestimmte Fälle gibt, wo es eindeutig ist, ob es sich um eine Frage grundlegender Gerechtigkeit bzw. eine konstitutionelle Grundfrage handelt oder nicht. Zum Beispiel bei politischen Entscheidungen darüber, ob in einem Land Links- oder Rechtsverkehr verbindlich gelten soll, oder der Frage, ob es in einem Staat Religionsfreiheit geben soll oder nicht, erscheint es intuitiv klar, welcher politischen Ebene diese Fälle zuzuordnen sind. Die Notwendigkeit der Angabe eines Demarkations- bzw. Klassifizierungskriteriums zeigt sich für Wall aber bei vielen wichtigen politischen Fragen, wo eine unstrittige intuitive Zuordnung zu einer politischen Ebene nicht gelingt, z. B. bei Themen wie Abtreibung, Todesstrafe, Drogengesetzen, staatlicher Subventionierung von Kunst oder Regeln zur Finanzierung demokratischer Wahlen. 53 Bei keinem dieser Fälle ist es intuitiv klar und eindeutig, ob er der Menge konstitutioneller Grundfragen bzw. Fragen grundlegender Gerechtigkeit oder der Menge nicht-grundlegender politischer Fragen zugerechnet werden sollte, da es jeweils gute Argumente für eine gegenteilige Zuordnung gibt. Für den Fall der Abtreibung etwa argumentiert Rawls, dass dies eine Frage grundlegender Gerechtigkeit ist, während Barry dafürhält, 52 53
Vgl. Liberalism without Perfection, 275. Vgl. Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 42.
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diese Frage eher der politischen Ebene zuzuordnen, die sich mit nichtgrundlegenden Fragen befasst. 54 Dieses Faktum kann laut Chan zum Teil dadurch erklärt werden, dass in vielen demokratisch verfassten Ländern – wie z. B. den USA – bestimmte individuelle Rechte Teil der Verfassung sind, was zur Folge hat, dass politisch substantielle und kontroverse Themen einer eigentlich niedrigeren Ebene auf die Verfassungsebene gehoben werden. 55 Wie Wall oder Stephen Mullhall und Adam Swift herausgearbeitet haben, fehlt neben einem Kriterium zur genauen Definition der Menge politischer Entscheidungen, auf die das Neutralitätsprinzip Anwendung finden soll, aber zweitens auch eine Begründung, die es plausibel macht, warum das Neutralitätsprinzip sich auf die Menge politischer Entscheidungen, die konstitutionelle Grundfragen bzw. Fragen grundlegender Gerechtigkeit berühren, beschränken soll. 56 Also selbst wenn es ein Kriterium gäbe, mit dem eindeutig bestimmt werden könnte, ob ein politisches Thema der Menge von grundlegenden oder nicht-grundlegenden politischen Fragen zugehörig ist, müsste ein Politischer Liberaler begründen, warum das Neutralitätsprinzip nur Anwendung auf eine dieser beiden Mengen haben sollte. Es scheint aber, dass Vertreter der engen Interpretation des Neutralitätsprinzips eine derartige Begründung schuldig sind. Chans Analyse zufolge argumentiert etwa Rawls in PL, dass er zunächst bezüglich grundlegender Fragen zeigen möchte, dass diese öffentlich rechtfertigbar sein müssen – also das Neutralitätsprinzip auf sie Anwendung findet –, um dann einen weniger restriktiven Rechtfertigungsstandard für nicht-grundlegende Fragen zuzulassen. 57 Dem entgegnet Chan, dass Rawls hier nur einen strategischen Grund für die Unterscheidung zweier Rechtfertigungsstandards nennt, auf den man erwidern könnte, dass man auch die umgekehrte Strategie verfolgen könnte, die darin besteht zu zeigen, dass auf der Ebene nicht-grundlegender politischer Entscheidungen das Neutralitätsprinzip nicht gilt, um dann danach zu fragen, warum es auf der Ebene grundlegender Gerechtigkeitsfragen etc. gelten sollte. Um eine Begründung der begrenzten Geltung des Neutralitätsprinzips zu geben, müsste Rawls
Vgl. Barry, Justice as Impartiality, 90–93; Rawls, Political Liberalism, 243–244. Vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 7. 56 Vgl. Mulhall und Swift, Liberals and Communitarians, 224–226; Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 42. 57 Vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 7–8. 54 55
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– so Chan – aber ein prinzipielles Argument nennen, und solange er dies nicht tut, erscheint eine enge Interpretation des Neutralitätsprinzips künstlich, da sowohl bei politischen Entscheidungen über grundlegende Gerechtigkeitsfragen als auch bei politischen Entscheidungen, die diese vermeintlich nicht berühren, die Zwangsgewalt des Staates im Spiel ist. 58 Abschließend möchte ich noch ein drittes Argument nennen, das auf den beiden Vorhergehenden aufbaut und von Arneson exemplarisch entfaltet worden ist. Dass es einer prinzipiellen Begründung der Beschränkung des Neutralitätsprinzips auf die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt bedarf, die grundlegende Gerechtigkeitsfragen etc. berühren, zeigt sich daran, dass diese Beschränkung nicht intuitiv einsichtig ist, wie zwei Gegenbeispiele demonstrieren. Beide Gegenbeispiele sollen zeigen, dass eine enge Interpretation des Neutralitätsprinzips von zwei Seiten unter Druck gerät, was letztlich dazu führt, dass das thematische Modell als kohärente Option in sich zusammenfällt: Wenn es erstens der Fall ist, dass gute Gründe für die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips in Bezug auf grundlegende politische Fragen sprechen, dann sprechen auch gute Gründe dafür, die Neutralitätsforderung auf Rechtfertigungen für nicht-grundlegende politische Maßnahmen auszudehnen. Wenn es zweitens der Fall ist, dass gute Gründe für die Ablehnung eines Neutralitätsprinzips in Bezug auf nicht-grundlegende politische Entscheidungen sprechen, dann sprechen auch gute Gründe dafür, ein Neutralitätsprinzip für die Rechtfertigung politischer Maßnahmen abzulehnen, die konstitutionelle Grundfragen bzw. Fragen grundlegender Gerechtigkeit betreffen. 59 Ich möchte zunächst ein von Arneson entwickeltes und von mir leicht modifiziertes Beispiel betrachten, in dem eine Mehrheit von religiösen Fundamentalisten in einer demokratischen Abstimmung über das Schulcurriculum einer kommunalen Schule erreicht hat, dass im Lehrplan der Schule die Evolutionslehre durch die kreationistische Lehre des intelligent design ersetzt wird. Da die Verfassung der USA – wie der meisten demokratischen Staaten – keine Stellung zu den Inhalten eines Schulcurriculums bezieht und wenn die Abstimmung über das Schulcurriculum das Ergebnis eines fairen demokratischen Verfahrens gewesen ist, liegt hier ein Fall vor, in dem eine enge 58 59
Vgl. ibid., 8. Vgl. Arneson, »Liberal Neutrality«, 209.
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Interpretation des Neutralitätsprinzips diese nicht-grundlegende politische Maßnahme für gerechtfertigt und damit für legitim halten muss. Das ist laut Arneson aber äußerst kontraintuitiv, denn dies scheint ein Paradebeispiel für Fälle zu sein, die das Neutralitätsprinzip verhindern will, da hier klar der Gebrauch staatlicher Macht mittels Argumenten gerechtfertigt wird, die von kontroversen Prämissen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, und Bürger, die diese Prämissen vernünftigerweise ablehnen können, geltend machen können, dass ihnen gegenüber der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nicht mit Überlegungen gerechtfertigt wird, die sie als Gründe akzeptieren können. 60 Anders formuliert: Hält man ein Neutralitätsprinzip für erforderlich, um einen fairen und gerechten gesellschaftlichen Rahmen zu etablieren, in dem jeder in größtmöglicher Freiheit seine eigene Konzeption des guten Lebens verfolgen kann, dann muss man auch zustimmen, dass dieses Prinzip sich auf mögliche Rechtfertigungen des Gebrauchs staatlicher Macht für nicht-grundlegende politische Maßnahmen erstreckt, da es ansonsten praktisch nahezu irrelevant wäre. Lehnt man eine solche Ausdehnung der Geltung des Neutralitätsprinzips ab, dann impliziert dies, dass Minderheiten regelmäßig demokratisch verabschiedete Gesetze akzeptieren müssen, auch wenn diese Gesetze ihnen gegenüber lediglich mit einem Verweis auf Konzeptionen des guten Lebens gerechtfertigt werden, die zwar vernünftig sein mögen, aber im Widerspruch zu ihrer eigenen – ebenfalls vernünftigen – Konzeption des guten Lebens stehen und deshalb vernünftigerweise von ihnen abgelehnt werden können. Der Anspruch auf eine faire und gerechte Grundordnung innerhalb derer jeder die gleichen Chancen haben soll, seine Konzeption des guten Lebens realisieren zu können, ist bei einer engen Interpretation des Neutralitätsprinzips demnach auf einer praktischen Ebene gleichbedeutend mit der Chance, Mehrheiten für die eigene Vorstellung von einem guten Leben zu finden. Das Faktum, dass es Anhänger von vernünftigen Minderheitsvorstellungen eines guten Lebens aber wesentlich schwieriger haben werden als Anhänger von vernünftigen Mehrheitsvorstellungen eines guten Lebens, die politischen Bedingungen zur Realisierung ihrer Konzeption eines guten Lebens zu schaffen, scheint mir aber im Widerspruch zur Intention des Neutralitätsprinzips, möglichst gleiche, faire und gerechte Aus60
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Vgl. ibid.
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gangsbedingungen für die Verfolgung der je eigenen Vorstellung eines guten Lebens zu schaffen. Das von mir modifizierte Beispiel Arnesons spricht somit gegen eine enge Interpretation des Neutralitätsprinzips, da es Folgendes zeigt: Wenn gute Gründe für die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips in Bezug auf grundlegende politische Fragen sprechen – hier: gleiche, faire und gerechte Chancen zur Realisierung der eigenen Konzeption des guten Lebens –, dann stellen diese Gründe auch gute Gründe dafür dar, die Neutralitätsforderung auf Rechtfertigungen für nicht-grundlegende politische Maßnahmen auszudehnen. Von dieser Seite her ist eine Beschränkung des Neutralitätsprinzips auf konstitutionelle Grundfragen insofern intuitiv nicht einsichtig und verlangt eine prinzipielle Begründung. Damit komme ich zum zweiten Beispiel, das gegen eine enge Interpretation des Neutralitätsprinzips spricht. Es illustriert folgenden Fall: Wenn gute Gründe für die Ablehnung eines Neutralitätsprinzips in Bezug auf nicht-grundlegende politische Entscheidungen sprechen, dann sprechen auch gute Gründe dafür, ein Neutralitätsprinzip für die Rechtfertigung politischer Maßnahmen abzulehnen, die konstitutionelle Grundfragen bzw. Fragen grundlegender Gerechtigkeit betreffen. Betrachten wir hierzu das Thema Abtreibung, wobei – wie oben schon erwähnt – unter Politischen Liberalen kein Konsens darüber herrscht, ob es sich hierbei um eine Frage grundlegender Gerechtigkeit handelt oder nicht. Während Rawls etwa behauptet, dass es eine Frage grundlegender Gerechtigkeit ist, dass es für Frauen ein allgemeines Recht auf Abtreibung während der ersten drei Monate der Schwangerschaft gibt, vertritt Barry die Position, dass hier keine konstitutionelle Grundfrage oder Frage grundlegender Gerechtigkeit berührt ist. 61 Im Sinne des Arguments möchte ich mit Barry dafür entscheiden, dass es sich hier um keine Frage grundlegender Gerechtigkeit handelt. Gemäß Vertretern einer engen Interpretation des Neutralitätsprinzips – zu denen auch Barry gehört –, impliziert die Einordnung des Themas in die Menge nicht-grundlegender politischer Fragen, dass hier das Neutralitätsprinzip nicht gilt und es damit legitim ist, politische Maßnahmen wie Gesetze, die Abtreibungen erlauben, oder Gesetze, die Abtreibungen verbieten, mit Argumenten zu rechtfertigen, die von vernünftigen – aber kontroversen – Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. 61
Vgl. Barry, Justice as Impartiality, 90–93; Rawls, Political Liberalism, 243–244.
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Da aber das Neutralitätsprinzip nicht gänzlich aufgegeben wird, sondern für politische Entscheidungen Geltung haben soll, die Fragen grundlegender Gerechtigkeit betreffen, ist es zwar legitim, mittels derartiger Argumente für Gesetze einzutreten, die Abtreibung erlauben oder verbieten, aber es ist nicht legitim, mit denselben Argumenten bzw. Gründen für eine gesellschaftliche Grundordnung zu argumentieren, die z. B. das Recht von Frauen auf Abtreibung oder das Recht des ungeborenen Lebens auf Leben als individuelles Grundrecht festschreibt. Dies erscheint aber äußerst kontraintuitiv: Wenn es Bürgern bezüglich nicht-grundlegender politischer Fragen gestattet sein soll, für die Rechtfertigung ihrer favorisierten politischen Maßnahmen Gründe vorzubringen, die sich aus ihrer Vorstellung von einem guten Leben ableiten, also z. T. aus den Vorstellungen und Überzeugungen, die ihnen am wichtigsten und wertvollsten sind, warum soll denselben Bürgern dies bezüglich grundlegender Fragen nicht gestattet sein, die einen viel stärkeren Einfluss auf die Bedingungen haben, unter denen sie ihre eigene Vorstellung eines guten Lebens realisieren können? Anders formuliert: Wenn es zulässig erscheint, dass Bürger Argumente bzw. Gründe für oder gegen ein gesetzliches Verbot von Abtreibung vorbringen, die eine Akzeptanz ihrer vernünftigen – aber kontroversen – Konzeption eines guten Lebens voraussetzen, warum soll es dann nicht zulässig sein, dass sie mit diesen Argumenten bzw. Gründen auch für eine gesellschaftliche Grundordnung eintreten, die ihrer Konzeption eines guten Lebens am meisten entspricht? Lehnt man das Neutralitätsprinzip für die Rechtfertigung von politischen Maßnahmen nicht-grundlegender Art ab, so erscheint es unplausibel, dieses Neutralitätsprinzip für Fragen grundlegender Gerechtigkeit etc. aufrecht zu erhalten. Auch von dieser Seite betrachtet erscheint es somit nicht intuitiv einsichtig, warum man an der Geltung des Neutralitätsprinzips für die Ebene grundlegender Gerechtigkeitsfragen festhalten sollte, wenn gute Gründe dafür sprechen, dass es auf der Ebene nicht-grundlegender politischer Fragen keine Geltung haben soll. Gegen das Kompatibilitätsmodell eines Politischen Liberalismus, das von mir titulierte »thematische Modell«, spricht also erstens, dass es kein eindeutiges Demarkationskriterium anbieten kann, anhand dessen entschieden werden kann, ob es sich bei einem politischen Thema um eine grundlegende politische Frage handelt oder eben nicht. Zweitens müssten Vertreter eines thematischen Modells – 104
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selbst wenn sie ein solches Kriterium benennen könnten – eine Begründung prinzipieller Art dafür liefern, warum das Neutralitätsprinzip sich auf die Ebene konstitutioneller Grundfragen bzw. Fragen grundlegender Gerechtigkeit beschränken soll. Dass es einer solchen Begründung bedarf, lässt sich drittens an zwei Beispielen zeigen, die illustrieren, dass diese Beschränkung nicht nur nicht intuitiv einsichtig ist, sondern das thematische Modell zudem instabil ist. Denn wenn gute Gründe dafür sprechen, das Neutralitätsprinzip für grundlegende Fragen zu akzeptieren, dann sprechen diese Gründe auch dafür, es auf nicht-grundlegende Fragen auszudehnen, und umgekehrt gilt auch, dass wenn gute Gründe dafür sprechen, das Neutralitätsprinzip für nicht-grundlegende Fragen abzulehnen, auch gute Gründe dafür sprechen, das Neutralitätsprinzip für Fragen grundlegender Gerechtigkeit etc. abzulehnen. In Anbetracht dieser drei Argumente gegen eine enge Interpretation des Neutralitätsprinzips und in der Abwesenheit überzeugender Lösungsvorschläge zur Behebung der Schwächen und zur Stabilisierung eines thematischen Modells, erscheint es mir deshalb gut begründet, dieses Modell aufzugeben und eine weite Interpretation des Neutralitätsprinzip zu übernehmen. Da gemäß einer solchen weiten Interpretation aber jeglicher Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur dann legitim ist, wenn er mit Argumenten gerechtfertigt wird, die unabhängig von kontroversen Annahmen darüber sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, ist dies nicht mehr widerspruchsfrei mit der perfektionistischen These vereinbar, dass es wenigstens einige Fälle gibt, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden kann. Meine Argumentation gegen ein Kompatibilitätsmodell eines Politischen Liberalismus wird in einer unabhängigen Weise auch durch die Tatsache gestützt, dass führende Anti-Perfektionistische Liberale einer jüngeren Generation – z. B. Gerald Gaus, Jonathan Quong oder Steven Lecce – für eine weite Interpretation des Neutralitätsprinzips optieren und im Gegenzug dazu bereit sind, die radikalen bzw. revisionären Implikationen einer solchen Position mit mehr oder weniger großen Einschränkungen zu akzeptieren. 62 Die Viabilität des skizzierten Kompatibilitätsmodells wird also nicht nur von Vgl. Gaus, Justificatory Liberalism; Order of Public Reason; Lecce, Against Perfectionism; Quong, Liberalism without Perfection.
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Seiten Perfektionistischer Liberaler, sondern zunehmend auch von Politischen Liberalen selbst in Frage gestellt. 2.1.2.2 Das akteurszentrierte Modell Im vorigen Unterabschnitt habe ich dargelegt, dass Politische Liberale für eine Art von Kompatibilitätsmodell argumentieren können, indem sie eine inhaltliche Differenzierung zwischen Fragen grundlegender Gerechtigkeit und nicht-grundlegenden politischen Themen vornehmen und die Geltung des Neutralitätsprinzips dann auf erstgenannte Fragen beschränken. Im Lager Anti-Perfektionistischer Liberaler ist dies jedoch nicht die einzige Möglichkeit ein Kompatibilitätsmodell zu konstruieren. Entsprechend meinem Klassifikationsschema bietet auch ein umfassend begründeter Anti-Perfektionistischer Liberalismus die Möglichkeit, ein Kompatibilitätsmodell zu entwickeln, das jedoch argumentativ an einem anderen Punkt ansetzt. Vertreter eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus nehmen eine Uminterpretation der zentralen These Perfektionistischer Liberaler vor, indem sie zwischen einer staatlichen und zivilgesellschaftlichen Sphäre bzw. zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren unterscheiden, weshalb ich hier von einem »akteurszentrierten Kompatibilitätsmodell« spreche. Das Neutralitätsprinzip findet demgemäß nur in der staatlichen Sphäre, d. h. in staatlichen Deliberationsforen Anwendung, nicht hingegen in der Zivilgesellschaft. Im Bereich der staatlichen Sphäre ist es Akteuren untersagt, für ihre favorisierten politischen Maßnahmen Argumente vorzubringen, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Im zivilgesellschaftlichen Diskurs hingegen steht es Akteuren frei, politische Maßnahmen mit derartigen Argumenten zu begründen. Die Hoffnung ist hier, dass die revisionären Implikationen eines Anti-Perfektionistischen Liberalismus vermieden oder doch wenigstens erheblich abgeschwächt werden können, wenn man zwischen den Rechtfertigungsanforderungen für staatliches und politisches Handeln unterscheidet. Zugestanden wird Perfektionistischen Liberalen, dass es äußerst kontraintuitiv wäre, wenn politisches Handeln generell und prinzipiell nicht mehr mit Argumenten gerechtfertigt werden dürfte, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Der gesellschaftliche bzw. politische Diskurs würde erheblich verarmen. Strittige Fragen des guten Lebens sollen eben nicht von der Agenda politischer Deliberatio106
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nen in einem prinzipiellen Sinne ausgeschlossen werden. Akzeptiert werden muss jedoch, dass das Neutralitätsprinzip für die Rechtfertigung staatlichen Handelns gilt. Gemäß diesem akteurszentrierten Kompatibilitätsmodell wird also behauptet, dass sich zwei Thesen widerspruchsfrei miteinander verbinden lassen: Die Grundthese eines Anti-Perfektionistischen Liberalismus, die besagt, dass politische Maßnahmen in der staatlichen Sphäre niemals Legitimität beanspruchen können, wenn sie nur mit Argumenten gerechtfertigt werden, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, kann widerspruchsfrei gemeinsam mit einer uminterpretierten Grundthese eines Perfektionistischen Liberalismus vertreten werden, die lautet, dass die Durchsetzung politischer Maßnahmen wenigstens in manchen Fällen Legitimität beanspruchen kann, auch wenn sie nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden kann. Was ist von einem solchen Kompatibilitätsmodell zu halten? Es ist wert erörtert zu werden, weil es scheinbar eine Wahl zwischen einem Perfektionistischen und einem Anti-Perfektionistischen Liberalismus obsolet macht, indem es von beiden Seiten Zugeständnisse einfordert. Von Politischen Liberalen wird verlangt, dass sie anerkennen, dass sich das Neutralitätsprinzip nur auf staatliche Akteure bezieht, während Perfektionistische Liberale aufgefordert werden, einer Uminterpretation ihrer zentralen These zuzustimmen und die Geltung des Neutralitätsprinzips für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt anzuerkennen. Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass ein solches akteurszentriertes Kompatibilitätsmodell aber von beiden Seiten unter Druck gerät und nicht als Kompromissvorschlag zu überzeugen vermag. Mein Hauptkritikpunkt am skizzierten Kompatibilitätsmodell eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus ist, dass die Beschränkung des Neutralitätsprinzips auf staatliche Akteure wiederum anfällig für eine Variante des Asymmetrievorwurfs ist und zu einer in sich instabilen Position führt: Die Eingrenzung des Geltungsbereichs des Neutralitätsprinzips ist entweder zu schwach, um eine Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt mittels kontroverser perfektionistischer Argumente effektiv zu verhindern, oder aber sie muss als so stark interpretiert werden, dass sie nahezu jegliche Rechtfertigung politischen Handelns mittels kontroverser perfektionistischer Argumente verunmöglicht und damit die Perfektionistischer Liberalismus
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revisionären Konsequenzen nach sich zieht, die sie eigentlich vermeiden wollte. Ich möchte zunächst betrachten, warum Vertreter dieses Kompatibilitätsmodells glauben, die revisionären Implikationen eines Politischen Liberalismus vermeiden zu können, die aus der Akzeptanz des Neutralitätsprinzips erwachsen. Befürworter eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus argumentieren, dass die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips eben nicht impliziert, dass kontroverse perfektionistische Argumente keine Rolle mehr im politischen Diskurs spielen dürfen. Das Neutralitätsprinzip als Prinzip zweiter Ordnung beschränkt nur die Menge der Argumente, auf die sich der Staat bzw. staatliche Akteure für die Rechtfertigung politischer Maßnahmen legitimerweise berufen können. Die Position eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus unterscheidet sich von einem politisch begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus also dadurch, dass der Geltungsbereich des Neutralitätsprinzips auf der Akteursebene eingeschränkt wird. Dies verpflichtet umfassende Anti-Perfektionistische Liberale aber ihrerseits dazu zu benennen, für welche Akteure denn nun das Neutralitätsprinzip gilt und für welche nicht. Ein solches Kriterium kann aus den Arbeiten eines führenden umfassenden Anti-Perfektionistischen Liberalen wie Kymlicka herausdestilliert werden, wenn dieser zwischen einer staatlichen und einer zivilgesellschaftlichen Sphäre bzw. Ebene unterscheidet und zwischen »politischen« und »kollektiven« Deliberationsprozessen. 63 Demzufolge schränkt das Neutralitätsprinzip nicht alle Bürger hinsichtlich der Argumente bzw. Gründe ein, die sie für die Rechtfertigung einer politischen Maßnahme vorbringen dürfen, sondern lediglich Bürger, die ein politisches Amt inne haben, also in irgendeiner Weise für den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt Verantwortung tragen. Vereinfacht gesagt: Das Neutralitätsprinzip beschränkt sich auf der Akteursebene auf Bürger mit einem politischen Mandat im staatlichen Bereich. Das Problem ist nun aber, dass es genau diese Beschränkung des Geltungsbereichs des Neutralitätsprinzips ist, die Perfektionistische Liberale wie Sher oder Wall für äußerst unplausibel halten und dagegen vorbringen, dass ein Neutralitätsprinzip nur effektiv sein kann, wenn es nicht nur für politische Mandatsträger, sondern auch für 63
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Vgl. Kymlicka, Contemporary Political Philosophy, 246–261.
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Bürger ohne direkte Regierungsverantwortung – d. h. die zivilgesellschaftliche Sphäre bzw. Ebene – Geltung beanspruchen kann. 64 Mit anderen Worten: Die Kritik Perfektionistischer Liberaler besagt, dass die eigentliche Intention eines Neutralitätsprinzips mit der Idee im Konflikt steht, dieses auf der Akteursebene auf politische Mandatsträger einzuschränken. Diese Kritik wird von Chan folgendermaßen entwickelt: Die meisten Vertreter eines Neutralitätsprinzips sind Kontraktualisten, die beanspruchen, dass politische Prinzipien all denjenigen gegenüber gerechtfertigt werden müssen, auf die diese Prinzipien Anwendung finden. 65 Da politische Prinzipien aber auch regeln, wann der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist und wann nicht, müssen diese Prinzipien mit Argumenten bzw. Gründen gerechtfertigt werden können, die jemand, der vom Gebrauch dieser Zwangsgewalt betroffen ist, nicht vernünftigerweise ablehnen kann. 66 Wenn sich das Neutralitätsprinzip aber nur auf Regierungsverantwortliche beschränken würde, dann wären z. B. von Bürgern initiierte Volksbegehren oder Gesetzesinitiativen als legitim zu betrachten, auch wenn sie mit Argumenten bzw. Gründen gerechtfertigt werden, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Der Staat bzw. politische Mandatsträger wären zwar im aktiven Sinn nicht direkt am Zustandekommen einer solchen perfektionistisch begründeten Maßnahme beteiligt, aber spätestens wenn es um die Umsetzung und Durchsetzung dieser demokratisch beschlossenen Maßnahme geht, kommt die Zwangsgewalt des Staates wieder direkt ins Spiel. Wenn das Neutralitätsprinzip einen Gebrauch staatlicher Macht verhindern soll, der nicht jedem Bürger gegenüber mit Argumenten bzw. Gründen gerechtfertigt werden kann, die dieser vernünftigerweise akzeptieren kann und der somit einem kontraktualistischen Kriterium für Legi64 Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 28–30; Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 42–43. Diese Position ist allerdings nicht unumstritten. Arneson hält etwa dafür, dass sich das Neutralitätsprinzip nur auf staatliche Akteure bezieht, vgl. Arneson, »Liberal Neutrality«, 194–195. 65 Vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 20. Trotz seiner Beschränkung des Neutralitätsprinzips auf staatliche Akteure stimmt Arneson diesem Punkt zu. Wie ich im Folgenden zeigen werde, hat er dann aber auch Grund, dass Neutralitätsprinzip auf nicht-staatliche Akteure auszuweiten, vgl. Arneson, »Liberal Neutrality«, 194. Klar kontraktualistisch argumentieren z. B. Lecce, Against Perfectionism; Nagel, Equality and Partiality; Quong, Liberalism without Perfection; Rawls, Political Liberalism; Theory of Justice. 66 So etwa Quong, Liberalism without Perfection, 1–2.
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timität genügt, dann darf sich das Neutralitätsprinzip nicht nur auf direkte Regierungsverantwortliche oder die politischen Repräsentanten des Volkes beschränken, sondern muss sich auf alle politisch aktiven Bürger ausdehnen. Das Dilemma des akteurszentrierten Kompatibilitätsmodells besteht also darin, dass es die revisionären Implikationen eines Politischen Liberalismus nur vermeiden kann, wenn es den Geltungsbereich des Neutralitätsprinzips beschränkt. Wie ich oben demonstriert habe, erweist sich eine derartige Eingrenzung des Geltungsbereichs des Neutralitätsprinzips aber als zu schwach, um eine Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt mittels kontroverser perfektionistischer Argumente effektiv zu verhindern. Diese Schwäche kann nur dadurch saniert werden, dass man das Neutralitätsprinzip stärker macht, indem man den Kreis derjenigen, für die es Geltung haben soll, auf alle Bürger ausdehnt. Dies hat aber wiederum zur Folge, dass jegliche Rechtfertigung politischen Handelns mittels kontroverser perfektionistischer Argumente unmöglich wird, was die revisionären Konsequenzen nach sich zieht, die dieses Kompatibilitätsmodell eigentlich vermeiden wollte. Aus der Sicht eines Perfektionistischen Liberalismus kann das Scheitern dieses Kompatibilitätsmodells damit erklärt werden, dass es das Faktum nicht berücksichtigt, dass Bürger auf vielfältige Weise und Wege Einfluss auf den Gebrauch politischer Macht nehmen können. 67 Wenn man die Prämisse akzeptiert, dass ein Neutralitätsprinzip darauf abzielt, die Legitimität des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt an Argumente bzw. Gründe rückzubinden, die von niemanden vernünftigerweise abgelehnt werden können, dann kann sich die Geltung dieses Prinzips aber nicht nur auf politische Mandatsträger beschränken. Ich stimme insofern Wall darin zu, dass das Neutralitätsprinzip ein Prinzip sein muss, dass alle Bürger, die sich am politischen Leben einer Gesellschaft beteiligen – also »normale« Bürger, die gelegentlich politisch aktiv werden, als auch Bürger, die in ein politisches Amt gewählt wurden und evtl. sogar Regierungsverantwortung tragen –, darin beschränkt, welche Argumenten sie für die Rechtfertigung des Gebrauchs politischer Zwangsgewalt vorbringen dürfen. 68 Wenn aber die Möglichkeit wegfällt, die Geltung des Neutralitätsprinzips in konsistenter Weise auf staatliche Akteure bzw. die staat67 68
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Eine kurze Auflistung findet sich bei Sher, Beyond Neutrality, 29. Vgl. Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 42–43.
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liche Sphäre einzugrenzen, dann lässt sich auch nicht mehr widerspruchsfrei behaupten, die Akzeptanz eines solchen Neutralitätsprinzips könne mit einer – leicht uminterpretierten – Grundthese eines Perfektionistischen Liberalismus kombiniert werden. Das akteurszentrierte Kompatibilitätsmodell eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus erweist sich somit als instabil und wenig attraktiv. 2.1.2.3 Das modus procedendi Modell Damit komme ich zu einem dritten und letzten Kompatibilitätsmodell. Im Unterschied zu den bisher vorgestellten Modellen handelt es sich diesmal um ein Modell, das innerhalb des Rahmens eines umfassend begründeten Perfektionistischen Liberalismus – insbesondere von Joseph Raz – entwickelt worden ist und im Grunde immer noch als die paradigmatische moderne Interpretation eines Perfektionistischen Liberalismus angesehen wird. 69 Wenn ich im Folgenden dafür argumentiere, dass es gute Gründe gibt, dieses kompatibilistische »Standardmodell« abzulehnen, dann rechtfertige ich damit auch, warum ich in dieser Arbeit vornehmlich auf nicht-kompatibilistische Ansätze eines Perfektionistischen Liberalismus Bezug nehme, die von einer jüngeren Generation von Autoren – vornehmlich George Sher und Steven Wall – entwickelt worden sind. Ich möchte zunächst meine These begründen, dass das Razsche »Standardmodell« eines Perfektionistischen Liberalismus aus systematischen Gründen als ein Kompatibilitätsmodell verstanden werden muss. Folgt man den Ausführungen Raz’, dann ist die These Perfektionistischer Liberaler, dass es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass der Gebrauch staatlichen Handelns legitim ist, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden kann, kompatibel mit der Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips, wenn man den Geltungsbereich dieses Prinzips auf staatliches Handeln begrenzt, welches den Gebrauch von Zwangsgewalt impliziert. Unterschieden wird also zwischen den folgenden zwei Sze69 Dies wird z. B. deutlich bei Chambers, Sex, Culture, and Justice; Lecce, Against Perfectionism; Martha C. Nussbaum, »Perfectionist Liberalism and Political Liberalism«, Philosophy and Public Affairs 39, no. 1 (2011); Quong, Liberalism without Perfection; Yuracko, Perfectionism and Contemporary Feminist Values. Auch Alexandra Couto folgt im Wesentlichen dem von Raz vorgegebenem Rahmen, vgl. Alexandra Couto, Liberal Perfectionism: The Reasons that Goodness Gives (Berlin: De Gruyter, 2014).
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narien: Staatliche Maßnahmen, die die Zwangsgewalt des Staates in Anspruch nehmen, sind illegitim, wenn sie nur mir kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden, während staatliche Maßnahmen, die nicht zwangsbewehrt sind, auch dann Legitimität beanspruchen können, wenn sie nur mit derartigen Argumenten gerechtfertigt werden können. Der Kompromiss besteht also darin, dass ein Neutralitätsprinzip im erstgenannten Fall die Menge von Argumenten bzw. Gründen begrenzt, die für die Rechtfertigung einer politischen Maßnahme vorgebracht werden dürfen, im letztgenannten Fall hingegen nicht, weshalb ich dieses Modell als das »modus procedendi Modell« bezeichne. Trotz der Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips bleibt diese Position also perfektionistisch. Führende Vertreter einer jüngeren Generation Perfektionistischer Liberaler – zu nennen sind hier vor allem Wall und Sher – argumentieren im Widerspruch dazu, dass es wenigstens manchmal auch der Fall sein kann, dass staatliche Maßnahmen, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt implizieren, legitim sind, auch wenn sie nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden. Autoren wie Wall und Sher lehnen die Kompatibilitätsthese von Raz’ Modell eines Perfektionistischen Liberalismus insofern ab, weshalb ich sie aus systematischen Gründen als Vertreter eines nicht-kompatibilistischen Perfektionistischen Liberalismus bezeichne. 70 Meine Argumentation wird folgendermaßen aufgebaut sein: Zunächst möchte ich erläutern, was – zumindest prima facie – für einen kompatibilistischen Perfektionistischen Liberalismus spricht, also ein modus procedendi Modell so wie es Raz entworfen hat und welches jüngst von Couto verteidigt worden ist. Auf der Grundlage einer genaueren Analyse dieser Position werde ich in einem zweiten Schritt darlegen, dass die Attraktivität dieser Position aber nur um den Preis eines entscheidenden Schwachpunktes erkauft werden kann, der Anti-Perfektionistischen Liberalen nicht verborgen geblieben ist und Gegenstand einer Reihe von überzeugenden Kritiken geIn einem jüngeren Artikel erweckt Wall allerdings den Eindruck, er würde – ähnlich wie Raz – einer eingeschränkten Gültigkeit des Neutralitätsprinzips zustimmen, vgl. Steven Wall, »Neutralism for Perfectionists: The Case of Restricted State Neutrality«, Ethics 100, no. 2 (2010). Es geht hier allerdings nicht um die Unterscheidung von zwangsbewehrten und nicht-zwangsbewehrten Methoden, sondern ferner um eine staatliche Neutralität gegenüber vergleichbar oder nicht-vergleichbar wertvollen Lebensweisen. In dem von mir referierten Sinne bleibt Wall also Nicht-Kompatibilist.
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worden ist. 71 In einem dritten Schritt werde ich deshalb zu dem Schluss kommen, dass es erfolgsversprechender ist, einen nicht-kompatibilistischen Perfektionistischen Liberalismus zu vertreten, wenn man nach einer kohärenten und attraktiven Alternative zu einem Politischen Liberalismus sucht. 72 Was ist an dem kompatibilistischen Modell eines Perfektionistischen Liberalismus, wie ihn Raz entworfen hat, so attraktiv? Meiner Ansicht nach beruht die Attraktivität einer solchen Variante eines Perfektionistischen Liberalismus hauptsächlich darin, dass sie verspricht, Anti-Perfektionistischen Liberalen ein großes Zugeständnis machen zu können, ohne damit zugleich die Stärken bzw. Vorteile eines Perfektionistischen Liberalismus aufgeben zu müssen. Dies soll dadurch ermöglicht werden, dass ein Neutralitätsprinzip akzeptiert wird, das nicht anhand eines inhaltlichen Kriteriums operiert, sondern auf einer methodischen bzw. formalen Ebene. Gemäß einem kompatibilistischen Perfektionistischen Liberalismus – der auch das »Millsche Modell« genannt werden kann – ist nichts dagegen einzuwenden, dass politische Maßnahmen mit Argumenten gerechtfertigt werden, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, solange es sich um politische Maßnahmen handelt, die nicht den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt beinhalten. Solange ein Staat keine zwangsbewehrten Methoden verwendet, um seine Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens zu unterstützen, sind liberale Grundwerte (z. B. Respekt der Freiheit und Gleichheit von Personen, Autonomie, Pluralität etc.) sowie individuelle Freiheitsrechte nicht in Gefahr. 73 Entscheidend ist also, in welchem »modus procedendi« der Staat agiert. Die Attraktivität eines kompatibilistischen Perfektionistischen Liberalismus beruht also darauf, dass er einen Kompromiss formuliert, der eine Absage an radikale Forderungen im Lager Politischer Liberaler wie auch im Lager Perfektionistischer Liberaler erteilt: Politischen Liberalen hält er entgegen, dass diese Art von Politischem Perfektionismus zentrale liberale Grundwerte nicht gefährdet, weil ein solcher ja nur fordert, dass kontroverse perfektionistische ArguZu nennen ist hier insbesondere Quong, Liberalism without Perfection, 45–136. Hier unterscheidet sich meine Variante eines Perfektionistischen Liberalismus deutlich von der von Couto verteidigten. Meiner Ansicht nach erbt sie mit ihrer Abhängigkeit von Raz auch dessen Schwachpunkte, auf die vor allem jüngst Quong hingewiesen hat und die ich weiter unten darstellen werde. 73 Vgl. Wall und Klosko, Perfectionism and Neutrality, 7. 71 72
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mente im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des politischer Maßnahmen eine Rolle spielen dürfen, bei der der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nicht impliziert ist. 74 Kritikern im eigenen Lager hingegen kann ein solches Kompatibilitätsmodell entgegenhalten, dass die Geltung des Neutralitätsprinzips sich nur auf zwangsbewehrte Methoden staatlichen Handelns bezieht, aber ein Großteil staatlichen Handelns nun Legitimität beanspruchen kann, auch wenn es ausschließlich im Rekurs auf kontroverse perfektionistische Argumente gerechtfertigt wird. Politische Maßnahmen, mittels derer für Bürger Anreize geschaffen werden, ein gutes Leben zu wählen und zu führen (z. B. durch Steuererleichterungen, Subventionierung bestimmten Verhaltens etc.), dürfen Legitimität beanspruchen, auch wenn sie nur mit Argumenten gerechtfertigt werden, die kontroverse Prämissen darüber voraussetzen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Mit derartigen Argumenten gerechtfertigte Maßnahmen gehören zum legitimen Umfangsbereich staatlichen Handelns, weil sie nicht mit dem Gebrauch der staatlichen Zwangsgewalt verbunden sind. Zielt eine politische Maßnahme hingegen darauf ab, Bürger per Gesetz zur Übernahme einer als gut beurteilten Lebensweise (z. B. abstinent zu leben) bzw. zur Aufgabe einer als schlecht beurteilten Lebensweise (z. B. seinen Lebensunterhalt mit Prostitution zu verdienen) zu zwingen, dann darf sie niemals mit Argumenten gerechtfertigt werden, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, weil hier die staatliche Zwangsgewalt ins Spiel kommt. Wann die Menge der Argumente bzw. Gründe für die Rechtfertigung politischer Maßnahmen durch ein Neutralitätsprinzip beschränkt werden muss, hängt demnach entscheidend an der Beurteilung der Methode bzw. der Art und Weise ab, mit der ein Staat seine perfektionistischen Ziele erreichen will. Ein kompatibilistischer Perfektionistischer Liberalismus muss also angeben können, bei welchen Methoden ein Neutralitätsprinzip zu respektieren ist und bei welchen nicht. Doch auch dieser Aufgabe erweist sich ein kompatibilistischer Perfektionistischer Liberalismus gewachsen. Im Rückgriff auf Sher können vier Methoden unterschieden werden, mittels derer ein Staat seine Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens fördern bzw. unterstützen kann 75: (1) Erstens kann der Staat Bürger in der 74 75
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Vgl. Couto, Liberal Perfectionism, 1, 8. Die folgende Zusammenfassung beruht auf Sher, Beyond Neutrality, 34–37.
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Wahl und im Führen eines guten Lebens dadurch zu unterstützen versuchen, dass er als schlecht beurteilte Lebensweisen oder Aktivitäten strafrechtlich sanktioniert und die Wahl und das Führen solcher Lebensentwürfe damit unattraktiver macht. (2) Zweitens kann der Staat aber auch bestimmte Lebensweisen oder Aktivitäten attraktiver machen und damit in einer positiven Weise seine Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens fördern. Etwa kann er steuerliche Vergünstigungen für bestimmte Verhaltensweisen (z. B. wohltätige Spenden) gewähren oder bestimmte kulturelle Angebote subventionieren und damit preislich attraktiver machen gegenüber anderen, als wertlos erachteten Freizeitangeboten. Während der Staat durch angedrohte Sanktionen oder die Schaffung von Anreizen einen Einfluss auf das rationale Kalkül seiner Bürger zu gewinnen versucht, indem er die zu erwartenden Konsequenzen einer Lebensweise oder einer Aktivität attraktiver oder weniger attraktiv macht, so kann er sich drittens (3) aber auch darum bemühen, seine Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens zu unterstützen, indem er Einfluss darauf nimmt, was seine Bürger für einen Charakter besitzen und was sie entsprechend diesem Charakter für Verhaltensdispositionen bzw. Präferenzen ausbilden. Wie Sher festhält, handelt es sich bei dieser Methode um eine nicht-rationale Einflussnahme, wie sie z. B. bei abschreckenden Kampagnen gegen Drogenkonsum zum Einsatz kommt, die das Verhalten von Bürgern nicht dadurch ändern will, dass sie Einfluss auf das rationale Kalkül durch die Manipulation der erwartbaren Konsequenzen einer Handlung oder Lebensweise nimmt, sondern die Wahlen von Bürgern dahingehend beeinflussen will, dass sie aus sich heraus eher wertvolle Aktivitäten oder Lebensweisen präferieren als wertlose. 76 Als vierte (4) und letzte Möglichkeit erwähnt Sher schließlich, dass der Staat Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens nicht nur dadurch fördern kann, dass er Einfluss darauf zu nehmen versucht, welche Optionen von seinen Bürgern gewählt werden, sondern seine Methode, seine Bürger in der Wahl eines guten Lebens zu unterstützen, auch schlicht darin bestehen kann, die Bedingung der Möglichkeit einer solchen Wahl zu schaffen, nämlich für eine genügende Bandbreite von wertvollen OpHier kann die staatlich subventionierte Kampagne »Kenn dein Limit« als Beispiel dienen, die nicht nur rational gegen Alkoholmissbrauch argumentiert, sondern mittels Kurzfilmen Ekel und Abscheu gegen solch ein Verhalten zu erzeugen beabsichtigt, vgl. https://www.kenn-dein-limit.info/ (Zugriff am 28. Januar 2014).
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tionen in einer Gesellschaft oder Kultur zu sorgen, zwischen denen Bürger wählen können. Gemäß dieser Methodik sorgt der Staat z. B. durch Subventionierung von Theatern oder Opern oder eine gesetzliche Anerkennung bestimmter Lebensentwürfe – z. B. heterosexueller, monogamer Partnerschaften – dafür, dass eine bestimmte Bandbreite an als wertvoll erachteten Optionen in einer Gesellschaft erhalten bleibt, die sehr wahrscheinlich ohne diese Unterstützung verschwinden würde. Menschen, für die beispielsweise der regelmäßige Theaterbesuch oder die wissenschaftliche Forschung zu einem guten Leben dazugehört, können ein solches Leben nur wählen und führen, wenn sie in einer Gesellschaft leben, die über gesellschaftliche Institutionen wie Theaterbühnen oder Universitäten verfügt und soziale Lebensformen wie die des Kulturliebhabers und Wissenschaftlers kennt. Der prominenteste Vertreter einer solchen Argumentation ist wiederum Raz mit seiner social form thesis, wonach das Vorhandensein und die Bandbreite sozialer Formen wesentlich darüber mitentscheidet, was für eine Art von gutem Leben Bürger in einem Staat führen können. 77 Demnach unterstützt der Staat seine Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens dadurch, dass er eine Bandbreite an gesellschaftlichen Institutionen und sozialen Formen erhält, ohne die sich die umfassenden und als wertvoll erachteten Ziele – z. B. Kunstgenuss oder Suche nach Wahrheit oder Erkenntnis von Wissen – von Bürgern nicht verwirklichen können. Das modus procedendi Modell eines kompatibilistischen Perfektionistischen Liberalismus erweist sich auf dem Hintergrund dieser Unterscheidungen als besonders attraktiv, weil es gut begründen kann, warum und in welchen Fällen es legitim ist, dass politische bzw. staatliche Maßnahmen ausschließlich mit Rekurs auf kontroverse perfektionistische Argumente gerechtfertigt werden dürfen. Gemäß diesem Modell gilt das Neutralitätsprinzip für staatliches Handeln, das entsprechend Methode (1) operiert. Die Methoden (2) bis (4) hingegen stellen Methoden dar, mit denen der Staat seine Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens in einer Art und Weise unterstützt, die nicht den Beschränkungen des Neutralitätsprinzips unterworfen ist. Anders als bei Methode (1) kann es hier also Fälle geben, in denen staatliches Handeln selbst dann Legitimität beanspruchen kann, wenn es nur mit Argumenten gerechtfertigt wer77
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Vgl. Raz, The Morality of Freedom, 308–313; 348–357.
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den kann, die von kontroversen Prämissen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Die Attraktivität eines kompatibilistischen Perfektionistischen Liberalismus liegt also darin begründet, dass er an einem kritischen Punkt Politischen Liberalen ein Zugeständnis macht, dafür aber zugleich auf raffinierte Weise einen großen Spielraum für perfektionistische Rechtfertigungen staatlichen Handelns eröffnet: Was von Raz bzw. Vertretern eines kompatibilistischen Perfektionistischen Liberalismus wie Couto zugestanden wird, das ist, dass die strafrechtliche Sanktionierung von als schlecht beurteilten Lebensweisen, bei denen Dritte nicht zu schaden kommen, einen massiven Eingriff in die autonome Lebensführung von Individuen darstellt, die mit einem klassischen liberalen harm principle nicht vereinbar ist. Wenn ein Staat hingegen lediglich Anreize schafft oder die Bedingungen der Möglichkeit für die Wahl bestimmter wertvoller Optionen herstellt – wie bei den Methoden (2) bis (4) –, dann liegt keine Verletzung des harm principle und kein illegitimer Eingriff in den autonomen Handlungsbereich von Individuen vor, was bedeutet, dass hier das Neutralitätsprinzip keine Anwendung findet. Es bietet sich nun an, diese Grundidee eines kompatibilistischen Perfektionistischen Liberalismus in die Rechtfertigungsterminologie zu übersetzen, in der das Neutralitätsprinzip formuliert ist: Nach dem skizzierten Kompatibilitätsmodell gilt demnach für die Methode (1) und die Methoden (2) bis (4) ein anderer Rechtfertigungsstandard aufgrund unterschiedlich massiver staatlicher Eingriffe in die persönliche Autonomie. Politische Maßnahmen, die sich der Methoden (2) bis (4) bedienen, können auch mit Argumenten bzw. Gründen gerechtfertigt werden, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, weil es sich hier um nichtzwangsbewehrte Methoden handelt, die Individuen, welche die in diesen Annahmen sich ausdrückende Konzeption eines guten Lebens vernünftigerweise ablehnen können, in einer autonomen Lebensführung nicht sonderlich beeinträchtigen. Sollte ein Bürger z. B. trotz einer eingehenden Aufklärung über die Vorzüge und den Wert von Theatervorstellungen kein Interesse an Theaterbesuchen haben und stattdessen weiterhin Hollywood-Filme im Kino bevorzugen, schränkt eine staatliche Subventionierung von Theaterkarten seine Autonomie nicht merklich ein. Die Androhung eines Freiheitsentzugs im Falle eines Kinobesuchs stellt allerdings einen massiven Eingriff in seine autonome Lebensführung dar, weshalb bezüglich MePerfektionistischer Liberalismus
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thode (1) ein Rechtfertigungsstandard gilt, der verlangt, dass politische Maßnahmen, die mit derartigen Mitteln durchgesetzt werden, mit Argumenten bzw. Gründen gerechtfertigt werden müssen, die unabhängig von kontroversen Konzeptionen eines guten Lebens sind. Auf der Grundlage der vorausgehenden Analyse der Position eines kompatibilistischen Perfektionistischen Liberalismus und der Erläuterung, warum sie so attraktiv erscheint, möchte ich nun in einem zweiten Schritt aufzeigen, dass diese Attraktivität allerdings nur zum Preis einer entscheidenden Schwäche zu haben ist, die Anti-Perfektionistische Liberale ausnutzen, um die Position eines Perfektionistischen Liberalismus insgesamt zu diskreditieren. Der entscheidende Schwachpunkt eines kompatibilistischen Perfektionistischen Liberalismus liegt in seiner Annahme, er könne klar und eindeutig zwischen zwangsbewehrten und nicht-zwangsbewehrten Methoden unterscheiden, und in dem damit verbundenen Zugeständnis an Anti-Perfektionistische Liberale, dass staatliches Handeln, das sich zwangsbewehrter Methoden bedient, um Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens zu unterstützen, in einem prinzipiellen Sinne niemals legitim sein kann. Dieses Zugeständnis ist fatal, denn es macht die Position eines Perfektionistischen Liberalismus leicht angreifbar: Sobald ein Anti-Perfektionistischer Liberaler nachweisen kann, dass ein perfektionistisches Staatshandeln auch zwangsbewehrt ist, kann er dieses als illegitim brandmarken. Und genau dies ist auch die Strategie, die von anti-perfektionistischen Kritikern verfolgt wird, wenn sie z. B. die Unterscheidung zwischen Methode (1) und (2) angreifen. Eingefleischte Libertarier etwa sehen im Schaffen von Anreizen für eine Option A gegenüber einer Option B durch eine staatlichen Manipulation von Preisen keinen prinzipiellen Unterschied zum Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt bei der Androhung strafrechtlicher Konsequenzen für die Wahl von Option B. 78 In beiden Fällen werden – so diese Kritiker – die »natürlichen« Kosten der Wahl einer Option gegenüber einer anderen Option durch die Einflussnahme des Staates und damit durch den Gebrauch staatlicher Macht »künstlich« verändert, was eine massive Einschränkung des autonomen Handlungsspielraums mancher Bürger zur Folge haben kann. Der zwangsbewehrte Charakter von Methode (2) besteht laut Libertariern darin, dass der Staat für die Subventionierung von Option A Steuern erheben muss und er Men78
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Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 35.
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schen, die sich weigern diese Steuern zu bezahlen, mit Gefängnisstrafen und damit einem massiven Eingriff in ihre Autonomie droht. Dies impliziert nicht notwendigerweise einen Anarchismus. Ein Libertarier kann vielmehr akzeptieren, dass der Staat seine Zwangsgewalt benutzt, um durch die Erhebung von Steuern über die finanziellen Ressourcen zu verfügen, die notwendig sind für das Funktionieren eines Minimalstaats, also eines Staates, der sich auf Tätigkeiten wie die Sicherung unserer individuellen Freiheiten oder die Schaffung einer funktionierenden Infrastruktur beschränkt. Erhebt der Staat hingegen Steuern, um z. B. Theater zu subventionieren, dann gebraucht er seine Zwangsgewalt für eine Aufgabe, die nicht zu den notwendigen Minimalaufgaben gehört, und greift – so Libertarier – massiv in die individuelle Autonomie seiner Bürger ein. Er verletzt deren Besitz- und Eigentumsrechte und schränkt deutlich ihre Freiheit ein, mit ihrem Geld zu machen, was sie wollen. Zwar unterscheiden sich die Methoden (1) und (2) graduell bezüglich des in ihnen involvierten Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt, aber eben nicht prinzipiell. Autoren wie Raz, dessen Perfektionistischer Liberalismus auf einer prinzipiellen Unterscheidung zwischen zwangsbewehrten und nicht-zwangsbewehrten Methoden perfektionistischen Staatshandelns beruht 79, sind deshalb genau an diesem Schwachpunkt von Seiten Anti-Perfektionistischer Liberaler angegriffen worden. 80 Das skizzierte modus procedendi Modell eines umfassend begründeten Perfektionistischen Liberalismus zwingt zu folgendem Zugeständnis: Die klassifikatorische These Perfektionistischer Liberaler, dass es wenigstens manche Fälle gibt, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden kann, ist nur dann mit der Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips vereinbar, wenn dessen Geltungsbereich auf die Rechtfertigung politischer Maßnahmen beschränkt wird, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt implizieren. Wenn Anti-Perfektionistische Liberale wie Quong aber nun plausibel machen können, dass jegliches staatliche Handeln den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt impliziert, dann können politische Vgl. Raz, The Morality of Freedom, 161; 417. Vgl. Lecce, Against Perfectionism, 121–124; Quong, Liberalism without Perfection, 73–107. Wie oben schon erwähnt, berücksichtig Couto meiner Ansicht nach zu wenig, dass diese Kritik auch ihr Modell betrifft, wenn sie Raz im Wesentlichen folgt.
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Maßnahmen, die mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden, niemals legitim sein. 81 Die scheinbare Stärke eines solchen kompatibilistischen Modells entpuppt sich also als seine Achillesferse. In einem dritten und letzten Schritt möchte ich deshalb zu dem Schluss kommen, dass es für Perfektionistische Liberale in der Auseinandersetzung mit Politischen Liberalen erfolgversprechender ist, einen Kompatibilismus aufzugeben, was der Strategie entspricht, die von Autoren wie Hurka, Sher und Wall verfolgt wird. Mit der Ablehnung der Akzeptanz eines beschränkten Neutralitätsprinzips entziehen sie Anti-Perfektionistischen Liberalen die Angriffsfläche, weil sie nicht mehr gezwungen sind, ein eindeutiges Kriterium für die Unterscheidung von zwangsbewehrten und nicht-zwangsbewehrten Methoden staatlichen Handelns zu benennen. Umgekehrt impliziert dies, dass sie keine der vier skizzierten Methoden staatlichen Handelns aus prinzipiellen Gründen ausschließen. Der »Preis« einer solchen Option kann allerdings dadurch reduziert werden, dass Perfektionistische Liberale darauf hinweisen, dass es einen graduellen Unterschied zwischen der Zwangsbewehrtheit der Methoden gibt, und sich von daher plausibel machen lässt, dass an unterschiedliche Methoden unterschiedlich starke Rechtfertigungsstandards angelegt werden. Gemäß diesem Gedankengang müssen für die Rechtfertigung eines perfektionistischen Staatshandeln gemäß Methode (1) weitaus gewichtigere Argumente bzw. Gründe vorgebracht werden als bei den Methoden (2) bis (4). Gegen die Anwendung von Methode (1) spricht zudem der unabhängige Grund, dass es oft nicht effektiv ist, Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens durch eine Strafgesetzgebung zu motivieren. 82
2.2 Das konstruktive Element Ein Perfektionistischer Liberalismus definiert sich nicht allein via negativa durch seine Ablehnung eines anti-perfektionistischen Neutralitätsprinzips, sondern auch durch ein konstruktives Element. Denn positiv gewendet behaupten Perfektionistische Liberale, dass es Fälle Vgl. Liberalism without Perfection, 45–72. Vgl. Hurka, »Indirect Perfectionism«, 44; Sher, Beyond Neutrality, 70–71; Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 198–202.
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gibt, in denen kontroverse perfektionistische Urteile den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen und damit legitimieren können. Zentral für diesen Nachweis ist, dass sich so etwas wie eine objektive Theorie eines guten Lebens bzw. eine objektive Werttheorie verantwortlich vertreten lässt. 83 Diese These hat eine ethische und eine politische Dimension, die ich in den folgenden Unterabschnitten näher analysieren werde. Durch die Einführung von begrifflichen Differenzierungen verfolge ich dabei jeweils ein zweifaches Ziel: Zum einen möchte ich herausarbeiten, zu welchen politischen wie (meta-)ethischen Annahmen ein Perfektionistischer Liberaler notwendigerweise verpflichtet ist, wenn er sich von einem Politischen Liberalismus absetzt. Zum anderen ermöglicht mir die begriffliche Differenzierung die Diskussion alternativer Varianten eines Perfektionistischen Liberalismus, anhand derer eine Reihe von gängigen Einwänden entkräftet und eine attraktive Version eines Perfektionistischen Liberalismus identifiziert werden kann.
2.2.1 Die politische Dimension Die »politische« Dimension eines Perfektionistischen Liberalismus ergibt sich aus der Tatsache, dass es sich hier um eine Theorie über den legitimen Umfangsbereich staatlichen Handels handelt. Da ich in dieser Arbeit behaupte, dass ein »Perfektionistischer Liberalismus« sich als eine Position innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie – genauer: eines public reason liberalism – konzipieren und verteidigen lässt, gilt es zunächst einmal zu untersuchen, was an einer solchen Theorie »liberal« und was »perfektionistisch« ist und ob sich diese Elemente widerspruchsfrei miteinander verbinden lassen. 2.2.1.1 Erste notwendige Bedingung: Individuenrelativität Während ich im vorausgehenden Unterabschnitt (insbesondere 2.1.2) dafür argumentiert habe, dass für einen Perfektionistischen Liberalismus die Ablehnung eines Neutralitätsprinzips konstitutiv ist, so werde ich nun darlegen, dass eine solche Position nur dann den Rahmen Vgl. »Perfectionism in Politics: A Defense«, in Contemporary Debates in Political Philosophy. Thomas Christiano und John Philip Christman (Hg.) (Oxford: WileyBlackwell, 2009), 99–105.
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einer liberalen Politischen Philosophie nicht sprengt, wenn sie gewisse liberale Prämissen bzw. Überzeugungen und die sich daraus ableitenden Beschränkungen akzeptiert. Es ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass sich die Notwendigkeit der Akzeptanz dieser Beschränkungen direkt aus besagten liberalen Grundüberzeugungen bzw. – werten ableitet und nicht aus einem irgendwie gearteten Neutralitätsprinzip. 84 Was für Beschränkungen habe ich hier im Blick? »Perfektionistische« Theorien bezeichnen in der Politischen Philosophie zunächst einmal ganz allgemein eine Menge von historisch wirkmächtigen Theorien, deren verbindende These es ist, dass es zumindest auch zu den legitimen Aufgaben des Staates gehört, Vollkommenheitsideale zu realisieren oder zu begünstigen. 85 Soll dieses »perfektionistische« Element nun nicht mit liberalen Grundüberzeugungen in Konflikt geraten, wie z. B. der Geltung von individuellen Freiheitsrechten oder liberalen Werten wie Gleichheit, Freiheit und Toleranz, dann bedeutet dies, dass ein Perfektionistischer Liberalismus sich notwendigerweise auf die Förderung eines individuenrelativen Vollkommenheitsideals beschränken muss, welches mit einem normativen Individualismus kompatibel ist, aber nicht für die Realisierung von kollektivistischen Vollkommenheitsidealen eintreten kann, also Vollkommenheitsidealen, die nicht auf Individuen bezogen sind und die deshalb einen normativen Kollektivismus implizieren. Einen Perfektionismus im Rahmen einer liberalen Politischen Philosophie zu vertreten, ist also nur dann keine contradictio in terminis, wenn sich der liberale Staat darauf beschränkt, ein individuenrelatives Vollkommenheitsideal durch sein Handeln zu fördern, was sich etwa darin ausdrücken kann, die Ausbildung bestimmter individueller Charaktereigenschaften durch politische Maßnahmen zu fördern bzw. zu begünstigen. 86 Anders formuliert: Perfektionistisches staatliches HanIch werde insbesondere in Kapitel 7 darlegen, dass diese Unterscheidung wesentlich ist, um dafür zu argumentieren, dass man sich mit der Ablehnung eines Neutralitätsprinzips nicht ipso facto aus dem Lager eines public reason liberalism verabschiedet, weil man eine Verpflichtung zur öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt damit ablehnt und damit bestimmte liberale Grundüberzeugungen negiert, aus denen sich das Neutralitätsprinzip – vermeintlich – ableitet. 85 Vgl. Horn, Politische Philosophie, 20. 86 Vgl. ibid. Hier stimme ich mit Couto nicht überein. Gemäß ihr ist ein Politischer Perfektionismus »illiberal«, wenn er bereit ist, auch den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt in Anspruch zu nehmen, um perfektionistisch begründete politische Maßnahmen umzusetzen, vgl. Couto, Liberal Perfectionism, 1, 8. Wie ich oben dar84
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deln kann im Rahmen einer liberalen Politischen Philosophie nur dann Legitimität beanspruchen, wenn dieses Handeln einem normativen Individualismus verpflichtet ist, also konsequent auf die Förderung und das Gedeihen von Individuen ausgerichtet ist und nicht bereit ist, dieses Gedeihen bzw. Wohlergehen der Erreichung eines kollektivistisch konzipierten Vollkommenheitsideal – z. B. der Förderung eines perfekten sozialen Zustands, der Herstellung einer vollkommenen Herrschaftsform oder der Perfektionierung der menschlichen Gattungsidentität – unterzuordnen. 87 Eine derartige Beschränkung des legitimen Umfangsbereichs perfektionistischen staatlichen Handelns steckt theoretisch wie normativ den Rahmen ab, innerhalb dessen ein Perfektionistischer Liberalismus konzipiert werden kann. Damit wird möglichen »Dammbruchargumenten« schon im Vorfeld der eigentlichen Diskussion der Wind aus den Segeln genommen: Die Geltung liberaler Freiheitsrechte bzw. bestimmter liberaler Grundüberzeugungen wird mit einem Perfektionistischen Liberalismus nicht zu Gunsten irgendwelcher perfektionistischen Vollkommenheitsideale zur Disposition gestellt, sondern es wird dafür argumentiert, dass es im Rahmen einer liberalen Theorie zum legitimen Umfangsbereich staatlichen Handelns gehören kann, die Realisierung bestimmter individuenrelativen Vollkommenheitsideale zu fördern bzw. zu begünstigen, auch wenn zur Rechtfertigung eines entsprechenden Handelns nur auf kontroverse perfektionistische Argumente verwiesen werden kann. Da die Übernahme eines normativen Kollektivismus offensichtlich unvereinbar ist mit zentralen liberalen Grundüberzeugungen bzw. -werten, disqualifiziert sich ein Perfektionistischer Liberalismus somit automatisch als viable Option innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie, sobald nachgewiesen werden kann, dass ein derartiger Staat bereit ist, das Wohlergehen einzelner Bürger auf dem Altar irgendeines kollektiven Vollkommenheitsideals zu opfern.
legt habe (siehe 2.1.2.3), vertritt Couto somit einen kompatibilistischen Perfektionistischen Liberalismus, der ein Neutralitätsprinzip in Bezug auf die Methoden bzw. den modus procedendi staatlichen Handelns akzeptiert. Ich halte stattdessen dafür, dass das entscheidende Kriterium für liberale Positionen die Akzeptanz eines allgemeinen Prinzips der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ist. Liberal ist, wer staatliches Handeln nur dann als legitim betrachtet, wenn es öffentlich gerechtfertigt ist, egal ob es nun zwangsbewehrt ist oder nicht. 87 Vgl. Horn, Politische Philosophie, 17–20. Perfektionistischer Liberalismus
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2.2.1.2 Zweite notwendige Bedingung: Direktheit Eine zweite notwendige Bedingung, der ein Perfektionistischer Liberalismus genügen muss und die sich seiner politischen Dimension zuordnen lässt, kann als »Direktheit« bezeichnet werden. Gemeint ist damit folgendes: Für Perfektionistische Liberale reicht es nicht aus, die These zu vertreten, dass es theoretisch zum legitimen Umfangsgereich staatlichen Handelns gehören kann, Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens zu unterstützen. Sie müssen ferner auch die These vertreten, dass dies auch praktisch möglich bzw. praktisch nicht unmöglich ist. Der eigentliche Gegner sind hier weniger Politische Liberale, sondern vielmehr Vertreter eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus, die – wie oben dargelegt (siehe 1.1.2 und 2.1.2.2) – einen staatlichen Perfektionismus ablehnen, aber für eine Art von »sozialem« oder »indirektem« Perfektionismus eintreten. Perfektionistische Liberale müssen hingegen notwendigerweise einen »direkten« Perfektionismus vertreten, also die These negieren, dass ein Staat aus prinzipiellen Gründen nicht in der Lage ist, Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens zu fördern. Es ist an dieser Stelle wichtig Folgendes zu berücksichtigen: Die These, dass es wenigstens einige Fälle gibt, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden kann, impliziert nicht die Verpflichtung, dies auch immer für möglich oder für das beste Mittel zur Verfolgung perfektionistischer Ziele zu halten. Perfektionistische Liberale können mit Vertretern eines »indirekten« bzw. »sozialen« Perfektionismus darin übereinstimmen, dass unter bestimmten kontingenten sozialen, historischen und kulturellen Bedingungen – z. B. einer staatlichen Ineffektivität, etwa bei Korruption politischer Entscheidungsträger durch partikuläre Interessensgruppen, oder aber aufgrund besonders heftiger sozialen Spannungen in einer Gesellschaft etc. – Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens am besten dadurch gefördert werden, dass der Staat sich neutral verhält und die Durchsetzung politischer Maßnahmen nicht mit kontroversen Urteilen über den intrinsischen oder inhärenten Wert bestimmter Lebensweisen begründet. Was ein Perfektionistischer Liberaler jedoch negieren muss, ist die These, dass ein indirekter oder sozialer Perfektionismus aus prinzipiellen Gründen geboten ist. Denn wenn es einige Fälle geben soll, wo der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt Legitimität beanspruchen kann, auch wenn 124
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er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden kann, dann impliziert dies, dass es prinzipiell nicht unmöglich ist, durch einen derartigen Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens zu fördern. Das »Sollen« muss auch ein prinzipielles »Können« implizieren, sonst könnte die Position eines Perfektionistischen Liberalismus theoretisch zwar verteidigt werden, wäre praktisch aber völlig irrelevant. Ohne ein solches »Können« könnte es auf einer theoretischen Ebene zwar manchmal legitim sein, eine politische Maßnahme mit kontroversen perfektionistischen Argumenten zu rechtfertigen, aber wenn auf einer praktischen Ebene prinzipielle Gründe dafür sprechen, dass ein perfektionistisches Staatshandeln sich im besten Falle als kausal wirkungslos oder im schlimmsten Falle als kontraproduktiv erweist, dann führt dies de facto notwendigerweise zu einem staatlichen Anti-Perfektionismus. 2.2.1.3 Erste Option: Monozentrisch oder multizentrisch? Nach der Formulierung von zwei notwendigen Bedingungen eines Perfektionistischen Liberalismus werde ich in diesem und dem folgenden Unterabschnitt Optionen vorstellen und diskutieren, die zu unterschiedlich plausiblen bzw. attraktiven Varianten eines Perfektionistischen Liberalismus führen. Mein Ziel ist es, eine Version eines Perfektionistischen Liberalismus zu identifizieren, die möglichst viele anti-perfektionistische Einwände schon im Vorfeld der eigentlichen Diskussion und Auseinandersetzung mit Anti-Perfektionistischen Liberalen entkräften kann. Im Anschluss an Chan können Vertreter eines Perfektionistischen Liberalismus vor die Wahl gestellt werden, ob sie einen »monozentrischen« oder einen »multizentrischen« Perfektionistischen Liberalismus vertreten wollen. 88 Die Differenz zwischen diesen beiden Varianten lässt sich an unterschiedlichen Antworten auf zwei Fragen anschaulich machen: Wer wird als relevanter politischer Akteur perfektionistischen Handelns betrachtet? Anhand welcher lexikalischen Ordnung werden verschiedene politische Ebenen und Institutionen hierarchisiert? Während monozentrische Ansätze die staatliche Ebene bzw. staatliche Institutionen als die primär relevanten politischen Akteure ansehen und dementsprechend ein »top-down-Modell« politischen Agierens favorisieren, legt ein multizentrischer Perfektionis88
Vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 15–16; 30.
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tischer Liberalismus ein stärkeres Gewicht auf das politische Agieren zivilgesellschaftlicher Akteure und favorisiert ein »bottom-up-Modell« politischen Handelns. Anders formuliert: Ein Monozentrist sieht zunächst den Staat in der Verantwortung, Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens zu fördern, und gesteht lediglich im Falle eines Versagens oder Unvermögens des Staates zivilgesellschaftlichen Institutionen eine unterstützende Rolle zu. Ein Multizentriker hingegen hält primär zivilgesellschaftliche Akteure dafür verantwortlich, die Bedingungen für die Wahl und das Führen eines guten Lebens zu schaffen, und weist dem Staat die subsidiäre Aufgabe zu, diese Bemühungen unterstützend zu flankieren oder ganz zu übernehmen, wenn die Zivilgesellschaft überfordert ist. 89 Auch wenn die meisten Perfektionistischen Liberalen Monozentriker sind, so erscheint es mir klüger und attraktiver für einen multizentrischen Perfektionistischen Liberalismus zu optieren. Ich möchte hierfür zwei Gründe nennen: Erstens kann ein Multizentriker vielen Intuitionen gerecht werden, die den »sozialen« bzw. »indirekten« Perfektionismus eines umfassend begründeten Anti-Perfektionistischen Liberalismus – wie ihn z. B. Kymlicka vertritt – stark machen. Multizentriker können die Argumentation derartiger Anti-Perfektionistischer Kritiker unterlaufen, indem sie deutlich machen, dass das Plädoyer für einen direkten staatlichen Perfektionismus nicht gleichzusetzen ist mit der Zustimmung zur Dichotomie, dass es nur einen kulturellen Marktplatz ohne jeglichen staatlichen Perfektionismus geben kann, oder einen staatlichen Perfektionismus ohne jeglichen Raum für einen kulturellen Marktplatz. 90 Ein multizentrischer Perfektionistischer Liberalismus kann etwa der Intuition von anti-perfektionistischen Kritikern wie Kymlicka gerecht werden, dass die Entfaltung individueller Autonomie von bestimmten sozialen und kulturellen Bedingungen abhängt, zu denen unter anderem gehört, dass es eine Pluralität an Wert- bzw. Gütervorstellungen gibt, über die in nichtstaatlichen Foren frei deliberiert werden kann. Diese Möglichkeit zur Deliberation sollte aber nicht nur als äußere Bedingung für Autonomie im Sinne eines »Wählen-Könnens« zwischen in sich wertvollen Optionen verstanden werden, was auch Monozentriker wie Raz bejahen würden. Zivilgesellschaftliches Engagement und politische Beteiligung an gemeinschaftlichen bzw. »kollektiven« Deliberations89 90
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Vgl. ibid., 15–16. Vgl. Hurka, »Indirect Perfectionism«, 54.
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prozessen aktualisiert vielmehr unsere Fähigkeit zur Freiheit und gehören zur Realisierung einer Vorstellung eines guten Lebens, für die der Wert von Autonomie zentral ist, dazu. Für die Übernahme eines multizentrischen Perfektionistischen Liberalismus spricht also das gewichtige Argument, dass dieser effektiv einer paternalistischen Tendenz mancher monozentrischer Ansätze durch eine stärkere Betonung der Eigenverantwortlichkeit von Bürgern und der Wichtigkeit einer zivilgesellschaftlichen politischen Ebene begegnen kann, ohne daraus – wie ein indirekter bzw. sozialer Perfektionismus – zu folgern, dass ein Staatshandeln zur Erreichung dieser perfektionistischen Ziele aus prinzipiellen Gründen entweder wirkungslos oder kontraproduktiv sein muss und deshalb abzulehnen ist. 91 Darauf aufbauend kann ein Multizentrist zweitens argumentieren, dass die wechselseitige Abhängigkeit und Verflechtung von Zivilgesellschaft und Staat eine gegenseitige Kontrolle und Korrektur erlaubt. Damit kann zum einen der Intuition Kymlickas Rechnung getragen werden, dass perfektionistisches staatliches Handeln auch kontraproduktive Effekte haben und Bürger von der Wahl und dem Führen eines guten Lebens abhalten kann, zum anderen können aber auch die Intuitionen von feministischen Autorinnen wie Kimberly Yuracko 92 und insbesondere Clare Chambers 93 berücksichtigt werden, die darauf aufmerksam machen, dass es auch der Einfluss der Zivilgesellschaft bzw. zivilgesellschaftlicher Akteure oder Institutionen sein kann, der Bürger von der Wahl und im Führen eines guten Lebens abhält und es manchmal einer korrektiven perfektionistischen Einwirkung durch den Staat bedarf, um Bürger vor diesen Schädigungen effektiv bewahren zu können. 94
Weiterführende Überlegungen zur Verhältnisbestimmung von Perfektionismus und Paternalismus finden sich bei Francis H. Buckley, Fair Governance: Paternalism and Perfectionism (Oxford: Oxford University Press, 2009); Johannes Drerup, Paternalismus, Perfektionismus und die Grenzen der Freiheit (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2013). 92 Vgl. Yuracko, Perfectionism and Contemporary Feminist Values. 93 Vgl. Chambers, Sex, Culture, and Justice. 94 Vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 16; 30. Eine eigene Variante eines multizentrischen Perfektionistischen Liberalismus ließe sich meiner Ansicht nach sehr gut im Rückgriff auf jüngere Arbeiten von Alasdair MacIntyre entwickeln, der dafür argumentiert, dass kleine lokale Gemeinschaften den primären politischen Lebensraum darstellen, in denen Menschen als Menschen gedeihen können. Siehe MacIntyre, Dependent Rational Animals. 91
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2.2.1.4 Zweite Option: Gerechtigkeitsbasiert oder nicht-gerechtigkeitsbasiert? Anders als die vorausgehende Option formuliert die Unterscheidung zwischen einem »gerechtigkeitsbasierten« und einem »nicht-gerechtigkeitsbasierten« Perfektionistischen Liberalismus keinen Unterschied zwischen zwei sich ausschließenden theoretischen Varianten eines Perfektionistischen Liberalismus. Hier geht es vielmehr um die Frage, welche argumentativen Strategien einem Perfektionistischen Liberalen zur Verfügung stehen, um seine Position innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie und insbesondere gegenüber Politischen Liberalen zu verteidigen. Um diese Unterscheidung einzuführen ist es hilfreich, kurz zwei Intuitionen zu charakterisieren, die für die Relevanz perfektionistischer Überlegungen im Rahmen einer liberalen Politischen Philosophie sprechen. Gewöhnlich wird eingesehen, dass es eine starke Intuition gibt, die besagt, dass eine Bestimmung von Gerechtigkeitsprinzipien – z. B. für eine gerechte Verteilung von Gütern oder eine Gleichbehandlung von Personen – nicht vollständig formal vollzogen werden kann, sondern immer schon materiale Annahmen darüber voraussetzt, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Sowohl die Identifikation von Gütern, die fair verteilt werden sollen, als auch die Frage, was eine faire Verteilung darstellt, impliziert unhintergehbar perfektionistische Überlegungen und Urteile. 95 Der Versuch AntiPerfektionistischer Liberaler, in der Rechtfertigung staatlichen Handelns vollständig auf kontroverse perfektionistische Überlegungen zu verzichten und den legitimen Umfangsbereich staatlichen Handelns auf Gerechtigkeitsfragen zu beschränken, scheitert laut dieser Intuition schon daran, dass ohne einen Rückgriff auf eine Vorstellung von einem guten Leben nicht bestimmt werden kann, was gerecht ist und wem welche Güter aus welchen Gründen zukommen sollen. 96 Im Anschluss an Quong kann ein Perfektionistischer Liberalismus, der diese Intuition zum Ausgangspunkt seiner argumentativen Strategie gegen einen Anti-Perfektionistischen Liberalismus wählt, als »gerechtigkeitsbasiert« qualifiziert werden. 97 Dieser Position können Autoren wie Vinith Haksar und Martha Nussbaum (m. E. auch Amartya Sen) zugerechnet werden, allerdings lehnt z. B. Nussbaum 95 96 97
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Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 29. Vgl. Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 12–13. Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 29–30.
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selbst diese Qualifizierung ab, weil sie glaubt, ihr capability approach sei eine freistehende moralische Konzeption und stelle insofern lediglich eine Ergänzung zu einem Politischen Liberalismus dar. 98 Eine solche argumentative Strategie ist sehr beliebt und – meiner Meinung nach – recht erfolgsversprechend, aber ein Vertreter eines Perfektionistischen Liberalismus ist nicht notwendigerweise auf sie festgelegt. Dies kann an folgender Überlegung ersichtlich gemacht werden: Ein Perfektionistischer Liberaler könnte einem Politischen Liberalen das weitgehende Zugeständnis machen, dass es möglich ist, Gerechtigkeitsprinzipien vollständig ohne irgendeinen Rückgriff auf eine Vorstellung von einem guten Leben zu rechtfertigen, ohne dass er dadurch gezwungen wäre, auch sein Plädoyer für einen staatlichen Perfektionismus aufzugeben. 99 Denn es bleibt ihm die Möglichkeit, seine Argumentation für einen staatlichen Perfektionismus auf eine Vgl. Haksar, Equality, Liberty, and Perfectionism; Martha C. Nussbaum, »Aristotelian Social Democracy«, in Liberalism and the Good. Bruce R. Douglass, Gerald R. Mara, und Henry S. Richardson (Hg.) (New York: Routledge, 1990); Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 2006); »Human Functioning and Social Justice: In Defense of Aristotelian Essentialism«, Political Theory 20(1992); »Nature, Function and Capability: Aristotle on Political Distribution«, Oxford Studies in Ancient Philosophy Supplement Volume (1988); Martha C. Nussbaum und Jonathan Glover, Women, Culture, and Development: A Study of Human Capabilities (Oxford: Clarendon Press, 1995); Martha C. Nussbaum und Amartya Sen, The Quality of Life (Oxford: Clarendon Press, 1993), 242–276. Die Frage, ob Nussbaum ihre Kritik am Politischen Liberalismus aufrecht erhalten kann, ohne zugleich einen Perfektionistischen Liberalismus zu übernehmen, hängt von dem Urteil darüber ab, ob ihr Fähigkeitenansatz ohne kontroverse Annahmen hinsichtlich eines guten Lebens auskommt. Da dies kontrovers diskutiert wird und ich der Überzeugung bin, dass es ihr letztlich nicht gelingt, ordne ich sie einem Perfektionistischem Liberalismus zu. Für die andere Möglichkeit optiert z. B. Angela Kallhoff, Ethischer Naturalismus nach Aristoteles (Paderborn: mentis Verlag, 2010), 201. Für eine Kritik an Nussbaums Ansatz und Nussbaums eigene Argumentation für einen Politischen Liberalismus gegen einen Perfektionistischen Liberalismus Razscher Prägung, siehe Richard J. Arneson, »Perfectionism and Politics«, Ethics 111, no. 1 (2000): 46–63; Horn, »Liberalismus und Perfektionismus – ein unversöhnlicher Gegensatz?«, 230–236; Nussbaum, »Perfectionist Liberalism and Political Liberalism«. 99 Neuere Argumente für die These, dass es möglich ist, eine Gerechtigkeitskonzeption ohne einen Rekurs auf perfektionistische Annahmen zu rechtfertigen, also Argumente gegen die argumentative Strategie eines gerechtigkeitsbasierten Politischen Perfektionismus, finden sich bei Quong, Liberalism without Perfection, 85; 120–126. Wiederum dagegen argumentiert Couto mit ihrem jüngst publizierten Ansatz eines gerechtigkeitsbasierten Perfektionistischen Liberalismus, vgl. Couto, Liberal Perfectionism, 161–201. 98
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– allerdings schwächere – Intuition zu stützen. Diese besagt, dass es eine nicht unbedeutende Menge von perfektionistischen Urteilen gibt, die unmittelbar nichts mit Gerechtigkeitsfragen zu tun haben, bei denen es aber intuitiv plausibel ist, dass sie als Prämissen in Argumenten dienen können, die den Staat mit guten Gründen für die Rechtfertigung einer politischen Maßnahme versorgen können. Dem Vorschlag von Quong folgend kann man diese Position einen »nichtgerechtigkeitsbasierten« Perfektionistischen Liberalismus nennen. 100 In Betracht kommen hier etwa Fälle wie die staatliche Subventionierung von Museen, Theatern und öffentlichen Schwimmbädern oder der jüngst etablierte Bundesfreiwilligendienst. In beiden Fällen wird ein staatliches Handeln, das bestimmte kulturelle oder soziale Praktiken fördert (z. B. ins Theater oder Museum gehen) und andere nicht (z. B. das Sammeln von Briefmarken oder Kart fahren) bzw. bestimmte Einrichtungen als Einsatzstellen im Bundesfreiwilligendienst anerkennt (z. B. Einrichtungen in der Behindertenhilfe, Umweltschutz, Jugendarbeit etc.) und andere nicht (z. B. Tankstellen oder Spielcasinos), nicht mit Argumenten gerechtfertigt, die sich aus Gerechtigkeitsüberlegungen herleiten, sondern vielmehr mit Argumenten, die von Prämissen über den intrinsischen oder inhärenten Wert der entsprechenden sozialen oder kulturellen Praktiken abhängen. Im Fall des Bundesfreiwilligendienstes bezieht man sich zur Rechtfertigung der vorgenommenen Selektion von möglichen Aufgabenbereichen sogar explizit auf den Begriff des »Gemeinwohls«. 101 Was folgt daraus? Auch wenn ein Perfektionistischer Liberaler einem Politischen Liberalen zugestände, dass Gerechtigkeitsprinzipien ohne einen Rückgriff auf perfektionistische Annahmen gerechtfertigt werden könnten, so könnte er immer noch argumentieren, dass die geschilderten Beispiele demonstrieren, dass Bürger in einem liberalen Staat es zumindest manchmal als legitim betrachten, wenn der Staat politische Maßnahmen mit Argumenten rechtfertigt, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht (z. B. der Annahme, dass der Besuch von Museen und Theatern zur Realisierung eines guten Lebens dazugehört). Ein Politischer Liberaler hat nur zwei Möglichkeiten, um eine solche argumentative Strategie eines nicht-gerechtigkeitsbasierten Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 30. Vgl. http://www.bundesfreiwilligendienst.de/fuer-einsatzstellen/anerkennungals-einsatzstelle.html (Zugriff am 28. Januar 2014). 100 101
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Perfektionistischen Liberalismus zu kontern: Er kann zustimmen, dass dies Beispiele für ein legitimes staatliches Agieren sind, und damit die Intuition retten; muss dann allerdings die perfektionistische Begründung dieses Handelns in jedem einzelnen Fall durch eine gerechtigkeitsbasierte Rechtfertigung ersetzen können. Wählt ein Politischer Liberaler diese Möglichkeit, dann verpflichtet er sich zu demonstrieren, dass das entsprechende staatliche Handeln legitim ist, weil es aus Gründen der Gerechtigkeit geboten ist. Gefordert ist also eine Art »Neubeschreibung« der entsprechenden Rechtfertigungen, die vollständig ohne einen Bezug auf ein perfektionistisches Vokabular auskommen und nur mit Gerechtigkeitsbegriffen operieren. Dies bürdet einem Politischen Liberalen eine enorme Beweislast auf und macht anti-perfektionistische Positionen innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie äußerst kompliziert und damit letztlich unattraktiv gegenüber der viel einfacheren und eleganteren Lösung eines Perfektionistischen Liberalismus, die keine Neubeschreibung der gegebenen Rechtfertigungen für die aufgezeigten Beispiele politischen Handels erfordert. Die andere Möglichkeit Politischer Liberaler besteht darin, die erwähnten Beispiele zu Fällen zu deklarieren, in denen der Staat – entgegen einer plausiblen Intuition und im Widerspruch zu einer bewährten politischen Praxis – nicht legitimerweise handelt, sondern die Grenzen überschreitet, die ihm zentrale liberale Grundnahmen und ein daraus resultierendes Neutralitätsprinzip setzen. Damit entgeht ein Politischer Liberaler der komplizierten Aufgabe, allein gerechtigkeitsbasierte Argumente bzw. Gründe für die Rechtfertigung solcher politischer Maßnahmen finden zu müssen. Diese Option hat allerdings den Preis, dass sie zum einen verlangt, tief sitzende Intuitionen über Fälle legitimierbaren Staatshandelns aufzugeben, und zum anderen eine grundlegende Revision unserer politischen Praxis erforderlich macht. Wenn sich z. B. keine rein gerechtigkeitsbasierte Rechtfertigung für die Subventionierung von Kunst und Kultur oder die Selektion von Einrichtungen im Bundesfreiwilligendienst finden lässt – und ich bezweifle, dass dies möglich ist –, dann hat dies zur Konsequenz, dass ein solches staatliches Handeln als illegitim beurteilt werden muss und einen Rückzug des Staates aus diesen Aufgabenbereichen gefordert werden muss. 102 102 Quong ist bereit, diese revisionären Konsequenzen eines Politischen Liberalismus zu akzeptieren, vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 4. Meiner Ansicht kann
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Der Unterschied zwischen der argumentativen Strategie eines gerechtigkeitsbasierten und eines nicht-gerechtigkeitsbasierten Perfektionistischen Liberalismus kann also folgendermaßen auf den Punkt gebracht werden: Befürworter eines gerechtigkeitsbasierten Perfektionistischen Liberalismus argumentieren, dass selbst ein Staat, der sich allein auf die Aufgabe beschränken will, eine gerechte und stabile soziale Ordnung zu etablieren, in seinen Argumenten – z. B. zur Rechtfertigung einer fairen Verteilung von Gütern – von kontroversen Annahmen darüber ausgehen muss, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Anhänger eines nicht-gerechtigkeitsbasierten Perfektionistischen Liberalismus hingegen behaupten, dass selbst wenn es möglich wäre, sich zur Rechtfertigung dieser Aufgabe völlig unabhängig von Argumenten zu machen, die kontroverse Annahmen darüber implizieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, es immer noch viele Aufgabenbereiche gibt, in denen wir ein staatliches Handeln wenigstens manchmal für legitim halten, da es im Rückgriff auf kontroverse perfektionistische Überlegungen gerechtfertigt wird. Dass ich mich in dieser Arbeit nun vornehmlich mit nicht-gerechtigkeitsbasierten Ansätzen eines Perfektionistischen Liberalismus auseinandersetze und selbst eine neue Variante eines solchen entwickle und verteidige, hat einen dialektischen und einen strategischen Grund. Die Frage, ob eine Gerechtigkeitskonzeption unabhängig von einer Konzeption des Guten bzw. Konzeption des guten Lebens gerechtfertigt werden kann, hat die 80er und 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts geprägt und war vornehmlich Gegenstand der sogenannten »Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte«. Der Konflikt zwischen Politischen und Perfektionistischen Liberalen kann in gewisser Weise als Anschlussdebatte an jene Kontroverse verstanden werden. Ich bin nicht allein der Überzeugung, dass der Konflikt zwischen »Liberalen« und »Kommunitaristen« gezeigt hat, dass eine liberale Gerechtigkeitsvorstellung nicht völlig »freistehend« oder unabhängig von einer Konzeption des guten Lebens sein kann, sondern auch, dass die Rechtfertigung einer liberalen Gerechtigkeitskonzeption eine liberale Konzeption eines guten Lebens voraussetzen muss. Jüngere Arbeiten, in denen ein gerechtigkeitsbasierter Perfektionistischer Liberalismus verteidigt wird – z. B. kann hier das Werk von Sabine Jentsch zum Begriff der Chancengleichheit genannt werden –, dieses Faktum allein schon die Suche nach möglichen Alternativen im Rahmen einer liberalen Politischen Philosophie motivieren.
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bestätigen diese Einschätzung. 103 Die Konzentration auf einen nichtgerechtigkeitsbasierte Perfektionistischen Liberalismus in der vorliegenden Arbeit hat insofern den pragmatischen Grund, dass Gerechtigkeitsfragen in der Debatte zwischen Anti-Perfektionistischen und Perfektionistischen Liberalen eher in den Hintergrund gerückt sind. 104 Für diese Fokussierung spricht aber vor allem ein strategischer Grund. Ein nicht-gerechtigkeitsbasierter Perfektionistischer Liberalismus vertritt im Vergleich mit einem gerechtigkeitsbasierten Perfektionistischen Liberalismus eine stärkere These, weil er sich auf die schwächere Intuition beruft, dass manche politische Maßnahmen Legitimität beanspruchen können, auch wenn sie nur mit Rekurs auf kontroverse perfektionistische Überlegungen gerechtfertigt werden können, die nicht gerechtigkeitsrelevant sind. Wenn es mir gelingt, diese starke These zu verteidigen, so erscheint die schwächere These eines gerechtigkeitsbasierten Perfektionistischen Liberalismus nicht nur umso plausibler, sondern gleichzeitig erhöht sich auch signifikant die Beweislast für Vertreter eines Anti-Perfektionistischen Liberalismus. Politische Liberale müssen dann nicht nur die These verteidigen, dass sich eine Gerechtigkeitsvorstellung in Unabhängigkeit von einer Vorstellung des guten Lebens definieren lässt, sondern darüber hinaus auch die These verteidigen, dass es keinerlei gerechtigkeitsunabhängige perfektionistische Überlegungen gibt, aus denen sich Gründe ableiten können, mittels derer ein Staat eine politische Maßnahme rechtfertigen und damit legitimieren kann. Meine Option für eine nicht-gerechtigkeitsbasierte Variante eines Perfektionistischen Liberalismus impliziert also keine Negation der Wichtigkeit und Bedeutung gerechtigkeitsbasierter Überlegungen, sondern geschieht aus der Überzeugung heraus, dass es aufgrund 103 Vgl. Sabine Jentsch, Chancengleichheit und Perfektionismus: Zur Unerlässlichkeit einer materialen Theorie des Guten im Bereich des Gerechten (Paderborn: Mentis Verlag, 2009). 104 Allerdings ist die Aufmerksamkeit auf Gerechtigkeitsfragen auch nicht völlig verschwunden. Quong selbst präsentiert Argumente, die gegen einen gerechtigkeitsbasierten Perfektionistischen Liberalismus sprechen, die wiederum von Seiten Perfektionistischer Liberaler einer Kritik unterzogen worden sind, vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 85, 120–126; Chris Mills, »Can Liberal Perfectionism Generate Distinctive Distributive Principles?«, Philosophy and Public Issues 2, no. 1 (2012). Ebenso präsentiert Alexandra Couto in ihrer gerade publizierten Arbeit eine neue Variante eines gerechtigkeitsbasierten Perfektionistischen Liberalismus, siehe Couto, Liberal Perfectionism, 161–201.
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der dialektischen Ausgangslage der Debatte interessanter und klüger ist, diese argumentative Strategie zu wählen.
2.2.2 Die ethische Dimension Als Theorie über den legitimen Umfangsbereich staatlichen Handelns hat ein Perfektionistischer Liberalismus aber nicht nur eine »politische« Dimension. Perfektionistische Liberale behaupten, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt wenigstens manchmal Legitimität beanspruchen kann, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Die »politische« Dimension stützt sich somit auf eine »ethische« Dimension, der »politische« Perfektionismus baut auf einem moralphilosophischen bzw. »ethischen« Perfektionismus auf. 105 Denn Perfektionistische Liberale behaupten eben, dass ihr ethischer Perfektionismus ihnen Gründe liefert, die – wenigstens manchmal – den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen und damit legitimieren können. Zentral für dieses Unterfangen ist die Behauptung, dass die entsprechende Theorie eines guten Lebens zwar kontrovers diskutiert werden mag, aber sich dennoch der Objektivitätsanspruch von Urteilen, die aus dieser Theorie abgeleitet werden, rechtfertigen lässt. Kontroverse perfektionistische Urteile können ein staatliches Handeln rechtfertigen, weil sie trotz ihrer Kontroversalität Gründe generieren, die eine objektive Geltung beanspruchen können. Dies wirft mindestens drei Fragen auf: Erstens ist zu fragen, was Perfektionistische Liberale genau meinen, wenn sie behaupten, dass sie eine »objektive« Theorie eines guten Lebens präsentieren. Zweitens gilt es zu untersuchen, ob bzw. warum es für Perfektionistische Liberale nicht ausreicht, eine »subjektive« Theorie eines guten Lebens zu vertreten. Zu guter Letzt stellt sich die Frage, welche metaethischen Verpflichtungen ein Perfektionistischer Liberaler notwendigerweise eingehen muss, um den Objektivitätsanspruch der von ihm favorisierten Werturteile zu rechtfertigen und welche metaethischen Optionen ihm zur Verfügung stehen. Die ersten beiden und einen Teil der letztgenannten Frage beantworte ich in den nächsten 105 Hier stimme ich mit Couto überein, die diesen Punkt noch eingehender begründet, vgl. Liberal Perfectionism, 20–23, 32–36.
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beiden Unterabschnitten, während ich auf die metaethischen Optionen, die einem Perfektionistischen Liberalen zur Verfügung stehen, in den darauffolgenden zwei Unterabschnitten eingehe (siehe 2.2.2.3 und 2.2.2.4). 2.2.2.1 Erste notwendige Bedingung: Objektivität Ich möchte mit der Untersuchung der Frage beginnen, mit was für einem Objektivitätsbegriff Perfektionistische Liberale operieren, wenn sie behaupten, dass sie eine »objektive« Konzeption eines guten Lebens bzw. eine »objektive« Werttheorie vertreten. Von den meisten Autoren wird der Begriff »objektiv« benutzt, um ihre Konzeption eines guten Lebens bzw. ihre Werttheorie gegenüber »subjektiven« Konzeptionen eines guten Lebens bzw. »subjektiven« Werttheorien abzugrenzen. 106 Es erscheint mir deshalb sinnvoll, die Bedeutung des Begriffs »objektiv« zunächst von dieser Gegenüberstellung her zu erhellen. Grundlegend für eine Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Konzeptionen eines guten Lebens bzw. Werttheorien ist die folgende klassifikatorische Frage: Können Urteile über die Wertoder Guthaftigkeit bestimmter Lebensweisen unabhängig von subjektiven Einstellungen (z. B. Wünschen, Plänen oder Zielen) wahr oder falsch sein? Für Vertreter subjektiver Konzeption eines guten Lebens ist es erforderlich, diese Frage zu verneinen, während Verteidiger objektiver Konzeption eines guten Lebens sie notwendigerweise bejahen müssen. Dieses Klassifikationskriterium für subjektive und objektive Konzeptionen eines guten Lebens lehnt sich offensichtlich an das platonische Euthyphron-Dilemma an und kann auch so formuliert werden: Ist etwas gut, weil es gewollt wird, oder wird etwas gewollt, weil es gut ist? Im Kontrast zu Subjektivisten behaupten Objektivisten 107, dass nicht das Vorhandensein eines Wunsches oder einer sonstigen subjektiven Einstellung erklärt, warum etwas gut bzw. wertvoll ist, sondern dass sich umgekehrt von der Gut- bzw. Werthaftigkeit eines Objekts bzw. Sachverhalts her beurteilen lässt, 106 Es kann hier z. B. auf folgende Autoren verwiesen werden: Joseph Chan, »Political Perfectionism«, in Encyclopedia of Political Theory. Mark Bevir (Hg.) (London: Sage, 2010), 1073; Hurka, Perfectionism, 3–5; Sher, Beyond Neutrality, 8–11; Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 8–10. 107 Die Begriffe »Subjektivist« und »Objektivist« werden im Folgenden als Kurzformeln für die Termini »Vertreter einer subjektiven Konzeption eines guten Lebens« bzw. »Vertreter einer objektiven Konzeption eines guten Lebens« verwendet.
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ob es für Menschen gut oder schlecht ist, eine bestimmte subjektive Einstellung zu dem entsprechenden Objekt bzw. Sachverhalt zu haben. Also nicht die Tatsache, dass etwas – wohl informiert und rational – von einem Individuum S gewünscht oder gewollt wird, erklärt, warum G (= der Sachverhalt) für S gut ist, sondern die Tatsache, dass G für S gut ist, erklärt, welche subjektive Einstellung von S gut oder schlecht ist. 108 Für den Fall, dass »G ist gut für S« gilt, ist der Wunsch von S, G herzustellen oder zu erhalten, gut. Hat S den entgegengesetzten Wunsch, so ist dieser – ceteris paribus – als schlecht zu beurteilen. Subjektiven und objektiven Konzeptionen eines guten Leben liegen somit zwei miteinander konkurrierende Ansätze zur Erklärung der Natur von »Gutheit« bzw. der Bedeutung der Eigenschaft »gut« zu Grunde. Die von Richard Kraut jüngst vorgenommenen normativen wie metaethischen Reflexionen können helfen, diesen Unterschied noch präziser herauszuarbeiten. Nach Kraut bezeichnet der für die Etablierung einer objektiven Theorie eines guten Lebens zentrale Ausdruck »gut« eine relationale Eigenschaft zwischen einem Gut »G« und einem Individuum »S«, deren Existenz oder Vorhandensein wir in Aussagen der Form »G ist gut für S« behaupten. 109 Eine solche Redeweise verpflichtet aber nicht notwendigerweise zur Annahme der Existenz abstrakter oder ontologisch merkwürdiger Entitäten wie »Gütern« oder »Werten«, weil alle Aussagen der Form »G ist gut für S« ohne Bedeutungsverlust auch in Aussagen umgewandelt werden können, die der Form »Es ist gut für S, dass P« entsprechen. 110 »Gut« ist demnach eine Eigenschaft, die von einer Relation zwischen einem Individuum und einem bestimmten Sachverhalt (P) ausgesagt wird, und »Güter« sind jene Sachverhalte, die »gut« für ein Individuum sind, d. h. für dessen Gedeihen bzw. seine Entwicklung. 111 Folgt man dieser Analyse Krauts, dann können subjektive Konzeptionen eines guten Lebens von objektiven Konzeptionen eines guten Lebens daran unterschieden werden, wie sie das »für« in der For-
Vgl. Kraut, What Is Good and Why, 108. Vgl. ibid., 2; 4. 110 Vgl. ibid., 79–81. 111 Auf diesen Punkt werde später noch zurückkommen, insbesondere auch im Rahmen meiner Auseinandersetzung mit einem (neo-)aristotelischen Naturalismus (siehe Kapitel 6). 108 109
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mel »G ist gut für S« interpretieren. 112 Subjektivisten favorisieren eine voluntaristisch-relationale Interpretation. Ob G für S gut ist, hängt demnach von der subjektiven Einstellung von S gegenüber G ab: Wenn S G wünscht oder will oder plant, G zu realisieren, dann ist G gut für S. 113 G ist gut für S, weil sich eine Art von funktionaler »Eignungsbeziehung« zwischen G und S etablieren lässt, in der G sich für S »eignet«, was wir umgangssprachlich dadurch ausdrücken, dass wir davon reden, dass S von G profitiert, durch G einen Vorteil hat, G im Interesse von S ist oder G eine Präferenz von S erfüllt. Was erklärt nun, was allen Dingen gemeinsam ist, die »gut« für S sind und S entsprechen? Die Sachverhalte sind »gut« für S, die von S gewollt werden. Was gut für S ist, ist das, was S entspricht. Was S entspricht, wird wiederum dadurch bestimmt, was S wünscht oder für Ziele bzw. Pläne hat. Objektivisten wie Kraut hingegen vertreten eine art- bzw. gattungsspezifische Interpretation der »Eignungsbeziehung« zwischen G und S. Auch hier wird davon geredet, dass G gut für S ist, weil G für S von Vorteil ist, S von G profitiert, G im Interesse von S ist. 114 Allerdings wird eine andere philosophische Erklärung dafür geliefert, was allen Dingen, die »gut« für S sind, also allen G, gemeinsam ist. Welche Dinge eine Eignungsbeziehung mit S eingehen können, hängt nicht vom Wollen von S, sondern der Konstitution, der »Natur« von S ab. Ob G für S »gut« ist, entscheidet sich daran, ob G S entspricht. Und ob G S entspricht, hängt wiederum davon ab, was für ein Ding S ist, zu welcher Klasse von Dingen S gehört. Entscheidend ist hier die teleologische Grundannahme, dass Menschen Lebewesen sind, deren Gedeihen in der Entwicklung bzw. Entfaltung bestimmter »natürlicher« Grundfähigkeiten, Tendenzen oder Inklinationen besteht. Was allen Sachverhalten, die gut für S sind, auf dem Hintergrund dieser Grundannahme gemeinsam ist, ist die Eigenschaft, dass 112 Im Folgenden greife ich auf einige Unterscheidungen und Argumente zurück, die entwickelt worden sind von Kraut, What Is Good and Why, 66–130. 113 Vgl. ibid., 93. Subjektivistische Theorien des Guten unterscheiden sich noch einmal darin, ob sie von Wünschen oder Zielen realer Akteure ausgehen oder von den hypothetischen Wünschen oder Zielen vollständig aufgeklärter und rationaler Akteure. Da es mir an dieser Stelle vorerst nur um eine Plausibilisierung der Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Konzeptionen eines guten Lebens geht, braucht mich hier weder diese Binnendifferenzierung subjektivistischer Entwürfe zu beschäftigen, noch bedarf es einer Darstellung der Argumente, die gegen die verschiedenen Varianten einer subjektivistischen Konzeption eines guten Lebens sprechen. 114 Vgl. ibid., 81; 94–95.
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sie geeignet sind, S gedeihen zu lassen, d. h. zur Entfaltung bzw. Entwicklung der artspezifischen Eigenschaften von S beizutragen. 115 Auf dem Hintergrund dieser ersten Klärung des Begriffs »Objektivität«, möchte ich mich der zweiten oben aufgeworfenen Frage zuwenden: Warum ist es für Perfektionistische Liberale nicht ausreichend, eine subjektive Theorie eines guten Lebens zu vertreten? Denn prima facie erscheint es wesentlich anspruchsvoller und schwieriger, den Objektivitätsanspruch einer eigenen Theorie eines guten Lebens zu verteidigen. Deshalb stellt sich die berechtigte Frage, ob es als Perfektionistischer Liberaler nicht möglich ist, auf eine subjektive Theorie eines guten Lebens zu rekurrieren. Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass es nicht ohne Widerspruch möglich ist, zugleich Politischer Perfektionist zu sein und eine subjektive Konzeption eines guten Lebens bzw. eine subjektive Werttheorie zu vertreten. Anders formuliert: Die These, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt wenigstens manchmal Legitimität beanspruchen kann, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt wird, kann nur verteidigt werden, wenn man eine objektive Theorie eines guten Lebens vertritt. Entscheidend ist hierzu folgende Überlegung: Perfektionistische Liberale behaupten mit der Ablehnung des Neutralitätsprinzips, dass es Argumente gibt, die für eine politische Maßnahme sprechen, auch wenn diese Argumente auf kontroverse perfektionistische Urteile rekurrieren. Was für eine politische Maßnahme X spricht, ist eben, dass sie einen Sachverhalt P realisiert, der gut für Menschen (= M) ist. Greift man auf Krauts »artspezifische« Interpretation des »für« zurück, dann können Objektivisten etwa anführen, dass P gut für M ist, weil P Mitglieder von M gedeihen lässt, indem es ihre natürlichen Fähigkeiten oder Anlagen zur Entfaltung bringt. Die Gutheit von P generiert demnach für Mitglieder von M einen Grund, der die Befürwortung von X rechtfertigt. Und dieser rechtfertigende Grund für X besteht unabhängig davon, ob einzelne Mitglieder die Gutheit von P anerkennen. Ob P für M gut ist, ist unabhängig davon, ob Mitglieder von M die Realisierung von P wünschen oder wollen. Das perfektionistische Urteil über den Sachverhalt P kann also kontrovers sein, weil einige Mitglieder die Realisierung von P nicht wünschen oder wollen – z. B. weil P im Widerspruch zu ihrer Vorstellung von einem guten Leben steht – und dennoch einen Grund generieren, der X 115
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Vgl. ibid., 86–87.
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rechtfertigt, eben weil P die Eigenschaft »gut« zukommt, unabhängig davon, was einzelne Menschen wünschen oder wollen. Objektivisten behaupten eben, dass die Eigenschaft »gut« bestimmten Sachverhalten zukommt, unabhängig davon, welche subjektive Einstellung man zu diesem Sachverhalt hat. P generiert demnach einen Grund, der eine politische Maßnahme X rechtfertigt, auch wenn zwischen Mitgliedern von M ein Dissens hinsichtlich ihrer Einstellung zu P besteht. Es ist mir nun nicht ersichtlich, wie es hingegen für Perfektionistische Liberale möglich sein soll, den Legitimitätsanspruch einer politischen Maßnahme X im Rückgriff auf kontroverse perfektionistische Urteile zu rechtfertigen, wenn sie den Objektivitätsanspruch ihrer Theorie eines guten Lebens aufgeben und einen Subjektivismus übernehmen. Auch hier soll es ja die Gutheit eines Sachverhalts P sein, die den Grund liefert, der eine politische Maßnahme X rechtfertigt. Das Problem ist nun aber, dass gemäß subjektivistischer Konzeptionen eines guten Lebens die Gutheit von P sich nicht durch einen Rekurs auf objektive Fakten oder Tatsachen über M konstituiert, sondern abhängig ist von den subjektiven Einstellungen der einzelnen Mitglieder von M zu P. Dadurch entsteht nun ein Problem, wenn es zwischen den Mitgliedern von M einen Dissens hinsichtlich ihrer Einstellungen zu P gibt. Für Mitglieder, die P wünschen oder wollen, kommt P die Eigenschaft »gut« zu, für Mitglieder, die P nicht wünschen oder wollen, hingegen nicht. Für letztgenannte generiert P damit aber auch keinen Grund, der X rechtfertigen kann. Argumente, die auf kontroverse perfektionistische Urteile über einen Sachverhalt P rekurrieren, können somit den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nicht rechtfertigen, weil Mitglieder von M, die nicht die entsprechende subjektive Einstellung gegenüber P haben, geltend machen können, dass das entsprechende Urteil ihnen gegenüber keinen Grund formuliert, der X rechtfertigen kann. Eine subjektivistische Konzeption eines guten Lebens führt somit unweigerlich zu einem Konsensmodell politischer Rechtfertigung und Legitimität. Perfektionistische Urteile generieren nur dann einen Grund, der für jedes Mitglied von M als rechtfertigender Grund für X anerkannt werden kann, wenn es einen Konsens zwischen den Mitgliedern von M hinsichtlich ihrer Einstellung zu P gibt. Dies steht aber klar im Widerspruch zur These Perfektionistischer Liberaler, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt wenigstens manchmal legitim sein kann, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Urteilen gerechtfertigt wird. Perfektionistischer Liberalismus
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Daraus folgt, dass Perfektionistische Liberale notwendigerweise auch einen moralphilosphischen Perfektionismus vertreten müssen, also eine Theorie eines guten Lebens, die einen objektiven Geltungsanspruch erhebt. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, die dritte und letzte oben aufgeworfene Frage zu beantworten: Welche metaethischen Verpflichtungen muss ein Perfektionistischer Liberaler notwendigerweise eingehen, um den Objektivitätsanspruch der von ihm favorisierten Werturteile zu rechtfertigen, und welche metaethischen Optionen stehen ihm zur Verfügung? Ich möchte zunächst dafür argumentieren, dass ein Perfektionistischer Liberaler einen semantischen Objektivitätsbegriff vertreten muss, er also einen metaethischen Kognitivismus befürworten muss. Perfektionistische Liberale müssen demnach behaupten, dass Werturteile der Form »Es ist gut für S, dass P« in einem objektiven Sinne wahr oder falsch sein können. 116 Dies
116 Da perfektionistische Urteile mit Begriffe wie »gut« oder »schlecht« operieren, sind sie als Werturteile zu klassifizieren. Bei Werturteilen wiederum handelt es sich um eine Klasse von normativen Urteilen, die sich gegenüber normativen Urteilen abgrenzen, die in einer deontischen Begrifflichkeit des »Gebotenseins«, »Verbotenseins« oder »Erlaubtseins« operieren, vgl. Franz von Kutschera, Grundlagen der Ethik (Berlin: Walter de Gruyter, 21999; 1982), 1, 12–14. Äußerst strittig ist die Frage, in welchem Verhältnis Werturteile zu deontischen Urteilen stehen. Bis zur Renaissance (neo-)aristotelischer bzw. tugendethischer Ansätze im späten 20. Jahrhundert bestand die Tendenz »Moral« oder »Ethik« auf normative Aussagen zu beschränken, die deontische Begriffe verwenden. Dementsprechend beschränkte sich die Metaethik auf die Analyse von Aussagen der Form »Es ist geboten, dass P« oder »Es ist moralisch richtig, dass P«. In jüngerer Zeit wird jedoch zunehmend anerkannt, dass eine Werttheorie genuiner Bestandteil einer Ethik bzw. Moralphilosophie ist, auch wenn Werturteile der skizzierten Form metaethisch manchmal immer noch als Urteile über das »außermoralisch« oder »nicht-moralisch« Gute qualifiziert werden, siehe Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik (Berlin: Walter de Gruyter, 22007; 2003), 241; Friedo Ricken, Allgemeine Ethik (Stuttgart: Kohlhammer, 42003; 1983), 87; Russ Shafer-Landau, The Fundamentals of Ethics (Oxford: Oxford University Press, 22012; 2010), 2. Die metaethische Analyse lässt sich an dieser Stelle nicht von Vorentscheidungen innerhalb der normativen Ethik trennen. Da ich der Überzeugung bin, dass es gute Gründe dafür gibt, »Moral« nicht auf Überlegungen darüber zu beschränken, was geboten, verboten oder erlaubt ist, sondern im antiken Sinne als »Lebenskunst« zu verstehen, die zu einem glücklichen bzw. gedeihendem Leben anleiten will, lehne ich deshalb metaethische Klassifizierungen ab, die solch ein Vorverständnis des Begriffs »Moral« implizieren. Ich verwende die Qualifizierung »moralisch« demnach in einem weiten Sinn auch für evaluative normative Urteile, d. h., Werturteile gehören für mich auch zur Menge moralischer Aussagen. Behauptet z. B. jemand, dass es Tatsachen oder Sachverhalte gibt, die Urteile der Form »Es ist gut,
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dürfte nicht schwer einzusehen sein, denn nehmen wir einmal an, ein Perfektionistischer Liberaler stützt sich in seinen Argumenten für eine politische Maßnahme X auf folgende Werturteile: (a) Es ist gut für Menschen, dass sie autonome Entscheidungen treffen können. (b) Es ist gut für Menschen, dass sie Freundschaften haben. (c) Es ist gut für Menschen, dass sie gerecht sind. (d) Es ist gut für Menschen, dass sie barmherzig sind. Gemäß (a) und (b) sind Autonomie und Freundschaft Güter für Menschen und gemäß (c) und (d) sind Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Tugenden bzw. Charaktereigenschaften, die ein menschliches Leben in einem objektiven Sinne gut bzw. wertvoll machen, weil der Besitz dieser Tugenden und Güter dazu beiträgt, dass Menschen als Menschen gedeihen bzw. sie selbst Teil oder Ausdruck eines gelingenden Lebens sind. Menschen sollten demnach ein Leben wählen und führen, dass ihnen erlaubt, einen gerechten und barmherzigen Charakter auszubilden und Güter wie Freundschaft und Autonomie zu realisieren. Barmherzig und gerecht zu sein, Freundschaften zu schließen und die Fähigkeit, autonome Entscheidungen treffen zu können, sind laut einem Perfektionistischen Liberalen nicht deshalb gut, weil Menschen sie wählen, sondern es sind Sachverhalte, die gut für Menschen als Menschen sind und deren Gutheit Menschen ein Kriterium dafür liefert, was sie wählen und wünschen sollten. Metaethisch impliziert dies, dass es sich bei evaluativen normativen Urteilen wie (a) bis (d) um wahrheitsfähige Sätze handelt, d. h. Sätze, die das Bestehen eines Sachverhalts behaupten, dessen Wahrheitswert erkennbar und begründbar ist. 117 Perfektionistische Liberale müssen also Kognitivisten sein, d. h. auf einer semantischen Ebene einen Deskriptivismus bezüglich Werturteilen vertreten. Dies ist notwendigerweise der Fall, weil sie ja behaupten, dass sich aus ihren Argumenten, die mit Urteilen über den Wert bzw. die Guthaftigkeit bestimmter Sachverhalte operieren, Gründe für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ableiten. Dies ist wiederum nur möglich, wenn es sich bei diesen Werturteilen um Sätze handelt, die dass P« wahr machen, bezeichne ich ihn in der Folge auch als »moralischen Realisten«. 117 Vgl. Kutschera, Grundlagen der Ethik, 50–53; Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 432. Perfektionistischer Liberalismus
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ihrerseits begründet werden können, d. h. für deren Wahrheit oder Falschheit argumentiert werden kann. 118 Die Triftigkeit des vorhergehenden Gedankengangs kann auch kurz anhand der Frage überprüft werden, ob es für Perfektionistische Liberale auch möglich ist, auf einer semantischen Ebene einen Emotivismus oder Präskriptivismus zu vertreten. Betrachten wir hierzu das Werturteil ϕ = »Es ist gut für Menschen, dass sie ihre Fähigkeit zu autonomem Handeln entwickeln.« Dieses Urteil liefert einem Perfektionistischen Liberalen einen Grund für die Rechtfertigung einer politischen Maßnahme X, die darauf abzielt, einen Sachverhalt herzustellen, der es begünstigt, dass Bürger ihre Fähigkeit zu autonomem Handeln entwickeln. Interpretiert man ϕ nonkognitivistisch, dann bedeutet dies, ϕ als einen Sprechakt zu verstehen, in dem ein Sprecher eine persönliche Einstellung, ein Gefühl oder eine Empfehlung zum Ausdruck bringt. Die illokutionäre Rolle von ϕ als evaluativer normativer Aussage wäre dann nicht, eine Behauptung aufzustellen, sondern eine persönliche Empfehlung, Einstellung oder Aufforderung zu kommunizieren im Sinne von ϕ’ = »Wie gut, dass Menschen ihre Fähigkeit zu autonomem Handeln entwickeln!«. Nicht bestritten werden soll, dass die Äußerung von Sätzen wie ϕ manchmal die illokutionäre Funktion von Sätzen wie ϕ’ hat. Ein Nonkognitivist behauptet aber, dass sich die illokutionäre Funktion aller Sätze der Form ϕ auf illokutionäre Funktionen von Sätzen der Form ϕ’ reduzieren lässt. 119 Gemäß der nonkognitivistischen semantischen Analyse erwecken Sätze wie ϕ den Anschein, dass sie Sachverhalte behaupten, die wahrheits- und begründungsfähig sind. Eine genaue sprachliche Analyse zeigt aber – so der Nonkognitivist –, dass dies nicht der Fall ist, sondern es sich hier immer um Sprechakte handelt, die die Funktion haben, die wertende Einstellung des Sprechers auszudrücken oder sie zu empfehlen. Rationale Kriterien für eine intersubjektive Begründung und eine Beurteilung des objektiven Geltungsanspruchs von Werturteilen sind gemäß einer solchen nonkognitivistischen Interpretation nicht vorhanden, da Werturteile nicht die Funktion haben, etwas Wahrheits- und Begründungsfähiges zu behaupten, sondern mittels ihrer lediglich eigene Einstellungen ausgedrückt werden oder Appelle aneinander gerichtet werden, sich jeVgl. Kutschera, Grundlagen der Ethik, 50. Vgl. Christoph Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral (Frankfurt/ M.: Vittorio Klostermann, 2007), 196–197; Kutschera, Grundlagen der Ethik, 104.
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weils im Sinne der eigenen Einstellung zu verhalten. Die Quintessenz einer nonkognitivistischen Reduktion von Aussagen der Form ϕ auf Aussagen der Form ϕ’ – egal ob man dabei auf einen Autor wie Alfred J. Ayer, Charles L. Stevenson oder Richard M. Hare zurückgreift – liegt also gerade darin, dass Werturteile wie ϕ = »Es ist gut, dass Menschen ihre Fähigkeit zu autonomem Handeln entwickeln« einem Perfektionistischen Liberalen keinen objektiven Grund für die Rechtfertigung einer politischen Maßnahme X liefern können, die darauf abzielt, einen Sachverhalt herzustellen, der es begünstigt, dass Bürger ihre Fähigkeit zu autonomem Handeln entwickeln. Perfektionistische Liberale müssen demnach notwendigerweise einen metaethischen Kognitivismus vertreten. 2.2.2.2 Zweite notwendige Bedingung: Realismus Im vorhergehenden Unterabschnitt habe ich dargelegt, dass zum konstruktiven Element eines Perfektionistischen Liberalismus gehört, eine objektive Theorie eines guten Lebens zu vertreten und dass dies Perfektionistische Liberale notwendigerweise auf einen Kognitivismus festlegt. Im Folgenden möchte ich nun aufzeigen, dass es für Perfektionistische Liberale nicht ausreicht, einen rein semantischen Objektivitätsbegriff zu verteidigen, sondern sie darüber hinaus notwendigerweise metaethische Realisten sein müssen. Dass es nicht ausreicht, den Objektivitätsanspruch der eigenen Werturteile auf einer rein semantischen Ebene zu verteidigen, wird deutlich, sobald dieser Anspruch mit der »Irrtumstheorie« von John L. Mackie konfrontiert wird. 120 Ein Irrtumstheoretiker wie Mackie könnte einem Perfektionistischen Liberalen zugestehen, dass seine Werturteile gemäß ihrer semantischen Oberflächenstruktur deskriptivistisch und damit kognitivistisch interpretiert werden müssen, sie also beanspruchen, Behauptungen über Sachverhalte aufzustellen, die in einem objektiven Sinne wahrheits- und begründungsfähig sind. Damit ist aber noch nicht erwiesen, dass Werturteile auch zu Recht Objektivität beanspruchen, denn es kann eingewendet werden – so Mackie –, dass die Wahrheitsbedingungen derartiger normativer Behauptungen nie eingelöst werden können: Wir irren uns eben in unserem alltäglichen Sprachgebrauch, wenn wir für unsere normativen Sätze Wahrheit und objektive Geltung beanspruchen. Die 120 Vgl. John L. Mackie, Ethics: Inventing Right and Wrong (Harmondsworth: Penguin, 1977).
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Wahrheitsbedingungen von normativer Behauptungen bzw. Werturteilen können nicht erfüllt werden, weil es in einem ontologischen Sinne keine Werteigenschaften wie z. B. »gut«, »gerecht« oder »barmherzig« gibt, die Sachverhalten zukommen und Werturteile wahr machen. Anders formuliert: Werturteile können keine Objektivität beanspruchen, weil es keine Werttatsachen gibt, die Werturteile wahr oder falsch machen können. »Werte« bzw. Eigenschaften wie »Gutheit« gehören nicht zum »normalen« ontologischen Inventar der Welt. Die Realität ist sozusagen »wertneutral«. Will ein Perfektionistischer Liberaler am Objektivitätsanspruch seiner Werturteile festhalten, muss er Mackies zentraler These widersprechen, dass Werturteile keine Objektivität beanspruchen können, weil es keine objektiven moralischen Werte wie »Gerechtigkeit« oder »Barmherzigkeit« bzw. Güter wie »Autonomie« oder »Freundschaft« gibt. 121 Die spannende Frage ist nun, was aus der Verpflichtung zur Negation von Mackies metaethischem Relativismus bzw. Subjektivismus folgt. Sind Perfektionistische Liberale damit notwendigerweise auch auf einen metaethischen Realismus festgelegt, also auf die ontologische These, dass es so etwas wie moralische Tatsachen oder Sachverhalte gibt, und der Wirklichkeit eine normative Dimension zukommt? Ich bin der Meinung, dass dies der Fall sein muss, da es für Perfektionistische Liberale nicht ausreicht, einen rein epistemischen Objektivitätsbegriff zu vertreten. Sie sind vielmehr verpflichtet, für ihre Werturteile einen stärkeren – metaphysischen – Objektivitätbegriff in Anspruch zu nehmen. Um diesen Unterschied herauszuarbeiten ist es zunächst hilfreich sich vor Augen zu führen, dass es für Kognitivisten zwei argumentative Strategien gibt, um den Objektivitätsanspruch von Werturteilen gegen Mackies Irrtumstheorie zu verteidigen: Eine erste möchte ich als anti-realistisch, eine zweite als realistisch bezeichnen. Betrachten wir zunächst die anti-realistische Argumentationsstrategie, für die exemplarisch der Ansatz von Thomas Nagel stehen kann. 122 Nagels entscheidendes Argument gegen Definiert man – Dagmar Fenner folgend – Güter als wertvolle Strebensziele oder – Kutschera folgend – als Dinge, die wertvoll sind, dann können die Begriffe »Wert« und »Gut« nahezu bedeutungsäquivalent verwendet werden, siehe Dagmar Fenner, Das gute Leben (Berlin: Walter de Gruyter, 2007), 103–104; Kutschera, Grundlagen der Ethik, 20. 122 Vgl. Thomas Nagel, The View from Nowhere (Oxford: Oxford University Press, 1986), 138–149. Nagel bezeichnet seine Position nicht als »Objektivismus«, sondern als »Realismus«. Wenn ich seinen Ansatz als exemplarisch für eine »anti-realistische« 121
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Mackies Irrtumstheorie liegt darin, zu bestreiten, dass es zur Bestimmung der Wahrheit eines Werturteils erforderlich ist, dass dieses Werturteil zu moralischen Tatsachen oder Sachverhalten korrespondieren kann, und somit die ontologische Existenz von moralischen Eigenschaften vorausgesetzt werden muss. Werturteile können objektive Geltung beanspruchen, wenn objektive Gründe für sie sprechen, also Gründe, die sich aus objektiv rechtfertigbaren Wertüberzeugungen ableiten. 123 Welche Wertüberzeugungen objektiv rechtfertigbar sind, wird wiederum durch ein Verfahren bestimmt, in dem die Beteiligten einen neutralen, objektiven Standpunkt – den Blick von nirgendwo – einnehmen, der die Interessen und Wünsche aller am Prozess Beteiligten berücksichtigt und fragt, ob die eigenen subjektiven Wünsche und Interessen von dieser Perspektive aus noch Geltung beanspruchen können. Ein Werturteil kann demnach als wahr gelten, wenn es aus einer solchen Prozedur als gerechtfertigt hervorgeht. Die Strategie von Nagels prozeduralem Objektivismus besteht also darin, das von Mackies Irrtumstheorie aufgeworfene Problem des ontologischen Status evaluativer Entitäten als philosophisches Scheinproblem zu entlarven. Nagel vertritt damit einen rein epistemischen Objektivitätsbegriff, der ihn von einem ontologischen Objektivitätsbegriff realistischer Positionen abgrenzt. Entscheidend für die Verwendung des Begriffs »Anti-Realismus« ist für mich hier, dass man zwischen den Begriffen »Wahrheit« und »Objektivität« bzw. »Rechtfertigung« unterscheidet. Nagels Position könnte als realistisch qualifiziert werden, wenn man ihm in seinem Anspruch zustimmt, dass Werturteile, die gemäß der von ihm vorgeschlagenen Methodik bzw. Prozedur als gerechtfertigt gelten können, immer auch wahr sind. Die Wahrheitsbedingungen eines Werturteils wären damit identisch mit den Bedingungen für seine Rechtfertigung. Genau diese reduktionistische Strategie wählt Nagel, um seinen ObjekEntgegnung auf Mackie präsentiere, mag dies zunächst verwirren, hängt aber mit meiner Definition des Terminus »Realismus« zusammen. Da ich Autoren wie Quante oder Halbig darin zustimme, dass für eine realistische Position ein bestimmtes ontologisches commitment notwendig ist, subsumiere ich Nagel unter einem Objektivismus und bezeichne seine Position als »anti-realistischen Objektivismus«. Eine knappe Vorstellung und Diskussion von Nagels Argumentation im Rahmen der »Realismus/ Anti-Realismus-Debatte« bietet Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, 204–206. 123 Vgl. Praktische Gründe und die Realität der Moral, 204; 206. Perfektionistischer Liberalismus
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tivismus als Realismus auszugeben: Demnach kann es keine normativen Wahrheiten geben, die unser Erkenntnisvermögen übersteigen und die nicht mit dieser Methode ermittelt werden können. 124 Eine solche Verteidigung eines »Realismus« erscheint mir aber genauso kontraintuitiv wie Mackies Ablehnung eines Realismus mittels seiner Irrtumstheorie: An die Stelle der Behauptung, dass wir uns bezüglich der Wahrheit von Werturteilen immer irren, tritt die These, dass wir in unseren Werturteilen immer richtig liegen, wenn wir einer bestimmten Methodik folgen. Was aus meiner Sicht hauptsächlich dagegen spricht, Nagels Position als »realistisch« zu qualifizieren, ist die Tatsache, dass seine Verteidigungsstrategie äußerst revisionäre Konsequenzen für unsere Alltagssprache hat, die Positionen, die üblicherweise einem »Realismus« zugerechnet werden, zu vermeiden suchen. Sätze der Form »Wir sind objektiv gerechtfertigt, ein Werturteil für wahr zu halten und trotzdem kann dieses Urteil falsch sein«, verlören ihren Sinn. Wenn ein Werturteil gerechtfertigt werden kann, dann ist es laut Nagel auch wahr, weshalb solch eine Sprechweise sinnlos bzw. irreführend würde. Eine tiefsitzende alltagssprachliche Intuition scheint aber gerade darin zu liegen, dass eine solche Sprechweise Sinn macht, was allerdings nur der Fall sein kann, wenn zwischen den Wahrheits- und Rechtfertigungsbedingungen eines Urteils unterschieden wird. Umgekehrt scheint eine ebenso tiefsitzende alltagssprachliche Intuition zu sein, dass Sätze der Form »Wir sind objektiv nicht gerechtfertigt, eine perfektionistische Überzeugung für wahr zu halten und trotzdem kann diese Überzeugung wahr sein« Sinn machen können. Gibt man diese genuin realistischen Intuitionen – wie Nagel – auf, sollte man zur Vermeidung von begrifflichen Verwirrungen eine solche Position besser nicht mehr als »Realismus«, sondern als »anti-realistischen Objektivismus« bezeichnen. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass ich bisher lediglich gegen Nagels Anspruch argumentiert habe, dass seine Position einen »Realismus« darstellt. Nagel könnte diesen Anspruch aufgeben, ohne dass damit die Position, die ich als »anti-realistischen Objektivismus« bezeichne, in ihrer Argumentation gegen Mackies Irrtumstheorie geschwächt wäre. Interpretiert man Nagel in diesem anti-realistischen Sinne, dann besteht eine vielversprechende argumentative Strategie gegen Mackie darin, zu verneinen, dass jeder Ob124
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Vgl. Nagel, The View from Nowhere, 139.
