Patchwork: Dimensionen multikultureller Gesellschaften: Geschichte, Problematik und Chancen [1. Aufl.] 9783839401088

Man mag angesichts der aktuellen Diskussion meinen, Multikulturalität sei ein neues Phänomen und »Problem« sogenannter »

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German Pages 312 [313] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Wechselwirkung – Komplexität: Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff von Pluralismus und Multikulturalismus
Die Tafelrunde
Kulturenkonflikt im Römischen Reich? Eine zeitgemäße Betrachtung
Zwischen Konfrontation und Interaktion: Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias
Kulturelle Komplexität, Vagheit der Grenzen und Chinas Identität
Das »Kronprinzenwerk« – eine Darstellung des Habsburgerreiches
»Many Races, One Singapore«: Kulturelle Komplexität, Ethnizität und Nation in Singapur
Das Lob der Mischung: Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar
»Multikulturelle« Praxen in der Stadt Frankfurt am Main
Resümee
Die Autoren
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Patchwork: Dimensionen multikultureller Gesellschaften: Geschichte, Problematik und Chancen [1. Aufl.]
 9783839401088

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Andreas Ackermann, Klaus E. Müller (Hg.) Patchwork: Dimensionen multikultureller Gesellschaften

26.06.02 --- Projekt: transcript.kusp.ackermann / Dokument: FAX ID 01cb322297515528|(S.

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) T00_01 Schmutztitel.p 322297515560

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) T00_02 Vakat.p 322297515584

Andreas Ackermann, Klaus E. Müller (Hg.)

Patchwork: Dimensionen multikultureller Gesellschaften Geschichte, Problematik und Chancen

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) T00_03 Titel.p 322297515632

Diese Publikation entstand im Rahmen der Studiengruppe »Sinnkonzepte als lebens- und handlungsleitende Orientierungssysteme« am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) im Wissenschaftszentrum NRW. Der Druck wurde aus Mitteln des KWI gefördert.

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Patchwork: Dimensionen multikultureller Gesellschaften: Geschichte, Problematik und Chancen / Andreas Ackermann; Klaus E. Müller (Hg.). Bielefeld : Transcript, 2002 (Kultur und soziale Praxis) ISBN 3-89942-108-6 © 2002 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagfoto: Andreas Ackermann. Ausschnitt aus einem Wandgemälde zum Thema »Harmonische multikulturelle Gesellschaft« in Singapur Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Digital Print, Witten ISBN 3-89942-108-6

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) T00_04 Impressum.p 322297515656

Inhalt

Vorwort ........................................................................................

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Andreas Ackermann Wechselwirkung – Komplexität: Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff von Pluralismus und Multikulturalismus ....................................

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Klaus E. Müller Die Tafelrunde .............................................................................

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Alexander Demandt Kulturenkonflikt im Römischen Reich? Eine zeitgemäße Betrachtung ......................................................

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Angelos Chaniotis Zwischen Konfrontation und Interaktion: Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias ...........

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Helwig Schmidt-Glintzer Kulturelle Komplexität, Vagheit der Grenzen und Chinas Identität .................................................................... 129 Justin Stagl Das »Kronprinzenwerk« – eine Darstellung des Habsburgerreiches .....................................

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Andreas Ackermann »Many Races, One Singapore«: Kulturelle Komplexität, Ethnizität und Nation in Singapur ......... 173 Dieter Haller Das Lob der Mischung: Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar ..................................

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Jörn Rebholz »Multikulturelle« Praxen in der Stadt Frankfurt am Main .......... 257

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Klaus E. Müller Resümee ....................................................................................... 281 Die Autoren .................................................................................. 309

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6) T00_05 Inhalt.p 322297515664

Vorwort

Vorwort

Etwa seit dem ausgehenden Mittelalter sind Monokulturen in der Landwirtschaft auf dem Vormarsch; in menschlichen Gemeinschaften hat es sie nie gegeben. Jede Siedlung setzte sich stets aus Mitgliedern unterschiedlicher Verwandtschaftsverbände, aus Frauen, Männern, Kindern, Jugendlichen und Alten mit mehr oder weniger differenzierten Umgangsformen, Trachten, Brauchtümern, Moralvorstellungen usw. zusammen. In städtischen Gemeinwesen bildet multikulturelles »Patchwork« vollends die Regel. Die Zeugnisse dafür reichen bis in die Anfänge der Archaischen Hochkulturen, als die erste Städte entstanden, zurück. Je komplexer eine Gesellschaft, desto vielfältiger ihre sozialen – berufsbedingten, gewerblichen, nachbarschaftlichen, ständischen, statusspezifischen usw. – »Sub«beziehungsweise »Elitekulturen«. Schon im Altertum, verstärkt dann mit der Industrialisierung und Verbesserung der Verkehrsmöglichkeiten, ganz zu schweigen von Kolonialismus und Imperialismus, traten ethnische Migrationen, »Glaubenskriege«, Verfolgung und Flüchtlingsströme hinzu. Heute spricht man bereits von »Jugend«- und »Betriebskultur«, von »bürgerlicher« und »Gemeinde«-, von »Friedhofs«- und »Theaterkultur«. Mit den hier vorgestellten Beispielen konnte nur eine sehr begrenzte Auswahl geboten werden. Unser Anliegen war gleichwohl, systematischverallgemeinernde mit möglichst exemplarischen und repräsentativen Einzeldarstellungen zu kombinieren. Die Beiträge gehen überwiegend auf eine von uns organisierte Tagung »Kulturelle Komplexität – Bedrohung oder Chance?« zurück, die im September 1998 im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen im Rahmen der von Jörn Rüsen geleiteten Studiengruppe »Sinnkonzepte als lebens- und handlungsleitende Orientierungssysteme« stattfand. Weitere wurden ergänzend eingeworben, »Einführung« und »Resümee« von uns zusätzlich verfaßt, um das Bild wenigstens in etwa abzurunden. Ist das Phänomen an sich auch alt, so hat seine Problematik doch im Zuge der Entwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgewirkungen, der politischen Umwälzungen in der »Dritten Welt« und namentlich der vielumstritttenen »Globalisierung« zunehmend an Schärfe und Aktualität gewonnen. Unseres Erachtens reichen wohlfeile Toleranzappelle und sogenannte »politische Lösungen« nicht weit, wenn wenig Klarheit über die elementaren Voraussetzungen, die Systematik und Kasuistik, die moralischen und rechtlichen Implikationen sowie die geschichtlichen Erfolge und Mißerfolge multikultureller Gemeinschaftlich7

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Vorwort keit besteht. Dazu soll das Buch einen Beitrag leisten. Kulturelle Komplexität war und ist nicht nur der Regelfall menschlichen Zusammenlebens – sie wird mehr denn je unsere Zukunft bestimmen. Andreas Ackermann, Klaus E. Müller, April 2002

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Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff

Wechselwirkung – Komplexität: Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff von Pluralismus und Multikulturalismus Andreas Ackermann

Eine Kultur ist [...] die Form der Bearbeitung des Problems, daß es auch andere Kulturen gibt. (Baecker 2000: 17)

1. Leitkultur versus Multikultur Wollte man die Bestandteile einer Leitkultur in Großbritannien zusammenstellen, so käme an erster Stelle das indische Curry, also jene Vielzahl von Gerichten, sei es Fisch, Fleisch oder Gemüse, deren Gemeinsamkeit vor allem darin besteht, daß sie ihren Geschmack einer der unzähligen Variationen einer bestimmten Gewürzmischung verdanken. Einer Meldung der britischen Nachrichtenagentur BBC zufolge ist Curry nämlich zum Nationalgericht des Vereinigten Königreiches avanciert, wo mittlerweile ungefähr 8.000 Curry-Häuser existieren, die rund 70.000 Angestellte beschäftigen. Als wäre diese Tatsache nicht schon ungewöhnlich genug, werden wir des weiteren darüber belehrt, daß das mit Abstand beliebteste Curry, nämlich Chicken Tikka Masala, in Indien bislang unbekannt war. Aufgrund der zunehmenden Nachfrage vor allem durch britische Touristen und expatriates aber sieht man sich nun auch auf dem indischen Subkontinent gezwungen, (eigens aus England importiertes) Chicken Tikka Masala zu servieren.1 Angesichts dieser vermeintlichen Irrwege des anglo-indischen Curry scheint die vor kurzem in Deutschland aufgekommene Rede von der sogenannten Leitkultur doch eher überholt. Sie übersieht nämlich völlig, daß die Dynamik der Globalisierung und der mit ihr verbundenen Migrationsbewegungen von Menschen, Waren und Informationen keinesfalls nur eine einseitige, sondern – wie das Curry-Beispiel anschaulich zeigt – eine wechselseitige Beeinflussung fördern. Will man der Existenz solcher Wechselwirkungen Rechnung tragen, so darf eben nicht nur von einer weltweiten Homogenisierung der Kultur zu einer »McWorld«2 die Rede 1 BBC News vom 3. November 1999 . 2 Barber 1992.

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Andreas Ackermann sein, sondern es muß auch von der Globalisierung der Differenz und damit einer Steigerung von kultureller Komplexität gesprochen werden. Während Menschen aus Asien, Afrika, Lateinamerika oder der Karibik in Europa und Nordamerika überwiegend als Einwanderer in die Metropolen wahrgenommen werden, bilden sie gleichzeitig auch Anknüpfungspunkte für ihre jeweiligen Herkunftsgesellschaften. Moderne Kommunikationstechniken und Transportsysteme eröffnen den Migranten eben nicht nur Wege in vermeintlich gelobte Länder, sondern auch Möglichkeiten, weiterhin enge Bindungen mit ihren Herkunftsländern aufrechtzuerhalten. Aus dieser Perspektive gehören auch London, Paris und Brüssel zu den Großstädten der sogenannten »Dritten Welt« und erhalten, vermittelt über die Migrantennetzwerke der Arbeiter, Studenten, Unternehmer, Exilanten und Touristen, ihren Anteil an den jeweiligen kulturellen Strömungen.3 Aufgrund dieser Entwicklung wird inzwischen auch von der »Caribbeanization of New York City« gesprochen, während sowohl Los Angeles als auch Miami als Anwärter auf den Titel »Hauptstadt von Lateinamerika« gehandelt werden.4 Das dadurch hervorgerufene Zusammenspiel von Wechselwirkungen und Komplexität findet seinen metaphorischen Niederschlag unter anderem in Begriffen wie Kreolisierung, Mestizaje, Orientalisierung, Crossover und Hybridität.5 Die aufgetretene Rede von einer deutschen Leitkultur, die der multikulturellen Gesellschaft entgegengestellt werden müsse, läßt sich als Ausdruck eines Stimmungswandels innerhalb der Mehrheitsgesellschaft verstehen, der Multikulturalität für die Probleme der Globalisierung verantwortlich macht, anstatt sie als Resultat eben jener Prozesse anzuerkennen. Die Konnotationen des Begriffs haben sich in den letzten Jahren geändert: Wurde Multikulturalität einst als Spielwiese der Völkerverständigung, als kulinarische Mischung auf Stadtteilfesten zelebriert, so erscheint sie nun – vor allem im Hinblick auf die Kriege im vormaligen Jugoslawien – als verhängnisvoller Schritt hin zum Schlachtfeld blutiger Auseinandersetzungen um die Rücknahme jedweder ethnisch-kultureller Vermischung. Dabei ist die Entgegensetzung von Leitkultur auf der einen Seite und Multikultur auf der anderen nur wenig sinnvoll, suggeriert sie doch statische, homogene Ganzheiten, wo vielmehr gleichzeitige Wechselwirkungen zwischen Kulturen und Komplexität innerhalb einer Kultur im Spiel sind. Sie ist sogar gefährlich, wenn nämlich die Erkenntnis, daß Identität und Differenz 3 Hannerz 1987: 550. 4 Kearney 1995: 554. 5 Vgl. Nederveen Pieterse 1998: 102f.

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Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff unauflösbar im Begriff der Kultur miteinander verklammert sind und sich wechselseitig bedingen, zugunsten einer ausschließlichen Betonung von entweder Identität oder Differenz aufgegeben wird. Wenn »(Leit-)Kultur« für ethnisch-kulturelle Homogenität und historische Kontinuität steht, für »Reinheit« und »Unvermischtheit«, und die Anwesenheit von Menschen, die als kulturell Fremde definiert werden, demzufolge als »Verunreinigung« gelten muß, so erscheint es nur folgerichtig, wenn Gesellschaften und Territorien von der Bedrohung einer »Vermischung« beziehungsweise »Verschmutzung« befreit werden sollen. Die gedankenlose, häufig nicht einmal mehr in Anführungszeichen gesetzte Rede von der »ethnischen Säuberung« perpetuiert und legitimiert diese Vorstellung zusätzlich. In diesem Falle wird Kultur zum ideologischen Schlachtfeld des »clash of civilizations«6, auf dem entweder der unaufhaltsam fortschreitende Verlust kultureller Differenzen beklagt wird oder aber die »kulturelle Überfremdung« der jeweils eigenen Gesellschaft. Kultur meint dann auch nicht mehr eine spezifische Sicht auf und von Gesellschaft, durch die menschliche Erfahrungsweisen und Handlungsformen transparenter werden, sondern wird zur Hypostasierung des Kulturellen, das damit selbstreferentiell und letztlich beliebig wird.7 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang Dieter Hallers Beitrag über Gibraltar, das wohl eines der wenigen Beispiele für das »Lob der Mischung« sein dürfte (wiewohl es auch dort auf bestimmte »Mischungsverhältnisse« ankommt).

2. Interessenkonvergenz und Reziprozität Die in diesem Band versammelten Beiträge wenden sich gegen den in der Vorstellung der Leitkultur angelegten Verdacht, daß Multikulturalität grundsätzlich problematisch sei und eine übergeordnete kollektive Identität sich letztlich nur kulturell stiften lasse. Anhand unterschiedlicher Beispiele zeigen sie, daß die zumeist durch äußere Umstände, etwa durch Eroberung oder Migration, entstandene Koexistenz von Angehörigen ethnisch, kulturell oder religiös unterschiedlicher Gruppen sowohl historisch als auch kulturvergleichend eher die Regel als d(i)e(n) Ausnahme(-zustand) darstellt. Sie verweisen damit auf historische und zeitgenössische Alternativen zu der Vorstellung, es gäbe so etwas wie »kulturelle Reinheit« und 6 Huntington 1993 und 1996. 7 Kaschuba 1995: 16.

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Andreas Ackermann jede diesbezügliche Vermischung sei deshalb von Übel. Multikulturalität war und bleibt häufig unproblematisch, oft sogar bereichernd, und zwar solange, wie Wechselwirkungen – hervorgerufen durch eine Konvergenz der Interessen und das sich in Formen der Reziprozität beziehungsweise Redistribution ausdrückende Bewußtsein des aufeinander Angewiesenseins – gemeinschaftsstiftend wirken können. Der pragmatische Umgang mit Komplexität im Hinblick auf die jeweiligen gemeinsamen Interessen soll im folgenden kurz an zwei Beispielen »traditioneller« Formen multiethnischer beziehungsweise multireligiöser Kooperation illustriert werden, nämlich anhand der sozialen Symbiose zwischen ethnischen Gruppen sowie des Umgangs mit den religiösen Minderheiten im Islam, den »Schutzbefohlenen« (dhimma). Der Begriff soziale Symbiose ist in Anlehnung an die biologische Definition einer »Vergesellschaftung mit gegenseitigem Nutzen« von dem englischen Sozialanthropologen Siegfried Frederick Nadel (1903-1956) geprägt worden. Nadel bezieht sich dabei auf seine Studie einer Nupe-Kommunität in Nordnigeria, wo vier ursprünglich voneinander unabhängige und kulturell unterschiedliche Gruppen, die über einen Zeitraum von 200 Jahren in das Gebiet eingewandert sind, über symbiotische Beziehungen eine übergreifende Verbindung geschaffen haben.8 Zuerst kamen die kintsózhi, »Eigentümer des Landes« genannt, die »schon immer da« waren und keine andere Heimat kennen. Diese Gruppe stellte ursprünglich das Oberhaupt des Dorfes. Als nächstes wanderten die ndacezhi ein, eine Gruppe von Jägern aus einem Dorf der näheren Umgebung. Danach, um circa 1800, kamen die Benú, wohlhabende muslimische Händler, die bald die politische und wirtschaftliche Führung übernahmen. Schließlich kamen zuletzt die Konú oder »Kriegsgefangenen«, freigelassene Yoruba-Sklaven, die von den Ful Königen ins Land gebracht worden waren, um die Webund Färbekünste der Yoruba einzuführen.9 Zu der Zeit von Nadels Studie, in den 1930er Jahren, gab es etwa 1600 Benú, 400 Kintsózhi, 60 Ndacezhi und 50 Konú, spätere Migranten nicht mitgezählt.10 Während jede Untergruppe ihre eigene Identität über gemeinsame Abstammung, Landbesitz und einen jeweils eigenen Kult aufrechterhalten hat, kommt es gleichzeitig über ein generelles Maß an wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit hinaus zu Heiratsbeziehungen und gegensei8 Weitere Beispiele sozialer Symbiose finden sich unter anderen bei Smith 1969: 94; Suhrbier 1995. 9 Nadel 1938: 85f. 10 Nadel 1938: 86.

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Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff tigen spirituellen »Dienstleistungen«. Die Benú, obwohl Muslime, haben den gani, einen ihrer alten traditionellen Kulte, mitgebracht, der inzwischen überregionale Bedeutung gewonnen hat. Der gani hat, neben anderen Aspekten, vor allem seinen Charakter als Initiationsritus vom gunnu übernommen, dem wichtigsten Ritus der kintsózhi. Abgesehen von einem esoterischen Teil wird die Zeremonie nun zum Wohle des ganzen Landes durchgeführt. Im Gegenzug feiern die kintsózhi ihren gunnu nicht länger als alljährlichen Kult, sondern nur noch, wenn Unglück die Kommune befällt, etwa durch Seuchen, Dürre oder Mißernten. Wiederum bleibt der geheime Teil Vorrecht der Gruppe, die den Kult ursprünglich besaß, aber durchgeführt wird er nichtsdestotrotz für das Wohlergehen aller. Auch die ndacezhi besitzen ein Ritual, das der Allgemeinheit dient, indem es mit den Ahnen assoziiert wird und gegen Krankheit und Unfruchtbarkeit helfen soll. Jede Person im Dorf, ganz gleich welcher Sektion sie angehört, wendet sich daher an die ndacezhi, wenn sie deren spezieller Magie bedarf. Die Konú schließlich führen einen in Nupe ursprünglich unbekannten YorubaMaskentanz, der zum Kult des gúgu gehört, anläßlich des Begräbnisses wichtiger Mitglieder der Gesamtgruppe durch.11 Solche Formen des kulturell-religiösen Austauschs sind typisch für multikulturelle Gemeinschaften vorindustriellen Zuschnitts. So verweist etwa Angelos Chaniotis in seinem Kapitel über Aphrodisias darauf, daß es zu einem tiefgreifenden Austausch zwischen Heiden, Christen und Juden kam, der sich zum Beispiel in wechselseitiger Teilnahme an religiösen Zeremonien und im Gebrauch eines gemeinsamen religiösen Wortschatzes niederschlug, was die eindeutige Zuweisung von Zeugnissen zu der einen oder anderen Gemeinde erheblich erschwert. Ein weiteres klassisches Modell der Organisation kulturell-religiöser Differenz stellt die Institution der »Schutzbefohlenen« (dhimma) im Islam dar.12 Im Umgang mit der Bevölkerung unterworfener Territorien machten die muslimischen Eroberer einen grundsätzlichen Unterschied zwischen »Ungläubigen« (sogenannten Heiden, Götzenanbetern und Polytheisten) auf der einen und den »Leuten der Schrift«, den Anhängern einer Offenbarungsreligion (Juden, Christen, Sabäer, später auch Zoroastrier, Buddhisten u.a.), auf der anderen Seite. Mit Angehörigen der ersten Kategorie war kein sozialer Umgang erlaubt; sie mußten bekämpft werden, bis sie entweder konvertierten oder getötet beziehungsweise versklavt wurden. 11 Nadel 1938: 87. 12 Ebenso das indische jajmani-System (vgl. Gould 1987; Kolenda 1978; Sinha 1967).

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Andreas Ackermann Anhänger einer Offenbarungsreligion dagegen waren durch einen Vertrag (dhimma) geschützt, der ihnen – gegen die Zahlung von Boden- (kharaj) und Kopfsteuern (jizya) – körperliche Unversehrtheit, den Schutz ihres Eigentums, Bewegungsfreiheit und das Recht, ihren Glauben auszuüben, garantierte.13 Das Spanien der Umayyaden und das Ägypten der Fatimiden gelten als das Goldene Zeitalter einer harmonischen, sich gegenseitig bereichernden Koexistenz von Muslimen, Juden und Christen.14 Die den religiösen Minderheiten in bestimmten Bereichen gewährte Autonomie hatte die Ausbildung quasi eigenständiger Einheiten zur Folge, mit ihren jeweils eigenen religiösen, juristischen, sozialen, und karitativen Institutionen. Nicht-Muslime wurden dabei nicht als Individuen, sondern als Angehörige ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft in die muslimische Gesellschaft eingegliedert.15 Dies bedeutete auch, daß stets eine eindeutige Grenze zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen existierte, deren Verlauf durch Vorschriften bezüglich Kleidung, Haarschnitt und Gottesdienst ebenso markiert wurde wie hinsichtlich der Errichtung und des Erhalts von Kirchen und Synagogen, der Gebäudehöhe und der Tierhaltung, um nur einige zu nennen. Zwar gab es in den meisten Fällen keine erzwungene Segregation im Hinblick auf Wohnort und Beruf, wohl aber eine Spezialisierung im Sinne einer »ethno-religiösen Arbeitsteilung«, das heißt, NichtMuslime erfüllten komplementäre ökonomische Funktionen, indem sie Tätigkeiten ausübten, die den Muslimen als »unrein«, »nieder« oder nicht erstrebenswert galten.16 Bei den vorangegangenen Beispielen handelte es sich sozusagen um einen eher »traditionellen« Umgang mit faktisch vorhandener Multikulturalität im Sinne einer Anerkennung der Differenz innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen, die von Interessenkonvergenz und Reziprozität getragen werden. Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang gibt Alexander Demandt mit seinem Beitrag über das Römische Reich, in dem er zeigt, daß sich eine Vielzahl unterworfener Völker, unbeschadet ihrer kulturellen Unterschiede, staatsrechtlich als Römer verstanden hat. Mit dem 13 Krämer 1995: 109. 14 Krämer 1995: 109. 15 Krämer 1995: 110. Dieses Prinzip findet seinen deutlichsten Ausdruck im millet-System (abgeleitet vom arabischen milla, »Religionsgemeinschaft«) des Osmanischen Reiches. Während des 19. Jahrhunderts konnte millet dann sowohl »Religionsgemeinschaft« als auch »Nation« im Sinne von »Volksgemeinschaft« bedeuten (Hess 1995: 107). 16 Krämer 1995: 109f.

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Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff Entstehen der Nationalstaaten, deren oft nur mühsam hergestellte ethnisch-kulturelle Homogenität durch die Existenz von Minderheiten nachhaltig in Frage gestellt wird, kommt es nun zu einem veränderten, gleichsam »modernen« Umgang mit Multikulturalität. »Modern« bezeichnet deshalb die – zumindest vom ideologischen Ansatz her – intendierte oder auch nur imaginierte Abschaffung der ethnisch-kulturellen Differenz, entweder im Sinne einer Anpassung der Minderheiten an ein vorgegebenes Ideal oder einer Verschmelzung aller Gruppen in dem neuen Kollektiv der Nation. Hier läßt sich wohl eher von divergierenden Interessen und einer Verschiebung hin zu weniger reziproken oder redistributiven als vielmehr dependenten Systemen sprechen.

3. Plural Society und Multikulturelle Gesellschaft In diesen Kontext lassen sich die verschiedenen Pluralismus- und Multikulturalismus-Konzeptionen einordnen, die im folgenden ebenfalls kurz vorgestellt werden sollen. Dabei zeigt sich ein grundlegendes Problem der Begrifflichkeiten, die sowohl deskriptiv – das Verhältnis kultureller oder sozialer Gruppen zueinander beschreibend – als auch normativ – entweder die Beibehaltung oder die Auflösung ethnisch-kultureller Differenzen fordernd – verwendet werden, wobei die Ebenen häufig nicht mit der nötigen Deutlichkeit geschieden werden. Die Bezeichnung Pluralismus bezieht sich gewöhnlich auf einen Gesellschaftstyp, der sich aus kulturellen oder sozialen Untergruppen zusammensetzt, wobei die Frage nach den Konstitutionskriterien des Typs »pluralistische Gesellschaft« selten übereinstimmend beantwortet wird. Drei Kontexte der Beschäftigung mit Pluralismus lassen sich jedoch herauspräparieren, nämlich der politische, der soziale und der kulturelle, wobei vor allem die letzten beiden von Bedeutung für das hier behandelte Thema sind.17 Der soziale Pluralismus bezieht sich auf die Tatsache, daß Staaten – entgegen der landläufigen Annahme politischer Theorie – auch ohne ein System von gemeinsamen Werten und Normen existieren können. Paradigmatisch hierfür ist der koloniale Staat, bei dem eine Minderheit ihre beherrschende Position auf die Androhung und gegebenenfalls auch die 17 Der politische Pluralismus bezeichnet entweder die Rolle von Organisationen als Vermittler zwischen Staat und Bürger im Prozeß der politischen Willensbildung oder den Wettbewerb verschiedener Interessengruppen innerhalb eines Staates als notwendigen Bestandteil der Demokratie (vgl. Leis 1996).