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jektivismus auch einen Realismus impliziert, also auf die Annahme der Existenz evaluativer Tatsachen verpflichtet ist. 125 Bevor ich darlege, wie eine realistische Argumentationsstrategie aussehen kann, um den Objektivitätsanspruch perfektionistischer Urteile gegen die Vorwürfe von Mackies Irrtumstheorie zu verteidigen, möchte ich aber zunächst begründen, warum ein Perfektionistischer Liberaler sich nicht – wie Nagel – mit einem rein epistemischen Objektivitätsbegriff begnügen kann. Anders formuliert: Besteht für Perfektionistische Liberale auch die Möglichkeit, den Objektivitätsanspruch der von ihnen favorisierten perfektionistischen Urteile mittels eines anti-realistischen Objektivismus zu verteidigen? Ich behaupte, dass dies nicht der Fall ist, weil Perfektionisten den Objektivitätsanspruch ihrer Theorie eines guten Lebens gegenüber subjektiven Werttheorien damit verteidigen, dass es evaluative Eigenschaften gibt, die nicht das Produkt mentaler Zustände oder Einstellungen wie Lusterfahrungen oder Wünschen sind, sondern Sachverhalten auch in einer Unabhängigkeit von mentalen Zuständen oder subjektiven Einstellungen zukommen. In Abgrenzung zu subjektiven Werttheorien, wie dem Hedonismus oder Wunscherfüllungstheorien, behaupten Perfektionistische Liberale also, dass die Wert- bzw. Guthaftigkeit bestimmter Sachverhalte nicht damit erklärt werden kann, dass diese mit Lusterfahrungen verknüpft sind oder auf diese Sachverhalte eine bestimmte Werthaftigkeit »projiziert« wird, z. B. aufgrund der propositionalen Einstellung eines Wunsches. 126 Perfektionistische Liberale behaupten vielmehr, dass ein Leben dann in einem objektiven Sinne »gut« bzw. »wertvoll« ist, wenn es bestimmten Sachverhalten entspricht, Sachverhalten, denen evaluative Eigenschaften zukommen, deren Existenz nicht vollständig von subjektiven Einstellungen oder Präferenzen abhängig ist. 127 Entscheidend für die Verteidigung der Objektivität ihrer Werttheorie ist für Perfektionistische Liberale 125 Diese Möglichkeit, zwischen Objektivismus und Realismus zu unterscheiden, sowie Nagels Entgegnung auf Mackie als anti-realistischen Objektivismus zu kennzeichnen, kommt dem am nächsten, was Bernard Williams vertritt, siehe Bernard Williams, »Ethics and the Fabric of the World«, in Making Sense of Humanity: And Other Philosophical Papers 1982–1993. Bernard Williams (Hg.) (Cambridge: Cambridge University Press, 1995). Diese Klassifikation vertritt auch Halbig, von dem ich diesen Hinweis übernehme, siehe Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, 207. 126 Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 27. 127 Vgl. Chan, »Political Perfectionism«, 1073.
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also, dass der Wert bestimmter Sachverhalte nicht vollständig davon abhängig gemacht wird, dass Menschen bestimmte mentale Zustände oder Einstellungen besitzen. 128 Perfektionistische Liberale können den kognitivistischen Objektivitätsanspruch ihrer perfektionistischen Urteile gegen Mackies Irrtumstheorie also nicht im Rekurs auf einen rein epistemischen Objektivitätsbegriff bzw. einen anti-realistischen Objektivismus verteidigen, weil sie an einer »Unabhängigkeitsbedingung« festhalten müssen, um ihre Werttheorie gegenüber subjektiven Werttheorien abgrenzen zu können. Im Anschluss an Quante und Halbig kann man bezüglich dieser »Unabhängigkeitsbedingung« für evaluative Entitäten zwischen einem starken und einem schwachen Realismus unterscheiden: Während ein starker Realist behauptet, dass die evaluativen Entitäten, die perfektionistische Urteile wahr machen, vollständig unabhängig von subjektiven Leistungen sind, argumentiert ein schwacher Realist lediglich, dass es evaluative Entitäten gibt, die perfektionistische Urteile wahr machen, diese aber nicht vollständig von subjektiven Leistungen abhängig sind. 129 Berücksichtigt man diese Unterscheidung, so wird verständlich, dass ein Perfektionistischer Liberaler nicht zur Negation der plausiblen These verpflichtet ist, dass manche Sachverhalte für Menschen wertvoll oder gut sind, weil sie ihnen Lust bereiten oder von ihnen gewünscht werden. Er ist lediglich auf einen schwachen Realismus festgelegt, d. h., er muss annehmen, dass es wahr ist, dass wenigstens manche Sachverhalte nicht deshalb wertvoll bzw. gut sind, weil Menschen sie wollen oder wünschen, sondern Menschen sie wollen oder wünschen, weil sie wertvoll bzw. gut sind. Im Rückgriff auf Sher ist es deshalb angemessener, Werttheorien von einer Skala her zu beurteilen, die von rein subjektivistisch bis rein objektivistisch reicht, wobei »rein objektivistische« Werttheorien identisch sind mit einem starken Realismus. 130 An dieser Stelle ist nun zu fragen, warum Perfektionistische Liberale subjektivistische Werttheorien (z. B. einen Hedonismus oder Wunscherfüllungstheorien) ablehnen bzw. was dafür spricht, an der Erfüllung einer schwachen Unabhängigkeitsbedingung für evaluative Entitäten festzuhalten. Der Hauptgrund ist meiner Ansicht nach daVgl. Wall, »Perfectionism in Politics«, 101. Vgl. Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, 209; Michael Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik (Darmstadt: WBG, 42011; 2003), 93. 130 Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 8–9; 154–155. 128 129
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rin zu finden, dass zumindest ein schwacher Realismus bzw. eine schwache Unabhängigkeitsbedingung erforderlich ist, damit ein Objektivismus in Bezug auf Werturteile unserer alltäglichen Moralphänomenologie gerecht werden kann. Wenn die Tatsachen oder Sachverhalte, die ein perfektionistisches Urteil wahr oder falsch machen, mit propositionalen Einstellungen bzw. mentalen Zuständen (z. B. Wünschen bzw. Präferenzen) von Subjekten identifiziert werden, dann hängt die Wahrheit des Werturteils »Es ist gut bzw. wertvoll für M, dass P« davon ab, ob Subjekte bestimmte propositionale Einstellungen wie Wünsche haben oder haben sollten. Diese vollständige Abhängigkeit evaluativer Entitäten wie P von den propositionalen Einstellungen von M ist aber äußerst kontraintuitiv: Wenn Menschen die Objektivität eines Werturteils verteidigen wollen, beziehen sie sich gewöhnlich auf Eigenschaften von P und nicht auf ihre propositionalen Einstellungen. Sie argumentieren also nicht, dass etwas gut ist, weil sie es wollen oder wünschen etc., sondern behaupten, dass sie etwas wollen oder wünschen, weil es gut ist. Sie rechtfertigen insofern ihre propositionale Einstellung mit Gründen, die dafür sprechen, dass P wertvoll ist und nicht umgekehrt. Für einen metaethischen Realismus spricht also, dass er die alltägliche Intuition rettet, dass Menschen die objektive Wahrheit bzw. Geltung von Sätzen wie »Es ist gut für M, dass P« nicht damit erklären, dass es Individuen gibt, die P für gut bzw. wertvoll halten. Menschen erklären vielmehr die Tatsache, dass Individuen P für gut bzw. wertvoll halten, damit, dass P einen Sachverhalt realisiert, der die Eigenschaft »gut bzw. wertvoll für M« besitzt. Die Bedingungen, die den Satz »Es ist gut für M, dass P« wahr machen, sind demnach ontologischer und nicht epistemischer Natur. Ob der Satz »Es ist gut für M, dass P« einem Mitglied von M einen Grund liefert, P zu realisieren, hängt nicht vom mentalen Zustand bzw. der propositionalen Einstellung des Sprechers oder des Adressaten dieses Satzes ab, sondern vielmehr von der Tatsache, ob P sich zu M in einer Weise verhält, die zum Gedeihen von M beiträgt, ob also der Beziehung zwischen P und M die Eigenschaft »gut« bzw. »wertvoll« zukommt oder nicht. Wenn ihr diese Eigenschaft zukommt, dann ist es diese Eigenschaft, die M einen Grund liefert, P zu realisieren. 131 Dies impliziert, dass man ein Leben als gut bzw. wertvoll beurteilen kann, weil es 131 Natürlich können auch Pflichten einen Grund für eine Handlung liefern. Diese Komplikation kann für meine Untersuchungsabsicht aber unberücksichtigt bleiben.
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bestimmte Eigenschaften oder Merkmale besitzt, und die Wahrheit dieses Urteils nicht allein davon abhängig ist, ob die Person, die dieses Leben führt, auch glaubt, dass es wertvoll bzw. gut ist. 132 Die Wahrheit dieses Urteils hängt vor allem von der Tatsache ab, ob es der Fall ist, dass dieses Leben wirklich diese Eigenschaften oder Merkmale besitzt. Die Abgrenzung Perfektionistischer Liberaler zu kognitivistischen – aber subjektiven – Werttheorien geschieht also durch die realistische Annahme, dass es evaluative Entitäten gibt, die ein Sollen begründen (also einen Grund zum Handeln liefern), sich aber gleichzeitig nicht vollständig auf propositionale Einstellungen bzw. mentale Zustände (z. B. Wünsche oder Präferenzen) von Subjekten zurückführen lassen. 133 Nach diesen Vorüberlegungen kann nun die These begründet werden, dass ein Perfektionistischer Liberaler notwendigerweise ein metaethischer Realist sein muss, es also nicht ausreicht, den Objektivitätsanspruch perfektionistischer Urteile mittels eines anti-realistischen Objektivismus zu verteidigen. Ich habe bisher zum einen dafür argumentiert, dass ein schwacher Realismus bzw. eine schwache Unabhängigkeitsbedingung erforderlich ist, um objektive gegenüber subjektiven Werttheorien abgrenzen zu können, und zum anderen dargelegt, dass für die Akzeptanz einer solchen Unabhängigkeitsbedingung vor allem spricht, dass ein Kognitivismus nur mit tiefsitzenden Intuitionen über den Gebrauch evaluativer Ausdrücke wie »gut« oder »wertvoll« in Einklang gebracht werden kann. Dieses eher klassifikatorische Argument kann nun durch folgende Überlegung verstärkt werden. Ein Perfektionistischer Liberaler muss sich notwendigerweise gegenüber subjektiven Werttheorien mit der Forderung nach der Erfüllung einer schwachen Unabhängigkeitsbedingung abgrenzen, weil sonst die Wahrheitsbedingungen für Werturteile rein epistemischer Natur wären. Wäre dies der Fall, dann hinge die Wahrheit eines Werturteils alleine davon ab, ob sie mittels eines objektivierenden Verfahrens gerechtfertigt werden kann. Als Perfektionistischer Liberaler einen solchen Konstruktivismus zu übernehmen, der gewöhnlich von Politischen Liberalen vertreten wird, würde aber bedeuten, sich auf die relativ uninteressante Position zurückzuziehen, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt Legitimität beanspruchen kann, wenn er im Rekurs auf objektivierbare perfektio132 133
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Vgl. Chan, »Political Perfectionism«, 1073. Vgl. Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, 78–79.
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nistische Urteile gerechtfertigt werden kann, also Urteilen, die unkontrovers sind, weil sie ein epistemisches Objektivierungsverfahren überstanden haben. Das Interessante und Unterscheidende eines Perfektionistischen Liberalismus scheint aber gerade in der provokanten These zu liegen, dass es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die als Prämissen kontroverse Werturteile darüber verwenden, was ein gutes Leben ist und ausmacht. 134 Perfektionistische Liberale behaupten also, dass selbst dann, wenn es nicht gelingt, die objektive Geltung dieser Prämissen in einem epistemischen Objektivierungsverfahren zu demonstrieren und sie damit in einem epistemischen Sinne kontrovers bleiben, sie dies nicht darauf verpflichtet, vom Objektivitäts- bzw. Wahrheitsanspruch dieser Prämissen und damit von der Triftigkeit ihrer Argumente Abstand zu nehmen. Diese Position lässt sich allerdings nur dann aufrechterhalten, wenn die Wahrheitsbedingungen der fraglichen Werturteile nicht rein epistemischer Natur sind, sondern auch ontologisch zu fassen sind. Anders formuliert: Will ein Perfektionistischer Liberaler gegen anti-perfektionistische Konstruktivisten an der These festhalten, dass manche perfektionistischen Werturteile objektive Geltung beanspruchen können, auch wenn diese nicht durch ein epistemisches Objektivierungsverfahren begründet werden kann, so muss er notwendigerweise mit einem Wahrheits- bzw. Objektivitätsbegriff operieren, der ein ontologisches commitment zur Existenz evaluativer Entitäten (z. B. Werteigenschaften, Werttatsachen, Werte, Güter) impliziert, die normative Ansprüche begründen und nicht vollständig auf subjektive Leistungen bzw. Einstellungen (z. B. Wünsche oder Präferenzen) zurückgeführt werden können. 135 Aus diesem Grund ist ein Perfektionistischer Liberaler metaethisch notwendigerweise auf einen realistischen Objektivismus festgelegt. Daraus folgt, dass er eine andere argumentative Strategie als antirealistische Objektivisten wie Nagel wählen muss, um den Objektivitätsanspruch von Werturteilen zu verteidigen. Sie besteht darin, Mackie zuzugestehen, dass ein Kognitivismus ein ontologisches commitment zur Existenz evaluativer Entitäten impliziert. 136 Perfektio-
134 135 136
Vgl. Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 8. Vgl. Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, 92–93. Vgl. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 355.
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nistische Liberale müssen also bereit und fähig sein, einen Realismus als plausible metaethische Option zu verteidigen. 2.2.2.3 Erste Option: Starker oder schwacher Realismus? In den vorausgehenden beiden Unterabschnitten habe ich zwei notwendige Bedingungen für die Konstruktion eines Perfektionistischen Liberalismus formuliert: Um den Objektivitätsanspruch perfektionistischer Urteile rechtfertigen zu können, müssen Perfektionistische Liberale einen Kognitivismus vertreten und innerhalb eines solchen einen Realismus. Im Folgenden möchte ich nun untersuchen, welche metaethischen Optionen für dieses Unterfangen zur Verfügung stehen. Da es sich hier um »Optionen« handelt, werde ich mich in diesem analytischen Teil meiner Arbeit damit begnügen, meine klassifikatorischen Unterscheidungen zu begründen. Im Verlauf des zweiten und insbesondere des dritten Teils werde ich dann ausführlich rechtfertigen, warum ich es für die Verteidigung eines Perfektionistischen Liberalismus für aussichtsreicher halte, zum einen für einen schwachen Realismus zu optieren und zum anderen für einen naturalistischen Realismus. Die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Varianten eines metaethischen Realismus kann im Anschluss an die oben schon einmal – in Anlehnung an Quante und Halbig – formulierte »Unabhängigkeitsbedingung« plausibel gemacht werden: Ein schwacher Realismus behauptet, dass evaluative Entitäten existieren, die Werturteile wahr machen, aber nicht vollständig abhängig sind von subjektiven Leistungen bzw. Einstellungen. Vertreter eines starken metaethischen Realismus hingegen behaupten, dass die evaluativen Entitäten (z. B. Werteigenschaften, Werttatsachen, Werte, Güter), die perfektionistische Urteile wahr machen, vollständig unabhängig sind von subjektiven Leistungen oder Einstellungen. 137 Anhand dieser Unterscheidung können nun zwei Varianten von perfektionistischen Werttheorien metaethisch klassifiziert werden. In der Literatur wird gewöhnlich zwischen »intrinsischen« und »inhärenten« perfektionistischen Werttheorien unterschieden. 138 In der Verwendung dieser Begriffe werden aber verschiedene Bedeutungen Vgl. Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, 240; Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, 93. 138 Vgl. Haksar, Equality, Liberty, and Perfectionism, 3–4; Quong, Liberalism without Perfection, 12–13; 27 ff.; Sher, Beyond Neutrality, 8–9; 11; 193–198. 137
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miteinander vermengt, die es auseinanderzuhalten gilt. Ich möchte zunächst auf eine mögliche Bedeutung dieses Begriffspaars eingehen. Auf Quong zurückgreifend kann eine »intrinsische« Werttheorie als eine Theorie definiert werden, die behauptet, dass etwas in sich wertvoll sein kann, unabhängig davon, wie Menschen beschaffen sind oder ob es überhaupt Menschen gibt, während eine »inhärente« Werttheorie die schwächere These vertritt, dass der Wert von Dingen zwar nicht vollständig auf subjektive Leistungen oder Einstellungen reduziert werden kann, aber subjektive Leistungen oder Einstellungen zumindest partiell dafür konstitutiv sind, dass etwas Wert hat. 139 Der Gebrauch des Begriffspaars »intrinsisch/inhärent« entspricht hier somit der metaethischen Unterscheidung zwischen einem starken und einem schwachen Realismus. Inhärente Werttheorien vertreten einen schwachen Realismus, während intrinsische Werttheorien eine so starke Unabhängigkeitsbedingung für die Wahrheit perfektionistischer Urteile formulieren, dass sie metaethisch gesehen einen starken Realismus verteidigen müssen. 2.2.2.4 Zweite Option: Nicht-naturalistischer oder naturalistischer Realismus? Bevor ich die eben skizzierte Bedeutung des Begriffspaars »intrinsisch/inhärent« von einer zweiten Bedeutung abgrenzen kann, ist zunächst die Einführung einer weiteren Distinktion vonnöten. Ich habe bisher dafür argumentiert, dass ein Perfektionistischer Liberaler notwendigerweise einen metaethischen Realismus – in einer schwachen oder starken Variante – vertreten muss. Er behauptet also nicht nur im Sinne eines Kognitivismus, dass perfektionistische Urteile bzw. Werturteile einen Wahrheitsanspruch erheben, sondern darüber hinaus, dass diese Urteile genau dann wahr sind, wenn sie evaluativen Tatsachen oder Sachverhalten entsprechen, es also evaluative Entitäten gibt, die Werturteile wahr machen. Innerhalb eines Realismus – von der Unterscheidung zwischen schwachen und starken Varianten unberührt – kann nun des Weiteren zwischen einem nicht-naturalistischen und einem naturalistischen Realismus unterschieden werden. 140 Die beiden Positionen geben unterschiedliche Antworten auf die Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 12–13; Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, 243. 140 Diese begriffliche Unterscheidung übernehme ich von Friedo Ricken, ohne seiner 139
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Frage, ob es sich bei evaluativen Eigenschaften (z. B. »gut«, »schlecht«, »wertvoll«) um »natürliche« oder »nicht-natürliche« Eigenschaften handelt und deshalb evaluative Sachverhalte oder Tatsachen (z. B. »Werten« oder »Gütern«) ontologisch als »natürliche« oder »nicht-natürliche« Sachverhalte oder Tatsachen zu klassifizieren sind. Anders formuliert: Beide Positionen sind realistisch, da sie behaupten, dass das Urteil »Es ist gut bzw. wertvoll für Menschen, dass P«, genau dann wahr ist, wenn der Sachverhalt P wahr ist, also gilt, dass P die Eigenschaft besitzt »gut« bzw. »wertvoll« für Menschen zu sein. Der Unterschied besteht darin, dass ein nicht-naturalistischer Realist behauptet, dass solche Urteile deshalb wahr sind, weil »gut« eine nicht-natürliche Eigenschaft darstellt, die P zukommt und »P ist gut« deshalb eine nicht-natürliche Tatsache ist, während ein naturalistischer Realist argumentiert, dass das perfektionistische Urteil wahr ist, weil »gut« eine natürliche Eigenschaft ist, die P zukommt und »P ist gut« deshalb eine natürliche Tatsache ist. Im Unterschied zu naturalistischen Realisten sind nicht-naturalistische Realisten also auf die Annahme verpflichtet, dass unsere Wirklichkeit auch evaluative Eigenschaften sui generis umfasst, die in Unabhängigkeit zu den Sachverhalten, die sie instanziieren, existieren und erkannt werden können. 141 Die Einführung und Erläuterung dieser Unterscheidung ermöglicht nun, eine zweite Verwendungsweise des Begriffspaars »intrinsisch/inhärent« metaethisch zu klassifizieren. Die Begriffe »inhärent« und »intrinsisch« werden innerhalb eines schwachen naturalistischen Realismus gebraucht, um einen »engen« von einem »weiten« bzw. einen human nature perfectionism von einem objective list perfectionism zu differenzieren. 142 Beides sind Varianten eines schwachen naturalistischen Realismus, weil von ihnen weder behauptet wird, dass es sich bei den evaluativen Tatsachen, die perfektionistische Urteile wahr machen, um Tatsachen handelt, die von ihnen unabhängige evaluative Eigenschaften sui generis instanziieren, noch von ihnen die These vertreten wird, dass Werteigenschaften vollständig von subjektiven Leistungen oder Einstellungen unabhängig sind. Innerhalb Beurteilung der Schwierigkeiten der Optionen und seinem eigenen Lösungsvorschlag damit zustimmen, vgl. Ricken, Allgemeine Ethik, 74–75; 85–87. 141 Vgl. Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 358–360. 142 Vgl. Chan, »Political Perfectionism«, 1073; Hurka, Perfectionism, 4; Quong, Liberalism without Perfection, 12–13; 27; Sher, Beyond Neutrality, 9; 11; Wall, »Perfectionism in Politics«, 101–102.
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eines schwachen naturalistischen Realismus dient der Begriff »inhärent« dazu, Werttheorien zu kennzeichnen, die die Werthaftigkeit von Werten bzw. die Gutheit von Gütern damit erklären, dass diese in einer Relation zu spezifisch menschlichen Funktionen oder Fähigkeiten stehen und für deren Entwicklung bzw. Entfaltung notwendig sind. Objektiv wertvoll bzw. gut sind die Sachverhalte, die erforderlich sind, damit sich die menschliche Natur entwickeln kann. 143 Mit dem Begriff »intrinsisch« werden hingegen Werttheorien bezeichnet, die behaupten, dass ein menschliches Leben gut ist, wenn es bestimmte objektiv wertvolle Güter bzw. Werte realisiert, wobei diese Güter oder Werte nicht in einer Beziehung zur Entwicklung oder Entfaltung der menschlichen Natur stehen müssen. 144 Wie Chan richtig bemerkt, dürften mit dem Ausdruck »perfektionistisch« eigentlich nur objektive Theorien des guten Lebens in Verbindung gebracht werden, die eine inhärente Werttheorie vertreten, die also die Werthaftigkeit bzw. Gutheit von Dingen damit erklären, dass sie für die Entwicklung der menschlichen Natur notwendig oder förderlich sind. 145 Da es aber in der Debatte üblich ist, auch intrinsische Werttheorien wie »Objektive-Listen-Theorien« als »perfektionistisch« zu bezeichnen, verwende ich den Ausdruck »perfektionistisch« in einem weiteren Sinne auch für alle nicht-subjektivistischen Werttheorien. 146
143 144 145 146
Vgl. »Perfectionism in Politics«, 101–102. Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 12–13; 27. Vgl. Chan, »Political Perfectionism«, 1073. Damit schließe ich mich Shers Klassifizierung an, vgl. Sher, Beyond Neutrality, 9.
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II. Kritik: Schwächen des sektiererischen und quasi-naturrechtlichen Modells
Im ersten Teil meiner Arbeit habe ich eine systematische Kartographie der Neutralitätsdebatte erstellt und dafür argumentiert, dass ein »Perfektionistischer Liberalismus« am besten als eine Position innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie bzw. eines public reason liberalism verstanden wird (Kapitel 1). Eine genauere Analyse dieser Position ergab dann, dass für sie ein defensives und ein konstruktives Element konstitutiv sind (Kapitel 2). Diese analytische Vorarbeit versetzt mich nun im zweiten Teil meiner Arbeit dazu in die Lage, drei Thesen zu verteidigen. Ich habe oben dargelegt, dass der sogenannte »Asymmetrievorwurf« für die defensive Strategie Perfektionistischer Liberaler zentral ist (siehe 2.1.1.3). Meine erste These lautet nun, dass sich die dialektische Situation der Neutralitätsdebatte mit der Publikation von Jonathan Quongs Liberalism without perfection zu Ungunsten Perfektionistischer Liberaler verändert hat, weil Quong in diesem Werk eine überzeugende Entkräftung des Asymmetrievorwurfs präsentiert, die nicht nur die Position eines Politischen Liberalismus stärkt, sondern darüber hinaus Perfektionistische Liberale zwingt, eine eigene Lösung für ein Problem zu präsentieren, welches ich als das »Problem der öffentlichen Rechtfertigung« bezeichne. Zweitens behaupte ich, dass sich innerhalb eines Perfektionistischen Liberalismus derzeit zwei Modelle rekonstruieren lassen, die jeweils unterscheidet, dass sie eine andere Lösungsstrategie für das von Quong aufgeworfene Problem verfolgen. Ich werde darlegen, dass Walls Strategie darin besteht, den Begriff »öffentliche Rechtfertigung« mittels eines »einfachen« Rechtfertigungsbegriffs umzuinterpretieren, weshalb ich seine Variante eines Perfektionistischen Liberalismus als das »sektiererische Modell« bezeichne. Ich werde nachweisen, dass dieses Modell mitsamt seiner Lösungsstrategie nicht zu überzeugen weiß und somit die durch Quong vollzogene Schwächung des defensiven Elements nicht sanieren kann. Perfektionistischer Liberalismus
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Kritik: Schwächen des sektiererischen und quasi-naturrechtlichen Modells
Die dritte und letzte These, die ich in diesem kritischen Teil meiner Arbeit verteidigen möchte, besagt, dass die Arbeiten von Sher für ein zweites Modell eines Perfektionistischen Liberalismus stehen, welches ich als »quasi-naturrechtliches Modell« bezeichne. Anders als bei Wall und seinem monologischen Modell besteht die Strategie von Sher und seinem quasi-naturrechtlichen Modell nicht darin, das Problem der öffentlichen Rechtfertigung durch eine Uminterpretation des Rechtfertigungsbegriffs zu lösen, sondern darin, dieses Problem mit dem Problem der Rechtfertigung des Objektivitätsanspruchs einer Theorie eines guten Lebens zu identifizieren. Die Grundidee ist hier, dass sich das Problem der öffentlichen Rechtfertigung von selbst erledigt, wenn es gelingt, den objektiven Wert bzw. die objektive Gutheit von Aktivitäten, Lebensweisen und Charaktereigenschaften in einer einheitsgebenden – quasi-naturrechtlichen – Weise zu rechtfertigen. Ich argumentiere jedoch dafür, dass es Sher nicht gelingt, diesen Nachweis zu führen, weshalb auch die Lösungsstrategie über das konstruktive Element dieses Modells eines Perfektionistischen Liberalismus nicht zu überzeugen vermag.
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3. Eine neue dialektische Situation
Bei meiner Analyse des defensiven Elements eines Perfektionistischen Liberalismus bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass der Asymmetrievorwurf von entscheidender Bedeutung ist (siehe 2.1.1.3). Denn dieser Vorwurf besagt im Kern, dass Politische Liberale solange nicht von Perfektionistischen Liberalen fordern können, dass sie im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt auf Argumente verzichten, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, solange sie eine Begründung schuldig bleiben, warum es ihnen selbst weiterhin gestattet sein soll, auf Argumente zurückzugreifen, die von kontroversen Gerechtigkeitskonzeptionen abhängen. Der Asymmetrievorwurf drängt Politische Liberale demnach in folgendes Dilemma: Entweder sie akzeptieren ihn und verzichten selbst auf Argumente, die von kontroversen Prämissen über Gerechtigkeitsfragen abhängen, oder aber sie akzeptieren ihn nicht und übernehmen damit die Verpflichtung, ihn zu widerlegen. Das erste Horn des Dilemmas anzugreifen, erscheint für Politische Liberale nicht möglich, jedenfalls solange sie an der These festhalten wollen, dass es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim sein kann, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die auf kontroverse Gerechtigkeitskonzeptionen rekurrieren. Negieren sie diese These, kollabiert ihre Position in einen Politischen Libertarismus, die noch revisionärere Implikationen für den legitimen Umfangsbereich staatlichen Handelns hat als ein Politischer Liberalismus. Wie oben darlegt, haben Politische Liberale bisher aber ebenso große Schwierigkeiten mit dem zweiten Horn des Dilemmas gehabt, weil es ihnen nicht gelungen ist, ein Demarkationskriterium zu benennen, welches den Ausschluss aller kontroversen perfektionistischen Argumente aus der Menge von Argumenten, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich rechtfertigen können, begründet und damit aber nicht auch zugleich einen Bezug auf Perfektionistischer Liberalismus
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Argumente, die auf kontroverse Gerechtigkeitskonzeptionen rekurrieren, für prinzipiell unzulässig erklärt. Die These, die ich in diesem Kapitel verteidigen werde, lautet nun, dass sich diese für Perfektionistische Liberale komfortable dialektische Ausgangssituation radikal verändert hat. In den letzten Jahren sind zwei Monographien erschienen, die sich in einer systematischen Weise mit dem Asymmetrievorwurf Perfektionistischer Liberaler auseinandersetzen und ihn mittels unterschiedlicher argumentativer Strategien zu entkräften versuchen. 1 Ich werde mich im Folgenden nur mit der Argumentation Quongs auseinandersetzen, weil dieser seinerseits überzeugend begründet hat, warum Lecces Strategie zur Widerlegung des Asymmetrievorwurfs nicht funktioniert. 2
3.1 Rechtfertigung einer Asymmetrie Meine Argumentation in diesem Abschnitt ist nun wie folgt aufgebaut: Zunächst hebe ich noch einmal hervor, wie wichtig eine Widerlegung des Asymmetrievorwurfs für die Position eines Politischen Liberalismus ist, und formuliere Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit eine Widerlegung als erfolgreich angesehen werden kann (siehe 3.1.1). Anschließend werde ich Quongs Argumentation gegen den Asymmetrievorwurf schrittweise rekonstruieren und testen, ob sie den formulierten Kriterien entspricht (siehe 3.1.2). In einem zweiten Abschnitt eruiere ich dann, welche Möglichkeiten Perfektionistischen Liberalen offen stehen, um gegen Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs zu argumentieren (siehe 3.2).
3.1.1 Politischer Liberalismus zwischen Perfektionismus und Libertarismus Es ist bemerkenswert, dass ein Politischer Liberaler wie Quong anerkennt, welche Schlagkraft der Asymmetrievorwurf besitzt und wie schwer es ist, diesen zu widerlegen. 3 Dies kann zunächst einmal 1 Vgl. Lecce, Against Perfectionism, 162–225; Quong, Liberalism without Perfection, 192–220. 2 Vgl. Liberalism without Perfection, 200–201. 3 Vgl. ibid., 196–202.
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als eine unabhängige Bestätigung meiner These verbucht werden, dass der Asymmetrievorwurf von zentraler Bedeutung für die Verteidigung eines Perfektionistischen Liberalismus ist, und durch ihn wohl der Finger in eine Wunde gelegt wird, die Politische Liberale schmerzt. Sie scheint Politische Liberale aber nicht nur zu schmerzen, weil sie innerhalb der Neutralitätsdebatte die dialektische Situation zu Gunsten eines Perfektionistischen Liberalismus verschiebt und diesen attraktiver macht, sondern vielmehr auch, weil mit dem Asymmetrievorwurf ein konstitutiver Grundpfeiler des Politischen Liberalismus selbst in Frage gestellt wird. Denn an der Beantwortung der Frage, ob sich eine asymmetrische Behandlung von Fragen des guten Lebens und Gerechtigkeitsfragen im Kontext des Prozesses der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen lässt, entscheidet sich für Quong, ob das Projekt eines Politischen Liberalismus überhaupt viabel bzw. in sich kohärent ist. 4 Das Projekt eines Politischen Liberalismus erweist sich nur dann als in sich kohärent, wenn es einen Weg weisen kann zwischen der Skylla eines Perfektionistischen Liberalismus und der Charybdis eines Politischen Libertarismus. Die Position eines Politischen Liberalismus in Bezug auf den legitimen Umfangsbereich staatlichen Handelns ist nur dann in sich kohärent, wenn es ihr gelingt, einen Test für Argumente zu finden, der zwei Kriterien genügt: Erstens soll er alle Argumente, die von kontroversen Annahmen darüber ausgehen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, aus der Menge von Argumenten ausschließen, die im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt eine Rolle spielen dürfen. Dies ist erforderlich, um die Skylla eines Perfektionistischen Liberalismus erfolgreich umschiffen zu können. Zweitens sollen aber auch solche Argumente diesen Test bestehen, die mit kontroversen Prämissen zu Gerechtigkeitsfragen operieren. Sonst droht die Charybdis eines Politischen Libertarismus. Ob Quongs Widerlegung des Asymmetrievorwufs erfolgreich ist, kann also daran bemessen werden, ob es ihm gelingt, einen Test für Argumente zu präsentieren, der diesen beiden Kriterien genügt.
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Vgl. ibid., 192; 198.
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3.1.2 Zwei Arten vernünftiger Uneinigkeit 3.1.2.1 Abgrenzung zu einem Politischen Libertarismus Für eine möglichst verständliche Rekonstruktion von Quongs Argumentation gegen den Asymmetrievorwurf scheint es mir am Besten, bei der notwendigen Abgrenzung zu einem Politischen Libertarismus anzusetzen. 5 Von Seiten eines Politischen Libertarismus wird ein Politischer Liberaler folgendermaßen unter Druck gesetzt: Es dürfte unstrittig sein, dass es eine der Grundannahmen einer liberalen Politischen Philosophie ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sich durch das Faktum eines vernünftigen Pluralismus auszeichnet. Aufgrund der Bürden der Urteilskraft kommen Menschen in vielerlei politischen Fragen bzw. bei vielerlei Themen auf der politischen Agenda zu vernünftigen, aber miteinander inkompatiblen Antworten. Daraus folgt, dass auch Argumente, die ausschließlich auf »politische« Werte rekurrieren (z. B. Werte wie Gleichheit und Autonomie oder Rechte wie Religionsfreiheit oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit), keine Rolle im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt spielen dürfen, wenn sie kontrovers sind. Dies hat seinen Grund in den Bürden der Urteilskraft und dem daraus resultierenden Faktum eines vernünftigen Pluralismus: Unterschiedliche Bewertungen von Evidenz und Diskrepanzen in der Interpretation und Gewichtung von politischen Werten führen zu vernünftigen Konflikten (z. B. bei Themen wie Abtreibung oder einer gerechten Verteilung von Gütern in einer Gesellschaft). 6 Es ist genau dieses Faktum, welches Politische Libertarier wie Gaus zu der radikalen Konklusion veranlasst, ein umfassendes wohlfahrtstaatliches Programm und politische Maßnahmen wie sogenannte »sin taxes« (z. B. die höhere Besteuerung von Zigaretten), Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen oder die Verpflichtung, Gurte oder Helme im Straßenverkehr zu tragen, abzulehnen. Der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt ist in diesen Fällen illegitim, weil er nur mit Argumenten gerechtfertigt werden kann, die entweder eine kontroverse Hierarchisierung von Gütern voraussetzen oder
Es handelt sich um eine Rekonstruktion, weil ich nicht dem Aufbau bzw. der Didaktik folge, die Quong benutzt. Meiner Meinung nach erleichtert es meine Darstellung des Arguments, direkter zu sehen, dass ein Politischer Liberalismus sich gegenüber zwei konkurrierenden Positionen erfolgreich abgrenzen muss. 6 Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 196–197; 202–203. 5
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aber eine kontroverse (egalitaristische) Gerechtigkeitskonzeption, die zumindest manche Bürger vernünftigerweise ablehnen können. Dieser libertaristische Test für Argumente ist offensichtlich zu streng, weil er staatliches Handeln für illegitim hält, auf welches Politische Liberale nicht verzichten wollen. Politische Liberale müssen demnach Überlegungen vorbringen, die gegen eine solche strikte Variante eines Tests für Argumente sprechen. Ich werde nun darlegen, dass sich Quong dieser Aufgabe bewusst ist, sein eigentliches Argument gegen einen Libertarismus nicht funktioniert, aber seine Argumentation saniert werden kann, weil sich an einer anderen Stelle seiner Ausführungen eine Anmerkung findet, mit der eine überzeugende Replik auf den libertaristischen Gedankengang konstruiert werden kann. Das Argument, dass Quong ursprünglich vorbringt, um sich gegenüber einem Politischen Libertarismus und einem dementsprechend strengen Test für Argumente abzugrenzen, die eine Rolle im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt spielen dürfen, ist interessanterweise selbst ein Asymmetrieargument: Quong argumentiert, dass Politische Libertarier entweder zugestehen müssen, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt wenigstens manchmal Legitimität beanspruchen kann, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von kontroversen Interpretationen oder Gewichtungen politischer Werte ausgehen, oder aber gar kein staatliches Handeln mehr gerechtfertigt werden und damit Legitimität beanspruchen kann. 7 Die Wahl lautet also: Politischer Liberalismus oder Anarchie. Ich glaube, dass dieses Argument bzw. der Versuch, einem Politischen Libertarismus nachzuweisen, dass sein strenger Test für Argumente auf eine reductio ad absurdum hinausläuft, nicht gelingt. Aus folgendem Grund: Politischen Libertariern bleibt die Möglichkeit, auf das Argument einer höhergeordneten Einigkeit hinzuweisen, dass ich Rahmen der Diskussion um die Möglichkeit eines politisch begründeten Perfektionistischen Liberalismus schon vorgestellt habe (siehe 1.2.2). Eine Variante eines solchen Arguments benutzt der Politische Libertarier Gaus auch in der Tat, um den Vorwurf zu entkräften, dass sein Plädoyer für einen Minimalstaat bzw. einen sehr strengen Test für die Argumente, die im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt eine Rolle spielen dürfen, 7
Vgl. ibid., 202–203.
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letztlich zu einer Anarchie führt, die die Institution des Staates selbst ablehnt. 8 Das eigentliche Argument, das Quong erlaubt, sich gegenüber einem Politischen Libertarismus und seinem strengen Test für Argumente erfolgreich abzugrenzen, findet sich meiner Ansicht nach an einer anderen Stelle seiner Ausführungen, die zentral für seine Widerlegung des Asymmetrievorwurfs ist. Dort definiert er ein neues Kriterium für Argumente, die im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung eine Rolle spielen dürfen: Damit der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt Legitimität beanspruchen kann, ist es nicht erforderlich, dass er mit Argumenten gerechtfertigt wird, deren Prämissen mit Interpretationen oder Gewichtungen von politischen Werten operieren, die von keinem Bürger vernünftigerweise abgelehnt werden können. Es ist lediglich erforderlich, dass er mit Argumenten gerechtfertigt wird, die mit Prämissen operieren, von denen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie jeder Bürger als relevant akzeptieren kann. 9 Daraus leitet sich ein schwächerer Test für Argumente ab, der es ihm ermöglicht zu erklären, warum Argumente, die auf kontroverse Gerechtigkeitskonzeptionen bzw. auf kontroverse Interpretationen oder Gewichtungen politischer Werte rekurrieren, im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt eine Rolle spielen dürfen. Aufgrund der Bürden der Urteilskraft und des daraus resultierenden Faktums eines vernünftigen Pluralismus kann eine vernünftige Uneinigkeit darüber bestehen, was gerecht ist und was nicht und wie andere politische Werte interpretiert und gewichtet werden sollen. Dennoch können Argumente, die auf derartig kontroverse Überlegungen zurückgreifen, den Gebrauch staatlicher Vgl. Gaus, »Moral Foundations«, 92. Ich habe im Rückgriff auf Chan lediglich aufgezeigt, dass dieses Argument höhergeordneter Einigkeit nicht funktioniert, um eine asymmetrische Behandlung von Fragen des guten Lebens und Gerechtigkeitsfragen bzw. konstitutionellen Grundfragen im Sinne eines Politischen Liberalismus zu rechtfertigen. Zu untersuchen bliebe, ob es ein Libertarist verwenden kann, um sich auf der einen Seite von einem Liberalismus perfektionistischer oder anti-perfektionistischer Spielart und auf der anderen Seite von anarchistischen Positionen abzugrenzen. Die Beantwortung dieser Frage ist aber nicht Gegenstand meiner Untersuchung und für meine Argumentation an dieser Stelle nicht von Belang. Entscheidend ist, dass durch diese Möglichkeit Politischer Libertarier das von Quong konstruierte Dilemma nicht greift. 9 Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 209. Siehe auch Rawls, Political Liberalism, 137. 8
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Zwangsgewalt rechtfertigen, weil man vernünftigerweise erwarten kann, dass diese Überlegungen von allen Bürgern mit liberalen commitments als rechtfertigende Gründe anerkannt werden können. Dies kann man vernünftigerweise erwarten, weil das Haben von liberalen commitments eben bedeutet, politische Werte wie z. B. Freiheit, Gleichheit, Respekt vor der Autonomie von Personen oder individuelle Freiheitsrechte als relevante Gründe für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt anzuerkennen. 10 Mit anderen Worten: Diese Argumente bestehen den Test, weil sie Prämissen verwenden, die sich auf einem gemeinsam akzeptierten »normativen Koordinatensystem« einordnen lassen. Man mag sich uneinig sein, wo die entsprechenden Prämissen korrekterweise auf dem Koordinatensystem zu platzieren sind, aber man ist sich einig darüber, dass sie in ein und demselben – liberalen – Koordinatensystem verortet werden können. Es bietet sich an, auf das von Quong angeführte Beispiel der Kontroverse um das Thema »Abtreibung« Bezug zu nehmen, um diesen Punkt zu illustrieren. Die Argumente, die für oder gegen ein Gesetz vorgebracht werden, dass Abtreibung freistellt oder verbietet, können höchst kontrovers sein, weil zum einen Evidenz bzw. wissenschaftliche Fakten anders interpretiert werden können und man zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen darüber kommt, wann menschliches Leben beginnt. Zum anderen können im Konflikt stehende politische Werte anders gewichtet und gegeneinander abgewogen werden (z. B. das Recht auf Selbstbestimmung der schwangeren Frau über den eigenen Körper gegen ein Recht des ungeborenen Kindes auf Leben – was natürlich wiederum voraussetzt, dass man die jeweilige »organische und sich entwickelnde Einheit« im Körper der Frau den Status als »Mensch« zuerkennt und damit als Rechtsträger behandelt). 11 Derartige Argumente können hinsichtlich ihrer Triftigkeit von den jeweiligen Gegner oder Befürwortern der entsprechenden politischen Maßnahme aufgrund der Bürden der Urteilskraft vernünftigerweise abgelehnt werden. Dennoch kann ein dementsprechendes Gesetz Legitimität beanspruchen, weil auch die im Konflikt unterlegene Partei anerkennen muss, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten gerechtfertigt wird, die mit normativen Überlegungen bzw. »politischen« Werten operieren, die von je10 11
Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 207; 209–210. Vgl. ibid., 196–197; 207.
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dem liberalen Bürger vernünftigerweise akzeptiert werden können. 12 Ein Abtreibungsbefürworter kann z. B. die Triftigkeit der Argumente von Abtreibungsgegnern vernünftigerweise ablehnen, weil er dem Wert bzw. Recht der körperlichen Selbstbestimmung einen sehr hohen Wert einräumt und es für zweifelhaft hält, dass es sich bei Föten bis zum dritten Monat um »Menschen« bzw. Rechtsträger handelt. Wird eine politische Maßnahme gegen Abtreibung nun mit Argumenten gerechtfertigt, die von der Prämisse ausgehen, dass sich schon mit der Verbindung von Samen- und Eizelle ein Mensch und Rechtsträger konstituiert und das Recht einer körperlichen Selbstbestimmung in jedem Fall dem Recht auf Leben nachgeordnet werden muss, dann kann ein Abtreibungsgegner einer solchen Maßnahme aber nicht die Legitimität absprechen, weil sie ihm gegenüber mit normativen Überlegungen gerechtfertigt wurde, die er – aufgrund seiner liberalen commitments – vernünftigerweise akzeptieren kann. Er muss anerkennen, dass es in diesem Konflikt vernünftig ist, sich auf Evidenz darüber zu berufen, wann menschliches Leben beginnt, sowie zugestehen, dass das Recht auf Leben ein hohes Gut darstellt, auch wenn er die jeweilige Evidenz bestreiten, die Gewichtung der Rechte der Frau und des ungeborenen Lebens kritisieren, sowie die Behauptung negieren kann, dass hier überhaupt ein Konflikt zwischen zwei Rechtsgütern vorliegt. Ein so formulierter Test für Argumente, die eine Rolle im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung spielen dürfen, lässt sich für die Perspektive der ersten Person Singular so übersetzen: Ich muss eine von dir befürwortete und von mir abgelehnte politische Maßnahme als legitim betrachten, wenn ich anerkennen muss, dass du für ihre Rechtfertigung Argumente vorgebracht hast, die mit Prämissen operieren, von denen du vernünftigerweise erwarten kannst, dass ich sie akzeptieren kann. 3.1.2.2 Abgrenzung zu einem Perfektionistischen Liberalismus Wie ich im vorigen Unterabschnitt gezeigt habe, gelingt Quong die Abgrenzung zu einem Politischen Liberalismus, d. h., der von ihm anvisierte Test für Argumente, die im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung eine Rolle spielen dürfen, erfüllt das erste Kriterium. Die Charybdis eines Politischen Liberalismus wird erfolgreich umschifft. Um den Asymmetrievorwurf effektiv zu entkräften, muss Quong 12
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Vgl. ibid., 213.
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aber nun darlegen, dass ihn das dafür erforderliche Manöver nicht in die Gefahr der Skylla eines Perfektionistischen Liberalismus bringt. Er muss also nachweisen, dass sein Test nun nicht so permissiv geworden ist, dass er auch kontroverse perfektionistische Argumente passieren lässt. Hierzu muss Quong die These vertreten, dass eine asymmetrische Behandlung von kontroversen perfektionistischen Argumenten und Argumenten, die mit nicht-perfektionistischen – aber kontroversen – normativen Überlegungen operieren, gerechtfertigt ist. Meiner Ansicht nach lässt sich aus den Ausführungen Quongs eine Argumentation rekonstruieren, die aus zwei Schritten besteht: Erstens unterscheidet er zwei Typen von vernünftiger Uneinigkeit und argumentiert, dass eine davon problematisch ist, wenn sie im Kontext der Rechtfertigung politischer Zwangsgewalt auftaucht, die andere hingegen nicht. In einem zweiten Schritt argumentiert er dann, dass Konflikte über Gerechtigkeitsfragen notwendigerweise Instanziierungen des unproblematischen Typs vernünftiger Uneinigkeit sind, während Konflikte über Fragen des guten Lebens fast immer dem problematischen Typ vernünftiger Uneinigkeit zuzuordnen sind. Betrachten wir zunächst den ersten Schritt. Quong unterscheidet zwischen »foundational« und »justificatory disagreements«. 13 Bei beiden Arten von Konflikten handelt es sich um »vernünftige« Uneinigkeiten, die dem Faktum eines vernünftigen Pluralismus geschuldet sind, d. h. aus den Bürden der Urteilskraft resultieren. 14 Der Unterschied zwischen beiden Arten von Uneinigkeiten ist epistemischer Natur 15: Bei Gewichtungsuneinigkeiten (justificatory disagreements) ist man sich einig darüber, welche Aspekte bzw. Überlegungen releIch finde die Begriffe »foundational« und »justificatory« etwas irreführend, weil es bei »foundational disagreements« auch um Konflikte geht, die das Thema »Rechtfertigung« (justification) betreffen. Derartige Konflikte betreffen eine grundlegendere Ebene bzw. eine Metaebene, aber es geht immer noch um das Thema Rechtfertigung. Man ist sich uneinig darüber, nach welchen Kriterien beurteilt werden soll, ob die vorgebrachten Überlegungen für eine Rechtfertigung relevant sind oder nicht, also als Gründe anerkannt werden sollen. Mir erscheint deshalb eine Übersetzung mit »Gewichtungsuneinigkeit« (justificatory disagreement) und »Relevanzuneinigkeit« (foundational disagreement) angemessen. 14 Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 206. 15 Quongs Argumentation lässt sich damit der von mir oben (siehe 2.1.1.3) diskutierten zweiten Fraktion Anti-Perfektionistischer Liberaler zuordnen, die epistemische Argumente für die Rechtfertigung einer asymmetrischen Behandlung von Gerechtigkeitsfragen und Fragen des guten Lebens vorbringen. Es gibt gewisse Parallelen zu der 13
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vant für die Rechtfertigung der Lösung eines Konflikts sind, aber uneinig darüber, wie diese gewichtet werden sollen. Bei Relevanzuneinigkeiten (foundational disagreements) ist man sich hingegen nicht nur uneinig darüber, wie Aspekte bzw. Überlegungen für die Lösung eines Konflikts gewichtet werden sollen, sondern darüber hinaus auf einer noch tieferliegenden Metaebene uneinig über die Kriterien, anhand derer bestimmt werden kann, welche Aspekte bzw. Überlegungen überhaupt für die Lösung des Konflikts relevant sind. 16 Mit anderen Worten: Bei Gewichtungsuneinigkeiten verfügen die Konfliktparteien über ein gemeinsames normatives Koordinatensystem, einen gemeinsamen normativen Rahmen oder eine gemeinsame normative Begrifflichkeit, bei Relevanzuneinigkeiten hingegen nicht. 17 Mittels dieser Unterscheidung kann Quong nun einen funktionierenden Test für Argumente konstruieren: Der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt kann Legitimität beanspruchen, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt wird, die mit normativen Überlegungen operieren, die im Sinne einer Gewichtungsuneinigkeit kontrovers sind. Hingegen ist der Gebrauch politischer Zwangsgewalt illegitim, wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt wird, die auf normative Prämissen rekurrieren, die im Sinne einer Relevanzuneinigkeit kontrovers sind. Der erstgenannte Fall ist unproblematisch, weil der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit normativen Überlegungen gerechtfertigt wird, von denen – aufgrund eines gemeinsamen normativen Rahmens – vernünftigerweise erwartet werden kann, dass Bürger sie als Gründe für die Rechtfertigung eines staatlichen Agierens anerkennen können. Problematisch werden vernünftige Uneinigkeiten erst, wenn auf einer noch tiefer liegenderen Ebene keine Einigkeit über Rechtfertigungsstandards oder -kriterien besteht, weil dann überhaupt nicht mehr klar ist, welche der vorgebrachten normativen Überlegungen für die Rechtfertigung einer eigenen Positionierung im Konflikt relevant sind. Besteht ein Dissens auf einer solch grundlegenden Ebene, dann kann die eine Konfliktpartei nicht vernünftigerweise erwarten, dass die andere ihre Übervorgestellten Argumentation Nagels, doch scheinen mir Quongs Ausführungen unterschiedlich genug, um hier eine eigene Behandlung zu rechtfertigen. 16 Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 206. 17 Quong verwendet hier die Begriffe »fundamental normative framework«, »justificatory framework«, »standard of justification« oder »currency of disagreement«, vgl. ibid., 204–211.
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legungen als Gründe für die Rechtfertigung der von ihr favorisierten politischen Maßnahme anerkennt. Um die asymmetrische Behandlung eines Bezugs auf kontroverse Gerechtigkeitskonzeptionen und kontroverse Konzeptionen eines guten Lebens im Kontext der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zu rechtfertigen, muss Quong in einem zweiten Schritt plausibel machen, dass folgende These wahr ist: Bei Kontroversen um Gerechtigkeitsfragen handelt es sich notwendigerweise um unproblematische Formen von vernünftiger Uneinigkeit (Gewichtungsuneinigkeiten), Kontroversen um Fragen des guten Lebens gründen hingegen fast immer in der problematischen Variante vernünftiger Uneinigkeit (Relevanzuneinigkeit). Bevor ich diesen Gedankengang weiter rekonstruieren und letztlich bewerten kann, ist es an dieser Stelle notwendig, eine Prämisse explizit zu machen, die nicht nur in diesem zweiten Schritt von Quongs Argumentation gegen den Asymmetrievorwurf eine Rolle spielt, sondern der darüber hinaus eine eminente Bedeutung für die gesamte Verteidigung seiner Variante eines Politischen Liberalismus gegen einen Perfektionistischen Liberalismus zukommt. Quong unterscheidet eine interne von einer externen Konzeption eines Politischen Liberalismus. 18 Eine interne Konzeption eines Politischen Liberalismus beansprucht nicht, ihr Modell einer öffentlichen Rechtfertigung politischer Macht allen aktualen Bürgern einer Gesellschaft gegenüber begründen zu können – dies versuchen externe Konzeptionen eines Politischen Liberalismus –, sondern nur einer idealisierten Bürgerschaft, die ausschließlich aus Bürgern besteht, die sich grundlegenden liberalen Normen bzw. Überzeugungen schon verpflichtet fühlen. 19 Durch diese Unterscheidung und der damit verbundenen Selbstbeschränkung des Geltungsanspruchs einer liberalen Politischen Philosophie erhofft sich Quong ein Kriterium für »Vernünftigkeit« etablieren zu können, das gegen den Vorwurf der Zirkularität immun ist, der sich – laut Quong – als fatal für externe Konzeptionen eines Politischen Liberalismus erwiesen hat. Als »vernünftig« gelten nach einer internen Konzeption eines Politischen Liberalismus nur jene Bürger, die drei grundlegende liberale Normen akzeptieren: Erstens sollen als vernünftig nur jene Bürger gelten, die der Idee einer Gesellschaft als fairem System sozialer 18 19
Vgl. ibid., 5–7; 137–160. Vgl. ibid., 5.
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Kooperation anhängen, die also das Ziel teilen, eine möglichst faire Verteilung von Gütern und Vorteilen zu finden. Zweitens wissen sich vernünftige Bürger dem Ideal verpflichtet, dass Menschen als freie und gleiche Personen zu behandeln sind. 20 Drittens disqualifiziert sich derjenige als »unvernünftig«, der die Bürden der Urteilskraft bzw. das Faktum eines vernünftigen Pluralismus nicht anerkennt, also derjenige, der nicht akzeptiert, dass sein Gesprächspartner eine Gerechtigkeitskonzeption oder eine Konzeption eines guten Lebens vertreten kann, die mit der eigenen inkompatibel ist, aber dennoch vernünftig sein kann. 21 Es ist diese Prämisse, diese Definition von »Vernünftigkeit« bzw. Einschränkung des Adressatenkreises der Argumentation, die Quongs zweiten Schritt plausibel macht. Akzeptiert man diese Prämisse, dann sind Konflikte über Gerechtigkeitsfragen notwendigerweise – sozusagen per definitionem – Konflikte, die Gewichtungsuneinigkeiten widerspiegeln. 22 Warum? Das commitment zu einer Vorstellung der Gesellschaft als fairem System sozialer Kooperation, in dem eine faire Verteilung von Gütern und Vorteilen angestrebt wird, sowie das commitment zur Überzeugung, dass Menschen als freie und gleiche Personen zu behandeln sind, ist von den Bürden der Urteilskraft ausgenommen bzw. die Akzeptanz dieser führt hier nicht zu einer Relevanzuneinigkeit, weil man eine interne Konzeption eines Politischen Liberalismus voraussetzt. 23 Da es sich um Uneinigkeiten zwischen liberalen Bürgern handelt, d. h. Bürgern, die die Vorstellung einer Gesellschaft als fairem System sozialer Kooperation, sowie die Norm, Menschen als gleiche und freie Personen zu behandeln, akzeptieren, ruhen diese Uneinigkeiten auf einer tieferliegenden Einigkeit darüber, welche Überlegungen bzw. Aspekte für die Rechtfertigung des Gebrauchs politischer Macht relevant sind. Mit anderen Worten: Es sind die politischen commitments zur Vorstellung der Gesellschaft als fairem System sozialer Kooperation und Bürgern als freie und gleiche Personen, die den geteilten »normativen Rahmen« (justificatory framework) bzw. den objektiven Rechtfertigungsstandard liefern, von dem her beurteilt werden kann, ob die jeweils vorgebrachten normativen Überlegungen und Aspekte derart sind, dass von allen am Kon20 21 22 23
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Vgl. ibid. Vgl. ibid., 213–214. Vgl. ibid., 214. Vgl. ibid., 208; 214.
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flikt Beteiligten vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sie als Gründe akzeptieren können. 24 Der zweite Schritt von Quongs Argumentation gegen den Asymmetrievorwurf läuft demnach auf den Nachweis hinaus, dass die Akzeptanz zweier zentraler normativer Überzeugungen von Liberalen – Menschen sind als frei und gleich zu behandeln und die Gesellschaft soll ein System fairer sozialer Kooperation sein – notwendigerweise auf eine Konzeption öffentlicher Vernunft bzw. Rechtfertigung verpflichtet, wonach der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn er mit Gründen gerechtfertigt werden kann, die den Kriterien bzw. Rechtfertigungsstandards einer öffentlichen Vernunft bzw. öffentlichen Rechtfertigung genügen. 25 Dies ist laut Quong dann der Fall, wenn Argumente zwei Bedingungen erfüllen: Zum einen dürfen sie als Prämissen nur politische bzw. öffentliche Werte verwenden, also normative Überlegungen, die unabhängig von kontroversen Annahmen darüber sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Zum anderen müssen derartige Argumente aber auch plausibel machen können, dass sie alle relevanten öffentlichen bzw. politischen Werte mit berücksichtigen. 26 Ich möchte nun kurz darlegen, warum und wie es Quong mittels dieser beiden Schritte gelingt, den Asymmetrievorwurf Perfektionistischer Liberaler zu entkräften. Der Asymmetrievorwurf zwingt Politische Liberale wie Quong dazu, folgende Frage zu beantworten: Wie rechtfertigt sich die asymmetrische Behandlung von Argumenten, die mit kontroversen Annahmen darüber operieren, was gerecht ist, gegenüber Argumenten, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht? Quongs Antwort hierauf ist, dass sich die Bürden der Urteilskraft unterschiedlich Vgl. ibid., 214. Vgl. ibid., 207. 26 Vgl. ibid. In Fußnote 32 auf derselben Seite gesteht Quong zu, dass öffentliche Rechtfertigungen sich nicht daran messen lassen müssen, ob sie auch nicht-politischen bzw. nicht-öffentlichen Werte gerecht werden, die die Akzeptanz einer umfassenden Lehre voraussetzen, weil derartige Werte per definitionem nicht relevant sind. Anders formuliert: Die Übernahme einer derartigen Konzeption öffentlicher Vernunft bzw. Rechtfertigung erklärt nicht-politische bzw. nicht-öffentliche Werte aus formalen bzw. definitorischen Gründen für die Rechtfertigung politischer Maßnahmen für irrelevant. Wohlgemerkt: Derartige normative Überlegungen werden damit ohne eine Prüfung und Bewertung ihres Inhalts von vorneherein aus dem Deliberationsprozess über die Rechtfertigung einer politischen Maßnahme ausgeschlossen! 24 25
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gegenüber Gerechtigkeitsfragen und Fragen des guten Lebens auswirken. 27 Konflikte über Fragen des guten Lebens sind fast immer in einem prinzipiellen Sinne unlösbar, weil die Bürden der Urteilskraft zu einer vernünftigen Uneinigkeit über die Rechtfertigungsstandards führen, d. h. zu einer Relevanzuneinigkeit, in der man sich vernünftigerweise uneinig darüber ist, welche Überlegungen überhaupt relevant für eine mögliche Lösung des Konflikts sind bzw. welche Überlegungen von den Konfliktpartnern als Gründe akzeptiert werden müssen. Dies ist bei Konflikten über Gerechtigkeitsfragen nicht der Fall. Die Bürden der Urteilskraft führen hier nicht zu einer so tiefgehenden vernünftigen Uneinigkeit. Warum? Ausgehend von der Prämisse einer internen Konzeption eines Politischen Liberalismus – also einer Beschränkung des Adressatenkreises der Argumentation auf Liberale, die die normativen Überzeugungen von einer Gesellschaft als fairem System sozialer Kooperation und Bürgern als freie und gleiche Personen akzeptieren – haben die Bürden der Urteilskraft bei Gerechtigkeitsfragen nicht diese Wirkung, weil die Vernünftigkeit dieser commitments oder Überzeugungen nicht mehr in Frage gestellt werden kann. 28 Wenn es als »vernünftig« definiert wird, die Gesellschaft als faires System sozialer Kooperation und Bürger als freie und gleiche Personen anzusehen, dann ist es per Definition »unvernünftig«, diese Überzeugungen bzw. commitments in Frage zu stellen. Gemäß Quong löst sich das Problem eines geteilten normativen Rahmens bzw. das Problem grundlegender Rechtfertigungsstandards bei Gerechtigkeitsfragen auf einer Metaebene dadurch, dass es sich um vernünftige Uneinigkeiten zwischen Liberalen handelt. Für Quong folgt daraus, dass es zwischen Liberalen bei Konflikten über Gerechtigkeitsfragen zwar eine vernünftige Uneinigkeit geben kann, allerdings nur im Sinne einer »Gewichtungsuneinigkeit«. Eine asymmetrische Behandlung von kontroversen Gerechtigkeitsfragen und Fragen des guten Lebens ist demnach gerechtfertigt, weil sich aus den erwähnten zentralen liberalen Überzeugungen eine Verpflichtung zum Ideal öffentlicher Vernunft bzw. Rechtfertigung ableitet, die wie ein »Filter« 29 funktioniert: Legitimität kann der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur beanspruchen, wenn er mit ArVgl. ibid., 208. Vgl. ibid., 214. 29 Die Metapher des »Filters« wird von Quong wiederholt gebraucht, vgl. ibid., 207– 208; 219. 27 28
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gumenten gerechtfertigt wird, die alle relevanten politischen bzw. öffentlichen Werte berücksichtigen, also die normativen Überlegungen von denen Liberale vernünftigerweise erwarten können, dass sie von jedem liberalen Bürger als rechtfertigende Gründe akzeptiert werden können. Zu einem politischen bzw. öffentlichen Wert wird eine Überlegung wiederum, wenn sie mittels eines geteilten normativen Rahmens bzw. Rechtfertigungsstandards als für den Konflikt »relevant« oder »irrelevant« beurteilt werden kann. Kontroverse Annahmen bzw. Überlegungen darüber, was ein gutes Leben ist und ausmacht, können keine politischen bzw. öffentlichen Werte sein, weil hier die Bürden der Urteilskraft verhindern, dass es einen gemeinsamen normativen Rahmen bzw. Rechtfertigungsstandard gibt, von dem her eine Beurteilung als »relevant« bzw. »irrelevant« möglich wäre. Weil Argumente, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist bzw. ausmacht, sich demnach zwangsläufig – wiederum sozusagen per Definition – auf nicht-politische bzw. nicht-öffentliche Werte zur Rechtfertigung politischer Maßnahmen berufen, genügen sie nicht dem Kriterium öffentlicher Vernunft bzw. Rechtfertigung. Im Gegensatz zu öffentlichen bzw. politischen Werten ist hier eine Relevanzuneinigkeit möglich und aufgrund einer fehlenden Beschränkung der Bürden der Urteilskraft fast notwendigerweise die Konsequenz. Beruft man sich auf derartige nicht-politische bzw. nicht-öffentliche Werte, dann bedeutet dies, dass der gemeinsam vorausgesetzte normative Rahmen zwischen Liberalen verlassen wird und nicht mehr gewährleistet ist, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt von einer Konfliktpartei einer anderen gegenüber mit Überlegungen gerechtfertigt wird, von denen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass die andere Partei diese als »Gründe« für die Rechtfertigung der entsprechenden Maßnahme akzeptieren kann. Bei Fragen des guten Lebens herrscht laut Quong – aufgrund der Bürden der Urteilskraft – schlicht eine unhintergehbare Uneinigkeit darüber, welche Überlegungen aufgrund welcher Kriterien als rechtfertigende Gründe anerkannt werden sollen. Deswegen passieren Argumente, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was gerecht ist, den »Filter« bzw. den Test für Argumente, die im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung eine Rolle spielen dürfen, während Argumente, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, ausgesiebt werden. Eine asymmetrische Behandlung von kontroversen Gerechtigkeitskonzeption und kontroversen Konzeptionen Perfektionistischer Liberalismus
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eines guten Lebens ist deshalb gerechtfertigt. Letztere genügen aufgrund der Bürden der Urteilskraft fast nie dem Kriterium öffentlicher Rechtfertigung bzw. öffentlicher Vernunft. Erstgenannte notwendigerweise, weil die Akzeptanz zentraler liberaler Überzeugungen verhindert, dass die Bürden der Urteilskraft zu einer Relevanzuneinigkeit führen und somit ein normativer Rahmen bzw. ein Rechtfertigungsstandard gewährleistet ist, mittels dessen Liberale beurteilen können, ob der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Überlegungen begründet wird, von denen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie als »Gründe« akzeptiert werden. Es scheint somit, dass Quong das schwierige Unterfangen gelungen ist, seinen Politischen Liberalismus gegenüber einem Libertarismus abzugrenzen, ohne damit zugleich einen Perfektionismus akzeptieren zu müssen.
3.2 Mögliche Strategien einer Erwiderung Bevor ich in den verbleibenden beiden Kapiteln dieses zweiten Teils meiner Arbeit zwei Modelle eines Perfektionistischen Liberalismus auf dem Hintergrund von Quongs Argumentation identifiziere und kritisiere, möchte ich zunächst erörtern, welche theoretischen Optionen einem Perfektionistischen Liberalismus offen stehen, um eine Entgegnung auf Quong zu formulieren. Welche argumentativen Strategien kann ein Perfektionistischer Liberaler wählen, um Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs ihrerseits zu widerlegen?
3.2.1 Angriff auf die Prämissen Mögliche argumentative Strategien können zunächst einmal danach unterschieden werden, ob sie bereit sind, die Prämissen von Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs zu akzeptieren oder nicht. Ich werde zunächst skizzieren, wie eine Kritik aussehen könnte, die dies nicht tut, um dann in den nächsten beiden Unterabschnitten darzulegen, welche Kritikmöglichkeiten bleiben, wenn man die Annahmen akzeptiert, auf denen Quong seine Argumentation aufbaut. Entscheidet man sich für eine argumentative Strategie, die sich auf eine Kritik von Quongs Prämissen konzentriert, dann bieten sich zwei Alternativen an. Eine erste Möglichkeit besteht darin, Quongs interne Konzeption eines Politischen Liberalismus anzugreifen. Wie 174
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ich oben dargelegt habe (siehe 3.1.2.2), handelt es sich hier um eine Selbstbeschränkung des Geltungsanspruchs einer liberalen Politischen Philosophie. Quong gesteht zu, dass seine Argumentation nur beansprucht liberale Bürger zu überzeugen, also Bürger, die zentrale liberale Normen bzw. Überzeugungen akzeptieren. Diese Einschränkung erlaubt ihm die Reichweite der Bürden der Urteilskraft einzugrenzen und eine »vernünftige« Uneinigkeit – im Sinne einer Relevanzuneinigkeit – für Konflikte über Gerechtigkeitsfragen für unmöglich zu erklären. Durch diese Definition von »Vernünftigkeit« sind Konflikte über Gerechtigkeitsfragen eben notwendigerweise Gewichtungsuneinigkeiten. Die commitments bzw. Überzeugungen in Frage zu stellen, die einen geteilten normativen Rahmen bzw. einen Rechtfertigungsstandard liefern, von dem aus beurteilt werden kann, von welchen normativen Überlegungen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass Konfliktpartner sie als Gründe akzeptieren können, hieße »unvernünftig« zu sein und sich aus der Menge liberaler Bürger auszuschließen. Eine derartige Kritik ist nicht neu, sondern vor allem gegen die Rawlssche Variante eines Politischen Liberalismus im Rahmen der sogenannten »Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte« entwickelt worden. 30 Das Problem dieser Argumente ist, dass ihre Plausibilität sich aus der Rawlsschen These speist, dass es möglich ist, ein von liberalen commitments bzw. Überzeugungen unabhängiges Kriterium für »Vernünftigkeit« etablieren zu können. Gewöhnlich zielt die kommunitaristische Kritik deshalb darauf ab, der Rawlsschen Argumentation eine Zirkularität nachzuweisen. Dieser Nachweis gelingt aber nur bei einer externen Konzeption eines Politischen Liberalismus, die sich eben durch den Anspruch auszeichnet, auch Nicht-Liberale von der Vernünftigkeit der Akzeptanz einer freistehenden bzw. politischen Gerechtigkeitskonzeption zu überzeugen. Quong gibt mit seiner internen Konzeption eines Politischen Liberalismus aber ausdrücklich die Rawlssche These auf, dass sich ein solches unabhängiges Kriterium für »Vernünftigkeit« gewinnen lässt bzw. es überhaupt erforderlich ist, ein solches zu suchen. 31 Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs ist insofern immun gegen solche kommunitaEine solche exemplarische Abhandlung findet sich z. B. bei Mulhall und Swift, Liberals and Communitarians, 223–246. Eine ähnliche gelagerte Kritik formuliert Gaus, Contemporary Theories of Liberalism, 177–204. 31 Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 4–7. 30
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ristischen Argumente. Kritiker Quongs, die auf derartige Argumente trotzdem nicht verzichten wollen, bliebe die Möglichkeit nachzuweisen, dass eine externe Konzeption eines Politischen Liberalismus einer internen Konzeption vorzuziehen ist und deshalb derartige Argumente nach wie vor relevant sind. Gegen eine solche Vorgehensweise sprechen allerdings zwei Fakten: Erstens setzt sich Quong ausdrücklich mit der Frage auseinander, warum eine interne Konzeption eines Politischen Liberalismus einer externen Konzeption überlegen ist, und man müsste sich mit den dort vorgebrachten Argumenten intensiv beschäftigen. 32 Quongs Entscheidung für eine interne Konzeption eines Politischen Liberalismus ist demnach sehr gut begründet. Was aber zweitens gegen die Verfolgung einer solchen Strategie spricht, ist, dass Quong damit wirbt, dass seine interne Konzeption wesentlich attraktiver ist als eine externe Konzeption, gerade weil sie den Asymmetrievorwurf entkräften kann bzw. gegen Asymmetrievorwürfe Perfektionistischer Liberaler oder anti-liberaler Kommunitaristen immun ist. Damit Argumente, die gegen eine externe Konzeption eines Politischen Liberalismus erfolgreich sind, auch für eine Kritik an Quongs Ansatz angewendet werden können, müsste man demnach Anti-Perfektionistische Liberale überzeugen, dass sie diese einer internen Konzeption gegenüber präferieren sollten, die nicht anfällig ist für derartige Argumente. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ein solches Unterfangen gelingt. Will man als Perfektionistischer Liberaler trotzdem an einer Kritik an Quongs Prämissen festhalten, so bleibt eine zweite Angriffsmöglichkeit. Man könnte Quong zugestehen, dass eine interne Konzeption eines Politischen Liberalismus attraktiver ist als eine externe Konzeption und deshalb Argumente nicht greifen, die im Rahmen der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte gegen Rawls Politischen Liberalismus vorgebracht wurden. Stattdessen könnte man aber bestreiten, dass die liberalen commitments bzw. Überzeugungen, von denen ausgehend Quong definiert, wer als »vernünftig« gelten soll und wer nicht, wirklich zentral für eine liberale Position sind. Mit anderen Worten: Definiert Quong hier die Menge liberaler bzw. »vernünftiger« Bürger nicht zu eng? Kann man nicht »liberal« sein, ohne ein commitment zum Faktum eines vernünftigen Pluralismus, einer Gesellschaft als fairem System sozialer Kooperation und einer Gleichbehandlung von Menschen als freie und gleiche Personen? 32
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Entscheidet man sich für eine argumentative Strategie, die an einer Kritik an Quongs Prämissen ansetzt, so steht diese Möglichkeit theoretisch offen. Praktisch erscheinen mir ihre Erfolgsaussichten aber noch geringer, als bei der erstgenannten Option. Es sprechen tiefsitzende Intuitionen dafür, dass jemand, der die obengenannten Überzeugungen bzw. commitments nicht teilt, schwerlich noch beanspruchen kann, in der Politischen Philosophie als »Liberaler« zu gelten. Bis hierher habe ich lediglich zwei Möglichkeiten erwähnt, die zur Verfügung stehen, wenn man sich für eine Kritik an den Prämissen von Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwufs entscheidet. Des Weiteren habe ich eine negative Einschätzung der Erfolgsaussichten einer derartigen Vorgehensweise konstatiert, bin aber in keine wirkliche Diskussion eingetreten. An dieser Stelle wird nun deutlich, dass dies auch nicht weiter notwendig ist. Warum? Ich beabsichtige in dieser Arbeit die These zu verteidigen, dass ein umfassend begründeter Perfektionistischer Liberalismus eine attraktive Alternative zu einem Politischen Liberalismus innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie darstellt. Ich will demnach andere Liberale davon überzeugen, dass ein Perfektionistischer Liberalismus die Variante einer liberalen Politischen Philosophie darstellt, die am besten bestimmen und begründen kann, welche Argumente geeignet sind, um den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt zu rechtfertigen und damit zu legitimieren. Dies entspricht genau der Perspektive, die Quong mit seiner internen Konzeption eines Politischen Liberalismus einnimmt. Ein Rückgriff auf kommunitaristische Argumente, deren Gültigkeit eine externe Konzeption eines Politischen Liberalismus voraussetzt, ist mir im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit verwehrt, weil es dazu erforderlich wäre, eine epistemische Perspektive einzunehmen, die eine Position innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie von außen her kritisiert. Ähnlich sieht es mit der anderen Möglichkeit einer Kritik an den Prämissen von Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs aus. Unabhängig davon, für wie erfolgsversprechend man eine Kritik hält, die darauf abzielt zu demonstrieren, dass man ein commitment zum Faktum eines vernünftigen Pluralismus, zu der Vorstellung einer Gesellschaft als fairem System sozialer Kooperation und dem Ideal, Menschen als freie und gleiche Personen zu behandeln, ablehnen und sich dennoch als »Liberaler« verstehen kann, steht sie mir im Rahmen dieser Arbeit nicht zur Verfügung. Eine solche argumentative Strategie kann von mir deshalb nicht übernommen werden, weil Perfektionistischer Liberalismus
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meine zentrale These lautet, dass ein Perfektionistischer Liberalismus deshalb so attraktiv ist, weil er die revisionären Implikationen eines Politischen Liberalismus vermeiden kann, ohne zentrale liberale Grundannahmen aufgeben zu müssen. Ich behaupte also, dass die Attraktivität eines Perfektionistischen Liberalismus aus der möglichen Kombination und Kompatibilität der folgenden zwei Thesen resultiert: (1) Es gibt Fälle, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht. (2) Bei den Überzeugungen, dass sich liberale Gesellschaften durch einen unhintergehbaren vernünftigen Pluralismus auszeichnen, Menschen als freie und gleiche Personen zu behandeln sind und eine Gesellschaft unter diesen Bedingungen nur dann stabil sein kann, wenn sie ein faires System sozialer Kooperation darstellt, handelt es sich um zentrale und unaufgebbare liberale commitments. Prägnant formuliert: In dieser Arbeit vertrete ich die These, dass die Wahrheit von (1) nicht notwendigerweise die Negierung von (2) impliziert bzw. die Wahrheit von (2) nicht zur Negierung von (1) verpflichtet. Da ich also die These (2) akzeptiere, kann ich Quong nicht damit kritisieren, dass ich die Notwendigkeit oder Zentralität der dort formulierten liberalen commitments in Frage stelle.
3.2.2 Angriff auf den ersten Schritt Akzeptiert man die Prämissen von Quongs Argumentation, so verbleiben zwei Möglichkeiten, um seine Entkräftung des Asymmetrievorwurfs zu widerlegen. Man kann den ersten oder den zweiten argumentativen Schritt von Quongs Gedankengang attackieren. Meine These wird nun sein, dass die Arbeiten von Wall und Sher jeweils ein Modell eines Perfektionistischen Liberalismus repräsentieren, welches für eine dieser Möglichkeiten optiert. 33 Es sei hier eine methodische Anmerkung erlaubt. Natürlich behaupte ich nicht, dass die Arbeiten von Wall und Sher eine direkte Antwort auf Quongs Konzeption einer internen Konzeption eines Politischen Liberalismus und seiner Entkräftung des
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Als ersten Schritt in Quongs Argumentation identifizierte ich, dass dieser zwei Typen von vernünftiger Uneinigkeit unterscheidet und behauptet, dass nur einer dieser beiden Typen problematisch ist (siehe 3.1.2.2). Befragt man das Werk Walls daraufhin, ob und welche Ressourcen es bereithält, um Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs zu widerlegen, so entdeckt man, dass er einen Perfektionistischen Liberalismus vertritt, der sich gegen ein derartiges Argument erwehrt, indem er bestreitet, dass eine vernünftige Uneinigkeit im Sinne einer Relevanzuneinigkeit problematische Implikationen hat. Relevanzuneinigkeiten sind nicht problematisch, weil Wall die von Quong behauptete Notwendigkeit einer öffentlichen Rechtfertigung politischer Zwangsgewalt ablehnt. Ob und inwieweit eine solche Strategie erfolgversprechend ist, werde ich im folgenden vierten Kapitel meiner Arbeit untersuchen.
3.2.3 Angriff auf den zweiten Schritt Die verbleibende Möglichkeit, Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs zu widerlegen, besteht darin, den zweiten Schritt seines Gedankengangs zu kritisieren. Damit seine Argumentation gültig ist, Asymmetrievorwurfs sind. Dies wäre anachronistisch, weil Quongs Arbeiten jüngeren Datums sind. Methodisch versuche ich hier nicht eine chronologische Rekonstruktion eines Forschungsdiskurses, sondern eine argumentative Rekonstruktion. Meine These ist, dass erst die von Quong formulierte Kritik am Asymmetrievorwurf die Beweislast im Diskurs zwischen Anti-Perfektionistischen und Perfektionistischen Liberalen wieder zu Ungunsten der Letztgenannten verschiebt und fragen lässt, was einige der jüngeren und bisher stärksten Entwürfe eines Perfektionistischen Liberalismus darauf entgegnen könnten. Erst die jüngere Entwicklung der Debatte lässt erkennen, dass innerhalb eines Perfektionistischen Liberalismus zwischen verschiedenen Modellen differenziert werden muss. Diesen Modellen ist gemeinsam, dass sie in gewisser Weise ein Argument, wie es Quong formuliert hat, antizipiert haben, aber jeweils unterschiedliche Strategien einer Entgegnung auf es gewählt haben. Mein Anspruch ist also den argumentativen Diskurs voranzubringen, indem ich danach frage, ob und welche Ressourcen die Ansätze von Wall und Sher bereithalten, um Quongs Rechtfertigung einer asymmetrischen Behandlung von Gerechtigkeitsfragen und Fragen des guten Lebens zu diskreditieren. Dadurch werden auch die Untersuchungen Quongs ergänzt, denn seine Kritik an einem Perfektionistischen Liberalismus beschäftigt sich fast ausschließlich mit dem Ansatz von Joseph Raz, gegen den ich aber schon vorgebracht habe, dass er nicht die Version eines Perfektionistischen Liberalismus darstellt, die die besten Aussichten darauf hat, gegen eine anti-perfektionistische Kritik verteidigt werden zu können (siehe 2.1.2.3). Perfektionistischer Liberalismus
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muss Quong plausibel machen, warum Konflikte über Gerechtigkeitsfragen notwendigerweise einen unproblematischen Typ vernünftiger Uneinigkeit im Sinne einer Gewichtungsuneinigkeit instanziieren, während es sich bei Konflikten über Fragen des guten Lebens fast immer um einen problematischen Typ vernünftiger Uneinigkeit im Sinne einer Relevanzuneinigkeit handelt. Liest man das Werk Shers unter dem Gesichtspunkt, ob sich in ihm Ressourcen für eine Entgegnung auf Quong finden, so stellt man fest, dass er eine argumentative Strategie wählt, die bestreitet, dass eine vernünftige Uneinigkeit über Fragen des guten Lebens zwangsläufig auf einer Relevanzuneinigkeit beruht, also eine vernünftige Uneinigkeit darstellt, die laut Quong problematisch ist. Die Erfolgsaussichten einer derartigen Kritik an Quong werde ich im fünften Kapitel meiner Arbeit ausführlich erörtern. Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle nun noch eine letzte Kritikmöglichkeit vorgestellt werden. Ich werde sie kurz skizzieren, aber nicht in eine weiterführende Diskussion einsteigen, da der Erfolg meiner Widerlegung von Quongs Kritik am Asymmetrievorwurf unabhängig davon ist, ob man dem folgenden Kritikpunkt zustimmt oder nicht. Man kann die Gültigkeit von Quongs Gedankengang auch erschüttern, indem man die in seinem zweiten Schritt formulierte These angreift, dass es sich bei Konflikten über Gerechtigkeitsfragen notwendigerweise um Konflikte im Sinne einer Gewichtungsuneinigkeit handelt. Quong behauptet, dass die Akzeptanz der Bürden der Urteilskraft, sowie die commitments zur Vorstellung einer Gesellschaft als fairem System sozialer Kooperation und Menschen als freien und gleichen Personen notwendigerweise zu einem geteilten normativen Rahmen bzw. einem objektiven Rechtfertigungsstandard führen, von dem her beurteilt werden kann, von welchen Überlegungen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie die Konfliktparteien als Gründe akzeptieren. Er gesteht ausdrücklich zu, dass diese Überzeugungen zu keiner Einigkeit bzw. zu keinem Konsens hinsichtlich einer bestimmten Gerechtigkeitskonzeption führen, sondern mit einer Pluralität an zum Teil miteinander inkompatiblen Gerechtigkeitskonzeptionen bzw. Gerechtigkeitsprinzipien kompatibel sind. 34 Wenn dies der Fall ist, dann lässt sich folgender Einwand formu-
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Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 214.
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lieren 35: Für sich genommen verhindert die Akzeptanz der aufgeführten liberalen Grundüberzeugungen noch keine vernünftige Uneinigkeit im Sinne einer Relevanzuneinigkeit, da sie keinen normativen Rahmen bzw. keinen objektiven Rechtfertigungsstandard liefert, von dem aus bestimmt werden kann, von welchen Überlegungen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie die Konfliktparteien als Gründe akzeptieren, die für oder gegen die Übernahme einer inhaltlich konkretisierbaren Gerechtigkeitskonzeption sprechen. Wenn eine vernünftige Uneinigkeit von miteinander inkompatiblen Gerechtigkeitskonzeption bzw. -prinzipien auf dieser Ebene möglich ist, dann ist Quong aber zu einer folgenschweren Behauptung gezwungen. Er muss behaupten, dass es den Konfliktparteien möglich ist zu beurteilen, von welchen Überlegungen sie vernünftigerweise erwarten können, dass sie von ihren Gesprächspartnern als Gründe akzeptiert werden, ohne selbst eine inhaltlich konkretisierbare Gerechtigkeitskonzeption vorauszusetzen. Diese Annahme erscheint mir aber äußerst kontraintuitiv und unplausibel. Nehmen wir den Konflikt zwischen zwei Parteien über die Frage, ob der Staat eine Art von Vermögenssteuer einführen soll, deren zusätzliche Einnahmen ihm erlauben, seine Sozialausgaben zu erhöhen und z. B. sozial schwache Familien oder pflegebedürftige Menschen mit zusätzlichen Leistungen zu unterstützen. Partei A befürwortet eine solche Steuer mit dem Argument, dass eine solche Umverteilung von Vermögen ein Gebot der Fairness und der Gleichbehandlung ist. Menschen werden nur dann als freie und gleiche Personen behandelt, wenn der Staat unverschuldete Ungleichheiten in der Verteilung von Vermögen berücksichtigt und eine Umverteilung vornimmt, die auf die Herstellung einer größeren Chancengleichheit abzielt. Ist dies eine Überlegung, von der vernünftigerweise erwartet werden kann, dass Partei B sie als relevant beurteilt und als Grund akzeptiert? Meiner Meinung nach muss eine positive Beantwortung dieser Frage eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption voraussetzen, also davon ausgehen, dass mit Partei B ein Konsens darüber besteht, was gerecht ist. Partei A setzt eine Gerechtigkeitskonzeption voraus, nach der Ungleichheit bzw. Gleichheit daran beurteilt wird, in welIch knüpfe im Folgenden lose an einige Ideen an, die MacIntyre im 17. Kapitel von After Virtue entwickelt, vgl. Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend: Zur moralischen Krise der Gegenwart (Frankfurt/M.: Campus Verlag, 2006; 1981), 325–339.
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chem Umfang Menschen in der Lage sind, grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen oder Fähigkeiten auszuüben. Gerecht ist demnach, wenn Menschen in etwa die gleichen Chancen besitzen, ihre Vorstellung von einem guten Leben zu realisieren, wozu es erforderlich ist, dass sie bestimmte grundlegende Bedürfnisse befriedigen oder Fähigkeiten ausüben können. Ein Mitglied von Partei B kann dem entgegenhalten, dass von ihm nur vernünftigerweise erwartet werden kann, diese Überlegung als Grund zu akzeptieren, wenn man von ihm verlangt, auch die entsprechende Gerechtigkeitskonzeption zu übernehmen. Er kann aber geltend machen, dass er eine andere Gerechtigkeitskonzeption vertritt, die mit der Vorgebrachten inkompatibel, aber dennoch vernünftig ist. Seine Argumentation könnte in etwa so laufen: Eine Steuer, die auf eine Umverteilung von Vermögen abzielt, ist abzulehnen, weil sie gegen das Prinzip der Fairness verstößt und Menschen nicht als freie und gleiche Personen behandelt. Ein derartiger Eingriff des Staates ist ungerecht, weil er einigen Menschen Eigentum wegnimmt, das sie sich verdient haben bzw. das sie rechtmäßig besitzen, während er anderen Menschen dieses Eigentum zuteilt, die es sich nicht verdient haben und auch keinen Rechtsanspruch auf es geltend machen können. Eine Gesellschaft ist nur dann ein faires System sozialer Kooperation, wenn Eigentumsrechte vom Staat respektiert werden und jeder die Früchte dessen genießen kann, was er sich erarbeitet hat und von dem er geltend machen kann, dass er es rechtmäßig besitzt. Auch hier wird natürlich eine Gerechtigkeitskonzeption vorausgesetzt: Laut Partei B ist es gerecht, wenn jeder proportional zu seinen Verdiensten bzw. Rechtsansprüchen auf Eigentum behandelt wird. Es ist nicht fair, diejenigen mehr zu belasten, die mehr gearbeitet haben bzw. einen gültigen Rechtsanspruch auf ihr Eigentum nachweisen können. Die Überlegung von A, dass sozial schwache Familien oder Pflegebedürftige unverschuldet schlechtere Chancen haben, ihre Konzeption eines guten Lebens zu realisieren, ist für B nicht relevant bzw. A kann von B nicht vernünftigerweise erwarten, dass er dies als Grund für eine Vermögenssteuer akzeptiert. Notleidenden und Pflegebedürftigen zu geben, so B, ist laut seiner Gerechtigkeitskonzeption keine Frage der Fairness oder Gleichheit, sondern der Barmherzigkeit und Großzügigkeit, die aber nicht gesetzlich verordnet werden kann und darf. Was »Fairness« und »Gleichheit« bedeuten, ist also notorisch unterdeterminiert. Bezieht man sich aber auf eine inhaltlich konkretisierte Gerechtigkeitskonzeption, um dieses Problem zu lö182
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sen, so führt dies zwangsläufig zu Konflikten im Sinne einer Relevanzuneinigkeit. Entgegen der Behauptung von Quong liefert ein commitment zu den Idealen einer Gesellschaft als fairem System sozialer Kooperation und einer Behandlung von Menschen als freie und gleiche Personen unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus demnach keinen geteilten normativen Rahmen bzw. keinen objektiven Rechtfertigungsstandard, von dem her beurteilt werden kann, von welchen Überlegungen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie die Konfliktpartner als relevant bzw. als Gründe akzeptieren. Vernünftige Uneinigkeiten über Gerechtigkeitsfragen sind nur dann notwendigerweise unproblematische Gewichtungsuneinigkeiten, wenn die Akzeptanz der von Quong erwähnten liberalen Grundüberzeugungen zu einem Konsens bezüglich einer inhaltlich konkretisierten Gerechtigkeitskonzeption führt. Da Quong zugesteht, dass dies nicht der Fall ist, steht er vor dem oben skizzierten Problem, dass verschiedene vernünftige Gerechtigkeitskonzeptionen zu unterschiedlichen Interpretationen liberaler Grundannahmen wie »Fairness« oder »Gleichheit« kommen und daher auch zu miteinander inkompatiblen Urteilen, von welchen Überlegungen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie der Konfliktpartner als relevant bzw. Grund akzeptiert. 36
Wie eingangs schon erwähnt, ist es in diesem Unterabschnitt nicht meine Absicht, in eine vertiefte Diskussion über diese mögliche Kritik an Quongs Widerlegung des Asymmetrievorwurfs einzusteigen. Dazu wäre es insbesondere nötig, sich mit Quongs möglichen Erwiderungen auf diesen Kritikpunkt auseinanderzusetzen, vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 161–191. Dennoch habe ich aufgewiesen, dass die Möglichkeit, Quong an diesem Punkt seiner Argumentation zu kritisieren, nicht gänzlich aussichtslos ist.
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4. Die defensive Schwäche des sektiererischen Modells
Im vorausgehenden Kapitel habe ich die These verteidigt, dass mit dem Erscheinen von Quongs Liberalism without Perfection in der Neutralitätsdebatte eine neue dialektische Situation eingetreten ist. Die Beweislast hat sich zu Ungunsten Perfektionistischer Liberaler verschoben, weil Quong eine überzeugende Entkräftung des Asymmetrievorwurfs präsentiert hat. Auf dieser Grundlage werde ich in den folgenden zwei Kapiteln für eine zweite These argumentieren. Ich behaupte, dass sich ausgehend von der durch Quong aufgeworfenen Problemsituation zwei Modelle eines Perfektionistischen Liberalismus identifizieren lassen, die sich jeweils dadurch unterscheiden, dass sie eine andere Lösungsstrategie verfolgen In diesem Kapitel argumentiere ich zunächst dafür, dass sich im Werk von Wall ein Lösungsvorschlag identifizieren lässt, der sich systematisch als eine Kritik am ersten Schritt von Quongs Gedankengang verstehen lässt (siehe 4.1). In einem zweiten Schritt kritisiere ich diesen Lösungsvorschlag als unbefriedigend, weil Wall das durch die Entkräftung des Asymmetrievorwurfs aufgeworfene Problem der öffentlichen Rechtfertigung nur mittels einer Uminterpretation des Rechtfertigungsbegriffs erreichen kann (siehe 4.2). Diese Uminterpretation ist nicht akzeptabel, weil eine darauf aufbauende Konzeption öffentlicher Rechtfertigung eine Negierung zentraler liberaler Überzeugungen impliziert und zu einem »sektiererischen« Modell eines Perfektionistischen Liberalismus führt, welches wenig Aussichten darauf hat, sich als eine attraktive Alternative zu einem Politischen Liberalismus zu etablieren. 1 Der Ausdruck »sektiererisch« ist der Debatte selbst entnommen, Gerald F. Gaus, »Sectarianism without Perfection? Quong’s Political Liberalism«, Philosophy and Public Issues 2, no. 1 (2012): 8; Jonathan Quong, »Liberalism without Perfection: A Précis«, ibid.: 1. Er steht für die Sorge, dass eine Teilmenge TP der Öffentlichkeit P eine politische Zwangsmaßnahme ZM durchsetzt, die alle Mitglieder von P betrifft, diese Maßnahme aber nur mit Rekurs auf Überzeugungen rechtfertigt, die lediglich
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Das sektiererische Modell
4.1 Das sektiererische Modell 4.1.1 Identifikation des Problems Um nicht der Gefahr zu erliegen, im Werk von Wall eine Lösung für ein Problem zu suchen, das dieser gar nicht hat, bin ich zunächst verpflichtet nachzuweisen, dass Wall mit seinem Modell eines Perfektionistischen Liberalismus beansprucht, eine Antwort auf ein Problem zu geben, welches in etwa identisch ist mit der Problemlage, die sich aus der durch Quong präsentierten Entkräftung des Asymmetrievorwurfs ergibt. 2 Ich beginne deshalb mit einer überblicksartigen Zusammenfassung von Walls Argumentation für einen Perfektionistischen Liberalismus, um verorten zu können, an welcher Stelle er einem Problem begegnet, dass sich mit dem durch Quong Herausgearbeiteten vergleichen lässt. Ausgangspunkt von Walls Gedankengang ist ein sogenannter »Modellbürger«. Dieser zeichnet sich durch folgende Charakteristika aus 3: Er hat eine Vorstellung davon, welche Güter bzw. Werte für ein gutes Leben notwendig sind und hat gute Gründe zu glauben, dass diese Überzeugungen gerechtfertigt sind. Darüber hinaus hat er ein starkes Interesse daran, politische Maßnahmen durchzusetzen, die die notwendigen Bedingungen für die Realisierung eines solchen Lebens schaffen bzw. die ihn und andere Menschen darin unterstützen, ein solches Leben zu wählen und zu führen. Der von Wall skizzierte Modellbürger schreckt auch nicht davor zurück, seine Vorstellung von einem guten Leben gegen den Widerstand anderer Bürger durchzusetzen, allerdings ist er Konsequentialist und in seinen Deliberationen ist von Gewicht, welche möglichen Kosten bzw. Schäden zu berücksichtigen sind, wenn er die Zwangsgewalt des Staates benutzt, um sein Ideal eines guten Lebens ohne einen Konsens der Allgemeinheit der Bürger aufzuerlegen. Dies ist für Wall die Ausgangsposition des Konflikts zwischen die Mitglieder von TP für wahr halten und es keine weiteren Überlegungen gibt, die dafür sprechen, dass die restlichen Mitglieder von P ebenfalls Grund haben, in ZM einzuwilligen. 2 Ich beziehe mich hier zunächst auf Walls systematische Darstellung seines Modells eines Perfektionistischen Liberalismus und greife später auf weitere Artikel zurück, in denen er den dort präsentierten Ansatz verteidigt bzw. weiterentwickelt, vgl. Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint. 3 Vgl. ibid., 30–31. Perfektionistischer Liberalismus
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Anti-Perfektionistischen und Perfektionistischen Liberalen. Das Konstrukt des Modellbürgers greift die Intuition auf, dass es zunächst einmal »normal« erscheint, dass man keine Trennung zwischen einer »privaten« und »politischen« Moral vollzieht, sondern in eine normative Beurteilung politischer Maßnahmen Gründe mit einfließen, die von Überzeugungen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, ungeachtet der Tatsache, dass diese Überzeugungen kontrovers sein können. Es erscheint mir nicht unplausibel, einen Durchschnittsbürger einer westlichen Demokratie so zu charakterisieren. 4 Strategisch gesehen ist es aber in jedem Fall geschickt, so zu beginnen, weil die Beweislast sofort zu Ungunsten des anti-perfektionistischen Lagers verschoben wird. Wenn ich – als Modellbürger – glaube, dass meine Vorstellung darüber, was ein gutes Leben ist und ausmacht, mit gültigen Argumenten gerechtfertigt werden kann, und ich ein starkes Interesse habe, meine politische Umwelt so zu gestalten, dass sie es mir ermöglicht, ein solches Leben zu wählen und zu führen, dann sind mir gegenüber Personen in einer argumentativen Bringschuld, die behaupten, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt niemals Legitimität beanspruchen kann, wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden kann. Als Modellbürger muss man mir gute Gründe nennen, warum ich ein Neutralitätsprinzip – verstanden als anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip zweiter Ordnung – akzeptieren soll, das mir nicht erlaubt derartige Argumente bzw. Gründe zu verwenden, um den von mir favorisierten Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt zu rechtfertigen. Walls Ziel muss es demnach sein, alle Argumente zu widerlegen, die behaupten, dass ein Modellbürger ein solches Beschränkungsprinzip akzeptieren muss. Hierzu unterscheidet er drei Varianten eines Neutralitätsprinzips, die dem entsprechen, was ich als Ergebnisneutralität, Neutralität der Absichten politischer Akteure und Rechtfertigungsneutralität bezeichnet habe (siehe 2.1.1.1), und fragt daDiesem Punkt wird Rechnung getragen, wenn Autoren wie Chan oder Raz auf die »Natürlichkeit« eines perfektionistischen Verständnisses des legitimen Umgangsbereichs staatlichen Handelns verweisen, vgl. Chan, »Legitimacy, Unanimity, and Perfectionism«, 5–6; Joseph Raz, »Facing Up: A Reply«, Southern California Law Review 62(1989): 1230–1232. Eine überzeugende Argumentation für die prima-facie-Plausibilität perfektionistischen Staatshandelns bzw. einer Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt mit Rekurs auf perfektionistische Gründe bietet Couto, Liberal Perfectionism, 98–127.
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nach, welche Argumente Anti-Perfektionistische Liberale jeweils vorbringen können, um die Notwendigkeit der Akzeptanz eines entsprechenden Beschränkungsprinzip zu begründen. 5 Dies entspricht – mit Abstrichen – der von mir skizzierten argumentativen Strategie Perfektionistischer Liberaler, das anti-perfektionistische Lager in verschiedene Fraktionen zu spalten und sich mit den verschiedenen Beschränkungsprinzipien und für es vorgebrachten Argumenten jeweils einzeln auseinanderzusetzen (siehe 2.1.1.3). Ein Problem für Wall, das mit dem vergleichbar ist, was aus Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs folgt, taucht im Zusammenhang mit der Widerlegung von anti-perfektionistischen Argumenten für das dritte Beschränkungsprinzip auf, welches eine Rechtfertigungsneutralität fordert. Ein derartiges Beschränkungsprinzip entspricht genau meiner Definition des Neutralitätsprinzips als Prinzip zweiter Ordnung, das die Menge der Argumente bzw. Gründe erster Ordnung, die eine Rolle im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt spielen dürfen, auf Argumente bzw. Gründe beschränkt, die unabhängig sind von kontroversen Annahmen darüber, was ein gutes Leben ist und ausmacht (siehe 2.1.1.1). 6 Das stärkste anti-perfektionistische Argument für ein in diesem Sinne verstandenes Neutralitätsprinzip stammt laut Wall von Rawls. Wall nennt dieses Argument das »Transparenzargument«, weil es darauf abzielt zu zeigen, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn er mit Argumenten gerechtfertigt wird, die gegenüber der Öffentlichkeit »transparent« sind, also eine »Öffentlichkeitsbedingung« erfüllen. Dieser ist Genüge getan, wenn Bürger sich zur Rechtfertigung politischer Maßnahmen auf »politische« bzw. »öffentliche« Werte berufen, d. h. auf Überlegungen, von denen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass Mitbürger sie als Gründe akzeptieren können. 7 Dieses Argument ist äquivalent zu dem Argument, mit dem Quong eine asymmetrische Behandlung von kontroversen Gerechtigkeitsfragen und kontroversen Fragen des guten Lebens gerechtfertigt hatte (siehe 3.1.2). Gemäß Quongs Test für Argumente, ist der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim, wenn er mit Argumen5 6 7
Vgl. Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 32; 122–123. Vgl. ibid., 105. Vgl. ibid., 106.
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ten gerechtfertigt wird, die auf kontroverse Gerechtigkeitskonzeptionen rekurrieren, weil derartige Argumente dem Kriterium öffentlicher Rechtfertigung genügen. Argumente hingegen, die von der Akzeptanz nicht-politischer bzw. nicht-öffentlicher Werte abhängen, fallen durch den Test, weil der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt durch sie nicht öffentlich gerechtfertigt wird. Das Rawlssche Transparenzargument stellt Wall vor ein schwerwiegendes Problem, denn es scheint Modellbürger bzw. Perfektionistische Liberale in folgendes Dilemma zu führen: Entweder lehnt man als Perfektionistischer Liberaler die Öffentlichkeitsbedingung für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ab, oder aber man akzeptiert sie. Das erste Horn des Dilemmas anzugreifen erscheint – zumindest prima facie – aussichtslos. Wenn Perfektionistische Liberale zustimmen, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn die dafür vorgebrachten Argumente einer Öffentlichkeitsbedingung genügen, dann stellt genau dies einen Grund dar, der auch aus der Perspektive eines Modellbürgers bzw. eines Perfektionistischen Liberalen für die Akzeptanz eines anti-perfektionistischen Beschränkungsprinzips spricht. Auf den ersten Blick kommt die Akzeptanz einer Öffentlichkeitsbedingung also der Aufgabe der unterscheidenden Grundthese Perfektionistischer Liberaler gleich. Das zweite Horn des Dilemmas anzugreifen wirkt aber auch nicht besonders erfolgsversprechend. Wenn Perfektionistische Liberale die Öffentlichkeitsbedingung ablehnen, so scheinen sie für ein Dammbruchargument anfällig: Wie wollen sie ohne eine Öffentlichkeitsbedingung ausschließen, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt auch dann Legitimität beanspruchen kann, wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt wird, welche auf obskure, esoterische oder fundamentalistische Überzeugungen rekurrieren?
4.1.2 Lösungsvorschlag Walls Lösungsvorschlag für dieses Dilemma wird nun darin bestehen, einen Angriff auf das erste Horn des Dilemmas zu unternehmen, indem er eine alternative Interpretation der Öffentlichkeitsbedingung vorschlägt, eine Interpretation, die ihn nicht zur Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips nötigt. Da Wall diesen Vorschlag bisher in drei Varianten präsentiert hat, werde ich in den nächsten drei Unter188
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abschnitten die Entwicklung seines Gedankengangs rekonstruieren, da sich darauf aufbauend im Anschluss gut eine generelle Kritik an seinem Lösungsvorschlag formulieren lässt. 4.1.2.1 Erste Variante: Schwache moralische Rechtfertigungspflicht Wie oben schon erwähnt, setzt Walls Kritik am Rawlsschen Transparenzargument bei dessen Öffentlichkeitsbedingung an, also dem ersten Horn des Dilemmas. Wall argumentiert, dass – entgegen dem ersten Eindruck – gar nicht klar ist, was die Forderung bedeutet, dass die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt die Öffentlichkeitsbedingung erfüllen muss. 8 Die Argumentation Walls zur Widerlegung des Transparenzarguments ist recht komplex, lässt sich meiner Meinung nach aber in drei Schritten rekonstruieren: Erstens gesteht Wall zu, dass die Argumente, die der Modellbürger zur Rechtfertigung politischer Maßnahmen vorbringt, einer Öffentlichkeitsbedingung genügen müssen. Der zweite Schritt Walls besteht darin zu behaupten, dass es aber mindestens drei Interpretationen der Öffentlichkeitsbedingung gibt, von denen zwei das Transparenzargument unproblematisch für Perfektionistische Liberale machen, da diese den darin implizierten Anforderungen für eine öffentliche Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt ohne Probleme zustimmen können. Mit anderen Worten: Zwei von drei Interpretationen der Öffentlichkeitsbedingung können Perfektionistische Liberale akzeptieren, ohne damit zugleich ein Neutralitätsprinzip befürworten zu müssen. Der dritte und letzte Schritt Walls besteht dann in der Behauptung, dass Rawls’ Argumentation zirkulär ist, weil dieser – ohne die Gültigkeit des Transparenzarguments bereits vorauszusetzen – dem Modellbürger keinen Grund dafür nennen kann, warum er die Interpretation der Öffentlichkeitsbedingung übernehmen sollte, die ihn zu einem Neutralitätsprinzip verpflichtet. Nach diesem Überblick möchte ich die einzelnen Schritte in Walls Argumentation nun etwas detaillierter betrachten. Walls erster Schritt besteht darin, die Rawlssche Prämisse zu akzeptieren, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn er mit Argumenten gerechtfertigt wird, die eine »Öffentlichkeitsbedingung« erfüllen. 9 Der Modellbürger hat Grund, 8 9
Vgl. ibid., 106–107. Vgl. ibid., 107–108.
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eine Öffentlichkeitsbedingung zu akzeptieren, weil sich in ihr die moralische Überzeugung manifestiert, dass in einer Gesellschaft als fairem System sozialer Kooperation, in der Menschen als freie und gleiche Personen respektiert werden, jedem Bürger eine ehrliche, öffentlich zugängliche und überprüfbare Rechtfertigung des Gebrauchs politischer Macht geschuldet ist. 10 Die Verpflichtung zur Akzeptanz einer Öffentlichkeitsbedingung folgt also aus den liberalen commitments des Modellbürgers. Wall argumentiert nun, dass er damit Rawls noch kein entscheidendes Zugeständnis gemacht hat und dem Modellbürger noch kein Grund genannt ist, warum er auch ein anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip akzeptieren sollte. Denn aus den liberalen commitments des Modellbürgers folgt zwar eine moralische Pflicht, einer grundlegenden Rechtfertigungsanforderung (basic justification requirement) für die Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt nachzukommen, aber dieser Rechtfertigungsanforderung kann entsprochen werden, ohne damit zugleich ein Neutralitätsprinzip zu akzeptieren. Um dies aufzuzeigen, unterscheidet Wall in einem zweiten Schritt drei mögliche Interpretationen der Öffentlichkeitsbedingung. Einer ersten Interpretation zufolge ist die Öffentlichkeitsbedingung erfüllt, wenn die Argumente, die für die Rechtfertigung einer politischen Maßnahme vorgebracht werden, auf Fakten, Überlegungen oder Evidenz zurückgreifen, die öffentlich zugänglich sind und damit einer kritischen Überprüfung unterzogen werden können. Die zweite Interpretation ist schon etwas stärker und behauptet, dass die Argumente, die politische Maßnahmen rechtfertigen, nicht nur öffentlich zugänglich, sondern darüber hinaus auch öffentlich verständlich sein müssen. 11 Diese Verschärfung trägt unserer Intuition Rechnung, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt schwerlich als »öffentlich gerechtfertigt« gelten kann, wenn die Fakten oder die Evidenz, auf denen die jeweiligen Argumente fußen, zwar prinzipiell öffentlich zugänglich sind, aber ihre kritische Überprüfung so komplex ist, dass nur wenige Menschen die Gültigkeit derartiger Argumente nachvollziehen können. 12 Vgl. ibid., 108. Vgl. ibid., 110. 12 Wall bemerkt zu Recht, dass das Kriterium der öffentlichen Verständlichkeit wiederum ambivalent ist, je nachdem, ob man eine aktuale oder ideale Bürgerschaft vor 10 11
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Entscheidend für Wall ist nun, dass diese beiden Interpretationen der Öffentlichkeitsbedingung immer noch zu schwach für Rawls bzw. anti-perfektionistische Liberale sind. Ein Modellbürger kann akzeptieren, dass er moralisch verpflichtet ist, den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten zu rechtfertigen, die öffentlich zugänglich und – zumindest für eine ausreichende Menge von Bürgern – öffentlich verständlich sind. Dies impliziert nicht die Akzeptanz eines anti-perfektionistischen Beschränkungsprinzip, da die ersten beiden Interpretationen der Öffentlichkeitsbedingung sich nur auf formale, aber nicht auf inhaltliche Aspekte der Argumente beziehen, die für die Rechtfertigung politischer Maßnahmen vorgebracht werden. 13 Die bisher vorgestellten Interpretationen der Öffentlichkeitsbedingung schließen nicht aus, dass ein Perfektionistischer Liberaler bzw. der Wallsche Modellbürger den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten rechtfertigen darf, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, weil er geltend machen kann, dass er sich auf kontroverse Annahmen
Augen hat. Es spricht einiges dafür, eine öffentliche Verständlichkeit für eine ideale Bürgerschaft zu fordern, sonst könnte das Kriterium ad absurdum geführt werden, da dann der Maßstab für Verständlichkeit der dümmste und ungebildetste Bürger wäre und eine große Menge politischer Maßnahmen nicht mehr legitim wären, weil die einzigen Argumente, die sie rechtfertigen können, nur von Menschen mit einer gewissen Bildung und gewissen kognitiven Fähigkeiten nachvollzogen werden können. Die Menge der Bürger in diesem idealen Sinne darf aber auch nicht zu eng gefasst werden, da sonst die moralische Überzeugung, die hinter der Öffentlichkeitsbedingung steht, verraten würde, die liberalen Bürgern die Pflicht auferlegt, sich darum zu bemühen, jedem (aktualen) Bürger gegenüber der Gebrauch politischer Macht zu rechtfertigen. Sich dieser Pflicht mit dem Hinweis zu entledigen, dass die Öffentlichkeitsbedingung erfüllt ist, auch wenn nur ein winziger Teil der Bevölkerung die Argumente verstehen und nachvollziehen kann, die für die Rechtfertigung einer politischen Maßnahme vorgebracht werden, käme einem undemokratischen Zynismus gleich, der den Respekt vor einer Gleichbehandlung von Menschen als freie und gleiche Personen vermissen lässt. Es sollte hier wohl ein gesundes Mittelmaß angestrebt werden, dass die Erfüllung der Öffentlichkeitsbedingung weder von der Verständlichkeit der Argumente für die Gesamtheit der aktualen Bürgerschaft abhängig macht, noch die ideale Bürgerschaft zu eng fasst, vgl. ibid., 110–112. Unter anderem Christopher Eberle argumentiert allerdings, dass eine solche Lösung nicht funktioniert, da hier eine »populistische« und eine »epistemische« Konzeptionen öffentlicher Rechtfertigung verknüpft werden, was nicht möglich ist, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln, vgl. Christopher J. Eberle, Religious Conviction in Liberal Politics (Cambridge: Cambridge University Press, 2002), 195–293. 13 Vgl. Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 112. Perfektionistischer Liberalismus
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beschränken kann, die auf Überlegungen und Evidenz fußen, die öffentlich zugänglich und überprüfbar und ohne allzu großes Fachwissen verständlich sind. Damit das Transparenzargument einem Modellbürger einen Grund gibt, ein anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip zu akzeptieren, muss Rawls laut Wall eine noch stärkere Interpretation der Öffentlichkeitsbedingung vertreten, die nicht nur auf formale, sondern auch auf inhaltliche Aspekte der Argumente eingeht, die für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt vorgebracht werden. Eine solche stärkere Interpretation besagt, dass politische Maßnahmen nur dann Legitimität beanspruchen können, wenn sie mit Argumenten gerechtfertigt werden, deren Annahmen nicht nur öffentlich zugänglich, überprüfbar und verständlich sind, sondern darüber hinaus auch öffentlich akzeptierbar sind. 14 Öffentlich akzeptierbar sind Argumente genau dann, wenn sie mit Prämissen operieren, die von allen vernünftigen Bürgern akzeptiert werden können. 15 Interpretiert man die Öffentlichkeitsbedingung in diesem Sinne, dann liefert das Transparenzargument dem Modellbürger bzw. einem Perfektionistischen Liberalen einen Grund, um das anti-perfektionistische Beschränkungsprinzip zu akzeptieren: Der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt kann niemals Legitimität beanspruchen, wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden kann, weil er dann mit Bezug auf Überzeugungen und Werte gerechtfertigt wird, die nicht von allen vernünftigen Bürgern öffentlich akzeptiert werden können. Der dritte Schritt in Walls Widerlegung des Rawlsschen Transparenzarguments besteht nun darin, Rawls’ Argumentation eine Zirkularität vorzuwerfen, die nur dadurch saniert werden kann, dass dieser dem Modellbürger – ohne die Gültigkeit des Transparenzarguments bereits vorauszusetzen – einen Grund nennt, warum er die verschärfte Interpretation der Öffentlichkeitsbedingung übernehmen sollte. Wall behauptet, dass derartige Versuche scheitern, das Transparenzargument deshalb zirkulär ist und dem Modellbürger keinen Grund liefert, warum er ein anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip für die Rechtfertigung politischer Maßnahmen akzeptieren sollte.
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Vgl. ibid., 111–113. Vgl. ibid., 111.
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Kommen wir zur ersten These Walls. Warum ist das Transparenzargument zirkulär? Es hat den Anspruch, zu zeigen, dass der Modellbürger einen Grund hat, das Neutralitätsprinzip zu akzeptieren. Aus seinen commitments zu einer Gesellschaft als fairem System sozialer Kooperation und der Überzeugung, dass Menschen als freie und gleiche Personen zu behandeln sind, folgt die grundlegende moralische Verpflichtung, den Gebrauch politischer Macht mit Argumenten zu rechtfertigen, die eine »Öffentlichkeitsbedingung« erfüllen. Wann ist diese Öffentlichkeitsbedingung erfüllt? Dann, wenn die vorgebrachten Argumente nicht nur in einer öffentlich zugänglichen und verständlichen Art und Weise vorgebracht werden, sondern wenn sie darüber hinaus auch inhaltlich sich nur auf Überlegungen berufen, die öffentlich akzeptierbar sind, d. h. auf Annahmen, von denen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass alle am Prozess der öffentlichen Rechtfertigung Beteiligten sie als Gründe akzeptieren können. Mit anderen Worten: Die Öffentlichkeitsbedingung ist nur erfüllt, wenn Bürger sich zur Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ausschließlich auf politische bzw. öffentliche Werte berufen, was gleichbedeutend mit der Akzeptanz des Beschränkungsprinzips ist. Damit liefert das Transparenzargument dem Modellbürger aber keine Begründung mehr dafür, warum er nur Argumente für die Rechtfertigung politischer Maßnahmen vorbringen darf, die den Filter eines Neutralitätsprinzips passieren, sondern das Transparenzargument, das diese Begründung leisten sollte, setzt die Geltung eines solchen Beschränkungsprinzips bereits voraus, wenn die Öffentlichkeitsbedingung in dem starken Sinne interpretiert werden soll, der Rawls vorschwebt. 16 Die Analyse Walls scheint mir in diesem Punkt zutreffend. Laut Wall kann Rawls diese Zirkularität seiner Argumentation nun nur vermeiden, wenn er dem Modellbürger einen unabhängigen Grund dafür liefert, warum er eine solch starke Interpretation der Öffentlichkeitsbedingung übernehmen soll. Er muss dem Modellbürger plausibel machen, dass die Erfüllung der Öffentlichkeitsbedingung nicht nur verlangt, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten gerechtfertigt wird, deren Prämissen öffentlich zugänglich, überprüfbar und – wenigstens halbwegs – verstehbar sind, sondern sie zusätzlich auch verlangt, dass die Prämissen derartiger Argumente von allen vernünftigen Personen (d. h. all jenen, die an 16
Vgl. ibid., 113–115.
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der Idee einer Gesellschaft als fairem System sozialer Kooperation und der Idee von Menschen als freie und gleiche Personen festhalten) als relevant bzw. als Gründe akzeptiert werden können. Damit komme ich zur zweiten These des dritten Schritts von Walls Argumentation. Wall behauptet, dass Versuche einer solchen unabhängigen Begründung für die starke Interpretation der Öffentlichkeitsbedingung scheitern. Um dies zu demonstrieren, diskutiert er zwei Möglichkeiten, wie eine starke Interpretation der Öffentlichkeitsbedingung gerechtfertigt und damit das Transparenzargument gegen den Vorwurf der Zirkularität verteidigt werden könnte. Ich werde mich im Folgenden auf Walls Auseinandersetzung mit der von Gerald Gaus vorgeschlagenen Möglichkeit konzentrieren, weil sich aus seinem Versuch Gaus zu widerlegen eine Strategie für einen Perfektionistischen Liberalen ableiten lässt, um die Widerlegung des Asymmetriearguments durch Quong zu entkräften. Aber zunächst zurück zur Ausgangsfrage von Wall: Warum sollte der Modellbürger das Neutralitätsprinzip akzeptieren? Rawls’ Antwort lautete: Weil politische Maßnahmen nur Legitimität beanspruchen können, wenn sie eine starke Öffentlichkeitsbedingung erfüllen, d. h., wenn sie mit Argumenten gerechtfertigt werden, deren Prämissen öffentlich zugänglich, überprüfbar, verständlich und von allen Bürgern, die sich liberalen Grundwerten verpflichtet wissen, als relevante normative Überlegungen akzeptiert werden können. Woraufhin Wall fragt, warum der Modellbürger aber nun eine solch starke Interpretation der Öffentlichkeitsbedingung übernehmen sollte? Er gesteht ja zu, dass seine liberalen commitments ihn verpflichten, Argumente vorzubringen, die eine schwache Öffentlichkeitsbedingung erfüllen. Hat ein Modellbürger seiner moralischen Pflicht nicht genüge getan, wenn er die grundlegende Rechtfertigungsanforderung einer schwachen Öffentlichkeitsbedingung erfüllt? Gaus bestreitet nun genau diese Schlussfolgerung. Öffentliche Rechtfertigungen verlangen nicht nur, dass ein grundlegender Rechtfertigungsanspruch (basic justification requirement) erfüllt wird, sondern ein »moralischer« Rechtfertigungsanspruch. Der Modellbürger hat nicht nur eine »schwache« moralische Pflicht, den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten zu rechtfertigen, deren Prämissen öffentlich zugänglich, überprüfbar und verstehbar sind, sondern die »starke« moralische Pflicht, den Gebrauch politischer Macht mit Argumenten zu rechtfertigen, welche die starke Öffentlichkeitsbedingung erfüllen. Wie begründet Gaus, dass ein Modell194
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bürger diese starke moralische Pflicht hat? 17 Ausgangspunkt für Gaus ist die Unterscheidung zwischen moralischen Aufforderungen und Aufforderungen ohne moralischen Anspruch. Eine Aufforderung (ϕ) von Person X an Person Y etwas zu tun oder zu unterlassen ist solange nicht »moralisch«, solange X Y gegenüber (ϕ) nicht rechtfertigt, also Y Gründe nennt, warum sie (ϕ) nachkommen soll. 18 Ich nenne dies in Anschluss an Wall die These (a). Wann muss Y anerkennen, dass ihm gegenüber (ϕ) durch X gerechtfertigt wurde? Wenn X Y nachweisen kann, dass Y von seinem epistemischen Standpunkt aus, d. h. ausgehend von seinem System von Werten und Überzeugungen, Grund hat der Forderung (ϕ) zu entsprechen. 19 Moralische Forderungen unterscheiden sich demnach von nicht-moralischen Forderungen bzw. bloßen Willensbekundungen oder Wünschen dadurch, dass eine Person einer anderen Person aufzeigt, dass sie von ihrem Standpunkt aus, aufgrund ihrer Überzeugungen und Werte, Grund hat, dieser Forderung nachzukommen. 20 Dies bezeichnet Wall als These (b). Sollten diese Thesen wahr sein, dann sind sie für die Argumentation Walls in der Tat eine Bedrohung, denn sie liefern dem Modellbürger einen unabhängigen Grund – d. h. ohne dabei die Gültigkeit des Transparenzarguments bereits vorauszusetzen – für die Akzeptanz einer starken Öffentlichkeitsbedingung im Sinne Rawls’. Als Modellbürger habe ich meine moralische Pflicht nicht schon dadurch erfüllt, dass ich anderen ehrlich, öffentlich zugänglich und möglichst verständlich mitteile, warum ich mich für gerechtfertigt halte, staatliche Zwangsgewalt zu gebrauchen, um meine Vorstellung von einem guten Leben zu realisieren. In solchen Fällen verlange ich von meinen Mitbürgern meinen Forderungen zu entsprechen bzw. in meinen Machtgebrauch einzuwilligen, ohne dass ich ihnen Gründe nenne, warum sie dies tun sollten. Ich richte lediglich Forderungen an sie, die sich von meinem Standpunkt aus begründen lassen, aber bemühe mich nicht darum aufzuzeigen, warum sie von ihrem Standpunkt aus Grund haben, den von mir anvisierten Gebrauch politischer Macht für gut zu befinden. Meine Forderungen sind somit – der Argumentation Gaus folgend – keine moralischen Forderungen.
Wall bezieht sich in seiner Argumentation auf Gaus, Justificatory Liberalism, 123– 141. 18 Vgl. Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 115. 19 Vgl. ibid., 115–116. 20 Vgl. ibid., 116. 17
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Das Zugeständnis Walls, eine schwache Öffentlichkeitsbedingung zu akzeptieren, reicht demnach nicht aus. Hinter der Öffentlichkeitsbedingung steckt nicht nur die moralische Idee, dass Bürger bei der Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt Argumente vorbringen sollen, die einer grundlegenden Rechtfertigungsanforderung (basic justification requirement) entsprechen. Bürger erfüllen ihre moralische Rechtfertigungspflicht nicht, wenn sie lediglich Argumente vorbringen, deren Prämissen öffentlich zugänglich, überprüfbar und verständlich sind. Sie haben ihre moralische Rechtfertigungspflicht erst erfüllt, wenn sie Argumente für die Rechtfertigung des Gebrauchs politischer Macht vortragen, die Prämissen verwenden, von denen sie vernünftigerweise erwarten können, dass ihre Mitbürger sie von ihrem jeweiligen Standpunkt aus als Gründe akzeptieren können. Mit anderen Worten: Gaus wendet gegenüber Wall ein, dass aus den zentralen liberalen commitments des Modellbürgers eben nicht nur eine einfache bzw. schwache moralische Rechtfertigungspflicht, sondern eine genuin moralische bzw. starke moralische Rechtfertigungspflicht folgt. Und gemäß einer starken moralischen Rechtfertigungspflicht müssen Argumente eben auch einer starken Öffentlichkeitsbedingung genügen, wenn die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitimieren wollen. Es dürfte klar sein, dass die Argumentation von Gaus eine ernsthafte Bedrohung für Walls Widerlegung des Transparenzarguments darstellt. Was kann Wall also auf diese Überlegungen von Gaus erwidern? Entscheidend für Walls Versuch, Gaus zu widerlegen, ist die Unterscheidung von zwei Rechtfertigungsbegriffen bzw. –standards. 21 Ob Forderung (ϕ), die X an Y stellt, moralischer Natur ist, hängt laut Wall nicht davon ab, ob X Y demonstrieren kann, dass Y aufgrund seiner Überzeugungen und Werte Grund hat in (ϕ) einzuwilligen, sondern einzig und allein davon, ob X aus seiner Perspektive berechtigt ist (ϕ) für wahr zu halten und sich (ϕ) ohne Widerspruch zu der zugänglichen Evidenz und den gerechtfertigten Überzeugungen des epistemischen Kontextes von X und Y rechtfertigen lässt. 22 Mit anderen Worten: Ein zwingender Grund für X da-
Wall deutet an, dass Gaus’ moralischer Rechtfertigungsbegriff einen Internalismus in Bezug auf Gründe voraussetzt und auch durch die Verteidigung eines Externalismus angegriffen werden könnte. Da Wall diese Möglichkeit aber nicht weiter erörtert, vernachlässige ich sie hier, vgl. ibid., 116–117. 22 Vgl. ibid., 117. 21
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rauf zu verzichten von Y zu verlangen, der Forderung (ϕ) zu entsprechen, ergibt sich nur, wenn Y entweder nachweisen kann, dass X – aufgrund seiner Überzeugungen bzw. Werte – nicht berechtigt ist (ϕ) für wahr zu halten, oder aus der Natur von (ϕ), d. h., wenn Y berechtigte Zweifel geltend machen kann, dass (ϕ) objektiv gerechtfertigt ist, also die Annahme der Wahrheit von (ϕ) verfügbarer Evidenz, Fakten und gerechtfertigten Überzeugungen widerspricht. Die Tatsache, dass X Y keine Gründe nennen kann, warum Y der durch X geäußerten Forderung (ϕ) nachkommen sollte, verpflichtet X nicht darauf, auf die Durchsetzung von (ϕ) zu verzichten, sondern lediglich dazu, die »Kosten« einer solchen Vorgehensweise für ein friedliches und zivilisiertes Miteinander mit Y gegenüber den »Kosten« eines Verzichts einer Durchsetzung von (ϕ) abzuwägen. 23 X ist nicht prinzipiell dazu verpflichtet davon abzusehen (ϕ) gegenüber Y zu äußern, wenn X Y keine Gründe nennen kann, warum Y aufgrund seiner Überzeugungen und Werte (ϕ) entsprechen soll, weil es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass (ϕ) für X von derartigem Gewicht bzw. inhaltlicher Bedeutung ist, dass auch eine ernste und nachträgliche Beeinträchtigung der Beziehung zu Y keinen Schaden darstellt, der dem Schaden gleichkommt, der entsteht, wenn X darauf verzichtet, (ϕ) von Y zu fordern. 24 Walls Angriff auf das erste Horn des Dilemmas durch eine Uminterpretation der Öffentlichkeitsbedingung führt also – in der Auseinandersetzung mit einem Einwand von Gaus – zur Notwendigkeit, eine starke moralische Rechtfertigungspflicht abzulehnen. Ich werde später detaillierter nachweisen, dass Wall und Perfektionistische Liberale, die sich seinem Modell eines Perfektionistischen Liberalismus zuordnen lassen, damit dem zweiten Horn des Dilemmas nicht entkommen, sondern sich dem Vorwurf ausliefern, eine »sektiererische« Konzeption öffentlicher Rechtfertigung zu vertreten. 4.1.2.2 Zweite Variante: Externalismus und einfache Rechtfertigung Bevor ich mich kritisch mit dem Lösungsvorschlag Walls auseinandersetze und frage, ob oder inwieweit er eine erfolgversprechende Strategie darstellt, die von Perfektionistischen Liberalen verwendet werden kann, um Quongs Widerlegung des Asymmetrievorwurfs zu entkräften, gilt es noch eine zweite Variante bzw. Weiterentwick23 24
Vgl. ibid., 117–118. Vgl. ibid.
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lung von Walls Gedankengang zu betrachten, die aus der Fortführung der Auseinandersetzung mit Gerald Gaus resultiert. Dies wird helfen, noch besser zu verstehen, wie Wall das Problem zu lösen gedenkt, das ihm das Rawlssche Transparenzargument stellt. Wir hatten im vorigen Unterabschnitt gesehen, dass Wall die Begründung von Gaus für die Akzeptanz einer starken Öffentlichkeitsbedingung im Sinne von Rawls dadurch zu unterminieren versucht, dass er in Liberalism, Perfectionism and Restraint zwei Rechtfertigungsstandards bzw. zwei Rechtfertigungsperspektiven unterscheidet: Ob X (bzw. der Modellbürger) Grund hat davon abzusehen, (ϕ) von Y zu fordern, hängt von der epistemischen Perspektive von X und nicht von der epistemischen Perspektive von Y ab. 25 Diesen dort noch nicht weiter entfalteten Grundgedanken entwickelt Wall in einem späteren Artikel weiter, dem ich mich nun zuwenden möchte. 26 Wall bleibt bei seiner These, dass die Überzeugung Perfektionistischer Liberaler, dass es Fälle gibt, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt Legitimität beanspruchen kann, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden kann, nur verteidigt werden kann, wenn die anti-perfektionistische Forderung nach der öffentlichen Rechtfertigbarkeit politischer Maßnahmen zurückgewiesen wird. 27 Hauptgegner eines Perfektionistischen Liberalismus ist in diesem Artikel aber nicht mehr John Rawls, sondern Gerald Gaus mit seinem »justificatory liberalism«, der – in enger Anlehnung an Rawls – die Legitimität politischer Maßnahmen davon abhängig macht, ob sie öffentlich gerechtfertigt werden können, d. h. Argumente für sie vorgebracht werden können, die mit Prämissen operieren, von denen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass Bürger sie als relevant ansehen und als Gründe akzeptieren. 28 Ähnlich wie in Liberalism, Perfectionism and Restraint behauptet Wall, dass ein Perfektionistischer Liberalismus eine schwache Öffentlichkeitsbedingung akzeptieren kann, wenn damit gemeint ist, dass Argumente, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen, nur auf Überlegungen rekurrieren dürfen, die öffentlich zu25 26 27 28
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Vgl. ibid., 117. Ich beziehe mich hier auf »Perfectionism in Politics«. Vgl. ibid., 99; 102–103; 107. Vgl. ibid., 107. Man beachte auch Endnote 40 auf Seite 116.
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gänglich, überprüfbar und verstehbar sind, aber inkompatibel ist mit einer stärkeren Öffentlichkeitsbedingung, die verlangt, dass die Prämissen derartiger Argumente auch das Kriterium der öffentlichen Akzeptierbarkeit erfüllen müssen. 29 Wie begründet Wall in diesem Artikel die Ablehnung der These, dass politische Maßnahmen nur legitim sein können, wenn sie mit Argumenten gerechtfertigt werden, die das Kriterium öffentlicher Rechtfertigung erfüllen? Wall trennt hier zwei Argumentationsstränge, die in Liberalism, Perfectionism and Restraint noch enger miteinander verwoben waren. Zum einen behauptet er, dass AntiPerfektionistische Liberale, wenn sie eine starke Öffentlichkeitsbedingung für die Rechtfertigung politischer Maßnahmen verteidigen, entweder voraussetzen, dass die Realisierung der Güter bzw. Werte »Stabilität« und »Reziprozität« immer Vorrang hat vor der Realisierung anderer Güter bzw. Werte, oder aber Politische Liberale operieren mit einer unplausiblen Konzeption moralischer Gründe. 30 Es ist der letztgenannte Argumentstrang, der mich hier besonders interessiert. Laut Wall argumentiert Gaus, dass die Plausibilität einer starken Öffentlichkeitsbedingung von der Akzeptanz einer bestimmten Konzeption moralischer Rechtfertigung bzw. einer Konzeption moralischer Gründe abhängt. 31 Das Argument von Gaus besagt, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur dann legitim ist, wenn er jeder Person gegenüber, in deren Freiheit dadurch eingegriffen wird, mit Überlegungen gerechtfertigt wird, die diese, wenn sie vollständig rational ist, als Grund akzeptieren kann. 32 Genau deshalb – so Gaus – müssen politische Maßnahmen mit Argumenten gerechtfertigt werden, die einer starken Öffentlichkeitsbedingung genügen. Rechtfertige ich etwa den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten, deren Prämissen die Übernahme einer kontrover-
Vgl. ibid., 116. Ich beziehe mich hier auf Endnote 41. Vgl. ibid., 107–109. Da in diesem Artikel beide Argumentsstränge als relativ unabhängig voneinander behandelt werden und es mir darauf ankommt zu belegen, dass Walls Auseinandersetzung mit Gaus ihn zu äußerst unattraktiven Annahmen zwingt, verzichte ich hier auf eine ausführlichere Darstellung des konsequentialistischen Arguments. 31 Vgl. ibid., 109. Wall referiert hier auf Gaus, »Liberal Neutrality«; »The Place of Autonomy within Liberalism«, in Autonomy and the Challenges to Liberalism: New Essays. John Philip Christman und Joel Anderson (Hg.) (Cambridge: Cambridge University Press, 2005). 32 Vgl. Wall, »Perfectionism in Politics«, 109–110. 29 30
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sen Konzeption eines guten Lebens erfordern, dann liefere ich Bürgern, die diese Konzeption eines guten Lebens vernünftigerweise ablehnen, keinen Grund, warum sie einen derartigen Eingriff in ihre Autonomie billigen sollten. Laut Wall hängt die Plausibilität der Gausschen Argumentation an einer bestimmten Vorstellung darüber, was es heißt, jemandem einen Grund für die Rechtfertigung eines Eingriffs in seine Autonomie zu geben. Gemäß Gaus ist die Überlegung, die X Y gegenüber äußert, nur dann ein Grund, der einen Eingriff durch X in die Autonomie von Y rechtfertigen kann, wenn Y, nachdem er – frei von hinderlichen Einflüssen wie etwa Drogen oder externen und internen Zwängen – alle verfügbare Evidenz berücksichtigt hat, keine Fehler in ihrer Bewertung gemacht hat und die richtigen Schlussfolgerungen gezogen hat, anerkennen muss, dass er von seinem epistemischen Standpunkt aus diese von X vorgebrachte Überlegung als Grund akzeptieren kann. 33 Um das Argument für eine starke Öffentlichkeitsbedingung zu widerlegen, muss Wall dementsprechend diese Konzeption moralischer Rechtfertigung bzw. moralischer Gründe von Gaus angreifen. Dazu wählt er zwei Wege. Erstens bemüht er sich aufzuweisen, dass Gaus’ Konzeption moralischer Gründe nur plausibel ist, wenn man einen Internalismus in Bezug auf Handlungsgründe vertritt. Mittels zweier Gegenbeispiele versucht er zu demonstrieren, dass ein solcher Internalismus aber kontraintuitive Implikationen hat, und Gaus’ gesamte Argumentation von Perfektionistischen Liberalen abgelehnt werden kann, die einen Externalismus in Bezug auf Handlungsgründe vertreten. 34 Da es mir hier zunächst um eine Rekonstruktion von Walls argumentativer Strategie geht, behalte ich mir eine detailliertere Darstellung für die kritische Diskussion vor (siehe 4.2.2.1) und wende mich dem zweiten Argument Walls zu, dass dieser gegen die Überlegungen von Gaus vorbringt. Gemäß Wall kann Gaus’ Argumentation für ein Neutralitätsprinzip widerlegt werden, wenn man zwei Rechtfertigungsbegriffe unterscheidet. Wenn Perfektionistische Liberale die These ablehnen, dass Argumente, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen, einer starken Öffentlichkeitsbedingung genügen müssen, dann impliziert dies eben nicht, dass sie eine Rechtfertigung des Ge-
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Vgl. ibid., 110. Vgl. ibid., 110–111.
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brauchs politischer Macht für überflüssig halten, sondern lediglich, dass sie den »relationalen« Rechtfertigungsbegriff ablehnen, der der Vorstellung öffentlicher Rechtfertigung zu Grunde liegt. 35 Geht man von einem relationalen Rechtfertigungsbegriff (künftig: JR) aus, dann habe ich jemandem gegenüber einen Anspruch oder eine Forderung gerechtfertigt, wenn ich ihm Überlegungen nenne, die er von seinem epistemischen Standpunkt – d. h. ausgehend von seinem System an Gründen und Überzeugungen – als Gründe akzeptieren kann. Gemäß einem einfachen Rechtfertigungsbegriff (künftig: JS) ist eine politische Maßnahme hingegen dann gerechtfertigt, wenn für sie gute Gründe vorgebracht werden, als Gründe, die gewichtig genug sind, um Einwände bzw. Gründe zu übertrumpfen, die gegen diese Maßnahme sprechen. 36 Ob der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt gerechtfertigt ist, hängt laut JS also nicht davon ab, ob A B gegenüber Überlegungen vortragen kann, die B als Grund akzeptieren kann, sondern davon, ob A aus seiner epistemischen Perspektive berechtigt ist, die von ihm vorgetragene Überlegung als Grund anzusehen, der die entsprechende politische Maßnahme rechtfertigen kann, und darüber hinaus, ob der von A vorgetragene Grund auch objektiv – d. h. in Unabhängigkeit von den Überzeugungen von A – gültig und so gewichtig ist, wie A glaubt. 37 Wall behauptet nun, dass JS gegenüber JR vorzuziehen ist, weil JR gegen ein grundlegendes Prinzip praktischer Rationalität verstößt, welches besagt, dass eine Person nur dann praktisch rational agiert, wenn sie sich nach der Abwägung aller Gründe für eine bestimmte Handlungsoption entscheidet. 38 Mit anderen Worten: Für JS spricht, dass JS einem epistemischen Holismus Rechnung trägt, der aus einem grundlegenden Prinzip praktischer Rationalität resultiert, welches verlangt, dass in die Abwägung einer Entscheidung alle zur Verfügung stehenden Gründe mit einfließen. Akzeptiert man das intuitiv plausible Prinzip praktischer Rationalität, so scheint es logisch, JS gegenüber JR als Konzeption politischer Rechtfertigung vorzuziehen, zumal eine politische Rechtfertigung gemäß JS nicht ausschließt, dass politische Werte wie Stabilität und Reziprozität bzw. sogenannte
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Vgl. ibid., 112. Vgl. ibid. Vgl. ibid. Vgl. ibid.
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»Zivilitätsüberlegungen« – d. h. Güter wie sozialer Frieden etc. – mit berücksichtigt werden bei Deliberationen über die Frage, ob der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt gerechtfertigt ist oder nicht. 39 Was kann ein Anti-Perfektionistischer Liberaler hierauf entgegen? Es bieten sich zwei Möglichkeiten an: Um zu zeigen, dass JR gegenüber JS Priorität hat, müsste er das grundlegende Prinzip praktischer Rationalität ablehnen, indem er argumentiert, dass Zivilitätsüberlegungen bzw. Werte wie Stabilität und Reziprozität immer gewichtiger sind als Gründe, die sich aus anderen inhaltlichen Überlegungen und Werten – insbesondere Fragen des guten Lebens – ergeben. Dieses Argument hatte Wall aber schon mit Verweis auf seine konsequentialistischen Überlegungen als unplausibel abgelehnt. Wenn ein Politischer Liberaler das Prinzip praktischer Rationalität hingegen akzeptiert, dann bleibt ihm nur folgende Möglichkeit: Er kann behaupten, dass sich von seiner epistemischen Perspektive her, d. h. aus seinen Verbund an Werten und Überzeugungen rechtfertigen lässt, dass es Gründe zweiter Ordnung gibt, die dafür sprechen, eine bestimmte Menge von Gründen erster Ordnung nicht zu berücksichtigen, wenn es um die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt geht. 40 Diese Möglichkeit steht einem Anti-Perfektionistischen Liberalen laut Wall offen, allerdings begeht er damit einen performativen Widerspruch, denn diese Argumentation ist eine Rechtfertigung gemäß JS und setzt für ihre Gültigkeit voraus, dass JS gegenüber JR Priorität hat. Noch konsequenter als bei der ersten Variante seines Lösungsvorschlags plädiert Wall also hier dafür, den Rechtfertigungsbegriff aufzugeben, der dem Konzept öffentlicher Rechtfertigung zu Grunde liegt. Es deutet sich hier bereits an, dass Walls Modell eines Perfektionistischen Liberalismus sich aus dem Lager eines public reason liberalism verabschiedet. 4.1.2.3 Dritte Variante: Aufgabe des Freiheitsprinzips Bevor ich Walls »sektiererisches« Modell eines Perfektionistischen Liberalismus einer Kritik unterziehe, ist es aber noch notwendig, eine dritte und letzte Variante seiner Argumentation vorzustellen. Diese präsentiert Wall in einem Artikel, der nun allein einer Auseinandersetzung mit dem »justificatory liberalism« von Gaus gewid39 40
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Vgl. ibid., 112–113. Vgl. ibid., 113.
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met ist. 41 Neu ist hier, dass Wall nun den Versuch unternimmt, die Plausibilität von Gaus Argumentation dadurch zu erschüttern, dass er eine seiner grundlegenden Prämissen in Frage stellt. Laut Wall ist Gaus’ These, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur Legitimität beanspruchen kann, wenn er mit Argumenten gerechtfertigt wird, die einer starken Öffentlichkeitsbedingung genügen, nur plausibel, wenn es Gaus gelingt, ein grundlegendes liberales commitment zu verteidigen, das in der Befürwortung eines sogenannten »grundlegenden Freiheitsprinzips« (künftig: GF) explizit gemacht werden kann. Gemäß GF ist jeder Bürger zunächst einmal als jemand zu behandeln, der die Freiheit hat, ein Leben zu wählen und zu führen, das er als gut bzw. wertvoll beurteilt. Jegliche Beeinträchtigung dieser Freiheit durch Dritte auf der Grundlage von deren Urteilen darüber, was ein gutes bzw. wertvolles Leben ausmacht, bedarf deshalb einer Rechtfertigung. 42 Nehmen wir zwei Bürger A und B. Gemäß GF hat B die Freiheit ein Leben zu wählen und zu führen, das er als gut bzw. wertvoll beurteilt. Will A B zwingen – z. B. durch den Gebrauch staatlicher Gewalt –, ein Leben zu wählen und zu führen, das A als gut bzw. wertvoll beurteilt, so ist A B gegenüber verpflichtet, diese Einmischung in seine Freiheit zu rechtfertigen. Prima facie erscheint GF äußerst plausibel. Es stellt sich also erstens die Frage, warum sich Wall die Mühe macht GF anzugreifen, und dann zweitens, welche Argumente er vorbringen kann, um diese Plausibilität zu erschüttern. Ein Angriff auf GF mag zunächst abschrecken, aber falls er gelingt, ist er besonders verheerend für Gaus, denn – wie Wall zutreffend beobachtet – ist es die Akzeptanz eines grundlegenden Freiheitsprinzips, die die Beweislast zu Ungunsten desjenigen verschiebt, der bestreitet, dass Rechtfertigungen politischer Maßnahmen einer starken Öffentlichkeitsbedingung genügen müssen. 43 Anders formuliert: Kann Wall die Plausibilität von GF in Ich beziehe mich hier auf »On Justificatory Liberalism«, Politics, Philosophy & Economics 9, no. 2 (2010). 42 Vgl. ibid., 125. Wall findet dieses Prinzip formuliert in Gaus, Justificatory Liberalism, 165. Neben GF rekonstruiert und kritisiert Wall noch zwei weitere Prinzipien. Die dafür vorgebrachten Argumente enthalten aber nicht viel Neues gegenüber der schon vorgestellten Argumentationsstrategie Walls, weshalb ich sie hier vernachlässige und darauf – insofern sie neue Überlegungen darstellen – in meiner Gesamtkritik von Walls Position eingehe. 43 Vgl. Wall, »On Justificatory Liberalism«, 125. 41
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Zweifel ziehen, dann muss sich nicht mehr allein derjenige rechtfertigen, der behauptet, dass es Fälle gibt, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt werden kann, sondern auch derjenige, der vom Erstgenannten verlangt, ein Beschränkungsprinzip zu akzeptieren, weil ein derartig gerechtfertigter Gebrauch staatlicher Macht niemals Legitimität beanspruchen kann. Mit anderen Worten: Wenn GF zurückgewiesen werden kann, dann muss sich nicht mehr nur der Perfektionistische Liberale rechtfertigen, warum er eine politische Maßnahme befürwortet, die mittels des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt darauf abzielt, Bürger in der Wahl und im Führen eines guten Lebens zu unterstützen, sondern ebenso muss der Anti-Perfektionistische Liberale rechtfertigen, warum er dafür ist, eine Einmischung in die Freiheitsausübung von Bürgern zu unterlassen. 44 Die Verteidigung der Position eines Perfektionistischen Liberalismus wäre somit wesentlich vereinfacht. Doch wie will Wall eine solche Egalisierung bzw. Umkehrung der Beweislast erreichen? Er trägt hierzu ein Argument vor, das uns in meiner bisherigen Untersuchung schon mehrfach begegnet ist, nämlich ein sogenanntes Asymmetrieargument (siehe 2.1.1.3). 45 Angewandt auf den Kontext hier besagt dieses Argument, dass es Gaus nicht gelingt zu rechtfertigen, warum eine Einmischung in die Freiheit anderer Personen einer Rechtfertigung bedarf, aber nicht Formen der Nicht-Einmischung. 46 GF behauptet eben, dass nur eine Einmischung in den Freiheitsgebrauch anderer einer Rechtfertigung bedarf, aber eine Rechtfertigung nicht erforderlich ist für Fälle, wo sich eine Person A nicht in die Freiheit einer Person B einmischt, auch wenn nur durch ein solches Handeln von A B ein bestimmtes Gut erreichen oder bewahren kann. Walls These ist demnach, dass solche Fälle der Nicht-Einmischung genauso rechtfertigungsbedürftig sind wie Formen der Einmischung, d. h. eine symmetrische Behandlung angebracht ist, GF allerdings eine asymmetrische Behandlung dieser Fälle impliziert und deshalb keine Geltung beanspruchen kann, solange eine solche
Vgl. ibid., 132. Dies stellt eine weitere Bestätigung meiner These dar, dass dem Asymmetrieargument eine zentrale Stellung in der Kontroverse zwischen Anti-Perfektionistischen und Perfektionistischen Liberalen zukommt (siehe 2.1.1.3). 46 Vgl. Wall, »On Justificatory Liberalism«, 125. 44 45
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Asymmetrie nicht ihrerseits gerechtfertigt wird. In Bezug auf staatliches Handeln ist Walls These demnach, dass politische Maßnahmen (z. B. Gesetze), die den Gebrauch der Zwangsgewalt des Staates implizieren, genauso einer Rechtfertigung bedürfen wie der Nicht-Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt, wenn es möglich ist, dadurch zu gewährleisten, dass Menschen ein wichtiges Gut bewahren oder erreichen können. 47 Diese These ist sehr stark, denn Wall gesteht zu, dass sie impliziert, zu bestreiten, dass Freiheit bzw. Abwesenheit von Zwang der moralische Status quo ist. 48 Mit anderen Worten: Wir müssen in gleicher Weise rechtfertigen, wenn wir andere nicht in ihrer Freiheit beschränken, wie wir uns dafür rechtfertigen müssen, wenn wir ihrer Freiheit Grenzen setzen. Wie begründet Wall eine solche »Symmetrie-These«, die besagt, dass – unter den erwähnten Bedingungen – eine Einmischung in die Freiheit Dritter ebenso einer Rechtfertigung bedarf wie die NichtEinmischung in die Freiheit anderer Personen? Laut Wall wird seine Symmetrie-These durch eine allgemeine moralische Überlegung bestätigt, wonach man nicht »Nicht-Handeln« kann, sondern jede Entscheidung für ein bestimmtes Verhalten in einer konkreten Situation moralisch beurteilt und bewertet werden kann. 49 Wenn dies zutreffend ist, dann muss ein Befürworter von GF aber erklären, warum nur ein Handeln im Sinne einer Einmischung in die Freiheit Dritter, aber nicht ein Handeln im Sinne einer Nicht-Einmischung einer Rechtfertigung bedarf, wenn doch beide Verhaltensweisen – aufgrund der vorhergehenden moralischen Überlegung – Handlungen darstellen, die moralisch bewertet werden können. Was könnte ein Vertreter von GF hierauf entgegnen? Laut Wall könnte eine Strategie zur Verteidigung von GF bzw. einer asymmetrischen Behandlung von Einmischungen und Nicht-Einmischungen in die Freiheit Dritter darin bestehen, zwischen »tun« und »zulassen« zu unterscheiden und zu behaupten, dass es ceteris paribus moralisch tadelnswerter ist, etwas Schlechtes zuzulassen als etwas Vgl. ibid., 129. Es ist wichtig, diese zwei Bedingungen hervorzuheben. Wall hat hier zum einen eine Einmischung bzw. Nicht-Einmischung im Blick, die den Gebrauch von Zwangsgewalt beinhaltet, zum anderen ist eine Nicht-Einmischung in die Freiheit Dritter nur dann rechtfertigungsbedürftig, wenn durch diese Einmischung ermöglicht wird, dass die Person, in deren Freiheit eingegriffen wird, dadurch ein wichtiges Gut oder einen wichtigen Wert bewahren oder erreichen kann. 48 Vgl. ibid. 49 Vgl. ibid., 130. 47
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Schlechtes zu tun. 50 Diese Entgegnung ist für Wall aus folgenden Gründen nicht überzeugend: Erstens kann man zugestehen, dass Unterlassungen leichter zu rechtfertigen sind als ein aktives Tun, ohne damit gezwungen zu sein, die Symmetrie-These aufzugeben. 51 Zweitens könnte man zugestehen, dass die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen eine asymmetrische Behandlung einer Einmischung und Nicht-Einmischung auf einer persönlichen bzw. zwischenmenschlichen Ebene erklären kann, dies aber nicht auf ein staatliches Handeln übertragbar ist, weil der Staat seinen Bürgern gegenüber nicht nur Rechenschaft für die Dinge schuldig ist, die er aktiv getan hat, sondern auch für seine Versäumnisse bzw. Unterlassungen. 52 Eine zweite mögliche Strategie für Vertreter von GF könnte darin bestehen zuzugestehen, dass natürlich jegliches Verhalten prinzipiell einer moralischen Bewertung unterzogen werden kann und natürlich eine entsprechende Rechtfertigung verlangt werden kann. Eine asymmetrische Behandlung eines Gebrauchs von Zwangsgewalt zur Einmischung in die Freiheit Dritter und eines Verzichts auf eine solche Einmischung sei aber dennoch gerechtfertigt, weil der Gebrauch von Zwangsgewalt immer rechtfertigungsbedürftig ist, der Verzicht darauf, in die Freiheit anderer einzugreifen, um zu gewährleisten, dass sie ein wichtiges Gut erreichen bzw. bewahren können, jedoch nur manchmal einer Rechtfertigung bedarf. 53 Walls Antwort hierauf besteht darin, mittels eines Gegenbeispiels aufzuzeigen, dass eine Ausübung von Zwang und ein damit einhergehender Eingriff in den Freiheitsgebrauch Dritter nicht immer rechtfertigungsbedürftig ist. Um dieses Gegenbeispiel zu entkräften, müsste Gaus bzw. ein Vertreter von GF eine moralische Konzeption von Zwang verteidigen, wonach es prima facie moralisch falsch ist, Zwang auszuüben, und eine Ausübung von Zwang deshalb einer Rechtfertigung bedarf, aber nicht prima facie moralisch falsch ist, eine Einmischung in die Freiheit Dritter zu unterlassen. Walls Entgegnung auf einen derartigen Entkräftungsversuch ist etwas kryptisch bzw. mutet ad hoc an, weil er behauptet, dieses Argument könnte dadurch pariert werden, dass man einen Begriff erfindet, der eben definiert, dass Nicht-Einmischungen in den Freiheits50 51 52 53
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Vgl. ibid. Vgl. ibid., 130–131. Vgl. ibid., 131. Vgl. ibid.
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gebrauch Dritter prima facie moralisch falsch sind. 54 Da eine moralische Konzeption von Zwang einem Vertreter von GF demnach keinen argumentativen Vorteil verschafft, bleibt nur ein Rekurs auf eine nicht-moralische Konzeption, und hier zeigt sich – laut Wall –, dass eine symmetrische Behandlung von Einmischungen und Nicht-Einmischungen in den Freiheitsgebrauch Dritter angemessen ist, weil der Gebrauch von Zwang nur manchmal prima facie moralisch falsch ist, ebenso wie der Nicht-Gebrauch von Zwang nur manchmal prima facie moralisch falsch ist. 55 Als dritte und letzte Möglichkeit, GF zu verteidigen, identifiziert Wall folgende Strategie: GF und eine asymmetrische Behandlung von Einmischungen und Nicht-Einmischungen in die Freiheit Dritter sind gerechtfertigt, weil sich darin ein commitment zum Gut bzw. Wert von Autonomie ausdrückt, also zur Vorstellung, dass es gut bzw. wertvoll ist, wenn Menschen aus einer Bandbreite an wertvollen Optionen wählen können, um so ein Leben wählen und führen zu können, das ihren Neigungen entspricht und erlaubt, ihre Talente oder Fähigkeiten am besten zu entwickeln. Einschränkungen von Autonomie bedürfen demnach immer einer Rechtfertigung, während hingegen der Verzicht darauf, in die Autonomie Dritter einzugreifen, um ihnen so zu ermöglichen, ein wichtiges Gut zu bewahren oder zu erreichen, lediglich manchmal einer Rechtfertigung bedarf. Was kann hierauf erwidert werden? Gemäß Wall krankt eine solche Argumentation an der Annahme, dass die Ausübung von Zwang immer inkompatibel ist mit dem Gut bzw. Wert von Autonomie. Übt Person A gegenüber Person B Zwang aus, um B daran zu hindern, Person C zu schädigen, so kann B gegenüber A nicht geltend machen, dass A ihn daran hindert, seine Autonomie zu realisieren, ebenso wie ein Staat manchmal Zwang ausüben muss, um seinen Bürgern autonomes Handeln zu ermöglichen bzw. um die sozialen Bedingungen zu schaffen, derer es für die Ausübung von Autonomie bedarf. 56 Die dritte Variante einer möglichen Entgegnung auf Quongs Widerlegung des Asymmetrievorwurfs legt in prägnanter Weise offen, was sich in der zweiten Variante schon angedeutet hatte: Mit der Infragestellung bzw. Ablehnung von GF verabschiedet sich Walls 54 55 56
Vgl. ibid. Vgl. ibid., 131–132. Vgl. ibid., 132.
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Modell eines Perfektionistischen Liberalismus explizit aus dem Lager eines public reason liberalism. Wenn – wie ich in Kürze aufzeigen werde – sich GF aber wiederum aus zentralen liberalen commitments ableitet, dann muss die Diagnose sogar noch härter ausfallen: Mit der Negierung der These, dass Freiheit bzw. die Abwesenheit von Zwang den moralische Status quo darstellt, verabschiedet sich das sektiererische Modell eines Perfektionistischen Liberalismus ebenfalls aus der der Menge der Theorien, die im Rahmen der Politischen Philosophie mit dem Terminus »Liberalismus« bezeichnet werden.
4.2 Kritik am sektiererischen Modell Ich komme nun zu der oben schon mehrfach versprochenen Kritik an den verschiedenen Varianten von Walls Lösungsvorschlag, die dieser zunächst im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Rawls’ Transparenzargument und dann mit Einwänden von Gaus entwickelt hat. Meine These wird hier sein, dass sich das sektiererische Modell eines Perfektionistischen Liberalismus als unfähig erweist, das von Quong aufgeworfene Problem der Entkräftung des Asymmtrievorwurfs zu lösen. Da ich oben nachgewiesen habe, dass sich Wall mit einem Problem konfrontiert sieht, das dem ähnelt, mit dem sich Perfektionistische Liberale durch die Publikation von Quongs Liberalism without Perfectionism auseinandersetzen müssen (siehe 4.1.1), kann ich nun untersuchen, ob Walls sektiererisches Modell eines Perfektionistischen Liberalismus über die notwendigen Ressourcen verfügt, um eine Erwiderung auf Quong zu formulieren. Greift man auf Walls Modell zurück, um dies zu leisten, dann bedeutet dies, dass man den ersten Schritt von Quongs Argumentation zu Entkräftung des Asymmtrievorwurfs angreift (siehe 3.2.2). Im Detail sieht dies so aus: Quong argumentiert, dass eine asymmetrische Behandlung von Argumenten, die mit kontroversen Annahmen über Gerechtigkeitsfragen operieren, und Argumenten, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, gerechtfertigt ist. Sie ist gerechtfertigt, weil vernünftige Uneinigkeiten über Fragen des guten Lebens immer problematische Relevanzuneinigkeiten sind, vernünftige Uneinigkeiten über Gerechtigkeitsfragen hingegen lediglich unproblematische Gewichtungsuneinigkeiten präsentieren. Relevanzuneinigkeiten sind problema208
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tisch, weil es den Konfliktparteien an einem gemeinsamen Rechtfertigungsrahmen bzw. einem Kriterium fehlt, mittels dessen beurteilt werden kann, von welchen Überlegungen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass der Konfliktpartner sie als Grund akzeptieren muss. Im Kontext der Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt verhindert das Vorhandensein einer Relevanzuneinigkeit demnach, dass dieser als öffentlich gerechtfertigt gelten kann. Die Antwort, die man mit Wall auf dieses Problem geben kann, besteht darin zu bestreiten, dass dies problematisch ist, weil die Rechtfertigung politischer Maßnahmen nicht den Kriterien öffentlicher Rechtfertigung genügen muss. Die Strategie besteht also darin, die Bedeutung einer öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt herunterzuspielen. 57 Als Alternative zum Kriterium öffentlicher Rechtfertigung schlägt Wall vor, dass politische Maßnahmen dann als gerechtfertigt gelten können, wenn sie eine schwache Öffentlichkeitsbedingung erfüllen bzw. den Kriterien einer einfachen Rechtfertigung genügen. Um darzulegen, dass diese argumentative Strategie zu keiner überzeugenden Replik auf Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs befähigt, werde ich in den folgenden drei Unterabschnitten darlegen, dass jede der drei Varianten von Walls Lösungsvorschlag erhebliche Mängel aufweist.
4.2.1 Moralische Rechtfertigungspflicht oder nicht? Ich möchte mit der Erörterung der Mängel beginnen, die Walls ursprüngliche Variante seines Lösungsvorschlags aufweist, also die »Urvariante«, die er in Liberalism, Perfectionism and Restraint präsentiert. Ich habe Walls Argumentation gegen das Rawlssche Transparenzargument in drei Schritten rekonstruiert (siehe 4.1.2.1). Dabei wurde ersichtlich, dass er in einem letzten Schritt Rawls vorwirft, dass seine Argumentation zirkulär ist, wenn er dem Modellbürger keinen unabhängigen Grund nennen kann, warum er eine verschärfte Interpretation der Öffentlichkeitsbedingung übernehmen sollte. Meine These ist nun, dass es Wall nicht gelingt, die von ihm selbst ins Spiel Diese Strategie benennt Wall an verschiedenen Stellen explizit, vgl. ibid., 124; 128; 136; 142.
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gebrachten Überlegungen von Gaus zu entkräften, die solch eine unabhängige Begründung liefern könnten. Gaus’ Argumentation ist für Wall gefährlich, weil aus ihr folgt, dass die Argumente, die der Modellbürger für den Gebrauch staatlicher Macht vorbringen darf, einer moralischen Rechtfertigungsanforderung genügen müssen, die über eine grundlegende Rechtfertigungsanforderung hinausgeht, der schon entsprochen wird, wenn derartige Argumente das Kriterium einer schwachen Öffentlichkeitsbedingung erfüllen. Wall muss also Gaus’ These bestreiten, dass die öffentliche Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt nicht nur verlangt, dass ein grundlegender, sondern dass auch ein »moralischer« Rechtfertigungsanspruch erfüllt wird. Mit anderen Worten: Wall muss negieren, dass der Modellbürger über eine »schwache« moralische Pflicht hinaus, die von ihm verlangt, politische Maßnahmen mit Argumenten zu rechtfertigen, deren Prämissen öffentlich zugänglich, überprüfbar und verstehbar sind, die »starke« moralische Pflicht hat, den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten zu rechtfertigen, die die starke Öffentlichkeitsbedingung erfüllen. Um beurteilen zu können, ob Wall dieses Unterfangen gelingt, formalisiere ich seinen Gedankengang leicht. Die Ausgangssituation wird von Wall wie folgt charakterisiert 58: (1) Eine Person X ist durch die Überlegung (α) subjektiv wie objektiv gerechtfertigt, an Person Y die Forderung (ϕ) zu stellen, in Handlung (γ) einzuwilligen. (2) Von Person Y kann aufgrund ihres Systems von Gründen und Überzeugungen (S) nicht vernünftigerweise erwartet werden, (α) als Grund für eine Einwilligung in (γ) zu akzeptieren. Wenn der moralische Rechtfertigungsbegriff von Gaus akzeptiert wird, folgt aus (1) und (2): (3) Die Forderung (ϕ) von X ist gegenüber Y keine moralische Forderung. Ferner erscheint es plausibel, folgendes Prinzip zu akzeptieren: (4) Wenn eine Person X eine beliebige Forderung (ϕ) einer Person Y gegenüber nicht rechtfertigen kann, dann sollte X davon absehen, (ϕ) von Y zu fordern. 58
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Setzt man nun den Modellbürger für X ein, dann folgt aus (3) und (4), dass dieser einen Grund hat, ein anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip zu akzeptieren: (5) Der Modellbürger hat den Grund (β), auf seine Forderung (ϕ) gegenüber Y zu verzichten, weil er Y mit (α) keine Überlegung nennt, von der er aufgrund von (S) vernünftigerweise erwarten kann, dass Y sie als Grund für eine Einwilligung in (γ) akzeptieren kann. Um dieses Argument von Gaus zu entkräften, attackiert Wall das in Schritt (4) formulierte Prinzip, indem er behauptet, dieses sei identisch mit dem Folgenden: (6) X sollte gegenüber Y nicht die Forderung (ϕ) erheben, in (γ) einzuwilligen, wenn X (ϕ) gegenüber Y nicht mit Überlegungen rechtfertigen kann, von denen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass Y sie aufgrund von (S) nicht als Grund für eine Einwilligung in (γ) akzeptieren kann, weil Person X Person Y dann nicht mit dem Respekt behandelt, den X Y als freie und gleiche Person schuldet. 59 Aus dem in Schritt (6) formulierten Prinzip folgt laut Wall aber nur dann (5), wenn man zusätzlich annimmt, dass folgendes Prinzip gültig ist: (7) Gründe, die sich aus Zivilitätserwägungen ergeben, haben immer Vorrang vor Gründen, die sich aus inhaltlichen Erwägungen ableiten, d. h., die moralischen Kosten, die X dadurch entstehen, dass er darauf verzichtet, Forderung (ϕ) gegenüber Y zu erheben, werden immer überwogen durch die moralischen Kosten, die Y dadurch entstehen, dass X Y nicht mit dem Respekt behandelt, der Y als freie und gleiche Person zusteht. 60 Da laut Wall (7) aber falsch bzw. nicht gültig ist, weil es unplausibel ist anzunehmen, dass die Güter einer friedlichen und stabilen sozialen Kooperation immer Vorrang haben vor der Realisierung aller anderen Gütern, folgt aus Schritt (6) nicht die Konklusion (5), d. h., es ist nicht gezeigt, dass der Modellbürger einen Grund (β) hat, der dafür spricht, auf Forderung (ϕ) gegenüber Y zu verzichten, weil er Y 59 60
Vgl. ibid. Vgl. ibid., 117–118.
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mit (α) allein keine Überlegung nennt, von der er aufgrund von (S) vernünftigerweise erwarten kann, dass Y sie als Grund für eine Einwilligung in (γ) akzeptieren kann. Das Problem dieser Entgegnung von Wall auf Gaus besteht darin, dass selbst wenn man Wall zugesteht, dass (7) falsch ist, dies die Schlussfolgerung von (6) auf (5) nicht unterminiert, weil die Ablehnung von (7) nicht begründet, warum man Gaus’ moralische Konzeption von Rechtfertigung ablehnen sollte, sondern ihrerseits nur funktioniert, wenn man Gaus’ moralischen Rechtfertigungsbegriff schon als inadäquat verworfen hat. Mit anderen Worten: Selbst wenn man (7) negiert und akzeptiert, dass (6) eine adäquate Interpretation von (4) ist, so kann die Konklusion von (6) auf (5) nur vermieden werden, wenn man begründet, warum man ein plausibel erscheinendes moralisches Rechtfertigungskriterium nicht akzeptieren sollte. Vor diesem Schritt scheint Wall in Liberalism, Perfectionism and Restraint noch zurückzuschrecken, denn hier ist es ausdrücklich noch sein Anspruch zu zeigen, dass selbst wenn ein Modellbürger den moralischen Rechtfertigungsbegriff von Gaus akzeptiert, ihm dies keinen Grund liefert darauf zu verzichten, von Y zu fordern, in (γ) einzuwilligen. 61 Hier begeht Wall aber einen Denkfehler, denn ein solches Zugeständnis zwingt ihn dazu anzunehmen, dass Prämisse (1) falsch ist: Akzeptiert er gemäß der moralischen Definition von Rechtfertigung, dass Forderung (ϕ) gegenüber Y nur dann gerechtfertigt ist, wenn (ϕ) Y gegenüber mit Gründen gerechtfertigt werden kann, die sich aus (S) von Y ableiten, dann ist X nicht mehr subjektiv und objektiv gerechtfertigt, (ϕ) gegenüber Y zu fordern, weil er einen Standard für Rechtfertigung akzeptiert hat, der die Rechtfertigung von (ϕ) nicht mehr allein davon abhängig macht, ob sich aus seinem System von Überzeugungen und Werten Gründe ergeben, von Y zu fordern, in (γ) einzuwilligen, womit Prämisse (1) falsch wird. Was könnte Wall dem entgegenhalten? Er könnte versuchen, seine Argumentation durch den Hinweis zu retten, dass mit der Übernahme eines moralischen Rechtfertigungsbegriffs X zwar eingesteht, dass es möglicherweise Gründe geben kann, die ihn dazu bewegen sollten, darauf zu verzichten, von Y zu fordern, in (γ) einzuwilligen. Dieses Zugeständnis allein bzw. das alleinige Faktum, dass X Y keine Überlegung nennen kann, von der X aufgrund des Systems von Überzeugungen und Werten von Y vernünftigerweise erwarten kann, dass 61
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Vgl. ibid., 117.
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Y sie als Grund für eine Einwilligung in (γ) akzeptiert, ist aber noch kein wirklicher Grund, der X dazu bewegen sollte, darauf zu verzichten, (ϕ) gegenüber Y zu äußern. Vielmehr muss Y X eine Überlegung nennen, von der Y aufgrund des Systems von Überzeugungen und Werten von X vernünftigerweise erwarten kann, dass X sie als Grund akzeptiert, um davon abzusehen, (ϕ) von Y zu fordern. 62 Doch auch diese letzte Verteidigungsmöglichkeit Walls scheitert, solange Wall nicht den moralischen Rechtfertigungsbegriff von Gaus ablehnt. Akzeptiert er, dass der Modellbürger bzw. Person X eine moralische Definition von Rechtfertigung übernimmt, dann kann Person Y ihm gegenüber geltend machen, dass gerade der fehlende Grund für Y, (ϕ) zu akzeptieren, für X einen Grund darstellt, der sich aus seinem eigenen System von Überzeugungen und Werten ableitet, Forderung (ϕ) Y gegenüber fallen zu lassen. Mit anderen Worten: Wenn X einen moralischen Rechtfertigungsbegriff übernimmt, dann ist dieser ein Teil seines Systems von Überzeugungen und Werten, und der Hinweis von Y, dass X ihm keine Überlegung präsentiert, die Y einen Grund liefert, in die Forderung (ϕ) von X einzuwilligen, stellt eine Überlegung dar, von der Y vernünftigerweise erwarten kann, dass X sie aufgrund seines Systems von Überzeugungen und Werten als Grund akzeptiert, um (ϕ) fallenzulassen. Die erste Variante von Walls Lösungsvorschlag funktioniert demnach nicht, weil Wall in Liberalism, Perfectionism and Restraint noch der Meinung ist, er könne Gaus’ Argumentation entkräften, ohne dessen moralischen Rechtfertigungsbegriff in Frage zu stellen. Meiner Analyse zu Folge hat Walls Argumentation aber nur dann eine Chance, wenn er bereit ist, Gaus’ moralische Definition von Rechtfertigung direkt anzugreifen. Eine mögliche Strategie hierzu erwähnt er, ohne sie an dieser Stelle weiter zu verfolgen: Gaus’ moralischer Rechtfertigungsbegriff scheint eine internalistische Konzeption von Handlungsgründen vorauszusetzen und könnte durch den Nachweis erschüttert werden, dass es auch externe Handlungsgründe gibt. 63
62 63
Vgl. ibid. Vgl. ibid., 116–117.
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4.2.2 Kritik am Externalismus und Begriff politischer Rechtfertigung In seinem Artikel Perfectionism in Politics, den Wall elf Jahre nach Liberalism, Perfectionism and Restraint veröffentlicht hat, wählt er nun die oben angedeutete Möglichkeit und unternimmt einen direkten Angriff auf den moralischen Rechtfertigungsbegriff von Gaus. Wie oben schon erwähnt (siehe 4.1.2.2), fährt Wall dabei zweigleisig: Zum einen versucht er zu demonstrieren, dass Gaus’ moralische Definition von Rechtfertigung eine unplausible, internalistische Konzeption moralischer Gründe voraussetzt, zum anderen argumentiert er, dass die Gaussche Argumentation nur funktioniert, wenn man annimmt, dass eine relationale Rechtfertigung immer Priorität vor einer einfachen Rechtfertigung hat, was aus Walls Sicht aber gegen ein grundlegendes Prinzip praktischer Rationalität verstößt und damit gegen Gaus’ Konzeption politischer Rechtfertigung spricht. 4.2.2.1 Externalistische Gegenbeispiele? Ich möchte mit einer Kritik von Walls These beginnen, dass Gaus’ moralischem Rechtfertigungsbegriff eine unplausible Konzeption moralischer Gründe zugrunde liegt und er deshalb verworfen werden sollte. Entscheidend ist hier, die Beispiele zu analysieren, mittels derer Wall dies zu beweisen versucht. Gaus argumentiert dafür, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt – also ein Eingriff in die Freiheit von Bürgern – nur dann legitim ist, wenn dieser Eingriff mit Überlegungen gerechtfertigt wird, die jeder vernünftige Bürger als Grund akzeptieren kann. Dies setzt eine bestimmte Konzeption moralischer Gründe voraus, wonach eine vernünftige Person nur dann einen Grund hat etwas zu tun bzw. in etwas einzuwilligen, wenn ihre eine Überlegung genannt wird, die sie als Grund akzeptieren kann. 64 Laut Wall vertritt Gaus damit eine internalistische Konzeption von Handlungsgründen, wonach eine Überlegung für eine Person nur dann einen Grund darstellt, etwas zu tun oder zu unterlassen, wenn diese Person in einem Deliberationsprozess, der von ihren aktualen System an Überzeugungen und Werten ausgeht, und in dem sie die relevante verfügbare Evidenz berücksichtigt, keine Fehler in ihrer Beurteilung macht, die richtigen Schlussfolgerungen zieht und keinen internen wie externen Zwängen 64
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Vgl. »Perfectionism in Politics«, 109.
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(z. B. Drohungen oder Drogeneinfluss) unterliegt, zu dem Schluss kommt, dass sie verpflichtet ist, diese Überlegung als Grund anzuerkennen. 65 Walls Argumentation gegen einen solchen Internalismus lässt sich wie folgt rekonstruieren 66: Aus Gaus’ Internalismus folgt die Falschheit zweier kontrafaktischer Bedingungen: (1) Hätte Person A Zugang zu Information (I), dann würde sie Überlegung (γ) als Grund (ϕ) für Handlung (H) akzeptieren. (2) Hätte Person B nicht Defizit (D), dann würde sie Überlegung (γ) als Grund (ϕ) für Handlung (H) akzeptieren. Gegen diese Schlussfolgerungen lassen sich gemäß Wall aber jeweils Gegenbeispiele finden: (1a) Es sind Fälle vorstellbar, in denen A Überlegung (γ) als Grund (ϕ) für Handlung (H) akzeptieren muss, weil es möglich ist, dass (I) für niemand rational zugänglich ist. (1b) Es sind Fälle vorstellbar, in denen A zwar prinzipiell Zugang zu Information (I) haben könnte, die sie erkennen lassen würde, dass sie akzeptieren muss, dass Überlegung (γ) einen Grund (ϕ) für Handlung (H) darstellt, aber der Erwerb von (I) mit einem solchen Aufwand verbunden ist, dass es für A irrational wäre, die erforderlichen Anstrengungen zu unternehmen, um (I) in Erfahrung zu bringen. (2a) Es sind Fälle vorstellbar, in denen B aufgrund eines charakterlichen Defizits nicht in der Lage ist zu erkennen, dass sie aufgrund ihres Systems an Überzeugungen und Werten und öffentlich zugänglicher Fakten und Evidenz verpflichtet ist, Überlegung (γ) als Grund (ϕ) für Handlung (H) zu akzeptieren. Meine Kritik an Wall besteht nun darin aufzuzeigen, dass diese Gegenbeispiele entweder unplausibel sind (Fall 1a), oder aber Gaus durch die Akzeptanz der Wahrheit der kontrafaktischen Bedingungen gar nicht gezwungen ist, seine internalistische Konzeption von Gründen aufzugeben (Fälle 1b und 2a). Betrachten wir zunächst Fall (1a). Dieses Beispiel erscheint mir unplausibel. Wenn (I) für niemanden rational verfügbar ist, dann kann (I) auch keine kausale Rolle spielen,
65 66
Vgl. ibid., 110. Vgl. ibid., 110–111.
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die Überlegung (γ) zu (y)’ verändert, die A dann als Grund (ϕ) für Handlung (H) akzeptieren muss. Der Fehler in Walls Gedankengang scheint mir hier in der Vermischung einer ontologischen und einer epistemologischen Ebene zu liegen. Die ontologische bzw. realistische These, dass es eine Menge an moralische Fakten oder Informationen gibt, zu denen wir aus verschiedensten Gründen noch nicht und vielleicht niemals Zugang haben werden, erscheint mir plausibel. Unplausibel erscheint mir hingegen die epistemologische These, dass die postulierte Existenz dieser Menge an Fakten oder Informationen eine Rolle in der Beurteilung spielen kann, ob jemand eine Überlegung als Grund für eine Handlung akzeptieren muss. Mit anderen Worten: Die ontologische bzw. realistische These, dass es Fakten bzw. Informationen gibt, die Person A dazu führen würden zu akzeptieren, dass Überlegung (γ) einen Grund (ϕ) darstellt, Handlung (H) zu tun bzw. zu unterlassen, liefert kein Argument, Gaus’ Internalismus zurückzuweisen, da es unplausibel erscheint anzunehmen, dass derartige Informationen bzw. Fakten eine kausale Rolle in unseren Überlegungen spielen können, wenn sie uns aus prinzipiellen Gründen epistemologisch unzugänglich sind. Man könnte auch sagen, dass eine Berufung auf derartige Informationen selbst eine schwache Öffentlichkeitsbedingung im Sinne einer öffentlichen Zugänglichkeit von Überlegungen und Evidenz verletzt (siehe 4.1.2.1). Wie sieht es mit Beispiel (1b) aus? Ist dies ein Beispiel dafür, dass Gaus’ internalistische Konzeption von Gründen falsch ist bzw. zu kontraintuitiven Implikationen führt? Im Unterschied zu Beispiel (1a) ist hier Information (I) nicht prinzipiell epistemisch unzugänglich. Aber Walls Darstellung läuft darauf hinaus, dass (I) derart komplex ist, dass nur wenige Menschen den Gedankengang nachvollziehen können, der darlegt, warum (I) wahr ist, und noch weniger Menschen verstehen können, warum (I) eine Information darstellt, die dazu führt, dass ihnen Überlegung (γ) nun einen Grund (ϕ) für Handlung (H) liefert. Nehmen wir an, bei (I) handelt es sich um eine komplizierte Formel aus der theoretischen Physik. Gemäß Walls Beispiel müssten Bürger demnach Überlegung (γ) als einen Grund (ϕ) für Handlung (H) akzeptieren, wenn sie zum einen verstehen würden, was mit Formel (I) gemeint ist und warum (I) wahr ist, und zum anderen begreifen würden, warum die Wahrheit von (I) für ihr Urteil darüber relevant ist, ob (γ) ihnen einen Grund (ϕ) für Handlung (H) liefert. Zwar mag man Wall zugestehen, dass es derartige Gründe gibt, aber die Frage stellt sich, ob von Bürgern – aufgrund 216
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ihrer kognitiven Kapazitäten als auch ihrer begrenzten zeitlichen und finanziellen Ressourcen – vernünftigerweise erwartet werden kann, sich das entsprechende physikalische Hintergrundwissen anzueignen, um Information (I) verstehen und in ihrer Relevanz beurteilen zu können. Im Grunde läuft dies auf die weiter oben schon angerissene Frage hinaus (siehe 4.1.2), ob eine öffentliche Rechtfertigung dem Kriterium einer öffentlichen Zugänglichkeit bzw. Verständlichkeit genügen muss oder nicht. Durch den Nachweis, dass es solche externalistischen Gründe geben kann, ist für Wall solange argumentativ gegen Gaus nichts gewonnen, solange er nicht bereit ist, gänzlich auf das Kriterium öffentlicher Verständlichkeit zu verzichten. Gesteht er zu, dass Argumente, die politische Maßnahmen rechtfertigen, nur legitim sind, wenn sie mit Überlegungen operieren, die von durchschnittlich intelligenten und gebildeten Bürgern verstanden und überprüft werden können, dann demonstriert die Wahrheit von (1b) nicht mehr, dass Gaus’ internalistische Konzeption von Gründen unplausible Konsequenzen nach sich zieht. Im Gegenteil: Es scheint äußerst unplausibel Menschen vorzuwerfen, Überlegungen nicht als Gründe zu akzeptieren, weil sie Informationen nicht berücksichtigen, die sie nur durch jahrelanges Studium verstehen und beurteilen könnten oder deren Wahrheitsgehalt sie aufgrund ihrer durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten nicht überprüfen können. Lehnt Wall hingegen das Kriterium öffentlicher Verständlichkeit ab, dann führt dies letzten Endes dazu, dass Argumente den Gebrauch staatlicher Gewalt legitimieren können, die von einer breiten Masse nicht mehr nachvollzogen und kritisch überprüft werden können, was den Anfang vom Ende einer demokratischen Kontrollmöglichkeit von Macht und den Beginn einer Expertenoligarchie markiert, in der Bürger nicht mehr als freie und gleiche Personen behandelt werden. Damit komme ich zum letzten von Wall vorgebrachten Gegenbeispiel (2a). Die Argumentation Walls lautet hier, dass Gaus’ internalistische Konzeption von Gründen negiert, dass eine Person A einer Person B mit (γ) eine Überlegung nennt, die (H) gegenüber B rechtfertigt, wenn B aufgrund bestimmter Defizite (z. B. charakterlicher Natur) nicht in der Lage ist zu erkennen, dass sie ihr eigenes System an Werten und Überzeugungen oder öffentlich zugänglicher Evidenz und Fakten dazu verpflichten, Überlegung (γ) als Grund (ϕ) für Handlung (H) zu akzeptieren. Die Entgegnung auf Wall kann hier nur lauten, dass das von ihm gewählte Beispiel schlecht gewählt Perfektionistischer Liberalismus
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ist. 67 Gaus behauptet nicht, dass eine öffentliche Rechtfertigung erfordert, dass eine Person A den Eingriff in die Freiheit von Person B ausschließlich mit Überlegungen rechtfertigt, die Person B aufgrund ihres aktualen Systems an Überzeugungen und Werten als Grund akzeptieren kann. Er behauptet vielmehr, dass Person A verpflichtet ist, B Überlegungen zu nennen, die B als Grund akzeptieren kann, wenn angenommen wird, dass B vollständig rational ist. Wie wir weiter oben sahen, ist eine Person gemäß Gaus vollständig rational, wenn sie in der Deliberation darüber, ob sie Überlegung (γ) als Grund (ϕ) für Handlung (H) akzeptieren muss, alle relevante, verfügbare Evidenz in Betracht zieht, keine Fehler in ihrer Bewertung macht, die richtigen Schlüsse zieht und dieser Deliberationsprozess frei von störenden bzw. hinderlichen Einflüssen wie inneren und äußeren Zwängen vollzogen wird (z. B. hervorgerufen durch Drogenkonsum oder Drohungen). 68 Wall liegt schlicht falsch, wenn er behauptet, dass aus Gaus’ Internalismus folgt, dass er bei Fällen wie (2a) negieren muss, dass Person B einen Grund hat, H zu tun bzw. in H einzuwilligen. Im Sinne von Gaus kann man einfach negieren, dass hier die Rationalitätsklausel erfüllt ist. Ein charakterliches Defizit – etwa die mangelnde Kontrolle von Emotionen oder unmittelbaren Bedürfnissen, die das Urteilsvermögen von B trüben – stellt einen ebenso störenden Einfluss auf den Deliberationsprozess von B dar, wie innere oder äußere Zwänge, die es B aktual verunmöglichen zu erkennen, dass sie Überlegung (γ) als Grund (ϕ) akzeptieren müsste, der für (H) spricht. Vom Vorhandensein solcher Defizite ist realistischerweise auszugehen, weshalb die von Gaus formulierte Rationalitätsklausel als eine notwendige Idealisierung der Dialogsituation anzusehen ist. Nichtsdestotrotz ist der Maßstab dafür, ob Person A Person B mit Überlegung (γ) eine Überlegung nennt, die den Eingriff in die Freiheit von B rechtfertigen kann, die Perspektive von B. Mit anderen Worten: A muss nachweisen, dass B – wenn ihr Deliberationsprozess frei von hinderlichen Einflüssen durchgeführt wird – im Rückgriff auf ihr System von Überzeugungen und Werten bzw. die öffentlich zugänglichen Fakten, verpflichtet ist, (γ) als Grund für Handlung (H) zu akzeptieren. Auch dieses Beispiel demonstriert demnach nicht, dass
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Vgl. ibid., 111. Vgl. ibid., 110.
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Gaus’ Internalismus die unplausiblen Implikationen hat, die Wall ihm unterstellt. Bevor ich mich der Kritik an Walls Begriff politischer Rechtfertigung im nächsten Unterabschnitt zuwende, ist es erforderlich, mich noch kurz mit einem Argument Walls auseinanderzusetzen, das an die eben vorgetragene Diskussion anknüpft. Wir hatten gesehen, dass es Wall mittels seiner externalistischen Gegenbeispiele nicht gelingt zu erweisen, dass Gaus’ internalistische Konzeption moralischer Gründe zu unplausiblen Annahmen führt. Gemäß meiner Analyse liegt ein Hauptgrund dafür in der von Gaus formulierten »Rationalitätsklausel«, nach der eine Person A ihrer moralischen Rechtfertigungspflicht nachgekommen ist, wenn sie Person B eine Überlegung nennt, die diese als Grund anerkennen muss, wenn sie vollständig rational wäre. Diese Interpretation scheint sich dadurch zu bestätigen, dass Wall sich in seinem ein Jahr später veröffentlichten Artikel On Justificatory Liberalism genötigt sieht, diese Rationalitätsklausel bzw. Gaus’ Konzeption »vollständiger Rationalität« anzugreifen, um seine Kritik an Gaus zu verteidigen. Hauptangriffsziel in diesem Artikel ist wiederum Gaus’ moralische bzw. internalistische Konzeption von Gründen, aus der sich laut Wall ein sogenanntes »Prinzip öffentlicher Vernunft« (künftig: PÖV) ableitet, gemäß dem ein Grund (ϕ) nur dann ein »moralischer« Grund ist, der eine Handlung (H) rechtfertigt, durch die in den Freiheitsgebrauch einer Menge von Personen eingegriffen wird, wenn alle vollständig rationalen Personen dieser Menge akzeptieren müssen, dass ihnen mit (ϕ) eine Überlegung genannt wird, die (H) rechtfertigt. 69 Wall behauptet nun, dass Gaus’ internalistische Konzeption von Gründen unplausibel ist, weil sie die Ablehnung eines äußerst plausiblen »Universalitätsprinzips« 70 (künftig: UP) impliziert. Akzeptiert man aber UP, dann spricht einiges dafür, PÖV nicht in einem internalistischen Sinne wie Gaus zu interpretieren, sondern derart, dass es auch externalistische Gründe gibt, die (H) rechtfertigen können. Gemäß Wall verlangt die von Gaus formulierte Rationalitätsklausel bzw. dessen Konzeption »vollständiger Rationalität«, dass eine Person A einer Person B gegenüber nur dann einen Grund genannt hat, der einen Eingriff in die Freiheit von B rechtfertigt, wenn Vgl. »On Justificatory Liberalism«, 126. Die Formulierung von PÖV findet Wall bei Gaus, »Liberal Neutrality«, 143. 70 Eine genauere Definition und Erläuterung dieses Prinzips erfolgt in Kürze. 69
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A B eine Überlegung (γ) nennt, von der A vernünftigerweise annehmen kann, dass B sie als Grund (ϕ) akzeptieren muss, der (H) rechtfertigt. Dies wirft die Frage auf, wann A »vernünftigerweise« annimmt, dass B eine Überlegung (γ) als Grund (ϕ) akzeptieren muss. A geht laut Wall von einer vernünftigen Erwartung aus, wenn er B als Person behandelt, die drei Bedingungen erfüllt 71: (1) B verfügt über alle relevanten Informationen bzw. ist in der Lage sich diese anzueignen, um (γ) beurteilen zu können. (2) B zieht die richtigen Schlussfolgerungen aus diesen Informationen bzw. macht keine Fehler in ihrer Bewertung. (3) B berücksichtigt alle evaluativen Überlegungen, die relevant sind, um adäquat beurteilen zu können, ob ihm mit (γ) eine Überlegung genannt wird, die ihm einen Grund (ϕ) nennt, (H) in einer Situation (S) zu tun oder zu unterlassen. Wall behauptet nun in einem ersten Schritt, dass Gaus’ internalistische Interpretation von PÖV nur die Erfüllung der ersten beiden Bedingungen verlangt, Bedingung (3) aber unberücksichtigt lässt. 72 An diesem Schritt ist zu kritisieren, dass mir nicht erklärbar ist, wie Wall zu der These kommt, dass Gaus eine derartige Interpretation von PÖV vertritt. Diese Behauptung widerspricht eindeutig dem Wortlaut des Zitats bzw. der Definition von vollständiger Rationalität, auf die Wall bei Gaus explizit referiert. 73 Gestehen wir jedoch im Sinne Vgl. Wall, »On Justificatory Liberalism«, 134. Vgl. ibid., 134–135. Zum Nachweis von Gaus’ Definition vollständiger Rationalität referiert Wall wiederum – wie schon in Perfectionism in Politics – auf Gaus, »Liberal Neutrality«, 143–144. 73 Wall zitiert Gaus’ Definition »vollständiger Rationalität« direkt im Anschluss der Formulierung dieser drei Bedingungen: »A person is fully rational if she ›takes into account all the relevant available evidence, takes care when evaluating it, is not subject to various distortions of deliberation or action (e. g., is not under the influence of drugs or compulsions), and so on‹.«, Wall, »On Justificatory Liberalism«, 134–135. Mir scheint, dass Gaus’ Bedingung (3) in der Formulierung der Bedingung mit berücksichtigt, dass eine Person nur dann vollständig rational ist, wenn sie einer Sorgfaltspflicht nachkommt, d. h. nicht nur alle verfügbare Evidenz bzw. Informationen berücksichtigt, sondern diese auch sorgfältig evaluiert. Eine Evaluation ist aber dann nicht sorgfältig durchgeführt, wenn eine Überlegung oder ein Kriterium (α) nicht berücksichtigt wird, das relevant ist, um beurteilen zu können, ob einem mit Überlegung (γ) eine Überlegung genannt wird, die man als Grund (φ) akzeptieren muss, in Situation (S), Handlung (H) zu tun oder zu unterlassen. Mit anderen Worten: Bedingung (3) lässt sich aus Gaus’ Definition vollständiger Rationalität ableiten. 71 72
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des Arguments Wall zu, Gaus würde eine solche Interpretation von PÖV vertreten, gemäß derer eine Person schon als vollständig rational zählt, wenn sie Bedingungen (1) und (2) genügt. Was hindert Gaus dann daran, seine Interpretation von PÖV bzw. seine Definition vollständiger Rationalität um Bedingung (3) zu ergänzen? Wall muss in einem zweiten Schritt nachweisen, dass Gaus dieser Schritt verwehrt ist, weil er sonst anerkennen müsste, dass es externalistische Gründe gibt, die seine internalistische Konzeption von Gründen unterminieren. Um dies zu demonstrieren, verfährt Wall wie folgt. Erstens argumentiert er dafür, dass es »extrem plausibel« ist, ein Universalisierungsprinzip UP für gültig zu halten, welches besagt 74: UP: Wenn Person A vollständig rational ist und Überlegung (γ) in einer Situation (S) als Grund (ϕ) akzeptiert, der Handlung (H) rechtfertigt, und Person B in einer Situation (S)’ ist, die sich in keinem für die Beurteilung von (γ) relevanten Aspekt unterscheidet, dann ist Person B nur dann vollständig rational, wenn auch sie Überlegung (γ) in (S)’ als Grund (ϕ) akzeptiert, der (H) rechtfertigen kann. UP scheint plausibel. Laut Wall konfrontiert dies Gaus aber mit einem Dilemma: Entweder er lehnt UP ab, was wenig erfolgsversprechend erscheint, oder aber er akzeptiert UP, was ihn dann dazu zwingt, seinen Internalismus in Bezug auf Handlungsgründe aufzugeben. Gibt er diesen auf, dann fällt aber auch sein moralischer Rechtfertigungsbegriff und unterstützt nicht mehr die Forderung, dass eine politische Maßnahme nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn sie mit Argumenten gerechtfertigt wird, die mit Überlegungen operieren, die jede vollständig rationale Person von ihrem Standpunkt aus bzw. in ihrem System an Überzeugungen und Werten als Grund akzeptieren kann. Betrachten wir etwas detaillierter, wie Wall dafür argumentiert, dass die Akzeptanz von UP Gaus in solch eine Bredouille bringt. Wall konstruiert folgenden Fall, der sich durch vier Charakteristika auszeichnet 75: Erstens genügt Person A den oben formulierten drei Bedingungen einer vollständig rationalen Person, wenn sie über die Frage deliberiert, ob ihr Überlegung (γ) einen Grund (ϕ) gibt, in ihrer 74 75
Vgl. ibid., 134. Vgl. ibid., 135.
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Situation (S) Handlung (H) zu tun bzw. zu unterlassen. Zweitens kommt Person A zu dem Schluss, dass ihr Überlegung (γ) einen Grund (ϕ) gibt, in (S) (H) zu tun bzw. zu unterlassen. Drittens befindet sich Person B in einer Situation (S)’, die sich in keinem für die Beurteilung von (γ) relevanten Aspekten von (S) unterscheidet, berücksichtigt alle relevanten Informationen für die Beurteilung von (γ), zieht die richtigen Schlussfolgerungen aus diesen Informationen bzw. macht keine Fehler in ihrer Bewertung – erfüllt also die Bedingungen (1) und (2) – und kommt zu dem Schluss, dass ihr mit Überlegung (γ) ein Grund (ϕ) genannt wird, der Handlung (H) in (S)’ rechtfertigt. Viertens kann Person B Person A nicht nachweisen, dass A Bedingungen (1) oder (2) verletzt hat. Akzeptiert man nun, dass das Universalisierungsprinzip UP gilt, dann ergeben sich für A zwei Möglichkeiten 76: Entweder muss A den Anspruch aufgeben, dass sie mit (γ) B einen Grund (ϕ) nennt, der (H) rechtfertigt, oder aber A hält daran fest, dass B aufgrund von (γ) einen Grund (ϕ) hat, (H) zu tun bzw. zu unterlassen. Warum sollte A aber zu dem Schluss kommen, dass (γ) keinen Grund (ϕ) darstellt, der (H) rechtfertigen kann, wenn B ihr nicht nachweisen kann, dass sie einen Fehler in der Beurteilung von (γ) macht? Vorausgesetzt die Situationen (S) und (S)’ unterscheiden sich in keinem für die Beurteilung von (γ) relevanten Aspekt, so erscheint es wesentlich plausibler, die unterschiedliche Beantwortung der Frage, ob Überlegung (γ) einen Grund (ϕ) darstellt, der (H) rechtfertigen kann, damit zu erklären, dass B nicht vollständig rational im Sinne von Bedingung (3) ist, also irgendeine evaluative Überlegung (α) unberücksichtigt lässt, die sie erkennen lassen würde, dass Überlegung (γ) ein solches Gewicht hat, dass sie als ein Grund (ϕ) zu akzeptieren ist, der (H) rechtfertigen kann. Mit anderen Worten: Akzeptiert Gaus UP, dann muss er auch akzeptieren, dass seine internalistische Interpretation von PÖV ungenügend ist, weil sie unberücksichtigt lässt, dass jemand erst dann als vollständig rational gelten kann, wenn er in der Beurteilung einer Überlegung (γ) allen relevanten evaluativen Überlegungen auch das entsprechende Gewicht beigemessen hat. Nach dieser Rekonstruktion der Argumentation bin ich nun in der Lage, den fehlerhaften Schritt in Walls Kritik an Gaus’ moralischen Rechtfertigungsbegriff bzw. dessen Konzeption vollständiger Rationalität zu identifizieren: Die Akzeptanz von UP würde Gaus nur 76
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Vgl. ibid.
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dann in eine Bredouille bringen, wenn sie ihn zur Negierung von Bedingung (3) zwänge. Dies ist aber nicht der Fall. Die Tatsache, dass Person B irgendeiner relevanten Überlegung (α) nicht dasselbe Gewicht in der Beurteilung der Frage beimisst, ob ihr mit Überlegung (γ) ein Grund genannt wird, der (H) rechtfertigt, impliziert keine Verletzung von Bedingung (3). Bedingung (3) wäre nur dann verletzt, wenn Person B in dem von Wall konstruierten Fall negieren würde, dass ihr Person A mit (γ) eine Überlegung nennt, die sie als Grund (ϕ) für die Rechtfertigung von (H) akzeptieren kann. Aus der Akzeptanz von UP und Bedingung (3) folgt aber nicht, dass Person A zu dem Schluss berechtigt ist, dass Person B nicht vollständig rational ist, wenn B Überlegung (α) ein anderes Gewicht in der Beurteilung von Überlegung (γ) beimisst und deshalb schlussfolgert, dass ihr mit (γ) zwar eine Überlegung genannt wird, die sie als einen Grund (ϕ) für die Rechtfertigung von (H) akzeptieren kann, aber dieser Grund – aufgrund anderer Überlegungen bzw. Gründe – nicht stark genug ist, um der Durchführung bzw. der Unterlassung von (H) zuzustimmen. Anders formuliert: Aus der Akzeptanz von UP folgt nicht, dass Person B nicht vollständig rational ist, wenn sie in ihrem Deliberationsprozess über die Frage, ob ihr mit Überlegung (γ) eine Überlegung genannt wird, die sie als einen Grund (ϕ) für die Rechtfertigung von (H) akzeptieren kann, einer relevanten evaluativen Überlegung ein anderes Gewicht beimisst und deshalb zu einer anderen Antwort auf die Frage kommt, ob Grund (ϕ) so stark ist, dass er mögliche andere Gründe aussticht, die gegen ein Tun oder Unterlassen von (H) sprechen. Walls Argumentation geht also nur für Fälle auf, in denen Person A Person B nachweisen kann, dass Person B in ihrem Deliberationsprozess eine evaluative Überlegung (α) völlig unberücksichtigt lässt, die relevant ist, um adäquat beurteilen zu können, ob ihr mit (γ) eine Überlegung genannt wird, die sie als Grund (ϕ) für die Rechtfertigung von (H) akzeptieren kann. Es ist demnach Wall nicht gelungen zu zeigen, dass Gaus seine Definition vollständiger Rationalität nur dann um Bedingung (3) ergänzen kann, wenn er UP negiert bzw. seine internalistische Konzeption moralischer Gründe aufgibt. An diesem Fehler in Walls Argumentation wird aber noch etwas weitaus Bedenklicheres an Walls Modell eines Perfektionistischen Liberalismus deutlich. Für Wall kann es so etwas wie eine »vernünftige Uneinigkeit« bzw. einen vernünftigen Pluralismus gar nicht geben. 77 77
Evidenz dafür im Text ist, dass Wall dieses Argument auch als ein Argument gegen
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Dies zeigt sich an seiner Interpretation des oben geschilderten Falls: Wenn Person A vollständig rational im Sinne der Bedingungen (1) bis (3) ist und zu dem Urteil kommt, dass ihr Überlegung (γ) einen Grund (ϕ) gibt, in ihrer Situation (S) Handlung (H) zu tun bzw. zu unterlassen, dann kann Person B – insofern sie A keine Verletzung der Bedingungen (1) und (2) nachweisen kann und in einer Situation (S)’ ist, die sich in keinem für die Beurteilung von (γ) relevanten Aspekten von (S) unterscheidet – nur ungenügend rational sein, wenn sie nicht darin zustimmt, dass ihr mit Überlegung (γ) einen Grund (ϕ) genannt wird, um (H) zu tun bzw. zu unterlassen. Dieser Trugschluss Walls erklärt sich seinerseits aus einer ungebührlich starken Interpretation des Universalisierungsprinzips. Gemäß UP kann Person A Person B vorwerfen, nicht vollständig rational zu sein, wenn Person A alle verfügbare Evidenz berücksichtigt und richtig bewertet etc. und zu dem Schluss kommt, dass ihr Überlegung (γ) einen Grund (ϕ) liefert, der das Tun oder Lassen von (H) rechtfertigt, aber Person B – vorausgesetzt sie befindet sich in einer Situation (S)’, die sich in keinen für die Beurteilung von (γ) relevanten Aspekten unterscheidet – negiert, das ihr mit (γ) eine Überlegung genannt wird, die sie als Grund für die Rechtfertigung von (H) akzeptieren kann. Nach dieser Lesart von UP ist so etwas wie ein »Rechtfertigungskonflikt« aber noch möglich: Aufgrund der Bürden der Urteilskraft (z. B. unterschiedlicher Lebenserfahrungen, unterschiedlicher Interpretationen empirischer Evidenz etc.) können A und B vernünftigerweise darüber uneinig sein, wie gewichtig (ϕ) als Grund ist. Mit anderen Worten: B kann zwar zugestehen, dass A ihr mit (γ) eine Überlegung nennt, die sie als Grund (ϕ) für die Rechtfertigung von (H) akzeptieren kann, und dennoch abstreiten, dass sie nicht vollständig rational ist, wenn sie in ihrem Deliberationsprozess darüber, ob sie einem Tun oder Unterlassen von (H) zustimmen soll, zu dem Ergebnis kommt, dass (ϕ) nicht gewichtig genug ist, um ein Tun oder Unterlassen von (H) zu rechtfertigen. Eine derartige vernünftige Uneinigkeit wird erst dann unmöglich, wenn man UP in einem noch stärkeren Sinne interpretiert, wonach eine andere Person nur dann vollständig rational ist, wenn sie die verschiedenen relevanten Informationen und entsprechende Evidenz auch in meinem Sinne bzw. von meinem Standpunkt aus gewichtet. die Möglichkeit eines sogenannten »justificatory conflict« begreift und konzipiert, vgl. ibid., 133–134.
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Ist UP in einem schwachen Sinne – die der Argumentation Gaus’ nicht widerspricht – plausibel, so ist diese starke Interpretation äußerst unplausibel, was auch Wall anerkennen müsste. Denn vieles spricht dafür, dass wir nicht über die epistemischen Ressourcen verfügen bzw. nicht den epistemischen Standpunkt einnehmen können, von dem her eindeutig und unzweifelhaft beantwortet werden könnte, welche Überlegungen und Aspekte bei der Beantwortung von Gerechtigkeitsfragen und Fragen des guten Lebens wie gewichtet werden sollen. Wenn man aber zugesteht, dass man sich in einer Situation (S) befindet, in der vielerlei kontigente Faktoren mit beeinflussen, wie ich Überlegungen bzw. Gründe für die Rechtfertigung von Handlungen bzw. politischen Maßnahmen gewichte, dann kann man anderen Personen in einer vergleichbaren Situation (S)’ nicht vorwerfen, dass sie nicht vollständig rational sind, weil sie aufgrund anderer kontingenter Erfahrungen und Gewichtungen zu einem anderen Urteil darüber kommen, ob ihnen mit Grund (ϕ) ein Grund genannt wird, der so gewichtig bzw. ausschlaggebend ist, dass er ein Tun oder Unterlassen von (H) rechtfertigt. 78 4.2.2.2 Eine überzeugende Konzeption politischer Rechtfertigung? Ich möchte mich nun einer kritischen Diskussion von Walls Argument zuwenden, welches besagt, dass Gaus’ moralische Konzeption öffentlicher Rechtfertigung als Ansatz politischer Rechtfertigung unplausibel ist, weil sie von einer Priorität einer relationalen vor einer einfachen Rechtfertigung ausgeht, welche wiederum eine Verletzung eines grundlegenden Prinzips praktischer Vernunft und die Ablehnung eines epistemischen Holismus impliziert. Walls Argumentation beginnt mit der Überlegung, dass es plausibel ist, ein grundlegendes Prinzip praktischer Vernunft (künftig: GPV) zu akzeptieren, welches lautet 79: (1) GPV: Eine Person A agiert nur dann vollständig praktisch rational, wenn sie sich nach der Abwägung aller Gründe für eine bestimmte Handlungsoption (H) entscheidet. Auf einen ähnlichen Kritikpunkt durch Joseph Raz weist Wall selbst hin, vgl. ibid., 147. Ich beziehe mich hier auf Endnote 38. Das Problem des Einwands von Raz besteht darin, dass er zu behaupten scheint, dass in dem von Wall konstruierten Fall UP nicht gilt bzw. Person B geltend machen kann, dass ihr mit (γ) eine Überlegung genannt wird, die sie als Grund für die Rechtfertigung einer Handlung (H) akzeptieren kann. 79 Vgl. »Perfectionism in Politics«, 112–113. 78
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Ferner unterscheidet Wall zwei Rechtfertigungsbegriffe 80: (2) Relationaler Rechtfertigungsbegriff JR: Person A hat Person B gegenüber eine politische Maßnahme (M) gerechtfertigt, die eine Forderung (F) an B impliziert, wenn A B für (M) eine Überlegung (γ) nennt, die B von ihrem epistemischen Standpunkt, d. h. ausgehend von ihrem System an Werten und Überzeugungen, als Grund (ϕ) akzeptieren kann. Dabei wird angenommen, dass B vollständig rational ist, also B alle zur Verfügung stehenden Informationen und sich daraus ergebende Evidenz berücksichtigt, keine Fehler in ihrer Bewertung macht, die richtigen Schlussfolgerungen zieht und alle für die Beurteilung von (γ) relevanten evaluativen Überlegungen berücksichtigt. (3) Einfacher Rechtfertigungsbegriff JS: Person A hat eine politische Maßnahme (M) gerechtfertigt, die eine Forderung (F) an Person B impliziert, wenn A für (M) eine Überlegung (γ) vorbringt, die in einem subjektiven und objektiven Sinne einen auschlaggebenden Grund (ϕ) für die Realisierung von (M) darstellt. In einem subjektiven Sinne ist (γ) ein ausschlaggebender Grund (ϕ) für die Rechtfertigung von (M), wenn A – als vollständig rationale Person – von ihrem epistemischen Standpunkt aus bzw. ihrem System an Überzeugungen und Werten zu der Überzeugung (π) kommt, dass (ϕ) mögliche Gründe aussticht, die gegen eine Realisierung von (M) sprechen. Damit (M) gerechtfertigt ist, muss A aber nicht nur subjektiv gerechtfertigt sein, dass (γ) ein ausschlaggebender Grund (ϕ) für die Realisierung von (M) ist, sondern auch objektiv, d. h., (ϕ) muss auch unabhängig von (π) einen Grund darstellen, der mögliche Gegengründe übertrumpft und für eine Realisierung von (M) spricht und (M) damit rechtfertigt. Der entscheidende Schritt in der Argumentation Walls besteht nun in folgender Behauptung 81: (4) JS ist gegenüber JR als Konzeption politischer Rechtfertigung vorzuziehen, weil für die Priorität von JS über JR
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Vgl. ibid., 112. Vgl. ibid.
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spricht, dass diese mit GPV kompatibel ist, die Priorität von JR über JS hingegen nicht. Was spricht für die Wahrheit von (4)? Wall bietet hierfür folgendes Argument 82: (5) Die Priorität von JR über JS impliziert, dass Person A in ihrer Deliberation über die Frage, ob sie (M) und die darin implizierte Forderung (F) an B rechtfertigen kann, ausschließlich Überlegungen bzw. Gründe berücksichtigt, die B von ihrem epistemischen Standpunkt aus als Gründe akzeptieren kann. Daraus folgt, dass A nicht alle Gründe bei einer Abwägung darüber, ob (M) realisiert werden soll, berücksichtigt und gegen GPV verstößt. Das Problem von (5) liegt nun aber darin, dass aus der Priorität von JR über JS nicht zwingend der Schluss folgt, dass A in ihrer Deliberation ausschließlich Überlegungen bzw. Gründe berücksichtigt, die B von ihrem epistemischen Standpunkt aus als Gründe akzeptieren kann, und damit GPV verletzt wird. Die in (4) aufgestellte Behauptung bleibt dann aber unbegründet. Die in (5) vollzogene Schlussfolgerung ist nur dann notwendig, wenn man ein zusätzliches Beschränkungsprinzip einführt, welches besagt, dass die Rechtfertigung einer politischen Maßnahme (M) durch Person A gemäß JS auch dann nie legitim sein kann, wenn A sich vorher ernsthaft bemüht hat, (M) gemäß den Standards von JR zu rechtfertigen, d. h. sich angestrengt hat, (M) gegenüber B mit Überlegungen zu rechtfertigen, von denen A vernünftigerweise erwarten kann, dass B sie von ihrem epistemischen Standpunkt aus als Gründe akzeptieren kann. Meiner Ansicht nach begeht Wall an dieser Stelle einen zweifachen Denkfehler: Erstens impliziert die behauptete Priorität von JR über JS nicht notwendigerweise die Akzeptanz eines solchen Beschränkungsprinzips und einer Ablehnung von GPV. Zweitens erfordert umgekehrt eine Akzeptanz von GPV und die Bejahung der These, dass eine politische Maßnahme (M) wenigstens manchmal Legitimität beanspruchen kann, wenn sie gemäß JS gerechtfertigt wird, nicht die Ablehnung der Priorität von JR über JS. Anstatt JR und JS als konkurrierende Konzeptionen politischer Rechtfertigung zu interpretieren, erscheint es mir demnach nicht unmöglich und da82
Vgl. ibid., 112–114.
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rüber hinaus wesentlich attraktiver, die Priorität von JR über JS in einem temporalen bzw. konsekutiven Sinne zu interpretieren: (6) Will eine Person A eine politische Maßnahme (M), die eine Forderung (F) an Person B impliziert, rechtfertigen, dann ist Person A zunächst einmal verpflichtet, sich ernsthaft darum zu bemühen, eine öffentliche Rechtfertigung für (M) zu präsentieren, d. h. B Überlegungen zu nennen, von denen A vernünftigerweise erwarten kann, dass B sie als Gründe akzeptieren kann, die (M) rechtfertigen. Ist Person A dieser Pflicht nachgekommen und konnte entweder gar keine Überlegungen finden, die B als Grund anerkennen kann, oder keine Überlegungen, die B als gewichtigen oder ausschlaggebenden Grund akzeptieren kann, dann kann A (M) gemäß den Standards von JS rechtfertigen, d. h., (M) ist dann gerechtfertigt, wenn A – als vollständig rationale Person – in einem Deliberationsprozess zu dem Schluss kommt, dass bestimmte Überlegungen gewichtige Gründe sind, die für eine Realisierung von (M) sprechen, und diese Gründe auch objektiv für eine Realisierung von (M) sprechen. 83 Die Bejahung von (6) akzeptiert die Priorität von JR über JS in einem temporalen bzw. konsekutiven Sinne, verpflichtet aber weder zu einer Ablehnung von GPV, noch zu einer Akzeptanz eines irgendwie gearteten Beschränkungsprinzips, da hier zwei Schritte unterschieden werden: Die Priorität von JR über JS gebietet einer Person A zunächst einmal, die Anstrengung zu unternehmen, eine politische Maßnahme (M), die eine Forderung (F) an eine Person B impliziert, mit Überlegungen zu rechtfertigen zu versuchen, die B von ihrem System an Überzeugungen und Werten als Gründe nachvollziehen kann bzw. die sie nachvollziehen könnte, wenn sie vollständig rational wäre. Dies Dies entspricht in etwa der argumentativen Strategie, die Christopher Eberle vertritt, um seine These zu begründen, dass es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur im Rekurs auf kontroverse religiöse Argumente gerechtfertigt wird, vgl. Eberle, Religious Conviction, 10. Meiner Ansicht nach führt dies zu einer – illiberalen – Ablehnung der Pflicht zur öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt, weshalb ich es als ein »reformuliertes« sektiererisches Modell eines Perfektionistischen Liberalismus ablehne. Mehr zu den Unterschieden dieses Modells zu dem von mir in dieser Arbeit verteidigten Konvergenzmodell folgt später (siehe 7.2.2.2).
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impliziert keine der folgenden Verpflichtungen: Erstens folgt aus der Pflicht, sich darum zu bemühen, einer anderen Person Gründe zu nennen, die sie akzeptieren kann, nicht notwendigerweise, dass man verpflichtet ist, auf die Nennung anderer Gründe – die nicht den Standards einer öffentlichen Rechtfertigung genügen – zu verzichten. Zweitens ist man nicht notwendigerweise dazu verpflichtet, diese Gründe in einem Deliberationsprozess darüber, ob (M) gerechtfertigt ist, nicht zu berücksichtigen. Noch ist man drittens notwendigerweise verpflichtet, Gründen, die sich aus sogenannten »Zivilitätserwägungen« ableiten (z. B. den Gütern sozialer Stabilität oder Frieden), immer Vorrang über Gründe einzuräumen, die sich aus sogenannten »inhaltlichen« Überlegungen (z. B. der Schutz ungeborenen Lebens im Falle der Abtreibungsdebatte) ergeben. 84 Für diese argumentative Strategie spricht zudem, dass Wall durch die prinzipielle Negierung der Priorität von JR über JS bzw. der Negierung einer möglichen Kompatibilität beider Rechtfertigungsbegriffe zur Übernahme und Verteidigung äußerst unplausibler und im Grunde anti-liberaler Thesen gezwungen wird, was ich im Folgenden detaillierter darlegen werde.
4.2.3 Der anti-liberale Charakter des sektiererischen Modells In der Auseinandersetzung mit Walls Argumenten gegen die These, dass Überlegungen, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen, einer starken Öffentlichkeitsbedingung bzw. den Anforderungen eines öffentlichen Vernunftgebrauchs genügen müssen, wird nun eine logische Entwicklung in der Position Walls sichtbar, die sein Modell eines Perfektionistischen Liberalismus letztlich in antiliberales Gewässer führt: In Liberalism, Perfectionism and Restraint von 1998 geht Wall noch davon aus, dass er die Ausführungen Gaus’ widerlegen kann, ohne dessen moralischen Rechtfertigungsbegriff direkt angreifen zu müssen (siehe 4.1.2.1 und 4.2.1). Meine Analyse, dass dies nicht gelingen kann (siehe 4.2.1), wird dadurch bestätigt, Mir geht es an dieser Stelle lediglich darum nachzuweisen, dass Walls Kritik an Gaus und der Priorität von JR über JS nicht zwingend ist, weil man – wie Eberle – diese Priorität auch in einem temporalen bzw. konsekutiven Sinne interpretieren kann. Ich werde später dafür argumentieren, dass man diese Priorität auch in einem prinzipiellen Sinne akzeptieren kann, ohne damit zugleich zur Übernahme eines Neutralitätsprinzips verpflichtet zu sein (siehe 7.2).
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dass Wall in seinen Artikeln Perfectionism in Politics und On Justificatory Liberalism von 2009 und 2010 diese Prämisse fallen lässt. Wie wir sahen (siehe 4.1.2.2; 4.1.2.3 und 4.2.2), entwickelt er dort Kritikmöglichkeiten, die in Liberalism, Perfectionism and Restraint jeweils nur angedeutet sind, indem er dem Internalismus von Gaus und dessen relationalen Verständnis politischer Rechtfertigung einen Externalismus in Bezug auf Handlungsgründe und eine einfache Konzeption politischer Rechtfertigung entgegenhält, die die Plausibilität von Gaus’ moralischem Rechtfertigungsbegriff unterminieren sollen. Diese Entwicklung wird in gewisser Weise in On Justificatory Liberalism vollendet, wenn er dort die sogenannte »Freiheitsvermutung« (presumption of liberty) – eine zentrale Prämisse des Gausschen Gedankengangs – zu widerlegen versucht, von der er noch ein Jahr vorher in Perfectionism in Politics überzeugt war, sie zugestehen zu können bzw. für eine erfolgreiche Kritik an Gaus nicht direkt angreifen zu müssen (siehe 4.1.2.3). 85 Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung der Position Walls verfolge ich in diesem Unterabschnitt ein zweifaches Ziel: Zum einen möchte ich verständlich machen, was Wall letztlich dazu bewegt, die – zumindest prima facie äußerst plausible – Freiheitsvermutung anzugreifen. Zum anderen gilt es, kritisch die oben aufgeschobene Frage (siehe 4.1.2.3) zu untersuchen, ob dieser Versuch glückt und es ihm gelingt, die Beweislast zu egalisieren oder sogar zu Gunsten seines Modells eines Perfektionistischen Liberalismus zu verschieben. Ich beginne mit dem erstgenannten Punkt. Warum greift Wall in On Justificatory Liberalism die Freiheitsvermutung an? Ich bin nun in der Lage, neben der bereits weiter oben (siehe 4.1.2.3) angebotenen synchronen bzw. argumentationstheoretischen Erklärung, dafür ergänzend eine diachrone bzw. werkimmanente Plausibilisierung anzubieten, die an meine Ausführungen im unmittelbar vorhergehenden Unterabschnitt anknüpft. Wir sahen dort, dass es für Wall in Perfectionism in Politics von entscheidender Bedeutung ist, Argumente gegen die Priorität einer relationalen Konzeption politischer Rechtfertigung JR vor einer einfachen Konzeption politischer Rechtfertigung JS vorzubringen. Die Schwierigkeit für Wall besteht darin, dass diese Priorisierung – unabhängig davon, ob man sie im Sinne von Gaus bzw. Wall als exklusiv oder in Eberles Sinne als temporal
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Vgl. Wall, »Perfectionism in Politics«, 110.
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bzw. konsekutiv interpretiert – zumindest prima facie äußerst plausibel erscheint. Dies lässt sich durch folgende Überlegung verständlich machen: Im Gegensatz zur Rechtfertigung einer rein privaten Überzeugung geht es im Kontext öffentlicher bzw. politischer Rechtfertigung darum, den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt zu rechtfertigen, d. h. eine Überzeugung zu rechtfertigen, deren politische Umsetzung oder Durchsetzung die Forderung an eine andere Person impliziert, einem Eingriff in ihre Freiheit zuzustimmen. Anders formuliert: Wenn eine andere Person sich für die Durchsetzung einer politischen Maßnahme (M) einsetzt, die die Forderung (F) impliziert, dass ich einer Einschränkung meines Freiheitsgebrauchs zustimme, dann erscheint es äußerst plausibel, sich nicht mit dem Hinweis zufrieden zu geben, dass objektive Gründe für die Umsetzung von (M) sprechen und diese Person von ihrem epistemischen Standpunkt aus subjektiv gerechtfertigt ist, von der Richtigkeit der politischen Realisierung von (M) überzeugt zu sein, sondern darüber hinaus zu erwarten, dass diese Person sich auch an mich wendet und mir die Überlegungen nennt, von denen sie annimmt, dass sie in einem subjektiven und objektiven Sinne begründen, warum ich einem solchen Eingriff in meine Freiheit zustimmen sollte. Eine relationale Konzeption politischer bzw. öffentlicher Rechtfertigung erscheint deshalb so plausibel, weil sie der grundlegenden Intuition Rechnung trägt, dass wir – solange wir damit nicht andere schädigen – berechtigt und fähig sind, ein Leben gemäß unseren eigenen Überzeugungen und Wertvorstellungen zu leben. Dementsprechend liegt die Beweislast bei demjenigen, der unsere diesbezügliche Freiheit bzw. Autonomie einschränken möchte. Diese Intuition ist nichts anderes als die von Gaus proklamierte »Freiheitsvermutung« (presumption of liberty) bzw. das von Wall titulierte »Grundlegende Freiheitsprinzip« GF. 86 Es ist somit diese Freiheitsvermutung bzw. GF, die nicht nur für eine Priorität von JR über JS spricht, sondern zugleich die Beweislast in der Kontroverse zwischen Wall und Gaus bzw. einem Perfektionistischen und einem Anti-Perfektionistischen Liberalismus zu Ungunsten von Wall bzw. einem Perfektionistischen Liberalismus verschiebt. Es ist somit die Negierung der Priorität von JR über JS, die Wall letztlich dazu zwingt, GF anzugreifen und abzulehnen. 86
Vgl. »On Justificatory Liberalism«, 125.
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Damit komme ich zum zweiten Ziel, das ich mir in diesem Unterabschnitt gesetzt haben, nämlich der Beantwortung der Frage, ob Walls Angriff auf GF zu überzeugen weiß und es ihm damit gelingt, in der Auseinandersetzung mit Gaus bzw. dessen Anti-Perfektionismus die Beweislast zu egalisieren oder sogar umzukehren. Wall versucht dies mittels eines Asymmetriearguments, dessen Ausgangspunkt die sogenannte Freiheitsvermutung bzw. das grundlegende Freiheitsprinzip GF ist 87: (1) Es ist grundsätzlich zu vermuten oder anzunehmen, dass erwachsenen, gesunden und durchschnittlich intelligenten und gebildeten Personen ein moralischer Status ST zukommt, welcher andere Personen verpflichtet, sie als Menschen zu behandeln, die berechtigt und fähig sind, ein Leben gemäß ihrer eigenen Vorstellung von einem guten Leben zu wählen und zu führen. Aus (1) leitet sich die Priorität von JR über JS – hier in einem temporalen bzw. konsekutiven Sinne interpretiert – ab: (2) Die Rechtfertigung einer politischen Maßnahme (M) durch eine Person A, die einen Eingriff in die Freiheit einer Person B impliziert, ein Leben gemäß ihrer eigenen Vorstellung von einem guten Leben wählen und führen zu können, stellt nur dann keine Verletzung des moralischen Status (ST) von B dar, wenn A sich aufrichtig und ernsthaft darum bemüht, B Überlegungen zu nennen, die B als vollständig rationale Person als Gründe für eine Rechtfertigung von (M) akzeptieren kann. Gegen GF bzw. (1) und (2) führt Wall nun ein Asymmetrieargument an, welches besagt, dass die folgenden beiden Fälle eine Gleichbehandlung erfordern, aber GF eine Ungleichbehandlung impliziert, die nicht zu rechtfertigen ist. Zu unterscheiden sind zwei Fälle: Fall 1 = Person A unternimmt prima facie eine moralisch tadelnswerte Handlung (H), wenn A in die Freiheit von Person B eingreift und B daran hindert bzw. darin einschränkt, ein Leben
Um meinen Kritikpunkt deutlicher zu machen, weiche ich etwas von den von Gaus und Wall vorgeschlagenen Formulierungen ab. Diese Umformulierungen implizieren aber keine sachliche bzw. inhaltliche Abweichung.
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gemäß ihrer eigenen Vorstellung von einem guten Leben wählen und führen zu können. Fall 2 = Person A unternimmt prima facie eine moralisch tadelnswerte Handlung (H), wenn A ein Gut von B fördern oder schützen könnte, es aber unterlässt. Das entscheidende Argument Walls lautet nun: (3) GF impliziert, dass nur in Fall 1 Person A (H) rechtfertigen muss. Dies ist aber unplausibel, da wir A für (H) auch in Fall 2 moralisch tadeln, was bedeutet, dass wir auch hier von A erwarten, dass er seine Unterlassung rechtfertigt. Mit anderen Worten: Entgegen GF ist nicht nur ein Eingreifen in die Freiheit Dritter, sondern auch ein Nicht-Eingreifen prinzipiell rechtfertigungsbedürftig. Daraus folgt eine Egalisierung der Beweislast: (4) Wenn von Person A verlangt wird, ihre Unterstützung für eine perfektionistische politische Maßnahme (M), die einen Eingriff in die Freiheit von Person B impliziert, gegenüber B zu rechtfertigen, so muss umgekehrt auch von B verlangt werden, ihren Widerstand gegen (M) gegenüber A zu rechtfertigen. Eine solche Gleichbehandlung ist geboten, da A nicht nur moralisch dafür getadelt werden kann, dass er in die Freiheit von B eingreift, ohne sich ernsthaft darum zu bemühen, B Überlegungen zu nennen, die B als Gründe akzeptieren kann, sondern auch A von B dafür zur Rechenschafft gezogen werden kann, dass A in der Lage war, ein Gut von B zu fördern bzw. zu schützen, es aber nicht getan hat. Das Problem in Walls Argumentation liegt in Schritt (3), ohne den nicht auf (4) geschlossen werden kann. Es kann zugestanden werden, dass GF eine Ungleichbehandlung der Fälle 1 und 2 impliziert, aber im Gegensatz zu den Ausführungen Walls kann gezeigt werden, dass die asymmetrische Behandlung dieser Fälle sich rechtfertigen lässt. Die Rechtfertigung einer solchen Asymmetrie liegt darin begründet, dass prima facie im Fall 1 immer eine moralische tadelnswerte Handlung vorliegt, während dies im Fall 2 prima facie nur manchmal so ist. Dies kann folgendermaßen untermauert werden:
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(5) Person A ist für (H) im Fall 2 nur dann moralisch zu tadeln, wenn Person B nachweislich nicht in der Lage ist, ein für die Realisierung ihrer Vorstellung eines guten Lebens wichtiges Gut zu schützen oder zu erreichen, und es Person A möglich ist, durch einen Eingriff in die Freiheit von B und ohne einen größeren Verzicht auf die Realisierung oder Bewahrung eigener Güter dafür zu sorgen, dass B dieses Gut erreichen bzw. bewahren kann. Man kann den Punkt auch so formulieren: Es erscheint äußerst plausibel, dass wir immer von jemand eine Rechtfertigung für sein Handeln verlangen, wenn er in unsere Freiheit eingreift, um ein für uns wichtiges Gut zu fördern bzw. zu schützen. Sein Verhalten unterstellt notwendigerweise, dass wir selbst nicht oder nur ungenügend fähig sind zu beurteilen, was gut bzw. schlecht für uns ist oder wir uns hinsichtlich der Guthaftigkeit bzw. Schädlichkeit eines unserer Handlungsziele irren bzw. diese nicht erkennen. Der Respekt vor uns als potentiell rationale Personen verpflichtet diese Person, uns Anhaltspunkte für einen solchen Irrtum bzw. Gründe dafür zu nennen, warum wir der durch ihr vorgenommenen Einschränkung unserer Freiheit zustimmen sollten. Es erscheint aber äußerst unplausibel, dass wir von jemand verlangen, dass er seine Unterlassung bzw. sein Nicht-Eingreifen zu Gunsten unseres Guts rechtfertigt, wenn wir selbst in der Lage gewesen sind, das zur Disposition stehende Gut zu realisieren bzw. zu bewahren. Dahinter steht die Intuition, dass wir zunächst einmal selbst für das Gelingen unseres Lebens verantwortlich sind bzw. dafür, es vor selbstverschuldetem Schaden zu bewahren. Tadelt eine Person B in einem solchen Fall Person A und verlangt eine Rechtfertigung für ihre Unterlassung bzw. ihr Nicht-Eingreifen, dann unterminiert sie ihren eigenen moralischen Status als Person, die grundsätzlich berechtigt und fähig ist, ein Leben nach ihrer eigenen Vorstellung von einem guten Leben zu wählen und zu führen. Es hieße eine andere Person dafür zu tadeln, dass sie einen mit dem Respekt behandelt, der einem aufgrund des eigenen Status als moralische bzw. freie und gleiche Person zusteht. Die Plausibilität von (5) zeigt demnach, dass Walls Schluss von (3) auf (4) unzulässig ist. Eine asymmetrische Behandlung der Fälle 1 und 2 gemäß GF ist gerechtfertigt, weshalb Walls Asymmetrieargument nicht funktioniert und es ihm nicht gelingt, die Beweislast zu 234
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egalisieren, geschweige denn zu Gunsten seines Modells eines Perfektionistischen Liberalismus zu verschieben. Es hat vielmehr den Anschein, dass Walls Politischer Perfektionismus in der Auseinandersetzung mit den von Rawls und Gaus präsentierten Konzeptionen öffentlicher Rechtfertigung zunehmend anti-liberale Züge offenbart, was besonders ersichtlich wird in der Negierung der Priorität von JR vor JS und der Bereitschaft, ein liberales commitment zum moralischen Status quo in Frage zu stellen, nach dem die Beweislast bei demjenigen ist und sich derjenige rechtfertigen muss, der durch sein Verhalten andere in ihrer Freiheit einschränkt, ein Leben wählen und führen zu können, dass ihrer Vorstellung von einem guten Leben entspricht. Letztlich hat sein Modell eines Perfektionistischen Liberalismus sich aber nicht nur von liberalen Grundüberzeugungen verabschiedet, sondern ist in seiner Ablehnung einer relationalen Konzeption politischer bzw. öffentlicher Rechtfertigung auch zu einem sektiererischen Rechtfertigungsmodell des Gebrauchs politischer bzw. staatlicher Zwangsgewalt mutiert. Gemeint ist damit – in Anlehnung an eine Formulierung von Gaus –, dass es gemäß Wall in der Öffentlichkeit P Fälle geben kann, in denen der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt (PM) Legitimität beanspruchen kann, auch wenn er ausschließlich mit einer Überlegung (α) gerechtfertigt wird, die nur für eine Teilmenge TP von P als ein Grund (G) anerkannt werden kann, der (PM) rechtfertigt. 88 So hat er zwar kontroversen perfektionistischen Überzeugungen erfolgreich eine Rolle im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt verschafft, dies allerdings zu dem Preis, dass sein Modell eines Perfektionistischen »Liberalismus« nicht mehr als eine attraktive »liberale« Alternative zu einem Politischen Liberalismus wahrgenommen werden kann. Da Vgl. Gaus, »Sectarianism«, 8. Ich werde im siebten Kapitel dieser Arbeit deutlich machen, warum und inwiefern sich meine eigene Position von einem solchen sektiererischem Modell eines Perfektionistischen Liberalismus unterscheidet. In aller Kürze an dieser Stelle nur so viel: Ich akzeptiere die Priorität von JR gegenüber JS, was bedeutet, dass Mitglieder von TP zwar auf (α) rekurrieren dürfen, um (PM) zu rechtfertigen – also (G) eine Rolle im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung spielt –, aber (PM) erst Legitimität beanspruchen kann, wenn den anderen Mitgliedern von (P) ebenfalls Überlegungen genannt werden, die sie aus ihrer epistemischen Perspektive als Gründe für die Rechtfertigung von (PM) akzeptieren können. Dass die Akzeptanz der Priorität von JR über JS mich wiederum nicht auf die Übernahme eines Neutralitätsprinzips verpflichtet, liegt daran, dass ich zwischen einer Konsens- und einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung unterscheide (siehe 7.1.2.1).
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derzeit führende Liberale wie Gaus sich vornehmlich mit Autoren wie Wall auseinandersetzen, ist es für mich nicht verwunderlich, dass ein Politischer Perfektionismus noch so wenig als Alternative innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie erörtert und ernst genommen wird.
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5. Die konstruktive Schwäche des quasi-naturrechtlichem Modells
Da Walls sektiererisches Modell eines Perfektionistischen Liberalismus sich als nicht in der Lage erweist, das mit der Entkräftung des Asymmetrievorwurfs entstandene Problem der öffentlichen Rechtfertigung zu lösen, bietet es sich an zu untersuchen, ob ein anderes Modell dazu in der Lage ist. Dieses Modell kann aus den Arbeiten von Sher rekonstruiert werden und als »quasi-naturrechtliches« Modell bezeichnet werden. Diese Bezeichnung bietet sich an, weil Shers argumentative Strategie darin besteht, das Problem der öffentlichen Rechtfertigung mit dem Problem der Rechtfertigung des Objektivitätsanspruchs einer Theorie eines guten Lebens zu identifizieren. 1 Die Grundidee ist hier, dass sich das Problem der öffentlichen Rechtfertigung auflöst, wenn es gelingt – ähnlich wie bei klassischen Naturrechtstheorien – die objektive Gutheit einer Menge von Aktivitäten, Lebensweisen und Charaktereigenschaften in einer einheitsgebenden Weise zu rechtfertigen. Auf diese Weise kann der These Quongs widersprochen werden, dass es unter den Bedingungen eines Ich bezeichne Shers Modell bzw. seinen Lösungsansatz als »quasi«-naturrechtlich, weil – wie sich zeigen wird – er glaubt, für dieses Unterfangen ohne einen Bezug auf kontroverse metaphysische bzw. essentialistische Annahmen über die menschliche Natur auskommen zu können und sich damit von »traditionellen« bzw. »klassischen« naturrechtlichen Ansätzen unterscheidet, vgl. Sher, Beyond Neutrality, 19. Gemäß meiner Terminologie lässt sich Sher also – in einem weiten bzw. methodologischen Sinne – der Schule der sogenannten »new natural law theory« zuordnen, deren bekanntester Vertreter sicherlich John Finnis ist, vgl. John Finnis, Natural Law and Natural Rights (Oxford: Clarendon, 1980). Ein »klassischer« bzw. »traditioneller« naturrechtlicher Ansatz wird hingegen z. B. vertreten von Anthony J. Lisska, Aquinas’s Theory of Natural Law: An Analytic Reconstrution (Oxford: Clarendon Press, 1996). Einen Überblick über die Unterschiede zwischen beiden naturrechtlichen Schulen und eine knappe Erläuterung der Charakteristika einer »klassischen« bzw. »traditionellen« Naturrechtstheorie bietet David S. Oderberg, »Natural Law and Rights Theory«, in The Routledge Companion to Social and Political Philosophy. Gerald F. Gaus und Fred D’Agostino (Hg.) (New York: Routledge, 2013). 1
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vernünftigen Pluralismus zum Verlust eines gemeinsamen Rechtfertigungsrahmens hinsichtlich Fragen des guten Lebens kommt, woraus wiederum folgt, dass eine asymmetrische Behandlung von Argumenten im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung, die auf kontroverse Gerechtigkeitskonzeptionen rekurrieren, und Argumenten, die von der Akzeptanz kontroverser Gerechtigkeitskonzeptionen abhängig sind, nicht gerechtfertigt ist. Systematisch gesehen kann Shers Modell also als ein Versuch verstanden werden, die mit Quong aufgewiesene defensive Schwäche eines Perfektionistischen Liberalismus über das konstruktive Element zu sanieren, welches im sektiererischen Modell von Wall fast kaum ausgearbeitet worden ist.
5.1 Das quasi-naturrechtliche Modell 5.1.1 Identifikation des Problems Bevor ich untersuchen kann, ob und inwieweit Shers quasi-naturrechtliches Modell eines Perfektionistischen Liberalismus über die Ressourcen verfügt, um das durch Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs aufgeworfene Problem der öffentlichen Rechtfertigung zu lösen, gilt es – in Analogie zur Vorgehensweise bei Wall (siehe 4.1.1) – sich in einem ersten Schritt zu vergewissern, dass das Stellen dieser Frage methodisch unproblematisch ist. Mit anderen Worten: Ist es legitim, in Shers Beyond Neutrality von 1997 eine Lösung für ein Problem zu suchen, das Quong 2011 in Liberalism without Perfectionism formuliert? Die hier gegebene Antwort auf diese Frage kann wiederum nur lauten, dass ich nicht versuche eine chronologische Rekonstruktion der Kontroverse zwischen Anti-Perfektionistischen und Perfektionistischen Liberalen vorzunehmen, sondern danach trachte, diese Debatte in einem argumentationstheoretischen bzw. dialektischen Sinne zu rekonstruieren und voranzubringen. 2 Ich gehe hierbei von der Annahme aus, dass es das Verdienst Quongs ist, ein Problem des Perfektionistischen Liberalismus in einer Art und Weise explizit sichtbar gemacht zu haben, so dass rückblickend auf die schon präsentierten Entwürfe einer solchen Position deutlich wird, dass es verschiedene Modelle gibt, die sich gerade daran unterscheiden lassen, dass sie eine 2
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Vgl. dazu auch Fußnote 235.
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ähnliche Problemstellung antizipiert und jeweils andere Lösungsvorschläge für sie entwickelt haben. Meine Aufgabe wird insofern zunächst darin bestehen nachzuweisen, dass Sher mit seinem Entwurf eines Perfektionistischen Liberalismus beansprucht, eine Antwort für ein Problem zu finden, das in etwa mit dem vergleichbar ist, was Quong herausgearbeitet hat. Wo trifft Sher mit seinem quasi-naturrechtlichen Modell auf ein solches Problem? Um diese Frage beantworten zu können, ist es erforderlich, einen kurzen Überblick über die Argumentation zu geben, die Sher in Beyond Neutrality entwickelt. Sieht man von der Einleitung und einem kürzeren analytischen Teil ab, in dem er sich mit der Bedeutung und dem Umfangsbereich des Neutralitätsprinzips auseinandersetzt 3, so teilt sich sein Werk in zwei Teile. Der erste Teil umfasst die Kapitel 3 bis einschließlich 6 und entspricht dem, was ich als »defensives Element« eines Perfektionistischen Liberalismus bezeichnet habe. Er setzt sich auf diesen Seiten mit epistemologischen, soziologischen, pragmatischen und moralischen Argumenten Anti-Perfektionistischer Liberaler auseinander, die behaupten, dass Befürworter einer liberalen Konzeption Politischer Philosophie zur Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips verpflichtet sind, und zwar aufgrund des Wertes von Autonomie (Kapitel 3), des Respekts vor Autonomie (Kapitel 4), des Festhaltens an einer stabilen sozialen Kooperation und individuellen Freiheitsrechen (Kapitel 5), sowie aufgrund epistemologischer bzw. skeptischer Überlegungen (Kapitel 6). Ein Problem, dass dem von Quong formulierten in etwa entspricht, taucht im zweiten Teil von Beyond Neutrality auf, in dem Sher das »konstruktive Element« seines Perfektionistischen Liberalismus entfaltet und der die Kapitel 7 bis 10 umfasst. Schon auf den ersten Seiten von Beyond Neutrality benennt Sher als eines der Hauptziele seiner Untersuchung, dass er in diesem zweiten Teil zeigen will, dass eine asymmetrische Behandlung von Gerechtigkeitsfragen bzw. Fragen des guten Lebens ungerechtfertigt ist. 4 Diese Ungleichbehandlung ist aus seiner Sicht ungerechtfertigt, weil es – ebenso wie in Gerechtigkeitsfragen – bei Fragen des guten Lebens »universal anwendbare Standards« (universally applicable standards) gibt, mittels derer in Deliberationen, Konflikten bzw. Uneinigkeiten bestimmt werden kann, ob eine Konfliktpartei Überlegungen für ihre 3 4
Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 1–44. Vgl. ibid., ix-x; 7.
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jeweilige Position vorbringt, von denen sie vernünftigerweise erwarten kann, dass sie von der gegnerischen Konfliktpartei als Gründe anerkannt werden können. 5 Der ganze zweite Teil von Shers Arbeit ist deshalb dem Nachweis gewidmet, dass der Objektivitätsanspruch – in einem realistischen Sinne verstanden (siehe 2.2.2.2) – einer Theorie eines guten Lebens oder einer Werttheorie, die bestimmte Aktivitäten, Eigenschaften oder Beziehungen für intrinsisch bzw. inhärent wertvoller erklärt als andere (Kapitel 9), sich gegen anti-realistische bzw. konstruktivistische Werttheorien kommunitaristischer Denker (Kapitel 7) sowie subjektivistische Werttheorien (Kapitel 8) verteidigen lässt. Damit antizipiert Sher das von Quong formulierte Problem, denn eine Ungleichbehandlung von Argumenten, die von kontroversen Überlegungen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, und Argumenten, die von kontroversen Überlegungen darüber abhängen, was gerecht ist, ist nur dann nicht gerechtfertigt, wenn Sher demonstrieren kann, dass dem Faktum eines vernünftigen Pluralismus bzw. den Bürden der Urteilskraft auch bei Fragen des guten Lebens eine Grenze gesetzt ist. Anders formuliert: Genau wie bei Gerechtigkeitsfragen führen die Bürden der Urteilskraft bei Fragen des guten Lebens nicht zu einer vernünftigen Uneinigkeit im Sinne einer Relevanzuneinigkeit, d. h. zu einem Verlust eines gemeinsamen Rechtfertigungsrahmens bzw. aller Kriterien, von denen her bestimmt werden könnte, von welchen Überlegungen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie die jeweiligen Konfliktpartner als Grund für einen Eingriff in ihre Freiheit akzeptieren können, sondern lediglich zu einer vernünftigen Uneinigkeit im Sinne einer Gewichtungsuneinigkeit. Shers Lösungsvorschlag – auf den ich inhaltlich weiter unten genauer eingehen werde – stellt rein formal betrachtet demnach einen Angriff auf den zweiten argumentativen Schritt von Quong dar (siehe 3.2). Der erste Schritt in Quongs Argumentation bestand darin aufzuzeigen, dass sich mit »Relevanzuneinigkeiten« und »Gewichtungsuneinigkeiten« zwei Typen eines vernünftigen Dissenses unterscheiden lassen, aber nur Relevanzuneinigkeiten problematisch sind, weil sie die öffentliche Rechtfertigung politischer Maßnahmen verunmöglichen. In einem zweiten Schritt behauptete Quong dann, dass Konflikte über Gerechtigkeitsfragen notwendigerweise Instanzi5
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Vgl. ibid., ix.
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ierungen des unproblematischen Typs vernünftiger Uneinigkeit sind – also Gewichtungsuneinigkeiten darstellen –, während Konflikte über Fragen des guten Lebens fast immer dem problematischen Typ vernünftiger Uneinigkeit zuzuordnen sind, also Relevanzuneinigkeiten sind. Im Gegensatz zu Wall besteht die Strategie Shers nun darin, den ersten Schritt von Quongs Gedankengang zu akzeptieren, d. h. darin einzuwilligen, dass es problematisch ist, den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten zu rechtfertigen, die nicht den Standards einer öffentlichen Rechtfertigung genügen. Anders als Wall lehnt Sher demnach den von Quong konstruierten Legitimitätstest nicht ab, wonach der Gebrauch politischer Macht nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn er mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von Annahmen abhängig sind, die im Sinne einer Gewichtungsuneinigkeit »kontrovers« sein können, hingegen als illegitim qualifiziert werden muss, wenn er mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von Annahmen abhängig sind, die im Sinne einer Relevanzuneinigkeit »kontrovers« sind. Greift man auf Shers quasi-naturrechtliches Modell eines Perfektionistischen Liberalismus zurück, dann besteht die Erwiderung auf Quongs Problem darin zu bestreiten, dass Konflikte über Fragen des guten Lebens fast immer problematisch sind bzw. sein müssen. Die Bemühungen Shers müssen also darauf gerichtet sein aufzuzeigen, dass sich eine objektive Theorie des guten Lebens verteidigen lässt, die auch unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus lediglich zu Gewichtungs- nicht aber zu Relevanzuneinigkeiten führt. Gelingt dies, dann sind politische Maßnahmen, die mit Argumenten gerechtfertigt werden, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, genauso legitim, wie politische Maßnahmen, die mit Argumenten gerechtfertigt werden, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was gerecht ist, weil die für die Rechtfertigung dieser Maßnahmen gebrauchten Argumente in beiden Fällen den Legitimitätstest bestehen. In beiden Fällen werden der Konfliktpartei Überlegungen genannt, die diese vielleicht anders gewichtet, aber von denen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sie für die Lösung des Problems als relevant und damit als Gründe anerkennt. Eine asymmetrische Behandlung der beiden Typen von Argumenten ist demnach ungerechtfertigt, weil es in beiden Fällen ein gemeinsames »normatives Koordinatensystem«, einen gemeinsamen »Rechtfertigungsrahmen« gibt, der auch unter den Bedingungen Perfektionistischer Liberalismus
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eines vernünftigen Pluralismus nicht verloren geht und von dem her beurteilt werden kann, von welchen Überlegungen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie der Konfliktpartner als relevant bzw. als Grund anerkennt. Bevor ich darauf eingehen kann, wie Sher gedenkt, eine solche Theorie des guten Lebens zu entwerfen und zu verteidigen, und kritisch untersuchen kann, ob ihm dieses Unterfangen gelingt, muss ich mich vorher aber noch mit einem Einwand gegen meinen bisherigen Gedankengang auseinandersetzen. Ich behaupte, dass sich in Bezug auf die Arbeiten von Sher und Wall berechtigterweise von zwei »Modellen« eines Perfektionistischen Liberalismus sprechen lässt, weil sie sich in pragmatischer Hinsicht darin unterscheiden, welche Lösungsvorschläge sie für ein Problem unterbreiten, das sie in gewisser Weise antizipieren, aber welches in systematischer Weise erst von Quong explizit gemacht wird. Gegen diese These bzw. deren Begründung könnte nun eingewendet werden, dass es nur den Anschein hat, dass es sich hier um zwei Modelle eines Perfektionistischen Liberalismus handelt, weil ich nicht berücksichtige, dass Sher im vierten Kapitel von Beyond Neutrality in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten von John Rawls und Ronald Dworkin einen Lösungsvorschlag entwickelt, der mit dem von Wall in etwa identisch ist. Anders formuliert: Die von mir behauptete Unterschiedlichkeit der Lösungsansätze resultierte nur daraus, dass ich bei Sher an der falschen Stelle danach suche, wo er das von Quong formulierte Problem antizipiert und eine entsprechende Lösung für dieses Problem entwickelt. Ich möchte diesen Einwand ernst nehmen und deshalb überprüfen, ob das genannte Kapitel eine ausreichende Grundlage bietet, um einen solchen Vorwurf zu nähren. Im vierten Kapitel von Beyond Neutrality setzt sich Sher mit dem anti-perfektionistischen Argument auseinander, welches besagt, dass Bürger einer liberalen Gesellschaft Grund haben, ein Neutralitätsprinzip zu akzeptieren, weil ein Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt, der mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von kontroversen Urteilen über den intrinsischen Wert bestimmter Lebensweisen abhängig sind, notwendigerweise im Widerspruch zu der Überzeugung steht, dass Bürger als freie und gleiche Personen zu respektieren sind. Mit anderen Worten: Ein anti-perfektionistisches Neutralitätsprinzip erklärt den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt für illegitim, wenn er ausschließlich mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, weil derartige Argu242
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mente und ein daraus resultierendes Staatshandeln den nötigen Respekt vor Bürgern als autonome Personen vermissen lassen. 6 Welche Strategie wählt Sher nun, um dieses Argument zu widerlegen? Ausgangspunkt für Sher ist zunächst die Klärung der Frage, ob Gegner oder Befürworter eines anti-perfektionistischen Beschränkungsprinzips die Beweislast zu tragen haben. Für Sher liegt auf der Hand, dass Anti-Perfektionistische Liberale in einer Bringschuld sind, denn es erscheint intuitiv unplausibel, ohne eine weitere Rechtfertigung ein Beschränkungsprinzip zweiter Ordnung zu akzeptieren, das eine Menge von Gründen erster Ordnung von praktischen Abwägungen darüber ausschließt, ob eine politische Maßnahme gerechtfertigt ist oder nicht. Warum sollen Urteile darüber, was ein gutes Leben ist und ausmacht, und die sich daraus ableitenden Gründe, die uns sonst in unserem alltäglichen Handeln leiten, bei politischen Entscheidungen keinerlei Rolle spielen dürfen? 7 Es scheint zunächst einmal plausibel, auch bei Abwägungen über den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt alle Gründe zu berücksichtigen, die für oder gegen die zur Diskussion stehende Frage sprechen. Die Beweislast liegt somit bei demjenigen, der dafür plädiert, eine bestimmte Menge von Gründen gar nicht erst in den Abwägungs- bzw. Rechtfertigungsprozess mit einfließen zu lassen. Was es braucht, ist eine Begründung bzw. Rechtfertigung dafür, warum man als praktisch rationaler Mensch ein solches anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip akzeptieren sollte. 8 Im Gegensatz zu seiner ansonsten themenzentrierten Vorgehensweise wählt Sher in diesem Kapitel einen autorenzentrierten Ansatz und argumentiert, dass es, wenn die Theorien von John Rawls und Ronald Dworkin – als zwei prominenten Vertretern eines Arguments für Neutralität aufgrund des Respekts vor der Autonomie von Personen – nicht in der Lage sind zu begründen, warum man ein solches Beschränkungsprinzip übernehmen sollte, plausibel erscheint, das Neutralitätsprinzip als ungerechtfertigt abzulehnen. 9 Bezüglich beider Autoren kommt Sher zu dem Schluss, dass ihre Theorien nicht in der Lage sind, in einer nicht-zirkulären Weise nachzuweisen, dass die Ablehnung eines Neutralitätsprinzips zugleich bedeutet, Men6 7 8 9
Vgl. ibid., 72. Vgl. ibid., 73. Vgl. ibid., 75. Vgl. ibid., 76.
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schen nicht mit dem erforderlichen Respekt zu behandeln, der ihnen als freie und gleiche Personen zusteht, und dieses anti-perfektionistische Argument deshalb von Perfektionistischen Liberalen zurückgewiesen werden kann. 10 Kommen wir aber nach diesem kurzen formalen Überblick über die argumentative Strategie Shers im vierten Kapitel von Beyond Neutrality zurück zu dem Einwand, den ich zu entkräften suche. Was spricht gegen die Behauptung, dass Sher an dieser Stelle einen Lösungsvorschlag entwickelt, der dem von Wall in Liberalism, Perfectionism and Restraint und späteren Artikeln entspricht? Ohne mich zu sehr in Details verlieren zu müssen, lassen sich hier zwei Beobachtungen nennen. Ein erster Unterschied liegt darin, wie Sher die Theorien von Rawls und Dworkin, und Wall die Arbeiten von Rawls und Gaus zueinander ins Verhältnis setzen. Sher behandelt die Theorien von Rawls und Dworkin als voneinander unabhängige und alternative Theorien bzw. als Varianten des Arguments für Neutralität aufgrund des Respekts vor der Autonomie von Personen, die entweder von einem bestimmten Personenbegriff oder von der Vorstellung eines grundlegenden Rechts auf Gleichbehandlung und Respekt ausgehen. 11 Wall hingegen greift auf Gaus zurück, um die Frage zu erörtern, ob das Rawlssche Transparenzargument vor dem Vorwurf der Zirkularität gerettet werden kann, indem eine unabhängige Begründung dafür geliefert wird, warum man die Öffentlichkeitsbedingung für die Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt in einem starken bzw. Rawlsschen Sinne interpretieren sollte (siehe 4.1). Doch selbst wenn man sehr großzügig ist und erlaubt, Shers viertes Kapitel so zu reinterpretieren, dass er dort zunächst die Zirkularität der Rawlsschen Argumentation aufweist, um dann zu demonstrieren, dass diese Zirkularität auch ohne einen Rückgriff auf die Arbeiten von Dworkin aufgelöst werden kann – sich die argumentativen Taktiken von Sher und Wall also parallelisieren lassen –, so zeigt sich ein weiterer entscheidender Unterschied. Wenn sich die Lösungsvorschläge von Sher und Wall wirklich gleichen sollen, dann müsste Sher in der Auseinandersetzung mit Dworkin in irgendeiner Weise auch den von Gaus vorgeschlagenen moralischen Rechtfertigungsbegriff ablehnen und eine Variante von Walls einfachem Rechtfertigungsbegriff übernehmen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Shers Argumen10 11
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Vgl. ibid., 92; 104. Vgl. ibid., 92.