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Andreas Ackermann Ausübung militärischer Macht stützt. Innerhalb der Gesellschaft bleiben die verschiedenen ethnisch-kulturellen Gruppen – mit Ausnahme des wirtschaftlichen Austauschs – voneinander isoliert. Der britische Ökonom und Verwaltungsexperte John Sydenham Furnivall (1875-1960) prägte dafür den Begriff der »Plural Society«, der später dann vor allem von Michael Garfield Smith und Leo Kuper aufgegriffen und weiterentwickelt wurde.18 Furnivall bezog sich vor allem auf die englische Kolonialpolitik, insbesondere die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte für die südostasiatischen Kolonien. Seine Definition des Kolonialstaates als »pluralistische Gesellschaft, in der verschiedene Gruppen der Gemeinschaft nebeneinander, aber getrennt, innerhalb derselben politischen Einheit leben«,19 ist inzwischen beinahe zum Gemeinplatz geworden. Anläßlich seines Aufenthaltes in Südostasien schrieb er: »Das erste, was dem Besucher in Burma wie in Java wahrscheinlich auffallen wird, ist die Mischung von Völkern – Europäer, Chinesen, Inder und Einheimische. Hier handelt es sich um eine Mischung im eigentlichen Sinne, da diese Volksgruppen sich vermischen, aber sich nicht verbinden. Jede Gruppe behält ihre Religion, ihre eigene Sprache und Kultur, ihre eigenen Vorstellungen und Lebensgewohnheiten bei. Als einzelne kommen sie zwar zusammen, aber nur auf dem Marktplatz, beim Kaufen und Verkaufen.«20

Furnivall sah, daß die ausschließlich ökonomisch motivierten Kräfte des Kolonialismus zu einem Auflösungsprozeß der traditionellen Gesellschaft führten, bei dem »alle anderen Werte, die nicht ökonomischer Natur sind, schnell, direkt und wirkungsvoll eliminiert werden«.21 Da die Koexistenz der verschiedenen ethnischen Gruppen nicht auf freiwilliger Kooperation und Interessenkonvergenz, sondern auf dem Zwang der Kolonialmacht beruht, kann sie, Furnivall zufolge, auch »nicht aufgelöst werden, ohne daß die gesamte Gesellschaft in Anarchie zurückfällt«.22 Damit ist ein Problem angesprochen, mit dem sich viele ehemalige Kolonialstaaten nach dem Erreichen der Unabhängigkeit konfrontiert sahen, verfügten sie doch nur in den seltensten Fällen über eine bereits vorhandene kollektive Identität, die den Prozeß des nation building hätte unterstützen können. Eine 18 19 20 21 22

Kuper & Smith 1969; Smith 1965. Furnivall 1970: 283. Furnivall 1970: 283. Furnivall 1970: 278. Furnivall 1970: 286.

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Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff eingehende Analyse dieses Problems bietet das Kapitel über Singapur in diesem Band. Das Konzept des kulturellen Pluralismus wurde durch einen Aufsatz von Horace M. Kallen (1882-1974) in die amerikanische Einwanderungsdebatte eingeführt.23 Kallen, ein aus Deutschland ausgewanderter Sozialphilosoph, war einer der ersten, die sich gegen die Schmelztiegel-Metapher wandten – eine Kritik, die dann später unter anderen bei Nathan Glazer und Daniel P. Moynihan24 sowie Milton Gordon25 fortgesetzt wurde. Die Vertreter der sogenannten Schmelztiegel-Ideologie, darunter der Philosoph Ralph Waldo Emerson (1803-1882) und der englische Schriftsteller und Zionist Israel Zangwill (1864-1926), vertraten die Ansicht, Amerika hätte ein Asyl für alle Völker zu sein, die dereinst auf dem Kontinent eine neue »Rasse«, eine neue Religion, einen neuen Staat und eine neue Literatur schaffen würden. Der Begriff fand durch Zangwills Schauspiel mit dem Titel »The Melting Pot« eine weite Verbreitung. In dem 1909 veröffentlichten Stück berichtet David, ein aus Rußland emigrierter Komponist, er komponiere eine amerikanische Symphonie, die durch das Sieden des Schmelztiegels, den Gott geschaffen habe, inspiriert sei. In diesem würden alle europäischen Rassen schmelzen: »The real American has not yet arrived. He is only in the Crucible, I tell you – he will be the fusion of all races, the coming superman.«26

Kallen hielt dagegen, daß »Amerika« ein Phantom bleiben und es eine typisch »amerikanische Rasse« niemals geben würde. Statt dessen hätten sich bereits eigenständige Einwandererkulturen mit einer ethnischen Identität gebildet, deren unveräußerliche Eigenschaften und Rechte am besten in einer Föderation aufrechterhalten und gefördert werden könnten. Seiner Ansicht nach war das Schmelztiegelkonzept überdies undemokratisch und kultureller Pluralismus die unvermeidliche Konsequenz der bisher nicht eingelösten demokratischen Prinzipien Amerikas. Sein Ideal bezog sich auf das Motto der »Einheit in der Vielfalt«, die amerikanische Zivilisation entwarf er (offenbar ebenfalls musikalisch inspiriert) als ein »Orchester der Menschheit«, in dem die einzelnen ethnischen Gruppen Instrumenten gleichen, die ihre je eigenen, unverwechselbaren Themen spielen und so 23 24 25 26

Kallen 1970. Glazer & Moynihan 1970. Gordon 1964. Zangwill 1925: 38, in: Treibel 1990: 37.

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Andreas Ackermann gemeinsam die »Symphonie der Zivilisation« aufführen. Allerdings traf er eine wichtige Unterscheidung zwischen den Sphären der Musik und der Zivilisation: Während die Symphonie im musikalischen Sinne bereits komponiert worden sein muß, bevor sie aufgeführt werden kann, schreibt sich die Symphonie der Zivilisation in ihrem Vollzug fort; ihre Entwicklung ist in keiner Partitur fixiert und nur durch die Grenzen der Natur bestimmt, so daß die Harmonien immer noch ausdrucksvoller und schöner werden können.27 Ende der sechziger Jahre bekam das Konzept des kulturellen Pluralismus im Zuge des sogenannten »ethnic revival« eine neue, wichtige Bedeutung. Hier trafen die Auswirkungen der Bürgerrechtsbewegung, das selbstbewußte Auftreten und die Einforderung bilingualer Erziehung durch die Amerikaner mexikanischer Abstammung und die Rückbesinnung eines Teils der europäischen Einwanderer auf ihre jeweilige Sprache und Kultur zusammen. Die Berufung auf ethnische Zugehörigkeit als symbolische Identifikation mit deutlich nostalgischen und konservativen Zügen ist inzwischen zum gesellschaftlich akzeptierten Bestandteil des nordamerikanischen Alltags geworden. Der »Schmelztiegel«, in dem sich die ethnisch-kulturellen »Rohstoffe« zu etwas Neuem mischen, wird so von der »Salatschüssel« abgelöst, bei der die »Zutaten« zwar gemischt werden, aber eindeutig erkennbar bleiben. Obwohl sich die Verwendung des Adjektivs »multikulturell« bereits um 1941 für die Vereinigten Staaten nachweisen läßt28, ist der Begriff Multikulturalismus in politischer Münze doch zuerst in Kanada geprägt worden. Unter Berufung auf den Soziologen Charles Hobart, der den Begriff im Jahre 1964 erstmals öffentlich gebrauchte, forderte der Slavistikprofessor und Politiker Paul Yuzyk einen »Multikulturalismus«, der – im Gegensatz zur bisherigen bikulturellen Politik, die lediglich auf die Bedürfnisse von Anglo- und Franko-Kanadiern ausgerichtet war – auch die anderen Minderheiten Kanadas berücksichtigen würde.29 Seiner Ansicht nach war Kanada nie bikulturell gewesen, schließlich hatten dort schon immer Indianer und Inuit gelebt. Zudem sei die Gruppe der britischen Kolonisten selbst »multikulturell« und setze sich aus Engländern, Schotten, Iren und Walisern zusammen. Rechne man noch die anderen Einwanderergruppen hinzu, die immerhin ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, 27 Kallen 1970. 28 Dabei handelt es sich laut Sollors um den Roman »Lance: A Novel About Multicultural Men« von Edward F. Haskell (Sollors 1994: 53). 29 Mintzel 1997: 23.

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Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff so sei Kanada tatsächlich multikulturell. Seine Argumentation hatte Erfolg: Am 8. Oktober 1971 verkündete dann der kanadische Premierminister Trudeau die zukünftige offizielle kanadische Multikulturalismus-Politik »within a bilingual framework«.30 Danach sollten Ureinwohner und spätere Zuwanderer in einer multikulturellen Gesellschaft unter einem gemeinsamen Dach koexistieren und ihre kulturelle Identität bewahren können. In den USA wurde der Begriff mit den Debatten der achtziger Jahre um Unterrichtsformen im Erziehungssystem aufgegriffen, in denen der eurozentrische Zuschnitt der Lehrprogramme kritisiert wurde. »Multiethnic education« und »multicultural education« wurden in den USA zu Schlüsselwörtern einer pädagogischen Reformbewegung, die eine Anerkennung der ethnischen Vielfalt forderte. Inzwischen ist Multikulturalismus zum Codewort für eine Identitätspolitik geworden, die die Anerkennung ethnisch-kultureller Minderheiten in akademischen und kulturellen Institutionen durchzusetzen versucht. Dabei lassen sich mit Terence Turner zwei Formen des multikulturellen Diskurses unterscheiden: »difference multiculturalism« und »critical multiculturalism«. Während erstere Kultur auf Symbole ethnischer Identität reduziert und Formen sowohl des intellektuellen als auch politischen Separatismus legitimiert, ist letztere durch das Bemühen gekennzeichnet, kulturelle Komplexität zu nutzen, um Grundüberzeugungen von Mehr- und Minderheiten gleichermaßen in Frage zu stellen und so die Basis für mehr Mitbestimmung und Identifikation innerhalb eines demokratischen Gemeinwesens zu schaffen. Dieser »kritische« Multikulturalismus fördert eine Entflechtung von sozialen Institutionen und kulturellen Traditionen und hält dafür, daß die Förderung und Bewahrung des universalen Rechts auf kulturelle Selbstbestimmung den letzten Grund politischer Legitimität darstelle.31 Nach Deutschland kam der Begriff der multikulturellen Gesellschaft ebenfalls zu Anfang der achtziger Jahre, und zwar anläßlich des »Tages des ausländischen Mitbürgers« im September 1980.32 Der ökumenische Vorbereitungsausschuß der beiden Großkirchen hatte aus diesem Anlaß in einem Aufruf neun Thesen zur »Thematik des multikulturellen Zusammenlebens« verfaßt, deren erste in dem folgenschweren Satz bestand: »Wir leben in der Bundesrepublik Deutschland in einer multikulturellen 30 Mintzel 1997: 22. 31 Turner 1993: 425. 32 Eine ausführliche Darstellung der Karriere des Begriffs in Deutschland findet sich bei Frank 1995.

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Andreas Ackermann Gesellschaft«.33 Im selben Jahr erschien eine Ausgabe des »Kursbuchs« unter dem Titel »Vielvölkerstaat Bundesrepublik« mit Fallstudien zu verschiedenen, in Deutschland lebenden ethnisch-kulturellen Minderheiten (u.a. Japaner in Düsseldorf und Türken in Berlin).34 In der Folge wurde der Begriff sowohl deskriptiv verwandt, um die Situation der in Deutschland lebenden Minderheiten zu beschreiben, als auch normativ gebraucht, um die »Heimat Babylon« einzufordern, in der Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion gleichberechtigt zusammenleben können.35 Die Probleme, die sich aus diesem »Spagat« für die Angehörigen von Minderheiten ergeben, werden eindringlich von Jörn Rebholz in seinem Beitrag über multikulturelle Praxen in der Stadt Frankfurt am Main geschildert. Besonders deutlich wird die häufig nur ungenügende Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Ansprüchen von Pluralismus- und Multikulturalismuskonzepten in der jüngsten, von dem kanadischen Philosophen Charles Taylor angestoßenen Debatte um die Anerkennung kultureller Differenz.36 Wie Gerd Baumann in seiner glänzenden Kritik an Taylor nachweist, geht es auch Taylor letztlich um die Anerkennung von Kultur im »klassischen« Sinne als einem homogenen Gebilde, dessen Traditionen kontinuierlich und im wesentlichen unverändert überliefert worden sind.37 Indem er die Komplexität von Kultur nicht berücksichtigt, manövriert er sich überdies und unnötigerweise in die ausweglose Situation angeben zu müssen, welche kulturellen Werte anerkennenswert seien und welche nicht.

4. Von der komplexen Kultur zur kulturellen Komplexität Der klassische Kulturbegriff resultiert aus einer Tradition, die seit Sir Edward Burnett Tylors (1832-1917) »Primitive Culture« Kultur als unverwechselbare, historisch dauerhafte und komplexe Ganzheit begreift, die von der Ergologie über die Sozialorganisation bis zur Religion alle Aspekte der Lebensweise einer Gruppe von Menschen umfaßt, die nicht mit ihrer biologischen Natur in Zusammenhang stehen: 33 34 35 36 37

Mintzel 1997: 25. Kursbuch 107, 1992. Cohn-Bendit & Schmid 1992. Taylor 1997. Baumann 1999: 107ff.

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Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff »Culture or civilization, […] is that complex whole which includes knowledge, belief, art, law, morals, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society.«38

Die verschiedenen Bereiche werden dabei durch ein Ensemble von Werten und Normen integriert und dadurch zu einem zusammenhängenden, organischen Ganzen geformt. Jede einzelne Kultur zeugt so von der Kreativität und Vielfalt menschlicher Lebensformen. Tylors Konzeption ebnete den Weg für eine post-evolutionäre, »moderne« Sicht auf Kultur, indem sie gerade nicht mehr das Streben nach Fortschritt und folgerichtig auch die Ablösung von Traditionen thematisierte, sondern vielmehr die Bewahrung vermeintlich ungebrochener Traditionen. In der Folge wurden Kulturen als komplexe Ganzheiten beschrieben, als Summe von Merkmalen in der Form von Ideen, Repräsentationen, Glaubensüberzeugungen, Verhalten und Aktivitäten, die sich jeweils auf eine Totalität bezogen.39 Dieser Kulturbegriff mündete in der Suche nach überindividuellen Ausdrucksformen im Sinne von entweder Emile Durkheims (1858-1917) »kollektiven Repräsentationen«, Bronislaw Malinowskis (1884-1942) »Geist der Kultur«40, Alfred Kroebers (1876-1960) »superorganischen Einheiten«41 oder Ruth Benedicts (1887-1948) »Kulturmustern«42. Die Betrachtung von Kollektiven in ihrer Differenz ermöglicht darüber hinaus den Vergleich, wobei sich die Einzigartigkeit einer Kultur jeweils durch die Betonung der Unterschiede ergibt. Aus dieser Perspektive wird der Unterschied von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur zum fundamentalen Bestimmungsprinzip menschlicher Existenz. Gleichzeitig führte die Umkehrung der gegenseitigen Abwertung im Ethnozentrismus zum Postulat kultureller Gleichwertigkeit und der Forderung nach wechselseitiger Anerkennung im Kulturrelativismus. Nun konnten die einzelnen Teile kultureller Ganzheiten ethnographisch bearbeitet werden, indem Individuen teilweise im Wortsinne als »Kulturträger« aufgefaßt wurden, denen Kultur zum »ready made suit« geriet.43 Daß sich die Handlungspraxis der Mitglieder einer Gruppe hingegen häufig nicht nach den kultu38 39 40 41 42 43

Tylor 1871: 1, in: Kroeber & Kluckhohn 1967: 81. Wicker 1997: 31. Malinowski 1984. Kroeber 1952. Benedict 1989. »Culture patterns come to the individual like suits of ready made clothes« (Linton 1945: 104).

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Andreas Ackermann rellen Regeln richtet, hatte zwar schon Malinowski festgestellt, aber nicht weiter theoretisch reflektiert. Das klassische Kulturkonzept verdankt sich dem Studium zahlenmäßig kleiner, traditioneller Gesellschaften mit relativ klar konturierten kulturellen Grenzen und eher geringer sozialer Differenzierung. Eine solche Gruppe gilt dann leicht nicht nur in der Eigenwahrnehmung, sondern auch aus der Sicht eines Ethnologen als kulturell homogen und von Kontinuität geprägt. Dabei wird außer acht gelassen, daß es sich hier vor allem um identitätsideologische Postulate handelt. Wie Klaus E. Müller in seinem Beitrag zeigt, gehört intrakulturelle Variation zu den grundlegenden Tatbeständen selbst einfachster Gemeinschaften und erst recht von geschichteten und arbeitsteiligen Gesellschaften. Da Gruppen flexible Einheiten sind, deren Bestand sowohl von außen – beispielsweise durch Spaltung, den Zusammenschluß mit anderen Gruppen oder Dezimierung durch Konflikte – als auch von innen – etwa durch die Interessengegensätze der Geschlechter, Generationen und Sozialgruppen – bedroht werden kann, bedürfen sie einer artifiziellen Verfestigung, die der Beweglichkeit Grenzen setzt und Begriffe, Dinge, Institutionen, Werte, Vorstellungen usw. so fixiert, daß sie einigermaßen eindeutig bestimmt und verläßlich erscheinen. Zu diesen künstlichen Fixpunkten einer Gesellschaft gehören ihre kulturellen Traditionen44 – eine Tatsache, die bereits die Gründerväter der Ethnologie in verschiedenen programmatischen Äußerungen anerkannt hatten. Doch die Vorstellung eines homogenen »Wesens« von (Volks-)Kultur, welche von Johann Gottfried Herder (1744-1803) über Franz Boas (1858-1942) in die amerikanische Kulturanthropologie transportiert wurde, verhinderte, ebenso wie die allmähliche funktionalistische Überformung dieser Vorstellung, daß daraus die entsprechenden theoretischen Schlußfolgerungen gezogen wurden. War die Annahme kultureller Homogenität schon im Hinblick auf traditionelle Gruppen problematisch, so wurde sie vollends fragwürdig, wenn es darum ging, sie auf komplexe Gesellschaften zu übertragen, versperrte sie doch den Blick sowohl auf die Wechselwirkungen zwischen den Kulturen als auch auf die Komplexität innerhalb einer bestimmten Kultur. Fredrik Barth, einer der Gründerväter der Ethnizitätsforschung, hatte deshalb bereits Ende der sechziger Jahre vorgeschlagen, sich statt dessen auf Wechselwirkungen zu konzentrieren, nämlich die Markierung von Gruppengrenzen, »not the cultural stuff that it encloses«45. Aus dieser Sicht 44 Müller 1987: 66. 45 Barth 1969: 15.

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Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff resultiert ethnisch-kulturelle Abgrenzung im wesentlichen aus einem Akt der Zuschreibung (sei es sich selbst oder anderen, beziehungsweise durch andere) und nicht aus Unterschieden in der Kultur per se. Auch wenn kulturelle Phänomene zu Elementen von Abgrenzungsbemühungen gehören, so reichen sie doch nicht aus, um ethnische Grenzziehungen und »interkulturelle« Konflikte zu erklären. In den letzten Jahren ist daher innerhalb der Kulturwissenschaften viel Energie darauf verwandt worden, einen Kulturbegriff zu entwickeln, mit dessen Hilfe sowohl Wechselwirkungen als auch Komplexität analysiert werden können. Der schwedische Ethnologe Ulf Hannerz beispielsweise spricht von Kultur als einem »Netzwerk von Perspektiven«, wobei er sich auf den Umstand bezieht, daß die Mitglieder einer komplexen Gesellschaft immer wieder in Kontakt mit anderen Mitgliedern kommen (oder zumindest von deren Existenz wissen), die andere Sichtweisen vertreten. Die Annahme einer ausschließlichen Reproduktion von Perspektiven in der Form kultureller Traditionen scheint von daher weniger plausibel als die Vorstellung von der Organisation von Sinn (»management of meaning«) in spezifischen Sinnsystemen (»sytems of meaning«).46 Kultur besteht so nicht nur aus kulturellen Routinen, sondern wesentlich auch aus der Spannung zwischen gegebenem »Sinn« einerseits und persönlichen Erfahrungen und Interessen andererseits. In dieser Sichtweise gilt Kultur nicht länger als ein stabiles, kohärentes System, sondern als »Collage«47, »work in progress«48 oder als »offener und instabiler Prozeß des Aushandelns von Bedeutungen«.49 Die vielzitierten Kommunikations- und Verkehrsströme der Globalisierung haben nicht nur die Repräsentanten und Repräsentationen »des Westens« in den Rest der Welt transportiert – sie haben auch den Rest der Welt »vor Ort« gebracht. Wurden kulturelle Differenzen bislang vor allem zwischen Staaten oder Nationen wahrgenommen, werden sie nun auch verstärkt innerhalb eines Staates oder einer Nation augenfällig. Die Vorstellung kultureller Komplexität konzipiert Kultur daher nicht länger in der Form homogener Entitäten mit identifizierbaren Strukturen, sondern als Variation und Übergang. Die Perspektive auf Kultur als »semiotische Praxis« konzentriert sich auch nicht länger auf so etwas wie eine kohärente kulturelle Grammatik, sondern richtet den Blick auf die Regeln der Trans46 47 48 49

Hannerz 1987: 550. Geertz 1986: 121. Hannerz 1987: 550. Wimmer 1996: 407.

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Andreas Ackermann formationen, die für kulturelle Kontinuitäten verantwortlich sind.50 Das Konzept der kulturellen Komplexität verortet Differenz nicht länger ausschließlich zwischen den Kulturen (wie es die Konzepte von Pluralität und Multikulturalität tun), sondern innerhalb einer jeden Kultur. Genau besehen findet der »clash of civilizations« täglich statt, nur ist er normalerweise weitaus weniger spektakulär, als es die düster-apokalyptischen Beschreibungen der selbsternannten Verteidiger des Abendlandes nahelegen.

5. Kulturelle Komplexität und post-ethnische Nation Auch wenn der Kulturbegriff der Kulturwissenschaften komplexer geworden ist und sich vermehrt an Wechselwirkungen orientiert, so gelangt der »ganzheitliche« Kulturbegriff durch bestimmte Hintertüren doch wieder in die aktuellen Debatten, und zwar immer dann, wenn von Homogenität, Kohärenz und Kontinuität im Hinblick auf überindividuelle Entitäten die Rede ist. So impliziert gerade die – sich im Prinzip fortschrittlich verstehende – Forderung nach der Anerkennung ethnisch, religiös und kulturell unterschiedlicher Gruppen in der multikulturellen Gesellschaft die Existenz autonomer kultureller Ganzheiten. Damit begibt man sich letztlich aber wieder auf die Ebene der Forderung nach einer Leitkultur, deren Homogenitätsannahme kulturelle Komplexität negiert und sich einer Integration der (bzw. des) Fremden verweigert. Nichtsdestoweniger wird die Frage zusehends dringlicher, wie die kollektive Identität einer kulturell komplexen Gesellschaft beschaffen sein soll, und auf welche identitätsstiftenden Parameter sie sich stützen kann. Den einzigen Ausweg aus dem kulturalistischen Dilemma können letztlich nur solche Formen kollektiver Identität bieten, die sich nicht vornehmlich auf kulturelle Traditionen berufen, sondern auf gemeinsame, in einem demokratischen Verhandlungsprozeß argumentativ zu begründende Werte und Normen, die kulturübergreifend und prinzipiell hinterfragbar sind, eben weil sie nicht ausschließlich kulturell legitimiert werden. Die Nation als inzwischen sprichwörtlich gewordene imagined community verdankt sich der Vorstellung einer auf gemeinsamer Herkunft und geschichtlicher Erfahrung beruhenden nationalen Schicksalsgemeinschaft.51 Dabei wird die – aus dem unmittelbaren Umfeld einer traditio-

50 Wicker 1997: 38. 51 Anderson 1988.

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Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff nellen Siedlungsgemeinschaft mit dem Geflecht von Freundschafts-, Verwandtschafts- und Berufsverbindungen resultierende – Idee gegenseitiger Verbundenheit und Fürsorge auf die nationale Großgruppe übertragen. Sieht diese Gruppe sich nun um einen nicht unerheblichen Anteil an Zuwanderern erweitert, die offensichtlich keine gemeinsame Herkunft beanspruchen können, stellt sich die Frage, ob und wie weit sich die Idee einer nationalen Gemeinschaft noch ausdehnen läßt. Oder, in den Worten des amerikanischen Historikers David Hollinger: »How wide the circle of the we?« Er hält es für durchaus möglich, den Kreis der nationalen WirGruppe auszudehnen, ohne dabei gleichzeitig in die »kulturalistische Falle« tappen zu müssen, und verweist auf das »transethnische« nationale Bewußtsein der Vereinigten Staaten, von dessen stark universalistischer Komponente lediglich ein konsequenterer Gebrauch gemacht werden müsse. Hollinger spricht in diesem Zusammenhang von einer »postethnischen« Perspektive, die den psychologischen Wert und die politische Funktion von unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten akzeptiert, ohne dabei die jeweils zugeschriebenen Differenzen fixieren zu wollen.52 Dieser sozusagen »aufgeklärte« kulturelle Pluralismus in der Tradition Kallens würde der kulturellen Komplexität einer Gesellschaft auch insofern Rechnung tragen, als Individuen immer auch Angehörige mehrerer, sich unter Umständen überlappender Gruppen und damit verbundener Loyalitäten sind. Welche dieser Bindungen dabei im Vordergrund steht, hängt von den jeweiligen Umständen ab. Denn – wieviel Gewicht soll man zum Beispiel der Tatsache beimessen, daß eine Person aus Bremen oder Istanbul stammt, im Verhältnis dazu, daß dieselbe Person gleichzeitig auch Deutsche, Molekularbiologin, eine Frau und Muslimin ist?53 Vor diesem Hintergrund muß ethnisch-kulturelle Identität mehr als Problem denn als naturwüchsige Tatsache oder gar als Lösung gesehen werden. Eine postethnische Nation sollte vielmehr die ethnisch-kulturelle Komponente der Identität vernachlässigen und Zugehörigkeit weniger über gemeinsame Abstammung als über Interessenkonvergenz und Reziprozitätsbeziehungen herzustellen versuchen. In diesem Sinne argumentiert auch Jürgen Habermas in einem unlängst erschienen Aufsatz über »postnationale Identität«. Er vertritt darin die Meinung,

52 Hollinger 1993: 329f. 53 Vgl. Hollinger 1993: 330.

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Andreas Ackermann »daß die hochartifiziellen Entstehungsbedingungen des nationalen Bewußtseins gegen die defaitistische Annahme sprechen, daß sich eine staatsbürgerliche Solidarität unter Fremden nur in den Grenzen einer Nation herstellen kann«54.