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tation läuft an den entscheidenden Stellen darauf hinaus, dass ein perfektionistisches staatliches Handeln nur dann gerechtfertigt ist, wenn es auch im – wenigstens hypothetischen – Interesse der Person ist, die von diesem Handeln betroffen ist. 12 Maßgeblich für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Gewalt ist also nicht die Perspektive der ersten Person Singular – wie bei Wall –, sondern eine Art von Wir-Perspektive, wonach der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur dann legitim ist, wenn nachgewiesen werden kann, dass sie im Interesse einer jeden vollständig rationalen Person ist, d. h., dass sie mit Überlegungen gerechtfertigt wird, die jede Person – insofern sie vollständig rational ist – als relevant bzw. als Grund anerkennen kann. Anders als bei Wall wird das Problem der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Gewalt von Sher also nicht dadurch zu lösen versucht, dass man eine relationale Konzeption politischer Rechtfertigung ablehnt und ihr eine einfache Konzeption politischer Rechtfertigung entgegenhält, sondern das Problem verschiebt sich auf die Frage, ob es möglich ist, eine solche Wir-Perspektive einzunehmen, d. h. unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus den Objektivitätsanspruch einer Theorie eines guten Lebens rechtfertigen zu können. Walls Auseinandersetzung mit dem Rawlsschen Transparenzargument und Shers Entkräftung des Arguments für Neutralität aufgrund des Respekts vor der Autonomie von Personen im vierten Kapitel von Beyond Neutrality weisen demnach gewisse Ähnlichkeiten auf, jedoch widerlegen die aufgezeigten Unterschiede den Einwand, dass die Lösungsvorschläge von Sher und Wall für das von Quong aufgeworfene Problem der öffentlichen Rechtfertigung politischer Maßnahmen identisch sind.
5.1.2 Zweistufiger Lösungsvorschlag Nachdem ich mich zum einen methodisch vergewissert habe, dass sich in Shers Beyond Neutrality das von Quong aufgeworfene Problem öffentlicher Rechtfertigung identifizieren lässt, und zum anderen die Behauptung verteidigt habe, dass Sher eine so von den Ausführungen Walls verschiedene Antwort auf dieses Problem gegeben hat, dass man zu Recht von einem anderen »Modell« eines Perfektio12
Vgl. ibid., 74; 92–104.
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nistischen Liberalismus sprechen kann, komme ich nun zur Begründung einer zweiten These. Ich behaupte, dass auch Shers quasi-naturrechtliches Modell nicht über die Ressourcen verfügt, um eine überzeugende Antwort auf die Herausforderung zu geben, mit der Perfektionistische Liberale durch Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs konfrontiert sind. Um diese These verteidigen zu können, ist es zunächst erforderlich, Shers Lösungsvorschlag genauer als bisher zu rekonstruieren. Wie im vorausgehenden Unterabschnitt dieses Kapitels schon grob skizziert, besteht der Lösungsvorschlag, den Shers Modell eines Perfektionistischen Liberalismus anbietet, um eine Entgegnung auf Quongs Entkräftung des Asymmetriearguments liefern zu können, darin, Quongs zweiten argumentativen Schritt anzugreifen (siehe 3.2.3). Es gilt zu zeigen, dass die Bürden der Urteilskraft bzw. das Faktum eines vernünftigen Pluralismus auch im Falle von Fragen des guten Lebens nicht zu einem Verlust eines gemeinsamen Rechtfertigungsrahmens und damit nur zu Gewichtungs-, nicht aber zu Relevanzuneinigkeiten führen. Positiv formuliert: Wenn Sher demonstrieren kann, dass sich der Objektivitätsanspruch einer Theorie eines guten Lebens rechtfertigen lässt, dann erscheint es plausibel, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt auch dann Legitimität beanspruchen kann, wenn er ausschließlich mit Argumenten gerechtfertigt wird, die mit kontroversen, aber objektiv gültigen Überlegungen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Die Kontroversalität bezieht sich dann – wie bei kontroversen Gerechtigkeitsfragen – lediglich darauf, welches Gewicht den genannten Argumenten bzw. Gründen in der Rechtfertigung politischer Maßnahmen zukommen soll. Eine derartige Kontroversalität ist aber nicht im Widerspruch zur Forderung öffentlicher Rechtfertigung bzw. einer moralischen oder relationalen Konzeption politischer Rechtfertigung, wonach der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur gerechtfertigt – und damit legitim – ist, wenn denjenigen, in deren Freiheitsausübung damit eingegriffen wird, dieser Eingriff mit Überlegungen gerechtfertigt wird, die sie als Gründe akzeptieren können. Shers Verteidigung eines solchen Objektivitätsanspruchs lässt sich in zwei Schritten rekonstruieren: Zunächst lehnt er subjektive Theorien eines guten Lebens bzw. subjektive Werttheorien ab, um dann seine eigene Theorie eines guten Lebens zu präsentieren. Diese soll auf der einen Seite objektiv gültig sein, d. h., sie soll in der Lage sein, Überlegungen hinsichtlich eines guten Lebens zu formulieren, 246
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die jeder – vollständig rationale – Mensch als Grund akzeptieren kann, auf der anderen Seite soll sie aber auch dem Faktum eines vernünftigen Pluralismus Rechnung tragen. 5.1.2.1 Ablehnung eines metaethischen Subjektivismus Um den Objektivitätsanspruch seiner Theorie eines guten Lebens rechtfertigen zu können, d. h. um die These zu begründen, dass perfektionistische Urteile über den Wert gewisser Aktivitäten, Charaktereigenschaften oder Beziehungen in einem realistischen Sinne objektiv gültig sind, muss Sher sich mit subjektivistischen Werttheorien auseinandersetzen, die die Möglichkeit solcher Urteile bestreiten. Im relevanten Kapitel 8 von Beyond Neutrality lässt sich folgende Argumentationsstrategie erkennen: Zunächst führt Sher Argumente an, die gegen einen Subjektivismus sprechen 13, um anschließend Argumente zu kritisieren, die die Übernahme eines Subjektivismus attraktiv zu machen scheinen. 14 Ich wende mich zunächst dem ersten Teil von Shers Argumentation zu, indem er im Wesentlichen zwei Thesen plausibilisiert, die Vgl. ibid., 176–188. Vgl. ibid., 188–198. An dieser Stelle gilt es kurz zu begründen, warum ich Kapitel 7 von Beyond Neutrality nicht berücksichtige. Die kürzestmögliche Antwort darauf ist, dass eine Beschäftigung mit diesem Kapitel mich in meiner Argumentation nicht voranbringt. Ich bin an diesem Punkt meiner Arbeit daran interessiert herauszufinden, wie Sher den Objektivitätsanspruch seiner Theorie des guten Lebens rechtfertigt. Dazu gilt es zum einen zu untersuchen, mit welchen Argumenten er in einem ersten Schritt einen metaethischen Subjektivismus zurückweist, um dann zu erheben, wie er den Objektivitätsanspruch seiner eigenen Theorie eines guten Lebens begründet. Shers siebtes Kapitel erfüllt zwei Aufgaben in der Gesamtargumentation von Beyond Neutrality: Zum einen weist er dort die kommunitaristische Kritik eines Subjektivismus zurück, zum anderen befindet er eine kommunitaristische Werttheorie selbst als ungenügend bzw. fehlerhaft. Da Sher eine eigene Kritik des Subjektivismus präsentiert, ist es für mich relativ uninteressant, warum er die Kritik eines Kommunitarismus für unbefriedigend hält. Im Grunde ist seine Argumentation hier auch weniger metaethischer Natur, sondern eher darauf ausgerichtet, einen normativen Kollektivismus abzuweisen. Die Auseinandersetzung Shers mit einer kommunitaristischen Werttheorie ist aus ähnlichem Grund für mich uninteressant. Zum einen präsentiert Sher ja eine eigene Werttheorie, zum anderen lässt sich die Werttheorie eines Kommunitarismus – so wie ihn Sher darstellt – gemäß meiner begrifflichen Unterscheidungen metaethisch als »anti-realistischer Objektivismus« kennzeichnen. Ich habe aber selbst schon ausgiebig begründet (siehe 2.2.2.2), warum ein solcher Objektivitätsbegriff nicht ausreicht, um einen Perfektionistischen Liberalismus zu verteidigen. Eine Beschäftigung mit dem siebten Kapitel von Beyond Neutrality bringt mich aus diesen Gründen in meiner Untersuchung nicht weiter.
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gegen eine subjektivistische Werttheorie sprechen. Eine erste These besagt, dass ein Subjektivismus keine zufriedenstellende Erklärung für den kognitivistischen bzw. realistischen Objektivitätsanspruch alltäglicher Werturteile liefert und damit den Geltungsanspruch dieser Urteile unterminiert. 15 Die zweite These lautet, dass einem Subjektivismus ein Modell praktischer Rationalität zu Grunde liegt, welches kontraintuitive bzw. revisionäre Konsequenzen für das Verständnis unserer alltäglichen deliberativen Praxis hat. Beide Thesen sind demnach Varianten der bekannten argumentativen Strategie, dass ein realistischer Objektivismus besser unserer alltäglichen Moralphänomenologie entspricht als ein anti-realistischer Subjektivismus, und dies zunächst einmal gegen einen metaethischen Subjektivismus spricht. 16 Betrachten wir nun detaillierter die Begründung der ersten These. Laut Sher ist ein metaethischer Subjektivismus eine reduktionistische Theorie für Werteigenschaften, die genau dann wahr ist, wenn die Wert- bzw. Guthaftigkeit jeder Aktivität, Charaktereigenschaft oder Beziehung, die als wertvoll oder gut bezeichnet wird, vollständig von einer subjektiven Leistung (z. B. einem Wunsch oder einem Wollen) abhängig ist. 17 Mit anderen Worten: Ein Subjektivist behauptet, dass eine Aktivität, Charaktereigenschaft oder Beziehung genau dann gut ist, wenn wir sie wollen oder wünschen. Sher beginnt die Begründung seiner ersten These, dass ein solcher Subjektivismus keine befriedigende Erklärung für den kognitivistischen bzw. realistischen Objektivitätsanspruch alltäglicher Werturteile liefert, mit einer Aufzählung von verschiedenen Beispielen für solche Werturteile. Unter sonst gleichen Bedingungen halten wir etwa ein Leben für wertvoller, in dem eine Person Autor ihres eigenen Lebens sein kann, also zwischen verschiedenen alternativen Lebensverläufen oder -entwürfen wählen kann, als ein Leben, in dem eine Person keinen signifikanten Einfluss auf den Verlauf und die Ausgestaltung ihres Lebens hat. 18 Wir beurteilen unterschiedliche Lebensweisen aber nicht nur daran, ob diese in einer autonomen Weise gewählt wurden oder nicht, son-
Vgl. ibid., 176–184. Derartige Argumente finden sich z. B. bei Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral, 222–223; Kutschera, Grundlagen der Ethik, 213–214, 220–221; Wert und Wirklichkeit (Paderborn: Mentis, 2010), 30–32. 17 Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 176. 18 Vgl. ibid., 176–177. 15 16
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dern vergleichen sie auch anhand dessen, was mit ihnen gewählt wurde, und wie gut das, was gewählt wurde, jeweils ausgeführt wird. Gewöhnlich beurteilen wir z. B. ein Leben, das sich einer sinnhaften Tätigkeit verschreibt – z. B. der Suche nach einem Heilmittel gegen Krebs oder Aids –, als wertvoller als ein völlig antriebsloses Leben, das keine Herausforderung, zu bewältigende Aufgabe oder Verantwortung kennt, ebenso wie wir urteilen, dass es für die Bewertung eines Lebens von Belang ist, ob der gewählte Lebensentwurf gut realisiert wird oder nicht, ob z. B. jemand das Handwerk, das er gewählt hat, beherrscht oder seiner Rolle als Ehemann und Vater bei der Wahl eines Familienlebens gerecht wird. 19 Bei der Aufzählung dieser und weiterer Werturteile (z. B. dass ein Leben mit Wissen, Freundschaft oder Tugenden besser ist, als ein Leben ohne diese Dinge), die wir intuitiv für plausibel halten, kommt es Sher methodisch nicht so sehr darauf an, ob wir wirklich hinsichtlich jedes konkreten Werturteils übereinstimmen, sondern lediglich auf die Tatsache, dass jeder von uns über derartige Intuitionen verfügt. 20 Diese Unschärfe kann in Kauf genommen werden, weil ein metaethischer Subjektivismus – als reduktionistische Theorie von Werteigenschaften – nur zu überzeugen vermag, wenn er in Bezug auf jede dieser intuitiven Werturteile erklären kann, warum wir Lebensentwürfe, die bestimmte Aktivitäten ausüben, Charakterideale oder Beziehungen anstreben, unter sonst gleichen Bedingungen als besser beurteilen als andere Lebensentwürfe, die diese Charakteristika nicht aufweisen. 21 Ein erstes Argument, das gegen einen metaethischen Subjektivismus spricht, ist nun aber, dass er an dieser Aufgabe scheitert, d. h. er liefert keine plausible Erklärung dafür, warum wir z. B. »Wissen«, »Exzellenz« oder »Tugenden« als Werte oder Güter betrachten und – unter sonst gleichen Bedingungen – ein Leben, das diese Güter realisiert, als wertvoller bzw. besser erachten, als ein Leben ohne diese Güter bzw. Werte. Sher erwägt und verwirft in der Folge drei mögliche subjektivistische Erklärungen solcher oder ähnlicher Werturteile. Eine erste Möglichkeit besteht in einer einfachen Wunscherfüllungstheorie. Demnach sind Wissen, Exzellenz oder Tugenden gut bzw. wertvoll, weil sie ihre Besitzer glücklich machen, d. h. deren Wünsche 19 20 21
Vgl. ibid., 177–178. Vgl. ibid., 178–179. Vgl. ibid., 179.
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erfüllen. 22 Sher weist zu Recht darauf hin, dass diese Erklärung alles andere als plausibel ist und unserer Welterfahrung widerspricht. 23 Das »moralische« Problem der Moral besteht ja gerade darin, dass nicht offensichtlich ist, dass das Leben eines tugendhaften Forschers, der sich der Bekämpfung von Krebs widmet und exzellente Leistungen auf seinem Gebiet vollbringt, »glücklicher« als das Leben eines lasterhaften Drogenbarons ist. Im Gegenteil, es entspricht unserer Erfahrung, dass der Erwerb genuiner Tugenden, die Hingabe an eine sinnvolle Aufgabe und die exzellente Bewältigung und Durchführung dieser Aufgabe nur möglich ist, wenn wir viele unserer aktualen und unmittelbaren Wünsche nicht befriedigen. Ein metaethischer Subjektivismus, der den Wert bzw. die Guthaftigkeit von Wissen, Exzellenz und Tugenden damit erklären will, dass diese ihre Besitzer glücklich machen bzw. ihre aktualen Wünsche befriedigen, sieht sich somit einer Flut von Gegenbeispielen ausgesetzt und erscheint intuitiv wenig plausibel. Wie sieht es nun aber mit einer zweiten Möglichkeit aus, einer sogenannten »aufgeklärten« Wunscherfüllungstheorie? Die Grundidee ist hier die offensichtliche Schwäche einer einfachen Wunscherfüllungstheorie dadurch zu vermeiden, dass man eine Art von Idealisierungsklausel einführt: Wissen, Exzellenz oder Tugenden etc. sind Werte oder Güter, weil sie vollständig informierte bzw. aufgeklärte Menschen glücklich machen bzw. die Wünsche befriedigen, die aufgeklärte oder vollständig informierte Personen haben. 24 Eine erste Variante einer solchen aufgeklärten Wunscherfüllungstheorie findet Sher in den Arbeiten von Henry Sidgwick. 25 Folgt man Sidgwick, so erklärt sich der Wert bzw. die Gutheit von Wissen, Exzellenz oder Tugend etc. damit, dass diese Bestandteile eines Lebens sind, das jede Person wollen würde, wenn sie alle Auswirkungen und Konsequenzen ihrer konkreten Entscheidungen und Wahlen auf die möglichen Verläufe ihres Lebens kennen würde und damit in der Lage wäre, die ihr offen stehenden Lebensentwürfe zu vergleichen. 26 Mit anderen Worten: Exzellenz, Tugenden und Wissen sind gut, weil sie Teil eines Lebens sind, das Personen wählen würden, die vollstänVgl. ibid., 180. Vgl. ibid. 24 Vgl. ibid. 25 Sher bezieht sich hier auf Henry Sidgwick, The Methods of Ethics (London: Macmillan, 71962; 1874). 26 Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 181. 22 23
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dig informiert bzw. aufgeklärt darüber sind, welche Konsequenzen ihre jeweiligen Entscheidungen für sie und andere Menschen haben. Vollständig informierte und aufgeklärte Menschen würden sich ein Leben wünschen, das Güter wie Exzellenz, Tugenden und Wissen umfasst, was erklärt, warum Exzellenz, Tugenden und Wissen als gut bzw. wertvoll bezeichnet werden. Diese vermeintliche Lösung für das Problem einer einfachen Wunscherfüllungstheorie verkehrt sich nun aber ihrerseits in ein Problem, denn wenn von den aktualen bzw. einfachen Wünschen von Menschen abstrahiert wird, muss angegeben werden, wie man in Erfahrung bringt, was Personen von einem idealisierten Standpunkt aus wünschen würden, wenn sie vollständig informiert bzw. aufgeklärt wären. Das Hauptproblem einer aufgeklärten Wunscherfüllungstheorie ist laut Sher demnach ein epistemologisches: Da wir weder in der Lage sind, uns simultan alle uns offenstehenden Lebensverläufe vorzustellen – geschweige denn die Konsequenzen aller unserer Entscheidungen für uns und für andere Menschen –, noch über die notwendigen Erfahrungen verfügen, um diese bewerten zu können, ist es für uns epistemisch opak, was wir als vollständig informierte bzw. aufgeklärte Personen wollen und wünschen würden. 27 Daraus folgt, dass wir auch nicht wissen können, ob Werte wie Wissen, Tugenden oder Exzellenz etc. Teil eines Lebens sind, das wir als aufgeklärte und informierte Personen wählen bzw. wünschen würden, was wiederum bedeutet, dass nicht erklärt wird, warum wir intuitiv solche Dinge für wertvoll halten bzw. warum wir Lebensentwürfe, in denen derartige Dinge realisiert werden, Lebensentwürfen – unter sonst gleichen Bedingungen –, denen es an diesen Gütern mangelt, vorziehen. Um dem Vorwurf zuvorzukommen, dass das aufgezeigte epistemologische Problem nicht nur ein Problem von Sidgwicks Subjektivismus ist, sondern sich als Problem in jeder aufgeklärten Wunscherfüllungstheorie reiteriert, setzt sich Sher mit einem alternativen Entwurf von Richard Brandt auseinander. 28 Diesen kann man als Versuch verstehen, das epistemologische Problem von aufgeklärten Wunscherfüllungstheorien zu lösen. Demnach müssen Personen sich nicht imaginär alle ihnen offenen Lebensverläufe und die jeweiligen Vgl. ibid., 181–182. Sher bezieht sich hier auf Richard B. Brandt, A Theory of the Good and the Right (Oxford: Oxford University Press, 1979).
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Konsequenzen ihrer Entscheidungen für sich und andere vorstellen können, um völlig informiert zu sein, sondern Personen sind – laut Brandt – dann vollständig informiert, wenn sie über alle Informationen verfügen, die einen kausalen Einfluss auf ihre Wünsche nehmen sollen, und nur noch diese Informationen bestimmen, welche Wünsche eine Person hat. 29 Mit anderen Worten: Gut bzw. wertvoll sind diejenigen Aktivitäten, Charakterideale oder Beziehungen, die eine Person nach einer Art »kognitiven Psychotherapie« wünschen würde, in der sie in einer »wertfreien« Reflexion ihre Wünsche mit Fakten bzw. Urteilen über die Objekte ihrer Wünsche konfrontiert hat. 30 Doch auch hier zeigt sich das schon bei Sidgwicks Ansatz aufgezeigte epistemologische Problem, dass wir nicht vorhersagen können, ob eine Person, die den Prozess einer solchen erfolgreichen kognitiven Psychotherapie durchlaufen hat, ein Leben wählen bzw. wünschen würde, das Werte oder Güter wie »Wissen«, »Exzellenz« oder »Tugenden« umfasst. Um dies bestimmen zu können, müssten wir nicht nur wissen, welche Faktoren bestimmen, wann Informationen in welchem Ausmaß einen kausalen Einfluss auf die Wünsche einer Person nehmen können, sondern darüber hinaus müssten wir auch annehmen, dass unabhängig von den jeweiligen Lebenserfahrungen, Prägungen und Biographien von Menschen, dieselben Informationen in der Lage sind, denselben kausalen Einfluss auszuüben. 31 Weder erscheint es aber plausibel anzunehmen, dass irgendein Mensch zu seinen Lebzeiten jemals in Brandts Sinne vollständig »kognitiv therapiert« ist und damit ein Mensch ist, der nur noch über aufgeklärte Wünsche und Interessen verfügt, noch erscheint es realistisch, dass wir jemals epistemisch in der Lage sein werden zu bestimmen, wann eine Person »vollständig informiert« ist, denn dazu müssten wir alle Informationen kennen und überprüfen können, die einen kausalen Einfluss auf die aktualen Wünsche und Interessen einer Personen nehmen könnten. Daraus folgt, dass sich das epistemische Problem von Sigwicks Ansatz auch bei Brandt wiederholt, was dafür spricht, dass es sich hier um ein grundsätzliches Problem aufgeklärter Wunschtheorien handelt. 32 Eine dritte Möglichkeit für metaethische Subjektivsten zu erklä29 30 31 32
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Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 182. Vgl. Brandt, A Theory of the Good and the Right, 113–126. Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 182–183. Vgl. ibid., 183.
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ren, warum bestimmte Charaktereigenschaften, Aktivitäten oder Tugenden »gut« bzw. »wertvoll« sind, erblickt Sher in einem – von ihm so betitelten – »utilitaristischen« Ansatz. Gemäß diesem Ansatz sind Dinge wie Wissen, Exzellenz oder Tugenden gut bzw. wertvoll aufgrund ihrer Tendenz, die Wünsche von Menschen in einem allgemeinen Sinne zu befriedigen. 33 Anders formuliert: Der Wert bzw. die Gutheit bestimmter Aktivitäten, Charaktereigenschaften oder Tugenden erklärt sich von ihrem »sozialen Nutzen« her. Gegenüber einfachen Wunscherfüllungstheorien und aufgeklärten Wunscherfüllungstheorien wie sie z. B. Sidgwick oder Brandt entwickelt haben, liegt der Vorteil eines solchen utilitaristischen Subjektivismus darin, dass er gänzlich von der einzelnen Person abstrahiert: Lebensweisen, die Güter wie Wissen, Exzellenz oder bestimmte Arten von Beziehungen (z. B. Freundschaften) realisieren, sind nicht deshalb – unter sonst gleichen Umständen – besser bzw. wertvoller als Lebensweisen, die diese Charakteristika nicht aufweisen, weil sie die einfachen oder aufgeklärten Wünsche der konkreten Personen erfüllen, die so leben, sondern derartige Lebensweisen sind gut bzw. wertvoll, weil sie sozial nützlich sind, d. h. die sozialen Bedingungen schaffen, die es wahrscheinlicher machen, dass jede Person ein Maximum ihrer individuellen Wünsche befriedigen kann. 34 Was ist gegen ein solches Erklärungsmodell einzuwenden? Ein erstes Problem offenbart sich in der Schwierigkeit, den Wert von Charaktereigenschaften, Aktivitäten oder Beziehungsarten zu erklären, denen wir intuitiv eine intrinsische Wert- bzw. Guthaftigkeit zuschreiben (z. B. dem Streben nach philosophischer Erkenntnis oder der Betrachtung von Kunst), bei denen aber nicht offensichtlich ist, worin ihre instrumentelle Gut- bzw. Werthaftigkeit, d. h. ihr sozialer Nutzen besteht. 35 Eine solche Position ist mit folgendem Dilemma konfrontiert: Entweder sie muss für jede Aktivität, Charaktereigenschaft oder Tugend, der wir einen intrinsischen Wert beimessen, erklären, warum sie auch von instrumentellem bzw. sozialem Nutzen ist, oder sie muss derartige Werturteile für nicht fundiert oder ungültig erklären. Gegen letztgenannte Möglichkeit spricht, dass sie uns zur Aufgabe der ziemlich tiefsitzenden Intuition zwingt, dass die Wert- bzw. Guthaftigkeit mancher Aktivitäten, Charaktereigenschaf33 34 35
Vgl. ibid. Vgl. ibid., 183–184. Vgl. ibid., 184.
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ten oder Tugenden nicht davon abhängt, ob ihr sozialer Nutzen demonstriert werden kann. Oder aber man muss die These vertreten, dass man den Nachweis dafür liefern kann, dass jede Aktivität, Charaktereigenschaft oder Tugend, der wir einen intrinsischen Wert beimessen, letztlich auch sozial nützlich ist. Hier schreckt nicht nur die praktische Dimension einer solchen Herkulesaufgabe ab, sondern es stellt sich auch die berechtigte Frage, ob wir jemals epistemisch in der Lage sein werden zu bestimmen, welche sozialen Bedingungen wir schaffen müssen, damit eine jeweils maximale individuelle Wunscherfüllung möglich ist. Ein zweiter Einwand gegen ein utilitaristisches Erklärungsmodell besteht in dem Faktum, dass es manche Charaktereigenschaften, Aktivitäten oder Handlungsdispositionen als wertvoll bzw. gut deklariert, die wir intuitiv als intrinsisch schädlich, schlecht oder lasterhaft beurteilen. 36 Es ist die bekannte These eines solchen Erklärungsmusters, dass z. B. individuelle Laster wie »Gier« letztlich doch sozial nützlich und gut für das Prosperieren des Gemeinwohls sind. Wie Sher ergänzt, kann ein solche utilitaristische Werttheorie z. B. auch nicht oder nur sehr schwer erklären, warum Unterwürfigkeit, Selbsterniedrigung oder Vulgarität als »schlecht« zu beurteilen sind, wenn derartige Aktivitäten, Charaktereigenschaften oder Handlungsdispositionen von sozialem Nutzen sind oder sie indifferent sind, d. h. weder plausibel gemacht werden kann, dass sie von sozialem Nutzen sind, noch, dass sie einen sozialen Schaden verursachen. 37 Vgl. ibid. Vgl. ibid. Diesen Überlegungen ließen sich weitere bekannte Einwände gegen ein utilitaristisches Erklärungsmodell anfügen: Erstens ist hier der Vorwurf zu nennen, dass ein solches Modell mit seiner Abstraktion von konkreten Personen und deren Wunscherfüllung letztlich die Gefahr in sich birgt, in einen normativen Kollektivismus zu kollabieren, der die Unterschiede zwischen Personen nicht mehr respektiert und bereit ist, die Wünsche und Interessen von Individuen oder Minderheiten zu Gunsten der Interessen bzw. der Maximierung der Wunscherfüllung eines abstrakt definierten »kollektiven Gemeinwesens« zu opfern. Zweitens mag zwar zutreffen, dass ein Verhalten, das wir als intrinsisch wertvoll und gut beurteilen, in vielen Fällen auch sozial nützlich ist, aber sogenannte »Trittbrettfahrerprobleme« zeigen, dass sozial schädliches Verhalten für Einzelne am wahrscheinlichsten zu einer Maximierung ihrer individuellen Wunscherfüllung führt. Dies spricht wiederum gegen ein Modell, das die Gut- bzw. Werthaftigkeit der Erfüllung individueller Wünsche oder Präferenzen schlichtweg mit dem sozialen Nutzen der Erfüllung dieser Wünsche oder Präferenzen identifiziert. Anders formuliert: Es kann in meinem aufgeklärten Interesse sein bzw. das Ergebnis eines rationalen Kalküls sein, mich sozial schädlich zu verhalten.
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Damit komme ich zu Shers zweiter These in diesem ersten Teil seiner Argumentation gegen subjektivistische Werttheorien. Gegen einen metaethischen Subjektivismus spricht nicht nur, dass er den kognitivistischen bzw. realistischen Objektivitätsanspruch unserer alltäglichen Werturteile nicht erklären kann, sondern auch, dass er die Übernahme eines Modells praktischer Rationalität verlangt, welches äußerst kontraintuitive und revisionäre Konsequenzen für unser Selbstverständnis hat, insbesondere unsere deliberative Praxis. Ausgangspunkt für Sher ist hier eine Variante des weiter oben schon erwähnten »Euthyphro-Tests« (siehe 2.2.2.1), anhand dessen man gut den Unterschied zwischen subjektivistischen und objektivistischen Werttheorien deutlich machen kann: Ist etwas gut bzw. wertvoll, weil wir es wollen, oder wollen wir es, weil es gut bzw. wertvoll ist? In Anlehnung an David Brink argumentiert Sher, dass ein metaethischer Subjektivismus, der behauptet, dass etwas gut bzw. wertvoll ist, weil wir es wollen, einen großen Teil unserer deliberativen Praxis auf den Kopf stellt: Ausschlaggebend in vielen unseren Deliberationen über wichtige Probleme ist nicht die Frage, ob wir Alternative A mehr wünschen oder wollen als Alternative B, sondern wir fragen uns, ob es für uns besser ist, A oder B zu wählen, und beurteilen von daher unsere Wünsche. 38 Warum es gut ist, etwas zu wünschen, erklärt sich demnach von der Wert- bzw. Guthaftigkeit des Gewünschten her und nicht umgekehrt. Gemäß Brink macht unsere deliberative Praxis also nur Sinn, wenn wir annehmen, dass es zumindest manche Dinge gibt, die gut bzw. wertvoll sind, unabhängig davon, ob wir sie wünschen oder nicht. 39 Die von Brink anvisierte Widerlegung subjektivistischer Werttheorien ist laut Sher aber noch nicht vollständig, denn es bleibt einem Subjektivisten eine Ausweichmöglichkeit: Er könnte Brink entgegnen, dass er ja gar nicht behauptet, dass Dinge wertvoll bzw. gut sind, allein weil wir sie wählen, sondern dass er vielmehr die These vertritt, dass Dinge wertvoll bzw. gut sind, weil sie die Eigenschaft aufweisen, aktuale oder aufgeklärte Wünsche zu erfüllen oder Lusterfahrungen zu produzieren. 40 In unseren Deliberationen – also als praktisch rationale Wesen – fragen wir natürlich danach, welche der 38 Vgl. ibid., 185–186. Sher verweist hier auf David O. Brink, Moral Realism and the Foundations of Ethics (Cambridge: Cambridge University Press, 1989), 225–226. 39 Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 185–186. 40 Vgl. ibid., 186.
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zur Verfügung stehenden Alternativen besser für uns ist. Die Gutbzw. Werthaftigkeit der Alternativen ist aber nicht unabhängig von unserem Wünschen oder Wollen, denn als praktisch rationale Akteure wählen wir die Alternative, die am besten geeignet ist, unsere aktualen oder aufgeklärten Wünsche zu erfüllen. Die Hauptaufgabe praktischer Rationalität besteht demnach darin, in Entscheidungssituationen die Handlungsoption zu identifizieren, die die meisten unserer aktualen oder informierten Wünsche befriedigt oder mit der größten Lusterfahrung verbunden ist. 41 Sher sieht seinen eigenen Beitrag nun darin, eine Entgegnung auf diese Ausweichmöglichkeit zu liefern, um damit eine Widerlegung eines metaethischen Subjektivismus zu vervollständigen. Welche argumentative Strategie wählt Sher, um dies zu bewerkstelligen? Seine Grundthese ist hier folgende: Das beschriebene Ausweichmanöver von Subjektivisten hat den Preis, dass sie eine Konzeption praktischer Rationalität vertreten müssen, die revisionäre Implikationen für unsere alltägliche deliberative Praxis hat, was Sher an drei Punkten ausbuchstabiert. Wenn die Hauptaufgabe praktischer Rationalität darin besteht, die Handlungsalternative zu identifizieren, die am meisten unsere aktualen bzw. informierten Wünsche befriedigt oder uns die größte Lusterfahrung ermöglicht, dann würden erstens in unseren Deliberationen fast ausschließlich kausale oder instrumentelle Erwägungen eine Rolle spielen, d. h., wir würden Handlungsoptionen vornehmlich danach beurteilen, ob sie fähig sind, eine Wunscherfüllung zu bewirken oder eine Lusterfahrung zu verursachen, was aber offensichtlich nicht der Fall ist. 42 Wenn wir z. B. vor der Entscheidung stehen, ob wir eine neue Arbeitsstelle annehmen, die einen enormen beruflichen Aufstieg und Erfolg bedeuten würde, aber zugleich die Entfaltung und Pflege uns wichtiger Beziehungen partnerschaftlicher oder familiärer Natur verunmöglicht, so fragen wir bei der Abwägung der Alternativen nicht ausschließlich danach, ob diese in einem kausalen bzw. instrumentellen Sinne fähig sind, unsere Wünsche oder Bedürfnisse zu befriedigen, sondern es beschäftigen uns auch Fragen deontologischer oder finaler Natur: Welche Pflichten bin ich in Beziehungen eingegangen? Wie kann ich gut in meiner Arbeit sein und zugleich ein guter Partner, Vater, Ehemann, Freund etc.? Was für eine Art von Person möchte ich sein? 41 42
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Vgl. ibid. Vgl. ibid., 186–187.
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Doch selbst wenn man einem metaethischen Subjektivisten das weitreichende Zugeständnis machen würde, dass wir in unseren Deliberationen hauptsächlich bzw. nahezu ausschließlich danach fragen, welche Wirkungen oder Effekte die jeweiligen Handlungsoptionen haben, dann lässt sich zweitens einwenden, dass wir nicht nur danach fragen, welche der Alternativen eine möglichst große Wunscherfüllung oder Lusterfahrung bewirkt, sondern wir auch wissen wollen, welche Unterschiede unsere Wahl jeweils in der Welt produziert. Entgegen der Annahme metaethischer Subjektivisten interessiert uns nicht nur, welche Effekte bzw. Auswirkungen unsere Entscheidungen auf unsere mentalen Zustände oder die anderer Menschen (z. B. deren Wünsche oder Lusterfahrungen) hat, sondern auch, welche Effekte unsere Entscheidungen auf den Zustand der Welt haben. 43 Gewöhnlich haben wir alle Überzeugungen darüber, was in der Welt geändert werden müsste, damit sie eine bessere Welt ist. Ein Handeln zu Gunsten der Herstellung eines solchen Zustands erscheint uns aber plausibel, unabhängig davon, ob es unsere Wünsche erfüllt oder uns Lust bereitet. Der Grund so zu handeln leitet sich schlicht aus dem Urteil ab, dass diese Handlung ein geeignetes bzw. besseres Mittel ist, um ein in sich wertvolles Ziel – die Herstellung eines besseren Weltzustands – zu erreichen. Drittens spricht gegen das Ausweichmanöver metaethischer Subjektivisten, dass dieses erforderlich macht, einen Ansatz praktischer Rationalität zu vertreten, in dem es gar nicht mehr um eine Deliberation über die konkreten Alternativen geht, also darüber, was für oder gegen die entsprechenden Handlungsoptionen spricht, sondern diese werden zu ersetzbaren und beliebigen Platzhaltern, da sich die eigentliche Aufmerksamkeit eines solchen Modells praktischer Rationalität darauf richtet, wie sich die entsprechenden Handlungsoptionen auf die Wunscherfüllung oder Lusterfahrung von uns und anderen Menschen auswirken. 44 Mit anderen Worten: Gemäß dem subjektivistischen Modell praktischer Rationalität geht es in Deliberationen allein darum, die Alternative zu ermitteln, die uns am effektivsten unsere Wünsche erfüllen kann oder die intensivste Lusterfahrung verspricht. Dies widerspricht aber unseren alltäglichen deliberativen Prozessen, in denen wir verschiedene Handlungsoptionen unter der Rücksicht vergleichen, welche Gründe sie uns für ein 43 44
Vgl. ibid., 187. Vgl. ibid.
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bestimmtes Tun oder Unterlassen liefern. Dass eine Handlungsoption einen Wunsch erfüllt oder eine Lusterfahrung vermittelt, kann ein Grund sein, sie zu verwirklichen. Wiederum spricht aber unsere alltägliche Erfahrung von Entscheidungssituationen dafür, dass es z. B. Überlegungen deontologischer oder teleologischer Natur gibt, die uns Handlungsgründe liefern, die sich nicht auf eine Wunscherfüllung oder Lusterfahrung reduzieren lassen. Das subjektivistische Modell praktischer Rationalität kann demnach zu einem großen Teil nicht erklären, wie wir uns als praktisch rationale Akteure selbst verstehen und welche Überlegungen und Gründe in unseren alltäglichen Entscheidungs- und Abwägungsprozessen eine Rolle spielen. Damit komme ich zum zweiten Teil von Shers Argumentation gegen einen metaethischen Subjektivismus. Bisher habe ich dargestellt, welche Argumente aus der Sicht Shers gegen einen Subjektivismus angeführt werden können. Um der Rechtfertigung des Objektivitätsanspruchs seiner Theorie eines guten Lebens – die er im neunten Kapitel von Beyond Neutrality entwickelt – zusätzliche Plausibilität zu verleihen, setzt er sich in diesem zweiten Teil der Argumentation von Kapitel 8 mit einer Reihe von Argumenten auseinander, die für einen Subjektivismus bzw. gegen einen Objektivismus zu sprechen scheinen. Metaethische Subjektivisten behaupten, dass sie im Gegensatz zu realistischen Objektivisten eine Werttheorie vertreten, die drei Fragen beantworten kann: Wie können Gründe, die sich aus Urteilen über die Wert- bzw. Guthaftigkeit einer Aktivität, Charaktereigenschaft oder Beziehungsart ableiten, eine Handlung verursachen? Welche Art von Tatsachen machen ein Werturteil wahr? Wie entstehen Werte bzw. Güter? Da sich in den letzten fünfzehn Jahren im Bereich der Metaethik sehr viel getan hat, erscheint es mir nicht sinnvoll, zu viel Energie darauf zu verwenden, den Argumentationsgang Shers bis ins letzte nachzuzeichnen. Um meine Argumentation weiter voranzubringen ist es ausreichend, die mit diesen Fragen aufgerissenen Problemfelder zu identifizieren und Shers Positionierung metaethisch zu klassifizieren. Eine kritische Stellungnahme dazu, ob sich Shers Argumentation gegen einen metaethischen Subjektivismus auf dem Hintergrund des derzeitigen Forschungsstands aufrecht erhalten lässt, wird dann Gegenstand des nächsten Unterabschnitts dieses Kapitels sein (siehe 5.2). Das erste Argument, das Sher widerlegen möchte, weil es für einen metaethischen Subjektivismus zu sprechen scheint, besagt, dass 258
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eine subjektivistische Werttheorie erklären kann, wie Urteile über die Gut- bzw. Werthaftigkeit eines Sachverhalts (z. B. einer Aktivität, Charaktereigenschaft oder Beziehungsart) und sich daraus ableitende Gründe uns zum Handeln motivieren können, eine objektivistische Werttheorie hingegen dieses Erklärungspotential nicht hat. Wie sieht der subjektivistische Lösungsvorschlag für dieses Problem aus? Ein metaethischer Subjektivismus definiert sich durch die Kernthese, dass Werteigenschaften von gewissen mentalen Zuständen vollständig abhängig sind und auf diese reduziert werden können. 45 Ein bestimmter Sachverhalt ist gut bzw. wertvoll, weil wir ihn wollen oder wünschen. Dies erklärt sehr gut, warum und wie uns Werturteile und sich daraus ableitende Gründe zum Handeln motivieren können: Wenn wir urteilen, dass ein Sachverhalt gut bzw. wertvoll ist, dann impliziert dies in der subjektivistischen Analyse ja gerade, dass wir ihn wollen oder wünschen. Werturteile und sich daraus ableitende Gründe können eine Handlung verursachen, weil sie Wünschen oder Interessen entsprechen, die wir haben. Verortet man Shers Gedankengang im Rahmen der metaethischen Kontroverse zwischen Internalisten und Externalisten, dann sind Subjektivisten gegenüber realistischen Objektivisten laut Sher im Vorteil, weil sie einen »Gründe-Internalismus« vertreten können, also behaupten können, dass uns nur Gründe zum Handeln motivieren können, die sich aus Wünschen oder Interessen des Subjekts ableiten. 46 Das Problem objektivistischer Werttheorien liegt nun darin, dass sie mit der Ablehnung eines Subjektivismus auch gezwungen scheinen, einen solchen – zumindest prima facie – plausiblen Gründe-Internalismus zu negieren, d. h. zur Verteidigung der externalistischen These gezwungen sind, dass uns wenigstens manchmal auch Gründe zum Handeln motivieren können, die keinem Wunsch oder Interesse des Handelnden entsprechen. Wie soll das aber geschehen? Der einzige Ausweg für »Gründe-Externalisten«, eine solche Erklärung zu liefern, scheint darin zu bestehen, einen motivationalen Internalismus bzw. »Motiv-Internalismus« zu vertreten, der behauptet, dass jede Person, die aufrichtig ein Werturteil trifft und von dessen
Hier folge ich der Analyse von Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, 93. Diesen Begriff und seine Definition übernehme ich von Dieter Schönecker, »Warum moralisch sein? Eine Landkarte für Moralische Realisten«, in Moralische Motivation: Kant und die Alternativen. Heiner Klemme, Manfred Kuehn, und Dieter Schönecker (Hg.) (Hamburg: Felix Meiner, 2006), 310.
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Wahrheit überzeugt ist, notwendigerweise zugleich ein Motiv bzw. einen Beweggrund hat, dementsprechend zu handeln, auch wenn dies keinem für sie erkennbaren Interesse oder Wunsch entspricht. 47 Eine solche Erklärung der motivationalen Kraft von Gründen, die sich nicht aus Wünschen oder Interessen ableiten, erscheint aber in mehrfacher Hinsicht problematisch: Zeigt sich in unserer Alltagserfahrung nicht oft, dass unser moralisches Urteilen und Handeln auseinanderklafft, d. h. wir anerkennen, dass wir etwas tun sollten, aber uns nicht dazu motiviert erfahren, es auch zu tun? Wenn gemäß einem motivationalen Internalismus eine notwendige Beziehung zwischen Werturteilen und Motiven besteht, erkennt dann nur derjenige aufrichtig die Wahrheit eines solchen Urteils an, der auch motiviert ist, eine entsprechende Handlung auszuführen? Dies erscheint kontraintuitiv, denn es würde implizieren, dass z. B. depressive Menschen keine aufrichtigen Werturteile fällen können. 48 Für einen metaethischen Subjektivismus spricht demnach, dass er mittels eines »Gründe-Internalismus« relativ gut erklären kann, wie uns Gründe, die sich aus Werturteilen ableiten, motivieren können. Sie können handlungswirksam werden, weil sie das Vorhandensein einer bestimmten mentalen Einstellung (z. B. eines Wunsches oder eines Interesses) voraussetzen. Einfach ausgedrückt: Wenn wir etwas als gut bzw. wertvoll beurteilen, dann liefert uns dies einen Grund, der zugleich auch ein Handlungsmotiv darstellt, weil wir das Beurteilte wünschen oder wollen. Gegen einen realistischen Objektivismus spricht hingegen, dass die Ablehnung eines Subjektivismus die Übernahme eines »Gründe-Externalismus« erforderlich macht, der entweder nicht erklären kann, wie Gründe uns unabhängig von Wünschen oder Interessen zum Handeln motivieren können, oder dies mittels eines »Motiv-Internalismus« erklären muss, der seinerseits problematische Implikationen hat. Anders formuliert: Mit der Ablehnung eines metaethischen Subjektivismus erbt ein Objektivist die Hypotheken eines »Gründe-Externalismus« bzw. »Motiv-Internalismus«. Mit welchen Mitteln versucht nun Sher, diesen Vorwurf zu wi-
Die Begriffe »Motiv-Internalismus« bzw. »Motiv-Externalismus« übernehme ich wiederum von Schönecker, vgl. ibid., 309–310. 48 Dieser Gedankengang ist übernommen von Tatjana Tarkian, Moral, Normativität und Wahrheit – Zur neueren Debatte um Grundlagenfragen der Ethik (Paderborn: Mentis, 2009), 76–77. 47
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derlegen? Seine argumentative Strategie besteht nicht darin zu leugnen, dass die Ablehnung eines metaethischen Subjektivismus die Übernahme eines »Gründe-Externalismus« impliziert und ein solcher die geschilderte Schwierigkeit hat zu erklären, wie uns Gründe unabhängig von Wünschen motivieren können, sondern er behauptet vielmehr, dass sich aus dieser Schwierigkeit kein Vorteil für einen metaethischen Subjektivisten ergibt. Das Argumentationsschema Shers entspricht hier einer »partners-in-guilt-Argumentation«: Mag sein, dass Objektivisten dieses Problem haben, aber damit stehen sie nicht allein, denn Subjektivisten haben dieses Problem auch! Wie argumentiert Sher hier genau? Der erste Schritt in Shers Gedankengang besteht darin, eine einfache Wunschtheorie abzulehnen. Es dürfte relativ unkontrovers ein, dass eine Werttheorie unplausibel ist, die behauptet, dass etwas gut bzw. wertvoll ist, weil wir es aktual wünschen oder wollen. 49 Es gibt zu viele Wünsche, bei denen wir nur ein bisschen nachzudenken brauchen, um einzusehen, dass ihre Erfüllung nicht gut bzw. wertvoll für uns ist, sondern eher schädlich wäre. Die Ablehnung einer solchen einfachen Wunscherfüllungstheorie ist für die subjektivistische Position nicht weiter tragisch, denn es bleibt ja die Möglichkeit, eine weitaus plausiblere informierte bzw. aufgeklärte Wunschtheorie zu vertreten. Es ist aber genau dieser Schritt, den Sher mit folgendem Argument attackiert: Mit der Ablehnung einfacher Wunscherfüllungstheorien büßen metaethische Subjektivisten auch den vermeintlichen Erklärungsvorteil gegenüber objektivistischen Werttheorien ein. Warum? Weil eine aufgeklärte Wunscherfüllungstheorie nicht bei den mentalen Zuständen aktualer, sondern idealisierter Akteure ansetzt. Damit geben sie ebenfalls einen strikten »Gründe-Internalismus« auf, weil sie zugestehen, dass es Gründe gibt, die unabhängig von den aktualen Wünschen oder Interessen einer Person sind. 50 Die Übernahme einer aufgeklärten Wunscherfüllungstheorie impliziert gerade die These, dass es Gründe gibt, die sich aus Werturteilen darüber ableiten, was eine vollständig informierte bzw. aufgeklärte Person wünschen bzw. wollen würde. Die Ablehnung einer einfachen Wunscherfüllungstheorie verpflichtet metaethische Subjektivisten Sher bietet eine knappe Begründung seiner Ablehnung einer solchen einfachen Wunscherfüllungstheorie, vgl. Sher, Beyond Neutrality, 191. Ich beziehe mich hier auf Fußnote 22. 50 Diese Position entspricht dem, was Gaus als »schwachen Externalismus« bezeichnet, vgl. Gaus, Justificatory Liberalism, 32–35. 49
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deshalb ebenso auf einen »Gründe-Externalismus« und führt in analoger Weise zu der Problematik objektivistischer Werttheorien. Denn wie erklären Subjektivisten, dass uns Gründe, die sich aus Wünschen ableiten, die wir gar nicht haben, sondern lediglich haben sollten, zum Handeln motivieren können? Wie können hypothetische Wünsche und sich daraus ableitende Gründe für die Realisierung eines Sachverhalts handlungswirksam sein, wenn uns aktual die notwendige motivationale Einstellung zu dem entsprechenden Sachverhalt fehlt, d. h., wenn wir diesen Sachverhalt aktual nicht wollen oder wünschen? Shers Argumentation läuft also auf die Konklusion hinaus, dass metaethische Subjektivisten ebenso gut bzw. ebenso schlecht erklären können, wie uns Gründe, die sich aus Werturteilen ableiten, die unabhängig von unseren aktualen Wünschen sind, motivieren können, wie Objektivisten erklären können, wie uns Gründe, die sich aus Werturteilen ableiten, die gänzlich unabhängig von unseren Wünschen sind, motivieren können. 51 Anders formuliert: Metaethische Subjektivisten können das Erklärungspotential eines Gründe-Internalismus nur dann argumentativ für sich in Anspruch nehmen, wenn sie eine einfache Wunscherfüllungstheorie vertreten. Vertreten sie hingegen eine informierte bzw. aufgeklärte Wunscherfüllungstheorie, verlieren sie diesen Vorteil gegenüber realistischen Werttheorien, weil sie ebenso wie diese dann zur Akzeptanz eines Gründe-Externalismus genötigt sind. Das zweite Argument, dass Sher als ein vermeintliches Pro-Argument für einen Subjektivismus zu widerlegen versucht, lässt sich in den Kontext der Debatte zwischen metaethischen Anti-Realisten und Realisten über den metaphysischen bzw. ontologischen Status moralischer Eigenschaften einordnen. Es geht hier um die Frage, ob moralische Eigenschaften wie »gut« oder »schlecht« ontologisch vollständig von subjektiven Leistungen abhängig sind oder nicht. Bezeichnen wir alle Dinge als »gut« oder »wertvoll«, weil wir sie wünschen oder wollen, oder gibt es in unserem Universum auch manche Dinge, die die Eigenschaft besitzen, »gut« bzw. »wertvoll« zu sein, auch wenn niemand sie wünscht oder will? Für einen metaethischen Subjektivismus und gegen einen realistischen Objektivismus scheint zunächst einmal zu sprechen, dass jener gut erklären kann, was Werturteile wie »Sachverhalt S ist gut bzw. wertvoll« wahr macht: Die Be51
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Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 190.
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hauptung »S ist gut bzw. wertvoll« ist genau dann wahr, wenn eine aufgeklärte bzw. vollständige informierte Person die Realisierung oder Erhaltung von S wünschen oder wollen kann. 52 Anders formuliert: S besitzt dann die Eigenschaft, »gut« bzw. »wertvoll« zu sein, wenn S dem Wunsch einer vollständig aufgeklärten oder informierten Person entspricht. Im Hintergrund der Unterscheidung zwischen einem metaethischen Subjektivismus und einem realistischen Objektivismus steht gemäß Sher demnach eine naturalistische bzw. nicht-naturalistische Interpretation der Eigenschaft »gut« bzw. »wertvoll«: Subjektivisten analysieren Werturteile in einem »personenrelativen« (person-relative) Sinne, d. h. als Urteile der Form »S ist gut bzw. wertvoll für X«, während für Objektivisten Werturteile die »unpersönliche« (impersonal) Form »S ist gut bzw. wertvoll simpliciter« haben, d. h. in einem absoluten Sinne gut bzw. wertvoll sind. Die Nachteile eines nicht-naturalistischen Realismus sind wohlbekannt und seien hier nur erwähnt: Erstens stellt sich die epistemologische Frage, wie wir erkennen können, was gut bzw. wertvoll ist, wenn dies vollständig davon unabhängig sein soll, was für unser Wohlergehen förderlich oder hinderlich ist. Die Ablehnung eines Subjektivismus scheint realistische Objektivsten demnach auf einen fragwürdigen erkenntnistheoretischen Intuitionismus festzulegen, wonach wir – warum auch immer – zu einer Erkenntnis des Guten fähig sind, d. h. »einsehen« können, was in diesem Universum in einem absoluten Sinne »gut« bzw. »wertvoll« ist. Zweitens erscheint ein Objektivismus aber auch aus ontologischen Gründen problematisch, da er mit seiner nicht-naturalistischen Interpretation der Eigenschaft »gut« bzw. »wertvoll« davon ausgehen muss, dass Werttatsachen bzw. Güter Fakten sui generis sind, d. h. zu einer eigenen Menge oder Klasse von »nicht-natürlichen« Tatsachen gehören, die sich von den uns sonst bekannten »natürlichen« Tatsachen unterscheiden und deshalb auch nicht mit den uns sonst bekannten erkenntnistheoretischen Methoden (z. B. empirischer Art) erkannt werden können. Ganz im Sinne der von mir erarbeiteten Unterscheidungen im ersten Teil meiner Arbeit (siehe 2.2.2) konzentriert sich Shers Kritik auf die irrige Annahme, dass die Ablehnung eines metaethischen Subjektivismus notwendigerweise die Übernahme eines nicht-naturalistischen Realismus impliziert, der die erkenntnistheoretischen 52
Vgl. ibid., 194.
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wie ontologischen Probleme einer solchen Position erbt. Ordnet man Shers Position innerhalb der von mir etablierten metaethischen Landkarte ein, dann vertritt er klar einen naturalistischen Realismus (siehe 2.2.2.4), denn er weist darauf hin, dass man auch als Realist eine »personenrelative« Werttheorie vertreten kann, d. h. einer naturalistischen Analyse von Werturteilen als Urteilen der Form »S ist gut bzw. wertvoll für X« zustimmen kann. 53 Was naturalistische Subjektivisten von naturalistischen Realisten hingegen unterscheidet, ist die Behauptung Letztgenannter, dass Urteile der Form »Sachverhalt S ist gut für Person X«, nicht dadurch wahr werden, dass S dem Wunsch einer vollständig rationalen oder informierten Person entspricht, sondern dann wahr sind, wenn S die Eigenschaft besitzt, X dazu zu verhelfen, eine artspezifische Fähigkeit zu entfalten und so als Mitglied dieser Art zu gedeihen (siehe 6.2). 54 Doch selbst wenn man an einer »unpersönlichen« Werttheorie festhält, also metaethisch einen nicht-naturalistischen Realismus vertritt, so ergibt sich daraus – so Sher – kein Vorteil für die »personenrelative« Werttheorie eines Subjektivismus, also einen naturalistischen Subjektivismus. Shers Argument lässt sich wie folgt zusammenfassen: Eine subjektivistische Werttheorie kommt nicht völlig ohne die Vorstellung von unpersönlichen Werten bzw. Gütern aus, da sie sonst weder erklären kann, warum es »gut« bzw. »wertvoll« sein soll, Wünsche zu realisieren oder Lusterfahrungen zu machen, noch den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen kann. 55 Ich stelle das Argument hier so knapp dar, weil mir die »unpersönliche« Analyse von Werturteilen als Urteilen der Form »S ist gut bzw. wertvoll simpliciter« problematisch erscheint, was ich später Vgl. ibid., 195. Hier ist allerdings Vorsicht angebracht. Metaethisch gesehen vertritt Sher zwar einen naturalistischen Realismus, jedoch distanziert er sich von der Vorstellung »artspezifischer« Fähigkeiten oder Ziele, also dem, was er als einen »teleologischen Essentialismus« aristotelischer Provenienz bezeichnet, vgl. ibid., 198; 240. Bezüglich Shers eigener Position muss also noch differenziert werden, was ich in der Auseinandersetzung mit seiner perfektionistischen Wert- bzw. Gütertheorie in den verbleibenden Unterabschnitten dieses Kapitels auch tun werde. An dieser Stelle kann ich hingegen darüber hinwegsehen, weil es mir hier nur darauf ankommt, den Unterschied zwischen einem naturalistischen Subjektivismus und einem naturalistischen Realismus kenntlich zu machen. 55 Vgl. ibid., 195–197. Die Argumentation Shers erinnert hier an das sogenannte »Argument der offenen Frage. Dessen klassische Formulierung findet sich in § 13 von G. E. Moore, Principia Ethica (Cambridge: Cambridge University Press, 1903). 53 54
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noch ausführlicher begründen werde (siehe 5.2). Da Sher aber selbst eine Alternative vorschlägt und dieser auch in seinem eigenen Vorschlag für eine Wert- bzw. Gütertheorie folgt, kann ich mich mit dieser knappen Darstellung der Vollständigkeit halber begnügen. Ebenso knapp kann ich Shers Auseinandersetzung mit einem dritten Argument abhandeln, das vermeintlich für einen metaethischen Subjektivismus spricht. Gemäß diesem Argument kann ein Subjektivist besser als ein realistischer Objektivist erklären, wie Werte bzw. Güter entstehen. Laut einem Subjektivisten werden Dinge dadurch zu Gütern oder Werten, dass wir sie wollen, wünschen oder wählen, d. h. dadurch, dass ihnen dadurch eine Werteigenschaft attribuiert wird, während ein Objektivist Schwierigkeiten damit hat zu erklären, wie bestimmte Entitäten in den Besitz von Werteigenschaften kommen und andere nicht. 56 Shers Argumentation ist hier zweigeteilt. Erstens bezweifelt er, dass ein Subjektivismus wirklich dieses Erklärungspotential hat. Zwar suggerieren die gebrauchten Metaphern eine Erklärung, bleiben bei genauer Betrachtung aber eine Erhellung schuldig, wie Wünsche oder Wahlen in einem kausalen Sinne Ursache dafür sein können, dass ein vorher wertneutrales Objekt zu einem Wert bzw. Gut wird. 57 Zweitens lässt ein solches Argument wiederum außer Acht, dass es neben einer unpersönlichen Werttheorie – d. h. einem nicht-naturalistischen Realismus – auch die Möglichkeit gibt, einen naturalistischen Realismus zu vertreten, der ebenfalls eine personenrelative Theorie des Guten favorisiert. Dieser könnte im Unterschied zu einem metaethischen Subjektivismus erklären, dass bestimmte Objekte zu Werten bzw. Gütern werden, weil sie Zielen entsprechen, die ein Mensch für sein Wohlergehen oder Gedeihen zu realisieren trachten muss. 58 5.1.2.2 Verteidigung eines naturalistischen Realismus Nachdem Sher in einem ersten Schritt dargelegt hat, dass die Verteidigung des Objektivitätsanspruchs einer Theorie eines guten Lebens metaethisch nicht in einer besonderen Weise problematisch ist, weil weder subjektivistische Argumente zu überzeugen wissen, die gegen einen Objektivismus zu sprechen scheinen, noch es zwingende Gründe gibt, die für die Übernahme eines Subjektivismus angeführt wer56 57 58
Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 197–198. Vgl. ibid., 198. Vgl. ibid.
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den können, widmet er sich im 9. Kapitel von Beyond Neutrality der noch ausstehenden Aufgabe, den Objektivitätsanspruch seiner eigenen Theorie eines guten Lebens zu rechtfertigen. Für den weiteren Gang meiner Untersuchung ist demnach die Beantwortung von zwei Fragen relevant: Wie begründet Sher die These, dass wenigstens manche Urteile über den Wert bestimmter Aktivitäten, Charaktereigenschaften oder Beziehungsarten wahr sind, unabhängig davon, ob sie in einer einfachen oder aufgeklärten Weise gewünscht werden? Und inwiefern präsentiert die gelungene Verteidigung des Objektivitätsanspruchs seiner Theorie eines guten Lebens eine Lösung für das von Quong formulierte Problem der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt? Um Shers Antwort auf die erstgenannte Frage zu rekonstruieren, sind sowohl die im ersten Teil meiner Arbeit vorgenommenen metaethischen Unterscheidungen (siehe 2.2.2), als auch die im vorigen Unterabschnitt vorgeschaltete metaethische Diskussion hilfreich, denn sie erlauben, die Frage, ob und wie es Sher gelingt, den Objektivitätsanspruch der von ihm präsentierten Theorie eines guten Lebens zu rechtfertigen, auf die metaethische Frage zuzuspitzen, ob es ihm gelingt, eine plausible Verteidigung eines naturalistischen Realismus zu leisten. Es gilt aber zunächst evident zu machen, dass Shers Ansatz berechtigterweise einem naturalistischen Realismus zugeordnet wird. Das grundlegende Kriterium, um zwischen subjektivistischen und objektivistischen Werttheorien zu unterscheiden, liegt für Sher in der Frage, ob Werteigenschaften ontologisch vollständig von subjektiven Leistungen bzw. mentalen Zuständen (z. B. Wünschen) von Individuen abhängig sind, oder ob wenigstens manchen Dinge auch dann die Eigenschaft »wertvoll« oder »gut« zukommt, wenn sie von keiner aktualen oder hypothetisch vorgestellten Person gewünscht oder gewollt werden. 59 An dieser Stelle wird nicht nur deutlich, dass Sher einen Objektivismus im kognitivistischen Sinne vertritt (siehe 2.2.2.1), sondern auch, weil er eine ontologische »Unabhängigkeitsbedingung« für Werteigenschaften bejaht, in einem realistischen Sinne Objektivist ist (siehe 2.2.2.2). Vgl. ibid., 154–155. Genau genommen unterscheidet Sher zwischen subjektivistischen und perfektionistischen Werttheorien. Seine Definition von »perfektionistisch« entspricht dem, was ich mit »objektivistisch« bezeichne. Da die metaethische Unterscheidung »subjektivistisch/objektivistisch« üblich ist und z. T. gebraucht wird, um verschiedene Bedeutungen des Begriffsfelds »Perfektionismus« zu erklären, weiche ich von der von Sher eingeführten Terminologie ab.
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Im Einklang mit meiner im ersten Teil präsentierten metaethischen Klassifikation kann nun gefragt werden, für welche der verbleibenden Möglichkeiten er innerhalb eines realistischen Paradigmas optiert. Favorisiert er einen starken oder schwachen Realismus (siehe 2.2.2.3)? Verteidigt er einen naturalistischen oder nicht-naturalistischen Realismus (siehe 2.2.2.4)? Wenden wir uns zunächst der letztgenannten Frage zu. Sher betont, dass er nicht daran interessiert ist eine Theorie des Guten, sondern eine Theorie des guten Lebens zu präsentieren. 60 Ferner bezeichnet er seine Werttheorie als eine inhärente Werttheorie, d. h. eine Theorie, die den Wert bzw. die Gutheit bestimmter Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsarten damit erklärt, dass diese in Verbindung mit der Entfaltung und Ausübung grundlegender menschlicher Fähigkeiten stehen. 61 Damit wird meine erste Frage beantwortet: Sher vertritt einen schwachen naturalistischen Realismus, weil er zugesteht, dass zumindest manche Werte oder Güter nicht vollständig unabhängig von subjektiven Leistungen sind. Was wertvoll und gut für Menschen ist, hängt auch konstitutiv davon ab, was für grundlegende Fähigkeiten bzw. Ziele Menschen haben. 62 Betrachten wir nun aber genauer, wie Sher aus der Warte seines naturalistischen Realismus den Objektivitätsanspruch von Werturteilen über bestimmte Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsarten zu rechtfertigen gedenkt. Ausgangspunkt für Sher sind verbreitete und relativ unkontroverse Wertüberzeugungen bzw. Werturteile. Konkret bezieht er sich auf eine von Derek Parfit präsentierte Liste, die Dinge wie »moralische Gutheit«, »rationale Aktivität«, »die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten«, »Kinder haben und ein guter Elternteil sein«, »Wissen« und »Wahrnehmung von wahrer Schönheit« als objektive Güter bzw. Werte bezeichnet. 63 Die Frage ist nun, wie man die Einträge auf einer solchen oder ähnlichen Liste rechtfertigt. Es bieten sich zwei grundsätzlich unterschiedliche Möglichkeiten dafür an: Entweder man übernimmt einen nicht-naturalistischen Realismus mit einer intrinsischen Werttheorie oder aber man vertritt
Vgl. ibid., 155. Vgl. ibid., 11; 199. 62 Vgl. ibid., 11; 198–199. 63 Vgl. ibid., 199–201. Sher bezieht sich hier auf Derek Parfit, Reasons and Persons (Oxford: Clarendon Press, 1984), 499. 60 61
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einen naturalistischen Realismus mit einer inhärenten Werttheorie. Ein nicht-naturalistischer Realist könnte einen epistemischen Intuitionismus vertreten, der behauptet, dass der Wert bzw. die Gutheit bestimmter Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsarten einfach evident ist und von uns nach reiflicher Überlegung eingesehen werden kann. Die Wahrheit dieser Werturteile kann insofern nicht begründet werden, doch ist dies auch nicht erforderlich, weil sie in einem prinzipiellen Sinne »ansichtig« bzw. »einsehbar« ist. 64 Einen solchen Intuitionismus und damit verbundenen nicht-naturalistischen Realismus lehnt Sher aber klar ab.65 Sher wählt stattdessen die Option eines naturalistischen Realismus mit der ambitionierten Absicht, damit eine Werttheorie zu entwickeln, die in einer einheitsgebenden Weise erklären kann, was die Einträge auf Parfits Liste – oder jeder anderen Liste – zu Gütern und Werten macht. 66 Was Urteile über den Wert bzw. die Gutheit bestimmter Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsarten wahr macht, sind demnach nicht bestimmte – ontologisch merkwürdige – nicht-natürliche Entitäten wie »Werte« oder »moralische Tatsachen«, für deren Erkenntnis eine besondere epistemische Erkenntnisweise erforderlich ist, sondern natürliche Fakten bzw. Tatsachen über die menschliche Natur, die empirisch ermittelt werden können. 67 Werturteile sind dann wahr, wenn sie bestimmten natürlichen Fakten bzw. Sachverhalten entsprechen. Es ist nun interessant, dass Sher sich erst hier und dann auch nur sehr knapp mit dem metaethischen Einwand des sogenannten »naturalistischen Fehlschlusses« auseinandersetzt, der zum Standardrepertoire von Kritikern eines solchen Erklärungsansatzes eines naturalistischen Realismus gehört. Es wäre zu erwarten gewesen, dass er sich mit einem solchen Einwand im Rahmen des siebten Kapitels von Beyond Neutrality auseinandersetzt, also im Rahmen der Erörterung von Argumenten, die gegen die Übernahme eines Objektivismus in der Form eines naturalistischen Realismus sprechen. Ein solcher Vorwurf besagt – in aller Kürze formuliert –, dass ein Bezug auf natürliche Eine solche Strategie identifiziert Sher bei Finnis, Natural Law and Natural Rights, 65. 65 Sher, Beyond Neutrality, 201. 66 Vgl. ibid., 199; 219. 67 Vgl. ibid., 201. Sher spricht hier auch von einer »natürlichen Affinität« (natural affinity) bzw. einem »natürlichen Entsprechungsverhältnis« (fit) zwischen Werturteilen und natürlichen bzw. empirischen Fakten. 64
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Tatsachen, Fakten oder Sachverhalte keine normativen Aussagen rechtfertigen kann, ein Sein also kein Sollen begründen kann. Was entgegnet Sher auf diesen Vorwurf? Er verweist hier auf den epistemologischen Holismus bzw. Kohärentismus, den er schon im sechsten Kapitel seines Werkes in der Auseinandersetzung mit dem skeptischem Argument vorgestellt hat, dass wir nicht wissen können, was gut bzw. wertvoll ist, und deshalb ein Neutralitätsprinzip akzeptiert werden müsse. 68 Anders als bei einem epistemischen Fundamentalismus gibt es bei einem Kohärentismus kein privilegiertes Wissen, keine nicht-bezweifelbaren oder selbst-evidenten Überzeugungen mittels derer andere zweifelhafte Überzeugungen gerechtfertigt oder widerlegt werden könnten. 69 Ein epistemischer Holist geht vielmehr von der Vorstellung aus, dass unsere Überzeugungen wie in einem Netz miteinander verbunden sind. Da in diesem Netz normative als auch empirische Überzeugungen miteinander verbunden sind, bedeutet dies für die Rechtfertigung einer einzelnen normativen Überzeugung, dass diese nicht nur mit den normativen Überzeugungen kohärent sein muss, die sich bisher als verlässlich erwiesen haben, sondern auch in Kohärenz mit jenen empirischen Überzeugungen gebracht werden muss, deren Falschheit bisher nicht erfolgreich erwiesen werden konnte. 70 Im Sinne eines Rawlsschen »Überlegungsgleichgewichts« (reflective equilibrium) geht es demnach nicht nur darum, eine Kohärenz zwischen normativen Überzeugungen herzustellen, sondern ebenso eine Kohärenz zwischen normativen und nicht-normativen Überzeugungen zu erreichen. 71 Shers Argument läuft darauf hinaus, dass der Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses nicht greift, weil er einen fragwürdigen epistemischen Fundamentalismus voraussetzt. Lehnt man diesen ab und akzeptiert stattdessen einen epistemischen Kohärentismus bzw. Holismus, dann spricht aus Shers Sicht nichts dagegen, normative Werturteile mit Verweis auf natürliche bzw. empirische Fakten bzw. Tatsachenbehauptungen zu rechtfertigen. Ob dies eine zufriedenstellende Entgegnung auf den Einwand des naturalistischen Fehlschlusses ist, wird mich später noch beschäftigen (siehe 5.2). Nun aber zurück zu Shers Ausgangsfrage. Wie kann in einer 68 69 70 71
Vgl. ibid., 201; 145–151. Vgl. ibid., 145. Vgl. ibid., 146–147. Vgl. ibid., 147.
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einheitsgebenden Weise erklärt werden, was die Einträge auf Parfits Liste gut bzw. wertvoll macht? Sher entwickelt hierfür eine Art von Test: Eine Aktivität, Charaktereigenschaft oder Beziehungsart ist dann »gut« bzw. »wertvoll«, wenn sie der erfolgreichen Realisierung eines Zieles entspricht, das uns durch eine grundlegende menschliche Fähigkeit vorgegeben ist. 72 Eine menschliche Fähigkeit ist »grundlegend«, wenn sie zwei Bedingungen genügt 73: Erstens muss sie universal sein, d. h. eine Fähigkeit sein, die nahezu alle Menschen besitzen. Um »grundlegend« zu sein, muss eine Fähigkeit zweitens aber auch die Eigenschaft besitzen, dass ihre Ausübung für Menschen nahezu unvermeidlich ist. Zusammengefasst: Eine Fähigkeit ist grundlegend, wenn ihre Ausübung nahezu universal und nahezu unvermeidlich ist, und eine Aktivität, Charaktereigenschaft und Beziehungsart ist dann »gut« bzw. »wertvoll«, wenn sie der erfolgreichen Realisierung eines Zieles entspricht, das uns durch diese Fähigkeiten vorgegeben ist. Für eine solche Werttheorie spricht aus der Sicht Shers zum einen, dass sie in einer einheitlichen Weise erklären kann, warum wir die Einträge auf Parfits Liste als Güter bzw. Werte beurteilen, zum anderen, dass sie rivalisierenden Theorien und deren Erklärungsversuchen überlegen ist. Betrachten wir zunächst, welches Erklärungspotential diese Werttheorie in den Augen Shers hat. Shers Argumentation vollzieht sich in drei Schritten: Zunächst führt er aus, wie eine solche Theorie den Wert von »Wissen«, »rationaler Aktivität« und »Kinder haben und ein guter Elternteil sein« plausibel machen kann. In einem zweiten Schritt begründet er, warum gemäß seiner Werttheorie auch Dinge wie »moralische Gutheit«, »die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten« und die »Wahrnehmung von wahrer Schönheit« zu Recht als »Güter« bzw. inhärent wertvolle Aktivitäten, Charaktereigenschaften oder Beziehungsarten bezeichnet werden können, um dann in einem dritten Schritt darzulegen, dass sein Ansatz das Potential hat, den Wert einer Kultur des Anstands und des guten Geschmacks rechtfertigen zu können, sich aber auch von äußerst konservativen bzw. biologistischen Argumentationsmustern (z. B. gegen Homosexualität) abzugrenzen vermag. Der erste Schritt scheint sich als der Einfachste zu entpuppen: Es ist evident, dass wir nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach streben, unsere Welt, uns selbst und unsere Mitmenschen zu 72 73
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Vgl. ibid., 202; 218. Vgl. ibid., 202.
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verstehen. 74 Wir wollen wissen, was der Fall ist, überprüfen unsere Überzeugungen auf ihre Wahrheit hin und sind daran interessiert zu erkunden, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, d. h., ob es eine Art von »Ordnung« oder Wirkzusammenhang zwischen den einzelnen Überzeugungen gibt, die wir für wahr halten. 75 Das Werturteil, dass »Wissen« ein Gut ist, dass das Streben nach Wissen gut ist, ist demnach durch das Faktum oder die Beobachtung gerechtfertigt, dass Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach streben, Wissen zu erlangen. Mit anderen Worten: Aktivitäten, die darauf abzielen, Wissen zu erlangen, sind gut, weil sie der Realisierung eines Ziels entsprechen, das uns durch eine grundlegende menschliche Fähigkeit vorgegeben ist. Ebenso universal und unvermeidlich wie Menschen danach streben, die Welt zu verstehen, müssen sie aber auch Urteile darüber treffen, was für sie in einer konkreten Situation das Beste zu tun ist. Das Werturteil, dass »rationale Aktivität« ein Gut für Menschen darstellt, lässt sich insofern mit dem Hinweis auf das Faktum begründen, dass Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich Entscheidungen treffen müssen und danach streben, die Handlungsmöglichkeit zu wählen, die für sie am besten ist, für die also die stärksten oder gewichtigsten Gründe sprechen. 76 Versteht man Parfits »Kinder haben und ein guter Elternteil sein« mit Sher als Konkretion des allgemeineren Guts »enger sozialer Beziehungen«, so lässt sich auch hier gut mit Shers Werttheorie erklären, warum es Eingang auf eine Liste objektiver Güter bzw. Werte findet. 77 Weil wir soziale Wesen sind, streben wir nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach, enge soziale Beziehungen zu etablieren und zu erhalten, in denen wir als Personen mit unseren Bedürfnissen, Fähigkeiten, Begabungen und Rechten anerkannt werden. 78 Auch hier rechtfertigt sich das Werturteil, dass enge soziale Beziehungen, in denen wir als Personen im oben beschriebenen Sinne anerkannt werden, gut für uns sind, mit dem Verweis darauf, dass es der Realisierung eines Zieles entspricht, das uns durch eine grundlegende menschliche Fähigkeit vorgegeben ist.
74 75 76 77 78
Vgl. ibid., 203. Vgl. ibid., 204. Vgl. ibid., 204–205. Vgl. ibid., 205. Vgl. ibid., 205–207.
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Der zweite Schritt in Shers Argumentation erweist sich hingegen schon als problematischer. Er gesteht offen zu, dass der von ihm vorgeschlagene Test in Bezug auf die Einträge »moralische Gutheit«, »die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten« und die »Wahrnehmung von wahrer Schönheit« nicht funktioniert, weil es offensichtlich ist, dass Menschen weder in universaler, noch in unvermeidlicher Weise danach streben, gute Charaktere auszubilden, die eigenen Begabungen bzw. Fähigkeiten zu entwickeln, oder schöne Dinge zu betrachten. 79 Um mittels seiner Werttheorie dennoch den Wert bzw. die Gutheit dieser drei Dinge erklären zu können, wählt Sher zwei unterschiedliche argumentative Strategien. Es ist wahr, dass das Ziel der Entwicklung der eigenen Fähigkeiten im eigentlichen Sinne kein grundlegendes menschliches Ziel ist, wohl aber kann es in einem abgeleiteten Sinne als grundlegend gelten: Es ist gut bzw. wertvoll, die Fähigkeiten zu entwickeln, die einem helfen, die Ziele erreichen, die uns durch grundlegende Fähigkeiten vorgegeben sind. 80 Anders als bei unmittelbar grundlegenden Fähigkeiten kann Sher hier nicht auf Fakten verweisen, die dafür sprechen, dass wir in einem universalen und unvermeidlichen Sinne danach streben, unsere individuellen Fähigkeiten zu entwickeln. Dennoch bleibt er seinem naturalistischen Erklärungsmuster treu, weil er auf das Faktum verweist, dass die für die Entwicklung und Perfektionierung einer Fähigkeit erforderlichen Fertigkeiten und Charaktereigenschaften nicht nur zur erfolgreichen Realisierung der Ziele von grundlegenden Fähigkeiten beitragen, sondern geradezu Voraussetzung dafür sind. 81 Welche der verschiedenen Fähigkeiten, Talente und Begabungen wir nun in einer besonderen Weise entwickeln und perfektionieren sollten, leitet sich wiederum von unseren grundlegenden Fähigkeiten ab: Wir sollten diejenigen Fähigkeiten entwickeln, die uns die Fertigkeiten und Charaktereigenschaften ausbilden lassen, die wir am wahrscheinlichsten benötigen, um die Ziele erreichen zu können, die uns durch unsere grundlegenden Fähigkeiten vorgegeben sind. 82 Neben dem allgemeinen Faktum, dass die Fertigkeiten und Charaktereigenschaften, die man mit der Entwicklung einer Fähigkeit erwirbt, auch für die Entwicklung und Perfektionierung anderer Fähigkeiten nützlich und 79 80 81 82
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Vgl. ibid., 207. Vgl. ibid., 208. Vgl. ibid., 207–208. Vgl. ibid., 208.
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hilfreich sind, sind es in diesem Sinne auch jeweils kontingente und individuelle Fakten bzw. Faktoren, die bestimmen, welche individuellen Fähigkeiten eine Person am besten entwickeln und perfektionieren sollte, um die Ziele ihrer grundlegenden Fähigkeiten möglichst erfolgreich realisieren zu können. Eine andere argumentative Strategie wählt Sher hinsichtlich der Erklärung des Wertes der zwei verbleibenden Einträge von Parfits Liste. »Moralische Gutheit« bzw. die »Wahrnehmung wahrer Schönheit« sind Güter, weil sie notwendig sind, damit wir erfolgreich das Ziel einer grundlegenden Fähigkeit erreichen können, nämlich das Ziel, in Entscheidungssituationen die Handlungsoption zu wählen, die für uns am besten ist. Der Kerngedanke ist in Bezug auf beide Güter derselbe: Diejenige Handlungsoption ist für uns die beste, für die die stärksten bzw. gewichtigsten Gründe sprechen. Damit Akteure diese Handlungsoption erkennen und wählen können, müssen sie möglichst alle Gründe berücksichtigen, die für den Deliberationsbzw. Abwägungsprozess relevant sind. Wenn man jeweils die zusätzliche Prämisse akzeptiert, dass moralische sowie ästhetische Gründe gewichtige Gründe sind oder zumindest gewichtige bzw. ausschlaggebende Gründe sein können, dann erklärt sich, dass »moralische Gutheit« und die »Wahrnehmung wahrer Schönheit« Güter sind. Sie sind Güter, weil wir ohne moralisch gute Akte und einen sich dadurch ausbildenden moralischen Charakter sowie ohne ein ästhetisches »Training« durch das Betrachten schöner Dinge nicht fähig sind, alle gewichtigen Gründe in einer Abwägung von Entscheidungen zu berücksichtigen. 83 Daraus folgt, dass wir dann aber auch nicht fähig sind, die Handlungsoption zu wählen, für die die gewichtigsten Gründe sprechen und somit das Ziel einer grundlegenden Fähigkeit verfehlen. Betrachten wir nun den dritten Schritt von Shers Argumentation. Seine These ist nicht nur, dass sein naturalistischer Realismus das Potential hat, in einer einheitsgebenden Weise erklären zu können, was die Einträge auf Parfits Liste zu objektiven Werten bzw. Gütern macht, sondern darüber hinaus den Vorteil aufweist, den Objektivitätsanspruch vieler weiterer Werturteile rechtfertigen zu können, ohne zugleich zur Übernahme äußerst konservativer oder biologistischer Argumentationsmuster (z. B. gegen Homosexualität) verpflichtet zu sein. Gelingt es Sher, diesen dritten Schritt plausibel zu be83
Vgl. ibid., 209–211.
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gründen, dann hat er zwei beeindruckende Gründe dafür vorgebracht, warum seine Theorie gegenüber rivalisierenden objektiven Werttheorien zu bevorzugen ist: Erstens spricht für den Vorzug eines naturalistischen Realismus gegenüber einem nicht-naturalistischen Realismus, dass er für die Erklärung der Gut- bzw. Werthaftigkeit der Einträge auf Parfits Liste und weiterer Güter weder auf einen epistemischen Intuitionismus zurückgreifen muss, noch verpflichtet ist, die Existenz ontologisch problematischer Fakten, Tatsachen oder Eigenschaften sui generis zu proklamieren. Zweitens könnte er einen Vorwurf entkräften, der oft gegen Varianten eines naturalistischen Realismus vorgebracht wird und besagt, dass die Begründung des Objektivitätsanspruchs von Werturteilen mittels eines naturalistischen Realismus nur zu dem Preis zu haben ist, dass man in sexualethischen Fragen (z. B. Homosexualität betreffend) äußerst fragwürdige »biologistische« Argumentationsmuster für gültig erklärt. Übertragen auf den Bereich der Politischen Philosophie könnte er damit demonstrieren, dass es wenigstens manchmal legitim sein kann, den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten zu rechtfertigen, die von Urteilen darüber ausgehen, dass eine bestimmte Art von kulturellem Umfeld »gut« bzw. »wertvoll« für Menschen ist, ohne damit zugleich notwendigerweise politisch konservativ sein zu müssen (z. B. in puncto Homosexualität und der Frage, ob homosexuelle Partnerschaften heterosexuellen Partnerschaften rechtlich in allen Punkten gleichgestellt werden sollen). 84 Wie begründet Sher nun aber die These, dass Anstand und guter Geschmack inhärent wertvoll für Menschen sind? Seine Argumentation umfasst zwei Schritte, denen jeweils gemeinsam ist, den Wert bzw. die Guthaftigkeit von anständigen bzw. kultivierten Sachverhalten oder Handlungen damit zu erklären, dass diese der erfolgreichen Realisierung des Ziels einer grundlegenden Fähigkeit entsprechen. Der erste Schritt besteht in der Überlegung, dass eine vulgäre bzw. verarmte Kultur uns auf Dauer abstumpft und unfähig macht, komplexe und differenzierte Sachverhalte zu erfassen und nachzuvollziehen. 85 Dies hat zur Folge, dass wir nur noch ungenügend in der Lage sind, das Verhalten anderer Menschen zu verstehen und uns ein Wissen um ihre Intentionen anzueignen, was wiederum zur Folge hat, dass wir dies nicht in unseren Deliberationen darüber berück84 85
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Vgl. ibid., 212. Vgl. ibid., 212–213.
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sichtigen können, was das Beste ist, was wir tun können, und damit unempfänglich werden für moralische Erwägungen und Gründe. 86 Mit anderen Worten: Es ist schlecht für Menschen, in einer vulgären Kultur ohne Sinn für Anstand und guten Geschmack zu leben, weil dies sowohl die erfolgreiche Realisierung unseres Strebens nach Wissen behindert als auch verhindert, dass wir uns für die Handlungsoptionen entscheiden können, für welche die besten bzw. gewichtigsten Gründe sprechen. Der zweite Schritt in Shers Begründung der These, dass Anstand und guter Geschmack menschliche Güter sind, besteht darin, diese an die Realisierung des Ziels der dritten grundlegenden Fähigkeit rückzubinden. Der Grundgedanke ist hier folgender: Für die Etablierung und Aufrechterhaltung von engen sozialen Beziehungen ist ein gewisses Maß an Exklusivität und Intimität erforderlich, d. h. ein Mitteilen und Teilen von Informationen über sich selbst, die man nicht mit jedermann teilt. 87 Unanständige, vulgäre oder unschickliche Handlungen (z. B. öffentliche sexuelle Handlungen oder eine öffentliche Bedürfnisverrichtung) sind nicht nur deshalb schlecht für Menschen, weil sie zu einer Verrohung der Kultur beitragen, sondern weil sie Handlungen darstellen, in denen Menschen ihr begrenztes Kontingent an privilegierten Informationen über sich selbst (z. B. ihre nackte körperliche Gestalt oder ihr sexuelles Verhalten) an eine beliebige Öffentlichkeit preisgeben und damit »verschwenden«. 88 Solche Handlungen sind somit schlecht, weil durch sie Informationen einer beliebigen Öffentlichkeit anheim gegeben werden, die gewöhnlich nur mit wenigen engen Freunden oder Partnern geteilt werden. Diese Akte berauben bestehenden sozialen Beziehungen ihres exklusiven und intimen Charakters, erschweren damit – aufgrund der begrenzten Menge an privilegierten bzw. intimen Informationen über uns selbst – den Erhalt und die Etablierung solcher Beziehungen und sind somit Handlungen, welche die erfolgreiche Realisierung eines Ziels einer grundlegenden Fähigkeit erschweren. 89 An diesem Punkt seiner Argumentation angelangt, muss sich Sher nun mit einem gewichtigen Einwand auseinandersetzen: Unabhängig davon, wie man Shers Erklärung der Gut- bzw. Werthaftig86 87 88 89
Vgl. ibid., 213–214. Vgl. ibid., 215. Vgl. ibid., 214–215. Vgl. ibid., 215–216.
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keit der Einträge von Parfits Liste und der Güter »Anstand« und »guter Geschmack« mittels des von ihm vorgestellten naturalistischen Realismus beurteilt, stellt sich die Frage, ob ihn seine Argumentation auch zur Verteidigung äußerst kontroverser Werturteile zwingt, vor allem in Bezug auf das Thema »Homosexualität«. 90 Folgt aus seinem naturalistischen Realismus, dass politische Maßnahmen, die auf eine Ungleichbehandlung von homo- und heterosexuellen Beziehungen zielen (z. B. in Bezug auf deren rechtliche Anerkennung oder die Gewährung steuerlicher Vergünstigungen, wie das »Ehegatten-Splitting etc.) Legitimität beanspruchen dürfen, wenn sie mit Argumenten gerechtfertigt werden, die besagen, dass homosexuelle Handlungen unanständig sind oder schlecht sind für Menschen, weil sie die erfolgreiche Realisierung von Zielen grundlegender menschlicher Fähigkeiten unmöglich machen? Demnach wären homosexuelle Handlungen oder Beziehungen schlecht für Menschen, weil sie die erfolgreiche Realisierung des Ziels einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit unmöglich machen, nämlich des Ziels von Sexualität, die »natürlicherweise« auf die Reproduktion der eigenen Spezies ausgerichtet ist. 91 Ein solches Argument lässt sich – so Sher – aus zwei Gründen nicht aus seinem naturalistischen Realismus ableiten: Erstens wird hier ein reduktionistisches Verständnis von Sexualität vorausgesetzt, das die Ziele einer erfolgreichen Ausübung unser Fähigkeit zur Sexualität ausschließlich vom biologischen Zweck unserer primären Sexualorgane her definiert. 92 Was ist dann aber mit homosexuellen, unfruchtbaren und impotenten Menschen oder Paaren, die sich gegen Kinder entschieden haben? Gemäß einem solch reduktionistischen Verständnisses haben sie freiwillig oder unfreiwillig das Ziel einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit verfehlt und sind aufgrund der Unerreichbarkeit eines grundlegenden menschlichen Guts nur mit empfindlichen Abstrichen fähig, ein gutes menschliches Leben zu führen. Diese Schlussfolgerung erscheint äußerst unplausibel, weil es unplausibel erscheint, dass Ziel menschlicher Sexualität so eng und reduktionistisch bzw. biologistisch zu definieren. Der Ausdruck menschlicher Sexualität geschieht nicht rein genital und zielt auch nicht nur auf die Zeugung von Nachkommenschaft ab. Ein we90 91 92
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Vgl. ibid., 216. Vgl. ibid., 216–217. Vgl. ibid., 217.
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sentliches Ziel von Sexualität ist sicherlich auch der Ausdruck von Zuneigung und Liebe und die Etablierung und Erhaltung enger sozialer Beziehungen. Gesteht man zu, dass es nicht nur ein durch unsere biologischen Sexualorgane vorgegebenes Ziel menschlicher Sexualität gibt, dann dürfte, zweitens, auch deutlich werden, dass das Verfehlen dieses konkreten Zieles nicht notwendigerweise auch impliziert, dass wir nicht erfolgreich unsere Fähigkeit zur Sexualität ausüben können. Anders formuliert: Die Zeugung von Nachkommenschaft kann laut Shers naturalistischem Realismus schon allein deshalb nicht das alleinige Ziel einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit sein, weil Menschen weder in einem universalen, noch in einem unvermeidlichen Sinne danach streben. 93 Wiederum übertragen auf den Bereich der Politischen Philosophie bedeutet dies, dass man sich durch eine Übernahme von Shers naturalistischem Realismus und seines quasi-naturrechtlichen Modells eines Perfektionistischen Liberalismus weder automatisch auf konservative politische Positionen (z. B. im Bereich der Sexualethik) festlegt, noch notwendigerweise den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt für legitim erklären muss, der mit Argumenten gerechtfertigt wird, die besagen, dass homosexuelle Handlungen oder Beziehungen schlecht sind, weil sie die erfolgreiche Realisierung einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit behindern bzw. verhindern. Nachdem ich rekonstruiert habe, wie Sher den Objektivitätsanspruch von Werturteilen mittels seines naturalistischen Realismus zu begründen versucht, kommen ich zur zweiten von mir eingangs formulierten Frage. Wenn wir Sher im Sinne des Arguments einmal zugestehen, dass ihm dieses Unterfangen gelingt – ich werde später noch Zweifel daran formulieren (siehe 5.2.1) –, dann stellt sich nun die Frage, inwiefern das eine Lösung für das von Quong formulierte Problem der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt darstellt. Eine Entgegnung auf Quong, die auf Shers quasi-naturrechtliches Modell eines Perfektionistischen Liberalismus zurückgreift, lässt sich folgendermaßen formulieren: Eine asymmetrische Behandlung von Argumenten, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was gerecht ist, und Argumenten, die auf kontroverse Annahmen darüber rekurrieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, ist ungerechtfertigt, weil die Bürden der Urteilskraft auch bei Fragen des guten Lebens nicht zum Verlust eines ge93
Vgl. ibid., 217–218.
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meinsamen Rechtfertigungsrahmens bzw. zum Verlust aller Kriterien führen, anhand derer man beurteilen kann, von welchen Überlegungen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie der Konfliktpartner als Grund akzeptieren kann. Auch in Bezug auf Fragen des guten Lebens führt das Faktum eines vernünftigen Pluralismus nur zu Gewichtungs- nicht aber zu Relevanzuneinigkeiten. Warum? Es ist das einheitsgebende Erklärungspotential von Shers naturalistischem Realismus, welches dies gewährleistet. Anders als Wall vertritt Sher keinen radikalen oder maximalen Pluralismus in Bezug auf Werte und Güter – also eine pluralistische Werttheorie – sondern einen gemäßigten bzw. moderaten Pluralismus. 94 Ein radikaler Pluralist wie Wall behauptet, dass es ein nicht weiter begründbares und erklärbares Faktum ist, dass manche Charaktereigenschaften, Aktivitäten oder Beziehungsarten in einem intrinsischen Sinne »gut« bzw. »wertvoll« sind, während ein moderater Pluralist wie Sher daran festhält, dass Charaktereigenschaften, Aktivitäten oder Beziehungsarten in einem inhärenten Sinne »gut« bzw. »wertvoll« sind, d. h. ihnen gemeinsam ist, dass sie den von ihm etablierten »Wertetest« bestehen. 95 Die Möglichkeit dieses Tests verhindert, dass die Bürden der Urteilskraft zu Relevanzuneinigkeiten hinsichtlich Fragen des guten Lebens führen, und sie erlaubt zu bestimmen, von welchen Werturteilen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie der Konfliktpartner als Grund bzw. Begründung für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt akzeptieren kann. Betrachten wir ein Beispiel, um diesen Punkt zu illustrieren. Eine Person A rechtfertigt gegenüber Person B eine politische Maßnahme X mit folgendem Argument: (1) X fördert Menschen darin, (ϕ) zu tun. (2) Es ist gut für Menschen, (ϕ) zu tun, weil (ϕ) der erfolgreichen Realisierung eines Zieles einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit entspricht oder dazu beiträgt. (3) Daraus folgt, dass A X gegenüber B mit einer Überlegung rechtfertigt von der A vernünftigerweise erwarten kann, dass B sie als Grund für die Rechtfertigung von X akzeptieren kann.
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Vgl. ibid., 199, 218–219. Vgl. ibid., 218–219.
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Im Gegensatz zu einer radikal pluralistischen bzw. intrinsischen Werttheorie mit nicht weiter erklärbaren Werturteilen der Form »(ϕ) ist gut«, liefert Shers moderater Pluralismus mit seiner inhärenten Werttheorie und Werturteilen der Form »Es ist gut für Menschen, (ϕ) zu tun« eine Möglichkeit, Werturteile auf ihre Vernünftigkeit hin zu testen. A kann von B vernünftigerweise erwarten, das Werturteil »Es ist für Menschen gut, (ϕ) zu tun« als Begründung für die Rechtfertigung von X zu akzeptieren, wenn er B Überlegungen nennt, die ausgehend von dessen System an Überzeugungen und Werten dafür sprechen, dass gilt: »(ϕ) entspricht der oder trägt bei zur erfolgreichen Realisierung eines Zieles einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit«. Damit bleibt genügend Raum für die Möglichkeit einer vernünftigen Uneinigkeit in Bezug auf Fragen eines guten Lebens. Aufgrund der Bürden der Urteilskraft kann man in einer vernünftigen Weise uneinig darüber sein, ob (1) wahr ist. Ferner kann man vernünftigerweise darüber streiten, ob wirklich gilt, dass es gut für Menschen ist, (ϕ) zu tun, weil man es aufgrund unterschiedlicher Hintergrundüberzeugungen für unterschiedlich evident halten kann, dass (ϕ) der erfolgreichen Realisierung eines Zieles einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit entspricht oder dazu beiträgt. Und selbst wenn man sich in all diesen Dingen einig ist, so kann man vernünftigerweise darüber uneinig sein, ob die Tatsache, dass es wahr ist, dass es für Menschen gut ist, (ϕ) zu tun, ein ausschlaggebender Grund ist bzw. genügend gewichtig ist, um X zu rechtfertigen. Nehmen wir etwa folgendes Szenario: Gesetzt ist, dass es aufgrund begrenzter finanzieller Ressourcen nur möglich ist, entweder die politische Maßnahme X oder die politische Maßnahme Y umzusetzen. Ferner erkennt B die oben vorgebrachte Rechtfertigung für X durch A an. B bringt aber nun folgendes Argument, um Y gegenüber A zu rechtfertigen: (1) Y fördert Menschen darin, (γ) zu tun. (2) Es ist gut für Menschen, (γ) zu tun, weil (γ) der erfolgreichen Realisierung eines Zieles einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit entspricht oder dazu beiträgt. (3) Daraus folgt, dass B Y gegenüber A mit einer Überlegung rechtfertigt, von der B vernünftigerweise erwarten kann, dass A sie als Grund für die Rechtfertigung von Y akzeptieren kann.
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Nehmen wir ferner an, dass A akzeptiert, dass B ihm mit (2) eine Überlegung genannt hat, die Y rechtfertigt. Gemäß Shers moderatem Pluralismus können A und B nun vernünftigerweise uneinig darüber sein, ob die vorhandenen finanziellen Ressourcen für X oder Y eingesetzt werden sollen. Die Uneinigkeit kann unter Bezug auf die Bürden der Urteilskraft verständlich gemacht werden: Aufgrund unterschiedlicher Hintergrundüberzeugungen, Lebenserfahrungen oder Unsicherheiten in der Bewertung von Evidenz etc. kommen wir zu unterschiedlichen Gewichtungen von Gütern und Werten und damit zu unterschiedlichen Konzeptionen eines guten Lebens. Ob wir es als besser beurteilten, X oder Y umzusetzen, hängt demnach davon ab, ob wir es als wichtiger für die Realisierung eines guten menschlichen Lebens erachten, (ϕ) oder (γ) zu tun, was wiederum davon abhängt, wie wir Güter und Werte innerhalb unserer Konzeption eines guten Lebens hierarchisieren. Eine derartige Uneinigkeit bleibt aber vernünftig, weil A und B ihre favorisierten politischen Maßnahmen mit Überlegungen rechtfertigen, von denen sie erwarten können, dass der jeweils andere sie als Grund akzeptieren kann. Greift man auf Shers quasi-naturrechtliches Modell eines Perfektionistischen Liberalismus zurück, dann lässt sich die Entgegnung auf Quongs Rechtfertigung einer asymmetrischen Behandlung von kontroversen Gerechtigkeitsfragen und kontroversen Fragen des guten Lebens demnach folgendermaßen zusammenfassen: Der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt, der ausschließlich mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von kontroversen Werturteilen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, kann dann Legitimität beanspruchen, wenn eine Erklärung dafür präsentiert werden kann, was die als gut bzw. wertvoll beurteilte Aktivität, Charaktereigenschaft oder Beziehungsart gut bzw. wertvoll macht, die von allen vollständig rationalen Personen akzeptiert werden kann. Das eigentliche Problem einer öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt mittels kontroverser Annahmen darüber, was ein gutes Leben ist und ausmacht, löst sich nach Shers Auffassung demnach auf, wenn man es als Problem der Rechtfertigung des Objektivitätsanspruchs von Werturteilen begreift und eine Werttheorie präsentiert, die in einer einheitsgebenden Weise erklären kann, was Dinge gemeinsam haben, die wir als gut bzw. wertvoll beurteilen.
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Kritik am quasi-naturrechtlichen Modell
5.2 Kritik am quasi-naturrechtlichen Modell Nach der Rekonstruktion von Shers Lösungsvorschlag verteidige ich in diesem Abschnitt meine eingangs erwähnte These, dass auch dieser nicht zu überzeugen vermag, also auch ein Rückgriff auf das quasinaturrechtliche Modell Perfektionistische Liberale nicht in die Lage versetzt, eine erfolgreiche Antwort auf die neue dialektische Herausforderung zu geben, die mit der von Quong vorgebrachten Entkräftung des Asymmetrievorwurfs entstanden ist. Am ersten Schritt von Shers Lösungsvorschlag – also seiner Begründung der Ablehnung eines metaethischen Subjektivismus (siehe 5.1.2.1) – ist aus meiner Sicht nichts auszusetzen bzw. nichts, was nicht vom jetzigen Stand der metaethischen Diskussion entsprechend ergänzt oder saniert werden könnte. Problematisch hingegen erscheint mir sein zweiter Schritt, in dem er den Objektivitätsanspruch seiner Werttheorie mittels eines naturalistischen Realismus zu rechtfertigen versucht (siehe 5.1.2.2). Dieser Schritt in seiner Argumentation vermag mich aus zwei Gründen nicht zu überzeugen: Ein erster Kritikpunkt ist auf der normativen Ebene angesiedelt und bezieht sich auf das behauptete Erklärungspotential seiner Werttheorie. Ich werde nachweisen, dass Shers Behauptung, dass seine Theorie in der Lage ist zu erklären, warum wir die Güter auf Parfits Liste intuitiv für gut bzw. wertvoll halten, einer kritischen Überprüfung nicht standhält. Ein zweites Problem liegt auf einer metaethischen Ebene und betrifft Shers Konzeption eines »naturalistischen Realismus«. Ich werde hier zwischen einer essentialistischen und einer anti-essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus unterscheiden und dafür argumentieren, dass für Shers anti-essentialistische Variante zwar spricht, dass sie »metaphysisch sparsamer« und ihre Akzeptanz damit weniger kontrovers ist, sie sich mittels dieser »Sparsamkeit« aber auch genau der Ressourcen beraubt, die erforderlich wären, um die aufgezeigten Probleme hinsichtlich des Erklärungspotentials einer solchen Theorie auf der normativen Ebene zu lösen.
5.2.1 Kritik am Erklärungspotential Mein erster Kritikpunkt an Shers Werttheorie ist auf der normativen Ebene angesiedelt und gliedert sich in vier Unterpunkte. Sher behauptet, dass sein naturalistischer Realismus nicht nur die verschiePerfektionistischer Liberalismus
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denen Elemente eines guten Lebens identifizieren kann, sondern auch in einer einheitsgebenden Weise erklären kann, warum bestimmte Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen in einem objektiven Sinne gut bzw. wertvoll für Menschen sind. Diese werden zu Recht als gut bzw. wertvoll beurteilt, wenn sie der Realisierung eines Ziels einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit entsprechen, d. h. eines Zieles, das Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich anstreben. 96 Ich kritisiere im ersten Unterabschnitt dieses Erklärungmodell in einer sehr grundsätzlichen Weise, indem ich Rückfrage, ob ein alleiniger Bezug auf empirische Fakten wirklich den Objektivitätsanspruch von Werturteilen in einem realistischen Sinne erklären bzw. rechtfertigen kann. Doch auch wenn man diesen Kritikpunkt an einer zentralen Voraussetzung von Shers Erklärungsmodell außer Acht lässt, sprechen drei weitere Überlegungen gegen es, die ich in den nachfolgenden Unterabschnitten entfalte. 97 5.2.1.1 Das Konstitutionsproblem Gemäß Sher können Werturteile dann Objektivität beanspruchen, wenn sie in Verbindung mit Zielen grundlegender menschlicher Fähigkeiten stehen. Wie werden menschliche Grundfähigkeiten und deren Ziele bestimmt? Durch empirische Fakten, nämlich durch die Frage danach, wonach Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich streben. Werturteile der Form »Es ist gut für Menschen, dass P« sind dann objektiv gültig bzw. wahr, wenn gilt »Menschen streben nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach, P zu realisieren«. Die Wahrheit des empirisch zu verifizierenden Faktums »Menschen streben nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach, P zu realisieren« ist somit konstitutiv für die objektive Geltung bzw. den Wahrheitsanspruch des Urteils »Es ist gut für Menschen, dass P«. 98 Hier offenbart sich jedoch ein Problem. Aus dem Faktum, Vgl. ibid., 229. Eine ähnliche Kritik an Sher findet sich bei Couto, Liberal Perfectionism, 54–60. Ich stimme ihrer Kritik an Sher zu, nicht aber ihrer Schlussfolgerung, dass es keine einheitsgebende Erklärung oder Begründung braucht, warum wir Güter bzw. Werte auf Listen die objektive Eigenschaft »wertvoll« oder »gut« zuschreiben. Ich kann den Punkt hier nicht weiter ausführen, aber ich halte die alleinige Referenz auf »Intuitionen« hierfür zu schwach. 98 Dieser Kritikpunkt ist inspiriert durch eine Lektüre der Auseinandersetzung von Gaus mit der pluralistischen Werttheorie Isaiah Berlins, vgl. Gaus, Contemporary Theories of Liberalism, 29–31. 96 97
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dass Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach streben, P zu realisieren, folgt nicht, dass P gut bzw. wertvoll ist, sondern lediglich, dass es für Menschen unvermeidlich ist, die Realisierung von P anzustreben. Anders formuliert: Aus der universalen Unvermeidlichkeit des Strebens nach P folgt nicht, dass P auch wirklich erstrebenswert ist. 99 Die soeben eingeführte Rückfrage »Ist es wirklich gut bzw. wertvoll für Menschen, die Realisierung von P anzustreben« begegnet uns in alltagssprachlichen Kontexten sehr häufig. Sie ist aber nur dann sinnvoll zu stellen, wenn man davon ausgeht, dass die objektive Geltung von Werturteilen nicht vollständig durch einen Bezug auf empirische Fakten konstituiert wird. Wenn ein Bezug auf empirische Fakten konstitutiv für die Wahrheit und damit die objektive Geltung von Werturteilen ist, dann macht es weder Sinn zu behaupten, dass das Urteil »Es ist gut für Menschen, dass P« falsch sein kann, wenn Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach streben, P zu realisieren, noch kann die Aussage, dass das Urteil »Es ist gut für Menschen, dass P« wahr bzw. objektiv gültig ist, irgendeine sinnvolle Bedeutung haben, wenn kein Mensch de facto danach strebt, P zu realisieren. Die Aufgabe einer solchen Sprechweise und eines dahinterstehenden realistischen Wahrheitsbegriffs hat schwerwiegende kontraintuitive Implikationen. Gemäß Shers empirischem Objektivitätsbegriff kann erstens kein kontrafaktisches Werturteil objektiv gültig bzw. wahr sein. Für jegliche Werttheorie sind solche kontrafaktischen Urteile aber wesentlich und es ist schwer vorstellbar, wie eine normative Theorie ohne einen Begriff des »Sollens« auskommen kann. Die ganze »Pointe« von Ethik bzw. Moral – egal ob sie vornehmlich mit deontischen Begriffen oder mit Wertbegriffen operiert – besteht darin, Ansprüche zu formulieren und zu rechtfertigen, denen wir nachkommen sollen, weil wir dazu verpflichtet sind oder weil dies notwendig ist, um ein gutes Leben zu führen. Moralische Erziehung zielt gerade darauf ab, unser Streben zu reorientieren und auf die Ziele hin auszurichten, deren Erreichen für uns als Menschen gut ist. Ethiken versuchen zu formulieren, was gut für uns ist, auch wenn wir nicht dazu geneigt sind. Zusammengefasst: Eine tiefsitzende Intuition besagt, dass es Werturteile gibt, an deren Wahrheit und objektiver Geltung wir festhalten, auch wenn niemand in der Welt danach 99
Vgl. ibid., 30.
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strebt, den mit diesen Werturteilen formulierten Ansprüchen zu genügen. Eine zweite kontraintuitive Implikation von Shers These, dass empirische Fakten darüber, wonach Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich streben, konstitutiv für die objektive Geltung bzw. Wahrheit von Werturteilen sind, zeigt sich an der Unfähigkeit, Werturteile für falsch zu erklären, die den geforderten empirischen Fakten entsprechen. Anders formuliert: Es macht keinen Sinn zu behaupten »Es ist schlecht für Menschen, dass P«, wenn Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach streben, P zu realisieren. Das Problem ist hier, dass dieses Schema Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsarten für gut bzw. wertvoll erklärt, die wir intuitiv als schlecht beurteilen. Nehmen wir etwa aggressives und destruktives Verhalten. Menschen scheinen nahezu unvermeidlich und nahezu universal danach zu streben, eine Art von freudianischem »Todestrieb« zu befriedigen, d. h. ihre Fähigkeit auszuüben, sich selbst und andere zu verletzen oder sogar zu zerstören. 100 Ein Blick auf Kriminalitätsstatistiken, in die Menschheitsgeschichte voller Kriege oder auch auf die eigene Biographie wird wohl zeigen, dass kaum ein empirisches Faktum besser abgesichert ist. Es erscheint aber völlig unplausibel und zynisch, ein solches Streben nach Aggression, Gewalt und Zerstörung für gut zu erklären. Nehmen wir ein zweites – harmloseres – Beispiel, dass Shers Rechtfertigung des Werts von anständigen und manierlichen Handlungen konterkariert. Um Anstand bzw. guten Geschmack zu rechtfertigen, bringt er derartige Handlungen mit dem grundlegenden menschlichen Ziel in Verbindung, enge soziale Beziehungen einzugehen (siehe 5.1.2.2). Gegen die Ausführung vulgärer oder obszöner öffentlichen Handlungen spricht aus seiner Sicht, dass sie eine Verschwendung von begrenzten intimen Informationen darstellen, deren privilegierte Mitteilung wesentlich für die Etablierung und Aufrechterhaltung von engen sozialen Beziehungen ist. Konfrontieren wir dieses Argumentationsschema aber mit dem empirischen Faktum, dass mittlerweile nahezu alle Menschen nahezu unvermeidlich danach streben (z. B. via Facebook oder andere soziale Netzwerke) intime – oder zumindest sehr persönliche – Informationen über sich öf100 Vgl. ibid. In ähnlicher Weise macht Hurka auf diesen kritischen Punkt aufmerksam, vgl. Thomas Hurka, »Book Review: Beyond Neutrality by George Sher«, Ethics 109, no. 1 (1998): 190.
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fentlich mitzuteilen. 101 Wie ist dieses Tun nun zu beurteilen? Will Sher an seinem Werturteil festhalten, dass öffentliches Mitteilen von intimen Informationen schlecht für Menschen ist, weil sie damit die Erreichung des grundlegenden Ziels der Etablierung und Aufrechterhaltung von engen sozialen Beziehungen sehr erschweren, dann muss er hier ein kontrafaktisches Werturteil treffen. Menschen sollten derartige Informationen nicht in öffentlichen Netzwerken preisgeben. Wenn aber allein empirische Fakten konstitutiv für die objektive Geltung von Werturteilen sind, dann muss er zu einem gegenteiligen Urteil kommen: Wenn nahezu universal und nahezu unvermeidlich Menschen danach streben, intime Informationen im Internet preiszugeben, dann ist gut bzw. wertvoll, dass Menschen dies tun. Man kann nicht für die Falschheit dieses Urteils argumentieren, wenn allein empirische Fakten für die Wahrheit und die objektive Gültigkeit von Werturteilen konstitutiv sind. Diese kontraintuitiven Implikationen sprechen gegen Shers These, dass allein empirische Fakten konstitutiv für die Wahrheit bzw. objektive Geltung von Werturteilen sind. Es zeigt sich hier eine grundlegendere Inkohärenz in Shers Modell eines umfassenden Perfektionismus: Auf der einen Seite übernimmt er auf einer metaethischen Ebene in seiner Abgrenzung zu subjektivistischen Werttheorien und einem nicht-naturalistischen Realismus die Position eines naturalistischen Realismus, während er auf einer normativen Ebene einen anti-realistischen Wahrheits- bzw. Objektivitätsbegriff stark macht, der wesentlichen realistischen Intuitionen nicht gerecht werden kann und z. T. auch seine eigene Erklärung der Gut- bzw. Werthaftigkeit bestimmter Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen konterkariert. Seine Argumentation könnte diese Inkohärenz und die aufgezeigten kontraintuitiven Implikationen vermeiden, wenn er die These aufgibt, dass ein Bezug auf empirische Fakten konstitutiv für die Wahrheit von Werturteilen und deren objektive Geltung ist und stattdessen die schwächere These übernimmt, dass es lediglich ein starkes Indiz für die Wahrheit bzw. objektive Geltung des Werturteils »Es ist gut für Menschen, dass P« ist, wenn 101 Es sei hier eingestanden, dass natürlich nicht jeder Mitglied in einem sozialen Netzwerk ist und es auch nicht unbedingt unvermeidlich ist. Trotzdem scheint mir das Phänomen »Facebook« ein gutes Beispiel zu sein, da es immerhin mehr als 800 Millionen Nutzer verzeichnet und man nicht verhehlen kann, dass es einen sublimen Druck gibt, selbst einen Account zu eröffnen, um nicht von bestimmten Kommunikationskanälen abgeschnitten zu werden.
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Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach streben, P zu realisieren. Da diese schwächere These mit einem realistischen Wahrheits- bzw. Objektivitätsbegriff kompatibel ist, könnte Sher sowohl daran festhalten, dass sich derartige Werturteile trotzdem als falsch erweisen können, als auch daran, dass bestimmte kontrafaktische Werturteile der Form »Es ist gut für Menschen, dass P« wahr sein können, auch wenn niemand de facto danach strebt, P zu realisieren. In diesem Sinne sind empirische Fakten nicht konstitutiv für die objektive Geltung von Werturteilen, sondern machen diese im besten Falle evident. 102 Ich werde im Folgenden noch erläutern, was Sher dazu bewegt, diese schwächere These nicht zu übernehmen. 5.2.1.2 Das Trivialitätsproblem Doch selbst wenn man über den im vorigen Abschnitt formulierten sehr grundsätzlichen Einwand hinwegsieht, ist Shers Werttheorie mit Problemen konfrontiert, die ihr inhärent sind. Eine erste solche Schwierigkeit besteht darin, dass es Sher mittels des von ihm vorgeschlagenen Argumentationsschemas nicht gelingt, eine drohende Inflation von grundlegenden menschlichen Fähigkeiten und Gütern zu vermeiden. Wenn eine Fähigkeit dadurch grundlegend wird, dass sie nahezu alle Menschen besitzen und es nahezu unvermeidlich ist, sie auszuüben, dann sind Fähigkeiten wie »Atmen«, »Schlafen«, »Essen« oder »Trinken« ebenso grundlegend wie die Fähigkeiten, die Welt und uns selbst zu verstehen, sich aufgrund von Gründen für Handlungsalternativen zu entscheiden und enge soziale Beziehungen einzugehen bzw. zu erhalten. 103 Damit gehören Güter wie »Luft«, »Schlaf«, »Nahrungsmittel« und »Wasser« ebenso zu den Elementen, die ein gutes menschliches Leben ausmachen wie »Wissen«, »rationale Aktivität« und »enge persönliche Beziehungen«. Gegen eine derartige Ausweitung der Einträge auf einer Liste objektiver menschlicher Güter spricht aber, dass wir gewöhnlich auf solchen Listen Güter wie »Luft«, »Wasser« oder »Schlaf« nicht vorfinden, d. h. sie nicht als Elemente eines guten menschlichen Lebens bezeichnen, sondern zu den Voraussetzungen für das Führen eines guten menschlichen Lebens rechnen. Dieser plausiblen Unterscheidung kann Shers Definitionsvorschlag für grundlegende menschliche Fähigkeiten aber nicht Rechnung tragen. 102 103
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Vgl. Gaus, Contemporary Theories of Liberalism, 31. Dieser Kritikpunkt ist angelehnt an Hurka, »Review ›Beyond neutrality‹«, 190.
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Noch problematischer wird diese Ausweitung grundlegender menschlicher Fähigkeiten, wenn man sich ihre Konsequenzen für den zweiten und dritten Schritt von Shers Argumentation vor Augen führt, also der Rechtfertigung der Einträge »Moralische Gutheit«, »Wahrnehmung wahrer Schönheit«, »Entwicklung der eigenen Fähigkeiten« und »Anstand und guter Geschmack« (siehe 5.1.2.2). Wie wir sahen, argumentiert Sher hier, dass manche Aktivitäten, Charakterideale oder Beziehungsarten gut bzw. wertvoll sind, weil sie mit Zielen grundlegender Fähigkeiten in einem abgeleiteten Sinne verbunden sind oder aber notwendig sind, um das Ziel einer grundlegenden Fähigkeit erreichen zu können. Wenn nun laut Shers Definition Fähigkeiten wie »Atmen« oder »Trinken« ebenfalls grundlegende Fähigkeiten sind, wird deutlich, wie inflationär und letztlich trivial seine Werttheorie wird: Ist es plausibel, alle Aktivitäten, Charakterideale oder Beziehungsarten für wertvoll zu erklären, die in irgendeiner Weise zur erfolgreichen Ausübung von Betätigungen wie »Atmen« oder »Trinken« beitragen? Shers Definition grundlegender Fähigkeiten ist nicht in der Lage, sich gegen solch unplausible Schlussfolgerungen zu erwehren. 5.2.1.3 Das Spezifikationsproblem Ein zweiter Kritikpunkt an Shers Werttheorie bzw. deren einheitsgebenden Erklärungsschema bezieht sich auf die Spezifikation der Ziele grundlegender menschlicher Fähigkeiten. Trivialität droht nicht nur durch eine inflationäre Erweiterung grundlegender menschlicher Fähigkeiten und einer entsprechenden Güterliste, sondern auch dadurch, dass die nahezu universale und nahezu unvermeidliche Ausübung der drei von Sher erwähnten grundlegenden menschlichen Fähigkeiten zu der absurden Konsequenz führt, dass nahezu alle Menschen nahezu unvermeidlich – quasi automatisch – ein gutes Leben in den entsprechenden Hinsichten führen. Sher ist sich dieser Gefahr sehr wohl bewusst, weshalb er ein zusätzliches Kriterium einführt: Gut bzw. wertvoll ist nicht die reine Ausübung einer grundlegenden Fähigkeit, sondern deren erfolgreiche Ausübung. 104 Woher gewinnen wir aber die Maßstäbe, anhand derer wir beurteilen können, ob eine Fähigkeit erfolgreich oder nicht ausgeübt wurde? Dazu müssen wir wissen, was das Ziel einer grundlegenden Fähigkeit ist. Erst von diesem Ziel her können wir beurteilen, ob die 104
Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 202.
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Ausübung einer Fähigkeit als gut, mäßig oder schlecht zu qualifizieren ist. Wir bezeichnen sie dann als gut, wenn wir im Ausüben dieser Fähigkeit das erreichen, worauf die Realisierung dieser Fähigkeit abzielt. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Woran beurteilen wir, ob jemand ein guter Arzt ist? Nun, gewöhnlich daran, dass er in der Lage ist, unsere Krankheiten richtig zu diagnostizieren und zu heilen. Ob jemand ein guter Arzt ist, wird demnach daran beurteilt, ob er im Ausüben seines Berufs die Ziele erreicht, die seinen Beruf definieren. Wüssten wir nicht, was »Ärzte« sind bzw. was das Ziel ihrer berufsspezifischen Betätigung ist, könnten wir weder beurteilen, ob jemand ein »guter« Arzt ist, noch hätten wir Kriterien, um einschätzen zu können, ob sein Handeln »erfolgreich« oder nicht ist. Dies scheint soweit plausibel. Doch auch dieser Schritt rettet Shers Erklärungsansatz noch nicht vor dem Vorwurf der Trivialität. Betrachten wir dies an seiner Rechtfertigung der Güter »Wissen« und »Enge persönliche Beziehungen« etwas näher. Gemäß Sher ist die Aneignung von »Wissen« gut bzw. wertvoll, weil sie das Ziel einer grundlegenden Fähigkeit realisiert, nämlich der Fähigkeit, die Welt, uns selbst und unsere Mitmenschen zu verstehen. 105 Wir wollen wissen, was der Fall ist, streben unermüdlich danach zu eruieren, ob die Überzeugungen über uns selbst, unsere Mitmenschen und die Welt, die wir für wahr halten, auch wirklich wahr sind. Wiederum droht hier jedoch der Trivialitätsvorwurf: Wird »Wissen« dadurch zu einem Gut bzw. Element eines guten Lebens, dass Menschen nahezu unvermeidlich und nahezu universal ihre Überzeugungen einer Art von Realitätscheck unterziehen und danach streben, wahre Überzeugungen zu haben? Demnach würde nahezu jeder erfolgreich das Ziel dieser grundlegenden menschlichen Fähigkeit erreichen, wenn er über eine bestimmte Menge von Faktenwissen verfügt. Betrachten wir unser Bildungssystem und ziehen wir unsere alltäglichen Intuitionen zu Rate, dann scheint es aber, dass wir das Ziel unserer Fähigkeit, zu verstehen, anders definieren. Wir messen einem reinen Faktenwissen einen gewissen Wert zu, aber beurteilen eine erfolgreiche Ausübung unser Fähigkeit zu Verstehen eher daran, ob jemand die Fakten in einen größeren Sinnzusammenhang bringen kann, er z. B. die kausalen oder finalen Relationen zwischen den Fakten erklären kann. Anders formuliert: Ob jemand erfolgreich etwas verstanden hat, beurteilen wir weniger daran, ob er eine bestimmte Menge an Fakten105
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Vgl. ibid., 203.
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wissen memorieren und reproduzieren kann, sondern mehr daran, ob er darlegen kann, wie und in welchem Verhältnis die fragliche Überzeugung zu anderen Überzeugungen steht und zu welchen Schlussfolgerungen er genötigt ist, wenn er diese Überzeugung für wahr hält. Es wird nun ersichtlich, worin Shers Problem besteht. Damit er sich gegen den Vorwurf der Trivialität erwehren kann, muss er das Ziel der grundlegenden Fähigkeit, zu verstehen spezifizieren. Anhand welcher Kriterien wird diese Spezifikation aber vorgenommen? Sie leitet sich nicht aus seinem Erklärungsschema ab. Im Gegenteil: Um die nahezu universale und nahezu unvermeidliche Ausübung unserer Fähigkeit, zu verstehen, nicht mit ihrer erfolgreichen Ausübung zu identifizieren, muss er ein Ziel spezifizieren, das nicht automatisch schon dadurch erreicht wird, dass man die entsprechende Fähigkeit ausübt. Wie wird dieses Ziel dann aber bestimmt? Die Frage stellt sich hier, ob es nicht noch eine zusätzliche Quelle von Normativität braucht und somit das »monistische« bzw. einheitsgebende Element von Shers Werttheorie gefährdet ist. Sher antizipiert einen solchen Vorwurf und schlägt in Bezug auf die Rechtfertigung des Guts »Wissen« deshalb vor, dieses Spezifikationsproblem dadurch zu lösen, dass wir nicht nur danach streben, uns nahezu unvermeidlich und nahezu universal ein »Faktenwissen« anzueignen, sondern ebenso universal wie unvermeidlich danach streben, zu ergründen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, also z. B. die kausalen oder finalen Beziehungen zwischen Fakten zu verstehen. 106 Die Existenz eines solchen Strebens anzunehmen, erscheint aber wenig plausibel und ein zu intellektualistisches Bild des Menschen zu zeichnen. Wohlgemerkt, es geht hier nicht um die noch plausible Annahme, dass wahrscheinlich nahezu alle Menschen nahezu unvermeidlich danach streben, ihr Faktenwissen in eine Art von »Ordnung« zu integrieren, d. h. ihre »Welt« von einer Weltanschauung, Ideologie oder Religion her zu interpretieren. Es ist hingegen äußerst unwahrscheinlich anzunehmen – und eine erdrückende Evidenz spricht leider dagegen –, dass Menschen nahezu unvermeidlich und nahezu universal danach streben, diese Überzeugungen auch daraufhin zu prüfen, ob sie wahr sind bzw. ob sie gerechtfertigt sind, diese Überzeugungen für wahr zu halten. Ich möchte ein weiteres Beispiel vorbringen, um meinen zweiten 106
Vgl. ibid., 203–204.
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Kritikpunkt am Erklärungsmodell von Shers Werttheorie zu verdeutlichen. Gemäß Sher ist es ein Element eines guten Lebens, »enge soziale Beziehungen« zu haben. Weil wir soziale Wesen sind, streben wir nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach, solche Beziehungen einzugehen. Bei diesem Punkt der Rechtfertigung des Guts »enge persönliche bzw. soziale Beziehungen« stehen zu bleiben, würde Sher wiederum dem Vorwurf der Trivialität aussetzen: Dann würden alle Menschen nahezu unvermeidlich in dieser Hinsicht ein gutes Leben führen. Offensichtlich braucht es eine Spezifikation des Ziels dieser Fähigkeit, um von daher beurteilen zu können, wann die Ausübung dieser Fähigkeit als erfolgreich zu qualifizieren ist. Erst von dieser Spezifikation her kann erklärt werden, warum wir manche enge soziale Beziehungen als gut und andere als weniger gut oder sogar schlecht charakterisieren. Das Problem ist hier wiederum, dass die von Sher vorgeschlagene Spezifikation sich nicht aus seinem Erklärungsmodell ableitet und er damit in Widerspruch zu seinem Anspruch gerät, dass dieses Modell in einer einheitsgebenden Weise erklären kann, was Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen gemeinsam ist, die wir als gut oder wertvoll bezeichnen. Es scheint wiederum, dass man noch eine weitere »Quelle« von Normativität braucht, denn Menschen streben (leider) nicht nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach, Beziehungen gegenseitiger Anerkennung zu etablieren und aufrecht zu erhalten, d. h. sich in einer nicht-manipulativen, nicht-ausbeuterischen, nicht-gewalttägigen und nicht-destruktiven Weise miteinander in Beziehung zu setzen. 107 Seine Behauptung, dass viele »Traditionen« soziale Beziehungen als gut bzw. wertvoll beurteilen, in denen eine wechselseitige Anerkennung der Beziehungspartner erreicht wird, erscheint reines Wunschdenken. 108 Und selbst wenn man diese Behauptung als empirisch strittigen Punkt offenlässt, bleibt die Frage, ob nicht auch ein Begriff wie »gegenseitige Anerkennung« normativ zu unterbestimmt ist: Welche Aspekte einer Person verdienen eine Anerkennung durch eine andere Person und warum? Kann dies allein durch einen Bezug auf in einer Gesellschaft etablierte Praktiken und Überzeugungen bestimmt werden? Es wird deutlich, dass es nicht nur einer weiteren Spezifikation bedarf, nämlich einer Definition dessen, was es heißt, sich erfolgreich gegenseitig 107 108
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Vgl. ibid., 206–207. Vgl. ibid., 206.
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anzuerkennen, sondern auch einer Erklärung dafür, warum derartige Beziehungen gut bzw. wertvoll sind. 5.2.1.4 Das Entsprechungsproblem Ein dritter Kritikpunkt knüpft an die unmittelbar vorhergehenden Ausführungen an und kann deshalb entsprechend kurz gehalten werden. Ich habe im vorigen Unterabschnitt demonstriert, dass Sher das Erklärungsmodell seiner Werttheorie gegen den Vorwurf der Trivialität damit verteidigt, dass er die Ziele grundlegender Fähigkeiten derart spezifiziert, dass eine unvermeidliche Ausübung einer solchen Fähigkeit nicht mit einer erfolgreichen Ausübung identisch ist. Meine Kritik bezog sich auf die Frage, anhand welcher Kriterien Sher diese Spezifikation vornimmt, da die entsprechenden Ziele sich nicht aus seinem Erklärungsschema bzw. seiner Definition grundlegender Fähigkeiten ableiten lassen. An diese Beobachtung anknüpfend lässt sich nun folgender Kritikpunkt formulieren: Selbst wenn es Sher gelingen sollte zu erklären, wie er die Ziele grundlegender Fähigkeiten spezifizieren kann, ohne den einheitsgebenden bzw. monistischen Charakter seiner Werttheorie aufzugeben, dann bleibt das Problem, dass er die objektive Gültigkeit von Werturteilen nicht damit rechtfertigen bzw. begründen kann, dass diese empirischen Fakten entsprechen. Menschen streben z. B. weder in einer nahezu universalen und nahezu unvermeidlichen Weise danach, ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen (d. h. ihr »Wissen« darüber, »was die Welt im Innersten zusammen hält«) auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, noch streben Menschen in einer universalen und unvermeidlichen Weise danach, nicht-manipulative Beziehungen gegenseitigen Respekts und wechselseitiger Anerkennung zu etablieren und aufrecht zu erhalten. Selbst wenn man ferner die Frage einklammert, ob Shers Rückgriff auf eine kohärentistische Epistemologie ihn wirklich gegen den Vorwurf eines sogenannten »naturalistischen Fehlschlusses« immunisiert, so kann man ihn mit dem Vorwurf konfrontieren, dass seine Werttheorie bzw. sein naturalistischer Realismus die objektive Gültigkeit perfektionistischer Werturteile nicht damit erklären kann, dass zwischen diesen Werturteilen und empirischen Fakten über unsere menschliche Natur eine »natürliche Affinität« bzw. eine Art von Entsprechungsverhältnis besteht. 109 109
Vgl. ibid., 201.
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Shers Argumentation verfängt sich somit in folgendem Dilemma: Entweder er gibt die These auf, dass die Wahrheit empirisch zu verifizierender Fakten wie »Menschen streben nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach, P zu realisieren« konstitutiv für die objektive Geltung bzw. den Wahrheitsanspruch von Werturteilen wie »Es ist gut für Menschen, dass P« ist, oder aber er muss sich drei Vorwürfe gefallen lassen: Seine Werttheorie ist trivial, sie ist nicht in der Lage, die Ziele grundlegender menschlicher Fähigkeiten zu spezifizieren, noch kann sie Werturteile damit rechtfertigen, dass diese empirischen Fakten über die Welt oder der menschlichen Natur entsprechen. Das zweite Horn des Dilemmas anzugreifen, erscheint nicht sehr erfolgsversprechend. Der Vorwurf der Trivialität ist fatal. Es hätte die absurde Konsequenz, dass – aufgrund Shers Definition grundlegender Fähigkeiten – nahezu jeder Mensch nahezu unvermeidlich ein gutes Leben führt. Um sich gegen diesen Trivialitätsvorwurf zu verteidigen, ist Sher insofern gezwungen, eine Spezifizierung der Ziele grundlegender Fähigkeiten vorzunehmen. Diese Spezifizierungsnotwendigkeit bringt Sher aber in Schwierigkeiten: Erstens wirft sie die Frage auf, anhand welcher Kriterien bestimmt wird, was eine erfolgreiche Realisierung der entsprechenden grundlegenden Fähigkeiten darstellt. Diese Kriterien leiten sich nicht aus seiner empirischen Definition grundlegender Fähigkeiten ab. Zweitens führt eine solche Spezifizierung dazu, dass der Objektivitätsanspruch der von Sher anvisierten Werturteile nicht mehr damit gerechtfertigt und erklärt werden kann, dass diese Werturteile bestimmten empirischen Fakten über die Welt und insbesondere der menschlichen Natur entsprechen. Wie Sher selbst ausführt, geht es um die Rechtfertigung von »perfektionistischen« Werturteilen, d. h. um menschliche Exzellenz. 110 Menschen streben aber weder universal noch unvermeidlich danach, ihre grundlegenden Fähigkeiten »gut« bzw. »exzellent« auszuüben. Da es aussichtslos erscheint, das zweite Horn des Dilemmas anzugreifen, stellt sich die offenkundige Frage, warum Sher nicht versucht, diesem Dilemma dadurch zu entgehen, dass er dessen erstes Horn attackiert, indem er den Anspruch aufgibt, dass die Wahrheit empirischer Fakten konstitutiv für die Wahrheit von Werturteilen ist. Ich werde im Folgenden darlegen, dass ihm diese Möglichkeit verwehrt ist, weil es der Akzeptanz einer essentialistischen Konzeption 110
292
Vgl. ibid., 207, 212.
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eines naturalistischen Realismus gleichkäme. Der von ihm gewählte Ansatz zur Lösung des Problems der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt mittels Argumenten, die mit kontroversen Annahmen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, zwingt ihn aber notwendigerweise zur Übernahme einer anti-essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus.
5.2.2 Kritik am Anti-Essentialismus Ich habe in den vorhergehenden Unterabschnitten dieses Kapitels dafür argumentiert, dass Shers Werttheorie auf einer normativen Ebene nicht das Erklärungspotential hat, das sie zu haben beansprucht. Sein naturalistischer Realismus will auf der einen Seite den Objektivitätsanspruch normativer Urteile durch einen alleinigen Rekurs auf empirische Fakten rechtfertigen und erklären, auf der anderen Seite scheint er auftauchende Trivialitäts- und Spezifikationsprobleme seines Erklärungsansatzes aber nur lösen zu können, wenn er auf eine nicht-empirische, normative Vorstellung der menschlichen Natur Bezug nimmt. Eine solche Bezugnahme ist ihm aber nur erlaubt, wenn er dafür die Annahme aufgibt, dass allein empirische Fakten konstitutiv für die Geltung von Werturteilen sind. Was hindert ihn daran, die aufgezeigten Probleme seines Modells eines Perfektionistischen Liberalismus durch eine solche Bezugnahme zu lösen? Anders formuliert: Warum gesteht er nicht zu, dass sein naturalistischer Realismus sich nur dann nicht in Widersprüche verwickelt, wenn er eine bestimmte normative bzw. kontrafaktische Vorstellung über die menschliche Natur voraussetzt? Werturteile wären dann Urteile darüber, wonach wir streben sollten, wenn wir unsere menschlichen Grundfähigkeiten erfolgreich ausüben wollen, d. h. unsere menschliche Natur entfalten und als Menschen gedeihen wollen. Meine These ist, dass sich Sher diese Möglichkeit verbaut, weil ihn sein Lösungsvorschlag für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung dazu zwingt, auf einer metaethischen Ebene an einer anti-essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus festzuhalten. Die Übernahme dieser Variante eines naturalistischen Realismus beraubt Sher aber gerade jener Ressourcen, die erforderlich wären, um in einer einheitsgebenden Weise erklären zu können, was die Einträge auf Parfits Liste zu Gütern bzw. Werten macht. Es gilt demnach zunächst Shers metaethische Argumentation für eine Perfektionistischer Liberalismus
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anti-essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus zu rekonstruieren, um dann zu begründen, warum es ihm nicht freisteht, einen Essentialismus zu vertreten. 5.2.2.1 Rekonstruktion der metaethischen Argumentation Im Sinne der Argumentation blende ich meine Kritik am Erklärungspotential von Shers Werttheorie für den Moment einmal aus und versuche dessen Standpunkt einzunehmen. Sher meint demonstriert zu haben, dass er mit seiner Werttheorie in einer einheitsgebenden Weise erklären kann, was die Einträge auf Parfits Liste zu Werten oder Gütern macht. Gemäß Sher ist eine Aktivität, Charaktereigenschaft oder Beziehungsweise dann in einem objektiven Sinne gut bzw. wertvoll für Menschen, wenn sie der erfolgreichen Realisierung eines Zieles einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit entspricht oder für die Erreichung eines solchen Zieles notwendig ist. Von dieser Voraussetzung ausgehend lässt sich Shers metaethische Argumentation für eine anti-essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus in drei Schritten rekonstruieren. Der erste Schritt Shers besteht in dem Versuch, plausibel zu machen, warum es überhaupt einer weiteren metaethischen Rechtfertigung seines Schemas bedarf, das sagt: »Eine Aktivität, Charaktereigenschaft oder Beziehungsweise ist dann objektiv gut bzw. wertvoll für Menschen, wenn sie der Realisierung eines Ziels einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit entspricht oder für die Erreichung eines solchen Zieles notwendig ist«. Der Grundgedanke Shers scheint hier zu sein, dass es – aufgrund ihres Erklärungspotentials – zwar plausibel scheint, eine einheitsgebende bzw. moderat pluralistische Werttheorie einer radikal pluralistischen vorzuziehen, damit aber noch nicht begründet ist, warum man innerhalb einer Menge von einheitsgebenden bzw. moderat pluralistischen Werttheorien nun Shers konkrete Werttheorie und deren Erklärungsmodell übernehmen soll. 111 Ein weiteres metaethisches Argument für seine Werttheorie und deren Erklärungsmodell ist demnach aus zwei aufeinander aufbauenden Gründen notwendig: Erstens bedarf es einer Begründung, warum man die metaethischen Voraussetzungen akzeptieren soll, auf deren Hintergrund Shers Werttheorie erst ihr Erklärungspotential entfalten kann. Diese Begründung darf nicht auf das Erklärungspotential der Theorie Bezug nehmen, da sie sonst zirkulär wäre. Mit anderen Worten: Es gilt 111
294
Vgl. ibid., 219.
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plausibel zu machen, warum man – unabhängig von ihrem Erklärungspotential – Shers Werttheorie und deren Erklärungsschema akzeptieren soll. 112 Zweitens ergibt sich eine derartige unabhängige Begründung dadurch, dass man demonstriert, dass auf einer metaethischen Ebene Shers moderat pluralistische bzw. einheitsgebende Werttheorie konkurrierenden moderat pluralistischen bzw. einheitsgebenden Werttheorien gegenüber im Vorteil ist. Konsequenterweise muss der zweite Schritt von Shers metaethischer Argumentation für eine anti-essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus darin bestehen, Kriterien vorzuschlagen, anhand derer moderat-pluralistische Werttheorien – also Werttheorien, die beanspruchen, in einer einheitsgebenden Weise erklären zu können, was Dingen gemeinsam ist, die als Güter bzw. Werte bezeichnet werden – klassifiziert und bewertet werden können. Als Klassifikationskriterien schlägt Sher die Begriffspaare subjektiv/objektiv und teleologisch/nicht-teleologisch vor, als Bewertungskriterien ein sogenanntes Distanz- und Tiefenerfordernis. Ich erläutere als erstes die Klassifikationskriterien. Moderat-pluralistische Werttheorien unterscheiden sich zunächst anhand der Frage, ob die normative Quelle, die in einer einheitsgebenden Weise erklären kann, was den Dingen gemeinsam ist, die wir auf intuitiv plausiblen Güterlisten vorfinden, innerhalb oder außerhalb von Personen anzusiedeln ist. 113 Auf dem Hintergrund meiner schon geleisteten metaethischen Diskussion lässt sich dieses Klassifikationskriterium auch folgendermaßen reformulieren: Sind Dinge gut bzw. wertvoll, weil wir sie wünschen, oder wünschen wir uns Dinge, weil sie gut bzw. wertvoll sind? Subjektivisten behaupten, dass Dinge gut bzw. wertvoll sind, weil sie in einem Entsprechungsverhältnis zu subjektiven mentalen Zuständen wie Wünschen stehen, während Objektivisten daran festhalten, dass Dinge gut bzw. wertvoll für Menschen sind, weil sie Sachverhalten entsprechen, die unabhängig davon sind, was Menschen wollen oder wünschen. Moderat-pluralistische Werttheorien werden von Sher zweitens gemäß dem Gegensatzpaar »teleologisch/nicht-teleologisch« klassifiziert. Als »teleologisch« bezeichnet er Werttheorien, die die Eigenschaft, die allen Aktivitäten, Charaktereigenschaften oder Beziehungsweisen gemeinsam ist, die als gut bzw. wertvoll beurteilt wer112 113
Vgl. ibid., 218. Vgl. ibid., 219; 224.
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den, in Beziehung setzen mit der Erreichung eines Ziels. Die Unterscheidung zwischen »teleologischen« und »nicht-teleologischen« Werttheorien erscheint mir bei Sher weniger klar formuliert. Diese interpretative Schwierigkeit wird auch durch die von ihm vorgebrachten Beispiele für nicht-teleologische subjektive Werttheorien oder nicht-teleologische objektive Werttheorien nicht behoben. Mein Vorschlag besteht darin, dieses Klassifikationskriterium – wiederum auf dem Hintergrund der schon geleisteten metaethischen Diskussion – im Sinne der Unterscheidung zwischen einem naturalistischen und nicht-naturalistischen Realismus in Bezug auf Werteigenschaften zu verstehen. Nicht-naturalistische Realisten vertreten demnach eine »nicht-teleologische« Werttheorie, da sie behaupten, dass Urteile über die Wert- bzw. Guthaftigkeit einer Aktivität, Charaktereigenschaft oder Beziehungsweise dann wahr sind, wenn die entsprechenden Aktivitäten, Charaktereigenschaften oder Beziehungsweisen die Eigenschaft besitzen, in einem absoluten bzw. intrinsischen Sinne gut oder wertvoll zu sein. Naturalistische Realisten favorisieren hingegen eine »teleologische« oder inhärente Werttheorie, die Werteigenschaften als relationale Eigenschaften konzipiert, also als Eigenschaften, die in Beziehung zur Entwicklung der menschlichen Natur stehen. Das Urteil zu treffen, dass eine Aktivität, Charaktereigenschaft oder Beziehungsweise gut bzw. wertvoll ist, bedeutet demnach zu behaupten, dass sie die Eigenschaft besitzt, gut für die entsprechende Person zu sein, d. h. für deren Entwicklung bzw. Gedeihen. Etwas hat also nicht dann die Eigenschaft, »gut« bzw. »wertvoll« zu sein, wenn gilt »X ist gut simpliciter«, sondern wenn gilt »Es ist gut für eine Person P, dass X«. Diese Reinterpretation ist im Einklang mit den von Sher gewählten Beispielen und hat den Vorteil, metaethisch eindeutiger zu sein. Nach dieser Vorstellung und teilweisen Reinterpretation der von Sher gebrauchten Klassifikationskritieren komme ich zu den von ihm vorgeschlagenen Bewertungskriterien. Werttheorien werden von Sher danach beurteilt, ob sie sowohl ein sogenanntes »Tiefenkriterium« als auch ein »Distanzkriterium« erfüllen. Der Gedankengang Shers lässt sich wie folgt verstehen: Eine Werttheorie kann nur überzeugen, wenn die Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen, die sie für gut bzw. wertvoll erklärt, zum einen der Realisierung von Zielen entsprechen, die für die Personen, die diese Ziele haben, wesentlich sind. »Wesentlich« meint hier zunächst einmal nicht mehr, als dass die Realisierung dieser Ziele für das Wohlergehen 296
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bzw. Gedeihen der Personen notwendig ist, die diese Ziele haben bzw. die Frustration dieser Ziele eine Beeinträchtigung des Wohlergehens bzw. Gedeihens impliziert. 114 Mit diesem »Tiefenerfordernis« will sich Sher von einem unplausiblen Objektivismus bzw. Realismus abgrenzen, der Menschen objektive Ziele vorgibt und Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen für gut bzw. wertvoll erklärt, die der Realisierung dieser Ziele entsprechen, aber keine Begründung dafür anbietet, warum Menschen danach streben sollten, diese Ziele zu realisieren. 115 Das »Distanzerfordernis« hingegen soll gewährleisten, dass nicht einfach die Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen für gut bzw. wertvoll erklärt werden, die der Realisierung von Zielen entsprechen, die Personen in einer kontingenten Weise besitzen, also aufgrund ihrer je individuellen Präferenzen, Wünschen oder Vorlieben, da es sonst an einem objektiven Bewertungsmaßstab zweiter Ordnung fehlt, von dem her beurteilt werden kann, ob es gut bzw. wertvoll für Personen ist, diese Präferenzen, Wünsche oder Vorlieben zu haben und die mit ihnen gegebenen Ziele zu realisieren. 116 Der dritte und letzte Schritt in Shers metaethischer Argumentation ergibt sich wiederum aus dem Vorhergehenden und besteht darin, Werttheorien nach den vorgeschlagenen Kriterien zu klassifizieren und zu bewerten. Sher kommt in diesem Bewertungsprozess zu einem zweifachen Ergebnis: Gegen einfache oder aufgeklärte Wunscherfüllungstheorien spricht erstens, dass sie das Tiefen- und Distanzerfordernis nicht zugleich erfüllen können. 117 Die Argumentation Shers erscheint mir plausibel und ich gehe hier nicht näher auf sie ein, weil sie an dieser Stelle nichts zum Fortgang meiner Argumentation beiträgt. Was mich hier interessiert ist vielmehr, dass Sher zweitens zu dem Ergebnis kommt, dass sowohl essentialistische als auch anti-essentialistische Konzeptionen eines naturalistischen Realismus sowohl dem Tiefen- als auch dem Distanzerfordernis genügen. 118 Die Frage ist nun also, wie ein metaethisches Argument aussehen könnte, das für eine von Sher bevorzugte anti-essentialistische Vgl. ibid., 234. Es ist diese Intuition, die die Suche Kutscheras nach einem Mittelweg zwischen einem Subjektivismus und einem Realismus zu motivieren scheint, vgl. hierzu insbesondere Kutschera, Wert und Wirklichkeit, 9–10. 116 Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 234. 117 Vgl. ibid., 234–236. 118 Vgl. ibid., 239. 114 115
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Konzeption eines naturalistischen Realismus und gegen die Übernahme einer essentialistischen bzw. aristotelischen Konzeption eines solchen naturalistischen Realismus spricht. Da beide Varianten eines naturalistischen Realismus zugleich die von Sher vorgeschlagenen Bewertungskriterien erfüllen, bedarf es eines weiteren Kriteriums, um die Bevorzugung einer anti-essentialistischen Konzeption zu rechtfertigen. Welches Kriterium bietet Sher hierfür an? Die Ausführungen Shers sind hier leider sehr spärlich, aber letztlich scheint seine Argumentation darauf hinauszulaufen, dass eine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus nicht akzeptabel ist, weil sie die Übernahme unplausibler und äußerst kontroverser metaphysischer Annahmen impliziert. 119 Eine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus aristotelischer Provenienz ist aus der Sicht Shers nicht zu verteidigen, weil sie nahezu-universale und nahezuunvermeidliche menschliche Ziele aus der Vorstellung ableitet, dass es so etwas wie »natürliche« menschliche Ziele gibt, die durch die menschliche Natur definiert werden und ihr inhärent sind, was seiner Ansicht nach wiederum in einer überholten metaphysischen Weltsicht bzw. einer Art von »metaphysischer Biologie« fußt. 120 Ohne eine solche metaphysische Hintergrundtheorie wird es laut Sher aber nahezu unmöglich, so etwas wie »natürliche« oder »wesentliche« menschliche Ziele zu spezifizieren und zu rechtfertigen. 121 Für seine anti-essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus spricht demnach, dass sie auf der einen Seite die Vorteile eines naturalistischen Realismus bewahren kann – nämlich dessen Idee von nahezu-universalen und nahezu-unvermeidlichen menschlichen Zielen –, ohne auf der anderen Seite dessen Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, die Sher mit der Übernahme kontroverser metaphysischer Hintergrundannahmen identifiziert. 122 Zwar mag die Behauptung der Existenz von nahezu-universalen und nahezuunvermeidlichen menschlichen Zielen und deren Identifikation gemäß Shers naturalistischem Realismus auch kontrovers sein, jedoch ist diese Kontroversalität nicht weiter problematisch, da sie nicht von der Wahrheit metaphysischer Annahmen abhängt, sondern daraus 119 120 121 122
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Vgl. ibid., 240; 242. Vgl. ibid., 225–226. Vgl. ibid., 226. Vgl. ibid., 240.
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resultiert, dass man die Evidenz, die sich auf derartige empirische Aussagen stützt, wie bei allen empirischen Aussagen unterschiedlich gewichten oder sogar gänzlich in Frage stellen kann. 5.2.2.2 Das notwendige Bekenntnis zu einem Anti-Essentialismus Mittels der Rekonstruktion der metaethischen Argumentation Shers im voraufgehenden Unterabschnitt habe ich aufgezeigt, dass Sher den Vorzug seiner eigenen anti-essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus gegenüber einer essentialistischen Variante damit begründet, dass jener weitaus weniger »metaphysische Kosten« verursacht. Nun könnte man argumentieren, dass diese Analyse zwar zutreffen mag, aber diese »metaphysischen Kosten« abzuwägen sind gegen den Vorteil, mittels solcher metaphysischer bzw. essentialistischer Hintergrundannahmen die oben aufgezeigten Probleme hinsichtlich des Erklärungspotentials einer objektiven Theorie eines guten Lebens lösen zu können (siehe 5.2.1). Ob eine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus eine überzeugende Lösung für das Konstitutionsproblem, das Trivialitätsproblem und das Spezifikationsproblem präsentieren kann, wird später noch Gegenstand meiner Untersuchung sein (siehe 6.3.2). An dieser Stelle geht es mir lediglich darum darzulegen, dass Sher völlig unabhängig von der Beantwortung dieser Frage eine mögliche Abwägung zwischen der Übernahme kontroverser metaphysischer Annahmen und dem möglichen Erklärungspotential einer Werttheorie nicht offen steht. Mit anderen Worten: Sher ist notwendigerweise gezwungen, eine anti-essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus zu vertreten bzw. notwendigerweise verpflichtet eine essentialistische Variante abzulehnen, was es ihm unmöglich macht, das am Ende des vorausgehenden Unterabschnitts aufgezeigte Dilemma durch einen Angriff auf dessen erstes Horn aufzulösen. Warum? Die einfache Antwort hierauf lautet: Der von ihm gewählte Lösungsansatz für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt mittels Argumenten, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, zwingt ihn dazu. Ich habe weiter oben dargelegt (siehe 5.1), dass die Lösung, die Shers quasi-naturrechtliches Modell eines Perfektionistischen Liberalismus bereithält, um eine Entgegnung auf Quongs Entkräftung des Asymmetriearguments zu finden, darin besteht, Quongs zweiten argumentativen Schritt anzugreifen. Mit anderen Worten: Sher ist davon überzeugt, Perfektionistischer Liberalismus
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dass er, wenn er den Objektivitätsanspruch einer Theorie eines guten Lebens rechtfertigen kann, zugleich das Problem der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt mittels kontroverser perfektionistischer Argumente gelöst hat. Weil er davon ausgeht, dass er eine Werttheorie präsentiert hat, die in einer einheitsgebenden Weise erklären kann, wann es in einem objektiven Sinne gerechtfertigt ist, Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen als »gut« bzw. »wertvoll« zu bezeichnen, wähnt er sich berechtigt, eine asymmetrische Behandlung von kontroversen Gerechtigkeitsfragen und kontroversen Fragen des guten Lebens abzulehnen. Das von Sher vorgeschlagene Erklärungsschema »Eine Aktivität, Charaktereigenschaft oder Beziehungsweise ist dann objektiv gut bzw. wertvoll für Menschen, wenn sie der Realisierung eines Ziels einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit entspricht oder für die Erreichung eines solchen Zieles notwendig ist« gewährleistet einen solchen gemeinsamen Rechtfertigungsrahmen, d. h. einen moderaten Pluralismus in Bezug auf Fragen des guten Lebens. Man mag sich darüber uneinig sein, wie Güter und Werte gewichtet werden sollen, aber man hat gemeinsame evaluative Standards, von denen her bestimmt werden kann, von welchen Überlegungen man vernünftigerweise erwarten kann, dass ein – hinreichend vernünftiger – Dialogpartner sie als relevant anerkennen kann, wenn man zu bestimmen versucht, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Diese gemeinsamen evaluativen Standards ergeben sich gerade aus dem einheitsgebenden Charakter von Shers Werttheorie. Ebenso wie bei kontroversen Gerechtigkeitsfragen ist damit auch hinsichtlich kontroverser Fragen des guten Lebens gezeigt, dass die Bürden der Urteilskraft nicht zu einer vernünftigen Uneinigkeit im Sinne einer Relevanzuneinigkeit führen, sondern lediglich zu einer vernünftigen Uneinigkeit im Sinne einer Gewichtungseinigkeit. Entscheidend für das Funktionieren dieses Lösungsvorschlags ist, dass Shers Erklärungsschema und die Bestimmung grundlegender menschlicher Ziele, die dann als gemeinsame evaluative Standards fungieren, nicht von der Übernahme kontroverser metaphysischer Annahmen abhängen. Ein Anti-Perfektionistischer Liberaler wie Quong könnte Perfektionistischen Liberalen, die auf Shers quasi-naturrechtliches Modell zurückgreifen, sonst entgegnen, dass dieses Modell vielleicht ein hohes Erklärungspotential hat, aber dennoch das Problem öffentlicher Rechtfertigung nicht löst, weil es nur dann plausibel ist, wenn man zugleich eine metaphysische Hintergrund300
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theorie über die menschliche Natur und die ihr inhärenten Ziele übernimmt, über die man vernünftigerweise uneinig sein kann. Mit anderen Worten: Quong könnte jemandem, der Shers Modell und dessen Lösungsansatz vertritt, vorwerfen, dass er evaluative Standards für verbindlich erklärt, von denen er – aufgrund der besagten metaphysischen Prämissen – nicht vernünftigerweise erwarten kann, dass alle – in ausreichendem Maße vernünftigen – Bürger einer Gesellschaft sie unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus in Bezug auf Religion, Weltanschauung und metaphysischen Theorien als relevant anerkennen können. Unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus ist es möglich, die evaluativen Standards abzulehnen, die eine Religion, Weltanschauung oder metaphysische Theorie als relevant für eine Beurteilung darüber vorschlägt, was ein gutes Leben ist und ausmacht, ohne dadurch als unvernünftig gelten zu müssen. Anders formuliert: Eine Werttheorie, die beansprucht, in einer einheitsgebenden Weise erklären zu können, welche Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen in einem objektiven Sinne »gut« bzw. »wertvoll« sind, hat unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus nur dann Aussicht darauf, als plausibel akzeptiert zu werden, wenn ihre Geltung nicht von der Wahrheit von Überzeugungen religiöser oder metaphysischer Natur abhängt, die man vernünftigerweise ablehnen kann. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum Sher so sehr darauf insistiert, dass seine Werttheorie zwar eine große Nähe zu einer essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus aristotelischer Provenienz aufweist, sich aber als »empirisches Substitut« versteht, das das Erklärungspotential übernimmt, welches eine solche Konzeption zu bieten weiß, allerdings das problematische essentialistische bzw. metaphysische Element zu Gunsten einer unproblematischen anti-essentialistischen bzw. empirischen Komponente ersetzt. 123 Nur wenn sich auf empirischem Wege grundlegende menschliche Ziele identifizieren lassen – also ohne den Rückgriff auf kontroverse metaphysische Annahmen über die menschliche Natur –, kann seine Werttheorie die gemeinsamen evaluativen Standards liefern, von denen her bestimmt und in einem objektiven Sinne gerechtfertigt werden kann, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Die Notwendigkeit der Ablehnung einer essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus ergibt sich demnach aus dem ge123
Vgl. ibid.
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wählten Lösungsansatz für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt mittels Argumenten, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht.
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III. Verteidigung: Das Konvergenzmodell
Ich habe mir in dieser Arbeit das Ziel gesetzt zu untersuchen, ob ein Perfektionistischer Liberalismus eine kohärente und attraktive Position innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie darstellen kann, die die revisionären Konsequenzen eines Politischen Liberalismus in Bezug auf die politische Praxis liberaler Gesellschaften und den darin implizierten Überzeugungen über den legitimen Umfangsbereich staatlichen Handelns vermeiden kann. Nachdem ich im analytischen ersten Teil meiner Untersuchung herausgearbeitet habe, dass ein Perfektionistischer Liberalismus aus einem defensiven und einem konstruktiven Element besteht, demonstrierte ich in einem kritischen zweiten Teil, dass das sektiererische Modell von Wall sowie das quasi-naturrechtliche Modell von Sher diesbezüglich entscheidende Schwächen aufweisen. Aufgrund dessen ist im dritten Teil meiner Arbeit eine konstruktive Absicht leitend. Angesichts der aufgezeigten Schwierigkeiten der beiden bisher vorgestellten Modelle eines Perfektionistischen Liberalismus dürfte deutlich geworden, dass diese Position weiterentwickelt werden muss, wenn sie sich im Rahmen einer liberalen Politischen Philosophie dauerhaft etablieren und als eine attraktive Alternative zu einem anti-perfektionistischen Politischen Liberalismus wahrgenommen werden will. Im folgenden Teil werde ich deshalb aufzeigen, dass eine solche Weiterentwicklung möglich ist und präsentiere ein neues »Konvergenzmodell« eines Perfektionistischen Liberalismus, von dem ich beanspruche, dass es die entdeckten Schwächen hinsichtlich des konstruktiven und defensiven Elements auszubessern vermag. Hinsichtlich des defensiven Elements eines Perfektionistischen Liberalismus argumentiere ich im ersten Kapitel dieses dritten Teils zunächst dafür, dass es mit der Akzeptanz eines Essentialismus (siehe 6.1) und mit Hilfe des Konzepts der »natürlichen Gutheit« (siehe 6.2) möglich ist, das Problem des Objektivitätsanspruchs einer Theorie Perfektionistischer Liberalismus
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eines guten Lebens zu lösen. Im Anschluss daran werde ich zwei Argumente präsentieren, die dafür sprechen, dass meine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus sich der anti-essentialistischen Konzeption von Sher als rational überlegen erweist (siehe 6.3). Das zweite Kapitel wendet sich schließlich der Aufgabe zu, das defensive Element eines Perfektionistischen Liberalismus zu verbessern und zu verteidigen. Inhaltlich geht es also darum, eine überzeugende Lösung für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung zu präsentieren. Hier wird sich zeigen, wie sich mein »Konvergenzmodell« sowohl vom sektiererischen Modell Walls, als auch vom quasi-naturrechtlichen Modell Shers unterscheidet. Da ich zugestehe, dass ich mit meinem Rekurs auf einen Essentialismus bzw. eine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus auf metaphysische Annahmen über die menschliche Natur rekurriere, von denen man nicht vernünftigerweise erwarten kann, dass jeder vernünftige Bürger in einer liberalen und weltanschaulich pluralen Gesellschaft sie akzeptiert, kann ich – anders als Sher – das Problem der öffentlichen Rechtfertigung nicht mit einem Verweis auf die Lösung des Problems des Objektivitätsanspruchs einer Theorie eines guten Lebens ad acta legen. Ebenso wie Wall sehe ich die Notwendigkeit, den von Politischen Liberalen gebrauchten Begriff der öffentlichen Rechtfertigung zu kritisieren. Anders als Wall lehne ich allerdings nicht das Konzept einer öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ab, sondern unterscheide im Rückgriff auf jüngere Arbeiten von Gerald Gaus und Kevin Vallier zwischen zwei Konzeptionen öffentlicher Rechtfertigung (siehe 7.1). Meine Hauptthese wird hier sein, dass man als Liberaler nur dann zur Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips verpflichtet ist, wenn man eine Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung vertritt. Übernimmt man hingegen eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung, so ist es möglich ein Neutralitätsprinzip abzulehnen, ohne damit zugleich das Konzept öffentlicher Rechtfertigung und zentrale liberale Grundüberzeugungen bzw. -werte negieren zu müssen (siehe 7.2). Da für die Viabilität meines »Konvergenzmodells« eines Perfektionistischen Liberalismus die Konvergenzinterpretation des Prinzips öffentlicher Rechtfertigung von zentraler Bedeutung ist, werde ich demonstrieren, dass sich zwei wichtige Einwände gegen diese Konzeption entkräften lassen (siehe 7.3) und abschließend ein Argument entwickeln, welches liberale Politische Phi304
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losophen überzeugen sollte, dass eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung einer Konsenskonzeption vorgezogen werden sollte (siehe 7.4).
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6. (Neo-)aristotelischer Naturalismus
Die erste These, die ich in diesem Kapitel verteidigen werde, besagt, dass sich das Problem der Rechtfertigung des Objektivitätsanspruchs einer Theorie eines guten Lebens durch den Rückgriff auf eine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus lösen lässt. Paradigmatisch ist eine solche Position unter dem Begriff »(neo-)aristotelischer Naturalismus« 1 im Anschluss an G. E. M. Anscombe von Autoren wie Michael Thompson, Rosalind Hursthouse, Alasdair MacIntyre und insbesondere Philippa Foot entwickelt worden. 2 Ich werde zunächst die metaethischen Voraussetzungen und Annahmen einer solchen Position explizieren und erhellen, was hier unter dem Begriff »Essentialismus« verstanden wird (siehe 6.1), um dann das zentrale Konzept der »natürlichen Gutheit« vorzustellen und zu diskutieren (siehe 6.2), welches sich als in der Lage erweist, das Objektivitätsproblem zu lösen.
6.1 Essentialismus Ich behaupte, dass sich die Schwäche des konstruktiven Elements eines Perfektionistischen Liberalismus ausbessern lässt, wenn man vom Anti-Essentialismus Shers Abstand nimmt und stattdessen eine »essentialistische« Konzeption eines naturalistischen Realismus vertritt. Was meint aber der Ausdruck »essentialistisch« genau? Dieser Begriff begegnete uns im Rahmen der Rekonstruktion In der Literatur werden auch die Synonyme »analytischer Aristotelismus« oder »ethischer Naturalismus« verwendet, vgl. Kallhoff, Ethischer Naturalismus, 33; Lisska, Aquinas’s Theory of Natural Law, 5, 103–106; Thompson, Life and Action, 6, 9– 13. 2 Vgl. G. E. M. Anscombe, »Modern Moral Philosophy«, Philosophy 33, no. 124 (1958); Foot, Natural Goodness; Hursthouse, On Virtue Ethics; MacIntyre, Dependent Rational Animals; Thompson, Life and Action. 1
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von Shers metaethischer Argumentation für die rationale Überlegenheit seiner eigenen moderat-pluralistischen Werttheorie gegenüber rivalisierenden moderat-pluralistischen Werttheorien (siehe 5.2.2.1). Er wird von Sher kaum positiv definiert, sondern dient ihm eher dazu, ein unterscheidendes Charakteristikum seines rein »empirischen« naturalistischen Realismus gegenüber ähnlich erscheinenden naturalistischen Werttheorien aristotelischer Provenienz hervorzuheben. Die Begriffe »essentialistisch« und »empirisch« bzw. »anti-essentialistisch« werden also im Kontext einer Diskussion verwendet, bei der es um die Frage geht, welche moderat-pluralistische Werttheorie besser erklären kann, was den Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen gemeinsam ist, die wir auf intuitiv plausiblen Listen von objektiven Gütern bzw. Werten vorfinden. Ich möchte deshalb versuchen, die Bedeutung des Begriffs »essentialistisch« auch ausgehend von diesem pragmatischen Gesprächskontext her zu analysieren. 3 Was ich mit »essentialistisch« meine, wird sich auch noch besser erhellen, wenn ich weiter unten Foots Konzept der »natürlichen Gutheit« vorstelle. Klar ist, dass Foot und andere (Neo-)Aristoteliker wieder Begriffe und Denkmuster in die Praktische Philosophie einführen, die nicht ohne gewisse metaphysische Hintergrundannahmen plausibilisiert werden können. Genannt werden können hier etwa die metaphysischen Begriffe der »Form«, »Essenz«, »Wesen«, »Teleologie«, »Spezies«, »Zielursächlichkeit«, »Realdefinition« oder »Natur« etc. Ich gestehe offen ein, dass es dieser kontroversen metaphysischen Konzepte bedarf, damit es möglich ist, mit einem Bezug auf die menschliche Natur in einer einheitsgebenden Weise erklären bzw. begründen zu können, was für Menschen in einer objektiven Weise »gut« bzw. »wertvoll« ist. Ich werde in Kapitel 7 begründen, dass dies für meinen Argumentationsgang aber nicht fatal ist, weil ich – anders als Sher – zwischen dem Problem der Rechtfertigung des Objektivitätsanspruchs einer Konzeption eines guten Lebens und dem Problem der öffentlichen Rechtfertigung differenziere. Was ich in dieser Arbeit nicht leisten kann, ist eine ausgiebige Verteidigung der vorausgesetzten metaphysischen Annahmen eines (neo-)aristotelischen Naturalismus. Als Evidenz dafür, dass ein solches Unterfangen aber nicht völlig hoffnungslos ist, sondern man im Gegenteil von einer kleinen Renaissance einer aristotelischen Metaphysik bzw. eines metaphysischen Essentialismus – vor allem im Rahmen der englischsprachigen analytischen Philosophie – sprechen kann, sei verwiesen auf Edward Feser, Aristotle on Method and Metaphysics (New York: Palgrave Macmillian, 2014); Scholastic Metaphysics: A Contemporary Introduction (Heusenstamm: Editiones scholasticae, 2014); John Greco und Ruth Groff, Powers and Capacities in Philosophy: The New Aristotelianism (New York: Routledge, 2013); Lukas Novak et al., (Hg.). Metaphysics: Aristotelian, Scholastic, Analytic (Frankfurt/M.: Ontos, 2013); Daniel D. Novotny und Lukas Novak, (Hg.). Neo-Aristotelian Perspectives in Metaphysics (New York: Routledge, 2014); David S. Oderberg, Real Essentialism (New York: Routledge, 2007); Tuomas Tahko, Contemporary Aristotelian Metaphysics (Cambridge: Cambridge University Press, 2012).
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Shers Erklärungsmodell habe ich schon ausführlich analysiert und kritisiert (siehe Kapitel 5). Sein Vorschlag besagt, dass all jene Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen objektiv »gut« bzw. »wertvoll« sind, die der erfolgreichen Realisierung eines Ziels einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit entsprechen oder zur Realisierung eines solchen Ziels entscheidend beitragen. Wenn wir mit »G« alle Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen bezeichnen, denen gemeinsam sein soll, dass sie die Eigenschaft haben, in einem objektiven Sinne »gut« bzw. »wertvoll« für Menschen zu sein, »S« für ein beliebiges menschliches Individuum und »P« für einen beliebigen Sachverhalt steht, so lässt sich das Erklärungsmodell von Sher folgendermaßen formalisieren: (1) »G ist gut für S« ist genau dann wahr, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: (a) G ist identisch mit Sachverhalt P, der den Satz »Es ist gut für S, dass P« wahr macht. (b) P macht den Satz »Es ist gut für S, dass P« dann wahr, wenn P der erfolgreichen Realisierung eines grundlegenden Ziels von S entspricht oder entscheidend zur erfolgreichen Realisierung eines solchen Ziels von S beiträgt. (2) Die grundlegenden Ziele von S leiten sich aus den grundlegenden Fähigkeiten von S ab. (3) Eine Fähigkeit ist für ein Individuum S grundlegend, wenn ihre Ausübung von den Mitgliedern der Menge von Lebewesen, denen S zugehörig ist, nahezu unvermeidlich und nahezu universal angestrebt wird. Daraus folgt: (4) Menschliche Güter bzw. Werte stellen Sachverhalte dar, denen die Eigenschaft gemeinsam ist, dass sie der erfolgreichen Realisierung eines Ziels einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit entsprechen oder entscheidend zur erfolgreichen Realisierung eines solchen Ziels beitragen. Kontrastieren wir das Erklärungsmodell von Shers anti-essentialistischer Konzeption eines naturalistischen Realismus nun mit dem Erklärungsmodell, das eine essentialistische Variante eines solchen naturalistischen Realismus bieten kann. Hierfür kann ich an meine metaethische Diskussion aus dem ersten Teil meiner Arbeit anknüp308
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fen, an der ich an entscheidender Stelle auf die Ausführungen von Richard Kraut zurückgriffen habe (siehe 2.2.2.1). Das von mir leicht modifizierte Erklärungsmodell Krauts lässt sich wie folgt schematisieren: (1)’ »G ist gut für S« ist genau dann wahr, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: (a) G ist identisch mit Sachverhalt P, der den Satz »Es ist gut für S, dass P« wahr macht. (b) P macht den Satz »Es ist gut für S, dass P« dann wahr, wenn P einen Sachverhalt darstellt, der der Entwicklung bzw. dem Gedeihen von S entspricht oder zum Gedeihen von S entscheidend beiträgt. (2)’ Welche Sachverhalte der Entwicklung bzw. dem Gedeihen von S entsprechen oder zum Gedeihen von S entscheidend beitragen können, hängt von den Charakteristika der Lebensform bzw. Spezies L ab, von denen S ein Exemplar ist. Daraus folgt: (3)’ Menschliche Güter bzw. Werte stellen Sachverhalte dar, denen die Eigenschaft gemeinsam ist, dass sie Menschen als Menschen gedeihen lassen bzw. entscheidend zu diesem Gedeihen beitragen, d. h., dass sie Menschen zu guten Exemplaren ihrer Spezies machen. Von dieser Formalisierung her werden die Ähnlichkeiten von Shers anti-essentialistischem Erklärungsmodell mit dem einer essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus deutlich, aber auch deren Unterschiede ersichtlich. Gemeinsam ist beiden das naturalistische Element, d. h. die Punkte (1a) und (1a)’ sowie (1b) und (1b)’, wonach die Erklärung der Wert- bzw. Guthaftigkeit von Sachverhalten rückgebunden wird an die Realisierung von Zielen, die sich aus einer empirisch oder essentialistisch bzw. metaphysisch konzipierten »Natur« des Menschen ableiten. Beide versuchen demnach, die Objektivität von Urteilen über den Wert bzw. die Guthaftigkeit bestimmter Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen durch einen Bezug auf bestimmte »Fakten« über den Menschen zu begründen. Damit deutet sich aber auch schon der entscheidende Unterschied zwischen beiden Varianten eines naturalistischen Realismus an. Wie die Punkte (2) und (3) im Unterschied zum Punkt (2)’ deutPerfektionistischer Liberalismus
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lich machen, können laut einem anti-essentialistischen Naturalisten die gesuchten »natürlichen« Ziele mittels einer rein empirischen beschreibbaren Konzeption der menschlichen Natur bestimmt werden, während gemäß einem essentialistischen Naturalisten diese Ziele nicht rein empirisch bestimmt werden können, sondern es eine metaphysische oder essentialistische Erörterung darüber braucht, was die Natur des Menschen ausmacht und worin das Gut der menschlichen Natur besteht. Erst wenn dies in einem ausreichenden Sinne geklärt ist, kann begründet werden, was es heißt, ein guter Mensch zu sein, und welche Sachverhalte in einem objektiven Sinne »gut« bzw. »wertvoll« für Menschen sind und demzufolge berechtigterweise als menschliche »Güter« bzw. »Werte« bezeichnet werden können. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden naturalistischen Erklärungsmodellen lässt sich demnach am besten anhand ihrer konträren Antworten auf folgende Frage illustrieren: Braucht man für eine Erklärung, was den Aktivitäten, Charaktereigenschaften und 8Beziehungsweisen gemeinsam ist, die wir als objektiv »gut« bzw. »wertvoll« bezeichnen, einen Bezug auf die Charakteristika der menschlichen Lebensform bzw. ein nicht vollständig empirisch zu gewinnendes Wissen darum, was es bedeutet, ein gutes Exemplar der Spezies »Mensch« zu sein? Vertreter einer anti-essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus – wie Sher – verneinen diese Frage. Grundlegende menschliche Fähigkeiten und grundlegende menschliche Ziele werden rein empirisch bestimmt, d. h. durch einen Bezug auf die »Natur« des Menschen bzw. die Fakten, die uns mittels einer Beschreibung zugänglich sind, die sich idealtypisch in den Naturwissenschaften findet. Vertreter einer essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus hingegen bejahen obige klassifikatorische Frage. Ihnen zufolge sind die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften – insbesondere der Naturwissenschaften – mit in eine Bestimmung der menschlichen Natur, ihres Guts und sich daraus ableitender essentieller Ziele einzubeziehen. Was sie allerdings ablehnen, ist die reduktionistische These, dass eine Erkenntnis des menschlichen Guts und eine dafür erforderliche Bestimmung der menschlichen Natur bzw. der Charakteristika der menschlichen Lebensform allein mit empirischen Mitteln bzw. ausschließlich mittels eines naturwissenschaftlichen Vokabulars vorgenommen und erreicht werden kann. Etwas vereinfacht ausgedrückt könnte man auch sagen, dass man eine reduktive von einer nicht-reduktiven Variante eines naturalisti310
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schen Realismus unterscheiden muss und der Terminus »essentialistisch« die Aufgabe hat zu kennzeichnen, dass hier der Begriff »naturalistisch« in seiner nicht-reduktiven Bedeutung verwendet wird. Gemäß einer solchen Position sind die »Fakten« über die menschliche Natur, auf die man sich bezieht, um zu erklären, was den Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen gemeinsam ist, die wir als objektiv gut bzw. wertvoll beurteilen, nicht mit rein empirischen Mitteln zu beschreiben. Der entscheidende Unterschied zwischen einer essentialistischen bzw. metaphysischen und einer anti-essentialistischen bzw. empirischen Konzeption eines naturalistischen Realismus ist somit methodischer Natur: Während ein essentialistischer Naturalist auf eine Potentialität der menschlichen Natur rekurriert, die allein mit empirischen Mitteln nicht zu erfassen ist, um von dort her die aktuale Verfassung von Exemplaren der Gattung Mensch zu beurteilen, bezieht sich ein anti-essentialistischer Naturalist wie Sher auf die empirisch fassbare Aktualität der menschlichen Natur, die dann ihrerseits objektive Werturteile über menschliche Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen rechtfertigen soll. Wird die Bedeutung des Begriffs »essentialistisch« so gefasst, dann gilt es natürlich, die Methodik näher zu betrachten, die für eine nicht-reduktive Bestimmung der menschlichen Natur und eine Bestimmung der essentiellen Ziele bzw. des Guts dieser Natur vorgeschlagen wird, was ich in den nächsten beiden Unterabschnitten tun werde.
6.1.1 »Gut« als attributives Adjektiv Wie ich eben herausgestellt habe, unterscheiden sich essentialistische Konzeptionen eines naturalistischen Realismus von anti-essentialistischen Varianten vor allem in der methodischen Hinsicht, dass für die Erstgenannten eine Erörterung über das menschliche Gut von Nöten ist, für die es ihrerseits einer Beschreibung der menschlichen Natur bedarf, die nicht mit einem rein empirischen bzw. naturwissenschaftlichen Vokabular vorgenommen werden kann. Ich orientiere mich hierzu vornehmlich an Foots Natural Goodness, greife aber in loser Weise auch auf andere Autoren und Autorinnen zurück, wenn mir dies hilfreich erscheint. Um zu erklären, was den Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen gemeinsam ist, von denen behauptet wird, Perfektionistischer Liberalismus
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dass sie objektiv »gut« bzw. »wertvoll« sind, schlagen Vertreter eines (neo-)aristotelischen Naturalismus in einem ersten Schritt vor, die Bedeutung des Ausdrucks »gut« zu klären, indem sie nach der logischen Rolle von »gut« als Wertprädikator fragen. Die auf Geach zurückgehende These ist hier, dass G. E. Moore die Bedeutung des Ausdrucks »gut« falsch analysiert hat, weil dieser meinte, dass wir »gut« grammatikalisch als prädikatives Adjektiv gebrauchen, also in derselben Weise wie z. B. den Ausdruck »rot«. Diese Bedeutungsanalyse ist gemäß der Geachschen Diktion aber falsch, da Aussagen der grammatikalischen Form »X ist gut« unvollständig und damit unverständlich sind. 4 »Gut« wird vielmehr logisch korrekt gebraucht, wenn es als attributives Adjektiv in Sätzen der Form »X ist ein gutes S« verwendet wird. Bei Sätzen der Form »X ist gut«, in denen der Ausdruck »gut« als prädikatives Adjektiv gebraucht wird, handelt es sich hingegen um logisch inkorrekte und letztlich bedeutungslose Sätze. 5 Da diese Gegenüberstellung von zwei konkurrierenden Bedeutungsanalysen des Ausdrucks »gut« eine entscheidende Rolle für die Methodik eines (neo-)aristotelischen Naturalismus spielt, ist es erforderlich, sie in der gebotenen Sorgfalt nachzuvollziehen. Ich möchte deshalb den Unterschied zwischen prädikativen und attributiven Adjektiven an einem Beispiel veranschaulichen 6: (1) X ist ein rotes Auto. (2) X ist eine große Maus. Bei dem Ausdruck »rot« in Beispielsatz (1) handelt es sich um ein prädikatives Adjektiv. Kennzeichnend für Sätze, die derartige Ausdrücke verwenden, ist, dass sie weiter in zwei von einander unabhängig verifizierbare Teilaussagen zerlegt werden können: (1a) X ist ein Auto. (1b) X ist rot. Foot illustriert den Punkt der Unverständlichkeit von Werturteilen der Form »X ist gut« recht anschaulich, indem sie erzählt, dass sie in ihren Vorlesungen ihren Studenten ein Stück Papier entgegenhält und sie auffordert, die Frage zu beantworten, ob dieses Papier »gut« oder »schlecht« sei, vgl. Foot, Natural Goodness, 2. Ich beziehe mich hier auf Fußnote 4. 5 Diese Argumentationslinie wird weiter verfolgt von Richard Kraut, Against Absolute Goodness (Oxford: Oxford University Press, 2011); Judith J. Thomson, Normativity (Chicago: Open Court, 2008). 6 Ich orientiere mich bei diesem Beispiel und seiner Analyse an den Ausführungen von Ricken, Allgemeine Ethik, 76–77. 4
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Es ist ohne weitere Schwierigkeiten einzusehen, dass die Wahrheitsbedingungen für beide Teilaussagen voneinander unabhängig sind. Ein Farbenblinder kann beurteilen, ob es sich bei X um ein Auto handelt, ohne dafür Wissen zu müssen, ob X rot ist, ebenso wie jemand aus weiter Entfernung bestätigen kann, dass X rot ist, auch wenn er nicht erkennen kann, ob es sich bei X um ein Auto oder einen Container handelt. 7 Aussage (1) ist eben genau dann wahr, wenn ihre Teilaussagen (1a) und (1b) wahr sind. Moore analysiert nun die Bedeutung des Ausdrucks »gut« in Analogie zu Farbprädikaten wie »rot«. Da es sich bei »gut« ebenso wie bei »rot« um ein prädikatives Adjektiv handeln soll, müssen Wertprädikationen ebenso wie Farbprädikationen in unabhängig verifizierbare Teilaussagen unterteilt werden können: (1)’ X ist ein gutes Auto. Diese Aussage kann – gemäß Moores Analyse – zerlegt werden in: (1a)’ X ist ein Auto. (1b)’ X ist gut. Das Problem besteht nun natürlich in der Frage, was der Ausdruck »gut« im Satz (1b)’ eigentlich bedeuten soll. Im Gegensatz zu (1b) scheint der Satz (1b)’ für sich allein nicht verständlich. Ein weiteres Problem besteht in der Angabe der Wahrheitsbedingungen für (1b)’. Wenn es sich bei »gut« um ein prädikatives Adjektiv handelt, dann muss der Satz (1)’ in zwei unabhängig voneinander verifizierbare Teilaussagen zerlegt werden können. Was macht nun aber (1b)’ wahr oder falsch? Es ist diese Bedeutungsanalyse von »gut« und die sich daraus ergebenden Fragen, die Moore letztlich zu dem Schluss führen, dass es sich bei dem Wertprädikator »gut« um eine einfache – nicht weiter zu analysierende – »nicht-natürliche« Eigenschaft handeln muss, deren Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein wir intuitiv erkennen können. »Gutheit« ist demnach eine intrinsische, absolute Eigenschaft von Dingen, für deren Zuschreibung es keine weiteren Wahrheitskriterien gibt, sondern deren Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein »eingesehen« werden muss. Evaluative bzw. wertende Aussagen der Form (1b)’ sind demnach völlig unabhängig von deskriptiven Aussagen der Form (1a)’, weshalb man annehmen muss, 7
Vgl. ibid., 76.
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dass Werteigenschaften Entitäten sind, die einer ontologischen Klasse sui generis angehören und es für ihre Erkenntnis eines besonderen Erkenntnisvermögens bedarf. Gemäß der Autoren, die Geachs Kritik an Moore übernehmen, resultieren die hohen ontologischen wie erkenntnistheoretischen »Kosten« eines nicht-naturalistischen Realismus, wie ihn Moore vertritt, aus den Problemen, die mit der Bedeutungsanalyse des Ausdrucks »gut« in Aussagen der Form »X ist gut« auftauchen. Gibt man diese Analyse auf, so ergeben sich andere Möglichkeiten, um einen Realismus in Bezug auf Werteigenschaften oder Werte zu verteidigen. Geachs Vorschlag besteht nun darin, den Ausdruck »gut« nicht als prädikatives Adjektiv zu verstehen, sondern seine logische Rolle von der Analogie zu anderen attributiven Adjektiven wie »groß« oder »klein« her zu konzipieren. 8 Schauen wir uns deshalb zunächst an, worin sich Sätze, die attributive Adjektive verwenden, von Sätzen mit prädikativen Adjektiven unterscheiden. Ich komme dafür auf meinen zweiten Beispielsatz zurück: (2) X ist eine große Maus. Da hier das Adjektiv »groß« in einem attributiven Sinn gebraucht wird, kann (2) nicht zerlegt werden in: (2a) X ist eine Maus. (2b) X ist groß. Warum? Die Bedeutung von »groß« – im Gegensatz zu »rot« – ist abhängig vom jeweiligen Substantiv, dem diese Eigenschaft attribuiert wird. 9 Substituiert man das Substantiv durch ein anderes, dann bleibt bei attributiven Adjektiven die Bedeutung und der Wahrheitswert des Satzes in dem sie verwendet werden davon nicht unberührt. Die Wahrheit des Satzes »X ist rot« kann unabhängig von einem Wissen darum bestimmt werden, ob es sich bei X um einen Container oder ein Auto handelt. Stelle ich fest, dass ich mich in meiner Wahrnehmung geirrt habe und das rote Ding in der Ferne kein Auto, sondern ein Container ist, dann bleibt der Wahrheitswert der Aussage »X ist rot« davon unberührt. Dies ist bei dem Satz »X ist groß« nicht der Fall. Ob dieser Satz wahr ist, hängt davon ab, was man für X einsetzt.
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Vgl. Foot, Natural Goodness, 2. Vgl. ibid., 2–3.
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Essentialismus
Nehmen wir z. B. an, man sieht aus einiger Entfernung ein graufarbiges, vierbeiniges Wesen flink um eine Ecke huschen und äußerst den Satz »Das ist aber eine große Ratte!« Schließlich biegt man ebenfalls um die Ecke und sieht, dass es sich bei dem besagten Wesen um einen graufarbigen, vierbeinigen Hund handelt. Aufgrund der Substituierung des beurteilten Gegenstands muss nun auch ein anderes attributives Adjektiv verwendet werden, damit sich der Wahrheitswert des Satzes nicht ändert. Damit der Satz wahr ist, muss er nun umformuliert werden in »Das ist aber ein kleiner Hund!«. Mit anderen Worten: Sätze der Form »X ist groß« oder »X ist klein« sind nichtsagend und nicht verifizierbar, solange ich nicht weiß, um welchen Gegenstand es sich bei X handelt bzw. zu welcher Klasse von Gegenständen X gehört. Welche Konsequenzen hat dies nun für unsere Analyse der Bedeutung des Ausdrucks »gut«? Wenn wir Geachs Gedankengang zustimmen und es sich bei »gut« um ein attributives Adjektiv handelt, dessen Bedeutung in Analogie zu attributiven Adjektiven wie »groß« oder »klein« bestimmt werden muss, dann folgt daraus zum einen, dass Sätze wie »X ist gut« logisch unvollständig und unkorrekt formuliert sind und zum anderen, dass die Bedeutung des Ausdrucks »gut« nicht in Unabhängigkeit von den Substantiven bestimmt werden kann, dem diese Eigenschaft jeweils attribuiert wird. Es ist nun ersichtlich, dass diese logische Analyse sich gut an meine Überlegungen im ersten Teil meiner Arbeit anschließt (siehe 2.2.2.1): In Anknüpfung an Kraut argumentierte ich dafür, dass die Bedeutung des Ausdrucks »gut« nicht mittels der Form »Es ist gut, dass P«, sondern »Es ist gut für S, dass P« bestimmt werden muss. Dementsprechend ist ein Sachverhalt P dann »gut« für S, wenn er S »entspricht«, d. h. zur Entwicklung einer spezieseigenen Fähigkeit von S, also zum Gedeihen von S, entscheidend beiträgt. Ich habe dort ebenfalls die These vertreten, dass es sich bei »gut« um eine relationale Eigenschaft handelt. 10 Diese These kann ich auf dem Hintergrund der in diesem Abschnitt referierten logischen Analyse des Ausdrucks »gut« nun näher spezifizieren und begründen. Sehen wir uns dazu zwei Beispiele an: Eine solche Analyse teilt auch Ricken, Allgemeine Ethik, 77. Neuerdings wird sie auch verteidigt von Christine M. Korsgaard, »The Relational Nature of the Good«, in Oxford Studies in Metaethics – Volume 8. Russ Shafer-Landau (Hg.) (Oxford: Oxford University Press, 2013).
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(1) X ist ein gutes Messer. (2) X ist ein guter Arzt. Bei den Sätzen (1) und (2) handelt es sich um Wertaussagen, in denen mittels des attributiven Adjektivs »gut« eine Beziehung zwischen einem konkreten Gegenstand X und dem funktionalen Prädikator »Messer« oder »Arzt« bewertet wird. Funktionale Prädikatoren zeichnet aus, dass sie den Dingen, auf die sie zutreffen, eine Funktion, einen Zweck, ein Ziel oder eine Aufgabe zuweisen. 11 Wird z. B. etwas als »Messer« bezeichnet, dann impliziert dies, dass es sich bei dem bezeichneten Gegenstand um etwas handelt, das die Funktion hat zu schneiden. Der Begriff »Arzt« impliziert, dass Menschen, die als Ärzte bezeichnet werden, die Aufgabe haben, Krankheiten zu diagnostizieren und zu heilen. In Analogie zu meiner Analyse der Bedeutung des Ausdrucks »groß« folgt daraus, dass die Beurteilung oder Evaluation eines Gegenstandes »X« als »gut« nicht ohne einen funktionalen Prädikator vorgenommen werden kann, der beschreibt, was »X« für ein Ding ist, der also angibt, welche Funktion oder Aufgabe »X« hat bzw. zu welchem Zweck oder Ziel »X« existiert. Es ist der jeweilige funktionale Prädikator, der die Kriterien liefert, anhand derer die Wahrheit des Werturteils »X ist ein gutes S« beurteilt werden kann. Er bringt sozusagen die normative Dimension des Werturteils ins Spiel: Messer haben den Zweck bzw. die Funktion, dass man mit ihnen schneiden kann. Ärzte haben die Aufgabe, Menschen zu heilen. Durch die implizite Kenntnis des Ziels, Zwecks bzw. der Funktion des jeweiligen S erfahren wir aber zugleich, welcher Beschreibung ein konkreter Gegenstand genügen muss, damit die Aussage »X ist ein gutes S« wahr ist. Ein Gegenstand X ist dann ein »gutes« S, wenn er die Eigenschaften besitzt, die ihm erlauben, seine Funktion, seinen Zweck oder sein Ziel als S zu erfüllen. 12 Die Aussage »X ist ein gutes Messer« ist z. B. dann wahr, wenn X als scharf, rostfrei, bruchfest, schärfbar und handlich beschrieben werden kann. Die Aussage »X ist eine gute Ärztin« ist hingegen wahr, wenn X als Person beschrieben werden kann, die ein umfassendes Wissen über Krankheiten und Arzneimittel verfügt, sich nicht vor Blut ekelt etc. 13 11 12 13
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Vgl. Ricken, Allgemeine Ethik, 78. Vgl. ibid. An dieser Stelle könnte man einwenden, dass es relativ willkürlich ist, was man
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Essentialismus
Die metaethischen Konsequenzen einer solchen logischen Analyse der Bedeutung von »gut« sind immens, denn es wird – wie Foot nicht müde wird zu betonen – die Idee einer fact-value-gap, einer strikten Trennung von »Fakten« und »Werten« bzw. von »Beschreibung« und »Wertung« aufgegeben. 14 Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum Foot wiederholt von einem »Neustart« in Bezug auf das ganze Unternehmen der Moralphilosophie spricht. 15 Welche praktischen Konsequenzen hat eine solche Negierung der Rede von einer fact-value-gap? Sie ermöglicht zum einen, Kriterien dafür zu benennen, wann ein Urteil darüber, dass eine bestimmte Aktivität, Charaktereigenschaft oder Beziehungsweise objektiv gut bzw. wertvoll ist, wahr ist. Zum anderen ermöglicht diese Ablehnung einer strikten und kategorialen Trennung einer wertenden und einer beschreibenden Sprache, verständlich zu machen, warum gegen eine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus bzw. gegen einen (neo-)aristotelischen Naturalismus der Vorwurf des sogenannten »naturalistischen Fehlschlusses« nicht greift. Wenn meine auf Geach, Foot und Ricken zurückgehende logische Analyse des Ausdrucks »gut« als attributives Adjektiv zutrifft, dann kann man
unter einem »guten« Messer bzw. einer »guten« Ärztin versteht. In Bezug auf die Rolle der Ärztin könnte man etwa argumentieren, dass für Person A nur diejenige Ärztin »gut« ist, die in einer verständnisvollen und einfühlsamen Weise zuhören kann, für Person B hingegen der Begriff »Ärztin« impliziert, dass sie penibelst auf hygienische Zustände in ihren Praxisräumen achtet. Der Einwand lautet also, dass funktionale Prädikatoren nicht genügend die Kriterien determinieren, anhand derer bestimmt werden kann, welche beschreibenden Eigenschaften die Aussage »X ist ein gutes S« wahr machen. Auf diesen Einwand kann man mit Ricken – von dem auch das gebrauchte Beispiel stammt – antworten, dass es kein Problem ist zuzugestehen, dass subjektive Faktoren einen Einfluss auf das Urteil haben, ob X ein gutes S ist, dass funktionale Prädikatoren aber dennoch gewisse objektive Minimalkriterien festlegen. Man kann sich z. B. darüber streiten, ob eine Person, die nicht in einer einfühlsamen Weise auf ihre Patienten eingehen kann, ein guter Arzt ist, allerdings wird niemand ernsthaft eine Person als »guten Arzt« bezeichnen wollen, die in ihrem Verhalten demonstriert, dass sie über keinerlei Kenntnisse in Bezug auf die Diagnose und Therapie von Krankheiten verfügt. In diesem Sinne kann man mit Ricken bei funktionalen Werturteilen einen »kategorischen Kern« – der die objektiven Minimalkriterien bestimmt – von einer »hypothetischen Randzone« unterscheiden, wobei die Kriterien, die sich aus dieser Randzone ableiten, auch nicht völlig willkürlich festgelegt werden können, sondern in einer Beziehung zum Zweck oder Ziel des bewerteten Gegenstands stehen müssen, vgl. ibid., 81–82. 14 Vgl. Foot, Natural Goodness, 8–9, 24. 15 Vgl. ibid., 5–24. Perfektionistischer Liberalismus
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bei Werturteilen mit funktionalen Prädikatoren, also Urteilen der Form »X ist ein gutes S«, zum einen von wertenden Aussagen (z. B. »X ist ein gutes Messer«) auf beschreibende Aussagen (z. B. »X ist ein scharfes Messer«) schließen, zum anderen können beschreibende Aussagen (z. B. »Person A verfügt über umfassende Kenntnisse hinsichtlich der Diagnose und Therapie von Krankheiten«) wertende Aussagen (z. B. »Person A ist eine gute Ärztin) begründen. 16 Die mit der wertenden Aussage gegebene Normativität wird nun aber weder eliminiert, noch auf faktische oder beschreibende Tatsachenaussagen reduziert, denn es bleibt dabei, dass wertende Aussagen eine andere Bedeutung haben als beschreibende Aussagen. Die normative Aussage »X ist ein gutes Messer« ist von ihrer Bedeutung her nicht einfach identisch mit der beschreibenden Aussage »X ist ein scharfes Messer«. Im Gegensatz zum Ausdruck »scharf« sagt der Gebrauch des Ausdrucks »gut« aus, dass einem konkreten Gegenstand nicht nur die beschreibende Eigenschaft »scharf« zukommt, sondern dass er aufgrund dieser Eigenschaft dem Zweck entspricht, welcher durch den funktionalen Prädikator vorgegeben ist. 17 Die logische Rolle von Sätzen mit attributiven Adjektiven wie »gut« oder »schlecht« besteht deshalb darin – anders als bei rein beschreibenden Sätzen mit attributiven Adjektiven wie »scharf« oder »groß« –, ein wertendes Urteil darüber zu treffen, ob ein konkreter Gegenstand so beschaffen ist, dass er die Funktion erfüllen kann, die ihn als Gegenstand definiert. Etwas weniger technisch ausgedrückt: Der Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses greift nicht, weil man in Sätzen mit funktionalen Prädikatoren Begriffe verwendet, deren Bedeutung eine Teleologie impliziert und die somit ein normatives Element einführen. Die fact-value-gap abzulehnen impliziert also kein commitment zu irgendeiner Art von Reduktionismus, sondern lediglich die Überzeugung, dass von wertenden Aussagen auf beschreibende Aussagen gefolgert werden kann und beschreibende Aussagen Werturteile verifizieren können, d. h. Gründe dafür liefern können, warum wir bestimmte Werturteile für wahr oder falsch halten.
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Vgl. Ricken, Allgemeine Ethik, 78–79. Vgl. ibid., 79.
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6.1.2 Natürliche Gutheit bei Lebewesen Um zu erklären, was den Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen gemeinsam ist, die wir auf intuitiv plausiblen Listen objektiver Güter oder Werte vorfinden, versuchen Naturalisten (neo-)aristotelischer Provenienz die im vorigen Abschnitt dargestellte logische Analyse des Ausdrucks »gut« für eine Evaluation »natürlicher« Gegenstände fruchtbar zu machen. Die grundlegende These von Autorinnen wie Foot und Hursthouse ist hierbei, dass nicht nur »künstliche« Gegenstände oder Begriffe wie Werkzeuge, Artefakte oder Rollenbezeichnungen unter einen funktionalen Prädikator subsumiert werden können, sondern dass auch »natürliche« Gegenstände – also einzelne Lebewesen – einer bestimmten Art von funktionalen Prädikatoren zugerechnet werden können und es damit so etwas wie eine »natürliche Gutheit« bei Lebewesen gibt. 18 Bei besagten funktionalen Prädikatoren handelt es sich dabei um Speziesbegriffe, die nicht-empirische bzw. nicht-quantifizierbare Allaussagen über Lebewesen ermöglichen. Bevor ich näher auf die besondere logische Form solcher Aussagen eingehe, möchte ich zunächst anhand von drei Beispielen veranschaulichen, welche Art von Schlüssen bzw. Bewertungen von Lebewesen – gemäß Autoren wie Anscombe, Foot, Hursthouse und Thompson – möglich sind, wenn ihre logische Analyse zutreffend ist. Betrachten wir zunächst drei Werturteile: (1) X ist eine gute Eiche. (2) X ist ein guter Tiger. (3) X ist ein guter Wolf. Wenn es sich bei den Begriffen »Eiche«, »Tiger«, »Wolf« um funktionale Prädikatoren handeln soll wie bei den Begriffen »Auto«, »Messer« oder »Arzt«, dann bedeutet dies, dass jene Prädikatoren beVgl. Foot, Natural Goodness, 25–51. Kritische Auseinandersetzungen mit dieser These finden sich in den verschiedenen Beiträgen des Sammelbandes Michael Reuter und Thomas Hoffmann, Natürlich gut: Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot (Frankfurt/M.: Ontos, 2010). Eine gute Einführung in diese Spätphase von Foots Denken findet sich bei John Hacker-Wright, Philippa Foot’s Moral Thought (London: Bloomsbury, 2013), 115–131. Ebenso hat jüngst Thomas Hoffmann eine hilfreiche Rekonstruktion von Foots Idee der »natürlichen Normativität« vorgelegt, vgl. Thomas Hoffmann, Das Gute (Berlin: De Gruyter, 2014), insbesondere 111–143.
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stimmen, welche deskriptiven Eigenschaften einem unter ihnen fallenden Lebewesen zukommen müssen, damit es ein »gutes« Exemplar seiner Art darstellt. Der Ausdruck »gut« ist demnach auch hier eine relationale Eigenschaft, die ausdrückt, dass ein konkretes Lebewesen deskriptiv so beschaffen ist, dass es die Ziele oder Aufgaben, die ihm durch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies oder Lebensform vorgegeben sind, erreichen bzw. erfüllen kann. Trifft dies zu, dann sind die folgende Schlüsse möglich. In Bezug auf Pflanzen wie Eichen kann man schließen 19: (1a) Eichen haben tiefe Wurzeln. (1b) X ist eine Eiche. (1c) X hat nur kurz unter der Erdoberfläche Wurzeln. Also gilt: (1d) X ist keine gute Eiche, weil X eine Eiche ist, deren Wurzeln nicht so gewachsen sind, wie sie bei Eichen gewachsen sein sollten. Bei Tieren wie Tigern ist folgender Schluss möglich 20: (2a) Tiger sind Fleischfresser. (2b) X ist ein Tiger. (2c) X frisst kein Fleisch. Also gilt: (2d) X ist kein guter Tiger, weil X sich nicht so verhält, wie Tiger sich verhalten sollten. Und hinsichtlich Wölfen ist folgende Schlussfolgerung zulässig 21: (3a) Wölfe jagen im Rudel. (3b) X ist ein Wolf. (3c) X jagt nicht im Rudel, sondern als Einzelgänger.
Dieses Beispiel stammt von Foot, Natural Goodness, 46. Dieses Beispiel ist angelehnt an Thomas Hoffmann und Michael Reuter, »Auf dem Weg zum natürlich Guten – Eine Einführung in die Moraphilosophie Philippa Foots«, in Natürlich gut: Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot. Thomas Hoffmann und Michael Reuter (Hg.) (Frankfurt/M.: Ontos, 2010), 15. 21 Es handelt sich hier ebenfalls um ein bekanntes und beliebtes Beispiel, vgl. Foot, Natural Goodness, 16, 34–35, 57; Hursthouse, On Virtue Ethics, 172, 177, 180, 188. 19 20
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Also gilt: (3d) X ist ein schlechter Wolf bzw. ein Exemplar mit einem »natürlichen Defekt«, weil X sich nicht so verhält, wie sich Wölfe verhalten sollten. Bevor ich mich einer genaueren Analyse der a-Prämissen in obigen Schlüssen zuwenden kann, gilt es kurz auf zwei Einwände einzugehen. Ein erster Einwand besagt, dass (neo-)aristotelische Naturalisten mit einem Speziesbegriff operieren, der angesichts der Erkenntnisse der modernen Biologie nicht mehr haltbar ist. 22 Die Evolutionstheorie legt uns nahe, dass biologische Arten oder »Formen« nichts Unveränderliches sind, sondern sich im Laufe der Jahrhunderte durch Mutation und Selektion verändern. Demnach ist auch die Bedeutung funktionaler Prädikatoren wie »Eiche«, »Tiger« oder »Wolf« nicht unveränderlich. Die Bedeutung des Ausdrucks »Tiger« zu einem Zeitpunkt t1 ist eine andere, als zum Zeitpunkt t2, weil Lebewesen durch Mutation und Selektion, durch Anpassung an veränderte Umweltverhältnisse, andere Konstitutions- und Verhaltenscharakteristika ausbilden. Was »gut« für einen Tiger ist, welchen deskriptiven Eigenschaften ein konkreter Tiger genügen muss, um als ein gutes Exemplar seiner Spezies gelten zu dürfen, kann demnach nicht durch den Speziesbegriff festgelegt werden, da dieser selbst Veränderungen unterworfen ist. Ein zweiter Einwand ist ähnlicher Natur, bezieht sich aber auf die b- und c-Prämissen. Selbst wenn es mittels von Speziesbegriffen, also funktionalen Prädikatoren für Lebewesen, möglich wäre, die deskriptiven Kriterien oder Eigenschaften zu bestimmen, denen ein Lebewesen genügen muss, damit es als ein gutes Exemplar seiner Art beurteilt werden kann, so berücksichtigt ein solcher Ansatz nicht, dass es so etwas wie »Subspezies« oder »Unterarten« geben kann, also Populationen von Lebewesen einer Art, die im Laufe der Zeit – wiederum durch Mutation und Selektion bedingt – sich an die besonderen regionalen bzw. lokalen Umweltbedingungen angepasst haben und sich mit diesem Anpassungsprozess auch verändert hat, was es heißt, so beschaffen zu sein und sich so zu verhalten, dass man als ein gutes Exemplar seiner Spezies gelten kann. Werturteile der Form (1) bis (3) müssen also nicht nur sensitiv gegenüber temporalen VerFür eine exemplarische Kritik in diesem Sinne sei verwiesen auf Philip Kitcher, »Essense and Perfection«, Ethics 110, no. 1 (1999).
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änderungen der Charakteristika der Spezies sein, sondern auch gegenüber lokal bedingten Ausbildungen von Unterarten. Nehmen wir z. B. an, auf einer völlig abgelegenen und bisher unbekannten Insel finden Forscher ein Tier, das in seinem Aussehen, seiner physischen Konstitution und seinem Verhalten dem Lebewesen gleich ist, das wir als »Tiger« bezeichnen. Der einzige Unterschied zwischen diesem Lebewesen – nennen wir es »Neutiger« – und dem Tier, für den wir den Ausdruck »Tiger« gebrauchen, besteht darin, dass »Neutiger« kein Fleisch fressen. Zu urteilen, dass Exemplare dieser Unterart von Tigern einen Defekt aufweisen bzw. keine guten Tiger sind, wenn sie kein Fleisch fressen, ist demnach falsch, weil es nicht zu den Charakteristika von Neutigern gehört – anders als bei allen anderen bekannten Arten von Tigern – Fleisch zu fressen. Der zweite zu diskutierende Einwand besagt also, dass der (neo-)aristotelische Speziesbegriff nicht berücksichtigt, dass sich Spezies nicht nur im Laufe der Zeit verändern, sondern vielmehr auch noch durch lokale Bedingungen in Unterarten ausdifferenzieren. Dies hat zur Folge, dass in der Beurteilung mancher Lebewesen unklar ist, ob es sich hier um Pflanzen oder Tiere handelt, die einen »natürlichen Defekt« aufweisen, weil sie anders gewachsen sind oder sich anders verhalten, als es für Mitglieder ihrer Spezies typisch ist, oder ob es sich hier um eine Unterart oder gar eine gänzlich neue Spezies handelt, deren Exemplare nach anderen Kriterien bewertet werden müssen. Foots Antwort auf diese Einwände ist denkbar knapp, aber deswegen nicht weniger überzeugend. Ihr Argument besagt im Kern, dass sie die Idee einer Unveränderlichkeit von Spezies aufgeben kann, ohne deshalb gezwungen zu sein, ihre Konzeption einer speziesabhängigen »natürlichen Normativität« zu widerrufen. Sie behauptet demnach, dass ihr Essentialismus in Bezug auf Spezies mit den Erkenntnissen der Evolutionstheorie und der modernen Biologie vereinbar ist. In Bezug auf den ersten Einwand lautet ihre Entgegnung, dass Prämissen der a-Form immer Aussagen sind, die auf eine Spezies zu einer gegebenen Zeit zutreffen und die Bedingung der Möglichkeit solcher Aussagen nicht die Unveränderlichkeit der betreffenden Spezies ist, sondern lediglich eine gewisse temporale Stabilität derselben hinsichtlich der für sie jeweils charakteristischen Eigenschaften. 23 Ein derartiger Essentialismus geht also nicht von irgendwelchen unveränderlichen Formen aus, sondern gesteht zu, dass Zuschreibungen 23
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Vgl. Foot, Natural Goodness, 29.
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wie »Wölfe jagen im Rudel« einer gewissen historischen Kontingenz unterliegen. Die Charakteristika einer Spezies können sich im Laufe der Jahrhunderte verändern. Das Zugeständnis, dass für Mitglieder der Spezies »Wolf« zu einem Zeitpunkt t100000 andere Charakteristika als zu einem Zeitpunkt t1 charakteristisch sein können, bedeutet aber nicht, dass man deshalb die Rede von »Spezies« und die Idee einer Beurteilung von Individuen anhand speziesabhängiger Charakteristika aufgeben muss. Für das Urteil (3d) »X ist ein schlechter Wolf bzw. ein Exemplar mit einem ›natürlichen Defekt‹, weil X sich nicht so verhält, wie sich Wölfe verhalten sollten« muss die Beschreibung (3a) »Wölfe jagen im Rudel« nicht für die maximale Zeitspanne zwischen t1 und t100000 wahr sein, sondern ihr Wahrheitswert muss lediglich für eine gewisse Zeitspanne unverändert bleiben, also z. B. zwischen t1 und t10000. Essentialistische Annahmen sind gemäß dieser Entgegnung von Foot demnach nicht grundsätzlich unvereinbar mit einem Historismus, also dem Zugeständnis, dass Dinge sich auch ihrem Wesen nach im Laufe der Geschichte verändern können. Hinsichtlich des zweiten Einwands findet sich bei Foot außer der Bemerkung, dass Beschreibungen der Form »Eichen haben tiefe Wurzeln« oder »Tiger sind Fleischfresser« berücksichtigen müssen, dass es so etwas wie Unterarten gibt, die sich an besondere lokale bzw. regionale Besonderheiten angepasst haben, keine weiteren Hinweise. 24 Es ist auch die Frage, ob es weitergehender Ausführungen bedarf. Das Zugeständnis, dass es so etwas wie »Unterarten« gibt, deren Charakteristika von denen ihrer »Hauptart« abweichen, stellt eine mögliche Beurteilung von einzelnen Lebewesen anhand ihrer Spezieszugehörigkeit nicht grundsätzlich in Frage. Man muss eben genau beobachten und darauf achten, dass die b-Prämissen jeweils wahr sind, es sich bei der beurteilten Pflanze bzw. dem beurteilten Tier also wirklich um ein Tier der jeweiligen Art handelt. Dass hier Irrtümer vorkommen können bzw. es gewisse Unschärfe gibt, man z. B. nicht berücksichtigt, dass es mit »Neutigern« eine Unterart von »Tigern« gibt, stellt jedoch die Idee von speziesabhängigen Beurteilungen von Lebewesen nicht grundsätzlich in Frage. In diesem Sinne könnte man sagen, dass der von Foot vertretene Essentialismus in Bezug auf Spezies weder mit einem epistemischen Kontextualismus noch mit einem Fallibilismus unvereinbar sind. Um die Wahrheit von Werturteilen über Exemplare einer bestimmten Spezies beurteilen zu können, 24
Vgl. ibid.
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braucht es ein Wissen um den jeweiligen konkreten Kontext, den Lebensraum des beurteilten Lebewesens, und es muss beachtet werden, ob es hier Hinsichten gibt, die für ein Urteil darüber, ob es sich um ein schlechtes Exemplar seiner Art oder ein gutes Exemplar seiner Unterart handelt, berücksichtigt werden müssen. Ferner sind a-Prämissen nicht apriorisch wahr, sondern können durch empirische Entdeckungen korrigiert und sogar falsifiziert werden. Nach dieser Entgegnung auf zwei Einwände gegen ein (neo-) aristotelisches Argumentationsschema, das mit einer Speziesbegrifflichkeit operiert, möchte ich jedoch auf die noch ausstehende Analyse der entscheidenden a-Prämissen zurückkommen. Um einzelne Pflanzen oder Tiere entsprechend ihrer natürlichen Gutheit oder Schlechtheit bewerten zu können ist es notwendig, bestimmen zu können, was für eine Spezies charakteristisch ist und was nicht. Die oben gebrauchten Beispiele für a-Prämissen lassen sich gemäß Thompson und Foot auf zwei Weisen formalisieren 25: (a1) S’s sind E. (a2) S’s tun ϕ. »S« referiert hier auf die Spezies oder Lebensform, während die Platzhalter »E« und »ϕ« für Prädikate stehen, die der jeweiligen Spezies oder Lebensform bestimmte speziesspezifische Eigenschaften bzw. »Formeigenschaften« zuschreiben. 26 Der Unterschied zwischen a-Prämissen der Form (a1) und (a2) besteht darin, dass a-Prämissen der Variante (a1) auf Pflanzen und Tiere zutreffen können, während Eigenschaftsattributionen der Form (a2) nur bei Tieren vorkommen können, denn Pflanzen »tun« ja im eigentlichen Sinne nichts. »E« steht insofern für Eigenschaften, die sich auf einzelne Teile oder Reaktionsweisen von Pflanzen oder Tieren beziehen, während »ϕ« für tierische Verhaltensweisen bzw. Handlungen steht. Abgesehen von diesem Unterschied – ich werde hier später meine Ausführungen noch präzisieren müssen – ist (a1) und (a2) aber gemeinsam, dass es sich um Sätze handelt, die zur logischen Kategorie »generischer Aussagen« gehören. 27 Typisch für solche Aussagen ist, dass sie logisch Ich folge hier eng der Darstellung Foots, die auf Überlegungen von Anscombe und insbesondere Thompson zurückgreift, sich von Letztgenanntem aber auch abgrenzt, vgl. ibid., 27–37. 26 Den Begriff der »Formeigenschaft« übernehme ich hier von Hoffmann und Reuter, »Einführung«, 14–15. 27 Vgl. ibid., 15. 25
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nicht-quantifizierbar sind, d. h. der entsprechende Terminus »S« weder auf alle Exemplare der entsprechenden Lebensform referiert noch auf einige Exemplare oder ein Exemplar, sondern sich vielmehr auf die Spezies bzw. Lebensform selbst bezieht. 28 Generische Aussagen der Form (a1) oder (a2), also Sätze wie »Eichen haben tiefe Wurzeln«, »Tiger sind Fleischfresser« und »Wölfe jagen im Rudel« werden von Foot als »naturgeschichtliche Sätze« (natural-history propositions) bezeichnet, einem Ausdruck, den sie wiederum von Thompson übernimmt. 29 Die Möglichkeit solcher Sätze ist für die Idee einer Evaluation von menschlichen Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen nach einem Muster natürlicher Normativität bzw. natürlicher Gutheit von entscheidender Bedeutung. Wahre naturgeschichtliche Sätze formulieren Tatsachen über eine Spezies bzw. Lebensform, d. h., sie sagen aus, dass einer Lebensform bestimmte speziestypischen Eigenschaften bzw. Formeigenschaften zukommen. Erst mit Bezug auf diese Tatsachen kann das Urteil gefällt werden, dass ein individuelles S ein gutes oder schlechtes Exemplar seiner Lebensform oder Spezies ist. Hier kommen dann die b- und c-Prämissen ins Spiel, deren logische Rolle es ist, quantifizierbare Aussagen über Individuen zu treffen. Ein Lebewesen ist dann ein gutes Exemplar, wenn es die Eigenschaften besitzt, die es aufgrund seiner Lebensform besitzen sollte, und es ist dann ein schlechtes Exemplar, wenn ihm die Eigenschaften fehlen, die es als Mitglied seiner Spezies aufweisen sollte. Für das korrekte Verständnis eines (neo-)aristotelischen Naturalismus ist demnach von entscheidender Bedeutung, zwischen diesen beiden Satztypen zu unterscheiden, und meiner Ansicht nach können viele Missverständnisse hinsichtlich der Frage, um was für eine Art von »Naturalismus« es sich hier handelt, vermieden werden, wenn man diese Unterscheidung berücksichtigt. Evaluationen konkreter Lebewesen gemäß den obigen d-Konklusionen kommen demnach durch ein Zusammenspiel zweier Satztypen zu Stande, deren unterschiedliche logische Rolle darin besteht, zum einen nicht-quantifizierbare Aussagen über Spezies und Lebensformen zu treffen (a-Prämissen), zum anderen quantifizierbare Aussagen über konkrete Individuen Vgl. Foot, Natural Goodness, 28. Die Idee der »logischen Nicht-Quantifizierbarkeit« als logischem Charakteristikum solcher generischen Aussagen übernimmt Foot von Anscombe. 29 Vgl. ibid., 30. 28
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vorzunehmen (b- und c-Prämissen). 30 Berücksichtigt man, dass es sich bei a-Prämissen um logisch nicht-quantifizierbare – generische – Prädikationen handelt, bei b- und c-Prämissen hingegen um logisch quantifizierbare Prädikationen, dann wird auch verständlich, warum d-Konklusionen normative Urteile treffen und nicht bloß Aussagen über statistische Normalitäten darstellen. 31 Dem möglichen Vorwurf, dass d-Konklusionen lediglich ein Urteil darüber treffen, ob bei einem Individuum ein von der Mehrheit abweichendes deviantes Aussehen oder Verhalten vorliegt und somit eine solche naturalistische Argumentation einer Apologetik für die konventionellen Normen des herrschenden Status quo gleichkommt, kann entgegnet werden, dass ein derartiger Verdacht nur zulässig ist, wenn man a-Prämissen nicht als generische Aussagen versteht. Ein solcher Konventionalismusoder Konservatismusvorwurf ist berechtigt, wenn logisch nichtquantifizierbare a-Prämissen der Form »S’s sind E« oder »S’s tun ϕ« durch logisch quantifizierbare a-Prämissen der Form »Die meisten Exemplare von S sind E« oder »Die meisten Exemplare von S tun ϕ« substituiert werden. Werden derartige logisch quantifizierbare Prädikationen mit ebenfalls logisch quantifizierbaren Prädikationen der bund c-Prämissen kombiniert, dann wird in d-Konklusionen lediglich beschrieben, wie einzelne Individuen in Relation zur Mehrheit ihrer Artgenossen beschaffen sind. Bei derartigen Urteilen ist es in der Tat nicht einsichtig, wie sie einen möglichen normativen Anspruch begründen wollen. Die a-Prämissen haben als naturgeschichtliche Propositionen bzw. generische Aussagen demnach die Aufgabe, zu charakterisieren und zu spezifizieren, welche Eigenschaft einer bestimmten Spezies oder Lebensform als Spezies oder Lebensform zukommt. Nur wenn es derartige Propositionen gibt, können individuelle Exemplare einer Spezies oder Lebensform – unter Hinzuziehung von b- und c-Prämissen – danach beurteilt werden, ob sie »natürlichen Normen« genügen. Nur durch das Zusammenspiel von derartigen logisch nichtquantifizierbaren Aussagen mit logisch quantifizierbaren Sätzen lässt sich der normative Charakter von d-Konklusionen begründen. Wie kommt man aber nun zu wahren a-Prämissen? Wie identifiziert man naturgeschichtliche Propositionen, also Eigenschaften, die einer bestimmten Spezies als Spezies zukommen? Laut Thompson 30 31
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Vgl. ibid., 30; 33. Vgl. ibid., 33.
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und Foot braucht es hier eine Gesamtvorstellung darüber, wie das »Leben« bzw. der »Lebenszyklus« einer Spezies aussieht. Eine solche »Naturgeschichte« (natural history account) erzählt sozusagen, wie Lebewesen dieser Lebensform sich entwickeln und gedeihen, wie sie beschaffen sein müssen, um sich entwickeln und gedeihen zu können, und was sie dafür tun und unterlassen müssen. Foot spricht in diesem Zusammenhang auch von der »Teleologie einer Spezies«. 32 Erst auf dem Hintergrund einer Teleologie einer Spezies lassen sich – so Foots Kritik an Thompson – innerhalb einer Naturgeschichte, also der Gesamtheit wahrer generischer Aussagen über eine Lebensform, diejenigen generischen Aussagen identifizieren, die auch naturgeschichtliche Propositionen sind. 33 Nehmen wir ein von Foot gebrauchtes Beispiel, um den Unterschied zwischen wahren generischen Aussagen und wahren naturgeschichtlichen Propositionen zu illustrieren: (1) Die Blaumeise hat einen blauen Fleck auf ihrem Kopf. (2) Der männliche Pfau hat ein knallbuntes Gefieder. Gemeinsam ist den Aussagen (1) und (2), dass es sich bei ihnen um wahre generische Aussagen handelt. Der Unterschied zwischen beiden Aussagen besteht darin, dass es sich bei (2) zusätzlich um eine naturgeschichtliche Proposition handelt. Dieser Unterschied lässt sich folgendermaßen erklären: Die der Spezies »Meise« attribuierte Eigenschaft, einen blauen Fleck auf dem Kopf zu haben, spielt keine Rolle in der Naturgeschichte der Meise. Man kann eine Geschichte über das Leben und Gedeihen von Meisen erzählen, ohne erwähnen zu müssen, dass sie einen blauen Fleck auf dem Kopf haben. Eine vollkommen graue Blaumeise kann nach Foots Muster natürlicher Normativität demnach nicht als »defekt« beurteilt werden. Anders verhält es sich mit einem vollkommen grauen Pfau. Ein solches Exemplar weist einen natürlichen Defekt auf, es ist nicht so beschaffen, wie es beschaffen sein sollte als Pfau. Warum? Im Gegensatz zu (1) attribuiert der Satz (2) der Spezies »Pfau« eine Eigenschaft, die eine Rolle für das Leben und Gedeihen der Lebensform »Pfau« spielt. Das bunte Gefieder männlicher Pfauen stellt ein visuelles Ornament dar, das weibliche Pfauen paarungswillig macht, weil es für sie genetische Gesundheit signalisiert. Anders als bei grauen Blaumeisen 32 33
Vgl. ibid., 30–31. Vgl. ibid., 30.
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(Neo-)aristotelischer Naturalismus
weisen graue Pfauen demnach einen »natürlichen Defekt« auf, weil es ihnen an einer Eigenschaft mangelt, die eine Rolle im Leben bzw. dem Lebenszyklus ihrer Spezies spielt. Von dieser Differenzierung her kann nun der Begriff »aristotelische kategorische Aussagen« (aristotelian categoricals) eingeführt werden: Aristotelische kategorische Aussagen (künftig: AKA) sind generische bzw. naturgeschichtliche Propositionen, d. h. Aussagen, die im Rahmen der Naturgeschichte einer Spezies notwendig sind, um zu erklären, wie eine Spezies sich entwickelt und gedeiht. Anders formuliert: AKA attribuieren Spezies teleologische Eigenschaften, d. h. Eigenschaften, ohne die die Ziele dieser Spezies nicht erreicht werden können, womit sie zugleich spezifizieren, wie einzelne Spezies ihre generischen Ziele als Pflanzen und Tieren – z. B. Überleben und Fortpflanzung – erreichen können. 34 Hinsichtlich Pflanzen und nicht-menschlichen Tieren bemüht sich Foot, deutlich zu machen, dass AKA alle in direkter oder indirekter Weise Eigenschaften attribuieren, die erklären und spezifizieren, wie bestimmte pflanzliche oder tierische Lebensformen die Ziele von Selbsterhaltung und Fortpflanzung realisieren können. 35 Man könnte diesen Gedankengang auch folgendermaßen aufschlüsseln: Lebende Entitäten wie Pflanzen oder Tiere sind funktionale Prädikatoren in dem Sinne, dass das Ziel von Lebewesen darin besteht, am Leben zu bleiben bzw. sich fortzupflanzen. AKA sind im Falle von Pflanzen und nicht-menschlichen Tieren deshalb Aussagen, die beschreiben, wie das Lebewesen der entsprechenden Spezies beschaffen sein muss und sich verhalten muss, also welche Eigenschaften es besitzen muss, damit es diesen Zielen entspricht.
6.2 Natürliche Gutheit beim Menschen Das Problem der Rechtfertigung des Objektivitätsanspruchs einer Theorie eines guten Lebens kann nun gelöst werden, wenn sich das Konzept der »natürlichen Gutheit« auch gebrauchen lässt, um die Beschaffenheit menschlicher Lebewesen zu evaluieren. Hierzu müssen drei Thesen verteidigt werden: Erstens gilt es die Frage zu beantwor-
34 35
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Vgl. ibid., 29–31. Vgl. ibid., 31.
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Natürliche Gutheit beim Menschen
ten, ob das skizzierte Evaluationsschema auch auf Menschen übertragen werden kann. Wenn diese Frage bejaht wird, dann muss zweitens erläutert werden, worin die Unterschiede bestehen, wenn man Menschen an Stelle von Tiere bzw. Pflanzen nach dem »Muster natürlicher Normativität« evaluiert. Drittens ist zu untersuchen, ob die behaupteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Anwendung des Schemas natürlicher Normativität auf Menschen einen (neo-) aristotelischen Naturalismus nicht in Widersprüche verwickeln.
6.2.1 Anwendbarkeit des »Musters natürlicher Normativität« Foots Antwort auf die erste Frage ist ein sattes »Ja«. Die logische Rolle von »gut« als attributivem Adjektiv ändert sich nicht, wenn man Menschen beurteilt. Die Bedeutung von »gut« im Ausdruck »gute Wurzeln« ist dieselbe, wie wenn man »gut« im Ausdruck »gute Dispositionen des menschlichen Willens« verwendet. 36 Foot spricht von einer gemeinsamen »begrifflichen Struktur« solcher Evaluationen. 37 Gemeint ist damit, dass für die Beurteilung von einzelnen Menschen ebenso wie bei anderen Lebewesen eine Art »Naturgeschichte« erforderlich ist, die artikuliert, worin ein gutes Leben der entsprechenden Lebensform besteht. 38 Von dieser Vorstellung her kann dann bestimmt werden, ob einzelne Menschen so beschaffen sind bzw. so fühlen oder handeln, wie sie als Menschen beschaffen sein sollten bzw. wie sie als Menschen fühlen oder handeln sollten. 39 Auch bei Menschen – so Foots These – gibt es demnach wahre AKA, d. h. naturgeschichtliche Aussagen, die der Spezies »Mensch« Eigenschaften attribuieren, deren Besitz in einer Beziehung zu den Zielen der menschlichen Spezies bzw. Lebensform steht. Wie bei Pflanzen und Tieren geben diese AKA Auskunft darüber, was im menschlichen Leben eine Rolle spielt und wie Menschen charakteristischerweise die Ziele ihrer Lebensform erreichen, d. h. als Menschen gedeihen. Wie bei Pflanzen und Tieren handelt es sich bei den AKA über die menschlichen Lebensform um Antworten auf »Warum-Fragen«, also um Sätze, die durch ihre Verbindung zur Teleologie der 36 37 38 39
Vgl. ibid., 39. Vgl. ibid., 39; 44. Vgl. ibid., 41. Vgl. ibid., 44.
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(Neo-)aristotelischer Naturalismus
menschlichen Spezies eine Antwort darauf geben, warum Menschen das tun, was sie tun. 40
6.2.2 Unterschiede bei der Evaluation von Menschen Wenn man bejaht, dass das für Lebewesen wie Pflanzen und Tiere entwickelte Schema natürlicher Normativität bzw. natürlicher Normen grundsätzlich auch auf eine Evaluation von Menschen anwendbar ist, weil die begriffliche Struktur dieser Art von Evaluation auch in Bezug auf Menschen erhalten bleibt, dann muss nun zweitens gefragt werden, was diese Bejahung impliziert und was nicht. Damit komme ich zu den Unterschieden, die sich ergeben, wenn man das Muster natürlicher Normativität bei der menschlichen Spezies im Gegensatz zu pflanzlichen oder tierischen Spezies zur Anwendung bringt. Der wohl wichtigste Unterschied besteht darin, dass die Identifizierung der menschlichen AKA, also der »Formeigenschaften« der menschlichen Spezies, nicht einfach – wie bei Pflanzen oder Tieren – durch einen Rekurs auf den biologischen Lebenszyklus der entsprechenden Art gewonnen werden kann. 41 Bei botanischen und zoologischen Lebensformen besteht das »Gut« der entsprechenden Spezies in einem guten Leben, d. h. einem Leben, in dem die jeweilige Spezies sich auf die sie charakterisierende Weise entwickelt, ihr individuelles Überleben sichert, sich fortpflanzt und damit gedeiht. 42 Das Problem besteht nun darin, dass man eine menschliche Naturgeschichte nicht in rein animalischen Kategorien von »Ernährung«, »Wachstum«, »Überleben« oder »Fortpflanzung« erzählen kann. Wie Foot es treffend ausdrückt, endet die teleologische Geschichte bei Wesen der Gattung Mensch nicht einfach an dem Punkt, an dem die Ziele von Überleben oder Fortpflanzung erreicht oder nicht erreicht sind. 43 Was ein »gutes menschliches Leben« ist, kann nicht allein mit diesen Begriffen umschrieben werden, was wiederum bedeutet, dass das »menschliche Gut« und die Dinge, die in einem menschlichen Leben eine Rolle spielen bzw. eine Antwort auf Warum-Fragen geben, nicht allein im Rückgriff auf die Charakteristika des biologischen menschlichen Le40 41 42 43
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Vgl. ibid., 40–41. Vgl. ibid., 41–43. Vgl. ibid., 41. Vgl. ibid., 42–43.
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Natürliche Gutheit beim Menschen
benszyklus beantwortet werden können. Anders als bei Tieren ist z. B. ein freiwillig gewähltes Leben ohne Nachkommen nicht ipso facto ein schlechtes oder defektives menschliches Leben, da ohne Probleme plausible Erklärungen dafür vorstellbar sind, warum man ein solches Leben gewählt hat. 44 Foot spricht in diesem Zusammenhang davon, dass das menschliche Gut sui generis ist, ohne damit die Vorstellung aufzugeben, dass es so etwas wie eine menschliche Naturgeschichte gibt, die spezifiziert und erklärt, was ein gutes menschliches Leben ausmacht und wie Menschen auf für sie charakteristische Weise gedeihen. 45
6.2.3 Widerspruchslosigkeit in der Anwendung Damit komme ich zum dritten Punkt, also der Frage, ob die behaupteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Anwendung des Schemas natürlicher Normativität auf Menschen Vertreter eines Naturalismus (neo-)aristotelischer Provenienz nicht in Widersprüche verwickeln. Das Problem von Foots Ansatz besteht meiner Ansicht nach darin, dass sie einen zunächst interessanten Vorschlag unterbreitet, wie man das Muster natürlicher Normativität auf Menschen anwenden kann und gleichzeitig den Unterschieden, die sich durch die besondere rationale Natur des Menschen gegenüber der sonstigen Pflanzen- und Tierwelt ergeben, Rechnung tragen kann, diesen Vorschlag dann aber an späterer Stelle konterkariert. 46 Dies geschieht dadurch, dass sie eine Evaluation des Menschen nach dem Muster natürlicher Normativität auf eine Bewertung der Beschaffenheit seines Willens eingrenzt und damit die Frage aufwirft, inwieweit ihr Naturalismus noch »naturalistisch« ist, wenn er von den biologischen Voraussetzungen der menschlichen Rationalität abstrahiert, d. h. er die menschliche Rationalität von ihrer animalischen Natur zu lösen versucht. Meiner Ansicht nach resultiert die Schwierigkeit einer Interpretation ihres Ansatzes aus dieser Ambiguität von zwei nicht gänzlich miteinander versöhnbaren Ansätzen. 47 Ich skizziere zunächst, wo Vgl. ibid., 42. Vgl. ibid., 51. 46 Vgl. ibid., 66. 47 Aus dieser Ambiguität resultieren meiner Meinung nach die kritischen Anfragen, auf die McDowell hingewiesen hat, vgl. John McDowell, »Two Sorts of Naturalism«, in Virtues and Reasons: Philippa Foot and Moral Theory. Rosalind Hursthouse, Gavin 44 45
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sich bei Foot der – meiner Meinung nach – erfolgversprechendere Ansatzpunkt für eine Anwendung des Musters natürlicher Normativität in Bezug auf menschliche Lebewesen findet, der den genuinen Unterschieden der Spezies Mensch gegenüber anderen Tierarten gerecht wird. Entscheidend ist Foots Frage, wie man identifizieren kann, wie Menschen als Menschen gedeihen, also was ein gutes menschliches Leben bzw. das menschliche Gut ist. Wenn AKA bzw. naturgeschichtliche Aussagen bei menschlichen Lebewesen nicht mehr durch einen Rekurs auf den biologischen Lebenszyklus und die mit ihm vorgegebenen Ziele bestimmbar sind, dann muss Foot erläutern, wie sie hier vorzugehen denkt. Sollte man anhand der offensichtlichen Diversität menschlicher Lebensweisen und Kulturen nicht die Idee aufgeben, dass es so etwas wie eine »menschliche Lebensform« bzw. eine für Menschen spezifische Weise des Gedeihens gibt, anhand derer Individuen in sehr unterschiedlichen Kulturen bewertet werden können? Denn was eine »Rolle spielt« für das Gedeihen von Menschen, also für die Beschreibung eines guten menschlichen Lebens, scheint nicht nur relativ zu unterschiedlichen kulturellen Kontexten, sondern innerhalb dieser Kontexte noch einmal relativ zu den jeweiligen Individuen, z. B. ihrer gesellschaftlichen Rollen und persönlichen Fähigkeiten und Begabungen. Die Rede von einem »menschlichen Gut« erscheint somit höchst problematisch. Der entscheidende Schachzug Foots, um eine Antwort auf die Frage geben zu können, was ein gutes menschliches Leben ist und ausmacht, die derartigen Einwänden von Seiten radikaler Wertpluralisten, Konstruktivisten oder Relativisten Stand hält, beinhaltet einen naturalistischen und einen methodischen Aspekt. Das naturalistische Moment besteht darin, bei dem anzusetzen, was Menschen als Lebewesen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, was also das Spezifikum seiner Natur ist. 48 Sich in die lange Tradition der aristotelisch-thomistisch geprägten abendländischer Philosophie bzw. Anthropologie einreihend, geht Foot davon aus, dass der Mensch ein soziales und rationales Tier ist. Das Lebewesen »Mensch« zeichnet sich
Lawrence, und Warren Quinn (Hg.) (Oxford: Clarendon Press, 1996). Wie unterschiedlich und konträr der »Naturalismus« von Foot interpretiert und beurteilt wird, zeigt sich auch an den unterschiedlichen Beiträgen in Reuter und Hoffmann, Natürlich gut. 48 Vgl. Foot, Natural Goodness, 51.
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als soziales Tier demnach durch eine besondere Form der Rationalität aus, die in dieser Form keinem anderen sozialen Tier zu eigen ist. 49 Mit dem methodischen Aspekt ist nun gemeint, dass Foot eine eigene Vorgehensweise vorschlägt, um herauszufinden, was im Leben derartiger Lebewesen »eine Rolle spielt«, was also notwendigerweise erforderlich ist, damit Menschen als Menschen gedeihen können. Diese Methode wird von ihr als Methode der »Deprivation« bezeichnet: Es mag zwar schwierig bis unmöglich sein, in einem positiven Sinne zu formulieren, worin kultur- bzw. individuenübergreifend ein gutes menschliches Leben besteht, jedoch kann man umgekehrt fragen, was dafür notwendig ist, damit der Mensch sich zu dem entwickeln kann, was er gemäß seiner Natur ist, nämlich einem rationalen sozialen Tier. 50 Natürliche Normen werden beim Menschen – anders als bei Pflanzen und Tieren – demzufolge nicht im Rekurs auf einen biologischen Lebenszyklus bestimmt, sondern in Bezug auf eine Natur- bzw. Entwicklungsgeschichte, aus der hervorgeht, was notwendig dafür ist, damit sich Menschen zu rationalen Tieren entwickeln können. AKA identifizieren beim Menschen demnach jene physischen, psychischen und sozialen Fähigkeiten und Eigenschaften, die es – kultur- und individuenübergreifend – unabdingbar braucht, damit sich das menschliche Potential zu rationalem Denken und Handeln ungehindert entfalten kann. Exemplare der Gattung Mensch haben dementsprechend einen »natürlichen Defekt«, wenn es ihnen z. B. an physischen Voraussetzungen fehlt, die notwendig für den Spracherwerb sind, an einer Vorstellungskraft mangelt, die notwendig ist, um das Handeln anderer Menschen verstehen und nachvollziehen zu können, oder sie sich als unfähig erweisen, eine soziale Rolle (z. B. als sorgende Mutter oder Vater) auszuüben, von der abhängt, ob sich andere ungehindert zu rationalen Lebewesen entwickeln können. 51 Foot argumentiert demnach, dass die begriffliche Struktur des Schemas natürlicher Normativität bzw. natürlicher Normen auch für eine Beurteilung von Exemplaren der Gattung »Mensch« herangezogen werden kann, dies aber nicht impliziert, dass die Charakteri-
Vgl. ibid., 53, 55. Was die Besonderheit der menschlichen Rationalität in Abgrenzung zur Rationalität anderer intelligenter Tiere ausmacht, wird in überzeugender Weise dargelegt von MacIntyre, Dependent Rational Animals. 50 Vgl. Foot, Natural Goodness, 43. 51 Vgl. ibid., 43–44. 49
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sierung des menschlichen Guts bzw. eines guten menschlichen Lebens – wie bei Pflanzen und Tieren – durch einen Bezug auf den biologischen Lebenszyklus und sich aus ihm ableitenden Ziele erfolgen muss. Auch bei Menschen kann man davon reden, dass ein »guter Mensch« ein Exemplar ist, das entsprechend seiner Natur »gedeiht«, jedoch kann ein Gesamturteil darüber, ob ein individueller Mensch gedeiht, nicht – wie bei anderen Tieren – allein damit begründet werden, dass seine Teile, Operationen, emotionalen Reaktionen, Wünsche und Handlungen so beschaffen sind, dass sie geeignet sind, die Ziele des Überlebens, der Kontinuität der Spezies und des Freiseins von Schmerz bzw. Erlebens von Lust, auf für die Spezies charakteristische Weise zu realisieren. Rekonstruiert man Foots Gedankengang auf diese Weise, so ergibt sich kein Widerspruch zwischen der Behauptung, dass auch Menschen nach dem Muster natürlicher Normativität beurteilt werden können, und der These, dass das menschliche Gut sui generis ist. Weil die menschliche Natur als rationale Natur sui generis ist und das den Menschen von allen anderen sozialen Tieren unterscheidende Charakteristikum darin besteht, sich dieser rationalen Natur entsprechend zu entwickeln, sind die Ziele seiner bleibend biologischen bzw. tierischen Natur, diesem Ziel untergeordnet. Das gemeinsame »biologische« und das unterscheidend »rationale« Element in einer Bestimmung des Guts der menschlichen Natur führen somit nicht in einen Widerspruch, wenn man die für die Schlussfolgerung auf natürliche Normen notwendigen a-Prämissen – also AKA – beim Menschen nicht durch einen Rekurs auf den biologischen Zyklus der menschlichen Lebensform zu identifizieren sucht, sondern vielmehr durch die Beantwortung der Frage, welche biologischen und sozialen Bedingungen notwendigerweise erfüllt sein müssen, damit sich der Mensch – seiner Natur entsprechend – ungehindert zu einem rationalen sozialen Tier entwickeln kann. 52 Damit ist gezeigt, dass mittels eines Rekurses auf eine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus das Objektivitätsproblem gelöst werden kann. Entgegen Quong ist gezeigt, dass das Faktum eines vernünftigen Pluralismus bzw. die Bürden der Urteilskraft nicht zwangsläufig zu einem Verlust eines gemeinsamen Rechtfertigungsrahmens für Fragen des guten Lebens führen müssen. 52
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Vgl. ibid., 51.
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Attraktivität eines Essentialismus
6.3 Attraktivität eines Essentialismus An dieser Stelle meiner Untersuchung legt sich nun folgender Einwand nahe: Es mag ja sein, dass meine These gut begründet ist, dass sich mittels eines (neo-)aristotelischen Naturalismus und dessen Konzeption »natürlicher Gutheit« das Objektivitätsproblem lösen lässt. Gegen einen solchen Lösungsansatz spricht allerdings, dass die Übernahme eines Essentialismus voraussetzungsreich und damit recht »kostspielig« ist. Es gilt somit zu begründen, warum Perfektionistische Liberale – unabhängig von der Möglichkeit der Lösung des Objektivitätsproblems – bereit sein sollten, diesen »Preis« zu zahlen. In diesem Abschnitt werde ich hierfür zwei Argumente präsentieren. Ich bestreite nicht, dass die Akzeptanz eines Essentialismus kostspielig ist, sondern weise vielmehr darauf hin, dass man dafür aber auch »was für sein Geld bekommt« – um im Bild zu bleiben. Essentialist zu sein ist attraktiv, weil man erstens in einer einheitsgebenden Weise erklären kann, was den Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen gemeinsam ist, die sich auf Shers Güterliste vorfinden (siehe 6.3.1). Zweitens kann man begründen, warum eine antiessentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus notwendigerweise zu den oben aufgezeigten Problemen führt (siehe 5.2.1), und zugleich darlegen, dass ein Essentialismus zur Lösung dieser Probleme befähigt (siehe 6.3.2).
6.3.1 Einheitsgebende Erklärung Kommen wir zum ersten Punkt, der meiner Ansicht nach für die Übernahme einer essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus spricht. Sher argumentiert dafür, dass eine moderat-pluralistische Werttheorie einer radikal-pluralistischen vor allem deshalb vorzuziehen ist, weil die Erstgenannte erklären kann, was den Gütern bzw. Werten gemeinsam ist, die wir auf Listen von intuitiv plausiblen objektiven Gütern bzw. Werten vorfinden. Wie wir sahen (siehe 5.1.1.2), versucht Sher die »Gut- bzw. Werthaftigkeit« der Einträge auf seiner Liste damit zu rechtfertigen, dass diese der erfolgreichen Realisierung eines Zieles entsprechen, das uns durch grundlegende Fähigkeiten vorgegeben ist, also Fähigkeiten, deren Ausübung wir nahezu universal und nahezu unvermeidlich anstreben. Die nachfolgende Verteidigung der objektiven Wert- bzw. GutPerfektionistischer Liberalismus
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haftigkeit der fraglichen Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen ähnelt in vielen Punkten der von Sher, unterscheidet sich aber in dem wesentlichen Punkt, dass ich eine rein empirische Bestimmung grundlegender menschlicher Fähigkeiten und sich daraus ableitender Ziele für einen Irrweg halte. Wenn ich vom oben skizzierten (neo-)aristotelischen Naturalismus ausgehe, dann sind Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsarten in einem objektiven Sinne »gut« bzw. »wertvoll«, wenn plausibel gemacht werden kann, dass sie eine wichtige Rolle für das Gedeihen von Menschen als soziale und rationale Tiere spielen. Das einheitsgebende Schema einer essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus versucht also den Wert bzw. die Guthaftigkeit von Einträgen auf intuitiv plausiblen Listen objektiver Güter bzw. Werte damit zu erklären, dass es sich bei diesen um Dinge handelt, die der Realisierung von Zielen dienen bzw. entsprechen, die uns aufgrund unserer Natur als sozialen und rationalen Tieren zukommen. Von diesen her können dann einzelne menschliche Individuen als »natürlich gut« bzw. »defektiv« beurteilt werden können. In enger Anlehnung an meine Rekonstruktion der Argumentation Shers, werde ich dieses Schema in drei Schritten anwenden: Zunächst werde ich darlegen, wie man gemäß einem Essentialismus plausibel machen kann, dass es sich bei »engen sozialen Beziehungen«, »rationaler Aktivität«, »Wissen« und »moralischer Gutheit« um objektive Güter bzw. Werte handelt, und unter Zuhilfenahme der von Sher verwendeten Prämissen auch die »Wahrnehmung von wahrer Schönheit« und die »Entwicklung der eigenen Fähigkeiten« als objektiv wertvolle Aktivitäten oder Charaktereigenschaften gerechtfertigt werden können. In einem zweiten Schritt werde ich zeigen, dass das von mir favorisierte einheitliche Erklärungsschema auch das von Sher gewünschte Potential hat, den Wert einer Kultur des Anstands und des guten Geschmacks rechtfertigen zu können. 6.3.1.1 Objektive Güter Ich beginne die Rechtfertigung der objektiven Gut- bzw. Werthaftigkeit der Einträge auf Shers Liste mit dem Gut »rationaler Aktivität«. Anders als bei Sher wird das Werturteil, dass »rationale Aktivität« Ausdruck und Element eines guten menschlichen Lebens ist, gemäß einer essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus nicht durch das Faktum begründet, dass Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich Entscheidungen treffen müssen und da336
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nach streben, die Handlungsmöglichkeit zu wählen, die für sie am besten ist, d. h. für die die stärksten oder gewichtigsten Gründe sprechen. Menschen streben nicht de facto danach, d. h. in einem empirisch nachweisbaren Sinne, die Handlungsmöglichkeit zu wählen, die praktisch rational ist, also am Besten für sie ist. »Rationale Aktivität« – verstanden als »praktische Weisheit« oder Fähigkeit zu praktisch rationalem Denken und Handeln – ist gemäß einem (neo-)aristotelischen Naturalismus in einem objektiven Sinne aufgrund der spezifischen menschlichen Rationalität »gut« bzw. »wertvoll« für Menschen. Diese Rationalität zeichnet sich dadurch aus, dass das, was für den Menschen »natürlich gut« ist, nicht durch das determiniert ist, was für sie in einem rein biologischen Sinne »natürlich gut« ist. Anders formuliert: Aufgrund seiner rationalen Natur ist das menschliche Gut unterdeterminiert und der Mensch muss lernen zu beurteilen, was für ihn das jeweils Beste in unterschiedlichen Situationen und Kontexten ist. Es ist insofern das Faktum, dass ein Rekurs auf die biologische Natur des Menschen bzw. die Ziele, die sich aus seinem biologischen Zyklus als sozialem Tier ergeben, nicht ausreicht, um zu bestimmen, was in einem guten menschlichen Leben eine Rolle spielt und spielen soll, welches der Aktivität praktisch rationalen Handelns bzw. der Charaktereigenschaft praktischer Weisheit objektiven Wert verleiht. Menschliche Individuen, die unfähig zu praktisch rationalem Handeln sind bzw. die die Charaktereigenschaft praktischer Weisheit nicht besitzen, sind als »defektiv« zu beurteilen, weil sie unfähig sind zu bestimmen, was für sie das Beste ist, und nicht dementsprechend handeln können. Aufgrund unserer rationalen Natur können wir als rationale Tiere aber nur dann ein gutes Leben führen, wenn wir zu solchen Deliberationen in der Lage sind. Wie sieht es nun mit dem Gut »enger sozialer Beziehungen« aus, dessen objektiven Wert Sher zu verteidigen sucht? Gemäß eines Essentialismus kann das Urteil, dass enge soziale Beziehungen Teil eines guten Lebens sind, mit Bezug auf das Faktum gerechtfertigt werden, dass Menschen von Natur aus soziale Tiere sind und deshalb ohne solche Beziehungen nicht gedeihen können. Doch welche Art von engen sozialen Beziehungen sind Teil eines guten menschlichen Lebens? Es ist evident, dass nicht jede Art von enger sozialer Beziehung uns als soziale Tiere gedeihen lässt, dass es auch Beziehungen gibt, die zwar eng, aber destruktiv und unserem Gedeihen abträglich sind. Wie wir oben sahen (siehe 5.2.1.2 und 5.2.1.3), war dies genau das ProPerfektionistischer Liberalismus
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blem von Shers anti-essentialistischer Konzeption eines naturalistischen Realismus. Wir beurteilen enge soziale Beziehungen als gut bzw. wertvoll für Menschen, in denen wir als Personen mit unseren Bedürfnissen, Fähigkeiten, Begabungen und Rechten anerkannt und nicht ausgebeutet oder manipuliert werden. Das Problem ist nur für Sher, dass wir (leider) nicht nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach streben, auch derartige Beziehungen zu etablieren und aufrecht zu erhalten. Meiner Ansicht nach liefert ein (neo-)aristotelischer Naturalismus nun die Ressourcen, um dieses Spezifikationsproblem zu lösen. Ein erster Ansatz kann sich an unserer biologischen Natur orientieren und den Zielen, die Menschen entsprechend ihrer Natur als soziale Tiere damit vorgegeben werden: So sind etwa soziale Beziehungen in denen Kinder gezeugt werden und/oder aufwachsen prima facie objektiv wertvoll, weil sie das Ziel der »Kontinuität der Spezies« realisieren. Ebenso kann man sagen, dass jene engen sozialen Beziehungen wertvoll sind, die Individuen darauf vorbereiten, mit anderen Individuen in einer zivilisierten Weise zu kommunizieren und zu kooperieren, weil sie auf diesem Wege dem Ziel des »guten Funktionierens der sozialen Gruppe« dienen. Umgekehrt kann man argumentieren, dass aus der Menge möglicher guter bzw. wertvoller sozialer Beziehungen jene ausgeschlossen werden können, bei denen plausibel gemacht werden kann, dass sie das Gedeihen der involvierten Personen als soziale und rationale Tiere behindern oder sogar verunmöglichen. Beurteilungsmaßstab der Qualität von sozialen Beziehungen ist und bleibt somit das Gedeihen der Individuen in diesen Beziehungen. Damit wird erklärt, warum wir nur jene engen sozialen Beziehungen als Teil eines guten Lebens ansehen, die sich durch einen gegenseitigen Respekt und eine wechselseitige Anerkennung von Bedürfnissen, Fähigkeiten, Begabungen und Rechten auszeichnen. Manipulation und Ausbeutung entsprechen einer parasitären Existenz, die die eigene Natur als sozialem (Herden-)Tier verkennt. Ein anderer Ansatz, der eher an die Ausführungen von Foot anknüpft und dann vor allem von MacIntyre entfaltet wird, beurteilt die Wert- bzw. Guthaftigkeit von sozialen Beziehungen danach, ob sie derart sind, dass wir uns in ihnen zu unabhängigen rationalen Denkern entwickeln können, also unsere spezifisch menschliche Rationalität entfalten können. 53 Ich will seinen Grundgedanken hier nur kurz 53
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Vgl. MacIntyre, Dependent Rational Animals, 81–166.
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skizzieren: Gemäß MacIntyre können wir uns nur in solchen Beziehungen zu unabhängigen rationalen Denkern entwickeln, in denen wir in einer unbedingten Weise als bedürftige und verletzliche Wesen anerkannt werden und in denen wir in einer unbedingten Weise die Nöte und Bedürfnisse von Menschen berücksichtigen, die sich derzeit nicht selbst mit dem versorgen können, was sie zum Leben und Gedeihen brauchen. Insbesondere als Kinder, in Zeiten der Krankheit und des Alters ist unser Gedeihen abhängig davon, dass Menschen unser Gut in ihren praktischen Deliberationen in einer unbedingten Weise berücksichtigen und nicht einem Kosten-Nutzen-Kalkül unterwerfen. Unabhängiges praktisches Denken zeichnet sich also vor allem dadurch aus, dass man die eigene vergangene aber auch bleibende und kommende Abhängigkeit von anderen Personen anerkennt und das Gut von anderen Menschen in den eigenen praktischen Deliberationen berücksichtigt, deren Gedeihen hier und jetzt von den eigenen Entscheidungen abhängt. Von dieser Konzeption praktischer Rationalität her sind jene engen sozialen Beziehungen in einem objektiven Sinne gut bzw. wertvoll, in denen die für ein solches Denken und Handeln notwendigen Tugenden des Gebens und Empfangens eingeübt werden. Manipulatorische oder ausbeuterische Beziehungen sind demzufolge schlecht bzw. defektiv, weil wir in ihnen weder das für unser Gedeihen notwendige Geben noch das für unser Gedeihen notwendige Empfangen erlernen und damit unfähig sind, mit anderen über die Gemeingüter der Beziehungen zu deliberieren, die es braucht, damit wir als abhängig rationale Tiere gedeihen können. Ausgehend von den vorhergehenden Überlegungen kann nun relativ einfach der objektive Wert des Gutes »Wissen« begründet werden. »Wissen« ist im Sinne von »know that« und »know how« ein Element eines guten menschlichen Lebens. Als soziale und insbesondere als rationale Wesen müssen wir lernen, was für uns das jeweils Beste ist, was wir tun können, was uns selbst, aber auch die Menschen, mit denen wir in engen sozialen Beziehungen verbunden sind, gedeihen lässt. Dazu brauchen wir ein Wissen um uns selbst und um andere Menschen. Die Etablierung und Aufrechterhaltung enger sozialer Beziehungen sowie ein gemeinsames praktisches Deliberieren darüber, was das individuell wie gemeinschaftlich Beste ist, was wir tun können, ist nur mit einem Wissen um sich selbst möglich, einem Verstehen anderer Menschen und einem Wissen um die Welt und die Wirkzusammenhänge in ihr. Allein für die Schaffung eines Lebensraumes bzw. einer Kultur, die Menschen als soziale und ratioPerfektionistischer Liberalismus
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nale Tiere gedeihen lässt, ist »Wissen« unabkömmlich. Aufgrund unserer rationalen Natur ist Wissen jedoch nicht nur in einem instrumentellen Sinne objektiv gut für ein menschliches Leben, sondern weil wir daraufhin angelegt sind, unsere spezifisch menschliche Rationalität zu entwickeln, kann der Erwerb von »nutzlosem« bzw. nicht-anwendungsorientiertem Wissen auch deshalb von Wert sein, weil er einer Freude entspricht, die für Menschen als rationale Tiere charakteristisch ist. Anders formuliert: Der Erwerb von Wissen im Sinne von »know that« und »know how« ist aufgrund der biologischen Unterdeterminiertheit des menschlichen Guts ein praktisches Erfordernis, welches aber auch schon in sich wertvoll ist, weil es den Menschen aufgrund dieser Unterdeterminiertheit und konstitutiven Offenheit seiner biologischen Natur mit einer für ihn charakteristischen Freude erfüllt, das Bedürfnis zu stillen, sich selbst, sowie seine personale wie impersonale Umwelt zu verstehen. Wie kann ein Vertreter eines (neo-)aristotelischen Naturalismus die objektive Wert- bzw. Guthaftigkeit des Eintrags »die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten« auf Shers Liste rechtfertigen? Sher muss hier wie bei den Gütern »moralische Gutheit« und »Wahrnehmung von wahrer Schönheit« eingestehen, dass er deren Wert nicht mehr damit rechtfertigen kann, dass Menschen in einer universalen und unvermeidlichen Weise danach streben, gute Charaktere auszubilden, die eigenen Begabungen bzw. Fähigkeiten zu entwickeln oder schöne Dinge zu betrachten. 54 Die rationale Überlegenheit einer essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus zeigt sich an dieser Stelle in einer besonderen Weise, weil sie mittels des Musters natürlicher Normativität auch den Wert dieser Einträge rechtfertigen kann. Betrachten wir zunächst, wie dies im Falle des Guts »Entwicklung der eigenen Fähigkeiten« aussehen kann. Ähnlich wie Sher dürfte es nicht schwer sein, die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten als objektiv gut bzw. wertvoll zu rechtfertigen, die es braucht, um uns zu rationalen Denkern zu entwickeln. MacIntyre argumentiert z. B., dass wir die uns spezifische Rationalität nur entwickeln können, wenn wir die Fähigkeit entwickeln, uns von unseren unmittelbaren Wünschen zu distanzieren, und lernen, uns alternative zukünftige Welten vorzustellen. 55 In gleichem Maße ist die Entwick54 55
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Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 207. Vgl. MacIntyre, Dependent Rational Animals, 87–91.