Er geht weiter davon aus, daß in dem Maße, in dem der Prozeß der Entkoppelung der politischen Kultur von der Mehrheitskultur gelinge, sich die Solidarität der Staatsbürger auf die abstraktere Grundlage eines »Verfassungspatriotismus« umstelle.55 Das bedeutet letztlich nichts anderes, als daß eine verbindliche Leitkultur weder stillschweigend vorausgesetzt noch lautstark postuliert werden kann, sie muß vielmehr argumentativ begründet und dann aber auch allgemein verbindlich umgesetzt werden. Und dies gilt beileibe nicht nur für »rational ausdifferenzierte« Gesellschaften im Habermasschen Sinne. Neuere Studien über politische Rhetorik in traditionellen Gesellschaften sowie eine lange Reihe rechtsethnologischer Arbeiten zu Streitschlichtungsverfahren zeigen, daß sich die Geltung einer Norm nicht nur durch Inbezugnahme auf universale Rationalitätsstandards, sondern aufgrund der Tatsache kultureller Komplexität auch kulturimmanent anzweifeln läßt.56 Dies läßt die Frage nach Anerkennung noch einmal in einem anderen Licht erscheinen. Denn angesichts des hier nur andeutungsweise umrissenen Geflechts von Wechselwirkung und Komplexität kann es nicht um die Anerkennung von kulturellen Differenzen gehen, sondern um die Anerkennung der Komplexität von Kultur und des dialogischen Charakters von Identität. Betrachtet man den Stand der aktuellen Debatte, so scheint es bis dahin allerdings noch ein weiter Weg zu sein, und es bleibt nur zu hoffen, daß die im vorliegenden Band versammelten Beispiele diesbezüglich Anregungen zu geben vermögen.

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Die Tafelrunde

Die Tafelrunde Klaus E. Müller

1. Geschmacksfragen Not und Armut sind, Ludwig Feuerbach (1804-1872) zufolge, »der Trieb zu aller Kultur«; sie habe »keinen anderen Zweck, als einen irdischen Himmel zu verwirklichen«.1 Der erstere, explikative Gedanke ist alt, er wurde bereits von vielen antiken Denkern, wie Demokrit (ca. 460-370 v. Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.) zum Beispiel, vertreten2 und spielt auf Anpassung als dem entscheidenden Movens kultureller Entwicklungsprozesse an. Mit der Zweckbestimmung folgte er, abgesehen von seiner empiristisch-materialistischen Einstellung, dem Geist der Zeit, der von Evolutionismus und Fortschrittseuphorie geprägt war. Mit beidem gemeinsam indes griff er dem ethnologischen Funktionalismus vor. Dessen Credo lautete, kurz gefaßt, daß jedes Kulturelement – im einen Fall mehr, im anderen weniger – die Funktion hat, seinen Teil zu Vitalität und Erhalt der Gesellschaft beizutragen, während der Kultur insgesamt die Aufgabe zufällt, die Einzelleistungen so zu koordinieren, daß alles störungsfrei funktioniert, woraus folgt, daß ihre übergeordnete Funktion im gesicherten Erhalt des Ganzen besteht3 – zum besten aller, denn Anpassung hat stets das Adaptationsoptimum zum Ziel. Wie aber verhalten sich die Menschen selbst dazu? Die Not treibt sie an, macht sie erfinderisch, ihre Kreationen nehmen Gestalt an, gehen ein ins Räderwerk der funktionalen Maschinerie – und am Abend sitzen sie satt und zufrieden ums häusliche Feuer? Irgendwie müssen sie doch, auch denkend und wertend, beteiligt sein und wissen, warum sie das alles tun, beibehalten und, nicht zuletzt, auch ihren Kindern übermitteln wollen. Die wissenschaftliche Erkenntnis schreitet bekanntlich nur selten sprunghaft voran. Namentlich in der Ethnologie scheint sie eher zur Bedächtigkeit zu neigen. Verschiedentlich wurde durchaus die Frage gestellt, welcher Art wohl das Verhältnis der Menschen zu ihrer Kultur sein könnte; doch blieb diese selbst, gleich einer galaktischen Linse, der Betrachtung stets vorgeschoben. In den vierziger und fünfziger Jahren hielt man in der 1 Feuerbach 1956: II, 334 (Hervorhebung im Original). 2 Müller 1972: I, 178, 181, 200, 202, vgl. auch Sachregister sub »Kultur, Entstehung und Entwicklung, aufgrund der ursprünglichen Bedürftigkeit«. 3 Müller 1998: 37.

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Klaus E. Müller »Kultur- und Persönlichkeitslehre« dafür, daß via Sozialisation immer weiter tradierte, psychisch prädisponierende »patterns« oder spezifische »basic personality structures« das Verhalten der Menschen einer Kulturgemeinschaft bestimme.4 Dann kam (abgesehen vom klassischen Dauerevolutionismus in der Sowjetunion), kurzfristig, auch der Materialismus wieder in Flor, demzufolge die physischen Umweltbedingungen und die Art, wie der Mensch sich reflexiv räsonierend und produktiv tätig damit auseinandersetzt, seine Vorstellungsbildung bestimmen. Er selbst blieb wieder im Schatten. Im Strukturalismus dachte sich sein Geist, zum anonymen Gestaltprinzip erhoben, matrizengleich durch ihn hindurch und zog all seinen kulturellen Äußerungsformen analoge Grundmuster ein. Immerhin setzte hier eine Entwicklung an, die größere, ja teils bevorzugte Aufmerksamkeit den kognitiven Leistungen des Menschen zollte, allerdings noch immer eher als Teil der Kultur verstanden – so etwa in der »Ethnosemantik« oder allgemeiner der »Kognitiven« oder der »Symbolischen Ethnologie«. Der Kopf des Menschen rückte nunmehr ins Blickfeld des Ethnologen; doch was herauskam, gerann erneut zu entseelten »semantischen Feldern« (semantic fields)5, Taxonomien, von Heilkräutern etwa, der Vogelwelt oder dem Hochzeitsbrauchtum6, und Klassifikationssystemen der indigenen Symbolwelt. Der Tenor ist relativistisch; aber man hat sich doch, in etwa zumindest, auf einen Kulturbegriff verständigt. Er bewegt sich, inzwischen postmodern etwas aufgeweicht, um eine vielzitierte Definition von Clifford Geertz (geb. 1926), dem Scholarchen der Symbolischen Ethnologie, die folgendermaßen lautet: Kultur »bezeichnet ein historisch überliefertes Muster von Bedeutungen, die in Symbole gekleidet sind, ein System überkommener Vorstellungen, die in Form von Symbolen ausgedrückt werden und mittels derer die Menschen kommunizieren und ihr Wissen vom Dasein samt ihren Einstellungen (attitudes) dazu bewahren und fortentwikkeln.«7

Das Schwergewicht ist eindeutig auf die ideellen Aspekte gelegt. Entsprechend hat sich auch die Kognitive Ethnologie »die Entwicklung einer all-

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Müller 1998: 39ff. Colby 1966: 7; Werner & Fenton: 1973: 543. Colby 1966: 6; Werner 1972: 276. Geertz 1969: 3; vgl. Frake 1987: 194.

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Die Tafelrunde gemeinen Theorie des kulturellen Wissens als Beitrag zu einer Kulturtheorie« zum Ziel gesetzt.8 Tritt man der Ansicht bei, daß Wissen ohne Anwendung niemandes Not und Armut lindert, ließe sich die Geertzsche Definition ohne weiteres auch auf einen traditionsreichen alpenländischen Käsereibetrieb übertragen. Hier allerdings würde eine Besichtigung binnen kurzem lehren, daß die »Beschäftigten« nicht nur nach Maßgabe systematisch gegliederter semantischer Felder von Überlieferungswissen und Rezepturen ihre Hände zu gebrauchen verstehen, sondern auch stolz auf ihr Wissen und ihre Produkte sind. Ja ein Käse-Gourmet könnte sich durch eine Kostprobe, kurzfristig, in den »Himmel auf Erden« versetzt fühlen. Doch eine Käserei ist immer nur Teil eines größeren, aus vielen Partialbereichen zusammengesetzten komplexeren Ganzen – beispielsweise der »Volkskultur« des Greyerzer Landes im Schweizer Kanton Fribourg. Wer aber entscheidet darüber, daß es sich hier um »ein Ganzes« handelt? Zum einen traditionell die Ethnologen – oder auch Volkskundler – natürlich, von außen, in »etischer«, zum andern die Einheimischen selbst, von innen heraus, in »emischer« Perspektive. Beglückend kann eine gelungene Definition für beide sein, doch speist sich ihr Hochgefühl aus unterschiedlichen Quellen. Als »Himmel auf Erden« jedenfalls kann eine Kultur allein denen, die sie leben, erscheinen. Die Ethnologen konstatieren das bestenfalls als einen Teil ihrer Befunderhebung. Der Grund für das divergente Glücksempfinden wurzelt im Ethnozentrismus, der Überzeugung von Gruppen mit weitgehend intakter Identität, daß die je eigene Art der Lebensführung das absolute Optimum menschenmöglicher Daseinsverwirklichung darstellt. Auch Ethnien, deren Kulturen – nach europäischem Augenschein – nur sehr geringfügig voneinander abweichen, stehen dazu. Die Sema Naga in Assam pflegten zum Beispiel lediglich Durchziehbinden von etwa 7 1/2 cm Breite zu tragen. Der englische Ethnologe John Henry Hutton (1885-1968), der sie aus seiner anfänglichen jahrzehntelangen Tätigkeit im Kolonialdienst bestens kannte, bezeichnete das Trachtstück als »undress«, als Kleidung könne es nur dem Namen nach gelten. Eines Tages, als er sich in Begleitung einiger Sema auf einer Expedition in den Nordosten Assams befand und ihnen erstmals Konyak Naga begegneten, die ihre Scham mit nichts verhüllten, warfen seine Träger ihre Lasten ab und wälzten sich förmlich am Boden vor La-

8 Kokot 1998: 327, vgl. 325.

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Klaus E. Müller chen über Menschen, die, wie Hutton notierte, »kaum weniger nackt waren als sie selbst«.9 Mary Douglas machte bei den Lele im Süden des ehemaligen Zaïre eine ähnliche Erfahrung. Die behaupteten von den ihnen benachbarten Nkutu, bantusprachige Pflanzer wie sie selbst, sie wüschen sich niemals, ihre Frauen seien geschmacklos gekleidet und ihre Speisen zum Erbrechen.10 Bestanden indes deutliche Unterschiede, so verschärfte sich die Geringschätzung um so mehr. Die Kaguru in Tansania, die ihre Knaben beschnitten, betrachteten die Männer anderer Gruppen, bei denen dies unüblich ist, als gleichsam zurückgebliebene, ungehobelte Gesellen, nicht fähig, sich überlegt und verantwortungsvoll wie richtige Erwachsene zu verhalten.11 Die Isanzu, eine Pflanzergesellschaft ebenfalls in Tansania, bezeichneten die unweit von ihnen nomadisierenden wildbeuterischen Hadza schlichtweg als »Busch-Tiere«.12 Überall, wo die Lebensbereiche von Viehzüchter- und Bauernvölkern aneinandergrenzen, betrachten sich beide als quasi kulturlose Wilde und verachten einander zutiefst.13 Die Überzeugung von der eigenen Übererhabenheit kann so fest verwurzelt sein, daß sie sich selbst in Fällen, in denen sie dem Urteil eines Drittbeobachters nach der Realität geradezu schlagend widerspricht, unerschüttert behauptet. Eine alte Frau der Papago, die in einer Halbwüstenlandschaft im Südwesten Arizonas ein mehr als kümmerliches Dasein fristen, erklärte so zum Beispiel der amerikanischen Ethnologin Ruth Underhill gegenüber: »Euch Weißen hat Gott den Weizen, die Pfirsiche und den Wein gegeben. Uns gab er die Wildgrassamen und die Kaktusfrüchte: Dies sind die guten Nahrungsmittel.«14

2. Eintopf Kultur bestimmt sich in Umfang wie Einschätzung nach Maßgabe des Identitätsbewußtseins, das sie jedermann fühlbar macht und zu kommunizieren, handzuhaben und zu denken erlaubt. Überkuppelt von der Ideo9 10 11 12 13

Hutton 1921: 12f. Douglas 1963: 13f. Beidelman 1964: 41. Kohl-Larsen 1958: 31. Vgl. z.B. Hartmann 1938: 52; Oppenheim 1939: 27, 32; Barth 1961: 9; Nicolaisen 1963: 21; Holy´ 1974: 22; Cole 1975: 53, 160. 14 Underhill 1968: 3.

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Die Tafelrunde logie des Ethnozentrismus, liefert es den Menschen den Feuerbachschen »Himmel auf Erden«. Kulturen erscheinen so zwar als geschlossene, sind jedoch niemals auch homogene, ehestens, im Idealfall, »funktionierende« Ganzheiten. Funktionen im Sinne des Funktionalismus lassen sich als Korrelationsbeziehungen zwischen zwei oder mehreren Größen beschreiben, die gemeinsam einen entsprechend verstärkten Beitrag zum Erhalt der Gesamtgesellschaft leisten. Sie bestehen in Tätigkeiten, Verpflichtungen und Verhaltensobligationen einzelner, oder richtiger: kleinerer Gruppen, da Individuen aufgrund ihres Alters, ihrer Verwandtschaftszugehörigkeit, ihres Geschlechts und Status stets Angehörige derartiger Teilgruppen sind. Die Gemeinsamkeit ihrer Aufgaben hat konsequentermaßen die Ausbildung einer je eigenen »Subkultur« mit entsprechendem Subgruppenidentitätsbewußtsein zur Folge. In Grenzen zumindest läßt sich von »Kinder-«, »Jugend-«, »Krieger-« oder »Ältesten-Kulturen« sprechen, geschieden nach Tracht, Aufgaben, Moral, Verhalten, Privilegien und anderem mehr. Was identitätsspezifisch für die interethnische Makrowelt gilt, muß seine Gültigkeit auch für binnensozietäre Partialgruppen besitzen. Ein Hauch von Überheblichkeit sollte auch ihnen das Rückgrat straffen. Jede Verwandtschaftsgruppe eines Dorfes – ein Klansegment oder eine Lineage – behauptet gewöhnlich, daß ihre – meist nur in geringfügigen Details abweichende – Version des Schöpfungsmythos, eines Opfers, Rituals oder Festgerichts die allein richtige, weil seit Urzeiten unverfälscht überlieferte sei. Insbesondere die Ältestansässigen, die Angehörigen der »Gründersippen«, pochen darauf. Erwachsene sind überzeugt, alles besser zu wissen und machen zu können als Jugendliche. Männer wiegen sich weltweit in der Gewißheit, Frauen an Intelligenz, Geschicklichkeit, Disziplin und Moral überlegen zu sein.15 Ältesten kommt, vor allem eigener Einschätzung nach, der führende Autoritätsanspruch zu, da sie erfahrener, klüger, weitsichtiger und magisch vermögender als alle anderen sind – usw. mehr.16 Die innersozietäre kulturelle Differenzierung oder Komplexität, die hierin Gestalt nimmt, folgt mit Notwendigkeit aus den elementaren altersund geschlechtsspezifischen Divergenzen, die eine Arbeits- und Aufgabentei15 Müller 1984: 112-125. 16 Müller 1992: 23f. Die Belege dazu sind Legion. Einige wenige seien genannt: Landes 1938: 180; Krige & Krige 1947: 289; Middleton 1960: 16; Dittmer 1961: 3; Goldman 1963: 71; Merriam 1964: 118; Murphy & Murphy 1974: 53; Engelbrektsson 1978: 132; Endicott 1979: 27f.; Schlee 1979: 335f.; Thornton 1980: 114f.

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Klaus E. Müller lung und entsprechend eine übergeordnete Koordinations- und Leitinstanz unabdinglich machen. Daraus ergeben sich aber dann die gewissen »Fliehkräfte« der Teilgruppenidentitäten, die zwar um der Funktionsfähigkeit des Ganzen willen unvermeidlich sind, gleichwohl begrenzt bleiben müssen, um den lebensnotwendigen Zusammenhalt aller, die Stabilität der Gesamtgruppenidentität, nicht zu gefährden. Dies gewährleisten in traditionellen Gesellschaften folgende, abermals elementare »Klammermechanismen«: • Die Reziprozität: Sie verpflichtete jeden, eine Gabe mit einer – wertadäquaten – Gegengabe, eine Leistung mit einer entsprechenden Gegenleistung abzugelten. Gewöhnlich handelte es sich um kurzfristige Transaktionen unter egalitären Partnern, auch Verwandtschaftssegmenten, so daß niemand lange in der Schuld des anderen blieb. Die Regel liegt primär vermutlich im Geschlechterverhältnis begründet, da Männer und Frauen genuin unvereinbare Aufgaben erfüllten, die sie nur teilweise und lediglich in Notfällen voneinander übernehmen konnten (bzw. durften). • Die Redistribution: Darunter werden längerfristige Gaben- und Leistungsaustauschbeziehungen unter bedingtermaßen Ungleichgestellten verstanden, da sich während der gedehnteren Dauer der Status zumindest eines der Partner gewöhnlich veränderte. Beispiele wären: Aufwendungen für die Aufzucht der eigenen Zöglinge, die später zur Altersversorgung der Eltern verpflichteten, Ausgaben zum Erwerb einer Braut, die ihren Ausgleich erst Jahre danach durch die aus der Ehe hervorgehenden Kinder fanden, oder Abgaben und Leistungen für ein Gemeinschaftswerk, etwa eine Bewässerungsanlage, die unter Umständen noch späteren Generationen zugute kam – die sich dann etwa durch Ahnenopfer revanchierten. Der Ursprung dieser Art wechselbezüglicher Obligationen liegt sichtlich im Generationenverhältnis begründet, da auch hier Junge und Alte teils genuin unvereinbare Aufgaben zu erfüllen hatten. Damit gewannen diese Beziehungen jedoch eine gewissermaßen »vertikale« Dimension, die mit der Zeitverzögerung und dem Statuswechsel zumindest eines Partners oder einer Partnergruppe – wenn auch nur befristet – in eine Abhängigkeitsbeziehung überging, die in kritischen Fällen zu Machtmißbrauch führen konnte. • Der Ältestenrat: Er setzt sich aus den Vorständen der Familien und Verwandtschaftssegmente der Siedlungsgemeinschaft zusammen. Seine Aufgaben bestanden in Normenkontrolle und Konfliktausgleich. Er überwachte das Sozialverhalten der Gruppenangehörigen, vermittelte in 36

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Die Tafelrunde Streitfällen und verhängte im Ernstfall Sanktionen. Seine Autorität lag im Alter seiner Mitglieder, das heißt in ihrem Höchstmaß an Erfahrung in allen Dingen sowie ihrer Nähe zu den Ahnen begründet. Ein erstes Resümee: Traditionelle Dorfgesellschaften besaßen aufgrund ihrer bereits ansatzweise gegebenen Partialgruppendifferenzierung ein begrenztes Maß an kultureller Komplexität. Die dadurch bedingten Dissoziationspotentiale wurden gleichsam flächig über zwei einander schneidende Ebenen wechselweise verpflichtender Korrelationsbeziehungen gebunden, deren Funktionsfähigkeit und Erhalt Sache der Dachorganisation des Ältestenrates war.

3. Kalte Platte Indigene Siedlungsgemeinschaften waren gewöhnlich begrenzten, überschaubaren Umfangs und bestanden zumeist aus Segmenten eines einzigen Klans und hatten sich an das Biotop, in dem sie lebten, über lange Zeit hin erfolgreich angepaßt. Daraus folgte im letzteren Falle, daß sie zum einen besondere, spezielle Techniken und Fertigkeiten entwickelt hatten, andererseits aber vielleicht Mangel an bestimmten Rohstoffen, Nahrungsgütern und Produkten litten. Im ersteren dagegen nötigte sie die alle verbindende Blutsverwandtschaft, die Heiratspartner außerhalb ihrer eigenen Gruppe zu suchen. So bildete es überwiegend die Regel, daß verschiedene benachbarte Dorfgesellschaften oder Ethnien zum Ausgleich der genannten Defizite eine institutionalisierte Dauerbeziehung unterhielten. Die intrasozietäre dehnte sich so zur regionalen intersozietären – oder auch interethnischen – kulturellen Komplexität des Gesamtverbands aus. Folgende, wiederum elementare Typen derartiger Formationen lassen sich dabei unterscheiden: Egalitäre Flächenverbundsysteme, und zwar • Heiratssysteme: Eine oder mehrere Verwandtschaftsverbände wählten ihre Ehepartner stets, im letzteren Fall turnusmäßig, untereinander aus (»Exogamie«). Das verband beide, Bluts- und Heiratsverwandte, über die Kinder zu einer einzigen quasi-verwandtschaftlichen Korporationsgemeinschaft. Über die Heiratsbeziehungen hinaus verpflichtete sie das immer auch zu weitergehenden wechselseitigen Leistungen. • Dualsysteme: In vielen Fällen wuchsen die Partnergruppen mit der Zeit 37

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Klaus E. Müller zu geschlossen siedelnden Lokalgemeinschaften zusammen. Überwiegend handelte es sich dabei um dual organisierte Sozietäten. Jede der beiden »Moieties« nahm je eine Hälfte der Siedlung ein und besaß ihr je eigenes Männerhaus samt eigenem, sorgsam gehütetem kulturellem Profil. Ein fester Satz vielfältiger Wechselverpflichtungen im profanen wie religiösen Bereich verband beide zu einem komplementären Ganzen.17 • Handelssysteme: Fehlende Rohstoffe oder der Bedarf an bestimmten Gütern, auf deren Herstellung andere spezialisiert waren, verband oftmals verschiedene Gruppen einer Region zu einem engen Handelsverbund. Im Quellgebiet des Xingú im zentralen Brasilien hatten sich die Aruak zum Beispiel auf die Töpferei, die Bakairi auf die Herstellung von Steinperlen, Hängematten und Baumwollgarn, die Nahukua auf den Anbau von Flaschenkürbissen, andere auf die Produktion von salzhaltiger Pflanzenasche und die Tumai schließlich auf die Fertigung von Steinbeilen spezialisiert, da nur sie über das dazu erforderliche Rohmaterial verfügten. All dies tauschten sie nach einem ausgewogenen und in der Abwicklung streng ritualisierten Zirkulationssystem untereinander aus18 – und bildeten so wieder ein einziges, räumlich wie ethnisch und kulturell zwar distinktes, ökonomisch jedoch interdependentes, komplementäres Ganzes. Die innergesellschaftliche Arbeitsteilung hatte sich gewissermaßen transethnisch ausgelagert. Ähnliche Funktionen erfüllte auch der berühmte »Kula-Handel« in der südmelanesischen Inselwelt. Dabei zirkulierten, in immer den gleichen Bahnen und mit eindrucksvollem zeremoniellem Aufwand, gleichsam im Vordergrund zunächst kommerziell an sich belanglose Güter – wie Armbänder oder Muschelketten. Dadurch verband alle eine Art »Ringpartnerschaft«, die wesentlich zum Erhalt des Friedens beitrug und in deren gesichertem Rahmen dann der eigentliche, merkantile Warenverkehr gefahrlos vonstatten gehen konnte.19 • Symbiontische Systeme: In Gebieten, in denen Ethnien extrem abweichenden Daseinstyps, also gesamtkulturell hochspezialisierte Gruppen nebeneinander lebten, Sammlerinnen- und Jäger- neben Pflanzer-, Viehzüchter- neben Bauerngesellschaften zum Beispiel, bildeten sich häufig Systeme von einer Interdependenzdichte aus, daß eine ohne die andere Gruppe kaum mehr existenzfähig gewesen wäre. Die Wild- und Feldbeuter lieferten den Pflanzern dabei, wie etwa die Macú (Borówa) den 17 Vgl. z.B. Hauser-Schäublin 1997: 420. 18 Gregorius 1956: 154f. 19 Malinowski 1979; Uberoi 1962; Vowinckel 1995: 114ff.

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Die Tafelrunde Cubeo in Kolumbien20, die Bambuti-Pygmäen den Bira, Lese, Mangbetu oder Amba in der zentralafrikanischen Hyläa21 oder die Hadza und andere im mittleren Ostafrika den ihnen benachbarten Pflanzer- und Hirtengrupppen22 wichtige Rohstoffe, Wild und Honig und empfingen dafür Werkzeuge und andere Gebrauchsgegenstände, Anbaufrüchte, Milch, Käse, Lederwaren und dergleichen mehr. Einen geradezu klassischen Fall in dieser Hinsicht stellen die in den südindischen NilgiriHills lebenden Kurumba dar, die ihren Unterhalt von der Sammelwirtschaft und nur beiläufig von der Jagd bestreiten, ebenso die bäuerlichen Badaga, die büffelhaltenden Toda und die Kota, eine fahrende Handwerker- und Musikantengruppe. Streng getrennt lebend, da sie bei allzu engen Kontakten wechselweise Verunreinigungen befürchten, und jeweils auf den Erhalt ihrer eigenen Kultur wohlbedacht, bilden sie doch einen dichten Verbund, bei dem die Kurumba den Badaga und Kota Honig, Wildfrüchte und Zuckerrohr liefern und mit magischen Ritualen dienlich sind, die Badaga die Kota mit Getreide und Fleisch und die Toda die Kota mit Büffelfleisch und Butterschmalz versorgen, während diese selbst alle andern mit Töpfen und Messern beliefern und zu ihren Festen aufspielen.23 Hierarchische Stufenverbundsysteme, und zwar • Interdependente Systeme: Infolge von Migrationsbewegungen bildeten sich in vielen Teilen der Welt eine Art Anlagerungsstrukturen heraus. Als ihr »Urtyp« kann eine Ortschaft gelten, die zunächst nur von der Gründersippe bewohnt wird, die dann entweder weitläufig verwandten oder selbst fremden Gruppen den Zuzug gestattet. Letztere siedeln sich dabei stets an der Peripherie des Dorfes an. So entsteht eine konzentrische Formation, deren Zentrum die Altsassen einnehmen. Die kulturelle Integrität und Identität der Gruppen bleiben dabei erhalten. Man kooperiert zwar, doch besteht insofern ein gewisses Abhängigkeitsgefälle, als die Autochthonen das Vorrecht behalten, die existenzsichernden Fruchtbarkeits- und Regenriten durchzuführen, über die Landvergabe zu entscheiden und die politischen Führungspositionen zu besetzen. Zu Zwischenheiraten kommt es gewöhnlich erst in der dritten Generation. 20 21 22 23

Goldman 1963: 105f. Turnbull 1961; Tunbulll 1965: 283f. Liesegang et al. 1979: 33; vgl. Wilson 1979: 61; Royce 1982: 80f. Mandelbaum 1941: 19ff.; Vidyarthi & Rai 1977: 112f.

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Klaus E. Müller Dasselbe System findet sich oft auch in einer topographisch dilatableren Form vor, wenn die Altansässigen den Zuzüglern eigene Siedlungsplätze in der Nähe ihres Stammdorfes zuweisen. Folgen mehrere Einwanderungsschübe einander, entsteht mit der Zeit – wie das bei den Mandari im Südsudan zum Beispiel der Fall war – ein Mosaik verschiedener Siedlungscluster, die allesamt jedoch gleichsam gestufte Partien eines einzigen Rangsystems streng nach dem Anciennitätsprinzip bilden.24 In Gegenden größerer politischer Dynamik verdichtete sich diese Art Wabenstruktur und schichtete sich entsprechend noch um einiges mehr auf. Namentlich die küstennäheren Dörfer der südindonesischen Insel Alor zum Beispiel, die über Jahrhunderte hin von immer neuen Einwandererwellen heimgesucht wurde, bilden derartige Schachtelsysteme – deren Kernareal wiederum die Ältestansässigen einnehmen. Und charakteristisch ist, daß jede Ortschaft, obwohl die Bewohner der verschiedenen Siedlungsparzellen streng darauf hielten, sich ihre angestammten kulturellen Traditionen, ihr ethnisches Identitätsbewußtsein und ihre Sprache zu erhalten, doch ein funktionierendes Ganzes blieb.25 Einen Extremfall schließlich, schon im Schatten der Hochkulturen, stellen indische Dörfer in Regionen mit überwiegend indigener Bevölkerung dar. Den Paradetyp würde hier etwa eine Siedlung bilden, die im Zentrum von einem oder mehreren Klanen eines autochthonen Ethnos bewohnt und rings von den Hüttenkomplexen verschiedener Handwerker-Gruppen umlagert wird – in Bihar zum Beispiel von den Dom, die als Korbflechter arbeiten, den Lohar, die Schmiedearbeiten, den Kumhar, die Töpfe, und den Chick-Baraik, die Gewebe herstellen. Alle arbeiten zwar ökonomisch auf das engste zusammen, bleiben ethnisch jedoch auf Distanz und ihren je eigenen Brauchtumstraditionen treu. Es herrscht also ein hohes Maß an kultureller Komplexität, ohne daß dies jedoch den Zusammenhalt und die Funktionsfähigkeit des Ganzen gefährdet.26 • Dependente Systeme: Bevölkerungsbewegungen konnten sich zwar, und namentlich in dünner besiedelten Gebieten, auf friedliche Weise vollziehen, in Grenzbereichen zu Hochkulturen aber auch gewaltsamen, kriegerisch-imperialen Charakters sein. Es kam dann zu ethnischen Überschichtungsprozessen und der Etablierung streng hierarchischer Verbundsysteme. Typische Beispiele dafür liefert das ostafrikanische 24 Buxton 1958: 69ff. 25 Scarduelli 1991. 26 Vidyarthi & Rai 1977: 112; Maloney 1974: 240ff.

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Die Tafelrunde Zwischenseengebiet, in dem ursprünglich Wildbeuter- und Pflanzergruppen, wie die Twa und Hutu, ein symbiontisches Verhältnis unterhielten, später dann aber von Rindernomaden aus dem Nordosten Zug um Zug überlagert wurden. So entstand eine Vielzahl kleinerer und größerer Königtümer, in denen die einzelnen Ethnien ihre angestammte Lebensweise zwar unangefochten beizubehalten vermochten, alle gemeinsam auch wieder ein ökonomisch interdependentes Ganzes bildeten, die Ressourcenkontrolle, Verwaltung und politische Dominanz jedoch voll in den Händen der Herrenschicht lagen, der zudem zusätzliche Abgaben und Arbeitsleistungen zu erbringen waren, über deren Höhe allein sie entschied. So hatten sich der Ausgleich zwischen Reziprozitäts- und Redistributionsverpflichtungen einseitig zugunsten der letzteren verschoben, ohne daß im gleichen Maße zurückkam, was von den Unterschichten aufgebracht wurde. Im Ansatz bestand bereits eine Art Klassenstruktur mit exploitiven Tendenzen.27 In all den genannten Systemen herrschte eine nunmehr verstärkte kulturelle Komplexität und blieben die elementaren Klammermechanismen, die ihren Bestand im größeren Verbund gewährleisteten, erhalten: die Bindung durch Heirat, seltener allerdings dann in den komplexeren, hierarchischen Formationen, die Reziprozität, zumindest im engeren verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Bereich, die Redistribution und die arbeitsteilige Kooperation mit ihrer interethnischen Übertragung im Handelsverband, die Interdependenz und Komplementarität und damit den Zusammenhalt der Systeme verbürgte. Zwei weitere kamen unter differenzierteren Verhältnissen hinzu: Märkte verdichteten gleichsam auf engstem Raum die sonst weitläufigen Handelsbeziehungen, brachten die Verpflichtungen, die damit einhergingen, brennschärfer in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sie fanden an festgesetzten Tagen und möglichst neutralen Örtlichkeiten, also im Grenzbereich zwischen mehreren Siedlungen oder Territorien statt, besaßen einen ausgesprochen festlichen Charakter, standen unter Friedensgebot und gewährten Schutzsuchenden Asyl. Niemand durfte Waffen tragen oder Händel suchen. Darüber wachten eine spezifische Gottheit und in ihrem Auftrag hienieden ein bestimmtes, mit Billigung aller dazu bestelltes Gruppenoberhaupt.28 In deutlicher stratifizierten Gesellschaften glich 27 Liesegang et al. 1979: 21, 24ff.; Royce 1982: 80f.; Schott 1994: 152ff.; vgl. Izikowitz 1969: 145ff. 28 Schurtz 1903: 76f.; Izikowitz 1969: 136f., 143f.

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Klaus E. Müller man die möglichen Spannungen unter den ungleich gestellten Bevölkerungsschichten nahezu weltweit dadurch aus, daß man einzelne seiner Kinder einander wechselweise zur Aufzucht übergab. Bauernsöhne wuchsen so bei wohlhabenden Kaufleuten oder in Adelshäusern, junge Aristokraten und Kaufmannssöhne in Bauernhütten auf. In der Regel hielten die dadurch geknüpften familiären Bande dieser sogenannten »Pflegekindschaft« (engl. fosterage) ein Leben lang. In manchen, vor allem katholischen Gebieten wurden sie später durch Patenschaften ersetzt.29 Ein zweites Resümee: In polyethnischen Verbundsystemen glichen sich die Divergenzen nicht etwa aus, sondern wurden eher noch schärfer kontrastiert, so daß die kulturelle Komplexität an kaleidoskopischer Konturierung, teils auch Verdichtung gewann. Damit mußte der Druck auf die elementaren Klammermechanismen wachsen, zumal das ursprünglich ausgewogene Verhältnis zwischen Reziprozitäts- und Redistributionsverpflichtungen einer asymmetrischen Verschiebung zugunsten der letzteren wich. Das wiederum machte eine Verstärkung der übergeordneten Koordinierungsinstanzen erforderlich und verlieh ihnen zugleich mit den vermehrten Allokationsmöglichkeiten ein überproportionales Maß an Macht.

4. Höfische Küche Ebendiese Entwicklung verschärfte sich drastisch mit dem Entstehen der Archaischen Hochkulturen gegen Ende des 5. Jahrtausends v. Chr. Es kam zu ersten kriegerischen Auseinandersetzungen, bald ausgreifenden Raubund Eroberungszügen, Verdrängungs- und Überschichtungsprozessen, die Migrationen mit teils weiträumigen Bevölkerungsverschiebungen nach sich zogen. In der Folge ist zwischen dörflichen, regionalen und städtischen Strukturen kultureller Komplexität zu scheiden. In den ländlichen Kommunen blieben die alten Verhältnisse in etwa erhalten. Allerdings gewannen die Reziprozitätsbeziehungen zwischen Familien, Verwandten und Nachbarn verstärkt an Gewicht, da die von den abgerückten Oberinstanzen oktroyierte Quasi-Redistribution sich zur Einwegverpflichtung in Form von Abgaben und Frondiensten außerhalb der Stammsiedlung linearisierte. Grundlegende Veränderungen dagegen waren auf der regionalen Ebene eingetreten. Die wiederholten Heeresbewegungen, Rekrutierungen, Abwanderungen, auch Umsiedlungsaktionen, wie sie bereits die Assyrer, mit denen »der Imperialismus in die Welt 29 Müller 1997: 187ff.; Hasenfratz 1989: 210f.

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Die Tafelrunde kam«30, im großen Stil betrieben31, hatten zu steten demographischen Fluktuationen geführt, die kaum mehr den Aufbau und Erhalt stabiler Flächenverbundsysteme erlaubten. Die kulturelle Komplexität blieb einem ständigen Wechsel in Zusammensetzung und Form unterworfen. In den Städten schließlich schoben sich die Strukturen zu einer Art Überverschachtelung der Stufenverbundsysteme auf. Der zunehmend differenziertere Bedarf an Gebrauchs-, Nahrungs- und Luxusgütern hatte eine wachsende Spezialisierung im Gewerbewesen zur Folge. Töpfer, Weber, Färber, Wagner, Schmiede usw. ließen sich wie vormals zunächst am Rand der urbanen Siedlungen nieder, nahmen alsbald aber wie in altvorderasiatischen, antiken und später noch mittelalterlichen Städten ganze Straßenzüge oder Viertel ein, die sich allmählich immer mehr ins Innere vorschoben. Geschlossen siedelnd und durch die gemeinsame Tätigkeit aufs engste miteinander verbunden, bildeten sie eigene Identitäten und Kulturen mit entsprechend differenzierten Trachten, Brauchtümern, Ritualen und Traditionen aus, zentral organisiert und kontrolliert durch die schon für Babylonien nachweisbaren32 Zünfte. Je nach der Art der Beschäftigung genossen sie ein unterschiedliches Ansehen, das sich in einer entsprechenden Ranghierarchie manifestierte – Abdecker und Färber rangierten zum Beispiel ganz unten, Bildhauer und Silberschmiede oben. Das indische Kastensystem stellt insofern keine Ausnahme-, sondern eine hypertrophe, zusätzlich religiös noch gleichsam verschnittene Sonderform dar.33 Alle aber blieben, eher mehr noch als früher, engstens aufeinander angewiesen und bildeten so ein gemeinsames, interdependent verdichtetes Ganzes. Wie in den analogen vormaligen Verbundsystemen besaßen sie in den Märkten an bestimmten Tagen und Interarealen der Stadt, später dauerhaft auch in den Basaren, unter dem Schutz einer Gottheit und mit eigenem »Marktrecht« eine zentrale Kommunikations- und Koordinationsinstitution. Im städtischen Innern aber erhob sich über ihnen die Pyramide der Händlerund Patrizierfamilien, der Oberbeamten-, Tempel- und Palastwelt. Die kulturelle Komplexität hatte auf engstem Raum eine gleichsam über eine Vielzahl von Flächen gebrochene Kristallformation gewonnen – ebenso klar gegittert wie steinern erstarrt.

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Assmann 2000: 167; vgl. Röllig 1986. Schmökel 1957: 260. Mendelsohn 1940. Barth 1969: 27; Izikowitz 1969: 145.

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Klaus E. Müller 5. Nouvelle Cuisine Es folgte das Entdeckungszeitalter mit der »Aufklärung« und den bekannten kolonialistischen Konsequenzen. Die Probleme, die daraus erwuchsen, waren nicht neu, sondern gegenüber früher lediglich in den Dimensionen verschoben. Die lebenden Fossilien dieser universalen Entwicklung bilden nahezu alle Länder der heutigen Welt, ob es sich um Finnland, den Iran, Kolumbien, England, die Vereinigten Staaten, Kanada34 oder Rußland35 handelt. Der Verfasser besuchte 1957 ein durchaus nicht untypisches Dorf im Nordwesten Irans mit etwa 400 Einwohnern, in dem Kurden mit Armeniern, Persern und azerisprachigen Türken, chaldäische und nestorianische, römisch-katholisch und orthodox armenische und presbyterianische Christen mit sunnitischen und schiitischen Muslimen – damals unter Schah Mohammed Resa Pahlewi noch friedlich – zusammenlebten. Besondere Dichtekonzentrationen stellen indes nach wie vor Städte dar – Beirut etwa, in dem Europäer verschiedener Nationalitäten mit Armeniern, Arabern, Drusen, sunnitischen wie schiitischen Muslimen und Christen aller möglichen Konfessionen zusammenleben, Singapur36, London, New York, das bereits in den zwanziger Jahren als Musterkommune multikulturellen Zusammenlebens gepriesen wurde37, oder gar Los Angeles, von dem Charles Jencks in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel »Heteropolis« schwärmt, seine Bevölkerung setze sich allein aus Minoritäten zusammen: »Keine ethnische Gruppe, kein Way of Life, kein industrieller Sektor dominiert die Szene. Der Pluralismus ist hier weiter fortgeschritten als in jeder anderen Stadt der Welt.«38

Es handle sich um eine der ersten genuin multikulturellen, »postmodernen« Städte – das »globale Megalopolis der Zukunft«.39 Besonders drastisch stellt sich die Situation in Ländern mit kolonialer Vergangenheit dar, die, wie in Indien oder den zentralafrikanischen Repu34 Vgl. Morris-Hale 1996: 126f., 147; Ackermann 1997: 2f.; Heinz 1998: 5; Rathgeber 1998: 10. 35 Vgl. Tishkov 1997: 27f., 241, 246f., 259. 36 Vgl. Ackermann 1997. 37 Vgl. Kahn 1995: 107f. 38 Jencks 1993: 10. 39 Jencks 1993: 10.

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Die Tafelrunde bliken, oft über hundert verschiedene Ethnien mit entsprechend vielen Sprachen oder Dialekten, kulturellen und religiösen Traditionen zu ihren Einwohnern zählen, mit Städten, in denen politische und merkantile Interessen, Zivilisationsformen, Kirchen und Sekten aus aller Welt miteinander konkurrieren, Slum- gegen Arbeiter- und Großbürgerkulturen stehen. Ein drittes Resümee: Die Dynamisierung der demographischen Diffusions- und Verdichtungsprozesse begünstigte die verstärkte Entwicklung gestufter Verbundsysteme; horizontale hatten kulturelle Komplexität möglich gemacht, vertikale erzwangen sie. Die für letztere typische Klammer der Redistribution entartete zur einseitigen Dependenzbeziehung: Zwar wurde abgeschöpft, aber nicht mehr im gleichen Maß in produktionsverbessernde oder andere Reformmaßnahmen auch reinvestiert.40 Die ursprünglich kohärenten, in Flächenverbundsystemen komplementär arrangierten oder selbständig nebeneinander bestehenden sozietären Sinnkonzepte zerbrachen unter dem Druck der Aufschichtung wie Spiegel in polygonale Scherbengitter, die ihre Bilder vielfältig gebrochen untereinander zurückwarfen. Nicht von ungefähr entstanden in den Unterschichten der Archaischen Hochkulturen die ersten Erlösungsreligionen.41

6. Koch und Küche Multikulturalität ist kein neuartiges, sondern ein ubiquitäres, also wesentlich auch strukturspezifisches Phänomen.42 »Alle Kulturen«, hob unlängst noch Claude Lévi-Strauss in einem Rückblick auf seine jahrzehntelange ethnologische Tätigkeit hervor, »erwachsen aus Verschmelzungen, Anleihen, Mischungen, die sich unaufhörlich weitervollziehen [...]. Obschon aufgrund ihrer Entstehungsweise allesamt plurikulturell, haben die Gesellschaften im Laufe der Jahrhunderte doch jeweils eine originäre Synthese erarbeitet.«43

Viele suchten daher eine Erklärung – oft allein – in bestimmten Entwicklungsprozessen beziehungsweise in der Geschichte. Drei Überlegungen standen dabei im Vordergrund: 40 41 42 43

Müller 1983: 295. Müller 1983: 296; Müller 1983: 298f., 329ff. Kahn 1995: 20, 23; Vowinckel 1995: 36. Lévi-Strauss & Eribon 1989: 222.

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Klaus E. Müller • These 1: Kulturelle Komplexität ist das Ergebnis eines evolutionären Prozesses nach dem klassisch-evolutionistischen Grundsatz, daß sich einfachere zu komplexeren, leistungsfähigeren Systemen fortentwickeln, wie Ein- zu Vielzellern44 und primordiale Stammes- zu Hochkulturen.45 Das treibende Agens dabei bildet die Konkurrenz, die zum Überleben der tauglichsten Systeme führt.46 Das entspricht im ethnologischen »Neoevolutionismus« dem von Elman R. Service (geb. 1915) formulierten »Gesetz des evolutionären Potentials«, demzufolge jeder spezielle, das heißt lokale Evolutionsprozeß mit Erreichen des Anpassungsoptimums stagniert und sich erst wieder weiterzuentwickeln beginnt, wenn er Impulse von außen empfängt, die Neuadaptationen erzwingen, das heißt noch unausgeschöpfte, latente Potentiale freisetzen, so daß im universalen Gesamtverbund die kulturelle Komplexität stetig wächst.47 Multikulturalität stellt insofern eine eindeutig fortschrittliche Errungenschaft dar. • These 2: Kulturelle Komplexität ist eine Frucht der Moderne, das heißt letzten Endes der »Aufklärung«, die den Weg zum Kulturrelativismus ebnete. Wortführer dieser Auffassung waren unter anderen Robert Milne, Donald Horowitz und vor allem John Sydenham Furnivall (18751960), ein britischer Wirtschaftswissenschaftler mit vieljähriger Erfahrung im englischen und holländischen Kolonialdienst. Er unterschied zwischen »pluralen« und »gemischten Sozietäten« (plural/mixed societies). Erstere entsprechen den traditionellen Gesellschaften. Sie leben weitgehend isoliert voneinander und kommen regelmäßig nur auf Märkten zusammen, um miteinander Handel zu treiben.48 Die Entwicklung zu komplexeren Sozialgemeinschaften – und letztlich zur Staatenbildung – setzte erst unter dem Druck der Kolonialmächte ein.49 »Mischgesellschaften« dagegen stellen die modernen westlichen Staaten dar, in denen, wie in Kanada und den USA, verschiedene Bevölkerungsgruppen trotz ethnischer, kultureller und religiöser Divergenzen nicht nur auf ökonomischer Ebene, sondern auch sonst »on equal terms« zusammenleben, getragen von den ihnen allen gemeinsamen Traditionen

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Ballmer & von Weizsäcker 1974: 238. Leroi-Gourhan 1980: 234. Vgl. Briggs & Peat 1990: 236f. Service 1961. Furnivall 1948: 304. Morris-Hale 1996: 11.

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Die Tafelrunde der abendländischen Zivilisation50 und verbunden kraft der Prinzipien des Föderalismus und der Demokratie.51 • These 3: Der Multikulturalismus ist eine Reaktion auf die universalistischen, erst assimilations-, dann »assoziationsspolitischen« Tendenzen52 des Kolonialismus und des neuerlichen Globalisierungstrends.53 Mit den »Metanarrationen«, so Joel Kahn in seinem Buch Culture, multiculture, postculture von 1995, mit denen »modernistische Denker nach dem simplifizierenden Rezept des Aufklärungsuniversalismus die Welt meinten deuten zu können«, sei es endgültig vorbei.54 Jean-François Lyotard plädierte in diesem Sinne für einen »Archipel« heterogener Vernunftformen, die untereinander in einen fruchtbaren »Widerstreit« (différend) träten.55 Ihm wurde von dem deutschen Philosophen KarlOtto Apel entgegengehalten, daß zumindest ein »gleichberechtigtes Zusammenleben und die mitverantwortliche Kooperation« konfliktfrei nur unter verbindlichem Rückbezug auf eine universalistische Metaethik möglich erschienen.56 Ungelöst freilich bleibe dabei vorerst noch das Verständigungsproblem, die konsensfähige »Vermittlung des Universalen«57 – ich erlaube mir hinzuzusetzen: auch die Konstituierung einer derartigen Basisethik; Philosophen allein dürften dazu nicht imstande sein. Kulturelle Komplexität war und ist also – und in der Gegenwart mehr denn je – eine Realität, mit der es sich auseinanderzusetzen gilt. In den meisten Staaten der Welt stellen ethnische, kulturelle oder religiöse Minoritäten im Schnitt 20 Prozent der Gesamtbevölkerung.58 An politischen »Lösungsversuchen« – wenn man so sagen darf – hat es in der Geschichte denn auch nicht gefehlt. In der Regel allerdings entsprachen sie dem einen Rezept, Autonomie mal weniger, mal mehr zu gewähren, unter dem unantastbaren Vorbehalt, daß die Normvorgaben des gemeinsamen Zusammen-

50 Furnivall 1948: 305. 51 Furnivall 1939: 464ff.; vgl. Kahn 1995: 20; Morris-Hale 1996: XV, 9ff.; Ackermann 1997: 1. 52 Steins 1972: 74. 53 Vgl. Kahn 1995: 6. 54 Kahn 1995: 125. 55 Lyotard 1989: 217-225. 56 Apel 1997: 14f. 57 Apel 1997: 16f.; vgl. auch Luhmann & Fuchs 1992: 9. 58 Morris-Hale 1996: 7; vgl. Baumann 1996: 191; Welsch 1994: 10.