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lung jener Fähigkeiten in einem objektiven Maße gut und wertvoll für einen Menschen, die es ihm erlauben, die Beziehungen zu etablieren und aufrecht zu erhalten, die für seine Entwicklung als rationalem Tier notwendig sind. Auf dem Hintergrund von MacIntyres Ausführungen könnten hier etwa die Fähigkeit zur Empathie und zum Ausdruck von Dankbarkeit genannt werden. Doch wäre es möglich hier einzuwenden, dass es Sher nicht um den Wert der Entwicklung derartiger Fähigkeiten geht, sondern eher darum, wie man rechtfertigen kann, dass die Entwicklung besonderer individueller Talente und Begabungen (z. B. künstlerischer oder musischer Natur) von objektivem Wert ist. Hierauf könnte man erwidern, dass nach dem Muster natürlicher Normativität die Beschaffenheit eines individuellen Exemplars einer Spezies zwar primär nach speziesabhängigen Eigenschaften und Zielen beurteilt wird, dies aber nicht ausschließt, dass individuelle Faktoren in der normativen Beurteilung eine Rolle spielen. Nicht zuletzt aufgrund der biologischen Unterdetermination des menschlichen Guts müssen Menschen darüber entscheiden, was in ihrem Leben eine Rolle spielen soll, d. h., wie ein gutes menschliches Leben sich für sie konkretisiert. Vor allem aufgrund der Freude, die mit der Entwicklung der eigenen Talente und Begabungen verbunden ist, ist es plausibel anzunehmen, dass zu einem guten menschlichen Leben die Entfaltung derartiger individueller Begabungen konstitutiv dazugehört. Sollte ein Individuum über viele miteinander inkompatible Talente und Begabungen verfügen, so bedeutet dies schlicht, dass es für dieses Individuum verschiedene Weisen und Möglichkeiten gibt, als menschliches Exemplar zu gedeihen bzw. ein gutes menschliches Leben zu führen. Als »natürlich defektiv« müsste nur ein Mensch beurteilt werden, der sich konstant weigert, jegliche in ihm angelegten Entwicklungspotentiale zur Entfaltung zu bringen. Aus Sicht eines (neo-)aristotelischen Naturalismus sollten lediglich jene individuellen Talente, Begabungen und Fähigkeiten nicht entfaltet werden, die ein Gedeihen als soziales und rationales Tier behindern oder sogar verunmöglichen (z. B. die Fähigkeit zu lügen oder zur Manipulation von Menschen). Damit komme ich zu den beiden letzten Gütern – »moralische Gutheit« und »Wahrnehmung von wahrer Schönheit« – von denen Sher behauptet, dass er deren objektive Werthaftigkeit in einer einheitsgebenden Weise mittels seiner anti-essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus erklären und rechtfertigen kann. Um zu demonstrieren, dass ein Vertreter eines (neo-)aristotelischen Perfektionistischer Liberalismus
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Naturalismus auch oder vielleicht sogar besser erklären und rechtfertigen kann, dass diese beiden Güter Teil eines guten menschlichen Lebens sind, möchte ich kurz noch einmal die diesbezügliche Argumentation Shers formalisieren 56: (1) Damit Menschen als Menschen gedeihen können, ist es erforderlich, dass sie die Fähigkeit ausbilden, jeweils diejenigen Handlungsoptionen zu wählen, die für sie am besten sind. (2) Es ist jeweils diejenige Handlungsoption die beste, für die die stärksten bzw. gewichtigsten Gründe sprechen. (3) Moralische und ästhetische Gründe sind bzw. können gewichtige Gründe sein. (4) Ohne die Ausbildung eines moralischen Charakters bzw. eines ästhetischen Trainings sind Menschen unempfänglich für moralische bzw. ästhetische Gründe. Aus (1) bis (4) folgt: (5) Menschen können als Menschen nicht gedeihen, wenn sie durch die Ausbildung eines moralischen Charakters bzw. ein ästhetisches Training nicht empfänglich werden für moralische und ästhetische Gründe, weil sie dann eventuell nicht alle starken bzw. gewichtigen Gründe berücksichtigen und dementsprechend nicht die Handlungsoption wählen, die für sie am besten ist. Da Sher die Prämissen (3) und (4) nicht weiter rechtfertigt, braucht sich ein (neo-)aristotelischer Naturalist die Sache auch nicht schwerer zu machen als nötig. Unter der Annahme, dass es wahr ist, dass ästhetische Gründe gewichtige Gründe sind oder zumindest sein können und wir diese nicht ohne ein ästhetisches Training erkennen können, ist die Wahrnehmung wahrer Schönheit konstitutiver Bestandteil eines guten menschlichen Lebens, weil Menschen sonst als rationale Tiere nicht gedeihen können. Menschen ohne jegliche ästhetische Sensibilität müssten als »natürlich defektiv« beurteilt werden, weil sie nicht in der Lage sind, ästhetische Gründe in ihrem praktischen Denken zu berücksichtigen und damit unfähig sind zu determinieren, was für sie das Beste zu tun ist. Ein Leben ohne Wahr-
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Vgl. Sher, Beyond Neutrality, 209–211.
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nehmung wahrer Schönheit wäre in diesem Sinne »schlecht«, weil es kein vollständig praktisch rationales Leben sein könnte. In einer analogen Weise kann gemäß einer essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus auch gerechtfertigt werden, dass »moralische Gutheit« bzw. die Ausbildung eines moralischen guten Charakters konstitutiver Bestandteil eines in einem objektiven Sinne guten menschlichen Lebens ist. Unter der Annahme der Wahrheit von (3) und (4) sind Menschen mit einem moralisch schlechten Charakter gemäß dem Muster natürlicher Normativität als »natürlich defektiv« zu beurteilen, weil sie unempfänglich für eine bestimmte Art von gewichtigen Gründen sind und damit unfähig sind, sich zu vollständig praktisch rationalen Tieren zu entwickeln. 6.3.1.2 Kultur des Anstands und guten Geschmacks Sher warb für die Übernahme des Erklärungsschemas seiner anti-essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus damit, dass dieses auch dazu verwendet werden kann, den Objektivitätsanspruch vieler weiterer perfektionistischer Werturteile zu rechtfertigen, und damit letztlich den objektiven Wert einer Kultur des Anstands und guten Geschmacks erklären und begründen kann. Kann eine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus dies auch leisten? Bei den folgenden Ausführungen geht es mir nicht so sehr darum, neue oder ganz andere Argumente als Sher vorzubringen, sondern darum zu demonstrieren, dass diese Argumente auch und vielleicht sogar noch besser funktionieren, wenn man Shers Idee von empirisch ermittelbaren grundlegenden menschlichen Fähigkeiten durch die Vorstellung von speziesspezifischen Eigenschaften ersetzt, deren Besitz und Entfaltung für das Gedeihen von Exemplaren dieser Spezies eine Rolle spielt. Shers einheitsgebendes Erklärungsschema wird also durch das Muster natürlicher Normativität ersetzt. Wie lässt sich also aus der Sicht eines (neo-)aristotelischen Naturalismus Shers Argumentation für den objektiven Wert einer Kultur des Anstands und des guten Geschmacks reformulieren? Meiner Ansicht nach präsentiert Sher zwei Argumente, die an seine Verteidigung der These anknüpfen, dass »enge soziale Beziehungen«, »rationale Aktivität« und »Wissen« konstitutive Elemente eines guten menschlichen Lebens sind. Das erste Argument lässt sich wie folgt rekonstruieren 57: 57
Vgl. ibid., 214.
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(1) Ein vulgärer bzw. verarmter kultureller Lebensraum, lässt Menschen auf Dauer abstumpfen und macht sie unfähig, komplexe und differenzierte Sachverhalte zu erfassen und nachzuvollziehen. Ein solcher Lebensraum schädigt die Entwicklung der menschlichen Vorstellungskraft und des menschlichen Einfühlungsvermögens. Daraus folgt: (2) Aufgrund dieser Abstumpfung bzw. Desensibilisierung und der damit verbundenen Schädigung der menschlichen Vorstellungskraft und des menschlichen Einfühlungsvermögens sind Menschen nicht mehr in ausreichendem Maße in der Lage, sich in die Perspektive und Vorstellungswelt anderer Menschen hineinzuversetzen und hineinzufühlen. Daraus folgt: (3) Ohne die Fähigkeit eines solchen Perspektivwechsels und einem entsprechenden Einfühlungsvermögen sind Menschen nicht in der Lage, sich ein Wissen um die Intentionen anderer Menschen anzueignen, welches es braucht, um ihr Verhalten adäquat interpretieren und verstehen zu können. (4) Aus einem solchen Wissen und Verstehen anderer Menschen leiten sich Gründe ab, die in individuellen Deliberationen darüber relevant sind, was das Beste ist, was man tun kann, und die aufgrund ihrer Berücksichtigung der Perspektive anderer Menschen »moralischer« Natur sind. Aus (1) bis (4) folgt: (5) Es ist gut für Menschen, in einer Kultur des Anstands und des guten Geschmacks zu leben, weil sie sonst unempfänglich für gewichtige moralische Erwägungen und Gründe werden und sich damit in Deliberationen nicht für die Handlungsoptionen entscheiden können, für die die gewichtigsten Gründe sprechen. Wenn wir diese Argumentation in die Begrifflichkeit eines (neo-)aristotelischen Naturalismus übersetzen, dann bedeutet dies schlicht, dass sich der Mensch als rationales Tier in einer vulgären und oberflächlichen Kultur nicht ungehindert entwickeln kann, weil sie ihn auf Dauer für Überlegungen und Gründe unempfänglich macht, die eine ge344
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wichtige Rolle in seinen praktischen Abwägungsprozessen spielen sollten. Positiv formuliert: Der Mensch ist für seine Entwicklung als rationales Tier auf einen kulturellen Lebensraum angewiesen, der ihm hilft, seine Fähigkeiten der Vorstellungskraft und des Einfühlungsvermögens zu kultivieren, weil der Mensch nur mittels dieser Fähigkeiten lernen kann, andere Perspektiven und sich daraus ergebende (moralische) Gründe mit zu berücksichtigen, wenn er sich fragt, was für ihn das Beste ist, was er tun kann. Shers Argumentation funktioniert also auch mit der Übernahme des Musters natürlicher Normativität. Strittig dürfte natürlich die Wahrheit der empirischen Prämisse (1) in dieser Argumentation sein. Dies ist jedoch für meinen Gedankengang unerheblich, da es mir nur darauf ankam zu zeigen, dass eine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus – unter der Annahme derselben Prämissen – in einer ganz ähnlichen Weise wie Sher den Wert einer Kultur des Anstands und guten Geschmacks rechtfertigen kann. Die Struktur des Arguments bleibt erhalten, es wird lediglich Shers Idee von empirisch ermittelbaren grundlegenden Fähigkeiten durch eine essentialistische Konzeption der menschlichen Natur und sich daraus ableitenden speziesspezifischen Eigenschaften ersetzt. Ich werde nun zeigen, dass sich ein Essentialismus auf dieselbe Weise auch des zweiten von Sher vorgebrachten Arguments bedienen kann, um den objektiven Wert einer Kultur des Anstands und des guten Geschmacks zu rechtfertigen. Wichtig im Blick zu behalten ist hierbei, dass es Sher – anders als im vorigen Argument – nun weniger auf die Bewertung der Qualität von kulturellen Inhalten (z. B. Filmen, Büchern, Fernsehprogrammen etc.) ankommt, sondern auf die Beurteilung einzelner Handlungen. Sher interessiert sich dafür, wie die objektive Geltung von Werturteilen über anständiges Verhalten (z. B. »Es ist nicht gut für Menschen, öffentlich Sex zu haben oder öffentlich ihre Bedürfnisverrichtung vorzunehmen«) gerechtfertigt werden kann. Das von Sher vorgetragene Argument lässt sich wie folgt rekonstruieren 58: (1) Notwendige Bedingung für die Etablierung und Aufrechterhaltung von engen sozialen Beziehungen ist ein gewisses Maß an Exklusivität und Intimität, d. h. ein Mitteilen und Teilen von Informationen über sich selbst, die man nicht mit jedermann teilt. 58
Vgl. ibid., 215–216.
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(2) Unanständige oder unschickliche Handlungen (z. B. öffentlicher Sex oder eine öffentliche Bedürfnisverrichtung) stellen Handlungen dar, in denen Menschen in arbiträrer Weise Informationen über sich preisgeben (z. B. ihre nackte körperliche Gestalt oder ihre sexuellen Präferenzen). (3) Menschen verfügen nur über eine begrenzte Menge an intimen Informationen über sich selbst. Aus (1) bis (3) folgt: (4) Es ist schlecht für Menschen, sich in der Öffentlichkeit in einer unanständigen und unschicklichen Weise zu verhalten, weil dies Akte der »Verschwendung« von informativen Ressourcen über sich selbst darstellen, die entweder schon bestehende enge soziale Beziehungen schädigen – durch den Verlust der Exklusivität des Wissens um diese Informationen – oder aber die Etablierung von zukünftigen engen sozialen Beziehungen behindern oder sogar verunmöglichen. Auch wenn diese Argumentation etwas abstrakt klingt, so dürfte sie doch unseren alltäglichen Intuitionen und Erfahrungen gerecht werden. Vertrautheit und Intimität in sozialen Beziehungen der Freundschaft oder Partnerschaft kann nur dadurch hergestellt werden, dass sich Freunde oder Partner in einer privilegierten Weise behandeln und in einer privilegierten Weise miteinander kommunizieren. Bestimmte Sorgen, Nöte und wichtige biographische Erlebnisse teilt man eben nicht mit den Arbeitskollegen oder zufälligen Bekanntschaften in der Kneipe, ebenso wie der sexuelle Ausdruck körperlicher Zuneigung an Bedeutung und Wert verliert, wenn er an Exklusivität verliert und sich ebenso an eine Vielzahl unbekannter Adressaten richtet. Die Gültigkeit von (4) hängt natürlich an der strittigen – empirisch zu verifizierenden – Wahrheit von Prämisse (1). Doch ist dies wiederum nicht entscheidend für das, was ich hier belegen will. Worauf es mir ankommt, ist zu demonstrieren, dass ein (neo-)aristotelischer Naturalist die Struktur dieser Argumentation übernehmen kann, ohne damit auch Shers Erklärungsschema übernehmen zu müssen, also seinen Versuch, die Schlechtheit derartiger Handlungen an die Verfehlung eines Ziels einer – empirisch ermittelbaren – grundlegenden menschlichen Fähigkeit rückzubinden. 346
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Greift man auf eine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus und das Muster natürlicher Normativität zurück, dann kann man vielmehr argumentieren, dass unanständige bzw. unschickliche öffentliche Handlungen schlecht für die Menschen sind, die sie ausführen, weil sie damit die Aufrechterhaltung und Etablierung enger sozialer Beziehungen behindern oder vielleicht sogar verunmöglichen und damit ihr Gedeihen als soziale Tiere verunmöglichen. Mit anderen Worten: Menschen, die derartige Handlungen wiederholt ausüben, sind als »natürlich defektiv« zu beurteilen, weil derartige Handlungen geeignet sind, ihr Gedeihen als soziale Tiere zu verunmöglichen. Neben der natürlichen Schlechtigkeit derartiger Handlungen bzw. Charaktereigenschaften im biologischen Sinne könnte man darüber hinaus auch argumentieren, dass eine derartige Beschaffenheit von Individuen auch einen natürlichen Defekt hinsichtlich ihrer rationalen Natur anzeigt, weil so Handelnde in einer unklugen und praktisch irrationalen Weise ihre Menge an begrenzten intimen Informationen über sich selbst einsetzen und »verschwenden«. Unanständige und unschickliche Handlungen wären demnach in einem rationalen Sinne natürlich schlecht bzw. defektiv, weil sie Ausdruck des charakterlichen Lasters der »Verschwendung« oder »Unklugheit« sind.
6.3.2 Lösung der Probleme eines Anti-Essentialismus In den vorausgehenden Unterabschnitten habe ich demonstriert, dass eine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus in der Lage ist, in einer einheitsgebenden Weise die objektive Wert- bzw. Guthaftigkeit der Einträge auf Shers Liste und einer Kultur des Anstands und guten Geschmacks zu erklären und zu rechtfertigen. Da ich zudem aufgezeigt habe, dass Sher dieses Unterfangen nicht gelingt (siehe 5.2.1), ist damit ein erstes Argument genannt, welches für die Überlegenheit und die Übernahme eines Essentialismus spricht. Im Folgenden möchte ich nun ein zweites Argument entwickeln, welches besagt, dass für eine essentialistische Konzeption spricht, dass sie die Probleme einer anti-essentialistischen Konzeption entweder gänzlich vermeiden oder zumindest plausible Ansätze zu ihrer Lösung präsentieren kann.
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6.3.2.1 Lösung des Konstitutionsproblems Wie wir sahen (siehe 5.2.1.1), wird das Konstitutionsproblem von Shers Ansatz direkt durch dessen Anti-Essentialismus hervorgerufen. Werturteile der Form »Es ist gut für Menschen, dass P« können gemäß Shers anti-essentialistischer Konzeption eines naturalistischen Realismus nur dann objektive Wahrheit bzw. Geltung beanspruchen, wenn gilt »Menschen streben nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach, P zu realisieren«. Verallgemeinert formuliert muss Sher also die These vertreten, dass allein empirische Fakten – nämlich darüber, wonach Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich streben – konstitutiv für die die objektive Geltung bzw. Wahrheit von Werturteilen sind. Anhand von Beispielen führte ich aus, dass diese These aber zwei äußerst kontraintuitive Implikationen hat und letztlich mit einem realistischen Objektivitätsbegriff nicht zu vereinbaren ist: Zum einen kann das Urteil »Es ist gut für Menschen, dass P« nicht objektiv gültig bzw. wahr sein, wenn kein Mensch de facto danach strebt, P zu realisieren, zum anderen kann das Urteil »Es ist schlecht für Menschen, dass P« nicht objektiv falsch sein, wenn Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich danach streben, P zu realisieren. Essentialisten haben diese Probleme nicht, weil sie nicht die These vertreten, dass allein empirische Fakten für die objektive Geltung bzw. Wahrheit von Werturteilen konstitutiv sind. Relevant sind vielmehr auch »metaphysische« Fakten darüber, was der Mensch für ein Lebewesen ist. Was der Mensch ist, welche Eigenschaften ihm wesentlich zukommen und welche er entwickeln muss, damit er als Mensch gedeiht, kann deshalb nicht allein empirisch bestimmt werden, sondern es braucht eine Erörterung über die menschliche Lebensform, die menschliche Natur. Die wichtige Grundthese (neo-) aristotelischer Naturalisten ist deshalb, dass es sich auch bei dem Begriff »Mensch« um einen funktionalen Prädikator handelt, der bestimmt, welche deskriptiven Eigenschaften einem Lebewesen zukommen müssen, das unter diesen Begriff subsumiert wird, damit es ein »gutes« Exemplar seiner Art darstellt. Bei der Attribution derartiger deskriptiver Eigenschaften durch »aristotelische kategorische Aussagen« in Urteilen der Form »S’s sind E« oder »S’s tun ϕ« handelt es sich um generische Aussagen, die Spezies bestimmte Eigenschaften zuschreiben und nicht um all- bzw.
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existenzquantifizierende Prädikationen. 59 Um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Urteile der Form »S’s sind E« oder »S’s tun ϕ« sind keine statistischen Propositionen, sondern Aussagen über Eigenschaften, die einer Spezies oder Lebensform als Spezies oder Lebensform zukommen. Konstitutiv für die objektive Geltung bzw. Wahrheit von Werturteilen der Form »Es ist gut für Menschen, dass P« ist demnach nicht das empirische Faktum, ob Menschen in einer nahezu universalen und nahezu unvermeidlichen Weise danach streben, P zu realisieren, sondern das Faktum, dass P ein Sachverhalt ist, der Lebewesen der Gattung Mensch eine wesentliche Eigenschaft ihrer Natur entfalten lässt, also zum Gedeihen von Menschen als Menschen beiträgt oder Ausdruck dieses Gedeihens selbst ist. Um bestimmen zu können, ob P wahr bzw. objektiv gültig ist, braucht es deshalb eine metaphysische bzw. ontologische Erörterung darüber, was der Mensch für ein Lebewesen ist, was seine »Natur« ist. In diesem Sinne kann man sagen, dass Urteile über die »natürliche Gutheit« von individuellen Menschen nur möglich sind, wenn man sowohl über eine Beschreibung der potentiellen »Speziesnatur« des Menschen verfügt – also eine generische Aussage über Lebewesen der Gattung Mensch treffen kann – als auch über eine Beschreibung der aktuellen »empirischen« Natur eines oder einer Menge von individuellen Exemplaren der Gattung »Mensch«, also eine all- oder existenzquantifizierende Aussage macht. Die aktuale Verfasstheit der empirischen Natur eines Individuums – oder einer Menge von Individuen – wird von den Eigenschaften her beurteilt, die ihm aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer natürlichen Spezies – in diesem Fall dem funktionalen Prädikator »Mensch« – potentiell zukommen. Von diesem Zusammenspiel zwischen logisch nicht-quantifizierbaren generischen Aussagen metaphysischen Typs über Spezies und logisch quantifizierbaren Aussagen empirischen Typs über einzelne Individuen der entsprechenden Spezies her wird nun auch deutlich, warum die Wahrheit oder Falschheit kontrafaktischer Werturteile für Vertreter einer essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus kein Problem darstellt. Um dies zu demonstrieren, möchte ich kurz auf die zwei Probleme eingehen, auf die ich im Zusammenhang mit dem Konstitutionsproblem von Shers anti-essentialistischer Konzeption hingewiesen hatte (siehe 5.2.1.1). Das erste Problem für Sher besteht darin, dass 59
Vgl. Hoffmann und Reuter, »Einführung«, 15.
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er keine Möglichkeit hat, an der Wahrheit von kontrafaktischen Urteilen der Form »Es ist gut für Menschen, dass P« festzuhalten, wenn kein Mensch de facto – also empirisch beobachtbar – danach strebt, P zu realisieren. Wenn empirisch verifizierbar niemand danach strebt, P zu realisieren, dann ist es nicht gut für Menschen, dass P. Diese Implikation von Shers anti-essentialistischer Konzeption eines naturalistischen Realismus ist aber äußerst kontraintuitiv. Es gibt viele Sachverhalte oder Dinge, die wir für erstrebenswert – also gut oder wertvoll – halten, selbst wenn es kaum oder fast niemand gibt, der tatsächlich danach strebt. Nehmen wir z. B. das von Sher erwähnte Gut »Wissen«. Laut Sher ist es Teil bzw. Ausdruck eines guten menschlichen Lebens danach zu streben, Zusammenhänge zu verstehen oder sich die Welt und das Verhalten von Menschen zu erklären. Es mag viele Menschen geben, die nach dem Erwerb eines solchen Wissens streben. Ist dieses Streben aber nahezu universal und nahezu unvermeidlich? Gibt es nicht viele Menschen, in deren Leben – gewollt oder ungewollt – ein solches Streben keine Rolle spielt? Damit Sher bzw. ein anti-essentialistischer Naturalist an der objektiven Wert- bzw. Guthaftigkeit von »Wissen« oder anderen Einträgen auf einer Güterliste festhalten kann, muss er also jeweils plausibel machen, dass sich empirisch ein nahezu universales und nahezu unvermeidliches Streben nach diesen Dingen nachweisen lässt. Ein (neo-)aristotelischer Naturalist braucht diese enorme empirische Beweislast nicht zu schultern. Selbst wenn gar kein aktuell lebender Mensch danach streben würde zu verstehen »was die Welt im Innersten zusammenhält«, bräuchte er die objektive Wahrheit bzw. Geltung des Urteils, dass ein solcher Erwerb von Wissen in einem objektiven Sinne gut bzw. wertvoll für Menschen ist, nicht zwangsläufig aufzugeben. Vielmehr könnte er dann argumentieren, dass – weil Menschen rationale Tiere sind und ein solcher Wissenserwerb notwendig ist für die Entwicklung und Ausübung der Eigenschaft »Rationalität« – eben alle aktual lebenden Menschen einen natürlichen Defekt aufweisen. Wie an diesem extremen Urteil deutlich wird, sind logisch nichtquantifizierbare generische Aussagen über die jeweilige Spezies logisch zu unterscheiden von quantifizierbaren empirischen Aussagen über die aktuale Menge der Mitglieder dieser Spezies. Es ist diese Unterscheidung, die es ermöglicht, an der objektiven Wahrheit kontrafaktischer Werturteile festzuhalten. Jedoch sind generische Aussagen über die Natur einer Spezies bzw. deren wesentliche Eigenschaften 350
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auch nicht völlig trennbar von dem empirisch erfassbaren Leben und Verhalten der Speziesmitglieder. Sollte z. B. jemand behaupten, dass Menschen zu einer Spezies gehören, die von Natur aus fliegen kann, und auf die fehlende empirische Evidenz antwortet, dass eben alle existierenden Menschen als natürlich defektiv zu beurteilen sind, weil sie die entsprechenden Flügel nicht ausgebildet haben, so ist es in diesem Fall plausibel, diese Person zu einer Korrektur seiner metaphysischen Konzeption der menschlichen Natur aufzufordern. Die Wahrheit kontrafaktischer Werturteile kann also am besten verteidigt werden, wenn es empirisch beobachtbar auch wenigstens eine Menge von Menschen gibt, die nach der Realisierung des als wertvoll beurteilten Sachverhalts streben. Durch die Einführung logisch nicht-quantifizierbarer generischer Aussagen über Spezies – also die Einführung eines metaphysischen Naturbegriffs – wird es für Vertreter eines Essentialismus aber nicht nur möglich zu begründen, warum sie an der objektiven Wahrheit von Urteilen der Form »Es ist gut für Menschen, dass P« festhalten können, wenn de facto kein Mensch danach strebt, P zu realisieren, sondern sie sind auch in der Lage zu erklären, warum ein solches Werturteil über P auch falsch sein kann, trotz eines empirisch erhebbaren nahezu unvermeidlichen und nahezu universalen Streben danach, P zu realisieren. Um dies zu demonstrieren, greife ich auf die für Sher problematischen und oben schon erwähnten Beispiele eines nahezu universalen und unvermeidlichen menschlichen Aggressionstriebs und einer mittlerweile scheinbar nahezu universalen und nahezu unvermeidlichen öffentlichen Preisgabe intimer persönlicher Informationen in sozialen Netzwerken zurück (siehe 5.2.1.1). Bezüglich des empirischen Faktums, dass Menschen nahezu universal und nahezu unvermeidlich Aggressionen in einer gewalttätigen und zerstörerischen Weise ausleben, kann ein Vertreter eines (neo-)aristotelischen Naturalismus aufgrund seiner Unterscheidung zwischen logisch nicht-quantifizierbaren generischen Aussagen über die menschliche Spezies und logisch quantifizierbaren empirischen Aussagen über Mitglieder dieser Spezies dafür argumentieren, dass ein solches Streben keine Eigenschaft ist, die dem Menschen als Menschen zukommt. Wenn man eine Naturgeschichte des Menschen erzählt, dann dürfte schnell deutlich werden, dass aggressives, gewalttätiges und zerstörerisches Verhalten das Gedeihen des Menschen als sozialem und rationalem Tier behindert, wenn nicht sogar verunmöglicht. Es ist und bleibt somit schlecht für Menschen, sich derPerfektionistischer Liberalismus
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artig zu verhalten, auch wenn empirisch gesehen alle Mitglieder der Spezies »Mensch« sich gewalttätig und höchst aggressiv verhalten. Warum wir Menschen scheinbar so unausrottbar danach streben, uns gegenseitig Schmerz und Leid zuzufügen, und damit Dinge tun, die uns darin hindern, ein gutes menschliches Leben zu führen, ist eine andere Frage. Mir geht es an dieser Stelle lediglich darum zu zeigen, dass ein Vertreter einer essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus – anders als Sher – an dem Urteil festhalten kann, dass es für Menschen schlecht ist, sich aggressiv oder gewalttätig zu verhalten, auch wenn empirisch gesehen nahezu alle Menschen nahezu unvermeidlich danach streben, Gewalt auszuüben. In einer ähnlichen Weise kann ein Essentialist dafür argumentieren, dass er an der objektiven Wahrheit und Geltung des Urteils »Es ist schlecht für Menschen, dass sie intime bzw. sehr persönliche Informationen über sich in der Öffentlichkeit (z. B. sozialen Netzwerken) preisgeben« festhalten kann, auch wenn empirisch gesehen Menschen mittlerweile nahezu unvermeidlich und nahezu universal danach streben, dies zu tun. Die Wahrheit eines solchen kontrafaktischen Werturteils zu verteidigen ist wiederum möglich, weil empirische Fakten nicht allein konstitutiv für die Wahrheit und Geltung von Werturteilen sind, sondern vielmehr metaphysische Fakten über die Spezies »Mensch« für das ausschlaggebend sind, was für Lebewesen der Gattung »Mensch« gut oder schlecht ist. Für einen (neo-)aristotelischen Naturalisten ist es möglich, zwei Beschreibungsebenen zu unterscheiden: Mittels logisch nicht-quantifizierbarer generischer Aussagen wird das Leben und Verhalten von Lebewesen einer Spezies beschrieben, und mittels logisch quantifizierbaren Sätze wird etwas über das Leben und Verhalten einzelner oder einer Menge von Lebewesen dieser Spezies ausgesagt. Da es sich bei dem Urteil »Es ist schlecht für Menschen, dass sie intime bzw. sehr persönliche Informationen über sich in der Öffentlichkeit (z. B. sozialen Netzwerken) preisgeben« um eine generische Aussage und nicht um eine empirische Allaussage handelt, ändert sich der Wahrheitswert dieser Aussage über die menschliche Spezies nicht zwangsläufig durch die empirische Allaussage »Empirisch gesehen streben nahezu universal und nahezu unvermeidlich alle Menschen danach, intime bzw. sehr persönliche Informationen über sich in der Öffentlichkeit preiszugeben«. Auch hier ist natürlich wiederum zu betonen, dass zwischen diesen beiden Beschreibungsebenen unterschieden werden kann, sie aber auch nicht völlig zu trennen sind. Ohne eine 352
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empirische Beobachtung von Lebewesen lässt sich zum einen nicht erkennen, was diese ihrer Natur nach sind und welche Eigenschaften sie entwickeln müssen, damit sie als Lebewesen ihrer Art gedeihen können, und zum anderen wird eine metaphysische Beschreibung der menschlichen Natur, die sich gänzlich gegen empirische Erkenntnisse immunisiert und keinerlei Verankerung im tatsächlichen Leben und Verhalten von konkreten Individuen hat, auf Dauer nicht zu überzeugen wissen. Wie anhand der oben dargestellten Beispiele demonstriert werden konnte, kann ein Essentialist durch den Rekurs auf eine metaphysische Konzeption der menschlichen Natur und die Ablehnung der damit verbundenen anti-essentialistischen These, dass allein empirische Fakten konstitutiv für die Wahrheit und Geltung von Werturteilen sind, die kontraintuitiven Implikationen von Shers anti-essentialistischer Konzeption eines naturalistischen Realismus vermeiden. Mittels der Unterscheidung von logisch nicht-quantifizierbaren generischen Aussagen über die menschliche Spezies und logisch quantifizierbaren empirischen Aussagen über einzelne Mitglieder dieser Spezies kann er die objektive Wahrheit und Geltung von kontrafaktischen Werturteilen erklären und rechtfertigen. Das Urteil »Es ist gut für Menschen, dass P« kann wahr sein, auch wenn kein Mensch danach strebt, P zu realisieren, ebenso wie das Urteil »Es ist schlecht für Menschen, dass P« wahr sein kann, trotz der Tatsache, dass alle Menschen nach einer Realisierung von P streben. 6.3.2.2 Lösung des Trivialitätsproblems Neben den kontraintuitiven Implikationen, die sich aus der anti-essentialistischen These von Sher ergeben, dass allein empirische Fakten konstitutiv für die objektive Wahrheit bzw. Geltung von Werturteilen sind, wies ich darauf hin, dass Shers Ansatz ein Trivialitätsproblem hat (siehe 5.2.1.2). Sein Argumentationsschema – mit dem er in einer einheitsgebenden Weise identifizieren und erklären möchte, was den Dingen gemeinsam ist, die wir auf Listen objektiver Güter bzw. Werte vorfinden – führt zu einer Inflation von Gütern und Werten und mündet letztlich in einer absurden Trivialität, die sogar alle Aktivitäten, Charakterideale oder Beziehungsarten für wertvoll erklärt, die in irgendeiner Weise zur erfolgreichen Ausübung von Betätigungen wie »Atmen« oder »Trinken« beitragen. Übernimmt man einen Essentialismus, so ergibt sich dieses Problem nicht, weil zwischen »grundlegenden« und »essentiellen« EigenPerfektionistischer Liberalismus
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schaften mittels eines nicht ausschließlich empirisch ermittelbaren Naturbegriffs unterschieden wird. Anders formuliert: Auf die Frage, welche Fähigkeiten Menschen nahezu unvermeidlich und nahezu universal ausüben, bekommt man eine andere Antwort als auf die Frage, die Ausübung welcher Fähigkeiten für Menschen als Menschen wesentlich oder essentiell ist. Wie ich oben ausgeführt habe, kann die Frage, was in einem objektiven Sinne gut bzw. wertvoll für Menschen ist, nicht geklärt werden, wenn vorgängig nicht die Frage beantwortet ist, was für ein Lebewesen der Mensch ist. Wenn der Mensch nun ein soziales Tier ist, dass sich von anderen sozialen Tieren durch eine besondere Form von Rationalität auszeichnet, dann ist das für Menschen objektiv gut bzw. wertvoll, was die Entwicklung des Menschen als sozialem und rationalem Tier fördert, und dasjenige objektiv schlecht, was diese Entwicklung behindert. Mit anderen Worten: Ohne den Bezug auf die menschliche Natur bzw. menschliche Lebensform kann nicht bestimmt werden, was gut bzw. schlecht für Menschen ist. Die Suche nach »aristotelischen kategorischen Aussagen« ist ja gerade die Suche nach menschlichen Eigenschaften, deren Besitz eine kausale wie explanatorische Rolle in der Entwicklung des Menschen zu einem rationalen Sozialtier spielt. Nehmen wir das von Foot gebrauchte und auf Michael Thompson zurückgehende Beispiel der Zellteilung 60: Mitose ereignet sich sowohl in Amöben als auch in Menschen. Offensichtlich spielt sie aber im Leben von Amöben und Menschen eine gänzlich andere Rolle. Das Leben von Amöben – insbesondere die Art und Weise ihrer Reproduktion – kann ohne einen Bezug auf ihre Fähigkeit zur Mitose nicht sinnvoll beschrieben werden. Wenn man hingegen danach fragt, welcher Fähigkeiten es bedarf, damit Menschen sich zu sozialen und rationalen Tieren entwickeln, dann erscheint es ziemlich unplausibel, dass hier jemand »Zellteilung« zur Antwort gibt. Die Fähigkeit zur Zellteilung spielt weder explanatorisch noch kausal eine Rolle in der Entwicklung des Menschen als Menschen, d. h. als sozialem und rationalem Tier. Dass Menschen als biologische Wesen nahezu universal und nahezu unvermeidlich darauf angewiesen sind, dass sich ihre Zellen teilen und reproduzieren stimmt natürlich, aber es ist trivial. Es erklärt nichts. Sher handelt sich mit seiner anti-essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus ein Trivialitätsproblem ein, gerade 60
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Vgl. Foot, Natural Goodness, 28–29; Thompson, Life and Action, 55.
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weil er damit auf eine essentialistische Erörterung darüber verzichtet, was der Mensch als Mensch ist, was seine »Natur« ist, der Besitz und die Entfaltung welcher Eigenschaften oder Fähigkeiten also für ihn wesentlich sind. Mittels einer Vorstellung darüber, was der Mensch für ein Lebewesen ist, sowie einer Vorstellung darüber, was seine Lebensform auszeichnet, kann zwischen trivialen »grundlegenden« – in Shers Sinne – menschlichen Fähigkeiten und wesentlichen oder essentiellen menschlichen Fähigkeiten unterschieden werden. Essentielle menschliche Fähigkeiten sind eben jene Fähigkeiten, ohne deren Entfaltung und Ausübung der Mensch als Mensch nicht gedeihen kann, während grundlegende Fähigkeiten zwar Fähigkeiten sein mögen, deren Ausübung von Menschen als biologischen Lebewesen nahezu unvermeidlich und nahezu universal angestrebt wird, die aber keine besondere kausale und explanatorische Rolle in der Naturgeschichte der Spezies »Mensch« spielen. Anders als Sher kann ein (neo-)aristotelischer Naturalist also erklären und begründen, warum gewöhnlich auf Listen objektiver Güter bzw. Werte Einträge wie »Luft«, »Schlaf« oder »Wasser« nicht Einträge wie »rationale Aktivität«, »enge soziale Beziehungen« oder »Wissen« beigesellt werden. Letztgenannte Einträge sind Güter bzw. Werte, weil sie eine kausale und explanatorische Rolle im Leben von Lebewesen der Gattung Mensch spielen. Ohne sie können Menschen ihre soziale und rationale Natur nicht entfalten, weshalb sie Ausdruck und Teil eines guten menschlichen Lebens sind, während es trivial ist, dass Menschen »Wasser«, »Luft« oder »Schlaf« für ihre Existenz brauchen. 6.3.2.3 Lösung des Spezifikationsproblems Wie wir oben sahen (siehe 5.2.1.3), bleibt das Trivialitätsproblem für Shers anti-essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus aber selbst dann bestehen, wenn es Sher gelänge, mittels seines Argumentationsschemas ausschließlich Fähigkeiten zu identifizieren, deren Ausübung plausiblerweise eine kausale wie explanatorische Rolle in einem florierenden bzw. gelingendem menschlichen Leben spielt. Der Trivialitätsvorwurf lautet dann, dass seine Definition grundlegender menschlicher Fähigkeiten die absurde Konsequenz hat, dass nahezu jeder Mensch ein gutes menschliches Leben führt, weil nahezu jeder Mensch – so die Definition »grundlegender« menschlicher Fähigkeiten – nahezu unvermeidlich danach strebt, seine grundlegenden menschlichen Fähigkeiten auszuüben. Ich argumentierte dafür, dass Sher – um diese absurde Implikation zu vermeiPerfektionistischer Liberalismus
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(Neo-)aristotelischer Naturalismus
den – gezwungen ist, zwischen der Ausübung grundlegender Fähigkeiten und ihrer erfolgreichen Ausübung zu unterscheiden, also Ziele grundlegender Fähigkeiten spezifizieren muss, die nicht schon automatisch damit erreicht werden, dass man die entsprechenden Fähigkeiten realisiert. Damit ergibt sich für ihn aber ein Spezifikationsproblem, weil sich die von ihm vorgeschlagenen Spezifikationen der Ziele grundlegender menschlicher Fähigkeiten und die Kriterien dafür, was eine erfolgreiche Ausübung einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit kennzeichnet, nicht allein aus seinem anti-essentialistischen Erklärungsmodell ableiten lassen. Es scheint ein Bezug auf eine zusätzliche »Quelle« von Normativität notwendig, um in einer einheitsgebenden Weise erklären zu können, was den Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen gemeinsam ist, die wir auf intuitiv plausiblen Listen menschlicher Güter bzw. Werte vorfinden. Um darzulegen, warum ein essentialistischer Ansatz im Gegensatz zu einer anti-essentialistischen Konzeption über die Ressourcen verfügt, um dieses Spezifikationsproblem zu lösen, ist es hilfreich, zwischen einer »inklinatorischen« und einer »derivatorischen« Methode zur Bestimmung des menschlichen Guts zu unterscheiden. Diese Begriffe haben sich etabliert, um zwischen verschiedenen Methoden und »Schulen« in der Naturrechtstheorie zu unterscheiden. 61 Da sich, wie Anthony Lisska in einer beeindruckenden Weise aufgezeigt hat, z. B. eine klassisch-thomistische Naturrechtslehre so rekonstruieren lässt, dass sie metaethisch gesehen nahezu identisch ist mit der Position, die ich als essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus bzw. als (neo-)aristotelischen Naturalismus bezeichnet habe, kann ich diese Bezeichnungen auch für meine Zwecke verwenden, ohne größere und entscheidende Bedeutungsveränderungen befürchten zu müssen. 62 Grundlegend für die Unterscheidung beider Methoden ist folgende Frage: Wird ein Wissen um das menschliche Gut, also darum, was ein gutes menschliches Leben ist und ausmacht, aus einer theoretischen bzw. metaphysischen Erörterung darüber abgeleitet, was der Mensch seiner Natur nach ist, oder ist ein solches Wissen dem Mehr zur Bestimmung dieser Methoden und ihren jeweiligen Stärken und Schwächen findet sich bei Mark C. Murphy, Natural Law and Practical Rationality (Cambridge: Cambridge University Press, 2001), 6–17. 62 Vgl. Lisska, Aquinas’s Theory of Natural Law. 61
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Menschen unmittelbar evident aufgrund seiner Inklinationen, seinem Streben nach dem, was für ihn gut ist? 63 Gemäß einer derivatorischen Methode kann nur ausgehend von einer Reflexion auf die menschliche Natur, einem Bezug auf Fakten über den Menschen als sozialem und rationalem Tier, bestimmt und gewusst werden, was ein gutes menschliches Leben ausmacht und was zu tun und unterlassen ist, um ein solches Leben zu realisieren. 64 Vertreter einer inklinatorischen Methode hingegen behaupten, dass ein Wissen darum, was ein gutes menschliches Leben ist und ausmacht, sich nicht aus einem theoretischen Wissen um die menschliche Natur oder bestimmter – theoretisch zu ermittelnder – Fakten über die menschlichen Lebensform ableitet, sondern ein solches Wissen unmittelbar selbstevident ist, und zwar aufgrund unserer Inklination zu den Dingen, die für uns gut sind. 65 Von der Beschreibung dieser unterschiedlichen Methoden her dürfte deutlich sein, dass Sher eindeutig ein Inklinationist ist, während (neo-)aristotelische Naturalisten einen Bezug auf die (metaphysische) Natur des Menschen für unerlässlich halten, um bestimmen zu können, was »gut« für Menschen ist, und deswegen Derivationisten sind. Für Derivationisten – wie Hursthouse und Foot – ist es möglich, zwischen einer aktualen und empirisch beschreibbaren menschlichen Natur mitsamt ihren Inklinationen, und einer potentiellen menschlichen Speziesnatur zu unterscheiden. Für normative Urteile ist laut Vertretern eines (neo-)aristotelischen Naturalismus ein Bezug auf diese potentielle menschliche Natur notwendig. Sie ist die »Quelle« von Normativität, nicht die aktuale und rein empirisch beschreibbare menschliche Natur. Damit kann nun auch das Spezifikationsproblem gelöst werden. »Grundlegend« sind für Menschen nicht die Fähigkeiten, deren Ausübung Menschen empirisch nahezu universal und nahezu unvermeidlich anstreben, sondern die Fähigkeiten, die sie ausüben und vervollkommnen müssen, um ihre potentielle Speziesnatur zu entfalten. Die Ziele grundlegender bzw. essentieller menschlicher Fähigkeiten werden insofern nicht von der aktualen menschlichen Natur her definiert, sondern von der potentiellen menschlichen Speziesnatur.
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Vgl. Murphy, Natural Law and Practical Rationality, 6. Vgl. ibid., 6–8. Vgl. ibid., 8–13.
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(Neo-)aristotelischer Naturalismus
Dadurch wird es auch möglich, zwischen einer simplen Ausübung essentieller bzw. grundlegender Fähigkeiten und ihrer erfolgreichen Ausübung zu unterscheiden: Kriterium dafür, ob eine essentielle menschliche Fähigkeit erfolgreich ausgeführt wird, ist, ob damit die aktuale menschliche Natur das realisiert, was sie ihrer potentiellen Natur nach ist. Nicht jede Ausübung einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit ist somit automatisch auch erfolgreich. Menschen können damit scheitern, ihre essentiellen naturalen Anlagen zu entwickeln bzw. zu vervollkommnen. 6.3.2.4 Vermeidung des Entsprechungsproblems Ein letztes Problem von Shers anti-essentialistischer Konzeption eines naturalistischen Realismus betraf die fehlende Entsprechung zwischen Werturteilen und Fakten (siehe 5.2.1.4). Es entspricht eben (leider) nicht den empirischen Fakten, dass Menschen in einer nahezu unvermeidlichen und nahezu universalen Weise danach streben, die von Sher spezifizierten Ziele grundlegender menschlicher Fähigkeiten zu realisieren. Aus der Perspektive eines Essentialismus wird dieses Problem dadurch vermieden, dass die anti-essentialistische These aufgegeben wird, dass allein empirische Fakten konstitutiv für die objektive Geltung von Werturteilen sind. Was heißt dies nun aber positiv formuliert? In Anknüpfung an den unmittelbar vorausgehenden Unterabschnitt kann ein (neo-)aristotelischer Naturalist argumentieren, dass Sher zwar grundsätzlich darin zuzustimmen ist, dass die Rechtfertigung objektiver Werturteile einen Bezug auf »Fakten« erforderlich macht, aber diese »Fakten« eben nicht allein mit einer inklinatorischen bzw. empirischen Methodik ermittelt und bestimmt werden können. Es ist richtig, dass für die objektive Geltung von Werturteilen ein Bezug auf eine Menge von sogenannten dispositionalen Fakten bzw. Eigenschaften konstitutiv ist, die die menschliche Natur definieren, und der Besitz und die Realisierung dieser Eigenschaften notwendig sein muss für die Entwicklung von Menschen als Menschen, wenn es sich um essentielle menschliche Eigenschaften handeln soll. Falsch hingegen ist die Annahme Shers, dass diese Notwendigkeit aposteriorischer Art ohne eine Ontologie natürlicher Arten auskommt, die nicht nur von klassischen Autoren wie Aristoteles, sondern in jüngerer Zeit auch von prominenten analytischen Denkern wie Hilary Putnam und insbesondere Saul Kripke verteidigt
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Attraktivität eines Essentialismus
worden ist. 66 Anders formuliert: Welche Eigenschaften einem Lebewesen notwendigerweise – also in einem essentiellen Sinne – zukommen, kann nicht ohne eine metaphysische Erörterung darüber auskommen, auf was sich der Begriff »Mensch« als »starrer Bezeichnungsausdruck« (rigid designator) in jeder möglichen Welt notwendigerweise bezieht. Konstitutiv für die Geltung von objektiven Werturteilen über Menschen sind demnach nicht allein notwendige dispositionale Fakten bzw. Eigenschaften, die empirisch ermittelt werden können, sondern vor allem dispositionale Fakten bzw. Eigenschaften, die Menschen als Menschen in einem metaphysisch notwendigen Sinne als Mitglieder ihrer natürlichen Art zukommen. 67 Die fehlende Entsprechung zwischen Werturteilen und Fakten über unsere aktuale – empirisch beschreibbare – menschliche Natur stellt demnach kein grundsätzliches Problem mehr dar. Die Entsprechung, auf die es ankommt, ist eine Entsprechung zwischen Werturteilen und Fakten über unsere potentielle bzw. metaphysische Natur.
Vgl. Saul A. Kripke, Naming and Necessity (Oxford: Blackwell, 1980). Auf einen solchen analytischen bzw. »modalen« Essentialismus greift auch Hurka zur Plausibilisierung des human nature perfectionism seiner Frühphase zurück, von dem er sich dann in einem späteren Buch aber wieder distanziert, vgl. Hurka, Perfectionism, 11–12; Virtue, Vice, and Value (Oxford: Oxford University Press, 2001). Gute Argumente dafür, dass ein solcher »modaler« Essentialismus unzureichend ist und stattdessen ein klassischer bzw. »realer« Essentialismus übernommen werden muss, um einen Essentialismus in der zeitgenössischen philosophischen Landschaft zu verteidigen, bietet Oderberg, Real Essentialism, 1–20. Sollte diese Analyse zutreffen, wäre ich bereit, auch einen solchen »realen« Essentialismus zu vertreten.
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7. Die Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung
Im vorausgehenden Kapitel habe ich demonstriert, dass mein Konvergenzmodell eines Perfektionistischen Liberalismus mittels eines Rückgriffs auf einen (neo-)aristotelischen Naturalismus das Objektivitätsproblem lösen und somit die konstruktive Schwäche von Shers quasi-naturrechtlichem Modell beseitigen kann. Da ich eingestanden habe, dass ein derartiger Lösungsvorschlag – aufgrund des Bezugs auf kontroverse essentialistische bzw. metaphysische Annahmen über die menschliche Natur – nicht zugleich auch das Problem der öffentlichen Rechtfertigung lösen kann, bedarf es nun des Nachweises, dass mein Modell auch die defensive Schwäche von Walls sektiererischem Modell zu sanieren vermag. Die Schwäche des defensiven Elements eines Perfektionistischen Liberalismus resultiert gemäß meiner Analyse aus dem durch Quong aufgeworfenen Problem der Entkräftung des Asymmetrievorwurfs (siehe 3.1). Quongs Argumentation ist für Vertreter eines Perfektionistischen Liberalismus fatal, weil sie darauf hinausläuft, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt, der mit Argumenten gerechtfertigt wird, die mit kontroversen Annahmen darüber operieren, was gerecht ist, legitim ist, während der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt, der mit Argumenten gerechtfertigt wird, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht, nicht legitim ist. Wie wir sahen, rechtfertigt Quong diese asymmetrische Behandlung damit, dass die Bürden der Urteilskraft im Falle von Gerechtigkeitskonflikten nicht zu einem Verlust eines gemeinsamen Rechtfertigungsrahmens bzw. gemeinsamer evaluativer Standards führt (von denen her bestimmt werden kann, von welchen Überlegungen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie von allen vernünftigen Personen als Argumente bzw. Gründe akzeptiert werden können), im Falle von Konflikten über Fragen des guten Lebens hingegen schon. Politische Maßnahmen, die mit Argumenten gerechtfertigt werden, die sich auf eine kontroverse Gerechtigkeits360
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Die Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung
konzeption beziehen, können demnach Legitimität beanspruchen, weil sie dem Kriterium öffentlicher Rechtfertigung genügen. Politische Maßnahmen hingegen, die mit Argumenten gerechtfertigt werden, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, können keine Legitimität beanspruchen, weil sie dem Kriterium öffentlicher Rechtfertigung nicht genügen. Legitim ist der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur dann, wenn er allen vernünftigen Personen gegenüber, die von diesem Gebrauch betroffen sind, mit Überlegungen gerechtfertigt werden kann, die diese als Gründe bzw. Argumente akzeptieren können. Aufgrund fehlender gemeinsamer evaluativer Standards in einer Gesellschaft, die durch einen vernünftigen Pluralismus gekennzeichnet ist, können Argumente, die mit kontroversen Prämissen darüber, was ein gutes Leben ist und ausmacht, deshalb den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nicht öffentlich rechtfertigen. Dies hatte ich als das »Problem der öffentlichen Rechtfertigung« für einen Perfektionistischen Liberalismus bezeichnet. Solange ein Perfektionistischer Liberalismus dieses Problem nicht lösen kann, weist sein defensives Element eine entscheidende Schwäche auf, weil er die Übernahme eines anti-perfektionistischen Neutralitätsprinzips nicht mehr mit dem Hinweis auf den Asymmetrievorwurf ablehnen kann. Anders formuliert: Mit Quongs Versuch zur Entkräftung des Asymmetrievorwurfs hat sich die Beweislast zu Ungunsten des Perfektionistischen Liberalen verschoben. Ein Perfektionistischer Liberalismus kann nur dann beanspruchen, eine attraktive Alternative zu einem Politischen Liberalismus zu sein, wenn er in der Lage ist, Quongs Entkräftungsversuch des Asymmetrievorwurfs zu widerlegen und zu demonstrieren, dass er das Problem der öffentlichen Rechtfertigung lösen kann. Die entscheidende These, die ich in diesem Kapitel zu begründen beabsichtige, lautet deshalb, dass sich die von Quong verteidigte asymmetrische Behandlung von Argumenten bzw. Gründen nur aufrecht erhalten lässt, wenn man dieser eine bestimmte Konzeption öffentlicher Rechtfertigung zu Grunde legt, nämlich eine sogenannte »Konsenskonzeption«. Die Übernahme einer solchen »Konsenskonzeption« ist aber nicht zwingend, wenn man eine liberale Politische Philosophie vertreten will, da sich aus den zentralen liberalen commitments, die Quong voraussetzt, also den Verpflichtungen, Bürger als freie und gleiche Personen zu behandeln und nach einem Gesellschaftsideal als fairem System sozialer Kooperation zu streben, auch eine attraktive alternative Konzeption öffentlicher Rechtfertigung Perfektionistischer Liberalismus
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Die Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung
ableiten lässt. Der Vorteil dieser »Konvergenzkonzeption« öffentlicher Rechtfertigung besteht aber darin, dass es gemäß ihr auch legitim sein kann, den Gebrauch staatlicher Gewalt mit Argumenten zu rechtfertigen, die von kontroversen Annahmen darüber abhängig sind, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Mit anderen Worten: Das commitment zum Ideal der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt impliziert kein commitment zu einem anti-perfektionistischen Neutralitäts- bzw. Beschränkungsprinzip. Als Perfektionistischer Liberaler begeht man keinen Widerspruch, wenn man die folgenden beiden Thesen für wahr hält: (1) Politische Maßnahmen, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt implizieren, können wenigstens manchmal Legitimität beanspruchen, wenn sie mit Argumenten gerechtfertigt werden, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht. (2) Politische Maßnahmen können nur dann Legitimität beanspruchen, wenn sie öffentlich gerechtfertigt werden können, d. h., wenn jedem vernünftigen Bürger ein gewichtiger Grund genannt wird, warum er einem derartigen Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt zustimmen sollte. Um die These der Nicht-Widersprüchlichkeit dieser beiden Annahmen zu begründen, werde ich folgendermaßen vorgehen: In einem ersten Schritt weise ich nach, dass jemand, der die Prämissen »Freiheit«, »Gleichheit« und »Gesellschaft als faires System sozialer Kooperation« zu unhintergehbaren Werten bzw. Eckpfeilern seiner Politischen Philosophie erklärt, zu einem »Prinzip öffentlicher Rechtfertigung« PÖR verpflichtet ist (siehe 7.1). Dieses Prinzip lässt sich aber im Sinne einer Konsenskonzeption wie auch im Sinne einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung interpretieren. Nachdem ich die Unterschiede zwischen beiden Konzeptionen erläutert habe, möchte ich in einem zweiten Schritt demonstrieren, dass die Übernahme einer Konvergenzkonzeption einem Perfektionistischen Liberalen ermöglicht, das Problem der öffentlichen Rechtfertigung zu lösen und Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs zurückzuweisen (siehe 7.2). Damit ist dann nicht nur die Schwäche des defensiven Elements eines Perfektionistischen Liberalismus beseitigt, sondern auch demonstriert, dass meine Bezugnahme auf kontroverse metaphysische Annahmen über die menschliche Natur in meiner Argumentation für eine essentialistische Konzeption 362
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Das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung (PÖR)
eines naturalistischen Realismus unproblematisch ist, weil eine derartige Lösung des Objektivitätsproblems nicht in einen Widerspruch mit der Verpflichtung zur öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt gerät. Mit anderen Worten: Anders als bei Shers quasi-naturrechtlichem Modell führt meine Verteidigung des konstruktiven Elements nicht zu einer Schwächung des defensiven Elements und anders als bei Walls sektiererischem Modell kann ich eine Lösung für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung präsentieren, die mich nicht zur Negierung zentraler liberaler commitments zwingt. In einem dritten Schritt werde ich mich dann mit möglichen Einwänden gegen die Übernahme einer Konvergenzkonzeption auseinandersetzen, um zu zeigen, dass diese entkräftet werden können (siehe 7.3). Viertens und letztens werde ich im Gegenzug ein Argument präsentieren, das einen gewichtigen Grund für die Übernahme einer Konvergenzkonzeption und gegen eine Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung formuliert (siehe 7.4).
7.1 Das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung (PÖR) Der erste Schritt meiner Argumentation besteht darin, dass ich zwei Thesen begründen werde. Erstens zeige ich auf, warum Vertreter einer liberalen Politischen Philosophie – unabhängig davon, ob sie dem perfektionistischen oder anti-perfektionistischen Lager zugehören – zur Akzeptanz eines Prinzips öffentlicher Rechtfertigung (ab jetzt: PÖR) verpflichtet sind. Zweitens argumentiere ich dafür, dass sich aus PÖR zwei Interpretationen öffentlicher Rechtfertigung ableiten lassen, nämlich eine Konsens- und eine Konvergenzkonzeption.
7.1.1 Herleitung von PÖR Warum ist man, insofern man eine liberale Politische Philosophie vertreten will, zur Übernahme eines PÖR genötigt? Um diese Frage beantworten zu können, möchte ich mit der von Quong vorgeschlagenen Minimaldefinition des Terminus »Liberalismus« beginnen. Gemäß Quong ist man im Rahmen der Politischen Philosophie ein »Liberaler«, wenn man drei Überzeugungen für wahr hält: Perfektionistischer Liberalismus
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Die Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung
(1) Es ist Fakt, dass es in modernen Gesellschaften eine irreduzible Pluralität an vernünftigen Konzeptionen eines guten Lebens gibt. (2) Menschen sind frei und gleich und als solche zu behandeln. (3) Eine Gesellschaft ist nur dann stabil und gerecht, wenn sie ein faires System sozialer Kooperation darstellt. Akzeptiert man diese drei Punkte, dann ist man laut Quong per Definition »vernünftig« und gehört zur Menge »liberaler« Bürger. 1 Anders formuliert: Negiert man mindestens einen dieser Punkte, gehört man in der Politischen Philosophie nicht mehr zu denjenigen, die eine »liberale« Politische Philosophie vertreten. Ich möchte nun nicht darüber diskutieren, ob diese Definition ausreichend ist, sondern vielmehr die Frage untersuchen, was aus ihr folgt. Meine These in diesem Abschnitt wird sein, dass man aufgrund dieser drei commitments auf ein allgemeines Prinzip öffentlicher Rechtfertigung festgelegt ist, das einen relationalen bzw. adressatenorientierten Rechtfertigungsbegriff impliziert und sich damit fundamental von dem durch Wall vorgeschlagenen PÖR unterscheidet. Um dies zu zeigen, werde ich mich hauptsächlich auf Prämisse (2) konzentrieren. Die Prämissen (1) und (3) werden dann später noch eine Rolle spielen, wenn es um die Frage geht, ob eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung eine legitime Interpretation von PÖR sein kann. Nun aber erstmal zu Prämisse (2). Was folgt aus der Überzeugung, dass Menschen frei und gleich sind und ihnen eine dementsprechende Behandlung geschuldet ist? 2 Mein Vorschlag, um dies zu illustrieren, besteht darin, zunächst das denkbar einfachste Szenario Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 5–7, 214. Natürlich kann man hier darüber streiten, ob eine solche Definition ausreichend ist. Da sie aber von anti-perfektionistischer Seite vorgeschlagen wird, genügt es für die Fragestellung dieser Arbeit, wenn ich sie als plausibel akzeptiere. Wie ich noch darlegen werde (siehe 7.1.1), leitet sich für führende Anti-Perfektionistische Liberale wie Quong aus diesen drei Grundannahmen ein commitment zur öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt ab, was ihnen zu Folge wiederum ein commitment zu einem Neutralitätsprinzip bzw. einem anti-perfektionistischen Beschränkungsprinzip impliziert. 2 Anti-Perfektionistische Liberale versuchen immer wieder zu demonstrieren, dass sich allein aus diesen beiden Annahmen ableitet, dass es für Liberale auch notwendig ist, ein Neutralitätsprinzip zu akzeptieren. Jüngst hat etwa wieder Alexa Zellentin einen solchen Ansatz vorgelegt, vgl. Alexa Zellentin, Liberal Neutrality: Treating Citizens as Free and Equal (Berlin: De Gruyter, 2012). Ich beanspruche mit der folgenden Argumentation zu zeigen, dass diese These falsch ist. Zu einem ähnlichen 1
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einer Gesellschaft zu betrachten, die nur aus drei erwachsenen Personen – Alf, Betty und Conrad – besteht. Um das Szenario weiter zu vereinfachen nehmen wir ferner an, sie sind die einzigen Überlebenden eines Flugzeugabsturzes und sind auf einer Insel gestrandet. Wenn Alf, Betty und Conrad Prämisse (2) akzeptieren, dann bedeutet dies, dass sie die Überzeugung vertreten, dass keine der drei Gestrandeten über die jeweils anderen über eine Art von »natürlicher Autorität« verfügt, also über die Macht, für sie Entscheidungen zu treffen bzw. ihnen bindende Anweisungen zu geben, was sie zu tun oder zu unterlassen haben. Keine Person kann der anderen vorschreiben, wie sie zu leben hat, jede Person – sofern sie andere nicht in ihrem Freiheitsgebrauch einschränkt – ist Autor ihres eigenen Lebens, also berechtigt, das auf der Insel zu tun und zu unterlassen, was sie will bzw. gemäß ihrer Konzeption eines guten Lebens für das Beste zu tun erachtet. Auf dieser paradiesischen liberalen Insel gilt also das, was wir weiter oben im Kontext der Auseinandersetzung zwischen Wall und Gaus (siehe 4.1.2.3) als »Freiheitsvermutung« bzw. »grundlegendes Freiheitsprinzip« GF kennengelernt und folgendermaßen formuliert haben: GF: Es ist grundsätzlich zu vermuten oder anzunehmen, dass erwachsenen, gesunden und durchschnittlich intelligenten und gebildeten Personen ein moralischer Status ST zukommt, welcher andere Personen verpflichtet, sie als Menschen zu behandeln, die berechtigt und fähig sind, ein Leben gemäß ihrer eigenen Vorstellung von einem guten Leben zu wählen und zu führen. Folgt man Gaus und rekonstruiert GF aus einer handlungstheoretischen Perspektive, dann liegt der normative Gehalt von GF darin, dass es »Freiheit« – verstanden als Möglichkeit, das zu tun, was man wählt bzw. will – zum nicht rechtfertigungsbedürftigen Status quo von rationalen Akteuren erklärt und »Zwang« und »Gewalt« – also eine Einschränkung der Handlungsfreiheit einer Person durch Dritte – mit einer Rechtfertigungspflicht belegt. 3 In Bezug auf mein Beispiel bedeutet dies, dass Alf, Betty und Conrad prima facie gerechtfertigt Ergebnis, aber mit ganz anderen Argumenten, kommt ebenfalls Lister, Public Reason and Political Community, 29–79. 3 Vgl. Gaus, Order of Public Reason, 341–355. Perfektionistischer Liberalismus
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Die Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung
sind, ein Leben auf der Insel zu führen und zu wählen, das ihrer Konzeption von einem guten Leben am meisten entspricht und dementsprechend zu handeln. Solange sie mit einem solchen Leben die anderen nicht in der Realisierung ihrer Konzeption eines guten Lebens einschränken, also in ihrem Freiheitsgebrauch beschränken, sind sie nicht verpflichtet, ihr Tun den anderen gegenüber zu rechtfertigen. Beschließt z. B. Alf sein künstlerisches Talent zu entfalten und am Strand der Insel prächtige Sandburgen zu bauen, so folgt aus GF, dass Alf prima facie in seinem Tun gerechtfertigt ist und Betty und Conrad ihm eine Rechtfertigung schulden, wenn sie über seine Sandburgen trampeln oder ihn unter Androhung von Gewalt zu einer anderen Tätigkeit zwingen wollen. Verweigern Betty und Conrad diese Rechtfertigung, dann behandeln sie Alf nicht als freie und gleiche Person, d. h., sie negieren Prämisse (2) und erkennen nicht an, dass Alf einen Status besitzt, der ihn berechtigt, ein Leben gemäß seiner eigenen Konzeption eines guten Lebens zu wählen und zu führen. Im Gegensatz zur Ausübung von Freiheit bedarf die Ausübung von Zwang – in einer Gesellschaft von Menschen, die Prämisse (2) für wahr halten – also einer besonderen Rechtfertigung und ist nur dann legitim, wenn diese Rechtfertigung gegeben wird. Aus Prämisse (2) folgt demnach GF, also eine asymmetrische Verteilung der Beweislasten zwischen der Ausübung individueller Freiheit und der zwangsweisen Beeinträchtigung dieser Freiheit durch Dritte. Es stellt sich nun die Frage, unter welchen Bedingungen in einer Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern, also Menschen, die Prämisse (2) akzeptieren, die Ausübung von Zwang – also eine Einschränkung der individuellen Handlungsfreiheit – legitim sein kann. Wie können Bürger einander durch den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt zu etwas zwingen, ohne damit den Status der Gezwungenen als freie und gleiche Mitbürger zu verletzen oder zu negieren? Die Antwort sogenannter »public reason liberals« – wie Rawls, Quong oder Gaus – lautet, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt bzw. die Einschränkung der individuellen Handlungsfreiheit von Bürgern durch den Staat nur dann legitim ist, wenn sie »öffentlich« gerechtfertigt ist, also gegenüber jedem, in dessen Handlungsfreiheit durch die entsprechende staatliche Maßnahme eingegriffen wird. Genau dies ist ja von GF gefordert. Nicht jede Freiheitseinschränkung durch Dritte stellt per se eine Verletzung des Status desjenigen dar, in dessen Freiheit eingegriffen wird, sondern nur eine Freiheitseinschränkung, die demjenigen gegenüber, dessen Freiheit 366
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Das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung (PÖR)
beschränkt wird, nicht gerechtfertigt wird. Erkennt man GF als gültiges Prinzip an, welches im commitment zu Prämisse (2) impliziert ist, dann muss man demnach auch ein PÖR akzeptieren, also eine besondere Rechtfertigungspflicht für den Gebrauch staatlicher bzw. politischer Zwangsgewalt, welches in seiner allgemeinen Grundform folgendermaßen formuliert werden kann 4: PÖR: Eine staatliche bzw. politische Zwangsmaßnahme ZM ist genau dann gerechtfertigt, wenn gilt: (1) Jedes Mitglied der Öffentlichkeit P (2) Hat einen gewichtigen Grund G, ZM zu befürworten. Bis zu diesem Punkt und gegen diese allgemeine Formulierung bzw. dieses allgemeine Konzept von PÖR dürften Anti-Perfektionistische Liberale wie Rawls oder Quong nichts einzuwenden haben. Ein Dissens entsteht erst auf der Ebene unterschiedlicher Interpretationen bzw. Konzeptionen dieses Prinzips als Konsens- oder Konvergenzkonzeption, was ich im nächsten Abschnitt aufzeigen werde. Bevor ich mich dem zuwende, möchte ich aber kurz noch die Bedingungen (1) und (2) etwas präzisieren, um aufzuzeigen, worin sich antiperfektionistische Vertreter einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung und perfektionistische Vertreter einer Konvergenzkonzeption hinsichtlich ihrer Interpretation von PÖR nicht unterscheiden. Hinsichtlich Bedingung (1) gibt es zwei grundlegende Interpretationsmöglichkeiten. Man kann (1) in einem empirischen bzw. »populistischen« 5 oder in einem idealisierten Sinne verstehen: (PÖR 1a = empirisch-populistische Variante): Eine staatliche bzw. politische Zwangsmaßnahme ZM ist genau dann gerechtfertigt, wenn gilt, dass jedes aktuale Mitglied der Öffentlichkeit P, also jeder Bürger mit seinen derzeitigen Überzeugungen, kognitiven Fähigkeiten und Informationen einen gewichtigen Grund G hat, ZM zu befürworten.
Ich übernehme hier eine Standardformulierung, die sich – leicht modifiziert – z. B. findet bei Kevin Vallier und Christopher J. Eberle, »Religion in Public Life«, in The Routledge Companion to Social and Political Philosophy. Gerald F. Gaus und Fred D’Agostino (Hg.) (New York: Routledge, 2013), 803. 5 Diesen Begriff hat Eberle geprägt, vgl. Eberle, Religious Conviction, 198. 4
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Die Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung
Wie unter anderem von Eberle in überzeugender Weise nachgewiesen wurde, sind derartige Varianten eines public reason liberalism aber extrem unplausibel, denn sie machen die Legitimität staatlicher Maßnahmen von der Befürwortung von Bürgern abhängig, die falsche Überzeugungen haben, denen – aufgrund mangelnder kognitiver Fähigkeiten oder Zeitdruck – Fehler in ihren praktischen Schlussfolgerungen unterlaufen, oder die schlicht nicht über die notwendigen Informationen verfügen, um beurteilen zu können, ob sie einen gewichtigen Grund haben, ZM zu befürworten. 6 Dies hieße im konkreten aber, dass kaum eine politische Maßnahme noch Legitimität beanspruchen kann, weil es immer wieder einzelne nicht vollständig rationale oder ideologisch verblendete Bürger gibt, die geltend machen können, dass ihnen kein gewichtiger Grund genannt wurde, der die entsprechende Maßnahme rechtfertigt. Da es in einer liberalen Gesellschaft (leider) aber auch Rassisten oder Fundamentalisten gibt, hätten diese ein Vetorecht und würden den Staat in eine Art von »Geiselhaft« nehmen. Die meisten public reason liberals verstehen (1) deshalb in einem idealisierten Sinne, wobei hier nochmals zwischen einer radikalen und einer moderaten Idealisierung unterschieden werden kann 7: (PÖR 1b rad = radikal-idealisierte Variante): Eine staatliche bzw. politische Zwangsmaßnahme ZM ist genau dann gerechtfertigt, wenn gilt, dass jedes vollständig rationale Mitglied der Öffentlichkeit P, also jeder Bürger, der ausschließlich über wahre Überzeugungen und alle relevanten Informationen verfügt und dem zudem keinerlei Fehler in der Ausübung seiner kognitiven Fähigkeiten unterläuft, einen gewichtigen Grund G hat, ZM zu befürworten. (PÖR 1b mod = moderat-idealisierte Variante): Eine staatliche bzw. politische Zwangsmaßnahme ZM ist genau dann gerechtfertigt, wenn gilt, dass jedes Mitglied der Öffent6 Eine detaillierte Kritik an verschiedenen populistischen Varianten eines public reason liberalism bietet vgl. ibid., 198–233. 7 Einen kurzen Überblick über diese Unterscheidung bieten Kevin Vallier und Fred D’Agostino, »Public Justification«, in The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Edward N. Zalta (Hg.) (Stanford: Stanford University, 2013). Ich beziehe mich hier auf die im Internet zugängliche Version: http://plato.stanford.edu/entries/justificationpublic/#Ide (Abschnitt 2.4; Zugriff am 30. 1. 2014).
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lichkeit P, also jeder Bürger, der über ein vernünftiges Maß an wahren Überzeugungen und relevanten Informationen verfügt und der in einem überwiegend verlässlichen Sinne in der Lage ist, seine kognitiven Fähigkeiten auszuüben (z. B. richtige Schlussfolgerungen zu ziehen), einen gewichtigen Grund G hat, ZM zu befürworten. Für eine moderate Idealisierung spricht vor allem, dass sie nicht vollständig von den aktualen bzw. empirischen Bürgern liberaler Gesellschaften abstrahiert und berücksichtigt, dass reale Bürger eben niemals vollständig rational oder umfassend informiert sind, wenn sie darüber urteilen, ob sie einen gewichtigen Grund haben, eine politische Entscheidung, die in ihren Freiheitsbereich eingreift, zu befürworten. Es ist an dieser Stelle für mich weder erforderlich, diese Präferenz für eine moderate Idealisierung näher zu begründen oder sie weiter zu präzisieren 8, noch in eine vertiefende Diskussion für eine rationale Überlegenheit von (PÖB 1b mod) über (PÖB 1a) einzudringen. Dies ist nicht notwendig, weil Anti-Perfektionistische Liberale, die wie Quong eine Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung befürworten, ausdrücklich eine Idealisierungsbedingung akzeptieren. 9 Im Unterschied zu public reason liberals, die Bedingung (1) in einem empirisch-populistischen Sinne interpretieren, sind sich antiperfektionistische Vertreter einer Konsenskonzeption und perfektionistische Vertreter einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung also darin einig, dass die Menge der Bürger, denen gegenüber eine politische Maßnahme gerechtfertigt werden muss, durch bestimmte epistemologische oder normative Kriterien beschränkt werden muss. Quong etwa betont wiederholt, dass es nur »vernünftige« Bürger sind, d. h. Bürger, die die drei oben erwähnten liberalen Grundüberzeugungen für wahr halten, denen ein gewichtiger Grund für die Einwilligung in eine staatliche Zwangsmaßnahme genannt werden muss bzw. deren mögliche Befürwortung darüber entscheidet, ob die entsprechende Maßnahme als öffentlich gerechtfertigt gelten und damit Legitimität beanspruchen kann. 10
Eine jüngere Kritik einer radikalen Idealisierung, ebenso wie eine Präzisierung einer moderaten Idealisierungsbedingung findet sich bei Gaus, Order of Public Reason, 235–258. 9 Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 5. 10 Vgl. ibid., 8, 214, 290. 8
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Die Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung
Wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde, ist es vor allem die Interpretation von Bedingung (2), die einen Dissens zwischen public reason liberals verursacht und sie in Befürworter einer Konsenskonzeption oder Befürworter einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung spaltet. Bevor ich mich dieser Unterscheidung zuwende, die für die These meiner Arbeit von hoher Relevanz ist, möchte ich aber noch auf eine letzte Gemeinsamkeit hinweisen, die alle Vertreter eines public reason liberalism teilen. Diese Gemeinsamkeit ist epistemischer Natur und ergibt sich aus der Kombination von GF und PÖR. Wenn gemäß GF jede Beschränkung der Handlungsfreiheit einer Person demjenigen eine Rechtfertigungspflicht auferlegt, der diesen Eingriff vornimmt, dann stellt sich die Frage, wann genau dieser Pflicht genüge getan ist und wann nicht. Wie ich weiter oben in Darstellung und Kritik des sektiererischen Modells von Wall ausgeführt habe (siehe 4.1.2 und 4.2), hängt die Beantwortung dieser Frage davon ab, ob man einen »einfachen« oder einen »relationalen« bzw. adressatenorientierten Rechtfertigungsbegriff zu Grunde legt. Ich möchte diesen Punkt an folgendem Beispiel illustrieren. Wie schon erwähnt, entdeckt Alf auf der Insel, auf der er mit Betty und Conrad gestrandet ist, sein künstlerisches Talent und seine Freude am Bauen von Sandburgen. Weder schädigt er Betty oder Conrad mit diesem Verhalten, noch schränkt er sie durch sein Handeln in ihrer Freiheit ein. Gemäß GF ist Alf deshalb gegenüber Betty und Conrad nicht verpflichtet, sein Handeln zu rechtfertigen. Anders sieht es nun aus, wenn Betty auf einmal auftaucht und die Sandburgen von Alf zerstört. Da sie die Freiheit von Alf einschränkt bzw. in seinen Handlungsspielraum eingreift, ist sie gemäß GF verpflichtet, Alf eine Rechtfertigung für ihr Handeln zu liefern, da sie nur so den Status von Alf als freie und gleiche Person nicht verletzt und ihr Handeln legitimieren kann. Vertritt man einen einfachen Rechtfertigungsbegriff und eine darauf aufbauende Konzeption von öffentlicher Rechtfertigung wie Wall, dann kommt Betty ihrer Rechtfertigungspflicht nach, wenn sie Alf einen Grund nennt, der ihr Verhalten subjektiv wie objektiv rechtfertigt. Entscheidend ist hier die epistemische Perspektive von Betty. Bettys Handeln kann durch Gründe öffentlich gerechtfertigt werden, die für Alf opak bzw. epistemisch unzugänglich und damit in einem strikten Sinne external zu seinem System an Überzeugungen und Werten sind. Mit anderen Worten: Betty ist nicht verpflichtet, Alf Gründe zu nennen, die er als Gründe erkennen kann, d. h., sie 370
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ist nicht verpflichtet, seine epistemische Perspektive bzw. seinen epistemischen Standpunkt in ihren Rechtfertigungsversuch mit einzubeziehen. Legt man hingegen einen relationalen Rechtfertigungsbegriff zu Grunde, dann kommt Betty ihrer Rechtfertigungspflicht gegenüber Alf nur dann nach, wenn sie Alf Gründe nennt, die aus dessen Perspektive Bettys Verhalten rechtfertigen können. Betty erfüllt ihre Rechtfertigungspflicht gegenüber Alf demnach nur, wenn sie von seinem epistemischen Standpunkt aus argumentiert, d. h. ihm Gründe nennt, von denen sie annehmen kann, dass Alf sie auch als Gründe anerkennen kann. Diese Gründe können – aufgrund der notwendigen Idealisierungbedingung, der Alf als Mitglied der Öffentlichkeit P unterliegt – in einem schwachen Sinne externalistisch sein, d. h., sie können für den aktualen bzw. empirischen Alf aufgrund fehlender Informationen, fehlerhaften praktischen Schlussfolgerungen oder unentdeckten falschen Überzeugungen derzeit epistemisch opak sein, dürfen es aber nicht in einem prinzipiellen Sinne sein. »Schwach externalistisch« meint hier somit – Gaus folgend –, dass eine moderat idealisierte Version von Alf aus ihrer epistemischen Perspektive, d. h. ausgehend von ihrem System an Werten und Überzeugungen etc., die Überlegungen, die Betty ihr nennt, als Gründe anerkennen kann, wenn sie auf ihre Werte und Überzeugungen reflektiert und ihre praktischen Schlussfolgerungen einigermaßen fehlerfrei sind. 11 Ausgehend von diesem »relationalen« Rechtfertigungsbegriff ist Bettys Verhalten demnach nur dann gerechtfertigt, wenn sie dieses Verhalten mit Überlegungen rechtfertigt, die zumindest ein moderat idealisierter Alf von seiner epistemischen Perspektive aus als Gründe anerkennen kann. Überträgt man diesen sich aus GF abgeleiteten Grundgedanken auf den Begriff öffentlicher Rechtfertigung und kombiniert ihn mit der von mir vorgeschlagenen allgemeinen Formulierung von PÖR, dann bedeutet dies, dass eine politische Zwangsmaßnahme ZM nur dann »öffentlich« gerechtfertigt ist, wenn allen empirischen bzw. aktualen Mitgliedern von P Überlegungen genannt werden, die deren moderat idealisierte Varianten von ihrem epistemischen Standpunkt aus als gewichtigen Grund akzeptieren können. Dass auch Vertreter einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung wie Quong einen solchen relationalen Rechtfertigungsbegriff voraussetzen und 11
Vgl. Gaus, Justificatory Liberalism, 30–44; Order of Public Reason, 232–258.
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Die Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung
diesem – noch sehr allgemein gehaltenen – Kriterium für öffentliche Rechtfertigung zustimmen, zeigt sich daran, dass Quong wiederholt verlangt, dass politische Maßnahmen mit Überlegungen gerechtfertigt werden, von denen man vernünftigerweise erwarten kann, dass diejenigen, die von diesen Maßnahmen betroffen sind, sie als Gründe anerkennen können. 12 Damit habe ich in diesem Abschnitt drei Dinge demonstriert: Erstens habe ich gezeigt, dass sich aus dem liberalen commitment, dass Menschen frei und gleich und dementsprechend zu behandeln sind, ein allgemeines PÖR ableiten lässt. Anders formuliert: Die Forderung nach einer öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt abzulehnen, kommt einer Negierung einer grundlegenden liberalen Überzeugung bzw. eines konstitutiven liberalen Werts gleich. Zweitens wies ich darauf hin, dass sich – aufgrund der unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten von Bedingung (1) in der allgemeinen Formulierung von PÖR – innerhalb eines public reason liberalism zwischen populistischen bzw. empirischen und idealisierenden Varianten unterschieden werden kann. Diese Unterscheidung ist für meine weitere Argumentation aber nicht weiter von Belang, da sowohl Vertreter einer Konsenskonzeption wie Rawls oder Quong als auch Vertreter einer Konvergenzkonzeption wie Stout, Gaus oder Vallier befürworten, dass es nicht die aktualen oder empirischen Mitglieder der Öffentlichkeit sind, denen gegenüber eine politische Zwangsmaßnahme gerechtfertigt werden muss, sondern die in einem radikalen oder moderaten Sinne idealisierten Varianten dieser Bürger hier relevant sind. Drittens habe ich in diesem Abschnitt ein notwendiges Kriterium herausgearbeitet, mittels dessen sich definieren lässt, worin sich das Konzept öffentlicher Rechtfertigung, welches public reason liberals gemeinsam ist, von anderen illiberalen Konzepten öffentlicher Rechtfertigung unterscheiden lässt. Das Konzept öffentlicher Rechtfertigung, das public reason liberals vereint, setzt einen relationalen bzw. adressatenorientierten Rechtfertigungsbegriff voraus. Anders formuliert: Es gehören nur diejenigen Konzeptionen öffentlicher Rechtfertigung zur Familie des Konzepts öffentlicher Rechtfertigung, welches public reason liberals vereint, die ihrem Verständnis öffentlicher Rechtfertigung einen relationalen Rechtfertigungsbegriff zu Grunde legen. Dies deckt sich mit meiner oben ausgeführten Kritik an Walls 12
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Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 6, 17, 37–39, 41, 207.
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Variante eines Perfektionistischen Liberalismus (siehe 4.2.3). Wall präsentiert eben keine Konzeption öffentlicher Rechtfertigung, die innerhalb der Familie eines public reason liberalism eine Alternative zu den Konsenkonzeptionen öffentlicher Rechtfertigung wäre, die Anti-Perfektionistische Liberale vertreten, sondern ein alternatives Konzept öffentlicher Rechtfertigung, welches einen relationalen Rechtfertigungsbegriff ablehnt, was wiederum dazu führt, dass er sich aus der Tradition eines public reason liberalism herausdefiniert. Insbesondere der letztgenannte Punkt ist für den weiteren Verlauf meiner Argumentation bedeutsam, denn ich werde nun die Begründung meiner zweiten These in Angriff nehmen, wonach es sich bei einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung um eine legitime Interpretation bzw. Konzeption von PÖR dargestellt, die den Vorteil hat, dass es gemäß ihr – anders als bei einer Konsenskonzeption – wenigstens manchmal legitim sein kann, den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt mit Argumenten zu rechtfertigen, die von kontroversen Prämissen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Meine These wird also sein, dass Perfektionistische Liberale im Rückgriff auf eine Konvergenzkonzeption die von Quong vorgetragene Entkräftung des Asymmetrievorwurfs zurückweisen und damit das Problem öffentlicher Rechtfertigung lösen können.
7.1.2 Interpretation von PÖR 7.1.2.1 Konsens- und Konvergenzkonzeptionen öffentlicher Rechtfertigung Nach der Darstellung der Gemeinsamkeiten von public reason liberals werde ich nun auf eine Kontroverse eingehen, die diese in Vertreter einer Konsenskonzeption und Vertreter einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung spaltet. 13 Dabei möchte ich zunächst den Unterschied zwischen diesen Konzeptionen plausibilisieren. Als Ausgangspunkt dient hier das oben vorgestellte allgemeine PÖR: Es muss allerdings angemerkt werden, dass Vertreter einer Konvergenzkonzeption wie Gaus, Vallier oder D’Agostino noch eine Minderheitenposition darstellen. Es handelt sich bei dieser »Spaltung« also nicht um eine Aufteilung in zwei gleich große Lager. Eine Interpretation des public reason liberalism im Sinne einer Konsenskonzeption kann immer noch als die dominante Standardinterpretation gelten.
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Eine staatliche bzw. politische Zwangsmaßnahme ZM ist genau dann gerechtfertigt, wenn gilt: (1) Jedes Mitglied der Öffentlichkeit P (2) Hat einen gewichtigen Grund G, ZM zu befürworten. Da ich oben gezeigt habe, dass es hinsichtlich Bedingung (1) einen Konsens darüber gibt, dass P in einem idealisierten Sinn zu verstehen ist, kann die Frage der genauen Spezifizierung von P bzw. des Grades der Idealisierung eingeklammert werden. Sie spielt für meine Argumentation keine Rolle. Der Dissens zwischen Befürwortern einer Konsenskonzeption und einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung liegt in der Frage der Interpretation von (2) begründet, also der Frage, welche Art von Gründen »G« den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen können. Gemäß einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung (künftig »KSÖ«) ist (2) folgendermaßen zu verstehen: KSÖ: ZM ist genau dann gerechtfertigt, wenn es mindestens einen gewichtigen Grund G gibt, der ZM aus der Perspektive aller Mitglieder von P (also P1, P2 … etc.) rechtfertigt. Gemäß einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung (künftig »KVÖ«) kann (2) aber auch folgendermaßen interpretiert werden: KVÖ: ZM ist genau dann gerechtfertigt, wenn jedes Mitglied von P (also P1, P2 … etc.) mindestens einen gewichtigen Grund G hat, der ZM aus seiner Perspektive rechtfertigt. Ich möchte den fundamentalen Unterschied zwischen KSÖ und KVÖ an einem Beispiel deutlich machen, der auf meine oben eingeführten Gestrandeten Alf (A), Betty (B) und Conrad (C) zurückgreift. Wenn man KSÖ zu Grunde legt, dann ist eine politische Zwangsmaßnahme ZM auf der Insel nur dann gerechtfertigt, wenn für Grund G gilt: (1) G rechtfertigt ZM aus der Perspektive von A. (2) G rechtfertigt ZM aus der Perspektive von B. (3) G rechtfertigt ZM aus der Perspektive von C. »G« kann ZM also nur dann rechtfertigen, wenn er eine bestimmte epistemische Eigenschaft besitzt, nämlich für A, B und C »teilbar« 374
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(shareable) oder »zugänglich« (accessible) zu sein. 14 Mit anderen Worten: Nur wenn G die Eigenschaft besitzt, ein Grund zu sein, der von A, B und C geteilt wird oder zumindest als Grund aus der epistemischen Perspektive von A, B und C zugänglich ist, kann G ein Grund sein, der ZM öffentlich rechtfertigt. Interpretiert man PÖR im Sinne von KVÖ, dann sehen die Bedingungen für die öffentliche Rechtfertigung von ZM jedoch anders aus. Gemäß KVÖ ist ZM auch dann gerechtfertigt, wenn gleichzeitig gilt: (1) Ga rechtfertigt ZM aus der Perspektive von A. (2) Gb rechtfertigt ZM aus der Perspektive von B. (3) Gc rechtfertigt ZM aus der Perspektive von C. Dies bedeutet, dass selbst dann, wenn es keinen gemeinsamen Grund G gibt oder keinen Grund, der allen Mitglieder von P aus ihrer epistemischen Perspektive zugänglich ist, der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt trotzdem öffentlich gerechtfertigt und damit legitim sein kann. Er ist legitimiert, wenn jedes Mitglied von P einen gewichtigen Grund G hat, der ZM rechtfertigt. Damit ZM öffentlich gerechtfertigt ist, müssen Alf, Betty und Conrad weder über dieselben Gründe verfügen noch müssen ihnen die Gründe der jeweils anderen Person aus ihrem epistemischen Kontext zugänglich sein. Es genügt, wenn es eine Konvergenz von Gründen gibt, die ZM rechtfertigt. In meinem Beispiel ist ZM gemäß KVÖ öffentlich gerechtfertigt, weil A, B und C aus ihrer epistemischen Perspektive einen gewichtigen Grund haben, der ZM rechtfertigt. Öffentliche Rechtfertigung erfor-
Einen kurzen Überblick über die epistemischen Kriterien, die unterschiedliche Entwürfe eines public reason liberalism verwenden, findet sich bei Vallier und D’Agostino, »Public Justification«. Ich beziehe mich hier auf Abschnitt 2.3 der Internetfassung, siehe http://plato.stanford.edu/entries/justification-public/#TypJusRea (Zugriff am 3. Februar 2014). Eine vertiefende Auseinandersetzung mit dieser Thematik bieten Eberle, Religious Conviction, 252–287; Vallier, Liberal Politics and Public Faith, 222–252; »Against Public Reason Liberalism’s Accessibility Requrirement«, Journal of Moral Philosophy 8(2011). Ebenso ist jüngst ein neues Buch von Vallier erschienen, welches den gleichen Titel wie seine Dissertation trägt: Kevin Vallier, Liberal Politics and Public Faith: Beyond Separation (New York: Routledge, 2014). Da die für diese Arbeit interessanten Kapitel über epistemologische Fragestellungen im Wesentlichen identisch sind mit vorgängigen Veröffentlichungen, die ich zur Rekonstruktion seiner Position verwende, werde ich dieses Buch hier und an anderen Orten meiner Untersuchung nicht weiter berücksichtigen.
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dert also nicht, dass die Mitglieder von P sich darin einig sind, warum ZM gerechtfertigt ist, sondern nur, dass ZM gerechtfertigt ist. 7.1.2.2 Drei Theorien öffentlicher Gründe Nach dieser ersten Darlegung des Unterschieds zwischen Konsensund Konvergenztheoretikern werde ich nun – wiederum im Rückgriff auf jüngere Arbeiten von Gaus und vor allem Vallier – dafür argumentieren, dass der Dissens im Lager der public reason liberals hinsichtlich der Interpretation von PÖR bzw. Bedingung (2) von PÖR in unterschiedlichen Theorien darüber begründet ist, was einen Grund G zu einem Grund macht, der den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen kann. Die im Folgenden vorgestellte Analyse Valliers stellt die Grundlage dar, auf der ich dann im nächsten Abschnitt (siehe 7.2) eine Lösung für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung präsentieren werde. Vallier zufolge lehnen Konsenstheoretiker die Möglichkeit einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung ab, weil es für sie nicht ausreicht, dass jedes Mitglied von P einen Grund G hat, der gemäß den evaluativen Standards seiner individuellen epistemischen Perspektive eine politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. Gemäß Vertretern von KSÖ können nur »öffentliche« Gründe den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen, d. h. Gründe, die aufgrund gemeinsamer evaluativer Standards von allen Mitgliedern von P als Gründe geteilt werden oder zumindest allen Mitglieder von P aufgrund gemeinsamer evaluativer Standards als Gründe zugänglich sind. Der Dissens gründet also in unterschiedlichen Antworten auf die Frage, was Gründe zu rechtfertigenden bzw. »öffentlichen« Gründen macht. Laut Vallier lassen sich die in der Debatte vertretenen Positionen drei Theorien rechtfertigender bzw. öffentlicher Gründe zuordnen, die unterschiedliche epistemische Anforderungen an derartige Gründe formulieren und deshalb auch unterschiedlich restriktiv hinsichtlich der Menge von Gründen sind, die als »öffentlich« oder »rechtfertigend« zählen können. Der grundlegende Unterschied zwischen den Theorien öffentlicher Gründe, die Konsens- und Konvergenzkonzeptionen öffentlicher Rechtfertigung verwenden, lässt sich an folgender Frage deutlich machen: Ist ein Grund nur dann ein »öffentlicher« Grund – also ein Grund, der eine politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigen 376
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kann –, wenn er gemäß den gemeinsamen evaluativen Standards aller Mitglieder von P einen Grund darstellt, der ZM rechtfertigt? Konsenstheoretiker bejahen diese Frage, während Vertreter einer Konvergenzkonzeption sie verneinen. Entscheidend ist hier die Frage nach den gemeinsamen evaluativen Standards. Befürworter einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung argumentieren, dass es für die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt nicht ausreicht, dass es eine Konvergenz von unterschiedlichen individuellen Gründen gibt. Diese Gründe sind nur dann »öffentlich« und gehören zur Menge derjenigen Gründe, die ZM rechtfertigen können, wenn sie Gründe sind, die – aufgrund gemeinsamer evaluativer Standards – von allen Mitglieder von P geteilt werden bzw. als Gründe anerkannt werden können. Eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung hingegen lässt die Forderung nach gemeinsamen evaluativen Standards fallen. Von dieser Grundunterscheidung ausgehend kann zwischen drei unterschiedlich restriktiven Theorien über rechtfertigende bzw. öffentliche Gründe differenziert werden. Die am wenigsten restriktive Position ist die eines Konvergenztheoretikers. Laut ihm gehören zur Menge der Gründe, die eine staatliche Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigen können, alle Gründe, die die epistemische Eigenschaft der »Intelligibilität« besitzen. Gemeint ist damit, dass z. B. in einer Öffentlichkeit P, die aus Alf (A), Betty (B) und Conrad (C) besteht und in der diese eine politische Zwangsmaßnahme ZM aus jeweils unterschiedlichen Gründen Ga, Gb und Gc für gerechtfertigt halten, diese Maßnahme nur öffentlich gerechtfertigt ist, wenn gilt: (1) Ga ist intelligibel für B und C. (2) Gb ist intelligibel für A und C. (3) Gc ist intelligibel für B und A. Zum Beispiel muss für Betty und Conrad nachvollziehbar und verständlich sein, dass Ga für Alf gemäß seinen eigenen evaluativen Standards einen Grund darstellt, der für ZM spricht und ZM rechtfertigt. Wichtig ist hier zu betonen, dass für Intelligibilität nicht erfordert ist, die evaluativen Standards des anderen zu teilen oder zu übernehmen. Urteilt z. B. Betty von ihren evaluativen Standards aus, dann muss Ga keinen Grund darstellen, der ZM rechtfertigt. Sie muss lediglich verstehen und nachvollziehen können, warum Ga für Alf einen Grund darstellt, der ZM rechtfertigt. In diesem Beispiel ist Ga Perfektionistischer Liberalismus
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ein zulässiger rechtfertigender bzw. öffentlicher Grund, wenn es für Betty und Conrad verständlich ist, dass Ga gemäß den evaluativen Standards von Alf einen Grund für Alf darstellt, der ZM rechtfertigt. Aus der Menge möglicher »öffentlicher« Gründe werden also die Gründe ausgeschlossen, die nicht die epistemische Eigenschaft besitzen, für die Mitglieder der relevanten Öffentlichkeit P »intelligibel« zu sein, also von denen für andere nicht ersichtlich ist, dass sie gemäß den evaluativen Standards der Person, von der sie vorgebracht werden, Gründe darstellen, die die entsprechende Zwangsmaßnahme rechtfertigen. Das Restriktionsprinzip einer Konvergenzkonzeption verlangt somit von »öffentlichen« Gründen, dass diese die epistemische Eigenschaft der »Intelligibilität« besitzen und kann folgendermaßen formuliert werden 15: Ein Grund G einer Person X ist genau dann ein öffentlicher Grund, d. h. ein Grund, der eine politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigen kann, wenn Gx für alle Mitglieder der Öffentlichkeit P intelligibel ist, d. h. als ein Grund verständlich ist, der aus der epistemischen Perspektive von X und ihren evaluativen Standards ZM rechtfertigt. Konsenskonzeptionen öffentlicher Rechtfertigung sind wesentlich restriktiver hinsichtlich der Menge der Gründe, die als »öffentliche« Gründe in Frage kommen, und zwar aufgrund der von ihnen geforderten Gemeinsamkeit evaluativer Standards. Jedoch kann innerhalb des Lagers von Konsenstheoretikern noch einmal zwischen einer starken und einer schwachen Variante unterschieden werden. 16 Die entsprechende Unterscheidung kann anhand folgender Frage verständlich gemacht werden: Begrenzt sich die Menge öffentlicher Gründe – also von Gründen, die eine politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigen können – auf Gründe, die von allen Mitgliedern der Öffentlichkeit P geteilt werden? Diese Formulierung ist angelehnt an »Against Accessibility«, 388. Darauf weisen sowohl Anti-Perfektionistische Liberale wie Quong, als auch Perfektionistische Liberale wie Vallier hin, vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 264; Vallier, Liberal Politics and Public Faith, 252.
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Vertreter einer starken Variante einer Konsenskonzeption bejahen diese Frage, Vertreter einer schwachen Variante hingegen verneinen sie. Während sich Konsenstheoretiker darin einig sind, dass als Gründe für die öffentliche Rechtfertigung einer staatlichen Zwangsmaßnahme ZM nur Gründe in Frage kommen, die gemäß evaluativer Standards, die allen Mitgliedern der Öffentlichkeit P gemeinsam sind, Gründe darstellen, die ZM rechtfertigen, sind sie sich uneinig darüber, ob diese Gründe darüber hinaus auch von allen Mitgliedern von P geteilt werden müssen. Übernimmt man eine schwache Konsenskonzeption, dann gehören zur Menge öffentlicher Gründe auch Gründe, die nicht von allen Mitgliedern von P geteilt werden. Entscheidend ist lediglich, dass sie gemäß evaluativer Standards, die allen Mitglieder von P gemeinsam sind, als Gründe anerkannt werden können, die ZM rechtfertigen. Wiederum im Rückgriff auf die Arbeiten von Vallier kann dieser Unterschied anhand unterschiedlicher epistemischer Eigenschaften plausibilisiert werden, die Gründe gemäß starken und schwachen Varianten besitzen müssen, damit sie zur Menge rechtfertigender bzw. »öffentlicher« Gründe gehören. Befürwortern einer schwachen Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung ist laut Vallier gemeinsam, dass sie mit dem epistemischen Kriterium der »Zugänglichkeit« operieren. Dieses Kriterium begrenzt die Menge möglicher rechtfertigender bzw. öffentlicher Gründe auf Gründe, die aus einer gemeinsamen epistemischen Perspektive und deren evaluativen Standards heraus Gründe darstellen, die ZM rechtfertigen können. Anders als bei einer Konvergenzkonzeption und deren epistemischen Restriktionskriterium der Intelligibilität reicht es nicht aus, dass es allen Mitgliedern der Öffentlichkeit P verständlich ist, dass ein Grund G gemäß den evaluativen Standards eines Mitglieds X von P einen Grund für X darstellt, der ZM rechtfertigt. Ein Grund Gx gehört nur dann zur Menge öffentlicher Gründe, also zur Menge von Gründen die ZM rechtfertigen können, wenn alle Mitglieder von P unter Bezugnahme auf gemeinsame evaluative Standards in der Lage sind, Gx als einen Grund anzuerkennen, der ZM aus der Perspektive von X rechtfertigt. Anders formuliert: Entscheidend ist nicht, ob intelligibel ist, dass Gx gemäß den evaluativen Standards von X einen Grund darstellt, der ZM rechtfertigt, sondern ob Gx gemäß den evaluativen Standards, die die Mitglieder von P teilen, als ein Grund bewertet werden kann, der ZM für X rechtfertigt. Individuelle Gründe, die nicht gemäß den gemeinsamen evaluativen Standards als Gründe anerkannt werden können, sind somit nicht Perfektionistischer Liberalismus
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»öffentlich«, weil sie evaluative Standards voraussetzen, die nicht allen Mitgliedern von P – aufgrund unterschiedlicher Überzeugungen und Werte – »zugänglich« sind. Das Restriktionsprinzip einer schwachen Konsenskonzeption schließt somit alle Gründe aus der Menge öffentlicher Gründe aus, die nicht die epistemische Eigenschaft der »Zugänglichkeit« besitzen und kann folgendermaßen formuliert werden 17: Ein Grund G einer Person X ist genau dann ein öffentlicher Grund, d. h. ein Grund, der eine politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigen kann, wenn Gx allen Mitgliedern der Öffentlichkeit P zugänglich ist, d. h., wenn alle Mitglieder von P Gx unter Bezugnahme auf gemeinsame evaluative Standards als einen Grund für X anerkennen können, der ZM rechtfertigt. Obwohl dieses Prinzip wesentlich mehr Gründe aus der Menge öffentlicher Gründe ausschließt als das Restriktionsprinzip von Konvergenztheoretikern, ist es noch nicht so restriktiv wie das einer starken Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung, denn es lässt die Möglichkeit offen, dass es öffentliche Gründe gibt, die nicht geteilt werden. Denn gemäß gemeinsamer evaluativer Standards anerkennen zu können, dass der Grund einer anderen Person einen Grund darstellt, der aus deren Perspektive eine politische Zwangsmaßnahme rechtfertigt, impliziert nicht, dass ich diesen Grund teilen muss. Ich kann anerkennen, dass die vorgetragenen Überlegungen der anderen Person auch nach den Maßstäben meiner evaluativen Standards relevant sind und insofern einen Grund für diese Person darstellen, der eine von ihr favorisierte politische Zwangsmaßnahme rechtfertigt, und gleichzeitig geltend machen, dass dieser Grund aus meiner epistemischen Perspektive die entsprechende politische Zwangsmaßnahme nicht rechtfertigt. Dass trotz gemeinsamer evaluativer Standards die Möglichkeit besteht, einen Dissens über rechtfertigende bzw. öffentliche Gründe zu haben, wird von Befürwortern einer schwachen Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung mit dem Hinweis auf das Faktum eines vernünftigen Pluralismus bzw. die Bürden der Urteilskraft erklärt. 18 Genau darum unterscheidet Quong auch zwischen Meine Formulierung ist angelehnt an »Against Accessibility«, 369; Liberal Politics and Public Faith, 235. 18 Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 262–264. 17
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zwei Arten von Konflikten: Konflikten, die in Relevanzuneinigkeiten gründen und Konflikten, die ihren Ursprung in Gewichtungsuneinigkeiten haben (siehe 3.1.2). Deshalb bietet es sich auch an, auf ein von Quong vorgebrachtes Beispiel zurückzugreifen, um zu verdeutlichen, warum es möglich ist, gemeinsame evaluative Standards zu haben und dennoch nicht dieselben Gründe zu teilen 19: Vorausgesetzt sei, dass Tony (T) und Sara (S) liberale Bürger sind, d. h., sie halten die Überzeugung für wahr, dass Menschen in einem grundlegenden Sinne gleich und frei sind, es einen vernünftigen Pluralismus hinsichtlich Vorstellungen über ein gutes Leben gibt und eine derartig plurale Gesellschaft nur stabil sein kann, wenn sie ein faires System sozialer Kooperation darstellt. Tony und Sara streiten nun über die Frage, ob es legitim ist, der Katholischen Kirche zuzugestehen, dass sie nur Männer zum Berufsstand des Priesters zulässt und in entsprechende Arbeitsverhältnisse übernimmt. Es stehen sich folgende Argumente gegenüber: (T1): Eine solche Diskriminierung innerhalb der Katholischen Kirche ist legitim, weil sie ein privater bzw. zivilgesellschaftlicher Verein und keine staatliche Institution ist. In einem privaten bzw. zivilgesellschaftlichen Verein, der auf freiwilliger Mitgliedschaft beruht, ist es Bürgern erlaubt, sich eigene Regeln für ihr Zusammenleben zu geben. Es ist für den Staat nicht legitim, sich darin einzumischen, nach welcher Ordnung und welchen Regeln Bürger auf freiwilliger Basis Gemeinschaften bilden. (T2): Eine solche Diskriminierung ist ein Ausdruck der Religionsfreiheit bzw. abgedeckt durch dieses Grundrecht. Eine staatliche Einmischung wäre eine empfindliche Verletzung oder Einschränkung der freien Religionsausübung. Die Katholische Kirche ist deshalb von einem allgemeinen Diskriminierungsverbot ausgenommen. (S1): Eine solche Diskriminierung ist auch innerhalb der Katholischen Kirche nicht legitim. Genauso wie für Mitglieder der Katholischen Kirche und anderer privater oder zivilgesellschaftlicher Vereine Gesetze gelten, die Raub, Mord oder VergewaltiDas Beispiel stammt von Quong, ist aber z. T. von mir modifiziert worden, um klarer herauszustellen, was Konflikte, die in Relevanzuneinigkeiten gründen, von Konflikten unterscheidet, die in Gewichtungsuneinigkeiten ihren Ursprung haben, vgl. ibid., 204–211.
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gung verbieten, gilt für diese auch das Nicht-Diskriminierungsverbot. (S2): Ein staatlicher Eingriff in die Katholische Kirche zur Durchsetzung eines Diskriminierungsverbots stellt keine Verletzung der Religionsfreiheit dar. Das Recht auf Religionsfreiheit schützt nicht generell vor staatlichen Eingriffen, insbesondere dann nicht, wenn die Ausübung einer Religion die Verletzung anderer fundamentaler Grundrechte impliziert (z. B. freie Berufswahl) oder Grundwerte wie »Gleichheit« negiert. Dieser Fall ist für Quong ein Beispiel für einen Konflikt, der in einer Gewichtungsuneinigkeit gründet, und er kann uns als ein Beispiel dienen, das illustriert, was es heißt – im Sinne einer schwachen Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung –, gemeinsame evaluative Standards zu haben und dennoch nicht dieselben Gründe zu teilen. Die Gründe (T1) und (T2) sind für Sara zugänglich. Tony hält das Verbot des Frauenpriestertums innerhalb der Katholischen Kirche für öffentlich rechtfertigbar aus Gründen der Freiheit bzw. im Rekurs auf das Grundrecht der freien Religionsausübung. »Freiheit« und »Grundrechte« sind für Sarah evaluative Standards, die sie mit Tony als Liberale teilt. Sie kann also von gemeinsamen evaluativen Standards her beurteilen, dass für Tony (T1) und (T2) Gründe darstellen, die eine Diskriminierung innerhalb der Katholischen Kirche rechtfertigen. Ebenso sind die Gründe (S1) und (S2) für Tony zugänglich, da er als Liberaler mit Sara die evaluativen Standards »Gleichheit« und »Grundrecht auf freie Berufswahl« teilt. Dennoch ist es möglich, dass (T1) und (T2) Gründe sind, die Sara nicht teilt und (S1) und (S2) Gründe, die Tony nicht teilt. Dies ist möglich, weil Sara und Tony aufgrund der Bürden der Urteilskraft z. B. jeweils andere – vernünftige – Interpretationen der Begriffe »Gleichheit« und »Religionsfreiheit« haben können und sie wechselseitig bestreiten können, dass hier Menschen in nicht legitimer Weise ungleich behandelt werden oder eine Verletzung der Religionsfreiheit vorliegt. Damit möchte ich zur letzten und restriktivsten Theorie über rechtfertigende bzw. öffentliche Gründe kommen, die im Hintergrund einer starken Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung steht. Im Gegensatz zu einer schwachen Konsenskonzeption verlangen Befürworter der stärkeren Variante, dass nur Gründe als »öffentliche« bzw. rechtfertigende Gründe für die öffentliche Rechtfertigung einer politischen Zwangsmaßnahme ZM in Frage kommen, die von 382
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allen Mitgliedern der Öffentlichkeit P geteilt werden. Es reicht also nicht aus, dass der Grund, den eine Person X vorbringt, allen Mitgliedern von P als ein Grund zugänglich ist, der ZM aus der Perspektive von X gemäß gemeinsamen evaluativen Standards rechtfertigt. Öffentliche Gründe müssen die epistemische Eigenschaft der »Teilbarkeit« besitzen. Der Grund G, den eine Person X für die Rechtfertigung einer staatlichen Zwangsmaßnahme ZM vorbringt, ist nur dann »teilbar«, wenn die Mitglieder von P sich darin einig sind, dass Gx gemäß ihren gemeinsamen evaluativen Standards für jedes Mitglied von P einen Grund darstellt, der ZM rechtfertigt. Das Restriktionsprinzip einer starken Konzeption öffentlicher Rechtfertigung lässt sich demnach wie folgt formulieren 20: Ein Grund G einer Person X ist genau dann ein öffentlicher Grund, d. h. ein Grund, der eine politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigen kann, wenn Gx von allen Mitgliedern der Öffentlichkeit P geteilt wird, d. h., wenn alle Mitglieder von P Gx unter Bezugnahme auf gemeinsame evaluative Standards als einen Grund für alle Mitglieder von P anerkennen können, der ZM rechtfertigt. Ich möchte den bisherigen Gedankengang dieses Kapitels noch einmal zusammenfassen: In einem ersten Schritt habe ich nachgewiesen, dass sich ein allgemeines PÖR aus zentralen liberalen commitments ableitet (siehe 7.1.1). Ein commitment zu PÖR ist somit eine notwendige Bedingung für Vertreter einer liberalen Politischen Philosophie und eint public reason liberals. Zweitens wies ich aber auf, dass es einen Dissens darüber gibt, wie Bedingung (2) von PÖR zu interpretieren ist und sich das Lager der public reason liberals in Verteidiger einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung und einer Konvergenzkonzeption teilt (siehe 7.1.2.1). In einem dritten Schritt habe ich – vor allem im Rückgriff auf die Arbeiten von Vallier – dafür argumentiert, dass die unterschiedlichen Interpretationen von PÖR bzw. dessen zweiter Bedingung ihren Ursprung in drei unterschiedlichen Theorien rechtfertigender bzw. öffentlicher Gründe haben, die an öffentliche Gründe unterschiedliche epistemische Anforderungen stellen (siehe 7.1.2.2). Konvergenztheoretiker verlangen von öffentIch formuliere hier wiederum in Anlehnung an Vallier, Liberal Politics and Public Faith, 241.
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lichen Gründen lediglich, dass sie für die Öffentlichkeit P intelligibel sind, also für Mitglieder von P verständlich ist, warum der entsprechende Grund gemäß den evaluativen Standards der Person, der ihn vorbringt, ein Grund ist, der die fragliche Zwangsmaßnahme rechtfertigt. Gründe müssen weder geteilt sein, noch bedarf es gemeinsamer evaluativer Standards, nach denen diese Gründe als rechtfertigende Gründe für eine Zwangsmaßnahme ZM anerkannt werden können. Vertreter einer schwachen Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung lehnen gemeinsam mit Konvergenztheoretikern ab, dass nur geteilte Gründe auch öffentliche Gründe sein können, aber stimmen mit Befürwortern einer starken Konsenskonzeption darin überein, dass nur diejenigen Gründe öffentliche Gründe sein können, die der Öffentlichkeit »zugänglich« sind, d. h., die also gemäß gemeinsamen evaluativen Standards als Gründe anerkannt werden können, die ZM rechtfertigen können. Eine starke Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung hat schließlich die restriktivste Theorie öffentlicher Gründe im Hintergrund. Gemäß ihr müssen öffentliche Gründe nicht nur »intelligibel« und »zugänglich« sein, sondern darüber hinaus auch »teilbar«. Gründe müssen nicht nur gemäß gemeinsamen evaluativen Standards als Gründe anerkannt werden können, die ZM rechtfertigen können, sondern es wird darüber hinaus verlangt, dass jedes Mitglied von P diese Gründe auch wirklich hat. Nur Gründe, von denen nachgewiesen werden kann, dass sie jedes Mitglied von P besitzt, können Gründe sein, die ZM öffentlich rechtfertigen können.
7.2 Lösung des Problems der öffentlichen Rechtfertigung 7.2.1 Der Lösungsvorschlag Nachdem ich in einem ersten Schritt den Unterschied zwischen einer Konvergenz- und einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung kenntlich gemacht habe, werde ich nun in einem zweiten Schritt demonstrieren, dass das durch Quong aufgeworfene Problem, nämlich der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt mittels kontroverser perfektionistischer Argumente, gelöst werden kann, wenn man eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung zu Grunde legt. Quongs Argumentation funktioniert nur, weil er eine schwache Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung ver384
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tritt. Übernimmt man hingegen eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung, so kann man seinen Versuch zurückweisen, den Asymmetrievorwurf zu entkräften. Ich werde nun so vorgehen, dass ich diesen Gedankengang zunächst skizziere, um ihn dann begrifflich im Hinblick auf die jeweils unterschiedlichen Theorien öffentlicher bzw. rechtfertigender Gründe zu präzisieren, die ich im vorigen Abschnitt (siehe 7.1.2.2) vorgestellt habe. Nun also zu einer ersten Fassung des Arguments, von dem ich mir verspreche, Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs widerlegen zu können, um so das Problem der öffentlichen Rechtfertigung zu lösen. Wie ich oben dargelegt habe (siehe 3.1), ist für Quongs Anti-Perfektionistischen Liberalismus entscheidend, dass er folgende Frage beantworten kann: Warum können Argumente, die mit einem Rekurs auf kontroverse Gerechtigkeitskonzeptionen operieren, den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich rechtfertigen, Argumente, die sich auf kontroverse Konzeptionen eines guten Lebens beziehen, hingegen nicht? Was rechtfertigt eine solche asymmetrische Behandlung von Argumenten bzw. Gründen? Die von mir rekonstruierte Antwort Quongs (siehe 3.1.2) lautet, dass eine solche asymmetrische Behandlung gerechtfertigt ist, weil ein commitment zu einem Prinzip öffentlicher Rechtfertigung – was sich wiederum aus einem commitment zu liberalen Grundüberzeugungen ableitet – impliziert, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt denjenigen gegenüber, in deren Freiheitsbereich eingegriffen wird, mit Überlegungen gerechtfertigt werden muss, von denen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie sie als gewichtige Gründe anerkennen können, die eine solche Freiheitseinschränkung rechtfertigen. Diesem Anspruch können nun Argumente – so Quong –, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was gerecht ist, genügen, Argumente hingegen, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, nicht. Warum? Weil die Bürden der Urteilskraft bzw. das Faktum eines vernünftigen Pluralismus im Falle der Frage, was ein gutes Leben ist und ausmacht, zum Verlust eines gemeinsamen Rechtfertigungsrahmens führt, im Falle der Frage, was gerecht ist, aber nicht. Anders formuliert: Im Falle von Fragen über das gute Leben führen die Bürden der Urteilskraft zu einem Verlust gemeinsamer evaluativer Standards, anhand derer bestimmt werden könnte, von welchen Überlegungen man vernünftigerweise erwarten kann, dass der andere sie als Gründe anerkennt, während im Falle von Gerechtigkeitsfragen gemeinsame evaluative Standards Perfektionistischer Liberalismus
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weiterhin vorhanden sind. Deshalb sind vernünftige Uneinigkeiten über Gerechtigkeitsfragen (fast immer) unproblematisch, vernünftige Uneinigkeiten über Fragen des guten Lebens hingegen (nahezu immer) nicht. Quongs Terminologie aufgreifend: Gerechtigkeitskontroversen sind unproblematisch, weil sie (nahezu immer) in Gewichtungsuneinigkeiten gründen, während Kontroversen über Fragen des guten Lebens (nahezu immer) auf Relevanzuneinigkeiten zurückzuführen sind. Mein Hauptkritikpunkt an dieser Entkräftung des Asymmetrievorwurfs durch Quong lautet nun, dass sie nur funktioniert, wenn man Quong darin zustimmt, dass eine schwache Konsenskonzeption die beste Interpretation des PÖR darstellt und eine dementsprechende Theorie öffentlicher bzw. rechtfertigender Gründe übernimmt. Ich halte aber weder eine Konsenskonzeption für die beste Interpretation von PÖR, noch überzeugt mich eine Theorie öffentlicher Gründe, die nur Gründe als mögliche öffentliche Gründe zulässt, die die epistemische Eigenschaft der »Zugänglichkeit« besitzen. Diese beiden Überzeugungen werde ich später noch begründen, möchte aber zunächst demonstrieren, warum Quongs Argumentation nicht funktioniert, wenn man eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung favorisiert. Quong muss wie folgt argumentieren: (1) Aus den zentralen liberalen commitments, dass Menschen als Freie und Gleiche zu behandeln sind, dass das Faktum eines vernünftigen Pluralismus gegeben ist und dass eine Gesellschaft unter diesen Bedingungen nur stabil sein kann, wenn sie ein faires System sozialer Kooperation darstellt, folgt ein commitment zum Prinzip der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt PÖR. (2) PÖR besagt, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur legitim ist, wenn er öffentlich gerechtfertigt ist. Eine staatliche bzw. politische Zwangsmaßnahme ZM ist genau dann öffentlich gerechtfertigt, wenn gilt: (a) Jedes Mitglied der Öffentlichkeit P (b) Hat einen gewichtigen Grund G, ZM zu befürworten (3) Aus den Bedingungen (2a) und (2b) folgt notwendigerweise ein schwaches Restriktionsprinzip SR, demgemäß als öffentliche Gründe nur Gründe in Frage kommen, die die epistemische Eigenschaft der »Zugänglichkeit« besitzen.
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(4) SR lautet: Ein Grund G einer Person X ist genau dann ein öffentlicher Grund, d. h. ein Grund, der eine politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigen kann, wenn Gx allen Mitgliedern der Öffentlichkeit P zugänglich ist, d. h., wenn alle Mitglieder von P Gx unter Bezugnahme auf gemeinsame evaluative Standards als einen Grund für X anerkennen können, der ZM rechtfertigt. (5) Die Bürden der Urteilskraft führen im Falle von Fragen des guten Lebens bei den Mitgliedern der Öffentlichkeit P zu einem Verlust eines gemeinsamen Rechtfertigungsrahmens bzw. zum Verlust gemeinsamer evaluativer Standards, bei Gerechtigkeitsfragen hingegen nicht. (6) Aus (4) und (5) folgt, dass eine asymmetrische Behandlung von Gründen, die sich aus kontroversen Konzeptionen eines guten Lebens ableiten, und Gründen, die die Akzeptanz kontroverser Gerechtigkeitskonzeptionen voraussetzen, gerechtfertigt ist, weil erstgenannte (fast immer) die epistemische Eigenschaft der »Zugänglichkeit« nicht besitzen, letztgenannte aber (fast immer) schon. Anders formuliert: Erstgenannte kommen gemäß SR nicht als »öffentliche« Gründe in Frage, letztgenannte sehr wohl. (7) Die These Perfektionistischer Liberaler, dass es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt wird, ist deshalb abzulehnen, weil sie im Widerspruch zu PÖR steht. Diese Ablehnung wiederum impliziert nicht, dass es nicht möglich ist, eine politische Zwangsmaßnahme mit Argumenten zu rechtfertigen, die von kontroversen Gerechtigkeitskonzeptionen abhängen. Eine solche Asymmetrie ist gerechtfertigt, weil derartige Argumente die Eigenschaft besitzen können »zugänglich« zu sein, Argumente, die mit kontroversen Prämissen über Fragen des guten Lebens operieren, hingegen – aufgrund der Bürden der Urteilskraft – nicht. Favorisiert man eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung, so kann man die Schritte (1) und (2) ohne Probleme befürworten. Konvergenztheoretiker halten aber Schritt (3) in der obigen Argumentationskette für falsch. Was (3) aus ihrer Sicht falsch macht, Perfektionistischer Liberalismus
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ist das Wörtchen »notwendigerweise«. Schritt (3) folgt nicht »notwendigerweise« aus (2), sondern nur dann, wenn man zusätzlich eine kontroverse Theorie öffentlicher Gründe übernimmt, wonach die Menge »öffentlicher« Gründe auf Gründe beschränkt ist, die die epistemische Eigenschaft der »Zugänglichkeit« besitzen. Lehnt man diese Interpretation von PÖR bzw. diese Zusatzbedingung für PÖR und das daraus folgende Restriktionsprinzip SR ab, dann bricht auch die darauf aufbauende Argumentationskette von (4) bis (7) zusammen, was bedeutet, dass die von Quong anvisierte Entkräftung des Asymmetrievorwurfs nicht gelingt. Bevor ich meine Gründe für die Behauptung vorlege, dass (3) nicht notwendigerweise aus (2) folgt und die im Hintergrund von Quongs schwacher Konzeption öffentlicher Rechtfertigung stehende Theorie öffentlicher Gründe anderen Theorien unterlegen ist, möchte ich zunächst zeigen, dass im Rückgriff auf eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung der Asymmetrievorwurf Perfektionistischer Liberaler gegen Quongs Entkräftungsversuch verteidigt werden kann. Akzeptiert werden die Prämissen (1), (2) und (5) aus der oben dargestellten Rekonstruktion von Quongs Versuch, den Asymmetrievorwurf zu entkräften. Modifiziert werden die Schritte (3) und (4), was zu den Konklusionen (6)’ und (7)’ führt, die eine Widerlegung von Quongs Behauptung darstellen, dass sich eine asymmetrische Behandlung von Argumenten, die kontroverse Annahmen darüber verwenden, was gerecht ist, und Argumenten, die von kontroversen Prämissen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht, rechtfertigen lässt. Die Argumentation sieht wie folgt aus: (3)’ Prämisse (2) – also PÖR – kann im Sinne einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung interpretiert werden. Dies bedeutet, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt dann legitim ist, wenn jedem Mitglied von P ein gewichtiger Grund genannt ist, warum er einem damit verbundenen Eingriff in seine Freiheit zustimmen sollte. Aus den Bedingungen (2a) und (2b) folgt demnach nicht das Restriktionsprinzip SR, sondern vielmehr RP, demgemäß als öffentliche Gründe nur Gründe in Frage kommen, die die epistemische Eigenschaft der »Intelligibilität« besitzen. (4)’ RP lautet: Ein Grund G einer Person X ist genau dann ein öffentlicher Grund, d. h. ein Grund, der eine politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigen kann, wenn Gx für alle Mitglieder der Öffentlichkeit P intelligibel ist, d. h. als ein Grund verständ388
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lich ist, der ZM aus der epistemischen Perspektive von X und ihren evaluativen Standards rechtfertigt. (6)’ Aus (3)’ und (4)’ folgt, dass eine asymmetrische Behandlung von Gründen, die sich aus kontroversen Konzeptionen eines guten Lebens ableiten, und Gründen, die die Akzeptanz kontroverser Gerechtigkeitskonzeptionen voraussetzen, nicht gerechtfertigt ist, selbst wenn (5) wahr ist, es also wahr ist, dass die Bürden der Urteilskraft im Falle von Fragen des guten Lebens bei den Mitgliedern der Öffentlichkeit P zu einem Verlust eines gemeinsamen Rechtfertigungsrahmens bzw. zum Verlust gemeinsamer evaluativer Standards führen, bei Gerechtigkeitsfragen hingegen nicht. Eine asymmetrische Behandlung beider Mengen von Argumenten bzw. Gründen ist nicht gerechtfertigt, weil es gemäß (4)’ für eine Beurteilung darüber, ob ein Grund G zur Menge der öffentlichen Gründe gehören kann, ausreicht festzustellen, ob dieser Grund für alle Mitgliedern von P »intelligibel« ist. Argumente, die mit kontroversen Annahmen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, können aber genauso wie Argumente, die von kontroversen Prämissen darüber abhängen, was gerecht ist, die epistemische Eigenschaft der Intelligibilität besitzen. (7)’ Die These Perfektionistischer Liberaler, dass es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt wird, steht deshalb nicht im Widerspruch zu PÖR. Der Asymmetrievorwurf bleibt deshalb gültig und die Beweislast liegt bei denjenigen, die kontroverse perfektionistische Argumente aus prinzipiellen Erwägungen aus der Menge öffentlicher Gründe ausschließen wollen, also aus der Menge von Gründen, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen bzw. legitimieren können. Der entscheidende Schachzug, um Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurf zu widerlegen, besteht also darin, mit einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung zu bestreiten, dass es so etwas wie gemeinsame evaluative Standards braucht, um beurteilen zu können, welche Gründe als öffentliche Gründe zulässig sind. Damit ein Grund zur Menge öffentlicher Gründe gehört, also zur Menge von Gründen, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen können, muss er nicht die epistemische Eigenschaft der Perfektionistischer Liberalismus
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»Zugänglichkeit« besitzen, d. h. er muss nicht gemäß gemeinsamen evaluativen Standards der Mitglieder von P als ein Grund anerkannt werden können, der eine politische Zwangsmaßnahme rechtfertigt, sondern es reicht aus, dass für die Mitglieder von P verständlich ist, dass es sich um einen Grund handelt, der aus der epistemischen Perspektive und gemäß den evaluativen Standards desjenigen, der ihn vorbringt, die entsprechende Maßnahme rechtfertigt. Eine asymmetrische Behandlung von Argumenten, die sich auf kontroverse Gerechtigkeitskonzeptionen beziehen, und Argumenten, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, ist gemäß meinem Lösungsvorschlag nicht gerechtfertigt, weil es möglich sein kann, dass eine politische Zwangsmaßnahme ZM durch eine Konvergenz von unterschiedlichen Gründen öffentlich gerechtfertigt werden kann, die von den Mitgliedern der Öffentlichkeit P nicht nur nicht geteilt werden, sondern die auch nicht gemäß gemeinsamen evaluativen Standards gegenseitig als Gründe anerkannt werden können. Nach dieser ersten Skizzierung meines Lösungsvorschlags für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung, der darin besteht, mittels einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs zu widerlegen, möchte ich diesen Gedankengang noch einmal vertiefen bzw. begrifflich präzisieren. Diese Präzisierung halte ich zum einen für erforderlich, um möglichen Missverständnissen vorzugreifen, und zum anderen wird sie es mir erleichtern, im nächsten Unterabschnitt zu erklären, worin sich mein Lösungsvorschlag für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung von denen von Wall, Eberle und Sher unterscheidet und warum ich ihn als diesen überlegen betrachte (siehe 7.2.2). Wenn Quongs Angriff auf den Asymmetrievorwurf Erfolg haben will, so muss Quong klar zwischen zwei gesellschaftlichen Szenarien unterscheiden können. Um es möglichst einfach zu machen, nehme ich an, dass es sich hier um Szenarien handelt, die in einer Gesellschaft bzw. Öffentlichkeit spielen, die jeweils nur aus drei Personen besteht, von denen alle »Liberale« sind, d. h., die die commitments zu den Werten Freiheit, Gleichheit und einem Gesellschaftsideal der fairen sozialen Kooperation unter den Bedingungen des Faktums eines vernünftigen Pluralismus teilen. Das erste Szenario ergibt sich aus folgender Konstellation zwischen Bürgern: (1) Bürger A hat eine Konzeption eines guten Lebens LA, die kontrovers ist, weil sie von den Bürgern B und C nicht geteilt 390
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und sogar abgelehnt wird. Gemäß den evaluativen Standards von LA (ESA) stellt Überlegung (α) einen gewichtigen Grund GA dar, der die staatliche Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. (2) Bürger B hat eine Konzeption eines guten Lebens LB, die kontrovers ist, weil sie von den Bürgern A und C nicht geteilt und sogar abgelehnt wird. Gemäß den evaluativen Standards von LB (ESB) stellt Überlegung (β) einen gewichtigen Grund GB dar, der die staatliche Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. (3) Bürger C hat eine Konzeption eines guten Lebens LC, die kontrovers ist, weil sie von den Bürgern A und B nicht geteilt und sogar abgelehnt wird. Gemäß den evaluativen Standards von LC (ESC) stellt Überlegung (δ) einen gewichtigen Grund GC dar, der die staatliche Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. Aus diesem Szenario folgt, was Quong eine »Relevanzuneinigkeit« nennt, die so beschrieben werden kann: (4) Aufgrund der Kontroversalität von LA, LB und LC sind auch die sich daraus ableitenden evaluativen Standards ESA, ESB und ESC kontrovers, d. h. es gilt: (a) Überlegung (α) kann gemäß den evaluativen Standards ESB und ESC von den Bürgern B und C nicht als ein Grund G anerkannt werden, der ZM rechtfertigt. (b) Überlegung (β) kann gemäß den evaluativen Standards ESA und ESC von den Bürgern A und C nicht als ein Grund G anerkannt werden, der ZM rechtfertigt. (c) Überlegung (δ) kann gemäß den evaluativen Standards ESA und ESB von den Bürgern A und B nicht als ein Grund G anerkannt werden, der ZM rechtfertigt. Da Quong PÖR im Sinne einer schwachen Konsenskonzeption interpretiert und damit die dieser zugrunde liegende Theorie öffentlicher bzw. rechtfertigender Gründe übernimmt, gilt folgendes Restriktionsprinzip: (5) Ein Grund G einer Person X ist genau dann ein öffentlicher Grund, d. h. ein Grund, der eine politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigen kann, wenn Gx allen Mitgliedern der Öffentlichkeit P zugänglich ist, d. h., wenn alle Mitglieder von P Gx unter Bezugnahme auf gemeinsame evaluative Standards als einen Grund für X anerkennen können, der ZM rechtfertigt.