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Klaus E. Müller lebens aller von den zentralen Führungsinstanzen erfolgten. Man könnte von einem Kontinuum sprechen, dessen Extreme Diskriminierung und Ghettoisierung auf der einen und die Tendenz zur letztendlichen Vereinheitlichung nach der Devise »e pluribus unum«, das heißt nach Modellen des »Melting Pot« oder »Sowjetmenschen«59 auf der anderen Seite bildeten, mit einem annähernd ausgewogenen Äquilibrium, wie in der Schweiz zum Beispiel60, im Mittelfeld. Im Kern entspricht das der alten Struktur der primordialen Dorfgesellschaften mit dem Ältestenrat an der Spitze. Staaten der Dritten Welt, die mehr als andere vor dem Problem des Ausgleichs zwischen ethnischer »Vielheit« und dem Ideal »nationaler Einheit« stehen, bemühen daher auch gern dieses Bild – gelegentlich unter ethnologischem Zuspruch. Kein Geringerer als Clifford Geertz empfahl ihnen um des höheren Ziels stabiler Nationalstaatenbildung willen, die sperrigen Fossilien ethnisch-archaischer Eigenheiten gleichsam glattzuschleifen.61 Aber Bemühungen dieser Art fruchteten auch früher schon nicht, es sei denn, sie liefen auf einen gewaltsamen Kahlschlag hinaus. Die Vision vom »Melting Pot« realisierte sich nicht.62 Es blieb bei siedenden Eintöpfen, die überzukochen drohen. Man hatte – und sträflicherweise auch Geertz – die Rechnung ohne den ethnologischen Wirt gemacht: Kulturelle Komplexität hat strukturell die gesellschaftliche Unabdinglichkeit des arbeitsteiligen Wirtschaftens zur Voraussetzung. Ebendaher funktionierten die alten Dorfgesellschaften auch so gut; keinem Geronten wäre beigefallen, aus Männern und Frauen einen Geschlechtercocktail, aus Jungen und Alten einen Generationenverschnitt zu mixen. Nicht diese – ethnologisch begründete – Einsicht, sondern eher die Unaufweichlichkeit der Realität verstärkte daher in neuerer Zeit die Appelle, sich beherzt zur Wirklichkeit, ja Notwendigkeit pluralistischer Gesellschaften zu bekennen.63 Das böte sogar auch besondere Chancen. Bereitwillige Auseinandersetzungen mit Alternativen beleben nicht nur – der Soziologe Peter Blau apostrophiert sie als »Lebensdrüse (linfa vitale) komplexer moderner Zivilisationen«64 –, sie wecken auch kreative Potentiale65 59 60 61 62 63 64 65

Tishkov 1997: 86, 246. Morris-Hale 1996: 34f. Geertz 1963: 109. Vgl. Krupat 1992: 147; Banks 1996: 69f.; Tishkov 1997: XIIIf. Welsch 1994: 11; Luhmann 1997: I, 161f. Blau 1995: 54. Zappe 1996: 105, 157; Blau 1995: 56.

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Die Tafelrunde für Kognition wie Kunst.66 Laut Niklas Luhmann schüren sie autopoietische Prozesse: »Wer etwas Bestimmtes erlebt, wird durch diese Bestimmtheit auf anderes hingewiesen, das er aktualisieren oder nur potentialisieren kann. Dadurch wird die Selektivität [...] aller Operationen zur unvermeidbaren Notwendigkeit: zur Notwendigkeit dieser Form von Autopoiesis. So ist in jedem Augenblick die ganze Welt präsent – aber nicht als plenitudo entis, sondern als Differenz von aktualisiertem Sinn und den von da aus zugänglichen Möglichkeiten.«67

Und nicht zuletzt, so ein weiteres Argument, stärke ein verträgliches Miteinander auch die Sicherheit aller. Der amerikanische Politologe Karl Deutsch sprach in diesem Sinne – mit Blick auf die USA und Kanada – von »Pluralistic Security Communities«.68 Das sollte an sich nicht überraschen. Der simple Gedanke wurde von der Natur bereits vielfältig vorexerziert. Erfolgreiche Überlebensstrategien lassen sich nämlich auch ganz anders als lediglich nach dem HobbesDarwin-Spencerschen Zerfleischungsmodell des Bellum omnium in omnes verstehen. Schon Peter Kropotkin (1842-1921) hatte in seiner bekannten Schrift Mutual aid: a factor of evolution von 1902 auf die bedeutende Rolle wechselseitiger Hilfeleistung im Zusammenleben auch weniger differenzierter Organismen verwiesen und etliche seiner Beispiele mit Bedacht aus den Werken Darwins selbst zusammengestellt. »Wenn wir die Natur fragen«, so schrieb er, »wer sind die Tüchtigsten: jene, die ständig miteinander im Krieg liegen, oder jene, die einander unterstützen, so sehen wir sofort, daß jene Tiere, die die Gewohnheit gegenseitiger Hilfe erworben haben, zweifellos die tüchtigsten, bestangepaßten sind. Sie haben mehr Überlebenschancen und sie bringen es auf ihrer jeweiligen Stufe zum höchsten Entwicklungsgrad der Intelligenz und der Körperorganisation.«69 Man könnte, emotional unterkühlter, auch von »Kooperation« sprechen. Und daß diese in der Evolution in der Tat eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat, gilt heute, auch bei hartgesottenen Neodarwinisten, als unbestritten.70 Gemeint sind die zahllosen Formen symbiontischen Zusammenlebens verschiedenster Organismen, von den Bakterien über die Pflan66 67 68 69 70

Feest 1997: 65; Rüsen 1998: 13. Luhmann 1997: I, 142; vgl. Luhmann & Fuchs 1992: 10f. Deutsch 1954: 33ff.; Deutsch 1957: 5ff. Zitiert nach Briggs & Peat 1990: 239; vgl. Kern 1952: 21. Vgl. Wickler & Seibt 1977: 147, 160; Briggs & Peat 1990: 232f., 236.

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Klaus E. Müller zen bis zu den Hominiden hinauf 71, deren Interdependenz teils so eng ist, daß sie getrennt nicht mehr existieren könnten.72 Man spricht von »Mutualismus«, in bestimmten Fällen von »Parasitismus«. Ersteres entspräche gewissermaßen den genannten egalitären Flächen-, letzteres den hierarchischen Stufenverbundsystemen. Sozusagen als »Mutter« dieser neueren »Koevolutionstheorie« gilt die amerikanische Mikrobiologin Lynn Margulis (geb. 1938). Im Prinzip nicht viel anders als seinerzeit schon Kropotkin argumentiert sie: »Der Konkurrenz, in der der Stärkere gewinnt, wurde viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als der Kooperation. Aber einige auf den ersten Blick schwache Organismen haben langfristig dadurch überlebt, daß sie Teile von Kollektiven waren, während die sogenannten starken, die nie den Trick der Kooperation lernten, zum Abfall der Evolution geworfen und ausgelöscht wurden!«73

Bei allen derartigen Formen symbiontischer Koexistenz blieben die Partner indes als solche erkennbare Eigenorganismen. Auch menschliche Sozietäten können nur sinnvoll, das heißt arbeitsteilig zum Wohl aller kooperieren, wenn sie diese Bedingung erfüllen, was hier bedeutet: eine weitgehend stabile Identität und erkennbare Eigenkultur besitzen.74 Gerade das aber ist immer auch, notwendig aufgrund des Selbstwertverabsolutierungsprinzips75, mit ethnozentrischen Dachideologien verknüpft76 oder leistet in kritischen Fällen Tendenzen zu nationalistischem Chauvinismus Vorschub, wie der russische Ethnologe Valery Tishkov, der nach der »Wende« längere Zeit Minister für Minderheitenfragen im Kabinett der Russischen Föderation war, vielfältig am Zerfallsprozeß der ehemaligen UdSSR belegt hat.77 Weitere Beispiele ließen sich auch sonst aus multiethnischen Gesellschaften in beliebiger Fülle anführen. In der Londoner Trabantenstadt Southall, in der Engländer mit Iren, Bengalen, Indern, Pakistanern und anderen Gruppen, Muslime mit Hindus, Sikhs und Christen zusammenleben, herrscht eine ausgesprochene Abneigung, Ehepart-

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Briggs & Peat 1990: 236; Losick & Kaiser 1997. Kremer 1994: 48. Zitiert nach Briggs & Peat 1990: 233. So dezidiert auch Barth 1969: 19. Müller 1992: 25. Blau 1995: 57; Morris-Hale 1996: 2. Tishkov 1997: 110, 241, 247, 258.

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Die Tafelrunde ner außerhalb der eigenen Herkunftsgemeinschaft zu wählen.78 Der Rückbezug auf die eigene Gruppe, die sich vor allem über die Gleichsetzung von Gemeinschaft, Kultur und ethnischer Identität definiere79, so Gerd Baumann, der die Situation untersuchte, sei ebenso Realität80 wie schlechthin lebenswichtig.81 Eine Befragung in Südtirol, dessen Bevölkerung sich zur Hauptsache aus den deutschsprachigen Südtirolern, Ladinern und Italienern zusammensetzt, ergab, daß immer die eigene Gruppe und ihre Kultur am höchsten eingeschätzt werden.82 Ein leitendes Kriterium bildete dabei, wie weiland in den primordialen Dorfgesellschaften, das Maß an Anciennität. Die Italiener, mehrheitlich erst seit den dreißiger und vierziger Jahren zugewandert, werden von den Tiroler Altsassen unverhohlen despektiert, weil sie »noch keine eigene Geschichte in Südtirol [...] haben, [...] auch keine eigenen Sitten und Gebräuche, denn sie pflegen noch ihre Sitten aus Sizilien, Sardinien oder ihrem Herkunftsgebiet.«83

Insofern gelinge es ihnen schwer, »eine eigene Kultur aufzubauen. Es ist für sie auch mehr eine Importkultur, die sie von unten herauf haben«.84 Gemeint war damit nicht zuletzt, daß sie Mühe hätten, »einen Bezug zur Südtiroler Bergwelt zu entwickeln«.85 Mischehen wurden abermals abgelehnt; man könne »nicht gleichzeitig in zwei Kulturen leben [...], so eine Kauderwelschkultur hat einfach keine Zukunft«.86 Man hält daher, auch heute noch, bewußt auf Distanz.87

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Baumann 1996: 151, 157. Baumann 1996: 6. Baumann 1996: 26, 64. Baumann 1996: 197. Zappe 1996: 110. Zappe 1996: 139. Zappe 1996: 142. Zappe 1996: 159. Zappe 1996: 153. Zappe 1996: 155f.

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Klaus E. Müller 7. Viele Köche verderben den Brei In neuzeitlichen multiethnischen Sozietäten sind Konfliktpotentiale strukturell immer gegeben, um so mehr, als es sich in der Hauptsache um hierarchische Stufenverbundsysteme oder, wenn man so will, um stratifizierte »Klassengesellschaften« handelt.88 Die Probleme lassen sich nicht überwinden, indem man in schöner Humanität die Gleichachtung aller fordert89 oder die Disparitäten in einer Art postmodernistischem »Rasierschaumliberalismus« zu bloßen »Erfindungen« beziehungsweise »Artefakten« à la Hobsbawm und seinen Nachtretern deklariert90, die gleichsam flüchtig wie Wolken und daher kaum der Beachtung wert sind, oder philosophisch aufgebürstet, wie Wolfgang Welsch, bestehende Grenzen für Schein erklärt und die Wirklichkeit »transkulturell«, was heißen soll: vielfältig »verflochten« und »durchmischt« sieht. Allein diese Sicht der Dinge befördere »Verstehen und Interaktion«, skizziere »am ehesten einen gangbaren Weg«.91 Eher trägt sie, wie ich meine, zur Vernebelung bei. Ethnographen konnten sich immer wieder davon überzeugen, daß die Gruppen, bei denen sie arbeiteten, ihre Kultur und ethnische Identität für fundamentale und seit alters bruchlos fortwährende Größen hielten.92 Natürlich stellt das, wie jede Aussage über erfahrene »Wirklichkeit«, ein »Konstrukt« dar, dem gleichwohl mit Hartnäckigkeit Realität zugesprochen wird.93 Und das fordert analytische Berücksichtigung. Was David Bidney bereits dem Kulturrelativismus vorrückte, gilt auch hier: nicht erklären zu können, warum jede Ethnie, bei aller ihr zugestandenen Freiheit, nach Belieben zu wählen, doch immer »das eigene Wertsystem gegenüber allen anderen bevorzugt«.94 Zu sagen, daß alle Ethnizitätskonzepte Konstrukte sind, ist nicht nur absolut trivial, sondern selbst ein Konstrukt und zudem noch ein Allsatz, der als solcher den Vergleich voraussetzt und einen generellen Gültigkeitsanspruch erhebt. Neuere Autoren zeigen daher zunehmend Einsicht95, so Richard Jenkins zum Beispiel: 88 89 90 91 92 93 94 95

Blau 1995: 54, 59f., 62; Morris-Hale 1996: 8. Kahn 1995: 105. Vgl. Jencks 1993: 10; Banks 1996: 39; Abner Cohen 1974. Welsch 1994: 13. Barth 1969: 19; Jenkins 1997: 5; Baumann 1999: 26, 64. Tishkov 1997: 21; Eller & Reed 1993: 198; vgl. Banks 1996: 22. Bidney 1968: 424f. Vgl. Anthony Cohen 1994: 5; Nauerby 1996: 16; Jenkins 1996: 105; Jenkins 1997: 16; Baumann 1996: 197; Baumann 1999: 19, 24.

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Die Tafelrunde »Um mit der Abklärung zu beginnen, empfehle ich, davon auszugehen, daß ethnische Identität – wiewohl (und nur) jedes Einzelelement als soziale und kulturelle Konstruktion gelten muß – als grundlegende und vorrangige Dimension der menschlichen Erfahrung begriffen werden sollte.«96

Einige fordern sogar, an Traditionen ihrer Großväter anknüpfend, die »Strukturen und Mechanismen der kulturellen Reproduktion« (sic!) einschließlich des Stabilitätsphänomens »ethnischer Identitäten« (sic!) genauer zu analysieren.97

8. Gesunde Kost Eine vertretbare Lösung sollte auf historisch bewährten Leistungen aufbauen, die freilich ein ebenso tief- wie weitreichender Vergleich komparabler Fälle noch klarer ins Licht zu stellen hätte. Schon jetzt jedoch läßt sich sagen, daß die analytischen Kerngrößen dabei wohldefinierte Gruppen mit ausgeprägter Identität und Eigenkultur, intersozietäre Kooperationssysteme und die speziellen historischen Bedingungen sind, denen sie ihre je spezifische Besonderung verdanken. Es fehlt nicht nur, wie Luhmann beklagt, eine Theorie, die mit derartigen Divergenzen kompatibel ist »und sie interpretieren kann«98, sondern, nach Erfund Burkhard Gladigows, selbst ein »hinreichendes Darstellungsmuster für die ›gleichzeitige‹ oder sukzessive Nutzung verschiedener Sinnsysteme«.99 Gute Ansätze allerdings sind durchaus vorhanden. Ich meine die zahlreichen besseren, empiriegestützten Untersuchungen zu Ethnizität, Identität und interethnischem Kontakt- und Kooperationsverhalten, nicht zu vergessen auch die Beiträge russischer Ethnologen zur »Ethnos«-Forschung, von Sergej Shirokogorov (1887-1939) über Julian Bromlej (1921-1990) und Lev Gumilëv (1912-1992) bis hin zu Valery Tishkov, wenngleich sie, wie bei dem heute sehr populären Gumilëv, teilweise skurrile, ja mystische Züge tragen. Wie bereits Bromlej, noch Marxist, der »Idealist« Platon im Menexenos100 und die Südtiroler sehen er wie seine derzeitigen Nachtreter (Vla-

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Jenkins 1997: 75. Eller & Reed 1993: 198. Luhmann 1997: I, 161. Gladigow 1997: 73. 237 B – 238 B; 245 C-D.

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Klaus E. Müller dimir Pimenov z.B.101) eine wesentliche Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit eines Ethnos im Gebot der Endogamie und machen sich damit selbst zu Apologeten des Ethnochauvinismus. »Mischehen« stellten »Anomalien« dar; sie gefährdeten den Bestand von Ethnos und Kultur und führten zu Formen »schimärischer« Entwicklung.102 Welsch, der gegen derartige Ansätze polemisiert, hätte Grund dazu, würde er sich auf Auswüchse wie diese beziehen. Herkömmliche Kulturund Identitätstheorien, meint er, sich namentlich allerdings nur auf Herder beziehend, gingen von der Fiktion aus, Kulturen entsprächen autonomen »Kugeln«. Das sei »deskriptiv obsolet« und »normativ untragbar«. Kugelgesellschaften, folgert er schlüssig, wenn auch in eleganter Umgehung aller kulturhistorischen Empirie, könnten sich »nur voneinander absetzen, sich gegenseitig verkennen, ignorieren, diffamieren oder bekämpfen – nicht hingegen sich verständigen und austauschen.«103

Dies eben haben sie, wie ein Blick zurück im Unzorn zeigt, dennoch getan. Und das macht uns Hoffnung. Tishkov teilt sie, und er hat ein Konzept dazu nach den folgenden Grundsätzen vorgeschlagen: Multiethnische Gesellschaften • hätten am ehesten Bestand in der Form dezentralisierter, föderalistischer Nationalstaaten. • Den einzelnen Teilgruppen oder Minderheiten müsse dabei ebenso ethnische und kulturelle wie territoriale Autonomie gewährt werden, so daß sie in der Lage seien, beständige Identitäten auszubilden; es sei »eine anerkannte These, daß kommunal gebundene Kulturen überlebensfähiger« sind.104 • Allen seien gleiche, aber keinesfalls irgendwelche Exklusivrechte einzuräumen. • Untereinander sollten sie verbunden sein durch Klammerinstitutionen wie Wirtschaftsbeziehungen, berufsständische Organisationen, Künstlerverbände und dergleichen mehr. • Insgesamt müsse das Ganze getragen werden von allgemein gültigen Rechtsnormen, einer einheitlichen Infrastruktur und dem Bekenntnis 101 102 103 104

Vgl. Markov & Pimenov 1994: 368f. Gumilëv 1989: 85ff.; Tishkov 1997: 9ff. Welsch 1994: 10f. Tishkov 1997: 110.

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Die Tafelrunde zu generell verpflichtenden Werten, was zu fördern sei durch Curricula mit Lerneinheiten zur Schulung der interkulturellen Verständigung und die Schaffung nationaler Symbole als Ausdruck der übergeordneten, staatlichen Identität aller.105 • Ziel der Verantwortlichen müsse sein, eine kulturell zwar komplexe, staatsbürgerlich aber einheitliche Gesellschaft auf einem Fundament und unter einem Dach zu entwickeln, wie sie im historischen Rußland ja bereits eine über Jahrhunderte hin gewachsene Tradition besitze.106 • Die Legislative schließlich sollte ein Kammer-System aus gewählten Vertretern der Kommunen, Kreise, Regionen und Teilrepubliken mit dem Föderationsrat an der Spitze bilden.107 Interessanterweise handelt es sich, alles in allem, ziemlich exakt um das altvertraute Konzept prämoderner komplexer Gesellschaften und Verbundsysteme mit den Ältestenräten an der Spitze, gesehen und erweitert nur unter den Zusatzbedingungen der differenzierteren Verhältnisse in der Gegenwart – in meinen Augen ein Grund, Tishkovs Überlegungen nur um so begründeter erscheinen zu lassen.

9. Nachgeschmack Ein letztes Resümee: Kulturelle Komplexität ist nicht allein farbig, reizvoll oder beängstigend, sondern stets auch in spezifischer Weise strukturiert, und eben daraus leiten sich ihre Eigenschaften, ihre Potentiale, Chancen und Konfliktträchtigkeiten ab. Identitätstheoretische Überlegungen lehren, daß unter allen ethnischen Wipfeln Ruh’ ist – im beständigen Untergrund einer Fülle von Übereinstimmungen in Verhalten und Vorstellungsbildung, die auch in der Ethnologie, dem Faszinanz des »anderen« (um nicht zu sagen: Exotischen) zuliebe, allzugern übersehen werden und sich neuerlich im Facettenblick des postmodernen Hyperrelativismus vollends aufzulösen drohen. Hierauf lassen sich – worauf im übrigen auch Tishkov verweist108 – Pfeiler gründen für tragfähige Brückenbögen. Die sollten, worin sich viele Autoren einig sind,

105 106 107 108

Tishkov 1997: 246, 283f. Tishkov 1997: 259ff., 276. Tishkov 1997: 260, vgl. insgesamt 63ff., 246-284. Tishkov 1997: 109.

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Klaus E. Müller • gegebenenfalls durchaus auch von beherzten Initiativen einzelner ausgehen109; • Kontakte und gemeinschaftliche Unternehmungen auf möglichst vielen Ebenen vorsehen110; • gerade auch »Mischehen« als Mittel einschließen, da sie nicht nur die Angetrauten, sondern mehr noch auch ihre Herkunftsverwandtschaften näher in Kontakt miteinander bringen111; • entsprechende schulische Maßnahmen als unerläßliche Voraussetzung mit einbeziehen112; • offene Aussprachen über bestehende Konfliktpotentiale möglich113 und • bei allen übergeordneten Angelegenheiten gemeinsame Beschlußfassungen gesetzeskräftig zur Bedingung machen114 sowie • ein Stufensystem entsprechender Gremien dazu schaffen115, • so daß sich schließlich oberhalb der notwendigen Teilgruppenidentitäten verbindende übergeordnete Identitäten von größerer Reichweite ausbilden können.116 Laut Artikel 27 des UN-Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte von 1966 haben Minderheiten Anspruch darauf, »ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, sich zu ihrer eigenen Religion zu bekennen und sie auszuüben und sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen«. Eine Zusatzerklärung von 1992 empfiehlt, »Bedingungen für die Förderung ihrer Identität« zu schaffen117, solange das alles nicht gegen innerstaatliches Recht verstoße und im Widerspruch zu international geltenden Normen stehe. Ein völkerrechtlicher Vertrag zum Minderheitenschutz steht allerdings bis zum heutigen Tage aus.118

109 Zappe 1996: 105; Morris-Hale 1996: 2. 110 Morris-Hale 1996: 165f.; Zappe 1996: 113; Blau 1995: 60, 62; Schami 1998: 68f.; Baumann 1996: 40; Welsch 1994: 13. 111 Blau 1995: 58, 62. 112 Morris-Hale 1996: XV; Zappe 1996: 113; Blau 1995: 56, 59; Schami 1998: 38, 42. 113 Schami 1998: 42. 114 Schami 1998: 38, 43f. 115 Schami 1998: 52f. 116 Vgl. Baumann 1996: 5. 117 UN-Doc. 47/135 vom 18. Dezember 1992, Art. 1. 118 Heinz 1998: 4.

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Die Tafelrunde Jenseits aller derartigen wohlfeilen politischen Absichtsdeklarationen stellt sich allerdings immer wieder die Frage nach ihrer generellen Begründbarkeit, die ja auf universalgültige Normen rekurrieren müßte, die ihrerseits nur plausibel erschienen, wenn sie den Grund eines allseits konsensfähigen Sinnsystems bildeten. Apel hält dies für eine »aktuelle und dringende Aufgabe praktischer Philosophie«.119 Dabei wäre abermals zu berücksichtigen, daß es sich heute fast ausnahmslos nur mehr um hierarchische Stufenverbundsysteme handelt – womit die Kulturwissenschaften ins Spiel kämen. Die Ethnologie hätte hier darauf zu verweisen, daß solche Systeme, die nun mal zwingend aus den Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung folgen, auf Dauer nur funktionsfähig bleiben und tragbar erscheinen können, wenn wieder, wie vormals, Ernst mit den redistributiven Verpflichtungen gemacht, das heißt Sorge für den adäquaten Reflux der abgeschöpften Werte und Leistungen getragen wird, auch hinsichtlich der wechselseitigen Würdigung des Tätigkeitsanteils. Nur dann könnte der Feuerbachsche Himmel der Erde zumindest näherrücken.

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119 Apel 1997: 11.

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Kulturenkonflikt im Römischen Reich?

Kulturenkonflikt im Römischen Reich? Eine zeitgemässe Betrachtung Alexander Demandt

Auch die Kultur, die alle Welt beleckt, hat auf den Teufel sich erstreckt. (Mephisto)

1. Einleitung Max Weber bescheinigte den Geschichtswissenschaften 1904 »ewige Jugendlichkeit« und begründete dies damit, daß ihnen »der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt«.1 Setzen wir hinzu, daß dieser Fluß über Katarakte stürzt, so läßt sich Webers Aussage bestätigen. Sobald ein neues Thema die Geister aufwühlt, treten die Historiker auf den Plan und zeigen, daß es so neu nicht ist. Dieses Zusammenspiel läßt sich auch an der Alten Geschichte ablesen. Einige Belege: Die Reformen unter Freiherr vom Stein (1757-1831) und Fürst von Hardenberg (1750-1822) inspirierten Georg Niebuhr (1776-1831) zur Erforschung des altitalischen Bodenrechts. Die dann alle Gemüter bewegende Frage der nationalen Einigung behandelte Johann Gustav Droysen (1808-1884) am Beispiel Griechenlands in der Alexanderzeit, Theodor Mommsen (1817-1903) am Beispiel des römischen Italien. Als der Marxismus das Privateigentum, die Familie und den Staat aussegnete, erforschte Friedrich Engels (1820-1895) deren Ursprung im Altertum. Angesichts des Konfliktes zwischen Arbeit und Kapital beschrieb Robert von Pöhlmann die sozialen Bewegungen in der Antike. In den dreißiger Jahren ging es Berve und Vogt, Kornemann und Schachermeyr um Rassenprobleme und Führergestalten bei Griechen und Römern. Nach 1945 wurden die Sklaven zum großen Thema. Die erkenntnisleitenden Interessen wurzeln allzeit in der Gegenwart und richten sich dementsprechend heute auf die Frauenemanzipation, auf Umweltfragen, auf die Europa-Idee, auf den Regionalismus und das Fremdenbild. Darum verwundert es nicht, wenn das durch die Wanderbewegungen unserer Tage und die Konvulsionen des Fundamentalismus problematisch gewordene Nebeneinander der Kulturen zum Gegenstand hi1 Weber 1968: 2206.

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Alexander Demandt storischer Betrachtungen wird. Liegt in der kulturellen Vielfalt eine Bedrohung für den Frieden oder eine Chance für die Freiheit? Der Politologe Samuel Huntington hat 1996 »The Clash of Civilizations«, den Konflikt der Kulturen, genauer: Konflikte zwischen Menschen verschiedener Kulturen, zum Thema der Zukunft erklärt und gewichtige Materialien für diese These herbeigeschafft. Was sagt der Althistoriker dazu? Die Möglichkeit, im Alten immer wieder Neues zu entdecken, beruht auf der Struktur der Geschichte. Jedes kulturelle Phänomen hat eine Inkubationsphase hinter sich und findet seine Entsprechungen in der Vergangenheit. Es ist einerseits genetisch, andererseits typologisch mit ihr verbunden. Geschichte bietet den Wurzelboden für alles, was geschieht, und liefert die Muster für alles, was wir verstehen wollen. Dies ist vielleicht der wichtigste Nutzen der Historie für das Leben. Damit ist nicht behauptet, daß in der Geschichte nichts Neues erscheine, wohl aber, daß es nichts völlig Neues gibt. Geschichte besteht sensu stricto aus lauter Novitäten, weil sich nichts exakt wiederholt. Cum grano salis freilich ist alles schon einmal dagewesen. Dieser Widerspruch soll im folgenden an der Frage nach Kulturenkonflikten im alten Rom aufgelöst werden. Es soll sich zeigen, wie ein gegenwärtiges Thema neu und alt zugleich ist. Ich beginne mit Überlegungen zum Kulturbegriff; zeige sodann, daß die Rede von einer »römischen Kultur« fragwürdig ist, begründe drittens, warum wir unser Kulturkonzept auflösen müssen, wenn wir antike Kulturgeschichte begreifen wollen, behandele danach die wichtigsten Bestandteile von Kultur: Sitte, Sprache und Religion, widme mich anschließend religionspolitischen Konflikten und reflektiere abschließend über die Vereinbarkeit kultureller Vielfalt mit politischem Frieden.

2. Kultur und Kulturen Das Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander von Kulturen, wie wir es heute erleben, gibt es mutatis mutandis so lange, wie es verschiedene Kulturen gibt. So gewiß dies für die Antike gilt, so schwierig ist doch die Handhabung des dabei verwendeten Kulturbegriffs. Wir verstehen unter »Kultur« im weitesten Sinne alles nicht von der Natur Gegebene, sondern vom Menschen Geschaffene. Das Konzept von »Kultur« ist das Gegenkonzept zu »Natur« und ebenso alt wie dieses, es reicht zurück zu den Sophisten, die unterschieden zwischen dem, was physei, natürlich entstanden, und dem, was thesei, künstlich gesetzt ist. Etwas enger gefaßt, bleibt der Bereich der Politik außerhalb des Kulturbegriffs, wenn wir nämlich den 66

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Kulturenkonflikt im Römischen Reich? aristotelischen Gedanken zugrunde legen, daß der Mensch als zôon politikon (Politik 1253 a) von Natur aus (physei), das heißt biologisch bedingt, Staaten bildet. Erst wenn wir fragen, wie er dies tut, stoßen wir vor in den Bereich der Kultur, eben der politischen Kultur. Um diese geht es aber hier nur in zweiter Linie; in erster Linie ist nach der Bedeutung kultureller Pluralität für das Zusammenleben, genauer: der Kulturen für die Politik, gefragt. Im Blick auf die Alte Welt wird dabei ein Kulturbegriff vorausgesetzt, der nicht selbstverständlich ist. Fritz Taeger publizierte 1949 ein Büchlein »Die Kultur der Antike«. Wie viele andere ging er davon aus, daß die Antike nur eine einzige, eben die antike Kultur aufweise, die sich in gebende Kernzonen und nehmende Randbereiche gliedert und Altersstufen aufweist: von einer archaischen Frühzeit über die reife Klassik zur dekadenten Spätphase. Ein solcher Ansatz macht unser Problem gegenstandslos. Konflikte zwischen Kulturen setzen deren mehrere voraus. Gegenstandslos wird unser Thema erst recht, wenn wir den noch weiter gefaßten lateinischen Kulturbegriff zugrunde legen. Cultura erscheint zuerst in der Schrift des älteren Cato »De agri cultura« (61, 2) und bedeutet die Pflege und Veredelung der Naturgegebenheiten durch den colonus, den Bauern. Cicero (Tusculanae disputationes II 13) nennt die Milderung der Umgangsformen zum Behufe eines humaneren Zusammenlebens cultura animi. Den Dornen auf dem Felde entsprechen die wilden Triebe im Seelenleben, die durch die Philosophie ausgejätet werden müßten. Auch für Horaz (Briefe I 1, 40) ist cultura die Humanisierung einer urtümlich barbarischen Lebensweise. Mit cultura ist somit weniger unsere heutige Vorstellung von Kultur gemeint, vielmehr der Vorgang der Zivilisierung und deren Ergebnis, der Zivilisation. Cultura bezeichnet für Cicero und Horaz eine allgemeinmenschliche Aufgabe im Fortschritt der Wirtschaft, der Erziehung und der Politik. Das Wort cultura ist im klassischen Latein ein Singulare Tantum, wie im Deutschen Butter und Speck. Ein Plural culturae war in der Sprache und damit im Denken nicht vorgesehen. Unsere Formulierung »multikultureller Staat« läßt sich, obschon alle drei Komponenten lateinischen Ursprungs sind, nicht ins Lateinische übersetzen. Erst in der christlichen Spätantike wird cultura auch im Plural üblich. Er wird für die nichtchristlichen Religionen verwendet, für die culturae impiae bei Sulpicius Severus (Chronik I 51), ähnlich zuvor bei Lactanz (Epitome 21, 1) und Commodian (I 35, 19), hernach bei Ennodius (Vita Antonii 13). Auch heidnische Autoren reden von culturae in diesem Sinne, so der Scriptor Historiae Augustae (Heliogabal 3, 5), der freilich das Christentum einschließt. 67

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Alexander Demandt Die Konfliktlinien des antiken Kulturbegriffs sind nicht diejenigen zwischen verschiedenen Kulturen, sondern die zwischen Zivilisation und Barbarei; liegen mithin in einer vertikalen Abstufung, nicht auf einer horizontalen Denkebene. Soweit kulturelle Differenzen von den klassischen Autoren zur Interpretation von Konflikten herangezogen werden, handelt es sich kaum jemals um Gegner gleichen zivilisatorischen Niveaus. In der Regel wird ein kulturelles Gefälle angenommen, das dem höher Stehenden ein besseres Recht, dem tiefer Stehenden dagegen oft eine größere Kriegsbereitschaft zuschreibt. Das Schema ist konstant: Kulturvölker lieben den Frieden, Barbaren den Krieg. Die Wertung aber ist kontrovers. Gaius Iulius Caesar (Bellum Gallicum I 1, 3) erklärte die Tapferkeit der Belgen damit, daß sie a cultu atque humanitate provinciae longissime absunt, das heißt: durch die räumliche Entfernung dem erschlaffenden Einfluß des gesitteten Lebenstils in der römischen Provinz am wenigsten ausgesetzt. Das Barbarenleben steht der Natur näher; es ist roh, aber robust, während die zivilisierten Völker mit ihrer verfeinerten Lebensart zur Dekadenz neigen, an Vitalität verlieren. Die Ansicht, daß die Kultur die Natur verfälsche und den Menschen unglücklich mache, war lange vor Jean-Jacques Rousseau die Sicht der antiken Kulturkritik seit Diogenes in seiner Tonne zu Korinth. Der eindimensionale Kulturbegriff ist jedoch schon früh um eine pluralistische Perspektive erweitert worden. Im Blick auf die im und um das Perserreich lebenden Völker mit ihren verschiedenen Gebräuchen hat Herodot seinen griechischen Lesern klar gemacht, daß Barbaren nicht immer und unbedingt »Barbaren« sind, die hellenische Lebensart nicht die einzig kultivierte sei. Er verwendet für Lebensart den Begriff der Sitte, êthos (II 35), der freilich nicht so umfassend ist wie unser Begriff von Kultur. In der Geschichte des Altertums ist das Achämenidenreich der erste Vielvölkerstaat. Sein Zusammenhalt beruhte auf der militärischen Überlegenheit der Perser, die in dem riesigen zusammeneroberten Gebiet zwischen Ägäis und Indus Dutzende von Völkern beherrschten. Ihre Namen werden von den Großkönigen auf den Palastinschriften stolz verzeichnet, die Reliefs zeigen sie in ihrer jeweiligen Nationaltracht. Es gab Konflikte mit kulturell tiefer stehenden Bergvölkern und mit den Bewohnern älterer Kulturländer, mit Babyloniern, Ägyptern und Griechen. Ob dabei aber ein Kulturbewußtsein mitgesprochen hat, ist sehr unsicher. Die Perser haben die ethnischen Spannungen durch drei Maßnahmen gelindert: Sie waren tolerant anderen Sprachen und Religionen gegenüber, sie eröffneten Angehörigen fremder Völker Aufstiegs- und Einflußmöglichkeiten und sicherten Frieden und Wohlstand. Alexander der Große und seine Nachfolger standen dann vor ähnli68

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Kulturenkonflikt im Römischen Reich? chen Problemen. Ihre Lage war nur insofern anders, als nun die militärische und politische Herrschaft gemeinsam bei den kulturell überlegenen Griechen lag, so daß die Zeit des Hellenismus durch eine weitgehende Hellenisierung nichthellenischer Völker gekennzeichnet ist. Der nach allen Himmelsrichtungen ausstrahlende griechische Kultureinfluß, auf Parther und Inder im Osten, auf Thraker, Kelten und Skythen im Norden, auf Etrusker und Karthager im Westen ist hundertfach belegt. Ihm haben sich nur zwei Völker entzogen, die Juden und die Ägypter. Zwar gab es auch bei ihnen eine weitgehend hellenisierte Oberschicht und eine nahezu flächendeckende Verbreitung des Griechischen als Verkehrssprache, der Koine, aber die Juden haben durch den Makkabäer-Aufstand 167 v. Chr. ihre Eigenart bewahren können, und die Ägypter führten ihre Tradition in Kunst und Kult durch alle Zeiten der Fremdherrschaft weiter, bis sie im 4. Jahrhundert Christen wurden und dann eine regelrechte Kulturrevolution durchführten. Die Kopten, die christlichen Ägypter, identifizierten sich mit dem Volk Jahwes und nicht mit der Geschichte der Pharaonen. Deren Denkmäler fielen einem religiösen Vandalismus zum Opfer.

3. Gab es eine römische Kultur? Cicero oder Seneca hätten wir in Verlegenheit gesetzt, wenn wir sie nach der römischen Kultur befragt hätten – gibt es doch nicht einmal eine »römische« Sprache, geschweige eine »lateinische« Kultur. Friedrich Nietzsche verstand unter »römischer Kultur« die Assimilation fremder Errungenschaften durch die Römer2, und ebendieses entsprach ihrem Selbstverständnis. Sie wußten, daß sie ein junges Volk waren, und zeigten gemäß Polybios (VI 25, 11) eine erstaunliche Bereitschaft, von anderen Völkern zu lernen. Athenaios (273 EF) nennt die Griechen, Phönizier, Etrusker, Samniten und Spanier als Lehrer der Römer in der Kriegskunst. Sie waren, so Cicero (Tusculanae disputationes II 1, 5), geradezu stolz darauf, betonten aber, das Übernommene jeweils verbessert zu haben, wie Cicero (De re publica II 30) ausführt. Ihre ersten Lehrmeister waren die Etrusker. Von ihnen übernahmen die Römer zahlreiche religiöse Bräuche, caerimonia, benannt nach der Etruskerstadt Caere-Cerveteri. Von den Etruskern stammt die Vogelbeobachtung und die Eingeweideschau der Römer, der Tempel- und Lagerbau, das Gladiatorenwesen und vor allem das Staatszeremoniell. Zahlreiche 2 Nietzsche 1931: 18.

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Alexander Demandt Fremdwörter aus dem Keltischen sodann beweisen, was die Römer in den Bereichen der Kleidung, der Eisenverarbeitung und des Wagenbaus von dort übernommen haben. Im Ersten Punischen Krieg, so erzählt Polybios (I 20, 15), bauten die Römer nach dem Muster eines gestrandeten karthagischen Kriegsschiffes, eines Fünfdeckers (Pentere), eine eigene Flotte; im Dritten Punischen Krieg erbeuteten sie ein von dem Karthager Mago verfaßtes landwirtschaftliches Lehrbuch und ließen es auf Senatsbeschluß, wie Plinius (Naturalis Historia XVIII 22) berichtet, ins Lateinische übersetzen. Am meisten haben die Römer von den Griechen übernommen und sich stets als deren Schüler gefühlt. So heißt es bei Cicero (Pro Flacco 62): Athen sei die Wiege der Kultur. Humanität, Wissenschaft, Religion, Feldbau und Recht seien dort entstanden und an alle Länder weitergegeben worden, auch an Rom. »Kein kleiner Strom ist aus Griechenland in diese Stadt geflossen«, schreibt Cicero (De re publica II 34), »der wasserreichste Fluß aber brachte uns ihre Wissenschaften und Künste.« Das trifft historisch zu. Es beginnt mit der Übernahme des Alphabets und des Münzwesens und zeigt sich auf nahezu allen Lebensgebieten: Literatur und Kunst, Philosophie und Religion, Technik und Wirtschaft. Gleichwertiges und Besseres hatten die Römer im Bereich des Militärs, des Rechts und der Politik zu bieten. Was sonst als »typisch römisch« hingestellt wird, ergibt sich aus einem Vergleich zwischen dem augusteischen Rom und dem perikleischen Athen, verschwindet aber weitgehend, wenn Römisches mit Hellenistischem verglichen wird. Ihre politische und militärische Überlegenheit in diesen Dingen hat den Römern schließlich ein imperium sine fine beschert, den orbis terrarum. Die Vielzahl und Vielfalt der Völker, Sprachen und Religionen im Reich haben bisweilen Reibungen verursacht, wie die gelegentlichen Fremdenvertreibungen aus Rom und die fremdenfeindlichen, insbesondere judenfeindlichen Verse Juvenals (III 58 ff) lehren, die aber, aufs Ganze gesehen, doch so weit bewältigt wurden, daß die Pax Romana nicht darüber zerbrochen ist. Wie ist den Römern das gelungen? Die Antwort ist auf einer höheren, theoretischen und einer tieferen, praktischen Ebene zu suchen.

4. Elemente von Kultur Besehen wir uns zunächst die Theorie, so zeigt sich ein Unterschied zwischen der Antike und der Moderne im politischen Denken. Wir verknüpfen Politik mit Staaten, Staaten mit Völkern und Völker mit Kulturen. Aber 70

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Kulturenkonflikt im Römischen Reich? erst die Aufklärung hat die Begriffe Volk und Staat verbunden, erst die Romantik hat die Idee von Kulturnationen und Nationalkulturen entwikkelt. So sah Johann Gottfried von Herder die Weltgeschichte als einen Gottesgarten, in dem der »Genius der Kultur« mal in diesem, mal in jenem Lande die Kunst erblühen lasse. Herder rechnet mit einer Vielzahl individueller Kulturen gleichen Rechtes. Sie sind als Monaden gedacht und werden durch Einfluß von außen verwässert und verfälscht. Daher war Herder ein kompromißloser Gegner des römischen Imperialismus. Herder hat den deutschen Kulturbegriff geprägt, ihn definierte Nietzsche in seiner ersten »Unzeitgemäßen Betrachtung« über David Strauß von 1873: »Kultur ist Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes«. Kultur in diesem Sinne setzt ein Volk voraus, wenigstens eine Gruppe mit Zusammengehörigkeitsgefühl, und verwirklicht sich ästhetisch in der Formverwandtschaft dessen, was dieses Volk aus der Tiefe seiner Seele hervorbringt. Das daraus abgeleitete Postulat nach kollektiver Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung im Rahmen einer kanonisierten Kulturtradition enthält einen Konfliktstoff, den es in der Antike nicht gab, weil die kulturelle Lern- und Anpassungsbereitschaft im allgemeinen sehr viel größer war als in der Neuzeit. Reservate und Privilegien für Minderheiten wurden weder gefordert noch gewährt; individuelle Kulturen waren nicht als solche schutzwürdig. So etwas wie Stolz auf die eigene Kultur begegnet uns bei den kaiserzeitlichen Griechen, die als Lehrmeister der Völker Grund dazu hatten, ist sonst aber kaum zu fassen. Man wußte, daß Kultur ein mixtum compositum aus Eigenem und Fremden darstellt, und empfand gewöhnlich keine Aversion gegen das andere. Ein Versuch, unseren romantischen Kulturbegriff auf die Antike zu übertragen, muß in Rechnung stellen, daß eine pluralistische Konzeption von Kultur in der Antike kein Bewußtseinsphänomen war. Man dachte nicht in Kulturen als individuellen Formkomplexen, Kulturen boten kein Strukturprinzip zur Beschreibung von Gesellschaften. Darum spielen diese wie im Bewußtsein so im Handeln keine Rolle. Als kollektive Einheiten erscheinen statt dessen Staaten, Stämme und Völker, und als deren Unterscheidungsmerkmale dienen Sitten, Sprache und Religion. Die Frage nach dem Verhältnis der Kulturen zueinander verlagert sich damit in den Bereich von deren konstitutiven Elementen und lautet: Wie ist man mit dem Nebeneinander verschiedener Sitten, Sprachen und Religionen fertig geworden? Dieses Problem stellte sich, sobald Menschen unterschiedlicher Sitten, Sprache und Religion miteinander auszukommen versuchten, wie das im Römischen Reich erforderlich war. 71

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Alexander Demandt 5. Sitten, Sprachen, Religionen Beginnen wir mit den Sitten, so sind zwei im Deutschen wie im Lateinischen und Griechischen zu trennende Ebenen zu unterscheiden. Sitte, lateinisch mos, griechisch êthos oder ethos, bestimmt zum einen, welches Handeln richtig ist, und zum andern, welches üblich ist. Maßstab für richtiges Handeln ist die universal gültige Humanität, die Sittlichkeit; Maßstab für übliches Handeln ist die individuelle Tradition, die Sitte. Ein Beispiel: Daß man Tote bestattet, war, wie Antigone bei Sophokles erklärt, ein generelles Gebot der Menschlichkeit; wer dagegen verstieß, handelte unsittlich. Die jeweilige Art der Bestattung aber regelte die Überlieferung. Sie war nach Zeiten und Ländern, nach Völkern und Glaubensrichtungen verschieden, bisweilen sogar nach Familien. Im republikanischen Rom wurden die Toten verbrannt. Das altberühmte Geschlecht der Cornelier, zu dem die Scipionen und Sulla gehörten, bestattete seine Toten hingegen unverbrannt in Steinsarkophagen. Das störte niemanden. Daß in der Zeit um 100 n. Chr. im gesamten Imperium die Körpergräber in Mode kamen, wissen wir durch unzählige Sarkophage, aber kein antiker Autor beschreibt oder begründet den Wandel der Sitte. Sie lag im Toleranzbereich kultureller Vielfalt. Die Römer hatten mit den unterschiedlichen Sitten grundsätzlich kein Problem. Sie sahen keinen Anlaß zu regeln, wie die von ihnen beherrschten Völker ihre Privatsachen und Familienprobleme, ihre Festlichkeiten und Vergnügungen, ihre Arbeitsformen und Lebensumstände gestalteten. Für die Stadt Rom selbst freilich gab es gelegentlich Verordnungen, als die für Senatoren angemessene aber unpraktische Toga schon unter Augustus außer Gebrauch zu kommen drohte (Sueton: Augustus 40) oder als in der Spätantike barbarische Tracht um sich griff. Männer mit langen Haaren, Hosen und Pelzen empfand der Gesetzgeber in der Hauptstadt als störend (Codex Theodosianus XIV 10, 1). Unterschiedliche Sitten wurden akzeptiert, soweit sie nicht gegen die Sittsamkeit verstießen. Die Toleranz hatte indessen eine scharfe Grenze. Sie endete, wo Gewalt geübt wurde. Kapitalprozesse und Blutgericht haben die Römer den Provinzialen nicht überlassen, dafür war der Statthalter zuständig. Als Pontius Pilatus die Juden aufforderte, Jesus nach ihrem Gesetz als Gotteslästerer selbst zu bestrafen, schrien sie: »Wir dürfen niemand töten« (Johannes 18: 31). Unangesehen einer sehr durchwachsenen Praxis herrschte wie bei den griechischen so bei den römischen Denkern die Theorie, daß es für alle Menschen verbindliche moral-ethische Gebote gäbe, daß der Kanon der Tugenden, lateinisch virtutes, griechisch aretai, unverfügbares, von Gott, 72

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Kulturenkonflikt im Römischen Reich? Natur und Vernunft gegebenes Richtmaß sei: Oberstes Prinzip war die Menschenliebe, griechisch Philanthropie, lateinisch Humanität. Sie war das Bestreben, so weit wie möglich auf Gewalt im Umgang mit Menschen zu verzichten. Das galt zumal für das Verhalten gegenüber Frauen und Sklaven. Die Vergewaltigung der Lucretia war für Cicero (De legibus II 10) ein Verstoß gegen das ius naturale, was immer das ius civile geboten haben mag. Das commune ius animantium erfordere Menschlichkeit auch gegen Sklaven, so Seneca (De clementia I 18, 2). Im Vertrauen darauf, daß es ein allen Menschen angeborenes Unterscheidungsvermögen gebe zwischen anständigem und anstößigem Verhalten, zwischen Gerechtigkeit und Selbstsucht, haben die römischen Juristen die Regeln des »Corpus Juris Civilis« aufgestellt, die zur Grundlage der europäischen Rechtskultur geworden sind und werden konnten, weil sie ein bewundernswertes Gespür für Billigkeit zum Ausdruck bringen. Die Pandekten machen klar, daß Besitz nicht gleich Eigentum, Vergehen nicht gleich Verbrechen, Totschlag nicht gleich Mord ist. Wie mit den Sitten der Völker, so sind die Römer auch mit den Sprachen in ihrem Reich behutsam verfahren. Im Zuge der Ausbreitung des Imperiums setzte sich das Latein als Verkehrssprache im westlichen Mittelmeer durch. Wer mit den römischen Behörden zu tun hatte, wer einen Kapitalprozeß führen mußte oder ins Heer eintrat, sprach oder lernte Latein. Das mußte nicht vorgeschrieben werden. Die alten Stammessprachen Italiens waren in augusteischer Zeit ausgestorben, wie die Inschriften lehren. Das hat offenbar niemand bedauert. Nur zwei größere Sprachen behaupteten sich noch eine Weile im Westen, das Keltische in Gallien und das Punische in Nordafrika. Beide Sprachen wurden nicht nur gesprochen, sondern auch geschrieben. Das bezeugt eine Bestimmung Ulpians aus der Zeit um 200 n. Chr., die noch im 6. Jahrhundert unter Justinian galt, daß nämlich Testamente in jeder beliebigen Sprache rechtsgültig seien, nicht nur lateinisch und griechisch, sondern auch punisch, gallisch oder in der Sprache irgendeines anderen Volkes geschrieben, obschon damals alle Provinzialen das römische Bürgerrecht besaßen, das strenggenommen Lateinkenntnisse erforderte (Digesten XXXII 11 pr.). Das Punische ist nach der arabischen Eroberung Nordafrikas ausgestorben, die keltische Sprache hat sich in Wales und in der Bretagne erhalten, ebenso die Sprache der Basken in den Pyrenäen. Daß diese älteste Sprache Europas, die erst seit dem Mittelalter dokumentiert ist, die Römerzeit überdauert hat, ist ein Wunder. Das Volk der Vascones wäre seiner Sachkultur nach zu den Kelten zu zählen, wenn die Sprache nicht überlebt hätte, deren offizieller Gebrauch in Spanien bis 1931 verboten war. 73

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Alexander Demandt Der Osten des Imperiums sprach Griechisch. Seit dem Hellenismus war die Koine die Verkehrssprache, neben der das Syrische, Armenische und Ägyptische nur untergeordnete Bedeutung besaßen. In Rom war der griechische Einfluß so stark, daß die ersten römischen Geschichtswerke in der Zeit des Zweiten Punischen Krieges ebenso wie die karthagischen von Silenos und Sosylos (Nepos: Hannibal 13, 3) auf Griechisch verfaßt wurden (Cicero: Brutus 81). Gegen die herrschende philhellenische Richtung, vertreten namentlich von den Scipionen, wandte sich der ältere Cato mit seinem altbackenen Italikerstolz. Die Verachtung der Graeculi aber blieb, abgesehen von der stets abgelehnten Päderastie, eine Randerscheinung. Alle Gebildeten sprachen und lasen Griechisch; erst in der Spätantike verlor es im Westen an Bedeutung. Die Griechen fanden sich mit der Römerherrschaft ab und sahen in ihrer großen Vergangenheit einen Grund zum Stolz, der ihnen einen Ausgleich für die verlorene Eigenstaatlichkeit, ja ein Gefühl der Überlegenheit vermittelte. Stolz war man in erster Linie auf die Heldentaten, zumal in den Perserkriegen, in zweiter Linie aber auch auf die Leistungen in Literatur und Kunst. Die Stadt Athen ist, von einer begründeten Ausnahme – unter Sulla 86 v. Chr. – abgesehen, von den Römern mit höchstem Respekt behandelt worden. Zahlreiche Kaiser ließen sich in die eleusinischen Mysterien einweihen, verkehrten mit griechischen Philosophen und bedienten sich im Privatleben der griechischen Sprache – so Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen und Julian in Briefen und Schriften. Unser Kulturbegriff ist stärker als auf Sitte und Sprache auf optische Ästhetik fixiert. Kultur manifestiert sich in künstlerisch gestalteten Objekten und verschönert das Dasein. Für die Frage nach Bedrohung oder Chance ist dieser Aspekt eher von marginalem Interesse, weil Geschmacksunterschiede selten zu politischen Auseinandersetzungen führen. Dennoch wirft die Meinungsverschiedenheit darüber, was als schön bezeichnet wird, ein Licht auf das Verhältnis von Kulturen zueinander. Das antike Schönheitsideal exemplifizieren wir gewöhnlich an der klassischen griechischen Kunst. Dies dürfen wir deshalb, weil sie einerseits in periodischen Klassizismen wieder auflebte und andererseits in gleicher Weise von Nichtgriechen geschätzt wurde. Dies lehren Importe und Imitationen griechischer Kunstwerke bei Skythen, Kelten, Etruskern, Karthagern und anderen sogenannten Randkulturen. Auch die Römer besaßen kein eigenes Schönheitsideal. Sie haben den Hellenismus in nahezu allen Bereichen des Formgestaltens fortgesetzt. Die Römer sammelten, kauften und raubten griechisches Kunstgut, wo immer sie konnten. Das Verlangen danach war so groß, daß griechi74