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Aus (4) und (5) folgt aber: (6) ZM kann im Szenario »Relevanzuneinigkeit« nicht durch die Gründe GA, GB und GC öffentlich gerechtfertigt werden, weil diese nicht zur Menge zulässiger Gründe gehören. Sie gehören nicht zu dieser Menge, weil es an gemeinsamen evaluativen Standards mangelt, mittels derer A, B und C jeweils wechselseitig die Überlegungen (α), (β) und (δ) als Gründe anerkennen können, die ZM rechtfertigen. Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs basiert nun auf einem Vergleich des Szenarios »Relevanzuneinigkeit« mit einem Szenario, was sich durch folgende Konstellation ergibt: (1)’ Bürger A hat eine Gerechtigkeitskonzeption GRA, die kontrovers ist, weil sie von den Bürgern B und C nicht geteilt und sogar abgelehnt wird. Gemäß den evaluativen Standards von GRA (ESA)’ stellt Überlegung (α)’ einen gewichtigen Grund GA’ dar, der die staatliche Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. (2)’ Bürger B hat eine Gerechtigkeitskonzeption GRB, die kontrovers ist, weil sie von den Bürgern A und C nicht geteilt und sogar abgelehnt wird. Gemäß den evaluativen Standards von GRB (ESB)’ stellt Überlegung (β)’ einen gewichtigen Grund GB’ dar, der die staatliche Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. (3)’ Bürger C hat eine Gerechtigkeitskonzeption GRC, die kontrovers ist, weil sie von Bürgern den A und B nicht geteilt und sogar abgelehnt wird. Gemäß den evaluativen Standards von GRC (ESC)’ stellt Überlegung (δ)’ einen gewichtigen Grund GC’ dar, der die staatliche Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. Da laut Quong die Bürden der Urteilskraft im Falle von Gerechtigkeitsfragen nicht zu einem Verlust eines gemeinsamen Rechtfertigungsrahmens bzw. gemeinsamer evaluativer Standards führen, sind die evaluativen Standards der Bürger A, B und C identisch. Aus diesem Szenario folgt insofern, was Quong »Gewichtungsuneinigkeit« nennt und folgendermaßen beschrieben werden kann: (4)’ Die Kontroversalität von GRA, GRB und GRC führt nicht dazu, dass auch die sich daraus ableitenden evaluativen Standards ESA’, ESB’ und ESC’ kontrovers sind, sondern nur dazu, dass sich A, B und C entweder darüber uneinig sein können, ob es hier zutrifft, dass die Überlegung (α)’ oder (β)’ oder (δ)’ der Fall ist, oder aber welches Gewicht der entsprechenden Über392
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legung und den sich daraus ergebenden Gründen GA’, GB’ oder GC’ zukommen soll. Deshalb gilt: (a)’ Überlegung (α)’ kann gemäß den evaluativen Standards ESB’ und ESC’ von den Bürgern B und C als ein Grund G anerkannt werden, der ZM rechtfertigt, auch wenn sich A, B und C darüber uneinig sein können, ob Überlegung (α)’ zutrifft oder welches Gewicht GA’ für die Rechtfertigung von ZM zukommt. (b)’ Überlegung (β)’ kann gemäß den evaluativen Standards ESA’ und ESC’ von den Bürgern A und C als ein Grund G anerkannt werden, der ZM rechtfertigt, auch wenn sich A, B und C darüber uneinig sein können, ob Überlegung (β)’ zutrifft oder welches Gewicht GB’ für die Rechtfertigung von ZM zukommt. (c)’ Überlegung (δ)’ kann gemäß den evaluativen Standards ESA’ und ESB’ von den Bürgern A und B als ein Grund G anerkannt werden, der ZM rechtfertigt, auch wenn sich A, B und C darüber uneinig sein können, ob Überlegung (δ)’ zutrifft oder welches Gewicht GC’ für die Rechtfertigung von ZM zukommt. Wiederum soll das Restriktionsprinzip gelten, welches sich aus Quongs schwacher Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung ableitet: (5) Ein Grund G einer Person X ist genau dann ein öffentlicher Grund, d. h. ein Grund, der eine politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigen kann, wenn Gx allen Mitgliedern der Öffentlichkeit P zugänglich ist, d. h., wenn alle Mitglieder von P Gx unter Bezugnahme auf gemeinsame evaluative Standards als einen Grund für X anerkennen können, der ZM rechtfertigt. Aus (4)’ und (5) ergibt sich nun aber ein fundamental anderes Ergebnis als aus (4) und (5): (6)’ ZM kann im Szenario »Gewichtungsuneinigkeit« durch die Gründe GA’, GB’ und GC’ öffentlich gerechtfertigt werden, weil diese zur Menge zulässiger Gründe gehören. Sie gehören zu dieser Menge, weil es gemeinsame evaluative Standards gibt, mittels derer A, B und C jeweils wechselseitig die Überlegungen (α)’, (β)’ und (δ)’ als Gründe anerkennen können, die ZM rechtfertigen, auch wenn sie sich – aufgrund der Bürden der Urteilskraft – darüber uneinig sein können, ob die Überlegungen (α)’, (β)’ und (δ)’ zutreffen und welches Gewicht den sich daraus ab-
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leitenden Gründen GA’, GB’ und GC’ in einer öffentlichen Rechtfertigung von ZM zukommt. Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs beruht auf einer derartigen oder ähnlichen Analyse. Eine asymmetrische Behandlung von Argumenten, die mit kontroversen Prämissen darüber arbeiten, was ein gutes Leben ist und ausmacht, und Argumenten, die von kontroversen Annahmen darüber abhängen, was gerecht ist, ist gerechtfertigt, weil – wie obige Analyse zeigt – hier zwei unterschiedliche Szenarien vorliegen. Im Szenario »Relevanzuneinigkeit« handelt es sich bei den Gründen GA, GB und GC um Gründe, die nicht zur Menge öffentlicher Gründe gehören, im Falle des Szenarios »Gewichtungsuneinigkeit« hingegen handelt es sich bei den Gründen GA’, GB’ und GC’ um öffentliche Gründe – also Gründe, die ZM rechtfertigen können –, auch wenn es möglich ist, dass diese Gründe von den Mitgliedern der Öffentlichkeit P nicht geteilt werden. Mein Lösungsvorschlag, den ich weiter oben schon grob skizziert habe, besteht nun in einem Angriff auf Prämisse (5) von Quongs Versuch, den Asymmetrievorwurf zu entkräften. Vertritt man nämlich eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung und übernimmt deren Theorie öffentlicher bzw. rechtfertigender Gründe, dann gilt nicht das von Quong verwendete Restriktionsprinzip, sondern folgendes: (5)’ Ein Grund G einer Person X ist genau dann ein öffentlicher Grund, d. h. ein Grund, der eine politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigen kann, wenn Gx für alle Mitglieder der Öffentlichkeit P intelligibel ist, d. h. als ein Grund verständlich ist, der aus der epistemischen Perspektive von X und ihren evaluativen Standards ZM rechtfertigt. Ersetzt man nun (5) durch (5)’, dann ergibt sich aber ein anderes Ergebnis für den Vergleich zwischen den Szenarien »Relevanzuneinigkeit« und »Gewichtungsuneinigkeit«. Kombiniert man (4) mit (5)’ dann ergibt sich: (7) ZM kann im Szenario »Relevanzuneinigkeit« durch die Gründe GA, GB und GC öffentlich gerechtfertigt werden, weil diese zur Menge zulässiger Gründe gehören können. Sie können zu dieser Menge gehören, weil es nicht erforderlich ist, dass sie den Mitgliedern der Öffentlichkeit P – also hier A, B und C – wechselseitig als Gründe zugänglich sind, also nicht erforderlich 394
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ist, dass A, B und C die Überlegungen (α), (β) und (δ) gemäß gemeinsamer evaluativer Standards als Gründe anerkennen können, die ZM rechtfertigen. ZM ist gemäß (5)’ öffentlich gerechtfertigt, wenn folgende drei Bedingungen im Szenario »Relevanzuneinigkeit« erfüllt sind: (a) Es ist für A intelligibel, dass (β) gemäß ESB für B einen gewichtigen Grund GB darstellt, der ZM rechtfertigt, und dass (δ) gemäß ESC für C einen gewichtigen Grund GC darstellt, der ZM rechtfertigt. (b) Es ist für B intelligibel, dass (α) gemäß ESA für A einen gewichtigen Grund GA darstellt, der ZM rechtfertigt, und dass (δ) gemäß ESC für C einen gewichtigen Grund GC darstellt, der ZM rechtfertigt. (5c) Es ist für C intelligibel, dass (α) gemäß ESA für A einen gewichtigen Grund GA darstellt, der ZM rechtfertigt, und dass (β) gemäß ESB für B einen gewichtigen Grund GB darstellt, der ZM rechtfertigt. Da es plausibel ist anzunehmen, dass Gründe nur dann die epistemische Eigenschaft »zugänglich« zu sein besitzen können, wenn sie auch »intelligibel« sind, folgt daraus, dass auch die Kombination von (4)’ mit (5)’ zu dem Ergebnis (7)’ führt, dass die Gründe GA’, GB’ und GC’ zur Menge öffentlicher Gründe gehören. Dies ist der Fall, weil es sich bei Gründen, denen die epistemische Eigenschaft der »Zugänglichkeit« zukommt, um eine Teilmenge von Gründen handelt, die die Eigenschaft der »Intelligibilität« besitzen. Das Szenario »Gewichtungsuneinigkeit« ist also ein unproblematischer Sonderfall des Szenarios »Relevanzuneinigkeit«. Für meine Argumentation entscheidend ist aber nun das Ergebnis, dass es zwar noch Sinn macht, zwischen beiden Szenarien zu unterscheiden, diese Unterscheidung aber von Quong nicht mehr verwendet werden kann, um den Asymmetrievorwurf zu entkräften. Im Gegenteil: Wenn man mit (5)’ eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung und eine entsprechende Theorie öffentlicher bzw. rechtfertigender Gründe vertritt, dann ist eine asymmetrische Behandlung von Argumenten, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, und Argumenten, die von kontroversen Annahmen darüber ausgehen, was gerecht ist, nicht mehr gerechtfertigt, weil Gründe, die sich aus erstgenannten Argumenten ableiten, auch zur Menge öffentlicher Gründe gePerfektionistischer Liberalismus
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hören können. Perfektionistische Liberale können demnach das durch Quong neu aufgeworfene Problem der öffentlichen Rechtfertigung durch den Rückgriff auf eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung lösen. Es ist somit gezeigt, dass die Position eines Perfektionistischen Liberalismus in sich kohärent ist, weil es möglich ist, ohne Widerspruch an den von Quong aufgeführten zentralen liberalen commitments und einem Prinzip öffentlicher Rechtfertigung festzuhalten und zugleich die zentrale These Perfektionistischer Liberaler zu bejahen, dass es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er ausschließlich mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt wird.
7.2.2 Unterscheidung von anderen Lösungsvorschlägen Bevor ich mich mit möglichen Einwänden gegen den von mir entwickelten Lösungsvorschlag für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung auseinandersetze, möchte ich zunächst deutlich machen, warum und worin genau er sich von den in dieser Arbeit diskutierten Lösungsansätzen von Wall, Eberle und Sher unterscheidet, und warum ich glaube, dass er sich diesen als überlegen erweist. Im Rückgriff auf die im vorigen Unterabschnitt verwendete Terminologie, die ich im Zusammenhang mit der begrifflichen Präzisierung eingeführt hatte, möchte ich hier wiederum von dem möglichst einfachen Modell einer Gesellschaft bzw. Öffentlichkeit ausgehen, die nur aus drei Personen besteht, von denen jeweils gelten soll, dass sie Liberale sind, also die Überzeugungen für wahr halten, dass Menschen als freie und gleiche Personen zu behandeln sind, dass es einen vernünftigen Pluralismus an Vorstellungen von einem guten Leben gibt, sowie dass eine Gesellschaft unter diesen Bedingungen nur stabil sein kann, wenn sie ein faires System sozialer Kooperation darstellt. Ausgehend von diesen Voraussetzungen formuliere ich in einem ersten Schritt das Problem öffentlicher Rechtfertigung. In einem zweiten Schritt stelle ich dann jeweils die Lösungsvorschläge von Wall, Eberle und Sher vor und diskutiere auf dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse dieser Arbeit, warum sie nicht zu überzeugen wissen. In einem dritten und letzten Schritt argumentiere ich schließlich dafür, dass sich der von mir präsentierte Lösungsvorschlag
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nicht nur von den bisher in der Diskussionslandschaft Unterbreiteten unterscheidet, sondern diesen auch vorzuziehen ist. Das Problem der öffentlichen Rechtfertigung ergibt sich in folgendem Szenario, in dem die Öffentlichkeit P aus den Bürgern A, B und C besteht und folgendes gilt: (1) Bürger A hat eine Konzeption eines guten Lebens LA, die kontrovers ist, weil sie von den Bürgern B und C nicht geteilt und sogar abgelehnt wird. Gemäß den evaluativen Standards von LA (ESA) stellt Überlegung (α) einen gewichtigen Grund GA dar, der die staatliche Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. (2) Bürger B hat eine Konzeption eines guten Lebens LB, die kontrovers ist, weil sie von den Bürgern A und C nicht geteilt und sogar abgelehnt wird. Gemäß den evaluativen Standards von LB (ESB) stellt Überlegung (β) einen gewichtigen Grund GB dar, der eine Ablehnung der staatlichen Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. (3) Bürger C hat eine Konzeption eines guten Lebens LC, die kontrovers ist, weil sie von den Bürgern A und B nicht geteilt und sogar abgelehnt wird. Gemäß den evaluativen Standards von LC (ESC) stellt Überlegung (δ) einen gewichtigen Grund GC dar, der die staatliche Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. Ich habe kursiv hervorgehoben, worin sich diese Konstellation von der Vorhergehenden unterscheidet. In diesem Szenario hat Bürger B nicht nur keinen Grund die Zwangsmaßnahme ZM zu befürworten, sondern einen gewichtigen Grund ZM abzulehnen. Da Bürger A, B und C aber per Definition Liberale sind, sind sie auch – wie oben demonstriert (siehe 7.1.1) – zu einem PÖR verpflichtet (4) Eine staatliche bzw. politische Zwangsmaßnahme ZM ist genau dann gerechtfertigt, wenn gilt: (a) Jedes Mitglied der Öffentlichkeit P (b) Hat einen gewichtigen Grund G, ZM zu befürworten Aus (1) bis (4) ergibt sich aber das Problem der öffentlichen Rechtfertigung von ZM, denn es ist der Fall, dass: (5) Das Mitglied B der Öffentlichkeit P hat nicht nur keinen gewichtigen Grund G, ZM zu befürworten, sondern sogar einen gewichtigen Grund, der die Ablehnung von ZM rechtfertigt.
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Daraus folgt: (6) ZM ist in der Öffentlichkeit P nicht öffentlich gerechtfertigt, d. h. der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt ist in diesem Fall nicht legitim. Kann nun ZM unter diesen Voraussetzungen jemals öffentlich gerechtfertigt werden? Diese Frage kann von Perfektionistischen Liberalen nicht prinzipiell verneint werden, denn das würde bedeuten, die These zu negieren, dass es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt wird. Nach der Skizzierung dieser nicht unplausiblem Problemlage, möchte ich nun in einen zweiten Schritt – im Rückgriff auf schon Erarbeitetes – rekapitulieren, welche Lösungsvorschläge Wall, Eberle und Sher unterbreiten, und diskutieren, warum sie nicht zu überzeugen wissen. 7.2.2.1 Unterschied zum einfachen sektiererischen Modell Wie oben schon herausgearbeitet (siehe 4.1.2), besteht Walls Vorschlag zur Lösung des Problems der öffentlichen Rechtfertigung mittels kontroversen perfektionistischen Argumenten in einem Angriff auf das PÖR, also obige Prämisse (4). Gemäß Wall leitet sich nicht PÖR aus den grundlegenden liberalen commitments ab, sondern lediglich PÖR’, das wie folgt formuliert werden kann: (4)’ Eine staatliche bzw. politische Zwangsmaßnahme ZM ist genau dann gerechtfertigt, wenn gilt: (a) Die Mitglieder von P, die ZM befürworten, tun dies aus Gründen, die für alle Mitglieder der Öffentlichkeit P intelligibel sind. (b) ZM ist dann öffentlich gerechtfertigt, wenn ZM von einer Mehrheit von Mitgliedern von P befürwortet wird bzw. sich in einem demokratischen Verfahren eine Mehrheit für ZM findet. Übernimmt man (4)’, dann ist das Problem der öffentlichen Rechtfertigung gelöst, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind. Aus (4a)’ ergibt sich: (4a1)’ Es ist für A intelligibel, dass (δ) gemäß ESC für C einen gewichtigen Grund GC darstellt, der ZM rechtfertigt.
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(4a2)’ Es ist für B intelligibel, dass (α) gemäß ESA für A einen gewichtigen Grund GA darstellt, der ZM rechtfertigt, und dass (δ) gemäß ESC für C einen gewichtigen Grund GC darstellt, der ZM rechtfertigt. (4a3)’ Es ist für C intelligibel, dass (α) gemäß ESA für A einen gewichtigen Grund GA darstellt, der ZM rechtfertigt. Aus (4b)’ ergibt sich die Mehrheitsbedingung, die besagt: (4b4)’ Unter der Voraussetzung, dass die Bedingungen (4a1)’ bis (4a3)’ erfüllt sind, ist ZM gerechtfertigt, wenn A und C sich in einem demokratischen Verfahren für ZM entscheiden. Durch die Modifikation von (4) zu (4)’ folgt aus den Prämissen (1) bis (3) nicht (5) und es gilt: (6)’ ZM ist in der Öffentlichkeit P öffentlich gerechtfertigt, d. h., der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt ist in diesem Fall legitim. Dieser Lösungsvorschlag ähnelt dem von mir entwickelten darin, dass er dieselbe Theorie öffentlicher bzw. rechtfertigender Gründe vertritt. Aufgegeben wird die Vorstellung, dass nur Gründe, die nach gemeinsamen evaluativen Standards als Gründe anerkannt werden können, zur Menge öffentlicher Gründe gehören können. Ein fundamentaler Unterschied besteht allerdings in der Modifikation bzw. Negierung des Prinzips öffentlicher Rechtfertigung, welches Wall durch ein Mehrheitsprinzip ersetzt. Gemäß meinem Lösungsansatz kann ZM nicht als öffentlich gerechtfertigt gelten, weil Bürger B keinen gewichtigen Grund G hat, ZM zu befürworten bzw. sogar einen gewichtigen Grund für die Ablehnung von ZM nennt. Bürger A und C kommen damit aber nicht ihrer Rechtfertigungspflicht gegenüber B nach, die sich aus der grundlegenden Freiheitsvermutung bzw. dem grundlegenden Freiheitsprinzip GF ergeben, welches sich seinerseits aus zentralen liberalen commitments ableitet (siehe 4.1.2.3). Es reicht eben nicht, dass ZM aus der Perspektive von A und C in einem »einfachen« Sinne gerechtfertigt ist. ZM öffentlich zu rechtfertigen impliziert für A und C nicht nur die Pflicht intelligibel zu machen, warum sie ZM befürworten, sondern auch die Pflicht, denjenigen Gründe zu nennen, die durch ZM in ihrem Freiheitsgebrauch eingeschränkt werden und monieren, dass sie keine Gründe haben, ZM zu befürworten. Walls Lösung des Problems der öffentlichen RechtferPerfektionistischer Liberalismus
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tigung ist damit unbefriedigend, weil die dafür erforderliche Modifikation des Prinzips öffentlicher Rechtfertigung – als die Ersetzung von (4) durch (4)’ – im Widerspruch zu der Erkenntnis steht, dass Einschränkungen in den persönlichen Freiheitsgebrauch durch Dritte nur dann nicht den Status dieser Person als frei und gleich verletzen, wenn dieser Person eine Überlegung genannt wird, die sie aus ihrer epistemischen Perspektive als einen Grund anerkennen kann, der diesen Eingriff rechtfertigt 7.2.2.2 Unterschied zum reformulierten sektiererischen Modell Der Lösungsvorschlag von Eberle ist bis auf eine kleine – aber entscheidende – Modifikation identisch mit dem von Wall. Ich habe ihn oben schon indirekt in der Überlegung referiert, ob man die Priorität eines relationalen Rechtfertigungsbegriffs JR über einen einfachen Rechtfertigungsbegriff JS nicht in einem temporalen bzw. konsekutiven Sinne interpretieren könnte, um so den Anforderungen einer öffentlichen Rechtfertigung zu genügen (siehe 4.2.2.2). Eberle lehnt ein grundlegendes Freiheitsprinzip GF, ein PÖR und einen dem zu Grunde liegenden relationalen Rechtfertigungsbegriff nicht prinzipiell ab. Bürger haben die Pflicht, sich darum zu bemühen, Überlegungen für die Rechtfertigung einer politischen bzw. staatlichen Zwangsmaßnahme zu finden und vorzubringen, von denen sie vernünftigerweise erwarten können, dass andere Bürger sie als Gründe für die Rechtfertigung der betreffenden Zwangsmaßnahme akzeptieren können. 21 Mit anderen Worten: Bürger sind verpflichtet, sich ehrlich und ernsthaft um eine öffentliche Rechtfertigung einer politischen Zwangsmaßnahme zu bemühen, also danach zu streben, ihren Mitbürgern Gründe zu nennen, die diese »teilen« können oder die ihnen zumindest »zugänglich« sind. Wenn sie diese Pflicht erfüllt haben und immer noch keine öffentliche Rechtfertigung der betreffenden Zwangsmaßnahme ZM erreicht ist, dann reicht es für die Rechtfertigung von ZM aus, dass ZM mit Gründen gerechtfertigt wird, für die sich eine Mehrheit in der Öffentlichkeit P findet. Eberles Lösungsvorschlag lässt sich also wie folgt rekonstruieren. Er dürfte kein Problem damit haben, die Prämissen (1) bis (3) zu akzeptieren. Im Gegensatz zu Wall akzeptiert er zunächst auch Prämisse (4), also das allgemeine PÖR und den darin implizierten rela21
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Vgl. Eberle, Religious Conviction, 10, 331–333.
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tionalen Rechtfertigungsbegriff. Welche Antwort hat Eberle aber nun für das aus (1) bis (4) folgende Problem der öffentlichen Rechtfertigung?: (5) Das Mitglied B der Öffentlichkeit P hat keinen gewichtigen Grund G, ZM zu befürworten, sondern sogar einen gewichtigen Grund, der die Ablehnung von ZM rechtfertigt. Welchen Vorschlag unterbreitet Eberle, um durch die Kombination von (4) und (5) nicht auf (6) schließen zu müssen, also darauf, dass die staatliche Zwangsmaßnahme ZM in der Öffentlichkeit P nicht öffentlich gerechtfertigt ist und der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt damit in diesem Fall nicht legitim ist? Eberles Lösungsvorschlag besteht in der Unterscheidung eines problematischen Falls von (5) und eines unproblematischen Falls (5)’. Anders formuliert: Aus dem problematischen Fall von (5) folgt (6), während aus dem unproblematischen Fall (5)’ sich (6)’ ergibt und das Problem der öffentlichen Rechtfertigung von ZM gelöst ist. Wie sieht aber nun die Modifikation von (5)’ aus, die dies bewerkstelligen soll? Meiner Ansicht nach lässt sich Eberles Modifikation am besten als Einführung der folgenden Zusatzbedingung ZB für (5) verstehen: ZB: Haben sich A und C gewissenhaft darum bemüht bzw. haben sie gewissenhaft danach gestrebt, B Überlegungen zu nennen, die B aus seiner epistemischen Perspektive als Grund anerkennen kann, der ZM rechtfertigt? 22 Ist die Bedingung ZB erfüllt, liegt der unproblematische Fall (5)’ vor, ist sie nicht erfüllt, dann der problematische Fall (5). Der unproblematische Fall (5)’ lautet dann wie folgt: Das Mitglied B der Öffentlichkeit P hat nicht nur keinen gewichtigen Grund G, ZM zu befürworten, sondern sogar einen gewichtigen Grund, der die Ablehnung von ZM rechtfertigt, aber kann sich gegenüber A und C nicht beschweren, dass diese ihn nicht als freie und gleiche Person behandeln, wenn sie ZM durch Ich vereinfache hier stark. Eberle präzisiert noch detaillierter, was er unter dem Ideal eines »gewissenhaften Bemühen bzw. Strebens« (conscientious engagement) im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt versteht, vgl. ibid., 104–108.
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eine Mehrheitsentscheidung durchsetzen, wenn A und C sich ernsthaft und aufrichtig darum bemüht haben, B Überlegungen zu nennen, die ZM aus der epistemischen Perspektive von B rechtfertigen. 23 Und der problematische Fall (5) lautet entsprechend: Das Mitglied B der Öffentlichkeit P hat nicht nur keinen gewichtigen Grund G, ZM zu befürworten, sondern sogar einen gewichtigen Grund, der die Ablehnung von ZM rechtfertigt und kann sich gegenüber A und C beschweren, dass diese ihn nicht als freie und gleiche Person behandeln, wenn sie ZM durch eine Mehrheitsentscheidung durchsetzen, wenn A und C sich ernsthaft und aufrichtig darum bemüht haben, B Überlegungen zu nennen, die ZM aus der epistemischen Perspektive von B rechtfertigen. 24 Ist Bedingung ZB erfüllt, dann liegt (5)’ vor. Wenn (5)’ vorliegt, dann gilt laut Eberle aber nicht mehr das restriktive Prinzip öffentlicher Rechtfertigung, also Prämisse (4), sondern das weitaus weniger restriktive (4)’, woraus sich dann (6)’ ableiten lässt, dass die politische Zwangsmaßnahme ZM in der Öffentlichkeit P gerechtfertigt und der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt in diesem Fall legitim ist. Der Unterschied zwischen diesem Lösungsvorschlag und dem von Wall liegt also darin, dass Eberle zunächst ein Prinzip öffentlicher Rechtfertigung, einen relationalen Rechtfertigungsbegriff und dementsprechende Rechtfertigungspflichten anerkennt. Darin ähnelt Eberles Lösungsvorschlag dem von mir entwickelten. Er unterscheidet sich fundamental von dem meinigen hinsichtlich der Frage, was aus dem Fall folgt, dass es Bürgern A und C auch nach aufrichtigem und ernsthaften Bemühen nicht gelingt, Bürger B einen gewichtigen Grund zu nennen, der die Zwangsmaßnahme aus dessen epistemischer Perspektive rechtfertigt. Während Eberle dafür hält, dass in diesem Fall von PÖR dispensiert werden und es durch das weniger restriktive PÖR’ ersetzt werden kann, lehne ich eine solche Modifika-
Vgl. ibid., 10, 331–333. »Ernst« und »Aufrichtig« sind zwei der Kriterien, die laut Eberle ein »gewissenhaftes Bemühen« auszeichnen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum es für Konvergenztheoretiker so wichtig ist, den »Unehrlichkeitseinwand« (siehe 7.3.1) zu entkräften.
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tion von PÖR ab. Das aufrichtige und ernsthafte Bemühen von A und C kann nicht davon dispensieren, dass auch B ein Anrecht darauf hat, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt und der damit verbundene Eingriff in seinen Freiheitsgebrauch ihm gegenüber mit Überlegungen gerechtfertigt wird, die er gemäß seiner evaluativen Standards als Gründe anerkennen kann. Mit anderen Worten: Anders als Eberle halte ich es für eine Verletzung des zentralen liberalen commitments, andere als freie und gleiche Personen und einem dementsprechenden Respekt zu behandeln, wenn ich sie zu etwas zwinge, ohne ihnen Überlegungen zu nennen, die sie als Gründe für einen solchen Eingriff in ihren Freiheitsgebrauch anerkennen können. Das Streben bzw. Bemühen von A und C, B solche Gründe zu nennen, kann und sollte von B honoriert werden, aber A und C können nicht vernünftigerweise erwarten, dass B sie dadurch von ihrer Pflicht entbindet, ihm Gründe zu nennen, warum er einem Eingriff in seinen Freiheitsgebrauch zustimmen sollte. ZM ist erst dann öffentlich gerechtfertigt, wenn B einen gewichtigen Grund hat, ZM zuzustimmen bzw. ZM nicht abzulehnen. Eberles Lösungsvorschlag für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung ist trotz seiner intelligenten Modifizierung deshalb aus demselben Grund abzulehnen wie der Lösungsvorschlag von Wall: Er impliziert eine Ablehnung des PÖR, welche – da sich PÖR aus zentralen liberalen commitments ableitet (siehe 7.1.1) – eine dementsprechende Position aus dem Lager von Vertretern einer liberalen Politischen Philosophie herausdefiniert (siehe 4.2.3). Wie ich später im Zusammenhang mit dem sogenannten »Integritätseinwand« noch zeigen werde (siehe 7.4), meinen Eberle und andere Autoren, die gegen eine prinzipielle Ablehnung der Möglichkeit argumentieren, dass religiöse Gründe eine Rolle in der Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt spielen können, dass sie dafür das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung ablehnen müssen. Dies ist meiner Ansicht nach ein Irrtum, der sich darin gründet, dass das Konzept öffentlicher Rechtfertigung mit einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung und dementsprechenden Theorien öffentlicher Gründe identifiziert wird. Wie ich zeigen werde, kann man als Vertreter einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung die These ablehnen, dass Argumente, die mit kontroversen religiösen Prämissen operieren, niemals eine Rolle in der öffentlichen Rechtfertigung politischer Zwangsmaßnahmen spielen dürfen, ohne zugleich ein Prinzip öffentlicher Rechtfertigung negieren zu müssen. Perfektionistischer Liberalismus
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7.2.2.3 Unterschied zum quasi-naturrechtlichen Modell Damit komme ich zur Abgrenzung meines eigenen Lösungsvorschlags gegenüber dem von Sher. Rekonstruiert man diesen entsprechend der von mir erarbeiteten Terminologie und überträgt ihn auf das von mir in diesem Abschnitt entwickelte Szenario, dann ist Shers Lösungsvorschlag in Analogie zur Lösung eines Konsenstheoretikers für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung zu verstehen. Wie ich oben dargelegt habe (siehe 5.1.2), meint Sher, dass das Problem der öffentlichen Rechtfertigung mit dem Problem der Rechtfertigung einer objektiven Theorie eines guten Lebens identisch ist. Hat man dieses gelöst, dann auch jenes. Sher muss also die These vertreten, dass es einen vernünftigen Pluralismus an Vorstellungen von einem guten Leben gibt, die Bürden der Urteilskraft – analog zu Gerechtigkeitsfragen – aber nicht zu einem Verlust eines gemeinsamen Rechtfertigungsrahmens führen. Mit anderen Worten: Auch hinsichtlich Fragen des guten Lebens gibt es gemeinsame evaluative Standards, von denen her bestimmt werden kann, von welchen Überlegungen man vernünftigerweise erwarten kann, dass der andere sie als Gründe akzeptiert. Gründe sind dann »öffentlich«, d. h., sie dürfen dann eine Rolle in der öffentlichen Rechtfertigung einer Zwangsmaßnahme ZM spielen, wenn sie von den Mitgliedern der Öffentlichkeit P gemäß gemeinsamen evaluativen Standards als »Gründe« anerkannt werden können. Wie sieht also Shers Lösungsvorschlag genau aus? Rufen wir uns die Ausgangskonstellation in Erinnerung: (1) Bürger A hat eine Konzeption eines guten Lebens LA, die kontrovers ist, weil sie von den Bürgern B und C nicht geteilt und sogar abgelehnt wird. Gemäß den evaluativen Standards von LA (ESA) stellt Überlegung (α) einen gewichtigen Grund GA dar, der die staatliche Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. (2) Bürger B hat eine Konzeption eines guten Lebens LB, die kontrovers ist, weil sie von den Bürgern A und C nicht geteilt und sogar abgelehnt wird. Gemäß den evaluativen Standards von LB (ESB) stellt Überlegung (β) einen gewichtigen Grund GB dar, der eine Ablehnung der staatlichen Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. (3) Bürger C hat eine Konzeption eines guten Lebens LC, die kontrovers ist, weil sie von den Bürgern A und B nicht geteilt und sogar abgelehnt wird. Gemäß den evaluativen Standards von LC (ESC) stellt Überlegung (δ) einen gewichtigen Grund GC dar, der die staatliche Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. 404
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Anders als Wall und Eberle stellt Sher in seiner Argumentation nicht die Geltung des Prinzips öffentlicher Rechtfertigung an irgendeiner Stelle zur Disposition, sondern führt eine Unterscheidung in Hinsicht auf die Kontroversalität der fraglichen Konzeptionen eines guten Lebens ein. Die Berufung auf eine kontroverse Konzeption eines guten Lebens zur Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ist unproblematisch, wenn es gemeinsame evaluative Standards gibt, gemäß derer die Mitglieder der relevanten Öffentlichkeit P beurteilen können, ob sie eine Überlegung, die ein Mitglied von P zur Rechtfertigung einer politischen Zwangsmaßnahme ZM vorbringt, als einen Grund anerkennen können, der ZM aus der Perspektive dieses Mitglieds rechtfertigt. Entsprechend ist eine Berufung auf eine kontroverse Konzeption eines guten Lebens zur Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt problematisch, wenn es keine gemeinsamen evaluativen Standards gibt, die eine solche Beurteilung erlauben. Damit lassen sich – in Analogie zum Lösungsvorschlag von Anti-Perfektionistischen Liberalen wie Quong für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung bei kontroversen Gerechtigkeitskonzeptionen – zwei Szenarien unterscheiden. Im Falle von kontroversen Konzeptionen eines guten Lebens ist das unproblematische Szenario einer Gewichtungsuneinigkeit GU gegeben, wenn gilt: GU: Die Kontroversalität der Konzeptionen eines guten Lebens LA, LB und LC der Bürger A, B und C führt nicht dazu, dass auch die sich daraus ableitenden evaluativen Standards ESA, ESB und ESC kontrovers sind. In der von mir vorgestellten Konstellation sind ESA, ESB und ESC nicht kontrovers, wenn gilt: (a) Überlegung (α) kann gemäß den evaluativen Standards ESB und ESC von den Bürgern B und C als ein Grund G anerkannt werden, der ZM rechtfertigt. (b) Überlegung (β) kann gemäß den evaluativen Standards ESA und ESC von den Bürgern A und C als ein Grund G anerkannt werden, der die Ablehnung von ZM rechtfertigt. (c) Überlegung (δ) kann gemäß den evaluativen Standards ESA und ESB von den Bürgern A und B als ein Grund G anerkannt werden, der ZM rechtfertigt.
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Das problematische Szenario einer Relevanzuneinigkeit RU ist im Gegensatz dazu gegeben, wenn gilt: RU: Die Kontroversalität der Konzeptionen eines guten Lebens LA, LB und LC der Bürger A, B und C führt dazu, dass auch die sich daraus ableitenden evaluativen Standards ESA, ESB und ESC kontrovers sind. In der vorgestellten Konstellation sind ESA, ESB und ESC kontrovers, wenn gilt: (a) Überlegung (α) kann gemäß den evaluativen Standards ESB und ESC von den Bürgern B und C nicht als ein Grund G anerkannt werden, der ZM rechtfertigt. (b) Überlegung (β) kann gemäß den evaluativen Standards ESA und ESC von den Bürgern A und C nicht als ein Grund G anerkannt werden, der die Ablehnung von ZM rechtfertigt. (c) Überlegung (δ) kann gemäß den evaluativen Standards ESA und ESB von den Bürgern A und B nicht als ein Grund G anerkannt werden, der ZM rechtfertigt. Gewichtungsuneinigkeiten, die in kontroversen Konzeptionen eines guten Lebens gründen, sind aber genauso unproblematisch wie Gewichtungsuneinigkeiten, die aus kontroversen Gerechtigkeitskonzeptionen resultieren. Genau deshalb ist eine asymmetrische Behandlung von Argumenten, die mit kontroversen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, und Argumenten, die von kontroversen Annahmen darüber ausgehen, was gerecht ist, laut Sher ungerechtfertigt. Es muss lediglich jeweils untersucht werden, ob es sich um eine unproblematische Gewichtungsuneinigkeit oder eine problematische Relevanzuneinigkeit handelt. Im obigen Szenario GU kann Bürger B keine legitime Beschwerde gegen eine mögliche Durchsetzung von ZM äußern, weil er – aufgrund gemeinsamer evaluativer Standards – die Überlegungen (α) und (δ) als gewichtige Gründe anerkennen kann, die ZM rechtfertigen. Ihm werden Gründe genannt, die ihm »zugänglich« und deshalb »öffentlich« sind, auch wenn er diese Gründe – aufgrund der Bürden der Urteilskraft – anders gewichtet oder nicht teilt. Shers Lösungsvorschlag funktioniert aber nur, wenn es ihm gelingt zu demonstrieren, dass die Bürden der Urteilskraft im Falle von Fragen des guten Lebens nicht zu einem Verlust eines gemeinsamen Rechtfertigungsrahmens bzw. gemeinsamer evaluativer Standards führt. 406
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Shers Verteidigung einer objektiven Theorie eines guten Lebens zielt darauf ab zu zeigen, dass es diese gemeinsamen evaluativen Standards gibt. Anders formuliert: Ob das Problem der öffentlichen Rechtfertigung gelöst werden kann, hängt gemäß Shers Ausführungen entscheidend davon ab, ob es ihm ohne einen Rekurs auf kontroverse Annahmen oder Prämissen gelingt zu zeigen, dass es in einer Gesellschaft, die durch das Faktum eines vernünftigen Pluralismus gekennzeichnet ist, gemeinsame evaluative Standards für Fragen des guten Lebens gibt. Mein Lösungsvorschlag unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von dem Shers. Ein erster fundamentaler Unterschied besteht darin, dass Sher mit seinem Lösungsversuch im Rahmen des Paradigmas einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung verbleibt, ich es hingegen für eine Lösung des Problems der öffentlichen Rechtfertigung für notwendig erachte, auf eine Konvergenzkonzeption zurückzugreifen. Mit anderen Worten: Sher übernimmt mit der Strategie, zwischen unproblematischen »Gewichtungsuneinigkeiten« und problematischen »Relevanzuneinigkeiten« zu unterscheiden, die Prämisse Quongs, dass öffentliche Gründe nur Gründe sein können, die die epistemische Eigenschaft der »Zugänglichkeit« besitzen, also gemäß gemeinsamen evaluativen Standards als Gründe anerkannt werden können. Damit verpflichtet sich Sher zu einem schwierigen Unterfangen, welches meiner Ansicht nach nicht nötig ist, wenn man mit einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung Quongs Prämisse in Frage stellt, dass das Vorhandensein gemeinsamer evaluativer Standards eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der öffentlichen Rechtfertigung einer politischen bzw. staatlichen Zwangsmaßnahme ist. Daran anknüpfend besteht ein zweiter wesentlicher Unterschied zwischen dem von Sher unterbreiteten Lösungsvorschlag und dem meinigen darin, dass ich zwischen dem Problem der öffentlichen Rechtfertigung und dem Problem der Rechtfertigung des Objektivitätsanspruchs einer objektiven Theorie eines guten Lebens differenziere. Diese Differenzierung halte ich für angebracht, weil es – gemäß meiner obigen Analyse (siehe 5.2.1) – Sher eben nicht gelingt, mit seiner anti-essentialistischen Konzeption eines naturalistischen Realismus eine überzeugende Theorie eines guten Lebens zu präsentieren, die in einer einheitsgebenden und objektiven Weise erklären kann, was den Dingen gemeinsam ist, die wir aus intuitiv plausiblen Listen von objektiven »Werten« oder »Gütern« vorfinden. Ich habe Perfektionistischer Liberalismus
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dafür argumentiert (siehe 5.2.2), dass dieses Scheitern Shers darin begründet ist, dass er sich durch die Identifikation beider Problemstellungen gerade einen Rückgriff auf die Ressourcen verweigern muss, die eine Lösung des Objektivitätsproblems ermöglichen. Er darf nicht auf kontroverse metaphysische bzw. essentialistische Annahmen über die menschliche Natur zurückgreifen, weil er sich dann dem Vorwurf aussetzt, dass die sich daraus ableitenden evaluativen Standards von Bürgern, die diese Vorstellung der menschlichen Natur bzw. die Vorstellung eines Essentialismus vernünftigerweise ablehnen können, nicht geteilt werden, womit er seinen Lösungsvorschlag für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung unterminiert. Drittens hat der von mir favorisierte Lösungsvorschlag für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung auf diesem Hintergrund den Vorteil, dass ich – anders als Sher – nicht gezwungen bin, an der Identifizierung beider Problemstellungen festzuhalten, also die These aufgeben kann, dass das Problem der öffentlichen Rechtfertigung sich nur lösen lässt, wenn es gelingt zu zeigen, dass die Bürden der Urteilskraft hinsichtlich Fragen des guten Lebens nicht zu einem Verlust eines gemeinsamen bzw. geteilten Rechtfertigungsrahmens führen. Dies gab mir die Möglichkeit, für die Lösung des Problems der Rechtfertigung des Objektivitätsanspruchs einer Theorie eines guten Lebens eine plausible – aber kontroverse – essentialistische Vorstellung der menschlichen Natur einzuführen. Von dieser ausgehend habe ich dann zeigen können, dass eine essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus bzw. ein (neo-)aristotelischer Naturalismus in einer einheitsgebenden Weise erklären kann, was in einem objektiven Sinne »gut« bzw. »wertvoll« oder »schlecht« bzw. »schädlich« für Menschen ist, und die Probleme vermeiden oder lösen kann, in die sich Shers Werttheorie verstrickt (siehe 6.3). Durch das Eingeständnis, dass dieser Lösungsvorschlag nur zu dem »Preis« zu haben ist, dass man auf einige nicht unplausible, aber dennoch kontroverse Annahmen über die menschliche Natur zurückgreift, gestehe ich Anti-Perfektionistischen Liberalen wie Quong zu, dass es in einer Gesellschaft, die durch das Faktum eines vernünftigen Pluralismus gekennzeichnet ist, eine Pluralität an vernünftigen, aber miteinander inkompatiblen evaluativen Standards bezüglich Fragen des guten Lebens gibt. Dieses Eingeständnis ist aber nicht fatal, da ich einen Lösungsvorschlag für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung unterbreitet habe, der gar nicht darauf angewiesen ist, dass es gemeinsame evaluative Standards für Fragen des guten Lebens 408
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gibt. Der von mir in dieser Arbeit verteidigte »Perfektionistische Liberalismus« unterscheidet sich damit auch von traditionellen oder neueren naturrechtlichen oder »naturrechtsaffinen« Ansätzen wie sie z. B. von John Finnis, Mark Murphy, Christopher Wolfe oder Robert George etc. vertreten werden. 25 Die Herleitung einer allgemeinverbindlichen und unkontroversen Menge an evaluativen Standards für Fragen des guten Lebens halte ich unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus für nur sehr schwer möglich. 26 Das »konstruktive Element« des von mir in dieser Arbeit entwickelten Perfektionistischen Liberalismus hat also – anders als bei Sher – nicht die anspruchsvolle Funktion, eine Konzeption eines guten Lebens zu entwerfen, aus der sich gemeinsame evaluative Standards für Fragen des guten Lebens in einer pluralen Gesellschaft ableiten lassen, sondern die bescheidenere Aufgabe, »intelligibel« zu machen, welche Aktivitäten, Charaktereigenschaften und Beziehungsweisen aus dieser epistemischen Perspektive in einem objektiven Sinne beanspruchen können »wertvoll« bzw. »gut« oder »schädlich« bzw. »schlecht« für Menschen zu sein. Dies ist für die von mir präsentierte Lösung des Problems der öffentlichen Rechtfertigung relevant, denn auch wenn es keine gemeinsamen evaluativen Standards braucht, so verlangt eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung und die ihr zu Grunde liegende Theorie rechtfertigender bzw. öffentlicher Gründe, dass diese Gründe die epistemische Eigenschaft der »Intelligibilität« besitzen müssen. Ich habe ausführlich dafür argumentiert, dass die in dieser Arbeit präsentierte Konzeption eines guten Lebens und die sich aus ihr möglicherweise ableitenden Vgl. Finnis, Natural Law and Natural Rights; Robert P. George, In Defense of Natural Law (Oxford: Clarendon Press, 1999); Making Men Moral: Civil Liberties and Public Morality (Oxford: Clarendon Press, 1993); Natural Law (Aldershot: Ashgate, 2003); Natural Law, Liberalism and Morality: Contemporary Essays (Oxford: Clarendon Press, 1996); Robert P. George und Christopher Wolfe, Natural Law and Public Reason (Washington, D.C.: Georgetown University Press, 2000); Murphy, Natural Law and Practical Rationality; Natural Law in Jurisprudence and Politics (Cambridge: Cambridge University Press, 2006); Christopher Wolfe, Natural Law Liberalism (Cambridge: Cambridge University Press, 2006). 26 Ich stimme mit Couto darin überein, dass Shers Modell eines Perfektionistischen Liberalismus in dieser Hinsicht an seinem eigenen Anspruch gescheitert ist. Im Widerspruch zu ihr habe ich aber in dieser Arbeit demonstriert, dass daraus nicht notwendigerweise folgen muss, dass man damit auch insgesamt den Anspruch aufgeben muss, in einer einheitsgebenden Weise den Objektivitätsanspruch einer Menge von Gütern bzw. Werten erklären zu können, vgl. Couto, Liberal Perfectionism, 54–67. 25
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Überlegungen und Gründe für die Rechtfertigung der Ablehnung oder Befürwortung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt diese Eigenschaft besitzen können.
7.3 Einwände gegen eine Konvergenzkonzeption In einem dritten Schritt möchte ich mich nun mit möglichen Einwänden gegen den von mir entwickelten Lösungsvorschlag für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung auseinandersetzen. Wie im Vorausgehenden deutlich geworden sein sollte, funktioniert dieser nur, wenn es für Liberale auch möglich ist, eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung zu vertreten und es keine überzeugenden Einwände gibt, die dagegen sprechen, eine solche Konzeption zu übernehmen. Falls es solche Einwände gibt und sie zu überzeugen wissen, dann spricht dies gegen den von mir präsentierten Lösungsvorschlag. Ich möchte mich in diesem Abschnitt deshalb mit zwei Einwänden gegen eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung auseinandersetzen und demonstrieren, dass sie nicht erfolgreich sind bzw. entkräftet werden können.
7.3.1 Der Unehrlichkeitseinwand Ein erster Einwand kann »Unehrlichkeitseinwand« (sincerity objection) genannt werden, und die Debatte darüber, ob er erfolgreich ist oder nicht, ist noch voll im Gang zwischen Gegnern einer Konvergenzkonzeption wie z. B. Quong und Befürwortern wie z. B. Gaus. 27 Ich möchte nun so vorgehen, dass ich zunächst erläutere, an welchem Punkt meiner Argumentation dieser Einwand ansetzt. Dies wird deutlich machen, warum es für mich so bedeutsam ist, dass er entkräftet werden kann, aber auch, warum ihm eine solche Aufmerksamkeit in der breiteren Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung geschenkt wird. Im Anschluss daran werde ich den Einwand in der von Quong präsentierten Form aufgreifen und unter Berücksichtigung von neueren Publikationen von Gaus entkräften. Vgl. Gaus, Order of Public Reason, 288–292; Quong, Liberalism without Perfection, 265–273.
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Einwände gegen eine Konvergenzkonzeption
7.3.1.1 Motivation und Tragweite Zur Entwicklung meines Lösungsvorschlags für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung bin ich so vorgegangen, dass ich zunächst dafür argumentiert habe, dass sich aus den zentralen liberalen commitments ein allgemeines PÖR ableitet (siehe 7.1.1). Dieser Schritt dürfte relativ unkontrovers sein, jedenfalls ist mir nicht bekannt, dass seine Gültigkeit von Vertretern eines public reason liberalism in Frage gestellt wird. Anders sieht es nun mit dem darauffolgenden Schritt meiner Argumentation aus, mit dem ich dafür gehalten habe, dass das Konzept PÖR im Sinn einer Konsens- und einer Konvergenzkonzeption interpretiert werden kann. An diesem Punkt kann nun der sogenannte »Unehrlichkeitseinwand« verortet werden, denn er bestreitet, dass es sich bei einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung um eine legitime Interpretation von PÖR handelt. Anders formuliert: Vertreter einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung argumentieren, dass es sich bei einer Konvergenzkonzeption gar nicht um eine Konzeption von PÖR handelt, die mit einer Konsenskonzeption konkurrieren kann, sondern in Wirklichkeit um ein neues Konzept öffentlicher Rechtfertigung, welches mit PÖR nicht kompatibel ist. Träfe dies zu, dann wäre es nicht nur für meine Argumentation fatal, weil für meinen Lösungsvorschlag ein Rückgriff auf eine Konvergenzkonzeption – verstanden als legitime Interpretation von PÖR – unerlässlich ist, sondern auch für die derjenigen, die sich als Konvergenztheoretiker dem Lager eines public reason liberalism zurechnen wollen. Die Prominenz dieses Einwands in der jüngeren Debatte erklärt sich also daraus, dass es hier grundsätzlich um die Frage geht, was man unter einem »public reason liberalism« versteht, und ob Vertreter einer Konvergenzkonzeption zu Recht beanspruchen können, dass sie diese Tradition innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie erfolgreich weiterentwickeln. 28 7.3.1.2 Formulierung Wie lautet aber nun der »Unehrlichkeitseinwand«, und wie genau soll er die These unterminieren, dass es sich bei einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung um eine legitime Interpretation von PÖR handelt? Die Antwort auf letztgenannte Frage lautet, dass die Bejahung von PÖR die Bejahung einer Art von »EhrlichDiesen Anspruch äußert z. B. Vallier, »Against Accessibility«, 389; Liberal Politics and Public Faith, 453.
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keitsbedingung« impliziert, die durch eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung verletzt wird. Als typische Formulierung des »Unehrlichkeitseinwands« möchte ich die Variante wählen, die Jonathan Quong präsentiert, mir allerdings die Freiheit nehmen, sie hinsichtlich der von mir verwendeten Terminologie zu modifizieren. 29 Auf der Grundlage der Version des »Unehrlichkeitsseinwands«, die Quong favorisiert, lässt sich die Argumentation wie folgt rekonstruieren. Unstrittig ist PÖR: Eine staatliche bzw. politische Zwangsmaßnahme ZM ist genau dann gerechtfertigt, wenn gilt: (1) Jedes Mitglied der Öffentlichkeit P (2) Hat einen gewichtigen Grund G, ZM zu befürworten. Konvergenztheoretiker behaupten nun, dass die von PÖR formulierten Bedingungen in dem gewohnten Szenario einer Modellgesellschaft von drei liberalen Bürgern mit drei unterschiedlichen und kontroversen Konzeptionen eines guten Lebens erfüllt sind, wenn gilt, dass jedes Mitglied der Öffentlichkeit P einen gewichtigen Grund G hat, der die fragliche Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt, und die vorgetragenen Gründe die epistemische Eigenschaft der Intelligibilität besitzen, es also für die jeweils anderen Mitglieder von P intelligibel ist, dass die Überlegungen, die für die Rechtfertigung von ZM vorgetragen werden, gemäß den evaluativen Standards derjenigen, die sie vortragen, als Gründe anerkannt werden können, die ZM rechtfertigen. Damit in diesem Szenario ZM gemäß einer Konvergenzkonzeption öffentlich gerechtfertigt ist, müssen also folgende Bedingungen gelten: (3) Bürger A hat Überlegung (α), die sich aus seiner kontroversen Konzeption eines guten Lebens LA ableitet und gemäß den evaluativen Standards ESA von LA einen Grund GA darstellt, der die Befürwortung von ZM rechtfertigt. (4) Bürger B hat Überlegung (β), die sich aus seiner kontroversen Konzeption eines guten Lebens LB ableitet und gemäß den evaluativen Standards ESB von LB einen Grund GB darstellt, der die Befürwortung von ZM rechtfertigt. (5) Bürger C hat Überlegung (δ), die sich aus seiner kontroversen Konzeption eines guten Lebens LC ableitet und gemäß 29
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Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 265–273.
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Einwände gegen eine Konvergenzkonzeption
den evaluativen Standards ESC von LC einen Grund GC darstellt, der die Befürwortung von ZM rechtfertigt. Dies reicht aber noch nicht aus, damit ZM gemäß einer Konvergenzkonzeption öffentlich gerechtfertigt wird, denn GA, GB und GC müssen zur Menge öffentlicher Gründe gehören. ZM ist in der Öffentlichkeit P nur dann gerechtfertigt, wenn ZM mit öffentlichen Gründen gerechtfertigt wird. Deshalb müssen zusätzlich noch folgende Bedingungen erfüllt sein: (6) GA ist intelligibel für B und C, d. h., für B und C ist intelligibel, dass Überlegung (α) gemäß den evaluativen Standards ESA von A einen Grund G darstellt, der ZM rechtfertigt. (7) GB ist intelligibel für A und C, d. h., für A und C ist intelligibel, dass Überlegung (β) gemäß den evaluativen Standards ESB von B einen Grund G darstellt, der ZM rechtfertigt. (8) GC ist intelligibel für A und B, d. h., für A und B ist intelligibel, dass Überlegung (δ) gemäß den evaluativen Standards ESC von C einen Grund G darstellt, der ZM rechtfertigt. Gegen eine solche Konvergenzkonzeption argumentiert Quong nun folgendermaßen. Ausgangspunkt sei die Prämisse, dass öffentliche Rechtfertigungen »ehrlich« sein und dementsprechend einer sogenannten »Ehrlichkeitsbedingung« (künftig: EB) genügen müssen, die sich so oder ähnlich formulieren lässt 30: (9) (EB) ist erfüllt, wenn gilt: (a) A glaubt, dass er gerechtfertigt ist, ZM zu befürworten, und dass B und C gerechtfertigt sind, ZM zu befürworten. (b) B glaubt, dass er gerechtfertigt ist, ZM zu befürworten, und dass A und C gerechtfertigt sind, ZM zu befürworten. (c) C glaubt, dass er gerechtfertigt ist, ZM zu befürworten, und dass A und B gerechtfertigt sind, ZM zu befürworten.
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Vgl. ibid., 266.
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Das problematische Moment einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung zeigt sich nun aber darin, dass ihr Lösungsvorschlag für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung und die ihr zugrundeliegende Theorie öffentlicher Gründe eine Verletzung von (EB) implizieren. Denn aus (3) bis (8) leitet sich ab, dass ZM auch in folgendem Fall öffentlich gerechtfertigt sein kann, der nicht untypisch für Gesellschaften ist, in denen es einen vernünftigen Pluralismus darüber gibt, was ein gutes Leben ist und ausmacht: (10) Unter der Voraussetzung, dass Bedingungen (3) bis (8) erfüllt sind, ist ZM laut einer Konvergenzkonzeption öffentlich gerechtfertigt, auch wenn gilt: (a) ZM ist für A aus Grund GA gerechtfertigt, aber A lehnt GB und GC als rechtfertigende Gründe für ZM ab, weil er die Konzeptionen eines guten Lebens LB und LC von B und C ablehnt und damit auch die entsprechenden Überlegungen und evaluativen Standards, die sich aus LB und LC ableiten. (b) ZM ist für B aus Grund GB gerechtfertigt, aber B lehnt GA und GC als rechtfertigende Gründe für ZM ab, weil er die Konzeptionen eines guten Lebens LA und LC von A und C ablehnt und damit auch die entsprechenden Überlegungen und evaluativen Standards, die sich aus LA und LC ableiten. (c) ZM ist für A aus Grund GC gerechtfertigt, aber C lehnt GA und GB als rechtfertigende Gründe für ZM ab, weil er die Konzeptionen eines guten Lebens LA und LB von A und B ablehnt und damit auch die entsprechenden Überlegungen und evaluativen Standards, die sich aus LA und LB ableiten. (d) Ferner sei es der Fall, dass es nur die Gründe GA, GB und GC gibt, die ZM rechtfertigen können, also die Bürger A, B und C auch nach intensiver und langwieriger Suche keine anderen Gründe für die Rechtfertigung von ZM finden können. Dieses Ergebnis ist laut Quong für Konvergenztheoretiker fatal, denn (10) impliziert eine Verletzung der in (9) formulierten Ehrlichkeitsbedingung. 31 31
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Vgl. ibid., 266–269.
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Also folgt aus (3) bis (10): (11) Eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung ist keine legitime Interpretation eines allgemeinen PÖR, weil sich aus ihr öffentliche Rechtfertigungen staatlicher bzw. politischer Zwangsmaßnahmen ableiten lassen, die die Ehrlichkeitsbedingung EB verletzen. Die Unausweichlichkeit der Konklusion (11) lässt sich z. B. an folgendem Fall anschaulich machen: Wenn Bürger A Bürger B auf Überlegung (β) hinweist, die sich aus der Konzeption eines guten Lebens LB von B ableitet und die gemäß den evaluativen Standards ESB von LB einen Grund GB für B darstellt, ZM zu befürworten, dann verletzt A die Ehrlichkeitsbedingung im Szenario (10), weil Bedingung (9a) nicht erfüllt ist: A kann nicht ehrlicherweise glauben, dass B aufgrund von GB gerechtfertigt ist zu glauben, dass ZM öffentlich gerechtfertigt ist, weil A die Konzeption eines guten Lebens LB von B ablehnt, deren Akzeptanz Voraussetzung für die Gültigkeit des Grundes GB ist. Da aber B laut Definition die Konzeptionen eines guten Lebens LA von A und LC von C ablehnt und es laut (10d) außer GA, GB und GC keine weiteren Gründe gibt, die ZM rechtfertigen können, kann ZM nicht als öffentlich gerechtfertigt gelten. Bürger A zuzugestehen, dass er seiner Rechtfertigungspflicht nachkommt, wenn er Bürger B Grund GB nennt, hieße sich vom Anspruch rationaler Argumentation zu verabschieden und Rhetorik und Manipulation im politischen Diskurs hoffähig zu machen. 32 Dies kann wie folgt illustriert werden: Nehmen wir an, Betty sei Mitglied einer kleinen Menge von Bürgern, die an eine Art unsichtbares übernatürliches Wesen glauben, dass sie hart bestraft, wenn sie nicht so handeln und leben, wie es dieses Wesen vorschreibt. Gemäß der Konzeption eines guten Lebens dieser Bürger sind die (geoffenbarten) Vorschriften dieses Wesens wichtige evaluative Standards, um beurteilen zu können, welche Überlegungen für sie gute Gründe darstellen, bestimmte politische Maßnahmen zu befürworten und abzulehnen. Nun sei es der Fall, dass gemäß den geoffenbarten Prinzipien dieses Wesens die Einnahme der Pille zur Verhütung von ungewollten Schwangerschaften verboten ist. Betty glaubt deshalb gerechtfertigt zu sein, eine politische Maßnahme ZM, die den Verkauf Diese Befürchtung scheint den Einwand bei Quong zu motivieren, vgl. ibid., 267– 268.
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der Pille durch ein Gesetz verbietet, zu befürworten. Alexa ist hingegen Mitglied einer feministischen Gruppe von Bürgern und lehnt Bettys Konzeption eines guten Lebens ab. Sie glaubt nicht nur, dass es das unsichtbare Wesen nicht gibt, an das Bettys Gruppe glaubt, sondern hält es auch für falsch, Normen mit Bezug auf »geoffenbarte« Prinzipien zu rechtfertigen. Dennoch hält sie aber von ihrem feministischen Standpunkt aus ein Verbot der Pille und damit ZM für gerechtfertigt. Ihr Argument ist, dass die in der Pille enthaltenden Hormone das natürliche Sexualverhalten der Frau manipulieren und gesellschaftlich konstruierte und ungerechte Geschlechterrollen weiter zementieren, weil sie der Frau einseitig die Verantwortung für mögliche Schwangerschaften zum Preis einer hormonellen Manipulation ihres Körpers aufbürden. Betty und Alexa haben miteinander inkompatible Konzeptionen eines guten Lebens, aber dennoch könnte in einer Öffentlichkeit P, die nur aus Betty und Alexa besteht, ZM gemäß einer Konvergenzkonzeption als öffentlich gerechtfertigt gelten. Trotz des Fehlens gemeinsamer Gründe und gemeinsamer evaluativer Standards ist ZM gerechtfertigt, weil die jeweils unterschiedlichen Gründe von Betty und Alexa konvergieren. Quongs Ehrlichkeitseinwand besagt nun, dass eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung doch wohl nicht wahr sein kann bzw. nicht dem Ideal eines PÖR entsprechen kann, weil in diesem und ähnlichen Fällen der Prozess öffentlicher Rechtfertigung zu Rhetorik und Manipulation degradiert wird. Alexa ist in obigen Fall unehrlich und manipulativ, wenn sie gegenüber Betty oder anderen Mitgliedern ihrer Gruppe damit wirbt, dass sie ein Gesetz zum Verbot der Pille befürworten sollen, weil dies geoffenbarten Prinzipien ihres unsichtbaren Wesen entspricht. Es ist unehrlich und manipulativ, weil Alexa nicht an dieses Wesen glaubt und es ferner für falsch hält, Normen mit Bezug auf geoffenbarte Prinzipien eines solchen Wesens zu begründen. Es mag also für Alexa zwar intelligibel sein, dass diese Überlegungen von Bettys epistemischem Standpunkt aus einen Grund darstellen, der ZM rechtfertigt, aber Alexa ist unehrlich und manipulativ gegenüber Betty, wenn sie auf diese Überlegungen Bezug nimmt, weil sie selbst nicht glaubt, dass Betty gerechtfertigt ist zu glauben, dass sie einen Grund hat, der ZM rechtfertigt. Dass sie dies nicht glaubt, zeigt sich daran, dass sie sich darin gerechtfertigt sieht, Bettys Konzeption eines guten Lebens mitsamt ihren evaluativen Standards abzulehnen. Dieses Beispiel demonstriert, dass der Konvergenztheoretiker 416
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laut Quong unausweichlich vor einem Dilemma steht: Entweder er negiert, dass ein vernünftiger Pluralismus auch zu einem vernünftigen Pluralismus an Konzeptionen von einem guten Leben und damit zu der Möglichkeit führt, dass es einen vernünftigen Pluralismus miteinander inkompatibler evaluativer Standards gibt, die sich aus solchen Konzeptionen ableiten. Oder aber er negiert die Prämisse obiger Argumentation, dass die Argumente bzw. Gründe, die eine politische Zwangsmaßnahme ZM öffentlich rechtfertigen können, die Ehrlichkeitsbedingung erfüllen müssen. Das erste Horn des Dilemmas anzugreifen entspricht in etwa dem von mir rekonstruierten und verworfenen Lösungsvorschlag von Sher und scheidet damit als Möglichkeit zur Auflösung des Dilemmas aus. Die Akzeptanz der These, dass es einen vernünftigen Pluralismus an Konzeptionen eines guten Lebens gibt, impliziert, dass es auch einen vernünftigen Pluralismus an miteinander inkompatiblen evaluativen Standards gibt. Was bleibt ist also die Möglichkeit, das zweite Horn des Dilemmas zu attackieren, was aber ebenso wenig attraktiv erscheint. Diese Möglichkeit zu wählen würde bedeuten, die Ehrlichkeitsbedingung aufgeben zu müssen, was – wie eben gezeigt – dem Vorwurf der Manipulation Raum verschafft und einen ernstzunehmenden Einwand gegen die Übernahme einer Konvergenzkonzeption darstellt. Das Problem ist nämlich, dass für eine Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung spricht, dass sie die Ehrlichkeitsbedingung ohne Probleme erfüllen kann. Dies liegt daran, dass in ihrer Theorie öffentlicher Gründe nur Gründe als öffentliche Gründe anerkannt werden dürfen, die gemäß gemeinsamer evaluativer Standards als Gründe bewertet werden können. Konstellationen wie (10) oder Szenarien wie das zwischen Betty und Alexa scheiden damit schon von vornherein aus. Der Ehrlichkeitseinwand formuliert somit nicht nur ein Argument, das für eine Konsenskonzeption und gegen eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung spricht, sondern äußert den noch grundsätzlicheren Zweifel, ob es sich bei einer Konvergenzkonzeption überhaupt um eine legitime Interpretation eines allgemeinen PÖR handelt. Da dies aber eine notwendige Prämisse meines Lösungsvorschlags darstellt, werde ich eine überzeugende Entkräftung des Ehrlichkeitseinwands präsentieren müssen. 7.3.1.3 Strategien zur Entkräftung Ich bin am Ende des vorigen Unterabschnitts zu dem Schluss gekommen, dass der von Quong formulierte Ehrlichkeitseinwand gegen die Perfektionistischer Liberalismus
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Übernahme einer Konvergenzkonzeption eine ernsthafte Bedrohung für meinen Lösungsvorschlag für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung und damit für mein Projekt der Verteidigung eines Perfektionistischen Liberalismus darstellt. Welche Möglichkeiten der Entkräftung dieses Einwands bieten sich also an? Eine erste Möglichkeit findet sich bei Vallier und Gaus. 33 Ich möchte sie das »Realpolitikargument« nennen. Dieses Argument greift obige Prämisse (9) an, also Quongs Annahme, dass öffentliche Rechtfertigungen ehrlich sein und deshalb eine »Ehrlichkeitsbedingung« erfüllen müssen. Ich nenne es das »Realpolitikargument«, weil Vallier und Gaus darauf hinweisen, dass diese Ehrlichkeitsbedingung im alltäglichen politischen Geschäft der öffentlichen Rechtfertigung politischer Maßnahmen nicht berücksichtigt wird und die entsprechenden Maßnahmen trotzdem als öffentlich gerechtfertigt akzeptiert werden. Im Gegenteil: Würde man eine derartige Ehrlichkeit fordern, würde dies ein strategisches Interagieren verunmöglichen, was konstitutiv zum realen Politikgeschäft dazugehört. Was ist von dieser Möglichkeit zu halten? Meiner Ansicht nach hat dieses Argument einen wahren Kern, ist aber insgesamt zu schwach. Der Hinweis auf die Realpolitik reicht nicht aus, um zu begründen, dass die Ehrlichkeitsbedingung nicht im Prinzip öffentlicher Rechtfertigung impliziert ist oder keine zusätzliche notwendige Bedingung darstellt, damit der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich gerechtfertigt ist. Wählt man diesen Ansatz zur Entkräftung des Ehrlichkeitseinwands, so reicht nicht der Verweis auf kontingente Sachverhalte, sondern man muss prinzipielle Argumente für die These vorbringen, dass eine Ehrlichkeitsbedingung sich entweder nicht aus dem Prinzip öffentlicher Rechtfertigung ableiten lässt, oder es nicht plausibel ist, die Ehrlichkeitsbedingung als eine zusätzliche notwendige Bedingung für die öffentliche Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt zu akzeptieren. Ich möchte es dabei belassen, auf diese Möglichkeit verwiesen zu haben, weil ich sie für falsch und eine Sackgasse halte. Wie ich später zeigen werde, ist ein Konvergenztheoretiker zur Akzeptanz einer Ehrlichkeitsbedingung verpflichtet. Sie lässt sich aus seiner Theorie öffentlicher Gründe ableiten bzw. aus dem Erfordernis, dass nur Gründe zur Menge öffentlicher Gründe gehören, die auch die Eigenschaft der »Intelligibilität« besitzen. Vgl. Gaus, »Place of Religious Belief«, 26–29; Vallier, Liberal Politics and Public Faith, 288–292.
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Eine zweite und wesentlich vielversprechendere Möglichkeit, um Quongs Ehrlichkeitseinwand zu entkräften, findet sich von ihrem Grundansatz her ebenfalls in den Arbeiten von Vallier und Gaus, deren Vorschlag ich hier aufgreife, allerdings in wesentlichen Punkten wiederum modifiziere. 34 Die argumentative Strategie besteht diesmal darin, Prämisse (9) – also Quongs Ehrlichkeitsbedingung – zu akzeptieren, aber zu bestreiten, dass das Szenario (10) notwendigerweise eine Verletzung dieser Ehrlichkeitsbedingung impliziert und deshalb die Konklusion (11) gerechtfertigt ist, dass eine Konvergenzkonzeption keine legitime Interpretation eines allgemeinen PÖR darstellt. Der Vorwurf an Quong lautet, dass sein Nachweis, dass eine Konvergenzkonzeption sich der Verletzung des Ehrlichkeitseinwands schuldig macht, nur funktioniert, wenn er einen bestimmten Rechtfertigungsbegriff in seiner Formulierung des Ehrlichkeitseinwands voraussetzt, für dessen Übernahme er ja gerade mit dem Ehrlichkeitseinwand wirbt. Wie kann dies demonstriert werden? Ich möchte dazu auf Quongs Formulierung des Szenarios (10) zurückkommen, dass seiner Ansicht nach zeigt, dass es sich bei einer Konvergenzkonzeption um keine legitime Interpretation von PÖR handelt, weil Bürger A, B und C in einer solchen Situation eine politische Zwangsmaßnahme ZM nur mit Gründen rechtfertigen können, die die Ehrlichkeitsbedingung verletzen. Laut Quong ergibt sich aus obigem Szenario (10) folgende Situation 35: (10e) A glaubt, dass GA ZM rechtfertigt, und A glaubt nicht, dass GB und GC ZM rechtfertigen. (10f) B glaubt, dass GB ZM rechtfertigt, und B glaubt nicht, dass GA und GC ZM rechtfertigen. (10g) C glaubt, dass GC ZM rechtfertigt, und C glaubt nicht, dass GA und GB ZM rechtfertigen. Eine ehrliche öffentliche Rechtfertigung ist in einem solchen Fall nicht möglich, weil z. B. Bürger A Bürger B nur Grund GB für die Rechtfertigung von ZM nennen kann, er aber selbst, da er die Konzeption eines guten Lebens LB und die entsprechenden evaluativen Standards ESB von B ablehnt, nicht glaubt, dass GB ZM rechtfertigt. 34 Vgl. Gaus, Order of Public Reason, 288–292; Vallier, Liberal Politics and Public Faith, 288–293. 35 Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 267.
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Dieser von Quong formulierte Ehrlichkeitseinwand lässt sich entkräften, wenn man sich bewusst macht, dass die Bedingungen »A glaubt nicht, dass GB und GC ZM rechtfertigen« usw. in einem zweifachen Sinne interpretiert werden können, aber die einzige Interpretation, die Quongs Argumentation gegen eine Konvergenzkonzeption unterstützt, erforderlich macht, den Rechtfertigungsbegriff einer Konsenskonzeption vorauszusetzen. Die beiden Interpretationen können folgendermaßen formuliert werden, wobei ich mich der Einfachheit halber jeweils nur auf einen Fall konzentriere: Konsensinterpretation: (10e)’ A glaubt nicht, dass GB ZM rechtfertigt, weil A die Konzeption eines guten Lebens LB von B und die sich daraus ableitenden evaluativen Standards ESB als falsch ablehnt und er Überlegung (β) gemäß seinen eigenen evaluativen Standards ESA nicht als einen Grund anerkennen kann, der ZM rechtfertigt. Interpretiert man (10e) in diesem Sinne, so ist klar, dass A die Ehrlichkeitsbedingung verletzt, wenn er Bürger B Grund GB als einen Grund nennt, der ZM rechtfertigt. Es gibt jedoch noch die Möglichkeit, (10e) im Sinne einer Konvergenzkonzeption zu interpretieren. Konvergenzinterpretation: (10e)’’ A glaubt nicht, dass GB ZM rechtfertigt, weil es für A nicht intelligibel ist, dass Überlegung (β) gemäß den evaluativen Standards ESB von B einen Grund darstellt, der ZM aus der Perspektive von B rechtfertigt. Gemäß (10e)’’ verletzt A die Ehrlichkeitsbedingung (9) demnach, wenn er Bürger B Überlegungen für die Rechtfertigung von ZM nennt, von denen er überzeugt ist, dass sie ZM gemäß den evaluativen Standards von B nicht rechtfertigen, aber B (irrtümlicherweise) glaubt, dass sie dies tun. Die Ehrlichkeitsbedingung ist hingegen nicht verletzt, wenn folgender Fall vorliegt: (10e)’’’ A glaubt nicht, dass GB ZM rechtfertigt, weil A die Konzeption eines guten Lebens LB von B und die sich daraus ableitenden evaluativen Standards ESB als falsch ablehnt und er Überlegung (β) gemäß seinen eigenen evaluativen Standards ESA nicht als einen Grund anerkennen kann, der ZM rechtfertigt, aber er glaubt, dass B gerechtfertigt ist zu glauben, dass Überlegung (β) gemäß den evaluativen Standards ESB einen 420
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Grund darstellt, der ZM rechtfertigt. A glaubt, dass B gerechtfertigt ist, dies zu glauben, weil für A intelligibel ist, dass Überlegung (β) gemäß den evaluativen Standards ESB von B diesem einen Grund gibt, der ZM rechtfertigt. Es ist somit der Fall, dass gemäß einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung nicht notwendigerweise in Szenarien wie (10) eine Verletzung der Ehrlichkeitsbedingung impliziert ist. Wie die Unterscheidung von (10e)’’ und (10e)’’’ zeigt, können Konvergenztheoretiker sehr wohl angeben, wann eine Verletzung der Ehrlichkeitsbedingung vorliegt. Eine Verletzung der Ehrlichkeitsbedingung erfolgt nur dann notwendigerweise im Fall (10), wenn man – wie Quong – den Rechtfertigungsbegriff einer Konsenskonzeption in der Formulierung der Ehrlichkeitsbedingung voraussetzt, also voraussetzt, dass man die Überlegungen einer anderen Person nur dann als Gründe anerkennen kann, wenn man gemeinsame evaluative Standards teilt. Dass man das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung in diesem Sinne interpretieren muss, war aber gerade das, was Quong mit seinem Ehrlichkeitseinwand zu zeigen beabsichtigte. Da Quong – aufgrund seiner intensiven Auseinandersetzung mit Gaus und Vallier, auf die ich ja maßgeblich zurückgreife – eine Replik auf eine derartige Entkräftung seines Ehrlichkeitseinwandes antizipiert, muss ich diese ebenfalls noch zurückweisen, bevor ich mich im nächsten Unterabschnitt mit einem anderen möglichen Einwand gegen eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung auseinandersetzen kann. Quongs Argument lässt sich – angepasst an meinen oben dargestellten Entkräftungsversuch des Ehrlichkeitseinwands – wie folgt rekonstruieren, wobei ich hier aus Gründen der Übersichtlichkeit wiederum nur eine Bedingung durchdekliniere 36: (12) Eine öffentliche Rechtfertigung gemäß einer Konvergenzkonzeption verletzt in Szenarien wie (10) nur dann nicht die Ehrlichkeitsbedingung (EB), wenn (10e)’’’ der Fall ist, also folgende Bedingung erfüllt ist: A glaubt nicht, dass GB ZM rechtfertigt, weil A die Konzeption eines guten Lebens LB von B und die sich daraus ableitenden evaluativen Standards ESB als falsch ablehnt und er Überlegung (β) gemäß seinen eigenen evaluativen StanVgl. ibid., 269–273. Eine ähnliche Formalisierung findet sich auf Seite 272, an der ich mich teilweise orientiere, sie allerdings erheblich modifiziere.
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dards ESA nicht als einen Grund anerkennen kann, der ZM rechtfertigt, aber er glaubt, dass B gerechtfertigt ist zu glauben, dass Überlegung (β) gemäß den evaluativen Standards ESB einen Grund darstellt, der ZM rechtfertigt. A glaubt, dass B gerechtfertigt ist, dies zu glauben, weil für A intelligibel ist, dass Überlegung (β) gemäß den evaluativen Standards ESB von B, diesem einen Grund gibt, der ZM rechtfertigt. Laut Quong impliziert (12) aber eine epistemologische Theorie, wonach auf Bürger A, B und C ohne Widerspruch folgendes zutreffen kann (13): (a) A kann darin gerechtfertigt sein zu behaupten, dass die Konzeptionen eines guten Lebens LB und LC und die sich daraus ableitenden evaluativen Standards ESB und ESC falsch sind und kann trotzdem ehrlich glauben, dass Bürger B und C darin gerechtfertigt sind, an ihren Konzeptionen eines guten Lebens und den sich daraus ableitenden evaluativen Standards festzuhalten. (b) B kann darin gerechtfertigt sein zu behaupten, dass die Konzeptionen eines guten Lebens LA und LC und die sich daraus ableitenden evaluativen Standards ESA und ESC falsch sind und kann trotzdem ehrlich glauben, dass Bürger A und C darin gerechtfertigt sind, an ihren Konzeptionen eines guten Lebens und den sich daraus ableitenden evaluativen Standards festzuhalten. (c) C kann darin gerechtfertigt sein zu behaupten, dass die Konzeptionen eines guten Lebens LA und LB und die sich daraus ableitenden evaluativen Standards ESA und ESB falsch sind und kann trotzdem ehrlich glauben, dass Bürger A und B darin gerechtfertigt sind, an ihren Konzeptionen eines guten Lebens und den sich daraus ableitenden evaluativen Standards festzuhalten. Aufgrund des Faktums eines vernünftigen Pluralismus ist aber – so Quong – folgende Prämisse wahr: (14) Von Bürgern in einer liberalen und pluralen Gesellschaft, die ihrer Pflicht nachkommen wollen, den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich zu rechtfertigen, kann nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass sie einer bestimmten epistemologischen Theorie anhängen. 422
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Aus (12) bis (14) folgt demnach: (15) Weil liberale Bürger in einer pluralen Gesellschaft nicht vernünftigerweise voneinander erwarten können, dass sie eine bestimmte epistemologische Theorie akzeptieren, können sie auch nicht ohne Verletzung der Ehrlichkeitsbedingung erwarten, dass in Szenarien wie (10) der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich gerechtfertigt ist. Szenarien wie (10) zeigen demnach, dass Konvergenzkonzeptionen öffentlicher Rechtfertigung notwendigerweise eine Verletzung der Ehrlichkeitsbedingung EB implizieren. Was kann ich hierauf erwidern? Eine erste vielversprechende Möglichkeit besteht darin, Prämisse (13) des obigen Arguments als falsch zu deklarieren, also zu bestreiten, dass eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung notwendigerweise die Akzeptanz einer bestimmten – mehr oder weniger kontroversen – epistemologischen Theorie impliziert. Man kann einige Überlegungen von Gaus und Vallier in dieser Hinsicht interpretieren 37, wenn sie dafür argumentieren, dass es für die Übernahme eines Konvergenzmodells öffentlicher Rechtfertigung nicht erforderlich ist, auch eine bestimmte epistemologische Theorie zu akzeptieren. 38 Um der Ehrlichkeitsbedingung zu genügen, reicht es schlicht aus – so Vallier und Gaus –, dass Bürger A bereit ist, Bürger B einen Grund GB für die Rechtfertigung einer staatlichen Zwangsmaßnahme ZM zu nennen, der für A als ein Grund intelligibel ist, der ZM gemäß den evaluativen Standards von B rechtfertigt. Wenn Quong darauf entgegnet, dass dieser Angriff auf Prämisse (13) nicht funktioniert, weil es möglich ist, dass für A GB zwar intelligibel ist, aber A bestreiten muss, dass GB ZM rechtfertigen kann, weil A die Konzeption eines guten Lebens LB von B als falsch ablehnt und damit auch die evaluativen Standards ESB, gemäß derer GB erst zu einem Grund wird, der ZM rechtfertigen kann, so ist seine Argumentation entweder wiederum zirkulär oder aber er macht sich einer sogenannten straw man fallacy schuldig. 39
Eine solche Interpretation bringt Quong ins Spiel, vgl. ibid., 270. Seine Argumentation entfaltet sich insbesondere in Fußnote 42. 38 Vgl. Gaus und Vallier, »Roles of Religious Conviction«, 56–59. 39 Eine solche Entgegnung findet sich bei Quong, Liberalism without Perfection, 270. Ich beziehe mich hier auf Fußnote 42. Zur Definition und Struktur einer straw man fallacy, vgl. Walton, Informal Logic, 22–24. 37
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Die Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung
Ich möchte mit der letztgenannten Möglichkeit beginnen. Wenn Quong dafürhält, dass ein Konvergenzmodell öffentlicher Rechtfertigung nur konsistent mit einer Ehrlichkeitsbedingung ist, wenn Argumente bzw. Gründe vorgebracht werden, die nicht nur »intelligibel«, sondern auch »rechtfertigend« sind, so ist es für einen Konvergenztheoretiker überhaupt kein Problem dies zu akzeptieren. 40 Der Begriff von »Intelligibilität«, den Quong hier kritisiert, wird jedenfalls von den hier diskutierten Vertretern einer Konvergenzkonzeption nicht so verstanden. Wie bereits hinreichend deutlich geworden sein dürfte, hat der Begriff der »Intelligibilität« für Konvergenztheoretiker eine Rechtfertigungskomponente, von der nicht dispensiert werden kann. Ein Grund G gehört nur dann zur Menge öffentlicher Gründe, wenn er als ein Grund intelligibel ist, der aus der Perspektive der anderen Person eine entsprechende politische Zwangsmaßnahme rechtfertigt. Mit anderen Worten: Die Ehrlichkeitsbedingung erfordert, dass Bürger A ehrlicherweise überzeugt ist, dass Bürger B darin gerechtfertigt ist zu glauben, dass sein Grund GB die politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigt. Quong muss sich also den Vorwurf gefallen lassen, dass er nicht gegen die Position eines Konvergenztheoretikers argumentiert, sondern gegen eine Karikatur derselben. Einem solchen Vorwurf kann Quong nur entgehen, wenn man seine Ausführungen dahingehend interpretiert, dass die Intelligibilitäts- und Rechtfertigungskomponente im Intelligibilitätsbegriff von Konvergenztheoretikern auseinanderfallen können, weil für Bürger A »intelligibel« sein kann, dass Grund GB von Bürger B ZM aus dessen Perspektive und dessen evaluativen Standards rechtfertigt, aber dieser Grund GB ZM eben nicht aus der Perspektive und den evaluativen Standards von A »rechtfertigt«. Dass ein solches Auseinanderfallen der Intelligibilitäts- und Rechtfertigungskomponente aus der Perspektive von A möglich ist, ist aber ja gerade die Quintessenz einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung. Dies ist nur problematisch, wenn man eine Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung vertritt, die verlangt, dass öffentliche Gründe auch die epistemische Eigenschaft der »Zugänglichkeit« besitzen müssen. Nur wenn man fordert, dass öffentliche Gründe die Eigenschaft besitzen müssen, gemäß gemeinsamen evaluativen Standards als Gründe anerkannt werden zu können, die eine politische Zwangsmaßnahme 40 Diesen Gedanken formuliert er wiederum in Fußnote 42 bei Quong, Liberalism without Perfection, 270.
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ZM rechtfertigen können, ist das von Quong kritisierte Auseinanderfallen einer Intelligibilitäts- und Rechtfertigungskomponente problematisch. Interpretiert man Quong aber in diesem Sinne, dann ist seine Argumentation zirkulär, weil sein Argument zeigen muss und nicht voraussetzen darf, dass der von Konvergenztheoretikern favorisierte Rechtfertigungsbegriff problematische Implikationen hat. Eine erste erfolgsversprechende Möglichkeit, um eine Antwort auf Quongs Versuch einer Replik auf die hier vorgetragene Entkräftung des Ehrlichkeitseinwands zu geben, besteht also darin, Prämisse (13) in Quongs Argument als falsch zu deklarieren bzw. zu negieren, dass es für Konvergenztheoretiker notwendig ist, eine bestimmte – mehr oder weniger kontroverse – epistemologische Theorie zu vertreten. Doch selbst wenn man annimmt, dass Prämisse (13) wahr ist, weiß Quongs Replik noch nicht zu überzeugen, denn es bleibt als zweite Möglichkeit, die Prämisse (14) als falsch zu überführen, also zu behaupten, dass die Erfüllung der bürgerlichen Pflicht zur öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt die Übernahme bestimmter epistemologischer Annahmen notwendig macht. Anders formuliert: Es geht hier um die grundsätzliche Frage, ob ein public reason liberalism, dessen Kernthema die öffentliche Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ist, überhaupt epistemisch abstinent sein kann und soll. Wie Quong wiederum richtig antizipiert, funktioniert seine Replik auf die hier vorgetragene Entkräftung des Ehrlichkeitseinwands nur, wenn man diese Frage bejaht. 41 Ob Prämisse (14) aber wahr oder falsch ist, ist Gegenstand einer noch andauernden und sehr grundsätzlichen Debatte zwischen Vertretern eines »justificatory liberalism« wie Gaus und Anhängern eines Politischen Liberalismus wie Rawls und Quong. Aufgrund dieser dialektischen Situation und weil Autoren wie Raz oder Gaus ausführlich dafür argumentiert haben, dass ein Politischer Liberalismus – wie ihn Rawls und ihm nachfolgend Quong vertreten – nicht nur nicht ohne (kontroverse) epistemologische Annahmen auskommt, sondern es gute Gründe dafür gibt, diese Annahmen als falsch zurückzuweisen, reicht es für Quong nicht aus anzunehmen, dass eine epistemische Abstinenz möglich ist. 42 Er muss sich mit den Vgl. ibid., 272. Vgl. Gaus, Justificatory Liberalism, 3–10; Joseph Raz, »Facing Diversity: The Case of Epistemic Abstinence«, Philosophy & Public Affairs 19, no. 1 (1990).
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Argumenten auseinandersetzen, die dagegen sprechen, und neue Argumente dafür präsentieren, dass es für Konsenstheoretiker möglich ist, eine Theorie öffentlicher Rechtfertigung zu formulieren, die unabhängig von einer bestimmten (kontroversen) epistemischen Theorie ist. Meiner Ansicht nach wird es für Quong aber sehr schwer, sich hier nicht in Selbstwidersprüche zu verfangen, denn in dieser Arbeit habe ich aufgezeigt, dass das PÖR interpretationsbedürftig ist und die von Quong favorisierte schwache Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung eine bestimmte Theorie öffentlicher Gründe voraussetzt (siehe 7.1.2). Ähnlich wie Gaus im Falle von Rawls, so habe ich in dieser Arbeit also Argumente dafür präsentiert, dass Quongs AntiPerfektionistischer Liberalismus nicht nur nicht epistemisch abstinent ist, sondern es gute Gründe gibt, die von ihm vorausgesetzte Theorie öffentlicher Gründe abzulehnen (siehe 7.4). Die Beweislast ruht somit auf den Schultern derjenigen, die die hier entwickelte Entkräftung des Ehrlichkeitseinwands damit zurückweisen wollen, dass dies die Übernahme einer (kontroversen) epistemischen Theorie erforderlich macht. Sie müssen nicht nur darlegen, dass ihre Konzeption öffentlicher Rechtfertigung ohne die Akzeptanz (kontroverser) epistemischer Annahmen auskommt, sondern auch, dass eine Vermeidung der Diskussion epistemischer Fragen die bessere Strategie ist, um einen public reason liberalism zu verteidigen.
7.3.2 Der Fanatismuseinwand Analog zur Diskussion des Ehrlichkeitseinwands möchte ich nun einen zweiten möglichen Einwand abhandeln, der gegen die Übernahme einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung zu sprechen scheint. Ich werde wiederum zunächst die Motivation und Tragweite des Einwands plausibel machen, den Einwand dann exakter formulieren, um abschließend dafür zu argumentieren, dass er entkräftet werden kann. 7.3.2.1 Motivation und Tragweite Bei dem bereits diskutierten Ehrlichkeitseinwand handelt es sich um einen etablierten Einwand, d. h. einen Einwand, der klar formuliert ist und über den es eine noch andauernde Debatte gibt. Dies dürfte nicht weiter verwundern, denn – wie ich oben kenntlich gemacht habe (siehe 7.3.1) – geht es hier um nicht weniger als die Frage, ob eine Kon426
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vergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung eine legitime Interpretation eines allgemeinen PÖR darstellt oder nicht. Die Entkräftung des Ehrlichkeitseinwands ist also von enormer Bedeutung und Tragweite für das Projekt eines Perfektionistischen Liberalismus, das sich für seine Lösung des Problems der öffentlichen Rechtfertigung auf eine Konvergenzkonzeption stützt. Anders verhält es sich mit dem folgenden Einwand, den ich als »Fanatismuseinwand« betiteln möchte. Er ist meines Wissens nach noch von keinem Kritiker einer Konvergenzkonzeption klar formuliert worden, was wahrscheinlich daran liegt, dass dieser Einwand voraussetzt, dass es sich bei einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung um eine legitime Interpretation von PÖR handelt, und die Debatte über diese Frage noch in vollem Gang ist. Es ist insofern gut, im Blick zu behalten, dass das Gelingen einer Entkräftung des Fanatismuseinwands – strukturell gesehen – nicht so bedeutsam ist bzw. nicht eine solche Tragweite hat wie die Entkräftung des Ehrlichkeitseinwands. Bei Letzterem geht es um die Frage, ob eine Konvergenzkonzeption eine legitime Interpretation von PÖR ist, während es beim Fanatismuseinwand um die Frage geht, wie attraktiv eine Konvergenzkonzeption als Interpretation von PÖR ist. Was besagt aber nun der »Fanatismuseinwand«? Dieser will demonstrieren, dass eine Konsenskonzeption einer Konvergenzkonzeption vorzuziehen ist, weil Letztere mit ihrer Theorie öffentlicher Gründe zu permissiv ist und nicht verhindern kann, dass Argumente von Fanatikern Einfluss darauf nehmen, wann der Gebrauch staatlicher Gewalt gerechtfertigt ist und wann nicht. Träfe dieser Einwand zu, wäre dies natürlich ein gewichtiges Argument, das für eine Konsenskonzeption und gegen eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung spricht. Damit ist ein erster wichtiger Grund genannt, weshalb es sich lohnt, sich mit einem solchen Einwand auseinanderzusetzen. Ein zweiter Grund leitet sich aus der These ab, dass die fundamentale Kritik an einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung, die sich im Ehrlichkeitseinwand formuliert, durch die scheinbare Plausibilität eines Fanatismuseinwands motiviert ist, der allerdings nur unzureichend formuliert und artikuliert ist. Meine Hoffnung ist also, dass es mir durch eine Formulierung und Entkräftung des Fanatismuseinwands nicht nur gelingt, ein wichtiges Argument gegen die Übernahme einer Konvergenzkonzeption zu neutralisieren, sondern Vertreter oder Sympathisanten des EhrlichPerfektionistischer Liberalismus
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keitseinwands darüber hinaus davon zu überzeugen, dass es nicht erforderlich ist, mit dem Ehrlichkeitseinwand das ganze Projekt einer Konvergenzkonzeption zurückzuweisen, weil die motivierende Befürchtung hinter diesem Einwand – die Sorge, dass eine Konvergenzkonzeption dazu führt, dass die Argumente von Fanatikern einen Einfluss auf die öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt gewinnen – unbegründet ist. Anders formuliert: Ich möchte mit der Entkräftung des Fanatismuseinwands zeigen, dass eine Konvergenzkonzeption nicht so permissiv ist, wie ihre Kritiker fürchten, und ein Konvergenztheoretiker sehr wohl begründen kann, warum er Argumente von Fanatikern als irrelevant aus dem Prozess der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt ausschließt. 7.3.2.2 Formulierung Der Fanatismuseinwand (künftig: FE) lässt sich wie folgt begrifflich präziser fassen: FE = Eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung kann nicht ausschließen, dass auch die Argumente von Fanatikern Einfluss auf den Prozess der öffentlichen Rechtfertigung einer staatlichen Zwangsmaßnahme ZM gewinnen, weil es möglich ist, dass Bürger A zwar gerechtfertigt ist zu glauben, dass die fanatischen Überzeugungen (β) und evaluativen Standards ESB von Bürger B falsch sind, es aber für A trotzdem intelligibel sein kann, dass B gerechtfertigt ist zu glauben, dass ihm (β) aufgrund von ESB einen Grund gibt, ZM zu befürworten oder abzulehnen. Auf diesen Einwand habe ich in ähnlicher Form weiter oben schon hingewiesen, als ich eine mögliche Replik Quongs auf meine Entkräftung des Ehrlichkeitseinwands diskutiert habe (siehe 7.3.3). Hier zeigt sich also ein erstes Indiz, welches meine These stützt, dass der Fanatismuseinwand eine oft ungenügend formulierte Hintergrundüberlegung ist, die den Ehrlichkeitseinwand motiviert. Es geht wiederum um den Vorwurf, dass eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung dazu führt, dass in der Evaluation der Argumente bzw. Gründe einer anderen Person das Intelligibilitäts- und das Rechtfertigungsmoment in einer problematischen Weise auseinanderfallen. Diesmal lautet der Vorwurf aber nicht, dass dies dazu führt, dass eine Konvergenzkonzeption notwendigerweise in bestimmten Szenarien die Ehrlichkeitsbedingung verletzt, sondern dass 428
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diese Tatsache einen gewichtigen Grund darstellt, der gegen die Übernahme einer Konvergenzkonzeption und für eine Konsenskonzeption spricht. Die durch FE formulierte Kritik richtet sich diesmal direkt auf die Theorie öffentlicher Gründe und das sich daraus ableitende Restriktionsprinzip. Behauptet wird, dass dieses zu permissiv ist und fanatische Überzeugungen und Gründe als »öffentliche« Gründe hoffähig macht. Damit soll demonstriert werden, dass es eben doch so etwas wie gemeinsame evaluative Standards braucht, um dieser Konsequenz zu entgehen, also öffentliche Gründe eben nicht nur die epistemische Eigenschaft der »Intelligibilität«, sondern auch der »Zugänglichkeit« besitzen sollten. Ich möchte an zwei extremen Beispielen illustrieren, was hiermit gemeint ist. Nehmen wir erstens an, wir befinden uns in den USA im Jahre 1956. Nach der mutigen Demonstration zivilen Ungehorsams durch Rosa Parks wird in der amerikanischen Öffentlichkeit P sehr kontrovers über die Frage diskutiert, ob ein Gesetz ZM erlassen werden soll, dass jegliche Rassentrennung aufhebt. Der Einfachheit halber soll die relevante Öffentlichkeit P aus drei Personen bestehen. Bei Person A und B handelt es sich um Utilitaristen mit identischen Werten und Überzeugungen. Der Unterschied zwischen ihnen besteht lediglich darin, dass A ZM befürwortet, weil er nach der Abwägung aller Faktoren zu dem Schluss kommt, dass die Vorteile einer Aufhebung der Rassentrennung die damit verbundenen Nachteile überwiegen, während B ZM ablehnt, weil er befürchtet, dass durch ZM die öffentliche Ordnung und Sicherheit dauerhaft unterminiert wird, und diese Nachteile so gravierend sind, dass sie die Vorteile einer solchen Maßnahme deutlich überwiegen. Anders formuliert: A glaubt, dass eine Befürwortung von ZM ein geeignetes Mittel darstellt, um eine größtmögliche Zahl von Menschen im höchstmöglichen Maße in ihrem Wohlergehen zu fördern, während B glaubt, dass eine Ablehnung von ZM ein geeignetes Mittel darstellt, um dasselbe Ziel zu erreichen. In der Öffentlichkeit P herrscht bezüglich der Rechtfertigung von ZM demnach eine Pattsituation, weil es nicht unplausibel ist anzunehmen, dass sowohl A als auch B gerechtfertigt sind zu glauben, dass sie gute Gründe haben, die für eine Befürwortung oder eine Ablehnung von ZM sprechen. An dieser Stelle kommt nun Person C ins Spiel. Bei C handelt es sich um einen fanatischen weißen Rassisten. Hinzu kommt, dass er einen Utilitarismus aufgrund der sozialdarwinistischen Züge seines rassistischen Weltbilds ablehnt. Der beste soziale Zustand ist für ihn Perfektionistischer Liberalismus
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nicht erreicht, wenn das Wohlergehen einer größtmöglichen Zahl von Menschen erreicht ist, sondern wenn jene sozialen Bedingungen hergestellt sind, die der weißen Rasse am besten das Prosperieren erlauben. Das »Gesetz der Natur« will eben nicht, dass es allen in gleichem Maße gut geht. Es soll den gesunden, starken und intelligenten Exemplaren der Gattung Mensch gut gehen, und diese gehören nun mal – von einigen Ausnahmen abgesehen – der weißen Rasse an. Der Fanatismuseinwand besagt nun, dass ein Konvergenztheoretiker in einem solchen Szenario nicht nur nicht begründen kann, warum die Argumentation von Person C keine Rolle bei der Beantwortung der Frage spielen darf, ob sich ein Gesetz ZM, das die Rassentrennung aufheben will, öffentlich rechtfertigen lässt, sondern dass er darüber hinaus auch zu der äußerst kontraintuitiven Annahme gezwungen ist, dass Fanatiker in einer solchen Konstellation legitimerweise einen großen Einfluss auf den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt ausüben dürfen. Ich möchte zunächst den ersten Vorwurf betrachten. Person A und Person B können gegenüber Person C nicht argumentieren, dass sie die rassistische bzw. sozialdarwinistische Konzeption eines guten Lebens und die sich daraus ableitenden evaluativen Standards von C als falsch ablehnen. Es soll ja laut einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung möglich sein, dass Bürger darin gerechtfertigt sind, die Konzeptionen eines guten Lebens ihrer Mitbürger für falsch zu halten, und trotzdem anerkennen müssen, dass ihre Mitbürger gerechtfertigt sind zu glauben, dass diese Konzeption eines guten Lebens wahr ist. Ob eine Person gerechtfertigt ist, ihre Konzeption eines guten Lebens für wahr zu halten, ist aber abhängig von ihrer epistemischen Perspektive. Das Problem ist nun, dass es nicht unplausibel ist anzunehmen, dass ein weißer südstaatlicher Amerikaner im Jahre 1956 – aufgrund seiner Erziehung und seines sozialen Kontextes – gerechtfertigt sein konnte, an seinem rassistischen Weltbild festzuhalten. Ebenso wenig können A und B argumentieren, dass ihnen C keinen »öffentlichen« Grund nennt, der eine Ablehnung von ZM rechtfertigt. Der rassistische Grund von C gehört laut einer Konvergenzkonzeption im obigen Szenario zur Menge öffentlicher Gründe, weil er die epistemische Eigenschaft besitzt, für A und B »intelligibel« zu sein. A und B teilen zwar nicht das rassistische Weltbild von C und die sich daraus ableitenden evaluativen Standards, aber sie können verstehen, warum die sozialdarwinistischen Überlegungen von C gemäß seinen rassistischen Standards »relevant« sind und für ihn einen 430
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Grund darstellen, ein Gesetz zur Aufhebung der Rassentrennung abzulehnen. Die Personen A und B können also gemäß einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung nicht begründen, warum die rassistischen Gründe des Fanatikers C keine Rolle im Prozess öffentlicher Rechtfertigung spielen sollen. Dieser besorgniserregende Befund bildet aber nun die Grundlage für den zweiten Vorwurf, der besagt, dass die Übernahme einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung zu der äußerst kontraintuitiven Konklusion führt, dass Fanatiker und deren Argumente legitimerweise einen erheblichen Einfluss auf den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt haben dürfen. Dieser Vorwurf lässt sich anhand des obigen Szenarios wie folgt substantiieren. Bezüglich der Befürwortung und Ablehnung des Gesetzes ZM, welches eine Aufhebung der Rassentrennung bedeutet, besteht zwischen den Personen A und B ein Patt. Ist die Argumentation von C aber zulässig, dann kann B mit C eine Art von demokratischer »Koalition« eingehen und für eine Mehrheit sorgen, die ZM ablehnt. A kann dagegen keine legitime Beschwerde einlegen, weil ZM gemäß einer Konvergenzkonzeption als öffentlich gerechtfertigt gelten kann. B kann A als Grund für eine Ablehnung von ZM die utilitaristische Überlegung nennen, dass eine Aufhebung der Rassentrennung zu großen sozialen Unruhen führt und letztlich eine stabile soziale Ordnung dauerhaft unmöglich macht. A glaubt zwar, dass B hier falsch liegt, weil er bestimmte Vorteile außer Acht lässt bzw. bestimmte Nachteile überbewertet, aber er muss B zugestehen, dass er ihm Überlegungen nennt, die er – weil er auch Utilitarist ist – als einen gewichtigen Grund für eine Ablehnung von ZM anerkennen kann. Auf eben diesen Grund kann sich Person C berufen, wenn A ihn auffordert, ihm einen Grund zu nennen, warum er der Ablehnung von ZM zustimmen sollte. C kommt seiner Rechtfertigungspflicht gegenüber A nach, wenn er A eine Überlegung nennt, die A aus seiner epistemischen Perspektive als Grund anerkennen kann, der eine Ablehnung von ZM rechtfertigt. Dafür kann er sich auf As Utilitarismus berufen, auch wenn er selbst einen solchen – aufgrund seines sozialdarwinistischen Weltbilds – als falsch ablehnt. Die Ehrlichkeitsbedingung erfordert von ihm nicht, dass er einen Utilitarismus für wahr hält, sondern lediglich, dass er glaubt, dass A gerechtfertigt ist zu glauben, dass der Utilitarismus wahr ist. Ebenso wenig nötigt er A, seinen eigenen rassistischen Grund für die Ablehnung von ZM zu akzeptieren. Da sowohl C als auch B aber ihrer Rechtfertigungspflicht gegenüber A nachgekommen sind, also A Perfektionistischer Liberalismus
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Überlegungen genannt haben, die eine Ablehnung von ZM aus der epistemischen Perspektive von A rechtfertigen, kann A keine legitime Beschwerde äußern, wenn ZM gemäß einem demokratischen Verfahren durch die Mehrheit einer Koalition von B und C und damit durch eine Mehrheit, die sich durch die Konvergenz der Gründe von B und C ergibt, durchgesetzt wird. Diese Konklusion ist aber äußerst kontraintuitiv, weil sie Rassisten als Mehrheitsbeschaffer im demokratischen Spiel hoffähig macht und rassistischen Überlegungen eine wichtige Rolle bei Entscheidungen darüber zubilligt, ob sich der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich rechtfertigen lässt. Bevor ich darlege, warum ein solches Beispiel eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung nicht tangiert, möchte ich noch auf ein zweites extremes Szenario eingehen, das auf eine andere Form von Fanatismus abhebt. Der Vorwurf ist diesmal nicht, dass die Theorie öffentlicher Gründe, die einer Konvergenzkonzeption zu Grunde liegt, nicht in der Lage ist, Gründe aus der Menge öffentlicher Gründe auszuschließen, die wir aus sehr starken Intuitionen heraus für illegitim halten. Der Vorwurf ist diesmal vielmehr, dass das Restriktionsprinzip, das sich aus der Theorie öffentlicher Gründe einer Konvergenzkonzeption ableitet, so permissiv ist, dass es selbst die abstrusesten Gründe als »öffentliche« Gründe zulassen muss und sich somit ad absurdum führt. Als Beispiel möchte ich auf das Modell eines irrationalen bzw. abergläubischen »Weihnachtsmannfanatikers« zurückgreifen, welches eine Überlegung Quongs weiterdenkt, die dieser im Kontext des Ehrlichkeitseinwands referiert. 43 Nehmen wir an, die Öffentlichkeit P besteht aus den Personen A, B und W. In dieser Öffentlichkeit wird kontrovers über die Frage diskutiert, ob ein Gesetz ZM erlassen werden soll, welches den Verkauf von Alkohol verbieten soll. Die Personen A und B haben wiederum dieselben Werte und Überzeugungen, sind beide Utilitaristen, aber kommen hinsichtlich der Befürwortung von ZM zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. A lehnt ZM ab, weil seiner Einschätzung nach ein solches Verbot nicht nur nicht verhindert, dass Alkohol getrunken wird, sondern darüber hinaus auch der kriminelle Handel mit dann illegalem Alkohol befördert wird. In seinem Gesamturteil verursacht ein solches Gesetz also mehr Schaden als Nutzen. B ist anderer Ansicht und befürwortet ZM. Sei43 Vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 268. Er greift hier wiederum das Beispiel auf von Gaus, Justificatory Liberalism, 139.
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ner Meinung nach unterschätzt A die Effektivität der Polizei und die positiven Effekte für viele Familien und Einzelschicksale, die aus einer solchen Maßnahme resultieren und überschätzt die Möglichkeit Krimineller, aus einem solchen Gesetz Profit zu schlagen. Hinsichtlich der Frage, ob ZM erlassen oder abgelehnt werden soll, herrscht demnach ein argumentatives Patt und weder A noch B verfügt über eine Mehrheit in P, um über ZM in einem demokratischen Verfahren zu entscheiden. Nun kommt der »Weihnachtsmannfanatiker« ins Spiel. W ist in einer Familie aufgewachsen, in der seine Eltern ihm von einem Weihnachtsmann erzählt haben, der alles sieht, was er tut, ihn für seine bösen Taten bestraft und für seine guten Taten belohnt. Wie in einem großen Buch vermerkt der Weihnachtsmann alle guten und alle schlechten Dinge von W. Der Weihnachtsmann ist unsichtbar und zeigt sich nicht, aber für W war evident, dass es ihn gibt, denn zu Weihnachten fand immer eine Art von jährlicher »Abrechnung« statt und anhand der gemachten oder ausbleibenden Geschenke konnte W erkennen, dass es einen Zusammenhang zwischen gutem Benehmen und Geschenken bzw. schlechtem Benehmen und Strafe gab. Anders als andere Kinder hat W als Erwachsener aber nicht den Glauben an den Weihnachtsmann verloren, er hat sich lediglich leicht verändert. Waren es früher seine Eltern, die »wussten«, was dem Weihnachtsmann gefällt und was ihn verärgert, so ist es jetzt – da seine Eltern tot sind – eine Art von »innerer Stimme«, die ihm sagt, was er tun und unterlassen muss, um dem Weihnachtsmann zu gefallen. Ob sein Handeln dem Weihnachtsmann gefällt, zeigt sich für W auch nicht mehr an Weihnachten, sondern in dem, was ihm widerfährt. Gute Dinge, die ihm widerfahren, sind »Geschenke«, während er schlechte Dinge als »Strafen« interpretiert, die ihm aufgrund seines eigenen Fehlverhaltens vom Weihnachtsmann auferlegt werden. Nun ist es so, dass W glaubt, dass der Weihnachtsmann ihm durch seine innere Stimme mitteilt, dass es ihm nicht gefällt, wenn Menschen Alkohol trinken und sie bestraft gehören, wenn sie es doch tun. In den Gesetzen der Gesellschaft soll sich also widerspiegeln, was dem Weihnachtsmann gefällt und missfällt. Aus diesem Grund befürwortet W als Mitglied von P das Gesetz ZM, welches den Verkauf von Alkohol verbieten möchte. In Analogie zum ersten Beispiel oben lassen sich nun zwei Vorwürfe an den Konvergenztheoretiker richten. Der erste Vorwurf lautet, dass ein Konvergenztheoretiker nicht begründen kann, warum Perfektionistischer Liberalismus
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der Grund von W keinen öffentlichen Grund darstellen soll, der mit über die Frage entscheidet, ob ZM öffentlich gerechtfertigt ist. Aufgrund dessen – so der zweite Vorwurf – muss ein Konvergenztheoretiker aber die bittere Pille schlucken, dass offensichtlich irrationale bzw. abergläubische Fanatiker wie W einen entscheidenden Einfluss auf den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt haben. Ich möchte mit dem ersten Vorwurf beginnen. Was kann A gegen W und seine Argumentation einwenden? Laut einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung kommt W seiner Rechtfertigungspflicht gegenüber A nach, wenn er A Überlegungen nennt, die A von seiner epistemischen Perspektive – also seinem System an Überzeugungen und Werten – als einen Grund anerkennen kann, der eine Befürwortung von ZM rechtfertigt. Auch wenn W selbst kein Utilitarist ist und er einen Utilitarismus für falsch hält, kann er dennoch verstehen, dass es utilitaristische Überlegungen gibt, die A als einen gewichtigen Grund anerkennen muss, der für ZM spricht, auch wenn es – wie sich an dem Disput zwischen A und B zeigt – einen Dissens darüber geben kann, welches Gewicht dieser Grund genau hat. W kann also seiner Rechtfertigungspflicht gegenüber A nachkommen, auch wenn er einen Utilitarismus für falsch hält. Umgekehrt kann A gegenüber W nicht geltend machen, dass Ws Glaube an den Weihnachtsmann und die sich daraus ableitenden evaluativen Standards falsch sind und deshalb auch die Überlegung, dass ZM zu befürworten ist, weil es dem Weihnachtsmann gefällt, nicht als ein öffentlicher Grund anerkannt werden darf. Worauf es gemäß einer Konvergenzkonzeption ankommt, ist nicht die Frage, ob Ws Glaube an den Weihnachtsmann wahr oder falsch ist, sondern ob für A intelligibel ist oder nicht, dass W gemäß seinem System an Überzeugungen und Werten gerechtfertigt ist zu glauben, dass der Weihnachtsmann existiert. Solange es für A also nicht völlig unplausibel ist, dass er an der Stelle von W, also als eine Person mit nahezu identischen kognitiven Fähigkeiten, nahezu identischer Erziehung, Bildung und Lebenserfahrungen etc. auch an die Existenz des Weihnachtsmannes glauben würde, kann er gegen Ws Argumentation keinen Einwand erheben. Die einzige Möglichkeit für A bestünde darin, W nachzuweisen, dass er einen inferentiellen Fehler begangen hat und eine Befürwortung von ZM sich nicht aus seinen Überzeugungen und evaluativen Standards ableiten lässt. Dies scheint aber offensichtlich im obigen Beispiel nicht der Fall zu sein. Wenn A aber gemäß einer Konvergenzkonzeption keine Mög434
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lichkeit hat, Ws Grund aus der Menge öffentlicher Gründe auszuschließen, dann gibt dies einem zweiten Vorwurf Nahrung, welcher besagt, dass die Übernahme einer Konvergenzkonzeption dazu führt, dass irrationale bzw. abergläubische Fanatiker wie W einen entscheidenden Einfluss auf den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nehmen können. Denn im obigen Beispiel ist es der Fall, dass die Gründe von Person B und Person W hinsichtlich der Befürwortung von ZM konvergieren und sie somit eine Koalition in einem demokratischen Verfahren bilden können, die zu einer Mehrheit führt, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt befürwortet, um ein Gesetz zu erlassen, welches den Verkauf von Alkohol verbietet. W und die Gründe, die sich aus seiner falschen – aber intelligiblen – Konzeption eines guten Lebens ableiten, entscheiden also das argumentative Patt zwischen den Utilitaristen A und B. Mit diesem zweiten Beispiel ist also gezeigt, dass die von einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung vorausgesetzte Theorie öffentlicher Gründe nicht nur nicht in der Lage ist, rassistische Argumente aus der Menge öffentlicher Gründe auszuschließen und zu verhindern, dass Rassisten in demokratischen Verfahren entscheidenden Einfluss auf den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nehmen, sondern dass eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung so permissiv ist, dass sie auch die Gründe offensichtlich irrationaler oder abergläubischer Fanatiker als zulässige öffentliche Gründe deklarieren muss und diesen damit ebenfalls einen bedeutsamen Einfluss in demokratischen Verfahren zubilligt, die über den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt entscheiden. Aus dem Fanatismuseinwand folgt demnach, dass Konvergenztheoretiker vor einem Dilemma stehen: Entweder sie halten an ihrer Vorstellung fest, dass alle Gründe zur Menge öffentlicher Gründe gehören, die die epistemische Eigenschaft der Intelligibilität besitzen, oder aber sie müssen einräumen, dass die Gründe von rassistischen oder irrationalen Fanatikern nur wirksam durch die Übernahme einer Theorie öffentlicher Gründe aus der Menge öffentlicher Gründe ausgeschlossen werden können, die von öffentlichen Gründen verlangt, dass sie die epistemische Eigenschaft der Zugänglichkeit besitzen. Die erste Option des Dilemmas zu akzeptieren erscheint äußerst unattraktiv, denn dies hätte nicht nur die äußerst kontraintuitive Implikation zur Folge, dass rassistische Argumentationen für die Frage relevant sind, ob sich der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich rechtfertigen lässt, sondern würde – wie das zweite Beispiel zeigt – Perfektionistischer Liberalismus
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eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung auch ad absurdum führen, da irrationale und abergläubische Fanatiker zu demokratischen Königsmachern erhoben werden. Es scheint für Konvergenztheoretiker also nur die zweite Option offen zu bleiben, was allerdings bedeuten würde, mit einer restriktiveren Theorie öffentlicher Gründe das ganze Projekt einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung aufzugeben. Mit anderen Worten: Mittels des Fanatismuseinwands versuchen Konsenstheoretiker dafür zu argumentieren, dass nur das Erfordernis gemeinsamer evaluativer Standards eine Theorie öffentlicher Gründe davor bewahren kann, die Gründe von rassistischen oder irrationalen Fanatikern effektiv aus der Menge öffentlicher Gründe auszuschließen. 7.3.2.3 Entkräftung Da das Zugeständnis, dass es gemeinsamer evaluativer Standards bedarf – also zur Menge öffentlicher Gründe nur Gründe gehören dürfen, die die epistemische Eigenschaft der Zugänglichkeit besitzen –, einer Aufgabe einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung gleichkäme, müssen Konvergenztheoretiker das erste Horn des obigen Dilemmas angreifen. Sie müssen also mit Bezug auf die oben konstruierten Beispiele demonstrieren, dass sie sehr wohl in der Lage sind zu begründen, warum die Argumente von Rassisten und anderen Fanatikern nicht zur Menge öffentlicher Gründe gehören und deshalb keinen Einfluss auf den Gebrauch staatlicher Gewalt nehmen können. Um den Fanatismuseinwand zu entkräften, werde ich zwei Argumente präsentieren, die jeweils an eines der beiden oben konstruierten Beispiele und die daraus entwickelten Vorwürfe anknüpfen. Das erste Argument möchte ich das »Argument der normativen Beschränkung« nennen. Dieses Argument besagt, dass das obige Rassismusbeispiel und die daraus resultierende Kritik an der Theorie öffentlicher Gründe, die einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung zu Grunde liegt, nur funktioniert, weil es ein Szenario entwirft, welches die normativen Beschränkungen ignoriert, die die von mir präsentierte Konvergenzkonzeption den Mitgliedern der Öffentlichkeit P auferlegt. Ich beanspruche gar nicht, dass die hier vertretene Lösung für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung in einer Öffentlichkeit funktioniert, die sich durch Rassisten oder andere anti-liberale Fanatiker konstituiert, sondern habe immer wieder deutlich gemacht, dass ich voraussetze, dass die Mitglieder der Öf436
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Einwände gegen eine Konvergenzkonzeption
fentlichkeit P Liberale sind, also akzeptieren, dass Menschen als freie und gleiche Personen zu behandeln sind, es einen vernünftigen Pluralismus an Vorstellungen von einem guten Leben gibt und eine Gesellschaft unter diesen Bedingungen nur dann stabil sein kann, wenn sie ein faires System sozialer Kooperation darstellt. In Analogie zu Quongs »internaler« Konzeption eines anti-perfektionistischen Politischen Liberalismus vertrete ich insofern eine »internale« Konzeption eines Perfektionistischen Liberalismus. 44 Wie dann mit anti-liberalen Fanatikern konkret umgegangen werden soll, ist eine spannende Frage, zu der Quong einige interessante Überlegungen angestellt hat. 45 Ob sich diese ohne Abstriche auch für meine »internale« Konzeption eines Perfektionistischen Liberalismus übernehmen lassen, bleibt zu untersuchen. Wichtig für den Moment ist aber lediglich, dass – anders als der Fanatismuseinwand behauptet – aufgrund dieser normativen Beschränkungen der relevanten Öffentlichkeit P ein Konvergenztheoretiker sehr wohl begründen kann, warum er rassistische Gründe aus der Menge öffentlicher Gründe ausschließen und damit verhindern kann, dass Rassisten einen Einfluss auf die öffentliche Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Macht haben. Ein Konvergenztheoretiker kann schlicht geltend machen, dass Rassist C per Definition nicht zur Öffentlichkeit P gehören kann, weil sein rassistisches oder sozialdarwinistisches Weltbild ihn zur Negierung zentraler liberaler commitments zwingt, z. B. zur Negierung der Überzeugung, dass Menschen als freie und gleiche Personen zu behandeln sind. Und selbst wenn man C zugesteht, dass er zur Öffentlichkeit P gehört, so fordert eine internale Konzeption eines Perfektionistischen Liberalismus, dass C die zentralen liberalen commitments akzeptiert, sie also Teil seines Systems an Überzeugungen und Werten sind. Spätestens dann aber haben Bürger A und B einen Hebel um gegenüber C zu argumentieren, dass er nicht gerechtfertigt ist zu glauben, dass sich aus seiner rassistischen Konzeption eines guten Lebens Gründe ableiten, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen können. Dies muss C einsehen, weil ein derartig begründeter Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt eine Negierung minZur Unterscheidung Quongs zwischen einer »internalen« und einer »externalen« Konzeption eines Politischen Liberalismus vgl. Quong, Liberalism without Perfection, 5–7. 45 Vgl. ibid., 290–314. 44
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destens eines zentralen liberalen commitments impliziert (Menschen als freie und gleiche Personen zu behandeln), zu dem er sich als Mitglied der Öffentlichkeit P bekennt bzw. bekennen muss, wenn er als Mitglied der Öffentlichkeit P behandelt werden möchte. Diese argumentative Strategie steht einem Konvergenztheoretiker zur Entkräftung des zweiten Beispiels vom »Weihnachtsmannfanatiker« nicht zur Verfügung. Dies ist darin begründet, dass ein derartiger Fanatismus nicht direkt eine Negierung zentraler liberaler commitments impliziert. Es ist nicht ersichtlich, dass Person W mit ihrem Glauben an den Weihnachtsmann und ihrer Begründung einer Befürwortung eines Gesetzes ZM, welches den Verkauf von Alkohol verbietet, eines der zentralen liberalen commitments verletzt. Jedenfalls ist eine Verletzung solange nicht gegeben, wie W bereit ist, den Personen A und B Überlegungen zu nennen, die A und B von ihrem epistemischen Standpunkt – also ihrem System an Überzeugungen und Werten und ihren evaluativen Standards – als wichtige Gründe anerkennen können, die eine Befürwortung von ZM rechtfertigen. Trotzdem hat man den Eindruck, dass ein Konvergenztheoretiker derartige Argumentationen nicht einfach für zulässig erklären sollte. Die dahinter stehende Intuition ist wohl, dass eine überwältigende Evidenz dafür spricht, dass der Weihnachtsmann nicht existiert und man den Eindruck hat, dass W seiner Konzeption eines guten Lebens nur solange ehrlicherweise anhängen kann, wie er sich einer ernsthaften Überprüfung seines Weihnachtsmannglaubens verweigert. Dem Beispiel des Weihnachtsmannfanatikers gelingt es also – anders als dem Rassistenbeispiel – in einer direkten Weise den Intelligibilitätsbegriff zu kritisieren, der von der Theorie öffentlicher Gründe einer Konvergenzkonzeption vorausgesetzt wird. Die Kritik lautet, dass mit genügend Einfühlungsvermögen und Zeit jede noch so abstruse und fanatische Überzeugung irgendwie »intelligibel« ist. Wenn Personen A und B sich etwa ausreichend mit der Biographie von W beschäftigen, dessen begrenzte kognitive Fähigkeiten berücksichtigen, sowie die Evidenz und Informationen ausblenden, die ihnen zur Verfügung stehen, dann wird für sie verständlich, warum W davon überzeugt ist, dass ihm sein Glaube an den Weihnachtsmann einen Grund gibt, ZM zu befürworten. Ob jemand gerechtfertigt ist, eine bestimmte Überzeugung für wahr zu halten – so die Kritik – kann also nicht einfach nur von seinem epistemischen Standpunkt abhängig sein, also seinem vorhandenen System an Überzeugungen und Werten. Sonst könnte jeder Anhänger einer noch so abs438
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trusen esoterischen Lehre oder Verschwörungstheorie für sich beanspruchen, gerechtfertigt zu sein, diese für wahr zu halten, auch wenn er eine Menge von Informationen und Evidenz ausblendet, die für die Falschheit seiner Überzeugungen sprechen. Um das Beispiel des Weihnachtsmannfanatikers und die sich daraus ableitenden Vorwürfe zu entkräften, möchte ich nun ein Argument vortragen, welche ich das »Argument der epistemischen Beschränkung« nenne. Ähnlich wie beim Beispiel des Rassisten ist hier die Überlegung leitend, dass der Fall des Weihnachtsmannfanatikers außer Acht lässt, dass eine Konvergenzkonzeption den Mitgliedern der Öffentlichkeit P weitere Beschränkungen auferlegt. In diesem Fall sind es keine normativen Beschränkungen, die sich aus zentralen liberalen commitments ableiten, sondern epistemische Beschränkungen, die sich aus der Forderung nach einer moderaten Idealisierung der Mitglieder der Öffentlichkeit P ergeben. Anders formuliert: Die hier präsentierte Lösung des Problems der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt beansprucht nicht, dass sie in einer Öffentlichkeit P funktioniert, die sich aus den aktualen Mitgliedern einer Gesellschaft konstituiert, sondern lediglich in einer Öffentlichkeit P, die sich aus den moderat idealisierten Varianten der aktualen Mitglieder dieser Gesellschaft konstituiert. Mit moderater Idealisierung ist – in Anlehnung an Gaus – gemeint, dass den Mitgliedern von P bei ihren praktischen Schlussfolgerungen nahezu keine Fehler unterlaufen, sie nahezu frei von manipulativen bzw. irrationalen Einflüssen sind und sie eine möglichst große Menge an relevanten Informationen und Fakten in ihren praktischen Urteilen berücksichtigen. Im Gegensatz zu einer »radikalen« Idealisierung wird nicht verlangt, dass Bürger von ihren partikulären commitments ganz abstrahieren und einen »Blick von nirgendwo« einnehmen müssen, wohl aber, dass sie diese commitments aus der Perspektive ihrer idealisierten Varianten rechtfertigen können. Damit wird klar, wie ein Konvergenztheoretiker den Vorwurf zurückweisen kann, dass seine Theorie öffentlicher Gründe auch den Grund des Weihnachtsmannfanatikers als »öffentlichen« Grund zulassen muss, und damit demonstriert ist, dass das Kriterium der Intelligibilität viel zu permissiv ist und eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung sich ad absurdum führt. Im geschilderten Fall kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Weihnachtsmannfanatiker gerechtfertigt ist zu glauben, dass der Weihnachtsmann existiert. Deshalb kann bestritten werden, dass der Grund von Perfektionistischer Liberalismus
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W zur Menge öffentlicher Gründe gehört, also zur Menge von Gründen, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich rechtfertigen können. Die epistemischen Beschränkungen, die den Mitgliedern von P aufgrund der moderaten Idealisierungsbedingung auferlegt werden, definieren, dass W nur dann gerechtfertigt ist zu glauben, dass der Weihnachtsmann existiert, wenn er auch vom epistemischen Standpunkt seiner moderat idealisierten Variante gerechtfertigt ist, an der Wahrheit dieser Überzeugung festzuhalten. Dies verlangt aber, dass er sich mit den Informationen und der Evidenz auseinandersetzt, die für die Falschheit dieser Überzeugung spricht. Unter dieser Voraussetzung ist es plausibel anzunehmen, dass er sein System an Überzeugungen und Werten revidieren und seine Überzeugung, dass der Weihnachtsmann existiert, aufgeben muss. Dieser Gedankengang kann verdeutlicht werden unter Rückgriff auf die – ebenfalls auf Gaus zurückgehende – Unterscheidung zwischen einem System an Überzeugungen und Werten, welches »geschlossen gerechtfertigt« (closed justification) ist und einem System, welches »offen gerechtfertigt« (open justification) ist. 46 Eine Person hat ein System von Überzeugungen und Werten, das »offen gerechtfertigt« ist, wenn diese Person den Wahrheitswert ihrer Überzeugungen anhand der in ihrem epistemischen Kontext zugänglichen Informationen und Evidenz überprüft hat, sich mit berechtigter Kritik an ihren Überzeugungen auseinandergesetzt hat und dann immer noch plausibel machen kann, dass sie über gute Gründe verfügt, ihre Überzeugungen für wahr zu halten. Dementsprechend hat eine Person ein System von Überzeugungen und Werten, dass »geschlossen gerechtfertigt« ist, wenn eine Person ohne diesen Prozess einer kritischen Überprüfung ihrer Überzeugungen angesichts neuer Informationen und gegenteiliger Evidenz oder Einwänden gute Gründe hat, an der Wahrheit ihrer Überzeugungen festzuhalten. Übersetzt man die Bedingung, dass die Mitglieder der Öffentlichkeit P in einem moderaten Sinne idealisiert werden müssen, in diese Begrifflichkeit, dann bedeutet dies, dass die Öffentlichkeit P sich nur aus Mitgliedern konstituiert, deren System an Überzeugungen und Werten in einem offenen Sinne gerechtfertigt werden kann, die also auch nach einer kritischen Konfrontation ihrer Überzeugungen mit neuen Informationen und Einwänden auch noch gerechtfertigt sind, diese Überzeugungen für wahr zu halten. Das Beispiel des Weihnachtsmannfanatikers kann 46
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Zu dieser Unterscheidung vgl. Gaus, Justificatory Liberalism, 30–38.