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Kulturenkonflikt im Römischen Reich? sche Marmor- und Erzbilder in gewaltiger Zahl kopiert wurden, und zwar so peinlich genau, daß bei vielen Stücken bis heute umstritten ist, ob wir ein Original oder eine Kopie vor uns haben, zumal die Duplikate großenteils von Griechen für Römer angefertigt wurden. Die Römer beschäftigten mit Vorzug griechische Künstler. Bisweilen nahm der ästhetische Philhellenismus etwas barbarische Züge an, wenn sich beispielsweise ein reicher Grundherr ein berühmtes griechisches Gemälde als Fußbodenmosaik in seinen Speisesaal legen ließ, so das mit der Alexanderschlacht aus der Casa del Fauno in Pompeji. Wo die Römer selbst künstlerisch arbeiteten, haben sie griechische Muster fortgebildet. Ihre technischen Leistungen als Baumeister fanden umgekehrt Anerkennung bei den Griechen, wie etwa die Vollendung des Tempels für Zeus Olympios in Athen durch den römischen Architekten Cossutius um 170 v. Chr. bezeugt (Vitruv 160, 22). Niemand würde aber deswegen das Olympieion als einen römischen Tempel bezeichnen. Es ist in korinthischer Ordnung gestaltet. In der Kaiserzeit wurden die Heiligtümer vielfach den Landessitten entsprechend errichtet, in Griechenland nach griechischem, in Ägypten nach ägyptischem, in Gallien nach keltischem Geschmack. Die eigentümlich römische Leistung ist nicht die Formgebung, sondern die Technik, und diese entzieht sich weitgehend der kulturellen Individuation. Technik dient jedem Zweck, Technik ist charakterlos. Die römischen Straßen und Mauern, Brücken und Wasserleitungen sind so unspezifisch, daß ihre archäologische Datierung oft um Jahrhunderte schwankt. Bei Kavalla in Nordgriechenland gibt es einen dreistöckigen Aquädukt, genannt Kamares, der aus der Zeit des Augustus oder der mittelalterlichen Genuesenherrschaft stammen könnte, tatsächlich aber, wie die Urkunden lehren, im 16. Jahrhundert von Suleiman dem Prächtigen errichtet wurde. Trotz des dominant griechischen Stils fanden orientalische Kulturwerke Anerkennung bei Griechen und Römern. Der gelegentlich abgewandelte Kanon der Sieben Weltwunder umfaßte drei nichtgriechische Kunstwerke: die Hängenden Gärten der Semiramis, die Mauern von Babylon und die ägyptischen Pyramiden. Ägypten war für Griechen wie Römer das Wunderland. Tausende von Touristen haben bereits in der Antike ihre Namen an den Tempeln und Felsen des Niltals eingeritzt. Unter Hadrian, dessen Reisebegleiter sich an den (in der Kaiserzeit über und über bekritzelten) Memnonskolossen beim »hunderttorigen« Theben verewigten, wurde der ägyptische Stil Mode, ähnlich den Chinoiserien im Barock. Seit der Ptolemäerzeit hat man ägyptische Obelisken profaniert und zur Verzierung von Plätzen verwendet, in Rom standen zum Schluß deren zwölf, selbst Konstantinopel, das christliche Neurom, kam ohne Obelisken nicht aus. Die 75

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Alexander Demandt Wertschätzung der Kunst fremder Kulturen läßt sich mithin für die römische Zeit nicht bestreiten. Anders steht es freilich mit der Literatur. Orientalische Sprachen lernte man nicht, ihre Texte wurden nicht ins Griechische oder Lateinische übersetzt. Eine Ausnahme macht die Septuaginta, das Alte Testament, doch wurde sie von den Juden selbst ins Griechische übertragen. Daß dies auf Wunsch von Ptolemaios II. geschah, ist eine jüdische Legende. Die kulturellen Konflikte unserer Zeit sind da am härtesten, wo die Religion ins Spiel kommt. Sie ist auch für Huntington der Stein des Anstoßes. Das war in Rom anders. Was der Einzelne glaubte, blieb ihm überlassen. Ob es überhaupt Götter gebe und ob der Mensch eine unsterbliche Seele besitze, war im Volksglauben ebenso wie zwischen den Philosophen strittig; manche haben das in ihren Schriften offen gelassen, so der jüngere Seneca, oder entschieden verneint, so der ältere Plinius. Der antiken Religion kam es vor allem auf die Rituale an, die Gemeinschaft stifteten und aus diesem Grunde auch von gebildeten Skeptikern mitgemacht wurden. Darüber hinaus hat der antike Polytheismus Götter und Heiligtümer fremder Völker grundsätzlich toleriert. So wie der Lyderkönig Kroisos das delphische Orakel befragte, besuchte Alexander das Ammonium in der Oase Siwa, schickte der Senat nach der Niederlage gegen Hannibal eine Gesandtschaft zum pythischen Apollon, um Rat zu holen. Den Völkern des Altertums schien das Nebeneinander der Religionen deswegen kein Unglück, weil man meinte, daß die unterschiedlichen Zeremonien bloß ethnische Varianten des Gottesdienstes seien, die Namen der Götter in den verschiedenen Sprachen aber dieselben höheren Wesen bezeichneten. So hieß der Himmelsgott bei den Griechen Zeus, bei den Römern Jupiter, bei den Germanen Donar, bei den Ägyptern Ammon usw.; entsprechend trugen der Gott des Krieges, der Gott des Handels, die Göttin der Liebe je volksspezifische Bezeichnungen, die man übersetzen konnte. Selbst Jahwe wurde von den Griechen als der Zeus der Juden interpretiert, während diese davon ausgingen, daß so wie sie selbst auch die anderen Völker ihren Nationalgott hätten, der bloß nicht so mächtig wie Jahwe sei (2. Mose 18: 11). Das erste Gebot, »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir« (2. Mose 20: 3), setzt solche voraus. Im Deuteronomium (32: 8) bestimmte Gott die Zahl der Völker nach der Zahl der Engel, der Gottessöhne, die sie schützen, und wies ihnen ihr Gebiet zu. Wie in allen antiken Verkehrszentren flossen in Rom fremde Kulte ein. Sie blieben teils privat, teils wurden sie auf Senatsbeschluß in den Staatskult einbezogen, so die Verehrung der Magna Mater aus Kleinasien im Zweiten Punischen Kriege. Da die Anhänger derselben Fremdkulte ge76

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Kulturenkonflikt im Römischen Reich? wöhnlich zusammen wohnten, konnte man nach den Funden von Weihinschriften geradezu eine religiöse Topographie der Stadt Rom erstellen. Bevorzugt waren demnach Quirinal, Aventin, Marsfeld und Trastevere.3 Ein Zwang zum Ghetto ist nicht erweislich. Man wohnte nach dem Motto des Macrobius (Saturnalia VII 7, 12): similibus similia gaudent, zu deutsch: »Gleich und gleich gesellt sich gern«.

6. Religiöse Konflikte Wenn es trotz dieser toleranten Grundstimmung des Polytheismus zu religionspolitischen Zusammenstößen kam, so beruht das auf Interferenzen moralischer oder politischer Natur. 186 v. Chr. mißbilligte der Senat die orgiastischen Riten zu Ehren des Dionysos durch das Senatus Consultum de Bacchanalibus. Die römischen Sittenwächter hatten den Eindruck, daß ein griechischer Kult als Deckmantel für geheime Ausschweifungen verwendet wurde, die den mores maiorum widersprachen (Livius XXXIX 8 ff). Der römische Kult vollzog sich, wie der griechische, unter freiem Himmel. Kaiser Tiberius untersagte den Isiskult, als im Jahre 19 n. Chr. ein mit der Maske des hundsköpfigen Anubis verkleideter Römer eine Matrone zu vergewaltigen suchte. Moralische Gründe veranlaßten die Römer ebenso dazu, die bei den Karthagern und Kelten üblichen Menschenopfer zu verbieten. Schon die Juden und Griechen hatten an diesen Ritualen Anstoß genommen und sie bekämpft, während sie bei den Barbaren, so bei den heidnischen Germanen, bis ins hohe Mittelalter bezeugt sind. Religiöse Intoleranz ist eine Folge des Monotheismus. Ihn vertraten die Juden und die Christen im Reich. Hier gab es einen elementaren Dissens, weil die Juden damals und Christen immer ihren Gott als den einzigen wahren Gott betrachteten. Zunächst kam es für Rom mit den Juden zu einem Einvernehmen. Caesar galt als Freund der Juden, Augustus verlieh ihnen Privilegien hinsichtlich der Wehrpflicht und der Sabbatruhe, einzelne Juden von laxer Observanz wie Tiberius Alexander machten im römischen Staatsdienst Karriere. Unter Tiberius (Tacitus: Annalen II 85, 4) und Claudius (Sueton 25, 4; Dio LX 6, 6) wurde Juden verboten, sich zu versammeln, ja in Rom zu leben; im ersten Falle ist von ägyptischen und jüdischen Kulten die Rede, die Ärger erregten, im zweiten Falle von Aufruhr. Probleme erwuchsen aus den mosaischen Speisetabus nebst der damit verbundenen Absonderung der Juden – das gemeinsame Essen war stets 3 La Piana 1927.

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Alexander Demandt das wichtigste Ritual der Zusammengehörigkeit – und vor allem aus der Messiaserwartung der jüdischen Volksfrömmigkeit. Sie trug in breiten Kreisen, zumal bei den Zeloten und Sikariern, politische Züge; man hoffte auf eine Erneuerung des Davidreiches durch einen göttlichen Heilsbringer. Die bekannteste, aber keinesfalls einzige Messiasgestalt um die Zeitenwende war Jesus von Nazareth, den Pontius Pilatus als »König der Juden«, das heißt wegen Hochverrats, verurteilte. Die Jesusaffäre blieb politisch so unbedeutend, daß sie nur von einem einzigen Historiographen, nämlich Tacitus (Annalen XV 44), erwähnt wird, und auch das nur am Rande. Sehr viel gefährlicher war der unter Nero ausgebrochene jüdische Aufstand. Ihm liegen tiefe Mentalitätsgegensätze zugrunde. Bezeichnend ist ein Eklat unter Pontius Pilatus. Er hatte als Statthalter versucht, die Wasserversorgung Jerusalems zu verbessern. Zur Finanzierung des Aquädukts wollte er unter anderem Gelder aus dem Tempelschatz verwenden. Der Traktat Schekalim der Mischna gestattet die Verwendung von Tempelgeldern für gemeinnützige Zwecke, diese aber durfte nicht ein Römer feststellen. Der Plan verursachte einen Aufruhr unter den jüdischen Frommen, der viele Todesopfer forderte (Josephus: Antiquitates XVIII 3, 2). Zu den unmittelbaren Ursachen des jüdischen Krieges zählt sodann nicht die Verweigerung des Kaiserkultes durch die Juden, wohl aber die Abschaffung des Kaiseropfers im Tempel Salomons. Die römischen Kaiser wurden, wenn sie gut regiert hatten, nach ihrem Tode unter die Götter versetzt; zu Lebzeiten verehrte man in ihrem Bilde ihren Genius oder auch ihre Person in kultischer Form. Dies haben die frommen Juden abgelehnt, und man ließ es hingehen. Ersatzweise drückte sich ihre Loyalität darin aus, daß sie dem Kaiser erlaubten, im Jerusalemer Tempel für Jahwe täglich zwei Opfer zu bringen. Augustus hatte dafür zwei Schafe und einen Stier gestiftet, die von den Hohen Priestern zum Heile von Kaiser und Reich geschlachtet wurden. Dies unterbanden die Rebellen im Jahre 66 n. Chr. Es kam zum Bürgerkrieg zwischen den romfreundlichen und den romfeindlichen Juden und nach dem Sieg der letzteren zur Empörung gegen die römische Herrschaft (Josephus, Bellum Judaicum II 17, 2). Dies zwang Rom zum Einsatz von mehreren Legionen und führte zur Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. durch Titus. Der Tempel brannte nieder und wurde nicht erneuert. Es gab eine Gruppe jüdischer Intellektueller, die darin eine Strafe Gottes erblickten, der den Juden das Leben unter römischer Herrschaft auferlegt habe. Die Juden wurden damals keinesfalls überall verfolgt, ihren Synagogen außerhalb des Kriegsgebietes passierte

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Kulturenkonflikt im Römischen Reich? nichts. Die Römer interpretierten den Kampf nicht als ethnischen, religiösen oder kulturellen Konflikt. Er war für sie rein politisch motiviert. Ähnliches wiederholte sich unter Trajan, als die Juden in Kyrene, Ägypten und Cypern die Griechen und Römer angeblich zu Tausenden töteten (Dio LXVIII 32), und unter Hadrian in Palästina. Mögliche Ursachen sind ein Beschneidungsverbot und die Absicht, den Tempel Salomons wieder aufzubauen (Dio LXIX 12; Digesten IIL 8, 11, 1). Der Kaiser hatte wie Pilatus gute Absichten, die aber von fehlendem Verständnis für die jüdische Mentalität zeugen. Der Aufstand wurde angeführt von dem Charismatiker Bar Kochba, dem messianischen »Sohn des Sterns«, und endete 135 n. Chr. mit dessen Niederlage. Die Juden außerhalb Palästinas blieben auch diesmal verschont. Der Konflikt mit den Christen trägt dann in höherem Maße den Charakter einer kulturellen Auseinandersetzung, weil die Christen sich noch stärker als die Juden vom öffentlichen Leben fernhielten, den Kaiserkult konsequent verweigerten, zugleich aber systematisch missionierten. Die Christenverfolgungen beruhen auf einer verbreiteten Mißstimmung der städtischen Bevölkerung gegenüber den herrschenden Jesusgläubigen. Sie wurden krimineller Handlungen und ausschweifender Lebensführung verdächtigt. Die Verweigerung von Kriegs- und Staatsdienst, auch auf kommunaler Ebene, deutete man als Illoyalität gegenüber dem Reich. Das änderte sich mit der Konstantinischen Wende. Eine staatsverträgliche Form des Christentums wurde zur begünstigten, dann unter Theodosius 380 n. Chr. zur allein legitimen Religion erklärt. Christliche Eiferer haben daraufhin mit der überlieferten, heidnisch geprägten Kultur gründlich aufgeräumt. Doch dies ist nicht mehr mein Thema.

7. Kultur und Politik Fragen wir rückblickend, wie es Rom gelang, so viele Völker und Religionen unter einem Dach zu vereinen, so sind zwei Gründe maßgebend. Es ist zum ersten der Verzicht des Staates auf die Durchsetzung oder Bewahrung einer römischen Nationalkultur. Das den neuzeitlichen Staaten wohlvertraute Programm einer kulturellen Gleichschaltung fehlt in der Antike praktisch wie theoretisch. So wenig wie die Hellenisierung im Osten entsprang die Romanisierung im Westen einer bewußten Kulturpolitik. Das Spannungsfeld Schule zum Beispiel entfiel, weil der Kaiser zwar einzelne Professoren für Latein und Griechisch besoldete, darüber hinaus aber aller

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Alexander Demandt Unterricht kommunal oder privat organisiert war. Und es ist zum zweiten die Stärke der beiden Säulen, auf denen der Staat ruhte: arma et leges, auf den römischen Waffen und dem römischen Recht. Diese noch von Justinian in der Einleitung zu dem nach ihm benannten Codex herausgehobenen Faktoren sicherten die Pax Romana, und sie wiederum war die Grundlage für Handel und Verkehr, Wirtschaft und Wohlfahrt. Unter diesen Rahmenbedingungen verloren die ethnischen Identitätskriterien ihre Sprengkraft. Dutzende von Völkern haben sich, unbeschadet ihrer kulturellen Unterschiede, staatsrechtlich als Römer verstanden und dabei ihre jeweilige Eigenart stillschweigend aufgegeben. Dieser Völkerschwund durch Homogenisierung ist schon Strabon (IX 5, 12) und dem älteren Plinius (III 70) aufgefallen. Das setzte sich während der Kaiserzeit fort. Nachdem im Jahre 382 n. Chr. die Westgoten an der Donau angesiedelt worden waren, hoffte der Redner Themistios (XVI 19), daß auch sie zu Römern würden, wie das die Galater in Kleinasien ebenfalls geworden seien. Diese wilden, kriegslüsternen Kelten seien längst keine Barbaren mehr. Bemerkenswert ist, daß Themistios die Galater hier als Römer bezeichnet, obwohl sie kulturell hellenisiert waren, wie wir dem griechisch geschriebenen Brief des Apostels Paulus entnehmen. Der Grund ist, daß Themistios als kulturstolzer Grieche sich politisch selbstverständlich als Römer fühlte, nicht nur während er vor einem lateinisch denkenden Kaiser stand. Die beiden Voraussetzungen für den inneren Frieden im römischen Vielvölkerstaat lassen sich, so scheint mir, auch in anderen multikulturellen Gemeinwesen nachweisen: Toleranz unter den Gruppen auf der einen Seite, eine klare Rechtsordnung auf der anderen. Zum Schutze des Rechts bedarf es nach römischer Auffassung der staatlichen Waffen, und ohne ein funktionierendes Gewaltmonopol hatte kein Staatswesen mit einer gemischten Bevölkerung jemals Bestand. Im Normalfall war die staatstragende Schicht mit einer bestimmten Kultur verbunden, die eben darum eine dominante Stellung innehatte. Dies beobachten wir bei den kulturell gemischten Reichen von Dschingis-Khan und Timur in Zentralasien, von Akbar und Schahdschiahan in Indien, bei den maritimen Kolonialreichen der Spanier und Engländer, aber auch bei den kontinentalen Imperien der Habsburger, der Romanows und der Osmanen. Der Wettstreit der Kulturen wurde im Zaum gehalten, weil die Kultur der Herrschenden die herrschende Kultur war. Dies verhinderte einen conflict of civilizations. Die welthistorische Besonderheit Roms war es, daß dort die staatstragende Gruppe nach dem Ende der Republik nicht mehr kulturell definiert war. Im Senat und im Offizierskorps der Kaiserzeit finden wir Angehörige aller Völker, Religionen und »Rassen« des Reiches, auch Afrikaner und 80

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Kulturenkonflikt im Römischen Reich? Araber. Sie besaßen das römische Bürgerrecht und erkannten im Reich die patria gentium, das Vaterland der Völker. Aus dem Geiste der Philanthropie übertrug Themistios (X 16 f.) dem Kaiser sogar die Fürsorge für die Barbaren jenseits des Limes: den Römern von morgen. Trotz der naheliegenden Entsprechung zwischen den wilden Galatern von einst und den wilden Goten von jetzt hat sich die Erwartung des Themistios nicht erfüllt. Aus dem Nebeneinander ist kein Miteinander mehr geworden, weil die Rahmenbedingungen sich geändert hatten. Die Goten respektierten weder das Recht noch die Waffen Roms, nachdem sie 378 n. Chr. das Heer des Ostreiches in der Schlacht bei Adrianopel vernichtet hatten. Der Zerfall des Reiches in der Völkerwanderung ist in gewissem Sinne durch Edward Gibbon 1776 als Ergebnis eines Kulturenkonflikts gedeutet worden, indem er den Germanen und der Kirche die Schuld anlastete. Die Einwanderung und Einbürgerung der Nordvölker nahm Ausmaße an, die eine Integration und Assimilation der Fremden auf der politischjuristischen Ebene unmöglich machte. Die Ankömmlinge waren weniger durch ihre Zahl als durch ihre militärische Überlegenheit gefährlich. Niemand hätte verlangt, daß sie römische Sitten annähmen, aber sie unterwarfen sich nicht den Provinzialstatthaltern, sondern lebten auf dem von ihnen besetzten und beherrschten Reichsboden einfach nach eigenem Gusto. Die römische Verwaltung löste sich auf, die Städte schrumpften und verarmten. Mommsen sprach wohlwollend von einer »wunderbaren Halbkultur« als Resultat des ausgehenden Römertums.4 Der zweite Faktor des Verfalls, das Christentum, ist eine kulturelle Größe zunächst im negativen Sinne, sofern die durch das Heidentum geprägte griechisch-römische Kultur, namentlich Literatur und Kunst, unter den Verdacht geriet, Dämonenwerk und -dienst zu sein, somit bekämpft werden mußte. Der Vorrang des Seelenheils vor allen irdischen Gütern verwies auch die Kultur in eine niedere, dienende Sphäre. Die im positiven Sinne neue christliche Kultur des Mittelalters nahm viele ältere Elemente auf, stellt aber als Ganzes doch etwas anderes dar. Insofern entwickelte sich aus dem Nebeneinander ein Nacheinander von Kulturen. Man kann den Wandel bewundern oder die Vergänglichkeit beklagen. Mir selbst fällt es schwer, mich zwischen beiden Haltungen zu entscheiden. Darum ziehe ich mich zurück auf die Position des beschreibenden Historikers. Wie heißt es so klar bei Sallust? Omnia orta occidunt et aucta senescunt (Jugurtha 2, 3): »Alles, was entsteht, geht wieder unter, und alles, was wächst, wird irgendwann alt«. Drastischer im Faust: »Alles was ent4 Mommsen 1992: 580.

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Alexander Demandt steht, ist wert, daß es zugrunde geht«. Nur ein Mephistopheles folgert: »Drum besser wär’s, daß nichts entstünde«, eine Position, die auch Mephisto nicht ernst meinen kann, denn anderenfalls bliebe dem Geist, der stets verneint, nichts zum Verneinen übrig. Immerhin bezeugt er Stolz darauf, seine Teufeleien in kulturellem Schliff zu vollführen. Ein Ja zur Kultur ist ein Ja zur Vielfalt, zur Konkurrenz, zu Aufstieg und Niedergang. Geschichte bedeutet Wandel und Vergänglichkeit. Was ewig währt, ist wenig wert.

Literatur Huntington, Samuel P., 1996: The clash of civilizations and the remaking of world order. New York. Mommsen, Theodor, 1992: Römische Kaisergeschichte. München. Nietzsche, Friedrich, 1931: Die Unschuld des Werdens. Der Nachlaß. Bd. 1. Stuttgart. La Piana, George, 1927: Foreign groups in Rome during the first centuries of the empire. In: Harvard Theological Review 20: S. 183 ff. Taeger, Fritz, 1949: Die Kultur der Antike. Köln. Weber, Max, 1968: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen.

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias

Zwischen Konfrontation und Interaktion: Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias Angelos Chaniotis

1. Einleitung 1 Der in Kleinasien geborene Redner Aelius Aristides pries in seiner 143 n. Chr. gehaltenen Romrede die Einheit, die unter römischer Verwaltung geherrscht haben soll. Das ganze Imperium stelle ein Fest alter und neugegründeter Städte dar; die Sitten und Gesetze der verschiedenen Völker brauche der Geograph nicht mehr zu beschreiben, denn für die ganze Menschheit gebe es nunmehr eine einzige Ordnung (XXVI 97-102). Es fällt schwer abzuschätzen, wie groß der Abstand zwischen dem imaginären Reich des Redners und den real existierenden Zuständen war, vor allem in den Gegenden, die Aelius Aristides nicht kannte: ländlichen Siedlungen abseits der urbanen Zentren. Betrachten wir etwa den geographischen Raum Kleinasien – auf den sich auch meine späteren Ausführungen beziehen –, so haben wir es mit einer hinsichtlich Geschichte, Sprache, Kultur, Kulten und Rechtsordnung alles andere als einheitlichen Region zu tun, die, wenn überhaupt, höchstens in administrativer Hinsicht eine Ein1 Die vollständige Dokumentation zu den hier angesprochenen Phänomenen und eine ausführliche Behandlung des religiösen Klimas im spätantiken Aphrodisias wird in einer Monographie (»From the City of Aphrodite to the City of the Cross: Pagans, Christians, and Jews at Aphrodisias in Late Antiquity«) präsentiert; siehe auch Chaniotis 2002. In bezug auf die religiösen Entwicklungen der Spätantike (Christianisierung, Gesetzgebung gegen die heidnischen Kulte und die Juden) werden aus der sehr umfangreichen und stets wachsenden Sekundärliteratur nur wenige Arbeiten zitiert, in denen man leicht die frühere Bibliographie findet. Für die Unterstützung meiner epigraphischen Forschungen in Aphrodisias in den Jahren 1995-99 danke ich den Direktoren der Ausgrabung Prof. Dr. Chr. Ratté (New York) und Prof. Dr. R.R.R. Smith (Oxford). Finanzielle Unterstützung erhielt ich von der Dorot Foundation sowie von der Alexander S. Onassis Foundation. Cand.phil. R. Oetjen danke ich für sprachliche Korrekturren sowie für Hilfe beim Studium der spätantiken Namen in Aphrodisias. Anregungen erhielt ich von den Teilnehmern am Kolloquium in Essen sowie von den Teilnehmern an Kolloquien in San Francisco (1997), Wien und Trier (1998), in denen Versionen dieser Arbeit vorgetragen wurden.