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demnach von einem Konvergenztheoretiker zurückgewiesen werden, weil er geltend machen kann, dass es sich bei diesen und anderen abstrusen, esoterischen oder fanatischen Überzeugungen um Überzeugungen handelt, die nicht offen gerechtfertigt werden können. Damit kann auch das Restriktionsprinzip der Theorie öffentlicher Gründe, die einer Konvergenzkonzeption zu Grunde liegt, präzisiert werden. Der Grund G einer Person A gehört nur dann zur Menge der öffentlichen Gründe, die eine politische Maßnahme ZM öffentlich rechtfertigen können, wenn für die anderen Mitglieder der Öffentlichkeit P intelligibel ist, dass A in einem offenen Sinne gerechtfertigt ist, G für einen guten Grund zu halten, der ZM rechtfertigt. Der Fanatismuseinwand greift auch beim Beispiel des Weihnachtsmannfanatikers nicht, weil das Kriterium der Intelligibilität nicht nur verlangt, dass intelligibel ist, dass die vorgetragene Überlegung aus der aktualen (nicht-idealisierten) epistemischen Perspektive bzw. dem aktualen (nicht-idealisierten) System von Überzeugungen und Werten der anderen Person relevant für die Rechtfertigung von ZM ist. Aufgrund der Bedingung der moderaten Idealisierung muss darüber hinaus für die Mitglieder von P intelligibel sein, dass auch eine moderat idealisierte Variante von Person A gerechtfertigt ist zu glauben, dass seine Überlegung ein guter Grund für die Rechtfertigung von ZM ist. Auf diese Weise kann der Konvergenztheoretiker begründen, warum er die Gründe bestimmter »Fanatiker« aus der Menge öffentlicher Gründe ausschließt und ihnen damit keinen Einfluss auf die öffentliche Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zugesteht, ohne – wie von Konsenstheoretikern gefordert – von öffentlichen Gründen zu verlangen, dass sie neben der epistemischen Eigenschaft der Intelligibilität auch noch die Eigenschaft der Zugänglichkeit besitzen müssen. Wenn es nun Konvergenztheoretikern gelingt zu zeigen, dass ihre Theorie öffentlicher Gründe längst nicht so permissiv ist, wie Konsenstheoretiker fürchten oder unterstellen, dann verliert die Ehrlichkeitsbedingung – meiner Ansicht nach – viel an ihrer motivierenden Kraft. Damit soll natürlich nicht gesagt werden, dass eine erfolgreiche Entkräftung des Fanatismuseinwands einen Konvergenztheoretiker von der Einhaltung der Ehrlichkeitsbedingung dispensiert. Ich will lediglich den Gedanken plausibilisieren, dass die gebrauchten Argumente und Beispiele von Konsenstheoretikern im Kontext des Ehrlichkeitseinwands darauf hindeuten, dass hinter der Insistenz auf der Notwendigkeit gemeinsamer evaluativer Standards Perfektionistischer Liberalismus
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wohl auch die Befürchtung steht, dass ohne dieses Erfordernis Fanatikern eine Möglichkeit gegeben wird, einen entscheidenden Einfluss auf die Beantwortung der Frage zu nehmen, wann der Gebrauch staatlicher Gewalt öffentlich gerechtfertigt werden kann. Meine Hoffnung ist, nicht nur gezeigt zu haben, dass eine öffentliche Rechtfertigung staatlicher Gewalt gemäß einer Konvergenzkonzeption nicht notwendigerweise eine Verletzung der Ehrlichkeitsbedingung impliziert, sondern darüber hinaus auch demonstriert zu haben, dass die Befürchtung einer zu großen Permissivität unbegründet ist, weil eine Konvergenzkonzeption über genügend Ressourcen verfügt, um ihrerseits begründen zu können, warum sie die Argumente von Fanatikern aus der Menge öffentlicher Gründe ausschließt.
7.4 Ein Argument für eine Konvergenzkonzeption In diesem Kapitel habe ich bisher Folgendes geleistet: Erstens habe ich nachgewiesen, dass die Akzeptanz zentraler liberaler Grundüberzeugungen zu einem allgemeinen PÖR verpflichtet und dieses Prinzip im Sinne einer Konsens- oder einer Konvergenzkonzeption interpretiert werden kann (siehe 7.1). Anschließend habe ich demonstriert, dass die Übernahme einer Konvergenzkonzeption es Befürwortern eines Perfektionistischen Liberalismus erlaubt, Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs zu widerlegen, und so das durch Quong neu aufgeworfene Problem der öffentlichen Rechtfertigung gelöst werden kann (siehe 7.2). Drittens habe ich gezeigt, dass zwei wichtige Einwände entkräftet werden können, die scheinbar gegen eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung sprechen (siehe 7.3). Ich konnte gute Argumente dafür vorbringen, dass weder der Vorwurf zu überzeugen weiß, dass es sich bei einer Konvergenzkonzeption nicht um eine legitime Interpretation von PÖR handelt, weil diese notwendigerweise eine Ehrlichkeitsbedingung verletzt, deren Einhaltung von PÖR gefordert ist (siehe 7.3.1), noch der Vorwurf überzeugen kann, dass eine Konvergenzkonzeption so permissiv ist, dass sie die Argumente von Rassisten oder esoterischen Fanatikern nicht aus der Menge öffentlicher Gründe ausschließen kann und derartigen Fanatikern damit eine legitime Einflussmöglichkeit auf die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zugesteht (siehe 7.3.2). Gemäß meiner Analyse gibt es also keine gewichtigen Einwände, die gegen die Übernahme einer Konvergenzkonzeption sprechen und damit 442
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gegen die Viabilität meines Lösungsvorschlags für das Problem der öffentlichen Rechtfertigung. Im vierten und letzten Abschnitt dieses Kapitels möchte ich nun ein Argument präsentieren, welches besagt, dass es einen bedeutsamen Grund gibt, der gegen die Interpretation von PÖR im Sinne einer Konsenskonzeption und für die Übernahme einer Konvergenzkonzeption spricht. Anders als eine Konsenskonzeption ist eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung nämlich in der Lage, den sogenannten »Integritätseinwand« bzw. »Privatisierungsvorwurf« zu entkräften, der droht, dass gesamte Projekt eines public reason liberalism zu unterminieren. Da der Integritätseinwand im Kontext einer anderen Debatte entwickelt worden ist, werde ich diesen Hintergrund zunächst erhellen (siehe 7.4.1.1). Anschließend werde ich den Einwand begrifflich präziser fassen (siehe 7.4.1.2) und erklären, warum es Vertretern einer Konsenskonzeption nicht möglich ist ihn zu entkräften, und warum dies fatal ist (siehe 7.4.1.3).
7.4.1 Der Integritätseinwand 7.4.1.1 Kontext Rein formal gesehen läuft der Privatisierungsvorwurf bzw. Integritätseinwand darauf hinaus, den Fanatismuseinwand des Konsenstheoretikers unter umgekehrten Vorzeichen gegen diesen selbst zu wenden. Der Konvergenztheoretiker argumentiert, dass nicht seine Theorie öffentlicher Gründe zu permissiv ist, sondern die Theorie öffentlicher Gründe, die einer Konsenskonzeption zu Grunde liegt, so restriktiv ist, dass sie in Konflikt mit liberalen Grundüberzeugungen gerät – z. B. mit der Vorstellung, dass eine Gesellschaft unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus nur stabil sein kann, wenn sie ein faires System sozialer Kooperation darstellt und der Überzeugung, dass Menschen in einem größtmöglichen Maße als freie und gleiche Personen zu behandeln sind. Inhaltlich betrachtet entstammt der Integritätseinwand einer Debatte, die vornehmlich im anglo-amerikanischen Raum seit längerem geführt wird und in der es um die Frage geht, wie eine liberale Politische Philosophie bzw. ein Politischer Liberalismus sich zum Thema Religion verhält. 47 Genauer gefasst geht es um die Frage, ob 47
Statt hier die einzelnen Werke der Protagonisten der Debatte aufzuführen, möchte
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es Bürgern mit kontroversen religiösen Überzeugungen erlaubt sein darf, sich auf diese zu berufen, wenn es um die öffentliche Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt geht. Der Kern des Einwands lautet, dass eine Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung mit ihrem Neutralitätsprinzip von Bürgern verlangt, ihre religiösen Überzeugungen zu »privatisieren« und damit in ihrer Rolle als Bürger von ihrer religiösen Identität zu abstrahieren. 48 Da aber viele Religionen von ihren Anhängern verlangen, ihr gesamtes Leben – also auch in seiner öffentlichen bzw. politischen Dimension – im Einklang mit den Vorstellungen der entsprechenden Religion zu gestalten und nicht nur ihr rein »privates« Leben, hat dies zur Kon-
ich stellvertretend auf zwei ausgezeichnete Sammelbände verweisen, in denen einige der wichtigsten Beiträge der jeweiligen Positionen aufgeführt werden, vgl. J. Caleb Clanton, The Ethics of Citizenship: Liberal Democracy and Religious Convictions (Waco, Texas: Baylor University Press, 2009); Paul J. Weithman, Religion and Contemporary Liberalism (Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 1997). Zunehmend wird diese Debatte aber auch im deutschen Sprachraum rezipiert und die ihr zugrundeliegende Fragestellung auf dem deutschen bzw. europäischen Hintergrund erörtert, in jüngerer Zeit interessanterweise auch sehr stark im juristischen Kontext vgl. Franz-Josef Bormann und Bernd Irlenborn, Religiöse Überzeugungen und öffentliche Vernunft: Zur Rolle des Christentums in der pluralistischen Gesellschaft (Freiburg im Breisgau: Herder, 2008); Winfried Brugger und Stefan Huster, Der Streit um das Kreuz in der Schule: Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1998); Stefan Grotefeld, Religiöse Überzeugungen im liberalen Staat: Protestantische Ethik und die Anforderungen öffentlicher Vernunft (Stuttgart: Kohlhammer, 2006); Hans Michael Heinig und Christian Walter, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? – Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit (Tübingen: Mohr Siebeck, 2007); Christian Hillgruber, Staat und Religion: Überlegungen zur Säkularität, zur Neutralität und zum religiös-weltanschaulichen Fundament des modernen Staates (Paderborn: Schöningh, 2007); Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates: Eine liberale Interpretation der Verfassung (Tübingen: Mohr Siebeck, 2002); Karl-Heinz Ladeur und Ino Augsberg, Toleranz – Religion – Recht: Die Herausforderung des »neutralen« Staates durch neue Formen der Religiosität in der postmodernen Gesellschaft (Tübingen: Mohr Siebeck, 2007); Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität (Tübingen: Mohr Siebeck, 2004). Für die Literaturhinweise aus der Rechtswissenschaft bin ich Daniel Wolff zu Dank verpflichtet. Eine jüngere argumentationstheoretische Rekonstruktion und Aufarbeitung dieser Debatte findet sich bei Martin Breul, Religion in der politischen Öffentlichkeit: Zum Verhältnis von religiösen Überzeugungen und öffentlicher Rechtfertigung (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2015). 48 Eine so ähnlich lautende »klassische« Formulierung des Integritätseinwands, auf die in der Literatur häufig referiert wird, findet sich bei Robert Audi und Nicholas Wolterstorff, Religion in the Public Square: The Place of Religious Convictions in Political Debate (Lanham, Maryland: Rowman & Littlefield, 1997), 105.
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sequenz, dass Menschen mit religiösen Überzeugungen ihre Rolle als Bürger nur unter hohen »Integritätskosten« ausüben können. Um im Vollsinn »Bürger« sein zu können, also über die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt mitbestimmen zu können, müssen sie – so der Vorwurf an einen Politischen Liberalismus – bereit sein, ihre Identität zu spalten in eine »religiöse« bzw. private Identität und eine »bürgerliche« bzw. öffentlich-politische Identität. 49 Dass es viele Überlappungen zwischen dieser Debatte und der in dieser Arbeit aufgearbeiteten Kontroverse zwischen Anti-Perfektionistischen und Perfektionistischen Liberalen gibt, darf nicht verwundern, denn das Modell einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung ist von Autoren wie Gaus und Vallier gerade entwickelt worden, um der Kritik zu begegnen, dass die Akzeptanz eines public reason liberalism mit seinem Prinzip öffentlicher Rechtfertigung immanent und notwendigerweise religionsfeindlich ist. 50 Wenn man so will ist die Frage, ob der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt wenigstens manchmal Legitimität beanspruchen kann, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfertigt wird, die mit kontroversen religiösen Prämissen darüber operieren, was ein gutes Leben ist und ausmacht, ein paradigmatischer Sonderfall der in dieser Arbeit untersuchten allgemeineren Frage, ob es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass ein Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, der ausschließlich mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt wird. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass zwischen beiden Fragestellungen lediglich eine einseitige Abhängigkeit besteht. Der Ausgang der »Liberalismus-Religion-Debatte« ist konstitutiv abhängig vom Ergebnis der in dieser Arbeit untersuchten »Anti-Perfektionismus/Perfektionismus-Debatte« innerhalb des Liberalismus, während Umgekehrtes nicht gilt. Sollte sich herausstellen, dass es gute Gründe gibt, alle religiösen Gründe aus der Menge öffentlicher Gründe auszuschließen, so ist damit noch nicht gezeigt, dass die in dieser Arbeit vertretene These, dass es wenigstens manche kontroversen perfektionistischen Gründe gibt, die zur Menge öffentlicher Gründe gehören, falsch ist. Bei meinem Lösungsvorschlag für das Problem der RechtDetailliertere Ausführungen zur Definition und Struktur des Integritätseinwands finden sich bei Vallier, Liberal Politics and Public Faith, 57–110. 50 Vgl. Gaus, »Place of Religious Belief«; Gaus und Vallier, »Roles of Religious Conviction«; Vallier, Liberal Politics and Public Faith; Vallier und Eberle, »Religion in Public Life«. 49
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fertigung des Objektivitätsanspruchs bestimmter Werturteile habe ich eingestanden, dass ich bestimmte kontroverse metaphysische bzw. essentialistische Annahmen über die menschliche Natur voraussetzen muss. Diese Annahmen über die menschliche Natur sind kompatibel mit bestimmten religiösen Vorstellungen über das Wesen des Menschen, jedoch habe ich meine Argumentation für die Plausibilität dieser Konzeption eines guten Lebens an keiner Stelle von der Akzeptanz religiöser Überzeugungen abhängig gemacht. Sollten sich gute Argumente finden, die besagen, dass meine Entkräftung des Integritätseinwands nicht gelingt, so wäre damit also bestenfalls gezeigt, dass mit religiösen Gründen eine bestimmte Teilmenge perfektionistischer Gründe aus der Menge öffentlicher Gründe ausgeschlossen werden muss. Anders liegt der Fall, wenn ich mit meiner These in dieser Arbeit falsch liegen sollte. Dann wäre gezeigt, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt niemals Legitimität beanspruchen kann, wenn er ausschließlich mit kontroversen perfektionistischen Argumenten gerechtfertigt wird, und religiöse Argumente wären – als Teilmenge perfektionistischer Gründe – ipso facto aus der Menge öffentlicher Gründe ausgeschlossen. Aus meiner Sicht besteht der große Vorteil einer Behandlung des aus der Religionsdebatte stammenden Integritätseinwands also darin, dass ich auf der einen Seite wenig riskiere, wenn sich meine These als falsch entpuppen sollte, dass die Übernahme einer Konvergenzkonzeption es ermöglicht, den Integritätseinwand zu entkräften, auf der anderen Seite aber viel gewinnen kann, wenn diese These zutreffen sollte. Der »Gewinn« besteht darin, dass ich gezeigt habe, dass religiöse Gründe zur Menge öffentlicher Gründe gehören und eine Rolle im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt spielen können. Wenn es aber möglich ist zu rechtfertigen, dass diese Teilmenge an besonders kontroversen perfektionistischen Gründen auch zur Menge öffentlicher Gründe gehören kann, dann ist es umso plausibler, dass auch andere – weniger kontroverse – perfektionistische Gründe als öffentliche Gründe fungieren dürfen. Anders formuliert: Wenn es mit der Entkräftung des Integritätseinwands gelingt, die starke These zu verteidigen, dass religiöse Gründe auch öffentliche Gründe sein können, dann ist die schwächere These umso plausibler, dass zumindest perfektionistische Gründe, die die Akzeptanz kontroverser – aber nicht-religiöser – Annahmen über die menschliche Natur voraussetzen, als öffentliche Gründe zu betrachten sind. 446
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7.4.1.2 Formulierung Nachdem ich sowohl den ursprünglichen Kontext erhellt habe, in dem der Integritätseinwand formuliert worden ist, als auch dargelegt habe, warum eine Behandlung dieses Einwands für den Argumentationsgang dieser Arbeit relevant ist, möchte ich ihn nun begrifflich präziser fassen und erklären, warum es fatal ist, dass Vertreter einer Konsenskonzeption nicht in der Lage sind, ihn zu entkräften. Es ist hierfür wiederum hilfreich, von einem konkreten Szenario auszugehen. 51 Nehmen wir an, die Öffentlichkeit P einer Gesellschaft besteht aus drei Personen und in dieser Gesellschaft wird kontrovers über die Frage diskutiert, ob ein Gesetz ZM verabschiedet werden soll, welches die in dieser Gesellschaft noch geltenden Rassengesetze aufhebt, die Trennungen im zivilen Bereich zwischen Menschen verschiedener Hautfarben vorschreiben. Bei der ersten Person K handelt es sich um einen schwarzen Bürgerrechtler. Er ist Christ und argumentiert, dass alle Menschen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind. Was Menschen gleich macht, ist, dass sie Gottes Geschöpfe sind. Die Rassengesetze sind deshalb abzulehnen, weil sie innerhalb der Schöpfung eine Ungleichheit institutionalisieren, die der schwarzen Bevölkerung ihre Würde nimmt, die ihnen als Geschöpfe Gottes zusteht. Der Wille Gottes und das sich daraus ableitende Naturrecht, wonach alle Menschen »von Natur aus« das Recht haben, entsprechend ihrer Würde als freie und gleiche Personen behandelt zu werden, ist grundlegender als das positive und rein menschliche Recht der Rassentrennung. Was das Gesetz ZM rechtfertigt, ist also, dass dadurch ein Zustand hergestellt wird, der dem Willen Gottes entspricht. Den Personen A und B ist gemeinsam, dass sie weiße atheistische Utilitaristen sind. Des Weiteren ist ihnen gemeinsam, dass sie keine Rassisten sind. Aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts bzw. der obersten Gerichte ihres Landes sind sie gerechtfertigt zu glauben, dass der Grundsatz »separate but equal« gilt, also Gesetze, die Trennungen zwischen Bürgern in öffentlichen Institutionen (z. B. Schulen etc.) aufgrund ihrer Hautfarbe vorschreiben, nicht notwendigerweise eine Ungleichbehandlung darstellen, die in Konflikt mit der liberalen Überzeugung steht, dass Menschen als freie und gleiche Personen zu behandeln sind. Trennung impliziert – so ihre Überzeugung – erst dann eine Verletzung des GleichheitsgrundMeine Überlegungen sind hier inspiriert durch die Lektüre von Stout, Democracy and Tradition, 218–219.
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satzes, wenn die für Schwarze bzw. Weiße vorgesehenen Institutionen nicht gleichwertig sind. Aufgrund ihres epistemischen Kontextes – stellen wir uns die USA in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts vor – sind sie also gerechtfertigt zu glauben, dass sie keine Rassisten sind, auch wenn wir diese Überzeugung – aus heutiger Sicht – nicht nur für falsch, sondern auch für nicht mehr rechtfertigbar halten. Auf diesem Hintergrund nun befürwortet Person A ZM, allerdings aus einem unterschiedlichen Grund wie K. A glaubt, dass ein Bestand der Rassentrennung zu großen Unruhen führt und auf Dauer zu einer instabilen sozialen Ordnung. Es ist somit das Beste für die Gesellschaft bzw. die Mehrzahl der Menschen, wenn ZM verabschiedet wird. Person B lehnt ZM hingegen ab. Er ist der Überzeugung, dass eine Aufhebung der Rassentrennung zu großen Unruhen führt und zu einer dauerhaft instabilen sozialen Ordnung. Seiner Ansicht nach ist es deshalb das Beste für die Mehrheit der Beteiligten, wenn ZM nicht verabschiedet wird. Dieses Szenario lässt sich wie folgt formalisieren: (1) K ist gemäß seinen evaluativen Standards EK (= »Es ist gut für Menschen, wenn sie den Willen Gottes erfüllen«) gerechtfertigt zu glauben, dass ihm Überlegung (δ = »Gesetz ZM erfüllt den Willen Gottes«) einen Grund GK gibt, der eine Befürwortung von ZM (= Aufhebung der Rassengesetze) rechtfertigt. (2) A ist gemäß seinen evaluativen Standards EA (= Es ist gut das zu tun, wodurch der größtmögliche Nutzen für eine größtmögliche Zahl an Menschen realisiert wird) gerechtfertigt zu glauben, dass ihm Überlegung (α = Gesetz ZM verhindert soziale Unruhen und sorgt für soziale Stabilität und erzeugt damit den größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Zahl an Menschen) einen Grund GA gibt, der eine Befürwortung von ZM rechtfertigt. (3) B ist gemäß seinen evaluativen Standards EB (= Es ist gut das zu tun, wodurch der größtmögliche Nutzen für eine größtmögliche Zahl an Menschen realisiert wird) gerechtfertigt zu glauben, dass ihm Überlegung (β = Gesetz ZM verursacht soziale Unruhen und sorgt für soziale Instabilität und erzeugt damit einen großen Schaden für eine große Zahl an Menschen) einen Grund GB gibt, der eine Ablehnung von ZM rechtfertigt. 448
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Der Privatisierungsvorwurf bzw. Integritätseinwand lässt sich ausgehend von diesem Szenario nun aus der Perspektive von K begrifflich präziser fassen: (4) Damit K zur relevanten Öffentlichkeit P gehört, der gegenüber der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt gerechtfertigt werden muss, muss er ein »Liberaler« sein, d. h. zentrale liberale commitments für wahr halten (Menschen sind als freie und gleiche Personen zu behandeln; Es gibt einen vernünftigen Pluralismus an Vorstellungen von einem guten Leben; Unter diesen Bedingungen kann eine Gesellschaft nur stabil sein, wenn sie ein faires System sozialer Kooperation darstellt). (5) Aufgrund der in (4) genannten zentralen liberalen commitments ist M zu einem allgemeinen PÖR verpflichtet: Eine staatliche bzw. politische Zwangsmaßnahme ZM ist genau dann gerechtfertigt, wenn gilt, dass jedes Mitglied der Öffentlichkeit P einen gewichtigen Grund G hat, ZM zu befürworten. (6) Aufgrund seiner Akzeptanz von PÖR ist K zu einer Theorie öffentlicher Gründe verpflichtet, die definiert, welche Gründe zur Menge der Gründe gehören können, die den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt rechtfertigen können. (7) Eine Theorie öffentlicher Gründe, die im Einklang mit PÖR ist, muss notwendigerweise annehmen, dass öffentliche Gründe nur Gründe sein können, die gemäß gemeinsamer evaluativer Standards als Gründe anerkannt werden können, aber verlangt nicht notwendigerweise, dass die Gründe, die für die Rechtfertigung von ZM vorgebracht werden, auch geteilt sein müssen. PÖR ist somit am besten im Sinne einer schwachen Konsenskonzeption zu interpretieren, aus der sich folgendes Restriktionsprinzips RP ableitet: Ein Grund G einer Person X ist genau dann ein öffentlicher Grund, d. h. ein Grund, der eine politische Zwangsmaßnahme ZM rechtfertigen kann, wenn Gx allen Mitgliedern der Öffentlichkeit P zugänglich ist, d. h. wenn alle Mitglieder von P Gx unter Bezugnahme auf gemeinsame evaluative Standards als einen Grund für X anerkennen können, der ZM rechtfertigt. (8) Da A und B Atheisten sind und dies impliziert, dass sie Ks (religiösen) evaluativen Standard EK vernünftigerweise abPerfektionistischer Liberalismus
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lehnen können, kann K nicht vernünftigerweise erwarten, dass sie seine Überlegung (δ) als einen Grund anerkennen können, der ZM rechtfertigt. Da EK von A und B nicht geteilt wird, ist ihnen somit GM nicht als ein Grund zugänglich, der ZM öffentlich rechtfertigen kann. Gemäß RP gehört GK demnach nicht zur Menge öffentlicher Gründe. (9) Da es in einer Gesellschaft, die sich durch einen vernünftigen Pluralismus an religiösen und atheistischen Vorstellungen auszeichnet, völlig unwahrscheinlich ist, dass es in der Öffentlichkeit P eine Einigkeit über religiöse evaluative Standards gibt, folgt aus (4) bis (8), dass kein religiöser Grund zur Menge öffentlicher Gründe gehören kann, also zur Menge der Gründe, die ZM rechtfertigen können. Religiöse Gründe sind immer private Gründe. Aus (9) wiederum folgt (10), dass K und anderen liberalen Bürgern mit religiösen Überzeugungen hohe »Integritätskosten« abverlangt werden, wenn folgendes gilt: (a) Das commitment zum evaluativen Standard EK und Überlegung (δ) ist ein zentraler Bestandteil der religiösen Identität von K. (b) Ks Religion hat einen integralen Anspruch, verlangt also, dass K in allen Lebensbereichen danach strebt, im Einklang mit den Vorstellungen und Werten seiner religiösen Überzeugungen zu handeln. (c) K ist gerechtfertigt zu glauben, dass sein commitment zu EK vernünftig ist. (d) K ist gerechtfertigt zu glauben, dass Überlegung (δ) wahr ist. Der Integritätseinwand lautet also, dass die zentrale Forderung eines public reason liberalism nach dem öffentlichen Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt zur Übernahme einer Theorie öffentlicher Gründe verpflichtet, nach der religiöse Gründe nicht zur Menge öffentlicher Gründe gehören können, was wiederum von Liberalen mit religiösen Überzeugungen erhebliche Integritätskosten abverlangt. Man kann es vielleicht auch so formulieren: Die Brisanz des Integritätseinwands liegt darin, dass das Ideal der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt scheinbar nur in einer Öffentlichkeit P zu realisieren ist, in der die Mitglieder von P, die religiöse Über450
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zeugungen haben, zu tiefen Einschnitten in ihre religiöse Freiheit bereit sind. Denn die Übernahme einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung und der ihr zugrunde liegenden Theorie öffentlicher Gründe verlangt von ihnen, dass sie ihren Mitbürgern mit konträren religiösen oder atheistischen Überzeugungen eine Art »Veto-Recht« darüber einräumen, welche evaluativen Standards sie verwenden dürfen in ihren Deliberationen über die Frage, ob sie gerechtfertigt sind, den Gebrauch staatlicher Gewalt zu befürworten oder abzulehnen. 52 Dieses Ergebnis ist aber fatal, denn es nicht plausibel zu erwarten, dass Bürger mit tiefsitzenden religiösen Überzeugungen bereit sind, diese für gänzlich irrelevant zu erklären, wenn es um die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt geht. Die Gefahr sehe ich eher darin, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil von Menschen beginnt, seine liberalen commitments und Überzeugungen in Frage zu stellen, wenn diese – wie es der Integritätseinwand nahe zu legen scheint – mit ihrer religiösen Identität und ihren religiösen Überzeugungen in Konflikt geraten. Meiner Ansicht nach motivieren sich die sektiererischen Modelle eines Perfektionistischen Liberalismus von Wall und Eberle vornehmlich aus dieser Spannung. 7.4.1.3 Tragweite und erfolglose Entkräftungsversuche Wenn die im vorigen Abschnitt vorgetragene Argumentation triftig ist, dann steht ein Vertreter einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung vor einem Dilemma: Entweder er muss bejahen, dass der Privatisierungsvorwurf bzw. Integritätseinwand zutrifft und ein public reason liberalism von Bürgern mit religiösen Überzeugungen nur mit hohen Integritätskosten akzeptiert werden kann, oder aber er muss verneinen, dass der Integritätseinwand zutrifft und gegen eine Konsenskonzeption ins Feld geführt werden kann. Ich möchte zunächst die wohl einfachere Möglichkeit betrachten, das Dilemma aufzulösen. Ein Konsenstheoretiker könnte – wie es Stephen Macedo getan hat – Bürgern mit religiösen Überzeugungen, die den Privatisierungsvorwurf bzw. Integritätseinwand gegen eine Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung geltend machen, ein einfaches »Grow up!« oder »So what?« entgegenhalten. 53 Unabhängig von der Frage, ob eine solche Strategie Gläubige wirklich Auf diese Überlegung bin ich durch eine Lektüre von Gaus aufmerksam geworden, vgl. Gaus, Order of Public Reason, 286. 53 Vgl. Stephen Macedo, »In Defense of Liberal Public Reason: Are Slavery and Abor52
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mit dem Respekt behandelt, der ihnen als mündige und reflektierte Bürger zusteht, möchte ich kurz drei Argumente nennen, die gegen derartige – wenn auch freundlichere – Versuche stehen, das durch den Integritätseinwand entstandene Dilemma aufzulösen. Ein erstes Argument knüpft an das von mir oben entwickelte Szenario im Amerika der 50er Jahre an, in der über eine Aufhebung der Rassengesetzgebung debattiert wird. Insbesondere Stout hat darauf aufmerksam gemacht, dass zentrale und exemplarische Figuren der demokratischen Geschichte der USA – wie Abraham Lincoln oder Martin Luther King – mitsamt ihrer Reden für eine Aufhebung der Sklaverei und für Bürgerrechte das Ideal einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung nicht erfüllen. 54 Retrospektiv betrachtet hätten also die Argumente von Lincoln und King – weil sie von kontroversen religiösen Prämissen abhängig waren – aus der Sicht eines Politischen Liberalismus keinen Einfluss auf die Frage haben dürfen, ob sich eine Abschaffung der Sklaverei und eine Durchsetzung von Bürgerrechten öffentlich rechtfertigen lässt. Dieses historische Selbstanwendungsargument hebt also zwei Aspekte hervor, die dagegen sprechen, den Integritätseinwand auf die leichte Schulter zu nehmen: Erstens zeigt ein Blick in die Geschichte des Liberalismus, dass religiöse Überzeugungen bzw. Bürger mit religiösen Überzeugungen maßgeblich zur Durchsetzung zentraler liberaler Errungenschaften, wie die Abschaffung der Sklaverei oder die Durchsetzung von Bürgerrechten, beteiligt waren. Nun retrospektiv urteilen zu müssen, dass diese Beiträge nicht dem liberalen Ideal einer öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt entsprechen, erscheint äußerst kontraintuitiv. Ausgehend von diesem geschichtlichen Rückblick stellt sich für die Gegenwart und Zukunft zum zweiten die berechtigte Frage, ob eine liberale Gesellschaft nicht auf wertvolle und unersetzliche Beiträge und Argumente in ihren Deliberationen verzichtet, die für den Erhalt und die Weiterentwicklung der liberalen Tradition essentiell sind, wenn sie eine Berufung auf kontroverse religiöse Überzeugungen für prinzipiell und ausnahmslos unzulässig erklärt. 55 tion Hard Cases?«, in Natural Law and Public Reason. Robert P. George und Christopher Wolfe (Hg.) (Washington, DC: Georgetown University Press, 2000), 35. 54 Vgl. Stout, Democracy and Tradition, 69–77. 55 Eine solche Sichtweise vertritt z. B. Jürgen Habermas in jüngeren Publikationen, vgl. Michael Reder, Josef Schmidt und Jürgen Habermas, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt: Eine Diskussion mit Jürgen Habermas (Frankfurt am Main: Suhrkamp,
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Ein zweites Argument, das dagegen spricht, den Privatisierungsvorwurf bzw. Integritätseinwand einfach zu akzeptieren, stammt ebenfalls von Stout. Es ist dialektischer Natur und besagt, dass der Eindruck, dass eine liberale Politische Philosophie nur im Sinne eines Politischen Liberalismus interpretiert werden kann, welcher verlangt, von den eigenen religiösen Überzeugungen zu abstrahieren, wenn es um die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt geht, zur Erstarkung eines anti-liberalen »neuen Traditionalismus« geführt hat. 56 Der Vorwurf, dass die Akzeptanz eines public reason liberalism von Bürgern mit religiösen Überzeugungen verlangt, diese zu privatisieren, befördert fundamentalistische anti-liberale Kräfte und schwächt das Lager der »liberalen« Gläubigen, also derjenigen, die dafürhalten, dass es keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Demokratie, Moderne, Liberalismus und religiösen Überzeugungen gibt. Eine Ignoranz des Integritätseinwands kommt also einer Ignoranz eines Faktums gleich, welches – so Stout – einen nicht unbedeutenden Teil liberaler Bürger vom demokratischen bzw. liberalen Projekt einer öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt entfremdet und einem wachsenden Teil von fundamentalistisch gesinnten und anti-liberalen Bürgern ideologischen Auftrieb verleiht. Ein letztes Argument ist wohl das Gewichtigste, denn es besagt, dass ein Befürworter eines public reason liberalism den Integritätseinwand nicht einfach ignorieren oder in Kauf nehmen kann, weil dieser auf einen möglichen Selbstwiderspruch innerhalb einer liberalen Politischen Philosophie hinweist. Ein public reason liberalism ist angetreten, um zu zeigen, wie unter der Bedingung eines vernünftigen Pluralismus an Vorstellungen von einem guten Leben und der Annahme, dass Menschen als freie und gleiche Personen zu respektieren und behandeln sind, die Etablierung einer fairen und stabilen sozialen Ordnung möglich ist. Essentiell für die Etablierung dieser Ordnung ist die Forderung, dass der Gebrauch der staatlichen Zwangsgewalt nur Legitimität beanspruchen kann, wenn er öffentlich gerechtfertigt wird. Nun deutet der Integritätseinwand aber da2008); Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung (Freiburg im Breisgau: Herder, 2005). 56 Diese These entfaltet und begründet in überzeugender Weise: Stout, Democracy and Tradition, 92–139. Vallier teilt diese Einschätzung und zielt mit seinen Beiträgen darauf ab, die Vereinbarkeit von religiöser Identität und liberaler Politischer Philosophie aufzuzeigen, vgl. Vallier, Liberal Politics and Public Faith. Perfektionistischer Liberalismus
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rauf hin, dass die Akzeptanz einer entsprechenden Konzeption öffentlicher Rechtfertigung in einen Widerspruch mit mindestens zwei zentralen liberalen commitments führt: Erstens wird von Bürgern mit religiösen Überzeugungen verlangt, dass sie bereit sind, tiefe Einschnitte in ihre Religionsfreiheit hinzunehmen. Ihnen wird das Recht verweigert, mittels Argumenten, die auf ihre religiösen Überzeugungen Bezug nehmen, ihre Befürwortung oder ihre Ablehnung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zu begründen. Sie haben also nicht die Möglichkeit, auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Konzeption eines guten Lebens mit Argumenten Einfluss zu nehmen, die auf diese Konzeption eines guten Lebens selbst referieren. In Bezug auf das Thema Religionsfreiheit entpuppt sich eine Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung also als äußerst restriktiv und gerät in einen offenen Widerspruch zum zentralen liberalen commitment, dass Menschen in einem größtmöglichen Maße als freie und gleiche Personen zu behandeln sind. Zweitens wirbt ein public reason liberalism mit dem Versprechen, dass eine Verpflichtung zu einer öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zu einer stabilen sozialen Ordnung führt. Wenn aber nun diese Verpflichtung eine Privatisierung religiöser Überzeugungen erforderlich macht und es plausibel ist anzunehmen, dass dies anti-liberale und fundamentalistische Kräfte stärkt bzw. liberale Bürger mit religiösen Überzeugungen vom liberalen Projekt einer öffentlichen Rechtfertigung des öffentlichen Gebrauchs der staatlichen Zwangsgewalt entfremdet, dann führt ein public reason liberalism nicht zu einer stabilen sozialen Ordnung, sondern verstärkt noch die divergierenden Kräfte einer pluralen Gesellschaft. Anstatt eine stabile soziale Ordnung zu ermöglichen, wird ein public reason liberalism zu einem Element, das zu einer größeren Instabilität der Gesellschaft führt, und gerät somit in einen Widerspruch zu seinem eigenen Anspruch. Natürlich sind diese drei Argumente noch sehr skizzenhaft und bedürften einer tiefergehenden Ausarbeitung. Sie erfüllen meiner Ansicht nach dennoch ihre Funktion, da es mir hier nicht darum geht, den Integritätseinwand zu verteidigen, sondern nur darum, plausibel zu machen, dass ein Vertreter einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung den Privatisierungsvorwurf bzw. Integritätseinwand ernst nehmen sollte und es deshalb nicht sehr klug bzw. aussichtsreich erscheint, das von mir aufgezeigte Dilemma damit lösen zu wollen, dass man den Integrationseinwand auf die leichte Schulter 454
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nimmt. Die skizzierten drei Argumente sprechen dafür, dass der Einwand Gewicht hat und eine Auseinandersetzung mit ihm geboten ist. Wenn ein Vertreter einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung guten Grund hat, den Integritätseinwand nicht als unbedeutend oder irrelevant abzutun, dann verbleibt ihm aber nur die Möglichkeit, die These zu bestreiten, dass die Übernahme einer Konsenskonzeption und der ihr zu Grunde liegenden Theorie öffentlicher Gründe notwendigerweise zu dem führt, was ihr gemäß dem Integritätseinwand vorgeworfen wird, nämlich einer Ausgrenzung aller religiösen Gründe aus der Menge öffentlicher Gründe. Ein Konsenstheoretiker muss also negieren, dass das im vorausgehenden Unterabschnitt präsentierte Argument triftig ist. Es erscheint mir aber völlig aussichtslos, ausgehend von dem in den Schritten (1) bis (3) entworfenen Szenario, Bürger K abzusprechen, dass er hier eine – in den Schritten (4) bis (10) rekonstruierte – legitime Beschwerde gegen die von ihm verlangte Übernahme einer Konsenskonzeption äußert. Um dieses Diktum zu begründen, möchte ich noch einmal kurz die einzelnen argumentativen Schritte durchgehen. Prämisse (4) als falsch zu deklarieren, erscheint nicht besonders aussichtsreich. Es würde bedeuten zu behaupten, dass K – als religiöser Mensch – aufgrund seiner religiösen Überzeugungen eben nicht Mitglied der relevanten Öffentlichkeit P sein kann. Dieser Ausschluss wäre nur dann zu rechtfertigen, wenn ein Konsenstheoretiker nachweisen kann, dass es Mitgliedern der Öffentlichkeit P nicht möglich ist, widerspruchsfrei an ihren religiösen Überzeugungen und ihren liberalen commitments festzuhalten. Natürlich erlegen die liberalen commitments religiösen Bürgern normative Beschränkungen auf und stehen im Widerspruch zu theokratischen oder fundamentalistischen religiösen Überzeugungen. Es ist jedoch alles andere als evident, dass es für alle religiösen Lebensformen unmöglich ist, eine liberale und demokratisch verfasste Grundordnung zu befürworten, es also einen prinzipiellen Widerspruch zwischen Liberalismus und Religion gibt. Schritt (5) anzugreifen verbietet sich. Ein Konsenstheoretiker braucht diesen Schritt, um nachzuweisen, dass Menschen, die die zentralen liberalen commitments für wahr halten, auch zu einem allgemeinen PÖR verpflichtet sind. Ein Zweifel an (6) erscheint nutzlos, da mit diesem Schritt lediglich ausgedrückt wird, dass eine Konzeption öffentlicher Rechtfertigung mittels einer Theorie öffentlicher Gründe darlegen muss, welche Überlegungen den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich rechtfertigen können Perfektionistischer Liberalismus
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und welche nicht. In Schritt (7) wird die Theorie öffentlicher Gründe und das Restriktionsprinzip definiert, die im Hintergrund einer schwachen Konsenskonzeption stehen. Mit dem Kriterium der »Zugänglichkeit« grenzen schwache Konsenstheoretiker sich damit sowohl gegen eine starke Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung (Teilbarkeit), als auch eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung (Intelligibilität) ab. Auch dieser Schritt ist nicht aufgebbar für Konsenstheoretiker und mir ist nicht ersichtlich, wie sie ihn modifizieren könnten, ohne damit entweder von Seiten einer starken Konsenskonzeption oder von Seiten einer Konvergenzkonzeption unter Druck zu geraten. In (8) werden die Schritte (4) bis (7) auf das in (1) bis (3) entworfene Szenario angewendet und die Schlussfolgerung gezogen, dass der von K vorgebrachte religiöse Grund GK nicht Teil der Menge öffentlicher Gründe sein kann. Wenn die Prämissen (1) bis (3) als wahr anerkannt werden und die Schlussfolgerungen von (4) bis (7) akzeptiert werden, dann muss auch die in (8) formulierte Schlussfolgerung als triftig anerkannt werden. Ein Angriff auf Schritt (8) erscheint also als aussichtslos, wenn man die vorhergehenden Prämissen bzw. Schritte akzeptiert. Wie sieht es nun mit Schritt (9) aus? Ist es einem Konsenstheoretiker möglich, hier eine Schwachstelle in der Argumentation auszumachen? Formal gesehen sind hier die Aussichten nicht schlecht, weil es sich bei Schritt (9) um ein induktives Argument handelt, was die Schlussfolgerung aus (8) auf der Grundlage einer probabilistischen Annahme verallgemeinert. Das Problem für einen Konsenstheoretiker ist nur, dass die probabilistische Annahme, dass es in einer Gesellschaft, die sich durch einen vernünftigen Pluralismus auszeichnet, sehr wahrscheinlich keine Einigkeit bezüglich religiöser evaluativer Standards gibt, sehr plausibel erscheint und empirisch gut abgesichert ist. Die Erfolgsaussichten, den Integritätseinwand mit einem Angriff auf Schritt (9) zu entkräften, erscheinen somit auch hier als sehr gering. Will ein Konsenstheoretiker den Integritätseinwand entkräften, so verbleibt also nur die Möglichkeit, Schritt (10) zu attackieren. In Schritt (10) wird vorausgesetzt, dass die bisherige Argumentation triftig ist und Bedingungen formuliert, die definieren, wann Bürger K die legitime Beschwerde äußern kann, dass ihm die Übernahme einer Konsenskonzeption hohe »Integritätskosten« abverlangt. Die Formulierung dieser Bedingungen und die Unterscheidung zwischen »illegitimen« und »legitimen« Beschwerden ist notwendig, um sich gegen den Vorwurf erwehren zu können, dass jeder Fanatiker 456
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geltend machen kann, dass ihm die Akzeptanz einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung hohe »Integritätskosten« abverlangt. Da in Schritt (4) schon die normativen Beschränkungen formuliert sind, die eine Mitgliedschaft in P von Bürger K abverlangt, kann es hier deshalb nur um die epistemischen Beschränkungen gehen. Anders formuliert: Schritt (4) macht deutlich, dass rassistische Fanatiker keine legitime Beschwerde äußern können, dass ihnen die Akzeptanz einer Konsenskonzeption hohe Integritätskosten abverlangt, weil vorausgesetzt wird, dass nur liberale Bürger legitime Beschwerden äußern können, Rassisten aber per Definition nicht zur Menge liberaler Bürger gehören, weil sie das commitment, das Menschen in einem grundsätzlichen Sinne als freie und gleiche Personen zu behandeln sind, als falsch ablehnen. Die Bedingungen (10a–d) stellen epistemische Beschränkungen dar, die sich aus der Notwendigkeit einer moderaten (epistemischen) Idealisierung der Mitglieder der Öffentlichkeit P ergeben. Wie ich schon dargelegt habe (siehe 7.3.2.3), ist diese Idealisierung erforderlich, um begründen zu können, dass eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung nicht so permissiv ist, dass sie auch die Argumente eines irrationalen Weihnachtsmannfanatikers zur Menge öffentlicher Gründe rechnen muss. Will ein Konsenstheoretiker den Integritätseinwand entkräften, so erscheint mir die einzig erfolgsversprechende Strategie zu sein, Schritt (10) anzugreifen, also dafür zu argumentieren, dass liberale Bürger wie K keine legitime Beschwerde im Sinne des Integritätseinwands äußern können, weil sie eine oder mehrere Bedingungen nicht erfüllen, die sich aus den epistemischen Beschränkungen einer moderaten Idealisierung ergeben. Anders formuliert: Die Beschwerde, dass die Akzeptanz einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung Bürgern mit religiösen Überzeugungen hohe Integritätskosten abverlangt, ist illegitim, weil diese »Kosten« aus der notwendigen moderaten Idealisierung der Mitgliedschaft in P resultieren. Der Integritätseinwand entpuppt sich somit als ein Einwand gegen die epistemischen Beschränkungen, die eine Mitgliedschaft in P auferlegt. Geht man die einzelnen Bedingungen durch, so erscheint es mir für einen Konsenstheoretiker möglich, die Erfülltheit jeder der einzelnen Bedingungen in Frage zu stellen, aber am aussichtsreichsten, die Bedingungen (10c) und (10d) anzugreifen. Bei der Bedingung (10a) anzusetzen, hieße Bürger K nachweisen zu müssen, dass für eine moderat idealisierte Variante von ihm ein commitment zum evaluativen Standard EK und Überlegung (δ) kein zentraler Bestandteil Perfektionistischer Liberalismus
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seiner religiösen Identität mehr ist, also K sich derzeit im Irrtum darüber befindet, was zentral für den Erhalt seiner religiösen Identität ist. Dass es solche Fälle gibt, ist nicht unplausibel. Ebenso plausibel ist es aber anzunehmen, dass es genügend andere Fälle gibt, in denen auch moderat idealisierte Varianten von Bürgern gerechtfertigt sind anzunehmen, dass ihre jeweiligen religiösen evaluativen Standards ein zentraler und unaufgebbarer Bestandteil ihrer religiösen Identität sind. Im konkreten Fall etwa erscheint es mir durchaus plausibel anzunehmen, dass EK (»Es ist gut für Menschen, wenn sie den Willen Gottes erfüllen«) zentral für die religiöse Identität von K ist, und K sich in einer moderat idealisierten Variante von ihm selbst nicht widererkennen würde, wenn von dieser gefordert wird, EK aufzugeben. Ebenso schwierig erscheint es, Bedingung (10b) zu attackieren. Ein Konsenstheoretiker müsste nachweisen, dass eine moderate Idealisierung von liberalen Bürgern verlangt, dass diese von Religionen bzw. religiösen Lebensformen Abstand nehmen, die einen »integralen« Anspruch haben. Mir ist nicht ersichtlich, wie dies gelingen soll, ohne sich dem Vorwurf der Zirkularität auszusetzen. Denn der Integritätseinwand nährt sich ja gerade aus dem Faktum, dass die meisten Religionen einen integralen Anspruch haben, der erst zu einem Konflikt mit Neutralitäts- oder Restriktionsprinzipien führt, wie sie sich aus einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung ableiten. Da es hier aber gerade um einen Einwand geht, der gegen die Übernahme einer Konsenskonzeption spricht, kann nicht argumentiert werden, dass deren Übernahme eben die Akzeptanz der damit verbundenen Integritätskosten verlangt. Konsenstheoretiker müssten also den Nachweis führen, dass es für moderat idealisierte Varianten von liberalen Bürgern mit religiösen Überzeugungen nicht möglich ist, Religionen anzuhängen, die von ihnen erfordern, auch in der Öffentlichkeit gemäß ihren religiösen Überzeugungen zu handeln. Dies halte ich aber für eine äußerst kontroverse und problematische Strategie, die sich mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen hat, dass sie sozusagen »von außen« religiösen Bürgern Kriterien für ihr religiöses Selbstverständnis vorschreibt, die ihnen »von innen« her als eine Aufforderung zur Aufgabe eines zentralen Moments ihrer religiösen Identität erscheinen. Das rein formale Faktum, dass manche Religionen einen integralen Anspruch haben, reicht nicht aus um zu begründen, dass es für moderat idealisierte Varianten von liberalen Bürgern nicht möglich ist, diesen anzuhängen. Es bedarf einer inhaltlichen Beweisführung, die demonstriert, dass jeder Integralitätsanspruch einer 458
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Religion unvereinbar mit liberalen Grundüberzeugungen bzw. einer Verpflichtung zur öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ist. Die Beweislast liegt hier aber klar bei Konsenstheoretikern. Weitaus einfacher erscheint mir, dass Konsenstheoretiker argumentieren, dass die Bedingungen (10c) und (10d) aufgrund der geforderten moderaten Idealisierung der Mitglieder der Öffentlichkeit P nicht erfüllt werden können, Bürger wie K deshalb kein Mitglied von P sein können und der Integritätseinwand folglich keine legitime Beschwerde darstellt. Mit anderen Worten: Zwischen dem oben dargestellten »Weihnachtsmannfanatiker« und Bürger K gibt es keinen relevanten Unterschied. Wie eine moderat idealisierte Variante des Weihnachtsmannfanatikers, muss eine (epistemisch) moderat idealisierte Variante von K einsehen, dass sie entweder nicht gerechtfertigt ist zu glauben, dass ihr commitment zu ihrem evaluativen Standards EK (Bedingung 10c) vernünftig ist, oder aber sie nicht gerechtfertigt ist zu glauben, dass Überlegung (δ) wahr ist (Bedingung 10d). Bezüglich (10c) könnte ein Konsenstheoretiker etwa anführen, dass EK die Wahrheit folgender Propositionen voraussetzt 57: (11) Gott existiert. (12) Gott hat einen Willen. (13) Gott ist gut und will das für den Menschen Gute. (14) Der Wille Gottes ist für den Menschen erkennbar. Dieses Argument ist natürlich äußerst simpel und vereinfacht dargestellt. Ähnlich wie bei anderen Beispielen in dieser Arbeit in Bezug auf perfektionistische oder religiöse Überzeugungen und sich daraus ableitenden Gründen, besteht die Gefahr, hier lediglich eine »Karikatur« von Argumenten vorzutragen, die im wissenschaftlichen Diskurs viel komplexer, durchdachter und ausgereifter sind, vgl. Jeremy Waldron, God, Locke, and Equality: Christian Foundations of John Locke’s Political Thought (Cambridge: Cambridge University Press, 2002), 20. Ich halte es aus drei Gründen dennoch für angemessen, an einer solchen Simplifizierung in der Darstellung festzuhalten: Erstens haben die perfektionistischen oder religiösen Argumente von »normalen« Bürgern eben diese einfache Form. Zweitens finden sich in der Literatur bzw. der Debatte oftmals Beispiele, die in solch einer einfachen Form konstruiert sind. Drittens und letztens geht es mir ja in meiner Argumentation um den Punkt der moderaten Idealisierung, also um die Frage, ob moderat idealisierte Varianten von Bürgern, die derartige Argumente vortragen, gerechtfertigt sein können, an ihnen festzuhalten. Damit sie dies können, müssen die Argumente zwangsläufig komplexer werden, aber unhintergehbarer Ausgangspunkt sollen die Überzeugungen und Argumente von »normalen« Bürgern sein. Es geht mir also nicht um eine »Karikatur« perfektionistischer oder religiöser Überzeugungen und Argumentationen, sondern um eine Verankerung im oftmals nicht-idealisierten Diskurs.
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Es gibt für jede dieser Propositionen gute Gründe, sie für falsch zu halten. Es gibt nicht nur gute Argumente, die gegen die Existenz Gottes (11) bzw. eines »personalen« Gottes (12) sprechen, sondern mit dem Theodizeeargument gibt es ein sehr überzeugendes Argument für die These, dass entweder Proposition (13) oder (14) falsch ist. 58 Ein Konsenstheoretiker kann also argumentieren, dass eine moderat idealisierte Variante von K nicht gerechtfertigt ist zu glauben, dass ihr commitment zu EK vernünftig ist oder nicht gerechtfertigt ist zu glauben, dass ihre Überlegung (δ) wahr ist, weil die Akzeptanz religiöser evaluativer Standards wie EK im Widerspruch zu anerkannten wissenschaftlichen evaluativen Standards steht und eine überwältigende Evidenz dafür spricht, dass ihre religiösen Überzeugungen falsch sind. In Analogie zum Beispiel des Weihnachtsmannfanatikers zeigt sich demnach – so ein Konsenstheoretiker –, dass Bürger K nicht geltend machen kann, dass ihm die Akzeptanz einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung illegitime Integritätskosten auferlegt, weil eine moderat idealisierte Variante von K anerkennen muss, dass diese Kosten der »Preis« sind, der sich aus den epistemischen Beschränkungen ergibt, die eine Zugehörigkeit zur relevanten Öffentlichkeit P abverlangt. Wie hoch man die Erfolgsaussichten einer solchen Strategie zur Entkräftung des Integritätseinwands einschätzt, hängt mit der Beantwortung der Frage zusammen, für wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass Bürger mit religiösen Überzeugungen plausibel machen können, dass sich ihr Fall vom Fall des Weihnachtsmannfanatikers unterscheidet bzw. Konsenstheoretiker plausibel machen können, dass religiöse Bürger niemals gerechtfertigt sein können, ihre religiösen evaluativen Standards und ihre religiösen Überzeugungen in einem pluralen und modernen epistemischen Kontext für wahr zu halten. Ich kann im Rahmen dieser Arbeit nicht dafür argumentieren, warum ich es für unwahrscheinlich halte, dass Konsenstheoretikern dieser Nachweis gelingt, weshalb ich auch diesem Versuch zur Entkräftung des Integritätseinwands nur wenig Erfolgsaussichten beimesse. Stattdessen möchte ich nur auf folgenden Gedanken verweisen: Die Frage, ob ein religiöses Weltbild widerspruchsfrei vereinbar ist mit den Erkenntnissen, die wir aus den Naturwissenschaften ge-
Eine knappe und gute Einführung in das Problem findet sich bei Klaus von Stosch, Theodizee (Paderborn: Schöningh, 2013), 7–17.
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wonnen haben, ist alles andere als entschieden. 59 Bürger mit religiösen Überzeugungen müssen diese rechtfertigen können und darlegen können, dass z. B. ihre Überzeugungen, dass Gott existiert, dass er das für den Menschen Gute will und dieser Wille für den Menschen erkennbar ist, sie nicht dazu nötigen, anerkannte wissenschaftliche Tatsachen oder Erkenntnisse zu negieren. An ernstzunehmenden Versuchen, dies zu leisten, mangelt es nicht. 60 Damit erhöht sich die Beweislast für einen Konsenstheoretiker aber signifikant. Er müsste zeigen, dass selbst Bürger wie Swinburne, Plantinga, Alston, Stump oder Davies – bzw. Bürger, die sich ihre Argumente für die Rechtfertigung ihrer religiösen Überzeugungen zu eigen machen – aus epistemischen Gründen nicht Mitglied der Öffentlichkeit P sein können. Mit anderen Worten: Es erscheint äußerst unplausibel anzunehmen, dass eine moderate Idealisierung der Mitglieder der Öffentlichkeit P dazu führt, dass dort keine Bürger mehr mit religiösen Überzeugun-
Während Vertreter des sogenannten »Neuen Atheismus« z. B. für ein materialistisches Weltbild bzw. einen reduktiven Naturalismus argumentieren, also dafür, dass religiöse Überzeugungen notwendigerweise im Widerspruch zu modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen stehen, liefern andere Autoren gute Argumente für die These, dass ein solcher reduktiver Naturalismus nicht konsistent vertreten werden kann bzw. ein – recht verstandenes – religiöses Weltbild nicht notwendigerweise unvereinbar ist mit dem Bild der Welt, welches die modernen Naturwissenschaften zeichnen, vgl. Richard Dawkins, The God Delusion (London: Bantam Press, 2006); Daniel C. Dennett, Breaking the Spell: Religion As a Natural Phenomenon (New York: Viking, 2006); Edward Feser, The Last Superstition: A Refutation of the New Atheism (South Bend, Indiana: St. Augustine’s Press, 2008); Thomas Nagel, Mind and Cosmos: Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature Is Almost Certainly False (Oxford: Oxford University Press, 2012). 60 Exemplarisch sei hier lediglich verwiesen auf William P. Alston, Perceiving God: The Epistemology of Religious Experience (London: Cornell University Press, 1991); Michael Bongardt, Einführung in die Theologie der Offenbarung (Darmstadt: WBG, 2 2009; 2005); Brian Davies, An Introduction to the Philosophy of Religion (Oxford: Oxford University Press, 32004; 1982); Armin Kreiner, Das wahre Antlitz Gottes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen (Freiburg: Herder, 2006); Alvin Plantinga, Where the Conflict Really Lies: Science, Religion, and Naturalism (Oxford: Oxford University Press, 2011); Eleonore Stump, Wandering in Darkness: Narrative and the Problem of Suffering (Oxford: Clarendon Press, 2010); Richard Swinburne, The Existence of God (Oxford: Clarendon Press, 22004; 1979); Linda Zagzebski, Philosophy of Religion: An Historical Introduction (Oxford: Blackwell, 2007); Christoph Böttigheimer, Handelt Gott in der Welt? – Reflexionen im Spannungsfeld von Theologie und Naturwissenschaft (Freiburg im Breisgau: Herder, 2013). 59
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7.4.2 Entkräftung 7.4.2.1 Drei Vorbemerkungen Bevor ich darstelle, wie ein Rückgriff auf eine Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung es ermöglicht, den Integritätseinwand zu entkräften, halte ich es für angebracht, dem drei Bemerkungen vorzuschalten. Die erste Vorbemerkung betrifft die Motivation bzw. den Fokus der in Kürze präsentierten Entkräftung des Integritätseinwands. Wenn ich im vorausgehenden Unterabschnitt gegen mögliche Versuche argumentiert habe, den Integritätseinwand zu entkräften, dann nicht, weil ich Bürgern mit religiösen Überzeugungen darin zustimme, dass aus ihrer Sicht gegen die Übernahme eines public reason liberalism und seiner Forderung der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt spricht, dass ihnen dadurch hohe Integritätskosten entstehen. Was ich aufzeigen wollte und mit meinem Lösungsvorschlag noch deutlicher aufzeigen werde, ist, dass nicht ein public reason liberalism das Problem ist, sondern seine Interpretation im Sinne einer Konsenskonzeption. Erst dadurch entstehen manchen religiösen Bürgern hohe Integritätskosten. Wenn ich den Integritätseinwand stark mache, dann also nur, um zu zeigen, dass er gegen eine Konsenskonzeption spricht, bzw. für eine Konvergenzkonzeption verspricht, dass sie den Integritätseinwand entkräften kann. Eine zweite Vorbemerkung soll mögliche Bedenken ausräumen, die sich wahrscheinlich – und berechtigt – sofort melden, wenn ich im nächsten Unterabschnitt dafürhalte, dass gemäß einer Konvergenzkonzeption religiöse Gründe nicht prinzipiell aus der Menge öffentlicher Gründe ausgeschlossen werden können und der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt wenigstens in manchen Fällen Legitimität beanspruchen kann, auch wenn er nur mit Argumenten gerechtfer-
Dies ist natürlich auch eine kontroverse Behauptung, die sich bei einer Vertiefung dieses Themas mit kritischen Argumenten auseinandersetzen müsste, die das Gegenteil behaupten. So hat etwa Ansgar Beckermann jüngst dafür argumentiert, dass es keine guten epistemischen Gründe gibt, an die Existenz Gottes zu glauben, vgl. Ansgar Beckermann, Glaube (Berlin: De Gruyter, 2013). 61
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tigt wird, die von kontroversen religiösen Annahmen darüber abhängen, was ein gutes Leben ist und ausmacht. Die Sorge, dass man damit irgendwelchen radikalen und fundamentalistischen religiösen Kräften (z. B. Salafisten oder Taliban) oder irgendwelchen irrationalen religiösen Fanatikern (z. B. Weihnachtsmannfanatikern oder Sektenmitgliedern) einen Einfluss auf die Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt zugesteht, ist meiner Ansicht nach unbegründet. Sie ist unbegründet, weil nur Bürger mit religiösen Überzeugungen zur Öffentlichkeit P zugelassen werden – also zur Menge von Bürgern, die über die Frage deliberiert, ob eine staatliche Zwangsmaßnahme öffentlich gerechtfertigt ist oder nicht –, die die schon näher betrachteten normativen und epistemischen Beschränkungen akzeptieren (siehe 7.3.2.3). Ein Taliban, Salafist oder ultramontaner Katholik kann nicht geltend machen, dass ihm hohe Integritätskosten entstehen, wenn er eine Konzeption öffentlicher Rechtfertigung akzeptieren soll, weil vorausgesetzt wird, dass die Mitglieder von P an zentralen liberalen commitments festhalten. Anders formuliert: Derartige religiöse Identitäten können aus normativen Gründen nicht Teil eines liberalen Projekts der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt sein, weil diese religiösen Identitäten im Widerspruch stehen zu zentralen liberalen Überzeugungen. Wie man mit derartigen religiösen »Anti-Liberalen« umgehen soll, ist eine andere Frage. Wichtig an dieser Stelle ist lediglich, dass derartige Bürger den Integritätseinwand nicht geltend machen können. Ebenso wenig können Anhänger offensichtlich irrationaler religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen – wie z. B. unser Weihnachtsmannfanatiker – geltend machen, dass eine Konzeption öffentlicher Rechtfertigung in illegitimer Weise ihre Gründe aus der Menge öffentlicher Gründe ausgrenzt. Mitglieder der relevanten Öffentlichkeit P sind nicht die aktualen Bürger, sondern moderat idealisierte Varianten von ihnen. Dies besagt, dass Mitglieder von P nur Bürger mit Überzeugungen sein können, die bestimmten epistemischen Ansprüchen genügen. Religiöse Überzeugungen sind also nicht sakrosankt: Gründe, die auf sie referieren, sind nur Teil der Menge öffentlicher Gründe, wenn diese Überzeugungen auch offen gerechtfertigt werden können. »Offen gerechtfertigt« meint, dass ein Bürger auch dann noch gerechtfertigt ist, diese Überzeugungen für wahr zu halten, wenn er sie mit dem in seinem epistemischen Kontext zur Verfügung stehenden Informationen, Evidenz und wissenschaftlichen Perfektionistischer Liberalismus
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Erkenntnissen konfrontiert hat. Auf diese Weise können sowohl »Immunisierungsstrategien« – wie sie für Sekten typisch sind – entlarvt werden, als auch begründet werden, warum eine Aufgabe einer Konsenskonzeption und ihres epistemischen Zugänglichkeitskriteriums nicht dazu führt, dass nun auch die Gründe von offensichtlich irrationalen religiösen Fanatikern der Menge öffentlicher Gründe zugerechnet werden müssen. Eine dritte und letzte Vorbemerkung ist an Kritiker adressiert, die die Sorge äußern, dass die Bejahung der These, dass es wenigstens manchmal der Fall sein kann, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt legitim ist, auch wenn er nur mit kontroversen religiösen Argumenten gerechtfertigt wird, einer religiösen Teilmenge von P die Möglichkeit eröffnet, einer anderen Teilmenge von atheistischen oder andersgläubigen Bürgern ihre Vorstellung von einem guten Leben mittels Mehrheitsentscheidungen aufzuoktroyieren. Dass diese Sorge (leider) berechtigt ist bzw. das Projekt eines Perfektionistischen Liberalismus geradezu damit identifiziert wird, ist meiner Ansicht nach vor allem dem Faktum geschuldet, dass Wall hier als Hauptgesprächspartner bzw. als »der« Repräsentant eines Perfektionistischen Liberalismus angesehen wird. In meiner Kritik und damit verbundenen Abgrenzung zu Wall (siehe 7.2.2.1) habe ich aber deutlich gemacht, dass diese Sorge im Blick auf den hier vertretenen Ansatz unbegründet ist. Die Möglichkeit, dass kontroverse perfektionistische bzw. religiöse Gründe zur Menge öffentlicher Gründe gehören können, dispensiert die Mitglieder von P nicht, sich gegenseitig Überlegungen zu nennen, die vom jeweils anderen Standpunkt aus als Gründe anerkannt werden können. Eine politische Maßnahme ist eben erst dann öffentlich gerechtfertigt, wenn jedes Mitglied von P einen gewichtigen Grund hat, diese Maßnahme zu befürworten. Unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus ist es also nahezu ausgeschlossen, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt ausschließlich durch einen Rekurs auf religiöse Gründe öffentlich gerechtfertigt werden kann. 7.4.2.2 Erfolgreiche Entkräftung Nach diesen Vorbemerkungen aber zurück zu der Frage, wie ein Konvergenztheoretiker den Integritätseinwand entkräften kann und warum dies für die Überlegenheit einer Konvergenzkonzeption gegenüber einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung spricht. Ich habe demonstriert (siehe 7.4.1.3), dass ein public reason liberal vor einem Dilemma steht: Es gibt gute Gründe, die dagegen sprechen, 464
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den Integritätseinwand einfach zu ignorieren oder als irrelevant abzutun. Wird die Herausforderung durch den Integritätseinwand aber angenommen, so scheint für einen public reason liberal Schritt (10) als einzig plausible Möglichkeit, um den Integritätseinwand anzugreifen bzw. zu entkräften. Diese Möglichkeit zu wählen erscheint mir äußerst unattraktiv, weil sie allen liberalen Bürgern mit religiösen Überzeugungen absprechen muss, dass sie gerechtfertigt sind, ihre religiösen Überzeugungen für wahr zu halten. Es spricht aber einiges dafür, dass wenigstens manche religiösen Überzeugungen in einem offenen Sinne gerechtfertigt werden können, also religiöse Bürger auch in der Konfrontation mit dem in unserem epistemischen Kontext zugänglichen Wissen, den verfügbaren Informationen und Erkenntnissen gerechtfertigt sind, an der Wahrheit ihrer religiösen Überzeugungen festzuhalten. Die Schwäche eines public reason liberalism, der im Sinne einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung interpretiert wird, liegt also darin, dass er negieren muss, dass moderat idealisierte Varianten von liberalen Bürgern mit religiösen Überzeugungen Teil der Öffentlichkeit P sein können und deshalb eine legitime Beschwerde äußern können, wenn sie auf die hohen Integritätskosten verweisen, die ihnen ein public reason liberalism abverlangt. Interpretiert man einen public reason liberalism hingegen im Sinne einer Konvergenzkonzeption, so ergibt sich die elegantere Alternative zur Entkräftung des Integritätseinwands, die Schritt (10) unangetastet lassen kann, also zugestehen kann, dass es auch Bürger in der Öffentlichkeit P geben kann, die in einem offenen Sinn gerechtfertigt sind, ihre religiösen Überzeugungen für wahr zu halten. Anders formuliert: Was eine Konvergenzkonzeption attraktiv macht, ist, dass sie auch dann eine Entgegnung auf den Integritätseinwand hat, wenn dieser von Bürgern geäußert wird, die die zentralen liberalen commitments akzeptieren und die religiöse Überzeugungen haben, die sich offen rechtfertigen lassen. Mit der Übernahme einer Konvergenzkonzeption wird es möglich, obigen Schritt (7) anzugreifen bzw. zu negieren. Die Akzeptanz eines allgemeinen PÖR bzw. eines public reason liberalism impliziert eben nicht die Akzeptanz einer Theorie öffentlicher Gründe und eines sich aus ihr ableitenden Restriktionsprinzips, wonach zur Menge öffentlicher Gründe nur Gründe gehören können, die die epistemische Eigenschaft der »Zugänglichkeit« besitzen. Weil aufgrund einer schwachen Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung nur solche Gründe öffentliche Perfektionistischer Liberalismus
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Gründe sein können, die gemäß gemeinsamer evaluativer Standards als Gründe anerkannt werden können, ist es unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus nahezu ausgeschlossen, dass Gründe, die auf religiöse evaluative Standards rekurrieren, zur Menge öffentlicher Gründe gehören können. Gibt man aber nun mit einer Konvergenzkonzeption das Erfordernis gemeinsamer evaluativer Standards auf und verlangt von öffentlichen Gründen lediglich, dass sie die epistemische Eigenschaft der »Intelligibilität« besitzen, so ist es möglich, dass wenigstens manche religiösen Gründe der Menge öffentlicher Gründe angehören. Wie insbesondere Vallier herausgearbeitet hat, wird dem Privatisierungsvorwurf bzw. dem Integritätseinwand damit der Zahn gezogen. 62 Die Argumentation kollabiert bei Schritt (7), weil aus der Übernahme eines public reason liberalism bzw. eines Prinzips öffentlicher Rechtfertigung nicht notwendigerweise folgt, dass kontroverse religiöse Gründe nicht Teil der Menge öffentlicher Gründe sein können, sondern dies lediglich aus der Interpretation eines public reason liberalism im Sinne einer schwachen oder starken Konsenskonzeption notwendigerweise folgt. Aus der Erörterung des Verhältnisses von Bürgern mit religiösen Überzeugungen zum liberalen Projekt der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt lassen sich im Zusammenhang mit dem Integritätseinwand zusammenfassend drei Aspekte nennen, die dafür sprechen, das Prinzip öffentlicher Rechtfertigung im Sinne einer Konvergenzkonzeption zu interpretieren: Erstens kann eine Konvergenzkonzeption dem liberalen commitment zu einer größtmöglichen expressiven Freiheit seiner Bürger besser Geltung verschaffen als eine Konsenskonzeption. 63 Gemäß einer Konvergenzkonzeption sind liberale und moderat idealisierte Bürger berechtigt, ihre Befürwortung oder Ablehnung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt im Rekurs auf ihre – offen rechtfertigbaren – religiösen Überzeugungen zu rechtfertigen. Wie gesagt, dies dispensiert sie nicht, anderen Überlegungen zu nennen, die diese ausgehend von ihrem System an Überzeugungen und Werten als gewichtige Gründe anerkennen können. Vgl. Vallier, Liberal Politics and Public Faith. Im Rückgriff auf Brandom formuliert Stout einige interessante Überlegungen zum Verhältnis eines – in kantischer bzw. kontraktualistischer Tradition stehenden – negativen Freiheitsbegriffs und eines – in hegelianischer bzw. pragmatischer Tradition stehenden – positiven bzw. expressiven Freiheitsbegriffs, vgl. Stout, Democracy and Tradition, 77–85.
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Zweitens scheint eine Konvergenzkonzeption auch besser dem Faktum eines vernünftigen Pluralismus Rechnung tragen zu können. Eine Konvergenzkonzeption kann erlauben, dass unterschiedliche evaluative Standards eine Rolle bei der Beantwortung der Frage spielen, ob sich der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt öffentlich rechtfertigen lässt. Insbesondere Gaus betont, dass es geradezu verblüffend ist, wie Konsenstheoretiker wie Quong auf der einen Seite einen vernünftigen Pluralismus sehr stark machen, auf der anderen Seite dann aber vor der Idee zurückschrecken, dass es auch eine Pluralität an vernünftigen und miteinander inkompatiblen evaluativen Standards gibt. 64 Für eine Interpretation oder Rekonstruktion eines public reason liberalism im Sinne einer Konvergenzkonzeption spricht drittens und letztens, dass sie von liberalen Bürgern nicht verlangt, von ihren – offen rechtfertigbaren – religiösen Überzeugungen zu abstrahieren. In ihrer Fähigkeit, den Integritätseinwand zu entkräften, erweist sie sich als die Konzeption, die eher geeignet ist, die Etablierung einer fairen und stabilen Form sozialer Kooperation freier und gleicher Bürger unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus zu ermöglichen.
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Vgl. Gaus, Order of Public Reason, 292.
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Wenn die Argumentation in den drei Teilen dieser Arbeit fehlerfrei ist, dann lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen. Erstens sollte die »Neutralitätsdebatte« bzw. die sogenannte »LiberalismusPerfektionismus-Debatte« nicht als Kontroverse zwischen zwei miteinander konkurrierenden Theoriefamilien der Politischen Philosophie verstanden werden, sondern als eine Debatte, die innerhalb der jüngeren Tradition eines public reason liberalism geführt wird. Den Positionen innerhalb dieser Kontroverse ist gemeinsam, dass sie an liberalen Grundüberzeugungen festhalten, ebenso wie an der Vorstellung, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn er öffentlich gerechtfertigt wird. In Zukunft sollte deshalb der bisher gebräuchliche Ausdruck »Liberaler Perfektionismus« zu Gunsten des Terminus »Perfektionistischer Liberalismus« fallen gelassen werden, weil dies besser abbildet, dass es sich hier um eine Kontroverse zwischen liberalen Positionen handelt. Ist meine Analyse dieser Debatte zutreffend, dann geht es – zweitens – in ihr um die grundlegende Frage, ob es widerspruchsfrei möglich ist, an liberalen Grundüberzeugungen und einem Prinzip der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt festzuhalten und zugleich ein Neutralitätsprinzip abzulehnen. In der Frühphase der Debatte lassen sich hier drei unterschiedlich einflussreiche »kompatibilistische« Positionen ausmachen, die den Versuch unternehmen, dieses Problem durch eine Beschränkung des Geltungs- oder Umfangsbereichs des Neutralitätsprinzips zu lösen bzw. zu entschärfen. Gemäß meinem Dafürhalten kann keine dieser Positionen überzeugen, was zum Teil auch erklärt, warum es auf beiden Seiten zu einer Radikalisierung der Lösungsvorschläge für dieses Problem gekommen ist. Drittens folgt aus meiner Untersuchung, dass mit der Publikation von Jonathan Quongs Liberalism without Perfection eine neue dialektische Situation in der Debatte eingetreten ist, die die BefürworPerfektionistischer Liberalismus
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ter eines Perfektionistischen Liberalismus unter Druck setzt. Ausgehend von Quongs Entkräftung des Asymmetrievorwurfs zeigt sich, dass man im Rückgriff auf die Arbeiten von Steven Wall und George Sher zwei Modelle eines Perfektionistischen Liberalismus unterscheiden kann, die jeweils nicht überzeugend darlegen können, wie es möglich ist, am Prinzip der öffentlichen Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt festzuhalten und zugleich die Geltung eines anti-perfektionistischen Beschränkungsprinzips zu negieren. Walls sektiererisches Modell ist nicht akzeptabel, weil seine Ablehnung des Neutralitätsprinzips ihn schließlich zu einer Uminterpretation des Konzepts öffentlicher Rechtfertigung zwingt, die ihn wiederum in Konflikt mit liberalen Grundüberzeugungen bringt. Shers quasi-naturrechtliches Modell verfolgt hier einen vielversprechenderen Lösungsansatz, allerdings komme ich zu dem Ergebnis, dass es letztlich an dem Versuch scheitert, ohne einen Rekurs auf metaphysische bzw. essentialistische Annahmen über die menschliche Natur den Objektivitätsanspruch einer Theorie eines guten Lebens rechtfertigen zu wollen, um so das Problem der öffentlichen Rechtfertigung zu lösen. Sind die Argumente des dritten Teils meiner Arbeit triftig, dann können daraus zwei Dinge geschlussfolgert werden: Zum einen habe ich im Rekurs auf einen (neo-)aristotelischen Naturalismus demonstriert, dass sich die Schwäche des konstruktiven Elements eines Perfektionistischen Liberalismus beheben lässt. Der Objektivitätsanspruch perfektionistischer Urteile lässt sich in einer einheitsgebenden Weise rechtfertigen, wenn man bereit ist, kontroverse essentialistische bzw. metaphysische Überlegungen zur menschlichen Natur ins Spiel zu bringen. Das Zugeständnis, dass damit nicht zugleich das Problem der öffentlichen Rechtfertigung und somit die Schwäche des defensiven Elements eines Perfektionistischen Liberalismus behoben ist, ist jedoch zum anderen nicht fatal, da es mir mit meinem Konvergenzmodell gelingt, einen ganz eigenen Lösungsvorschlag für dieses Problem zu unterbreiten. Maßgeblich ist hierfür mit Autoren wie Gaus, Vallier und Stout zwischen einer Konsens- und einer Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung zu unterscheiden. Mittels dieser Unterscheidung ist es möglich, ein Neutralitätsprinzip abzulehnen, ohne damit zugleich in Konflikt mit liberalen Grundüberzeugungen bzw. –werten zu geraten oder die Geltung eines allgemeinen Prinzips der öffentlichen Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt negieren zu müssen. Ich habe mit dieser Untersuchung insofern belegt, dass es inner470
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halb der Tradition eines public reason liberalism nicht nur eine Alternative zu einem anti-perfektionistischen Politischen Liberalismus gibt, sondern diese Alternative sich zudem als eine äußerst attraktiv erweist. Vertritt man ein Konvergenzmodell eines Perfektionistischen Liberalismus, so kann man die revisionären Konsequenzen eines Politischen Liberalismus für die politische Praxis liberaler Gesellschaften bzw. Staaten vermeiden. Ebenso hat sich erwiesen, dass es den liberalen Werten »Freiheit«, »Gleichheit«, »vernünftige Pluralität«, »Stabilität« und »Fairness« in manchen Punkten besser Geltung verschaffen kann, als dies ein Anti-Perfektionistischer Liberalismus kann. Dieses »Mehr« an Liberalität und zugleich Stabilität kann dadurch erklärt werden, dass eine Konvergenzkonzeption stärker den epistemischen Standpunkt der ersten Person Singular berücksichtigen kann, ohne damit die Relevanz des epistemischen Standpunkts der zweiten Person Singular für den Prozess der öffentlichen Rechtfertigung aus dem Blick zu verlieren. Anders als bei einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung ist nicht mehr die epistemische Perspektive der ersten Person Plural entscheidend, die durch eine Abstraktionsleistung von der eigenen Identität und den eigenen partikulären Überzeugungen – Stichwort: »Schleier des Nichtwissens« – eingenommen wird, sondern die Fähigkeit zu überprüfen, ob der konkrete Gesprächspartner aus seiner epistemischen Perspektive gerechtfertigt ist, seine Konzeption eines guten Lebens für wahr zu halten, auch wenn diese im Widerspruch steht zu dem, was man selbst gerechtfertigterweise für gut bzw. wahr hält. 1 Im Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen für die öffentliche Rechtfertigung des Gebrauchs staatlicher Zwangsgewalt ist also das Fehlen einer gemeinsamen »Wir-Perspektive«, das Fehlen von gemeinsamen evaluativen Standards für Fragen des guten Lebens nicht tragisch. Kontroverse perfektionistische Überzeugungen dürfen im Prozess der öffentlichen Rechtfertigung eine Rolle spielen, insofern für andere intelligibel ist, dass man gerechtfertigt ist, diese für wahr zu halten. Die sich daraus ableitenden Gründe können aber niemals – anders als im sektiererischen Modell – alleine den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus an evaluativen Standards öffentlich rechtfertigen und damit legitimieDies entspricht in etwa dem, was Rahel Jaeggi als Strategie bzw. Methode einer »internen« oder »immanente« Kritik bezeichnet, vgl. Jaeggi, Kritik von Lebensformen, 261–309.
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ren. Was es braucht sind weitere Überlegungen, die aus den anderen individuellen epistemischen Perspektiven der Mitglieder der Öffentlichkeit P Gründe darstellen, eine entsprechende politische Maßnahme zu befürworten. Es kann also nicht der Fall sein, dass der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt lediglich mit Rekurs auf die kontroversen perfektionistischen Überzeugungen einer epistemischen Perspektive öffentlich gerechtfertigt wird, wohl aber kann es der Fall sein, dass dieser Grund mit anderen kontroversen perfektionistischen Gründen konvergiert, so dass das entsprechende staatliche Handeln ausschließlich mit Rekurs auf kontroverse perfektionistische Gründe gerechtfertigt wird und deshalb Legitimität beanspruchen kann. Außer Frage steht, dass ich hier eine Interpretation liberaler Politischer Philosophie vorlege, die in Theorie und Praxis das bisherige dominant anti-perfektionistische Selbstverständnis der jüngeren Tradition des Liberalismus provozierend in Frage stellt. Diese Infragestellung speist sich nicht aus anti-liberalen Ressentiments, sondern vielmehr aus der Überzeugung, dass eine liberale Politische Philosophie immer noch über die besten Ressourcen verfügt, um unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus eine Verständigung über den legitimen Umfangsbereich staatlichen Handelns zu ermöglichen. Es ist lediglich die konkrete Interpretation dieser Tradition Politischer Philosophie, die ich kritisiere. Der in dieser Arbeit entfaltete Hauptkritikpunkt bezieht sich auf die mit dieser Tradition verbundene Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung, die meint, dass aus der Übernahme liberaler Grundüberzeugungen bzw. -werte notwendigerweise auch die Akzeptanz eines Neutralitätsprinzips folgt. Wie ich mit dem Integritätseinwand deutlich gemacht habe, ist es plausibel anzunehmen, dass damit eine anti-liberale Dialektik erzeugt wird, die sich auf Dauer selbst unterminiert. Mit der Vorstellung meines Konvergenzmodells eines Perfektionistischen Liberalismus erhoffe ich mir, einen Ansatz zu einer Neuinterpretation der liberalen Tradition Politischer Philosophie vorgelegt zu haben, der zwei Thesen widerspruchsfrei miteinander verbinden kann: a) Das Neutralitätsprinzip gilt nicht: Liberale Bürger können gerechtfertigt sein, an der Wahrheit und Objektivität ihrer kontroversen Konzeption eines guten Lebens festzuhalten, und es steht ihnen frei, den Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt zur Gestaltung der politischen bzw. sozialen Bedingungen eines derartigen Lebens mit Gründen zu rechtfer472
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tigen, die sich aus ihrer kontroversen Konzeption eines guten Lebens ableiten. Ein allgemeines Prinzip der öffentlichen Rechtfertigung gilt: Der Gebrauch staatlicher Zwangsgewalt ist nur dann legitim, wenn er öffentlich gerechtfertigt ist, d. h., wenn jedem – moderat idealisierten – Mitglied der Öffentlichkeit P eine gewichtige Überlegung genannt wird, die aus seiner epistemischen Perspektive und gemäß seinen evaluativen Standards einen Grund darstellt, der die entsprechende politische Maßnahme rechtfertigt.
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Sachregister
(neo-)aristotelischer Naturalismus Siehe auch anti-essentialistischer Naturalismus (neo-)aristotelischer Naturalismus –, als derivatorische Naturrechtstheorie 357 –, als Erklärungsmodell für die Gutheit von Dingen 309, 336 –, als essentialistische Konzeption eines naturalistischen Realismus im Unterschied zu anti-essentialistischer Konzeption (Sher) 264 –, als naturalistischer Realismus im Unterschied zu naturalistischem Subjektivismus 264 –, aristotelische kategorische Aussagen (aristotelian categoricals) 328–329, 348 –, attributive Bedeutungsanalyse von ›gut‹ 314 –, das menschliche Gut 330, 337 –, Demarkationseinwand gegen Speziesbegriffe 321 –, deprivative Methode zur Bestimmung des menschlichen Guts 333 –, derivatorische Methode zur Bestimmung des menschlichen Guts 357 –, dispositionale Eigenschaften 358– 359 –, Entkräftung des Biologismusvorwurfs 334 –, Entkräftung des Demarkationseinwands 323 –, Entkräftung des evolutionsbiologischen Einwands 322
–, Entkräftung des Konventionalismuseinwands 326 –, Entkräftung des naturalistischen Fehlschlusses 317 –, essentielle menschliche Fähigkeiten 355 –, evolutionsbiologischer Einwand gegen Speziesbegriffe 321 –, Formeigenschaften als Synonym für speziesspezifische Eigenschaften 324 –, funktionale Prädikatoren 316 –, generische Aussagen 324 –, Inklinationen 357 –, inklinatorische Methode zur Bestimmung des menschlichen Guts 357 –, Kern und Randzone funktionaler Prädikatoren 317 –, Lösung des Konstitutionsproblems 349, 353 –, Lösung des Spezifikationsproblems 338, 357 –, Lösung des Trivialitätsproblems 353, 355 –, menschliche Natur 334, 348 –, metaphysische Hintergrundannahmen 307 –, methodische Differenz zu antiessentialistischem Naturalismus 311 –, Naturgeschichte (natural history account) 327 –, naturgeschichtliche Sätze (naturalhistory propositions) 325
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Sachregister –, natürliche Gutheit 319 –, natürliche Normen 326 –, natürlicher Defekt 328 –, prädikative Bedeutungsanalyse von ›gut‹ 313 –, Protagonisten 25, 306 –, rationale Überlegenheit des essentialistischen Erklärungsmodells 340 –, rigid designator 359 –, Speziesbegriffe als funktonale Prädikatoren 319 –, Teleologie einer Spezies 327 –, und Naturrecht 356 –, Unterschied wertende und beschreibende Aussagen 318 –, Unterschied zwischen generischen Aussagen und naturgeschichtlichen Propositionen 327 –, Unterschied zwischen logisch quantifizierbaren und nicht-quantifizierbaren Aussagen 325, 350 –, Vereinbarkeit von Essentialismus mit Kontextualismus und Fallibilismus 323 –, Vereinbarkeit von Essentialismus und Historismus 323 –, Vermeidung des Entsprechungsproblems 358 –, zeitgenössische Protagonisten einer essentialistischen Metaphysik 307 –, Ziele essentieller menschlicher Fähigkeiten 357 –, ›gut‹ als nicht-natürliche Eigenschaft 313 –, ›gut‹ als relationale Eigenschaft 136 anti-essentialistischer Naturalismus (Sher) Siehe auch (neo-)aristotelischer Naturalismus –, Ablehnung einer metaphysischen Biologie 298 –, als Erklärungsmodell für die Gutheit von Dingen 308 –, als inklinatorische Naturrechtstheorie 357
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–, als schwacher naturalistischer Realismus 267 –, Bestimmung grundlegender Fähigkeiten 282 –, Einwand des naturalistischen Fehlschlusses 268 –, empirische Konzeption der menschlichen Natur 310 –, Entkräftung des Biologismusvorwurfs (Homosexualität) 276 –, Entkräftung naturalistischer Fehlschluß 269 –, Entsprechungsproblem 292 –, Erklärungsanspruch 281 –, Konstitutionsproblem 282, 284 –, Spezifikationsproblem 288–289 –, Trivialitätsproblem 286–287 –, Vorwurf des Biologismus (Homosexualität) 275 –, zentrale Rolle grundlegender Fähigkeiten 270 –, Ziele grundlegender Fähigkeiten 287 –, Zusammenhang von Anti-Essentialismus und Lösung des Problems öffentlicher Rechtfertigung 299– 300 Anti-Perfektionistischer Liberalismus Siehe auch Liberalismus; Perfektionistischer Liberalismus –, als Synonym für Politischer Liberalismus 22, 33 –, Bedrohung durch Asymmetrieargument 161 –, externe Konzeption (Rawls) 169, 175 –, Hauptthese 18 –, interne Konzeption (Quong) 169, 174–175 –, Kritik am politisch begründeten Kompatibilitätsmodell 104 –, Kritik am umfassend begründeten Kompatibilitätsmodell 107, 110 –, politisch begründeter 33 –, politisch begründetes Kompatibilitätsmodell 94, 97
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Sachregister –, Protagonisten 17 –, umfassend begründeter 33, 39 –, umfassend begründetes Kompatibilitätsmodell 106 –, Unterschied zu Perfektionistischem Liberalismus 33 Anti-Realismus 145 –, Siehe auch Realismus Argument der offenen Frage (Moore) 264 Asymmetrieargument 48 –, Siehe auch Problem öffentlicher Rechtfertigung –, Ableitung aus Neutralitätsprinzip 76 –, allgemeine Form 23, 76, 81, 159 –, Chans Widerlegung von Nagel 51 –, moralische Entkräftungsversuche 79, 89 –, Nagels Entkräftungsversuch 50 –, pragmatische Entkräftungsversuche 77 –, Quongs Entkräftungsversuch 167, 169, 171, 360, 385 –, Replik auf moralische Entkräftungsversuche 91–92 –, Replik auf pragmatische Entkräftungsversuche 82 –, Replik auf skeptische Entkräftungsversuche 85–86 –, Replik des Konvergenzmodells auf Quongs Entkräftungsversuch 386, 389 –, Shers Replik auf Quong 277, 280 –, skeptische Entkräftungsversuche 78 –, und interne Konzeption Anti-Perfektionistischer Liberalismus 176 Asymmetrievorwurf Siehe Asymmetrieargument Atheismus 461 conscientious engagement (Eberle) 401
Dammbruchargument (epistemischer Holismus) 67 –, Entkräftung durch Konvergenzmodell 69 –, Shers Entkräftungsversuch 68 Dammbruchargument (Totalitarismus) 123 dispositionale Eigenschaften Siehe (neo-)aristotelischer Naturalismus Ehrlichkeitseinwand Siehe Unehrlichkeitseinwand Essentialismus 264 –, Siehe auch (neo-)aristotelischer Naturalismus –, modaler 359 –, realer 359 Euthyphron-Dilemma Siehe Konzeption eines guten Lebens Externalismus 371 –, Siehe auch Internalismus fact-value-gap Siehe (neo-)aristotelischer Naturalismus; anti-essentialistischer Naturalismus Fanatismuseinwand –, demokratische Koalitionen 431 –, Entkräftung mittels Argument der epistemischen Beschränkung 439 –, Entkräftung mittels Argument der normativen Beschränkung 436 –, Formulierung 427–428 –, Weihnachtsmannfanatiker 432 –, Zusammenhang mit Unehrlichkeitseinwand 427 Freiheit Siehe Prinzip der Freiheit; Zwang Fundamentalismus –, epistemologisch 269 –, politisch 453 Güter Siehe auch Konzeption eines guten Lebens –, als Werte 144 –, Anstand und guter Geschmack (anti-essentialistische Erklärung) 274
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Sachregister –, Anstand und guter Geschmack (essentialistische Erklärung) 344, 347 –, enge soziale Beziehungen (antiessentialistische Erklärung) 271 –, enge soziale Beziehungen (essentialistische Erklärung) 337–338 –, Entwicklung der eigenen Fähigkeiten (essentialistische Erklärung) 340 –, Entwicklung eigener Fähigkeiten (anti-essentialistische Erklärung) 272 –, moraische Gutheit (essentialistische Erklärung) 343 –, moralische Gutheit (anti-essentialistische Erklärung) 273 –, Parfits Liste 267 –, rationale Aktivität (anti-essentialistische Erklärung) 271 –, rationale Aktivität (essentialistische Erklärung) 337 –, Unterschied zu Voraussetzungen des guten Lebens 286 –, Wahrnehmung wahrer Schönheit (anti-essentialistische Erklärung) 273 –, Wahrnehmung wahrer Schönheit (essentialistische Erklärung) 342 –, Wissen (anti-essentialistische Erklärung) 271 –, Wissen (essentialistische Erkärung) 339 harm principle 117 Immunisierungsstrategie 464 Integritätseinwand –, als Einwand gegen epistemische Beschränkungen 457 –, dialektisches Argument gegen Entkräftungsversuch durch Ignoranz 453 –, Enkräftung durch Konvegenzkonzeption 465 –, Entkräftungsversuch durch epistemische Beschränkung 460
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–, Entkräftungsversuch durch Ignoranz (Macedo) 451 –, Formulierung 449 –, historisches Selbstanwendungsargument gegen Entkräftungsversuch durch Ignoranz 452 –, Integritätskosten 450 –, Selbstwiderspruchsargument gegen Entkräftungsversuch durch Ignoranz 453 –, Unplausibilität des Entkräftungsversuchs durch epistemische Beschränkung 460 –, Urspung in der Liberalismus-Religion-Debatte 443 –, Veto-Recht 451 Internalismus 196, 214 –, Siehe auch Externalismus –, Gründe-Internalismus 259 –, Motiv-Internalismus 259 –, und Gründe-Externalismus 260 Intuitionismus 263, 268 Kohärentismus 269 Kommunitarismus Siehe Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte; Perfektionistischer Liberalismus Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung 374 –, Siehe auch Konvergenzkonzeption; öffentliche Rechtfertigung; Problem öffentlicher Rechtfertigung; Konzept öffentlicher Rechtfertigung –, als Standardinterpretation des Konzepts öffentlicher Rechtfertigung 373 –, Kriterium der Teilbarkeit (starke Variante) 383 –, Kriterium der Zugänglichkeit (schwache Variante) 379 –, Restriktionsprinzip für öffentliche Gründe (schwache Variante) 380 –, Restriktionsprinzip für öffentliche Gründe (starke Variante) 383 –, Unterschied zu Konvergenzkonzeption öffentlicher Gründe 376
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Sachregister –, Unterschied zwischen schwacher und starker Variante 378 Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung 374 –, Siehe auch Konsenskonzeption; öffentliche Rechtfertigung; Problem öffentlicher Rechtfertigung; Konvergenzmodell; Konzept öffentlicher Rechtfertigung –, als Minderheitsposition 373 –, Attraktivität 465 –, Kriterium der Intelligibilität 377, 424 –, Protagonisten 26 –, rationale Überlegenheit gegenüber Konsenskonzeption 466 –, Restriktionsprinzip für öffentliche Gründe 378, 441 –, und moderate Idealisierung 441 –, Unterschied zu Konsenskonzeptionen öffentlicher Gründe 376 –, Zusammenhang mit LiberalismusReligion-Debatte 445 Konvergenzmodell Siehe auch Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung; Perfektionistischer Liberalismus –, Differenzierung zwischem Problem öffentlicher Rechtfertigung und Problem der Objektivität 407 –, Unterschied zum einfachen sektiererischen Modell (Wall) 235, 399 –, Unterschied zum quasi-naturrechtlichen Modell 407 –, Unterschied zum reformulierten sektiererischen Modell (Eberle) 402 Konzept öffentlicher Rechtfertigung Siehe auch Konsens- und Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung –, Kriterium für Konzeptionen innerhalb eines public reason liberalism 372 –, Walls anti-liberales Konzept 373 Konzeption eines guten Lebens Siehe auch Güter
–, (neo-)aristotelische Konzeption des menschlichen Guts 330 –, als personenrelative Werttheorie 264 –, als Synonym für Konzeption des Guten 62 –, Distanzkriterium 297 –, inhärente Werttheorie (human nature perfectionism) 155 –, inhärente Werttheorie (schwacher Realismus) 153 –, intrinsische Werttheorie (objective list perfectionism) 155 –, intrinsische Werttheorie (starker Realismus) 153 –, Klassifikationskriterium subjektiv/ objektiv (Euthyphron) 135, 255 –, Klassifikationskriterium subjektiv/ objektiv (Sher) 266 –, moderat pluralistische Werttheorie (Sher) 278, 295 –, objektivistische 137 –, perfektionistische Werttheorie als Synonym für objektivistische Werttheorie 266 –, radikal pluralistische Werttheorie (Wall) 278 –, subjektivistische 137 –, Tiefenkriterium 297 –, Unterschied zu umfassender Lehre (Rawls) 63, 72–73 Legitimität staatlichen Handelns Siehe auch Rechtfertigung staatlichen Handelns –, demokratisches Kriterium 46 –, Kriterium Anti-Perfektionistischer Liberalismus (Quong) 164, 168 –, Kriterium Anti-Perfektionistischer Liberalismus (Rawls) 194 –, Kriterium kompatibilistischer Perfektionistischer Liberalismus 117 –, Kriterium Konvergenzmodell Perfektionistischer Liberalismus 235, 362
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Sachregister –, Kriterium public reason liberalism 46, 198 –, Kriterium quasi-naturrechtlicher Perfektionistischer Liberalismus 245, 280 –, Kriterium sektiererischer Perfektionistischer Liberalismus 235 –, libertaristisches Kriterium 162 –, public reason liberalism 368 –, und das Neutralitätsprinzip 61, 66, 76 Liberaler Perfektionismus Siehe Perfektionistischer Liberalismus Liberalismus Siehe auch Anti-Perfektionistischer Liberalismus; Perfektionistischer Liberalismus –, justificatory turn 29 –, Minimaldefinition 363 –, public reason liberalism 21, 29 Liberalismus-KommunitarismusDebatte 132, 175 Liberalismus-Perfektionismus-Debatte Siehe Neutralitätsdebatte Liberalismus-Religion-Debatte 443 –, Siehe auch Neutralitätsdebatte –, Protagonisten 443 Moral 140 –, als System kontrafaktischer Werturteile 283 –, Unterschied zwischen moralischen und nicht-moralischen Forderungen (Gaus) 195 Natur Siehe auch (neo-)aristotelischer Naturalismus; Essentialismus –, essentialistische Konzeption der menschlichen 137 Naturalismus (metaphysisch) 461 –, Siehe auch (neo-)aristotelischer Naturalismus; anti-essentialistischer Naturalismus naturalistischer Fehlschluß Siehe (neo-)aristotelischer Naturalismus; antissentialistischer Naturalismus Naturrecht –, derivatorische Ansätze 357
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–, inklinatorische Ansätze 357 –, Klassifikation Naturrechtstheorien 237, 356 –, new natural law theory 237 –, traditioneller Ansatz 237 –, zeitgenössische Protagonisten 409 Neutralität Siehe auch Neutralitätsdebatte; Neutralitätsprinzip –, als Ergebnisneutralität 60 –, als Rechtfertigungsneutralität 60 –, staatliche 60–61 Neutralitätsdebatte Siehe auch Neutralität; Neutralitätsprinzip –, als Debatte um Rechtfertigungsneutralität 60 –, als Kontroverse innerhalb des Liberalismus 27, 29–30, 177, 469 –, Gegenwart 18, 29, 236 –, Geschichte 18, 27–28 –, Klassifikationsschema 31 –, neue dialektische Situation durch Quong 24, 157 –, Rolle von Gerechtigkeitsfragen 133, 180 –, Verbindung zu Liberalismus-Religion-Debatte 445 –, zentrale Bedeutung des Asymmetriearguments 76 Neutralitätsprinzip Siehe auch Neutralität; Neutralitätsdebatte –, Ableitung aus liberalen Grundannahmen 89 –, akteurszentrierte Geltungsbeschränkung 106, 108 –, als anti-perfektionistisches Beschränkungsprinzip 61, 66 –, als praktisches Prinzip erster Ordnung 31 –, als theoretisches Prinzip zweiter Ordnung 32, 35, 61 –, Argumente für weite Interpretation 99–101 –, enge Interpretation 96 –, Geltungsbeschränkung gemäß modus procedendi 112, 116 –, Kritik an akteurszentrierter Geltungsbeschränkung 107, 109
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Sachregister –, Kritik an Geltungsbeschränkung modus procedendi 118 –, Kritik an thematischer Geltungsbeschränkung 104 –, moralische Begründung 78, 89 –, negative Konsequenzen einer Umsetzung 19, 61, 131 –, pragmatische Begründung 77 –, skeptische Begründung 78 –, thematische Geltungsbeschränkung 94 –, weite Interpretation 96 Normativität –, außermoralische und moralische Urteile 140 –, Bedeutung kontrafaktischer Werturteile 283 –, Deskriptivismus (metaethisch) 141 –, Konstruktivismus (metaethisch) 150 –, moralischer Realismus 141 –, natürliche (Foot) 322 –, perfektionistische und deontische Werturteile 140 –, Realismus (metaethisch) 149 –, semantischer Nonkognitivismus 142 –, Subjektivismus (metaethisch) 248 –, Werturteile und funktionale Prädikatoren 316 Objektivität Siehe auch Problem der Objektivität; Subjektivismus –, epistemische (anti-realistisch) 145 –, ontologische (realistisch) 145 –, realistische (naturalistisch) 154 –, realistische (nicht-naturalistisch) 154 –, schwach realistische 148, 152 –, semantische 140–141 –, stark realistische 148, 152 –, und Realismus 147, 151 Objektivitätsproblem Siehe Problem der Objektivität öffentliche Rechtfertigung Siehe auch Konsens- und Konvergenzkonzep-
tion öffentlicher Rechtfertigung; Problem öffentlicher Rechtfertigung; Konvergenzmodell; Konzept öffentlicher Rechtfertigung; Prinzip öffentlicher Rechtfertigung –, Adressatenkreis 369 –, einfacher Rechtfertigungsbegriff (Wall) 201, 226, 370 –, epistemische Beschränkung des Adressatenkreises 439, 463 –, geschlossene Rechtfertigung 440 –, grundlegender Rechtfertigungsanspruch (Wall) 194 –, Idealisierung 369 –, im Unterschied zu privater 231 –, liberale Grundannahmen und moralische Rechtfertigungspflicht 196, 231 –, moderate Idealisierung 439 –, moralischer Rechtfertigungsanspruch (Gaus) 194 –, normative Beschränkung des Adressatenkreises 437, 463 –, offene Rechtfertigung 440, 463 –, proviso-Gründe (Rawls) 95 –, radikale Idealisierung 439 –, Rationalitätsklausel 219 –, relationaler Rechtfertigungsbegriff (Gaus) 201, 226, 371 –, und epistemische Abstinenz 425 –, Walls Kritik am moralischen Rechtfertigungsanspruch 210 Öffentlichkeitsbedingung –, Ableitung aus liberalen Grundannahmen 190 –, Kriterium der Akzeptierbarkeit (Wall) 192 –, Kriterium der Intelligibilität (Vallier) 377 –, Kriterium der Teilbarkeit 383 –, Kriterium der Verständlichkeit (Wall) 190, 217 –, Kriterium der Zugänglichkeit (Quong) 379 –, Kriterium der Zugänglichkeit (Wall) 190
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Sachregister –, Rawls Formulierung 187 –, und moralische Rechtfertigungspflicht 196 partners-in-guilt-Argumentation 261 Paternalismus –, sanfter 42 –, Verhältnis zu Perfektionistischem Liberalismus 127 Perfektionismus –, als Sammelbegriff für alle nichtsubjektivistischen Werttheorien 155 –, direkter/staatlicher 124 –, enger (human nature perfectionism) 154 –, ethischer 134 –, indirekter/sozialer 124 –, weiter (objective list perfectionism) 154 Perfektionistischer Liberalismus Siehe auch Anti-Perfektionistischer Liberalismus; Konvergenzmodell; sektiererisches Modell; quasinaturrechtliches Modell; Liberalismus; Perfektionismus; Neutralitätsdebatte –, defensives Element 23, 59 –, epistemischer Holismus 66–67, 269 –, ethische Dimension 134 –, ethischer 140 –, extremer 65, 75 –, gerechtigkeitsbasierter 128, 132 –, Hauptthese 17, 26, 65, 74, 177– 178, 362, 472 –, internale Konzeption 437 –, intuitive Attraktivität 20, 22 –, konstruktives Element 23, 120 –, Kritik am umfassend begründeten Kompatibilitätsmodell 118 –, liberale Grenzen perfektionistischen Handelns 122 –, liberale Grundannahmen 30, 69, 178, 363
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–, Liberalismus-Religion-Debatte als Sonderfall 445 –, metaethische Implikationen 141, 143–144, 147–148, 150–151 –, moderater 65, 71, 73–74 –, monozentrischer 125 –, multizentrischer 126–127 –, nicht-gerechtigkeitsbasierter 130, 132 –, politisch begründeter (demokratische Variante) 46 –, politisch begründeter (kontraktualistische Variante) 48 –, politische Dimension 121 –, Protagonisten 17 –, Protagonisten eines Kompatibilismus 111 –, Protagonisten eines Nicht-Kompatibilismus 112, 120 –, quasi-naturrechtliches Modell 158, 237 –, reformuliertes sektiererisches Modell (Eberle) 228 –, sektiererisches Modell 157, 184 –, Überlegenheit eines umfassend begründeten gegenüber politisch begründetem 57 –, umfassend begründeter 44 –, umfassend begründetes Kompatibilitätsmodell 111, 116 –, und Gerechtigkeit 133 –, und indirekter/sozialer Perfektionismus 124 –, und Kommunitarismus 132 –, und objektive Konzeption eines guten Lebens 139 –, Unterschied zu Anti-Perfektionistischem Liberalismus 43, 66 –, Unterschied zu Liberalem Perfektionismus 27, 469 –, Unterschied zu Naturrechtstheorien 409 Politischer Liberalismus Siehe AntiPerfektionistischer Liberalismus Prinzip der Freiheit 203, 365 –, Siehe auch Zwang
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Patrick Zoll
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Sachregister –, Abwesenheit von Zwang als moralischer Status quo 208 Prinzip der Universalisierung 221 –, und vernünftiger Pluralismus 224 Prinzip öffentlicher Rechtfertigung 367 –, Siehe auch öffentliche Rechtfertigung; Konzept öffentlicher Rechtfertigung; Problem öffentlicher Rechtfertigung; Konsens- und Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung –, Ableitung aus liberalen Grundannahmen 372 –, empirisch-populistische Interpretation 367 –, Interpretation Walls 398 –, moderat-idealisierte Variante 368 –, radikal idealisierte Interpretation 368 Prinzip öffentlicher Vernunft 219 Prinzip praktischer Vernunft 201, 225 Privatisierungsvorwurf Siehe Integritätseinwand Problem der Objektivität Siehe auch Objektivität; Subjektivismus –, Argumente gegen nicht-naturalistischen Realismus 263 –, Argumente gegen Subjektivismus 249 –, Einwand der Irrtumstheorie 144 –, Einwand des Gründe-Externalismus/Motiv-Internalismus 260 –, Identität der Lösung mit Lösung des Problems der öffentlichen Rechtfertigung 246, 277, 404 –, Lösung des (neo-)aristotelischen Naturalismus 334–335 –, Shers Lösungsansatz 270 –, Shers Replik auf Einwand GründeExternalismus/Motiv-Internalismus 261–262 Problem öffentlicher Rechtfertigung Siehe auch öffentliche Rechtfertigung; Konsens- und Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung; Konvergenzmodell;
Konzept öffentlicher Rechtfertigung; Prinzip öffentlicher Rechtfertigung –, als Resultat von Quongs Entkräftung des Asymmetriearguments 360 –, Eberles Lösungsansatz 400 –, Formulierung 397 –, Lösung des Konvergenzmodells 386 –, Shers Lösungsansatz 24, 237, 241, 277, 280, 405 –, Walls Lösungsansatz 24, 208 quasi-naturrechtliches Modell (Perfektionistischer Liberalismus) Siehe auch Perfektionistischer Liberalismus; sektiererisches Modell; Konvergenzmodell; Naturrecht –, als inklinatorische Naturrechtstheorie 357 –, Begriff 237 –, Hauptthese 237, 241 –, und konservative Politik 277 Realismus Siehe auch Anti-Realismus; Objektivität –, naturalistischer (anti-essentialistische Konzeption) 294–295 –, naturalistischer (essentialistische Konzeption) 311 –, nicht-naturalistischer 296 –, Unabhängigkeitsbedingung 148, 152 –, Unterschied zwischen naturalistischen Varianten 301, 310 Rechtfertigung Siehe öffentliche Rechtfertigung Rechtfertigung staatlichen Handelns Siehe auch Legitimität staatlichen Handelns –, anti-perfektionistische (Quong) 164, 166, 168 –, demokratische 46 –, extremer Perfektionistischen Liberalismus 75
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Sachregister –, kompatibilistischer Perfektionistischer Liberalismus 117 –, moderater Perfektionistischer Liberalismus 75 –, perfektionistisch-kontraktualistische 48 –, quasi-naturrechtliches Modell 245 –, sektiererisches Modell 209, 235 reflective equilibrium Siehe Überlegungsgleichgewicht Religionsfreiheit 454 –, Siehe auch Prinzip der Freiheit; Zwang Respektargument 48, 243 –, perfektionistisch-kontraktualistische Variante 55 –, Shers Entkräftung 244 –, Variante höhergeordneter Einigkeit 50 rigid designator Siehe (neo-)aristotelischer Naturalismus sektiererisches Modell (Perfektionistischer Liberalismus) Siehe auch Perfektionistischer Liberalismus; quasi-naturrechtliches Modell; Konvergenzmodell –, anti-liberale Implikationen 207, 235 –, Hauptthese 198 –, Modellbürger 185 –, Reformulierung durch Eberle 228 –, Transparenzargument (Rawls) 187 –, Transparenzargument und Öffentlichkeitsbedingung 192 –, Unmöglichkeit eines vernünftigen Pluralismus 223 –, Walls Asymmetrieargument gegen Prinzip der Freiheit 204, 232 –, Walls Entkräftungsversuch des Transparenzarguments 189, 192 separate but equal 447 social form thesis (Raz) 116 straw man fallacy 423 Subjektivismus (metaethisch) Siehe auch Objektivität; Problem der Objektivität
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–, aufgeklärte Wunschtheorie 250– 251 –, Definition 248 –, einfache Wunschtheorie 249 –, Einwand der Phänomeninadäquatheit 248 –, Einwand der revisionären Implikationen 256 –, Einwand gegen aufgeklärte Wunschtheorie 251–252 –, Einwand gegen einfache Wunschtheorie 250 –, Einwand gegen utilitaristischen Ansatz 253–254 –, und Gründe-Internalismus 260– 261 –, utilitaristischer Ansatz 253 Teleologie Siehe Natur; (neo-)aristotelischer Naturalismus; Essentialismus Theodizeeargument 460 Theorie eines guten Lebens Siehe Konzeption eines guten Lebens; Problem der Objektivität Theorie öffentlicher Gründe Siehe Öffentlichkeitsbedingung; Konsens- und Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung Traditionalismus 453 Transparenzargument Siehe sektiererisches Modell Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium) 269 Unehrlichkeitseinwand –, Ehrlichkeitsbedingung 413 –, Entkräftung 419 –, Formulierung 412 –, realpolitischer Entkräftungsversuch 418 vernünftige Uneinigkeit –, Gewichtungsuneinigkeit 167, 392 –, Relevanzuneinigkeit 168, 391 –, und interne Konzeption Anti-Perfektionistischer Liberalismus 175
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Patrick Zoll
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Sachregister –, und liberale Grundannahmen 169, 183 Werte Siehe Güter Werttheorie Siehe Konzeption eines guten Lebens
Werturteile Siehe Normativität Zwang Siehe auch Prinzip der Freiheit –, moralische Konzeption 206, 365 –, und Autonomie 207
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Personenregister
Ackerman, Bruce A. 17, 78, 475 Alston, William P. 461, 475 Anscombe, G.E.M. 306, 319, 324– 325, 475 Arneson, Richard 59, 97, 99, 101– 102, 109, 129, 475 Audi, Robert 444, 475 Augsberg, Ino 444, 479 Barry, Brian 17, 78, 85–86, 88, 94, 99–100, 103, 475 Beckermann, Ansgar 462, 475 Birnbacher, Dieter 140–141, 151, 154, 475 Bongardt, Michael 461, 475 Bormann, Franz-Josef 444, 475 Böttigheimer, Christoph 461, 475 Brandt, Richard B. 251–253, 475 Bratu, Chrstine 76, 475 Breul, Martin 444, 475 Brink, David O. 18, 28, 255, 475 Brugger, Winfried 444, 476 Buckley, Francis H. 127, 476 Chambers, Clare 17, 43, 111, 127, 476 Chan, Joseph 17, 43, 47–51, 54–57, 64–65, 71, 98, 100–101, 109, 125, 127, 135, 147, 150, 154–155, 164, 186, 476 Christiano, Thomas 88, 121, 477, 482 Christman, John Philip 88, 121, 199, 477, 482 Conant, James 476 Couto, Alexandra 111–114, 117, 119, 122–123, 129, 133–134, 186, 282, 409, 476
496
Davies, Brian 461, 476 Dawkins, Richard 461, 476 De Marneffe, Peter 17, 476 Den Uyl, Douglas J. 94, 481 Dennett, Daniel C. 461, 476 Drerup, Johannes 127, 476 Dworkin, Ronald 17, 39–40, 242– 244, 476 D’Agostino, Fred 26, 37, 237, 367– 368, 373, 375, 476, 480, 482 Eberle, Christopher J. 56, 191, 228– 229, 367–368, 375, 390, 396, 398, 400–403, 405, 445, 451, 476, 482 Fenner, Dagmar 144, 476 Feser, Edward 307, 461, 476 Finnis, John 237, 268, 409, 477 Foot, Philippa 25, 306–307, 312, 314, 317, 319–320, 322–325, 327–333, 338, 354, 357, 477–479, 481 Gaus, Gerald F. 21, 26, 29, 33, 79, 82, 88, 98, 105, 162–164, 175, 184, 194–200, 202–204, 206, 208, 210– 223, 225, 229–232, 235–237, 244, 261, 282, 286, 304, 365–367, 369, 371–373, 376, 410, 418–419, 421, 423, 425–426, 432, 439–440, 445, 451, 467, 470, 477, 480, 482 George, Robert P. 17, 22, 24, 59–60, 83, 111, 284, 409, 452, 470, 475, 477–479, 481–482 Glover, Jonathan 129, 480 Greco, John 307, 477 Groff, Ruth 307, 477
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Patrick Zoll
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Personenregister Grotefeld, Stefan 444, 477 Gutmann, Amy 46, 477
Lisska, Anthony J. 237, 306, 356, 479 Lister, Andrew 47, 57, 365, 479
Habermas, Jürgen 452–453, 477, 481 Hacker-Wright, John 319, 478 Haksar, Vinit 17, 128–129, 152, 478 Halbig, Christoph 142, 145, 147–148, 152–153, 248, 478 Heinig, Hans Michael 444, 478 Henning, Christoph 28, 478 Hillgruber, Christian 444, 478 Hoffmann, Thomas 319–320, 324, 332, 349, 478, 481 Horn, Christoph 28, 40, 122–123, 129, 159, 188–189, 197, 292, 299, 417, 436, 478 Hurka, Thomas 17, 28, 43, 120, 126, 135, 154, 284, 286, 359, 478 Hursthouse, Rosalind 25, 306, 319– 320, 331, 357, 478–479 Huster, Stefan 444, 476, 478
Macedo, Stephen 21, 451, 479 MacIntyre, Alasdair 25–26, 127, 181, 306, 333, 338–340, 479 Mackie, John L. 143, 145–147, 151, 479 McDowell, John 331, 479 Mill, John Stuart 28, 39, 476, 478– 479 Mills, Chris 28, 133, 480 Moore, G.E. 264, 312–314, 480 Mulhall, Stephen 31–32, 36–37, 41, 45, 55–56, 100, 175, 480 Murphy, Mark C. 356–357, 409, 480
Irlenborn, Bernd 444, 475 Jaeggi, Rahel 20, 471, 478 Jentsch, Sabine 132–133, 478 Kallhoff, Angela 129, 306, 478 Kitcher, Philip 478 Kitcher, Phillip 321 Klemme, Heiner 259, 481 Korsgaard, Christine M. 315, 478 Kraut, Richard 25, 136–137, 309, 312, 315, 479 Kreiner, Armin 461, 479 Kripke, Saul A. 358–359, 479 Kuehn, Manfred 259, 481 Kutschera, Franz von 140–142, 144, 248, 297, 479 Kymlicka, Will 28, 39–40, 60, 89, 108, 126, 478–479 Ladeur, Karl-Heinz 444, 479 Larmore, Charles E. 17, 21, 60–61, 78, 82–83, 88, 94, 479 Lecce, Steven 17–18, 37–38, 75, 98, 105, 109, 111, 119, 160, 479
Nagel, Thomas 17, 49–50, 85–88, 98, 109, 144–147, 151, 461, 480 Neal, Patrick 95, 480 Novak, Lukas 307, 480 Novotny, Daniel D. 307, 480 Nussbaum, Martha C. 111, 128–129, 480 Oderberg, David S. 237, 307, 359, 480 Parfit, Derek 267, 480 Passmore, John A. 18, 480 Plantinga, Alvin 461, 480 Quante, Michael 145, 148, 150–152, 259, 481 Quong, Jonathan 17–19, 22, 24, 31, 37–38, 55, 62, 64–66, 75, 97–98, 105, 109, 111, 113, 119, 128–131, 133, 147, 152–155, 157, 160–169, 171–181, 183–185, 187, 194, 208, 238–242, 245, 266, 277, 281, 300– 301, 334, 360–361, 363–364, 366– 367, 369, 371–373, 378, 380–382, 384–386, 388, 390–392, 394–396, 405, 408, 410, 412–415, 417, 419– 426, 432, 437, 442, 467, 477, 481 Rasmussen, Douglas B. 94, 481 Ratzinger, Joseph 453, 477
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Personenregister Rawls, John 17–18, 29, 33, 37–38, 63, 66, 78–80, 88, 94–96, 99–100, 103, 109, 164, 176, 187, 189–195, 198, 208–209, 235, 242–244, 366–367, 372, 425–426, 480–481 Raz, Joseph 17, 28, 42, 94, 111–113, 116–117, 119, 126, 179, 186, 225, 425, 481 Reder, Michael 452, 481 Reuter, Michael 319–320, 324, 332, 349, 478, 481 Ricken, Friedo 140, 153–154, 312, 315–318, 481 Schmidt, Josef 72, 452, 481 Schönecker, Dieter 259–260, 481 Sen, Amartya 128–129, 480 Shafer-Landau, Russ 140, 315, 478, 481 Sher, George 17, 24–25, 37, 60–62, 66–67, 69, 77–78, 84, 86–90, 98, 108–112, 114–115, 118, 120, 135, 148, 152, 154–155, 158, 178–179, 237, 239–256, 258–278, 281–282, 284–301, 303–304, 307–308, 310– 311, 335–338, 340–343, 345, 347– 353, 355, 357–358, 390, 396, 398, 404–409, 417, 470, 478, 481 Sidwick, Henry 250, 253, 481 Sousedik, Prokop 480 Stosch, Klaus von 460, 481 Stout, Jeffrey 17, 26, 95, 372, 447, 452–453, 466, 470, 481 Stump, Eleonore 461, 481 Sunstein, Cass R. 43, 482 Svoboda, David 480 Swift, Adam 31–32, 36–37, 41, 45, 55–56, 100, 175, 480 Swinburne, Richard 461, 481
498
Tahko, Tuomas 307, 481 Tarkian, Tatjana 260, 481 Taylor, Charles 42, 481 Thaler, Richard H. 43, 482 Thompson, Michael 25–26, 306, 319, 324–327, 354, 482 Thomson, Judith J. 312, 482 Uhle, Arnd 444, 482 Vallier, Kevin 26, 304, 367–368, 372– 373, 375–376, 378–379, 383, 411, 418–419, 421, 423, 445, 453, 466, 470, 477, 482 Waldron, Jeremy 21, 459, 482 Wall, Steven 17, 21, 24–25, 31, 37, 59–60, 78, 83, 86, 96, 99–100, 108– 113, 120, 128, 135, 148, 151, 154, 158, 178–179, 184–185, 187–221, 223, 225–227, 229–232, 235–236, 238, 241–242, 244–245, 278, 303– 304, 364–365, 370, 373, 390, 396, 398–400, 403, 405, 451, 464, 470, 475, 477, 482 Walton, Douglas 67, 423, 482 Weithman, Paul J. 444, 482 Williams, Bernard 147, 482 Wlater, Christian 140, 144, 444, 475– 476, 478–479 Wolfe, Christopher 409, 452, 477, 479, 483 Wolterstorff, Nicholas 444, 475 Yuracko, Kimberly 17, 43, 111, 127, 483 Zagzebski, Linda 461, 483 Zellentin, Alexa 364, 483
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Abkürzungsverzeichnis
AKA EB FE GF GPV GU JR JS KSÖ KVÖ PÖR PÖV RP RU SR ST UP ZB ZM
aristotelische kategorische Aussagen Ehrlichkeitsbedingung Fanatismuseinwand grundlegendes Freiheitsprinzip grundlegendes Prinzip praktischer Vernunft Gewichtungsuneinigkeit relationaler Rechtfertigungsbegriff einfacher Rechtfertigungsbegriff Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung Konvergenzkonzeption öffentlicher Rechtfertigung Prinzip öffentlicher Rechtfertigung Prinzip öffentlicher Vernunft Restriktionsprinzip Relevanzuneinigkeit schwaches Restriktionsprinzip moralischer Status Universalisierungsprinzip Zusatzbedingung Zwangsmaßnahme
Perfektionistischer Liberalismus
A
https://doi.org/10.5771/9783495818343 .
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