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Angelos Chaniotis heit bildete. Hethiter und Assyrer, Lyder, Phryger, Karer, Kilikier, Lykier, Bithynier, Pamphylier, Perser, Griechen, Kelten, Juden und Römer haben hier nach- oder nebeneinander gelebt. Aristides’ Ausführungen sind nicht bloß eine Beschreibung, sie enthalten auch ein Urteil: Homogenität und Einheit sind Wunschvorstellung des Redners, gewiß auch seiner Zuhörer. Die Aufhebung kultureller Unterschiede wird als eine positive Errungenschaft hervorgehoben. Der moderne Historiker weiß jedoch, daß sich unter der Oberfläche der Einheitlichkeit, die Aristides preist, auch Spannungen im kulturellen Bereich verbargen, die natürlich vor allem – aber nicht nur – dann stärker zum Vorschein kamen, wenn die Staatsgewalt geschwächt wurde. Archäologische und historische Forschungen in Kleinasien haben unter dem Mantel der politischen Einheit und der kulturellen Koine, die von den Griechen seit Alexander dem Großen geprägt wurde, vielfach das Fortleben lokaler Traditionen gezeigt2, das Beharren auf uralten Kulten3, das Überleben einheimischer Namen und eigenständiger Institutionen4 bzw. lokaler Traditionen in der Bildkunst.5 Was für die Blütezeit des Reiches gilt, gilt erst recht für die Spätantike. Etwa vom frühen 4. bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. zeichnet sich für die Gesellschaft des späten römischen Reiches ein uneinheitliches und ambivalentes Bild ab – ambivalent auch in bezug auf die Frage der kulturellen Komplexität. Die Bemühungen um Stärkung der Zentralgewalt wurden immer wieder von außenpolitischen Krisen überschattet; die Etablierung des Christentums als Staatsreligion ging nicht ohne Widerstand vonstatten und rief vielfach neue Konflikte hervor;6 in der Peripherie des Reiches wurde ein Jahrhunderte andauernder Verschmelzungsprozeß immer wieder durch das Eindringen neuer oder die Verselbständigung alter ethnischer Gruppen unterbrochen. Ambivalenz und Facettenreichtum der Spätantike betonen auch die allgemeinen, großangelegten Untersuchungen, die sich notwendigerweise nur auf eine Auswahl der vorhandenen literarischen, dokumentarischen und archäologischen Quellen stützen.7 Hier wird eher eine mikroskopische Analyse angeboten: das Studium speziell eines Aspektes der kulturellen Komplexität, der religiösen Komple2 3 4 5 6 7

Zuletzt allgemein Mitchell 1993; Sartre 1995. Z.B. Petzl 1995. Z.B. Zgusta 1964 und 1984; Blümel 1992. Z.B. Drew-Bear et al. 1999. MacMullen 1984; Trombley 1993 und 1994; Dassmann 1996; Maraval 1997. Z.B. Martin 1987; Demandt 1989.

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias xität nämlich, an einem Ort, in der kleinasiatischen Stadt Aphrodisias. Eine Fallstudie bietet den Vorteil, daß man die Gesamtheit der Zeugnisse erfassen und im Detail untersuchen kann; dadurch entsteht ein umfassenderes und differenzierteres Bild. Der Nachteil ist gleichfalls evident: Das Beispiel Aphrodisias hat keine allgemeine Geltung, wenn auch die Situation in manchen anderen Großstädten Kleinasiens vergleichbar war, z.B. in Sardeis und Ephesos. In der alten Hauptstadt Rom, der Philosophen- und Kulturhauptstadt Athen, im ethnisch gespaltenen Alexandrien, im administrativen Herzen des Reiches von Konstantinopel, im von orientalischer Kultur beinflussten Antiochien oder aber auch in einem kleinen arabischen Dorf stellten sich die Probleme teilweise anders dar.8 Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind daher nicht zu verallgemeinern, erscheinen für die Behandlung allgemeiner Fragen aber auch nicht ganz ungeeignet. Aphrodisias, vor dem 1. Jahrhundert v. Chr. eine eher unbedeutende Siedlung in der Nähe eines wichtigen Heiligtums, entwickelte sich in der Folgezeit zu einer der wichtigsten Städte Kleinasiens.9 Die mythologisch begründete Verwandtschaft zwischen Aphrodite und der Familie des Augustus in Rom verschaffte Aphrodisas politische und wirtschaftliche Privilegien;10 die Stadt wurde seit dem späten 1. Jahrhundert v. Chr. mit prächtigen Bauten ausgestattet.11 Die kaiserliche Unterstützung, die Nutzung eines fruchtbaren Territoriums und die berühmte lokale Bildhauerschule machten Aphrodisias zu einem blühenden urbanen Zentrum. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts n. Chr. wurde es Hauptstadt der Provinz Karien. Ihren Ruhm verdankte die Stadt an erster Stelle dem Heiligtum einer anatolischen Fruchtbarkeits- und Kriegsgöttin, die in hellenistischer Zeit mit der griechischen Aphrodite identifiziert wurde.12 Bereits hier, auf dem Gebiet der Religion, erkennt man einen Verschmelzungsprozeß von Elementen unterschiedlichen Ursprungs: Der Name der nichtgriechischen Göttin wurde vergessen, nicht aber ihre Eigenschaften und Attribute. Diese Aphrodite war nicht die spielerische Göttin der Liebe, sondern vor allem eine Große Mutter und Beschützerin von Kriegern; eins ihrer Attribute war die Doppelaxt; als Kriegsgöttin soll sie dem römischen Feldherrn Sulla im Traum erschienen sein und ihm militärischen Erfolg versprochen haben; 8 Zuletzt Trombley 1993 und 1994; Alexandrien: Haas 1997: 278-330; Ägypten: Vinzent 1998; Antiochien: Meeks & Wilken 1978: 10-13; Hahn 1996. 9 Reynolds 1982; Roueché 1989. 10 Reynolds 1982. 11 Smith & Ratté 1997. 12 Laumonier 1958: 478-500; Brody 1999.

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Angelos Chaniotis dafür stiftete er ihr einen goldenen Kranz und eine Doppelaxt (Appian: Bella civilia I 97).13 Uneinheitlich wie die Ursprünge der Stadt war auch ihre Bevölkerung in der Kaiserzeit, die aus hellenisierten Karern, Griechen, Juden und einigen Familien römischen Ursprungs bestand. In der Zeit, aus der wir zahlreiche schriftliche Quellen besitzen (seit dem 1. Jh. v. Chr.), sind die karischen Komponenten fast vollständig verschwunden. Personennamen, Kultur, Sprache und Kunst sind griechisch und entsprechen ganz und gar dem von Aelius Aristides entworfenen Bild kultureller Homogenität. Nur die lokale Mythologie erinnerte noch an die karischen Vorgänger der kaiserzeitlichen Stadt, an den Gründer Ninos (Stephanos von Byzanz, s.u. Ninoe), dem aber der Grieche Bellerephontes zur Seite gestellt wurde.14 Die Bürger von Aphrodisias verdankten ihre Identität einerseits dem gemeinsamen Bürgerrecht, andererseits aber einer größtenteils fiktiven Vergangenheit. Sie waren freie Bürger einer von Rom unabhängigen und tributfreien Stadt. Das Zentrum der urbanen Siedlung war ein Kultort, dem die Aphrodisieis ihren Namen und ihre privilegierte Stellung verdankten. Für sie war die politische Identität mit der religiösen aufs engste verknüpft, ohne daß ethnische Differenzen eine offensichtliche Rolle gespielt hätten. Dieses Bild der friedlichen Übereinstimmung täuscht jedoch: Obwohl Juden mit Sicherheit in Aphrodisias noch vor der Spätantike gelebt haben (s.u.), gibt es keinen einzigen Beleg eines jüdischen Namens vor dem 4. Jahrhundert n. Chr. Eine weitere religiöse Gruppe, die vor dem 4. Jahrhundert n. Chr. unsichtbar bleibt, sind die Christen; nur durch die Erwähnung von Märtyrern in Heiligenviten und einer Inschrift wissen wir, daß sie bereits zur Zeit der Christenverfolgung im 3. Jahrhundert n. Chr. in Aphrodisias lebten und für ihren Glauben starben.15 Zudem gab es neben Christen und Juden natürlich auch die alles andere als einheitliche Gruppe der Anhänger heidnischer Kulte. Unter ihnen befanden sich Gläubige, die aus Tradition die alten Götter verehrten, Eingeweihte in die ägyptischen und orientalischen Mysterienkulte, Mitglieder intellektueller Zirkel, die ein von der neuplatonischen Philosophie stark geprägtes Heidentum verfochten, sowie Anhänger der Erlösungsreligionen der Kaiserzeit und der spätantiken Theurgie.16

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Balsdon 1951. Smith 1996: 56; Yildirim 2000. Roueché 1989: 15-16 und Nr. 163; Van der Horst 1990: 172. Allgemein: MacMullen 1984: 10-16; Bowersock 1990; North 1992; Fowden

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias Das Edikt von Kaiser Galerius (311 n. Chr.), das die religiöse Freiheit etablierte und der Christenverfolgung ein Ende setzte, brachte die unterschwellig bereits existierende religiöse Komplexität an die Oberfläche und machte sie sichtbar. Vom frühen 4. bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts n. Chr. gibt es eine Vielzahl ikonographischer, literarischer und dokumentarischer Zeugnisse für das religiöse Klima in Aphrodisias, vor allem Inschriften und literarische Berichte, die einen guten Einblick in die langsame Verbreitung des Christentums gewähren. Aus diesem Grund ist Aphrodisias längst ein Beispiel für den verzweifelten Widerstand der Anhänger der traditionellen Religion geworden.17 Die einschlägigen Untersuchungen – auch die beeindruckende und anregende Studie Frank R. Trombleys – lassen jedoch einen meines Erachtens zentralen Faktor unberücksichtigt, nämlich die Existenz einer jüdischen Gemeinde in der spätantiken Stadt; eine Ausnahme ist eine kurze Studie Peter W. van der Horsts (1990), die jedoch von einer falschen Datierung des wichtigsten Zeugnisses ausgeht (s.u.). Einen weiteren Grund für die erneute Beschäftigung mit dem Phänomen religiöser Komplexität im spätantiken Aphrodisias bildete die Untersuchung der spätantiken Graffiti, die ich seit 1995 unternommen habe, wichtiger Alltagszeugnisse gerade auch für die religiös motivierten Auseinandersetzungen. Der Besucher der Stadt findet an den Wänden öffentlicher Bauten, auf den gepflasterten Straßen, auf Säulen und den Sitzen der Versammlungsorte Hunderte von eingeritzten, eingemeißelten oder bemalten Graffiti jeder Art: Spielbretter und Skizzen, vereinzelte Buchstaben, Namen und Zeichnungen von Schaustellern, religiöse Symbole, obszöne Texte, Liebeserklärungen und Gebete. Einen kleinen, aber repräsentativen Teil dieser Graffiti hat Charlotte Roueché veröffentlicht (vor allem 1989 und 1993), Hunderte sind noch nicht veröffentlicht und waren aus diesem Grund der Forschung unzugänglich. Der Quellenwert von Graffiti kann nicht genug betont werden, denn sie zeigen uns auf unmittelbare Art und Weise die Sorgen und Gefühle der Menschen, von denen die literarischen Quellen oft schweigen.18 Natürlich sprechen die Graffiti nicht von selbst,

1993; vgl. für die Überlagerung verschiedener soziokultureller Komponenten in Ägypten der Spätantike: Vinzent 1998: 38-41. 17 Robert 1948: 115-126; Roueché 1989: 47-52, 85-97; Bowersock 1990: 23f., 27, 62, 68; Trombley 1994: II, 20-29, 52-73. 18 Einige Beispiele aus anderen Orten: Diehl 1930; Wagner 1987: 8-10, 23-44, 48-61, 62-81; Crawford 1990: 17f., 65, 79, 84-89; Lauffrey 1991: 231-237; Alzin-

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Angelos Chaniotis erst die Berücksichtigung literarischer und dokumentarischer Quellen macht es möglich, sie in einen historischen Zusammenhang einzuordnen. Glücklicherweise verfügen wir in Aphrodisias über derartige Quellen. Dieser Aufsatz gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil werde ich repräsentative Zeugnisse der drei gut dokumentierten religiösen Gruppen im spätantiken Aphrodisias – Christen, Juden und Heiden – vorstellen, darunter auch einige Neufunde zur jüdischen Präsenz (Kapitel 2). Diese Dokumente zeugen von der religiösen Komplexität, die uns hier beschäftigt. Im zweiten Teil (Kapitel 3) widme ich mich den Spannungen zwischen diesen Gruppen in der Zeit vom 4. bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. Ich werde zu zeigen versuchen, daß diese Gruppen bewußt die Symbole ihrer religiösen Zugehörigkeit gegeneinander ausspielten und in der Namensgebung ein Mittel für die Bildung einer kollektiven Identität sahen. Zum Schluß werde ich darlegen, daß neben Konfrontation aber auch der Dialog, unter Umständen sogar die gegenseitige Beeinflussung möglich war (Kapitel 4).

2. Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias Mit der Spätantike verbinden wir den Aufstieg des Christentums von einer einstmals verfolgten Religion zur Staatsreligion. Aus administrativer Sicht scheint diese Entwicklung vor dem Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. weitgehend abgeschlossen zu sein. 391 n. Chr. wurden Tempelbesuche und Opferdarbringungen verboten, am 8. November 392 n. Chr. jeglicher nichtchristlicher Götterkult; nur die Religion der Juden wurde – trotz diskriminierender Maßnahmen – toleriert. Untersuchungen und Funde vor allem der letzten Jahre haben das bisherige Bild eines geradlinigen und fast widerstandslosen Triumphzuges des Christentums nach dem Tod des letzten heidnischen Kaisers Julian (363 n. Chr.) korrigiert. Hier sollen nur einige Arbeiten jüngeren Datums genannt werden: Glenn Bowersock (1990) hat den Fortbestand des Heidentums in Syrien und Kleinasien und die Verschmelzung griechischen Kulturgutes mit einheimischen kultischen Traditionen und christlichem Glauben gezeigt; die Bedeutung des Judentums in Kleinasien geht aus einer Untersuchung Paul R. Trebilcos hervor (1991); und Frank Trombley (1993 und 1994) hat eindrucksvoll demonstriert, wie groß der Widerstand der Anhänger der griechischen Religion bis zur Regierungszeit Justinians gewesen ist – der 529 n. Chr. die Konverger 1993; Veno Ricciardi 1998; Kellum 1999; Taeuber 1999; Supplementum Epigraphicum Graecum XLV Nr. 997.

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias sion aller Reichsbewohner anordnete –, und wie oft die kaiserliche Gesetzgebung daran scheiterte, die Praxis alter Kulte zu unterbinden.19 Die Beziehungen zwischen Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias bestätigen und ergänzen dieses differenzierte Bild. Spätestens seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. existierte eine kleine Gruppe von Christen in Aphrodisias. Während einige ihrer Mitglieder den Verfolgungen um 300 n. Chr. zum Opfer fielen (s.o.), ist ein Bischof für das Jahr 325 n. Chr. bezeugt. Seit 311 n. Chr. toleriert, bald danach von den Kaisern stark unterstützt, aber auch durch dogmatische Konflikte gespalten, stieg das Christentum noch vor dem Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. zur Staatsreligion auf.20 Nach der Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. wurde der Tempel der Aphrodite in eine christliche Kirche umgewandelt21, mehrere öffentliche Inschriften vom späten 4. bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. wurden mit Kreuzen versehen und ein prächtiger Bischofspalast im 5. Jahrhundert n. Chr. in der Nähe des Rathauses errichtet. Seit dieser Zeit vermeiden die Christen den verpönten Namen Aphrodisias und nennen die Stadt Stauropolis (die Stadt des Kreuzes) – ein Name, der erst im 7. Jahrhundert n. Chr. zum offiziellen Namen der Stadt wird.22 Unter den Christen findet man im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. nicht nur Handwerker, sondern auch einen Musiker (Abb. 1), einen Arzt und Mitglieder der örtlichen Verwaltung.23 All das überrascht nicht, erstaunlich ist eher das

19 Cf. Rothaus 2000: 32-63, 135-140. 20 MacMullen 1984; Dassmann 1996; Maraval 1997. 21 Im Lichte neuer Münzfunde kann man den Beginn der Bauarbeiten in die Regierungszeit Kaiser Leons I. datieren (457-474): Smith & Ratté 2000: 227; vgl. Hebert 2000. Frühere Datierungen: Roueché 1989: 153f. (6. Jh.); Cormack 1990: 84 (um 450, vielleicht nach dem Besuch von Kaiser Theodosius II.); Trombley 1994: II, 52f., 66f. (um 490-500, nach der Niederschlagung der Revolte des Illus gegen Kaiser Zenon, die in Aphrodisias von den Heiden unterstützt wurde). Allgemein zur Konversion heidnischer Tempel: Meier 1996. 22 Bischofspalast: Erim 1989: 26f. Name Stauropolis: Roueché 1989: 144-146, 149-151. Beispiele für Kreuze in Inschriften: Roueché 1989: Nr. 23, 38, 41, 42, 59, 62, 68-70, 73, 74, 83, 142, 155, 171, 172, 175, 188, 202, 208; vgl. Trombley 1994: II, 55f., 66f. 23 Handwerker: Roueché 1989: Nr. 189, 208; Friseur: Nr. 191; Metzger: Nr. 117 i; Diener: Nr. 190; Musiker: Nr. 113 i; Arzt: Nr. 169; Mitglieder der städtischen Elite: Nr. 68, 73, 74, 205; vgl. Trombley 1994: II, 58, 70. Der früheste datierbare Beleg für die Anbringung eines Kreuzes in einer Inschrift ist eine Ehrenin-

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Angelos Chaniotis selbstbewußte Auftreten von Juden und Heiden bis ins 6. Jahrhundert n. Chr. Abb. 1: Das Gebet des Musikers Asterios, eines Christen, eingeritzt auf der Mauer des alten Aphroditetempels (4. oder 5. Jh. n. Chr.)

1987 veröffentlichten Joyce Reynolds und Robert Tannenbaum zwei auf der Vorder- und der linken Nebenseite eines Pfeilers aufgezeichnete Texte, welche die Namen, Vatersnamen und zum Teil Berufsbezeichnungen von insgesamt 71 Juden (drei davon Proselyten) und 54 Gottesfürchtigen (theosebeis) überliefern, darunter neun Mitglieder des Rates, Händler, Goldschmiede und andere Handwerker sowie Köche, Metzger, Künstler und Sportler.24 Der erste Text (Abb. 2), dessen Überschrift auf dem jetzt schrift für Aelia Flacilla, Gemahlin von Kaiser Theodosius I. (379-386): Roueché 1989: Nr. 23; Trombley 1994: II, 54. 24 Supplementum Epigraphicum Graecum XXXVI 282-287 Nr. 970. Deutsche Übersetzung: Brodersen 1989: 177f. Die vorsichtig formulierte Vermutung der Herausgeber, daß die Texte der beiden Seiten zusammengehören, trifft nicht zu; siehe Chaniotis 2002. Man muß davon ausgehen, daß der Text der etwas breiteren Seite (Seite B nach der Edition von Reynolds & Tannenbaum 1987) früher aufgezeichnet wurde als der Text mit der erhaltenen Überschrift (Seite A nach ihrer Edition); vgl. Bonz 1994: 285-291. Aus praktischen Gründen ver-

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias Abb. 2: Inschrift mit den Namen der Juden und der »Gottesfürchtigen«, die einer wohltätigen Einrichtung Geld spendeten (spätes 4. Jh. n. Chr.)

wende ich jedoch im folgenden weiterhin die traditionellen Bezeichnungen der Seiten als A und B.

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Angelos Chaniotis abgebrochenen obersten Teil des Pfeilers stand und nicht erhalten ist, weist eine Liste von Stiftern mit mehr als 55 Juden – die ersten Namen sind nicht erhalten – und 52 Gottesfürchtigen (theosebeis) auf.25 Etwas später gravierte man einen weiteren, nicht vollständig erhaltenen Text auf der linken Nebenseite des Pfeilers, dessen Entzifferung und Übersetzung schwierig ist: »Gott hilft [oder möge helfen] der Patella [?]«.26 Die darunter aufgelisteten Mitglieder des Zehnmännerkollegiums (dekania) der »Freunde des Lernens/Studiums« (philomatheis), welche auch als »die allzeit [den Gott] Lobpreisenden« bekannt sind (?, ton kai panteulog [–])27, haben aus eigenen Mitteln und zwecks der Linderung der Trauer (apenthesia) für die Menge (toi plethei) eine Gedächtnisstätte (mnema) bauen lassen: »Iael, der Vorsteher28, zusammen mit seinem Sohn Iosouas, dem Archon; Theodo25 In diesem Text bezeichnet der Begriff theosebeis wohl Sympathisanten der jüdischen Religion, die zwar jüdische Riten befolgten und die Synagoge besuchten, aber nicht Proselyten waren (Reynolds & Tannenbaum 1987: 48-66; Van der Horst 1990: 170; vgl. Mitchell 1998 und 1999b: 115-121; s. aber Lieu 1995). Der Begriff theosebeis hat jedoch ein weites semantisches Feld im Judentum und Christentum; siehe zuletzt Bonz 1994: 291-299; Stanton 1998: 267291; Wander 1998: 8-12, 65-128. 26 Die Interpretation des Begriffes patella (wortwörtlich »Platte«) stellt ein noch nicht gelöstes Problem dar. Für Bibliographie und eine nützliche Zusammenfassung der Forschung siehe Supplementum Epigraphicum Graecum XLI Nr. 918. Die Verwendung der Worte apenthesia (»Linderung der Trauer«) und mnema (»Denkmal, Gedächtnisstätte«, in der Regel »Grabmal«) machen die Deutung von Reynolds & Tannenbaum (1987: 26-28), es handle sich bei dieser Stiftung um die Einrichtung einer Armenküche (hebräisch tamhui), unwahrscheinlich. Den Zweck der Stiftung hat man eher auf dem Gebiet des Grabkultes zu suchen (vgl. McKnight 1991: 158 Anm. 6; Williams 1992: 305f.). Feldman 1993: 577 Anm. 138 und 362-369; Van Minnen 1994: 256f. 27 Für philomatheis (Studenten der heiligen Gesetze) und paneulogountes (die wahrscheinlichere Ergänzung des Wortes, d.h. die den Gott Lobpreisenden) siehe Reynolds & Tannenbaum 1987: 30-38; Van der Horst 1990: 171; siehe aber Williams 1992: 305f.; Wander 1998: 124 (Vereinigung für Torastudien und Gebet). Die Lesung des Wortes dekania ist umstritten (aber wahrscheinlicher als die vorgeschlagene Alternative): siehe Feldman 1993: 368 und 575 Anm. 116. 28 Ich halte Iael für den Namen eines Mannes (vgl. Reynolds & Tannenbaum 1987: 101; anders Trebilco 1991: 107-110; Williams 1992: 300). Wäre aber Iael

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias tos, der Palatiner [?]29, zusammen mit seinem Sohn Hilarianos; Samouel, der Vorsteher der Dekania, ein Proselyt; Ioses, Sohn des Iesseas; Beniamin, der Psalmensänger; Ioudas, der Milde [oder bekannt unter dem Spitznamen ›der Milde‹]; Ioses, Proselyt; Sabbatios, Sohn des Amachios; Emmonios, Gottesfürchtiger; Antonios, Gottesfürchtiger; Samouel, Sohn des Politianos; Ioseph, Sohn des Eusebios, Proselyt; Ioudas, Sohn des Theodoros; Antipeos, Sohn des Hermias; Sabathios, bekannt unter dem Spitznamen Nektarios; Samouel, Mitglied des Ältestenrates [?], Priester.«30

Diese Texte, die ich im folgenden als »jüdische Stifterinschriften« bezeichnen werde, machen uns mit einer großen und selbstbewußten jüdischen Gemeinde bekannt, zu der offenbar Vertreter aller sozialen Schichten gehörten. Die Herausgeber datieren die beiden Texte vorsichtig auf die Zeit um 200 n. Chr., ohne eine Entstehung in späterer Zeit auszuschließen.31 Die frühe Datierung ist von der Sekundärliteratur fast einhellig angenommen worden, mit der Folge, daß diese Texte in Untersuchungen über das Judentum in der Spätantike und über das spätantike Aphrodisias keine Berücksichtigung gefunden haben. Die Schriftform, Namen, Institutionen und der historische Kontext lassen jedoch keine Datierung vor dem Beginn des 4. Jahrhunderts n. Chr. zu; für den älteren Text vermute ich eine Entstehungszeit um 320-360 n. Chr., der zweite Text ist wesentlich jünger (5. Jh.?).32 Aus der Spätantike stammen auch alle anderen jüdischen Zeugnisse aus Aphrodisias. Viele von ihnen hat Joyce Reynolds veröffentlicht33,

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eine Frau, hätte man nicht die Maskulinform prostates verwendet, sondern eine der belegten Femininformen (prostatis, prostatria oder prostatina). Das abgekürzte Wort (oder der Name) Palatinos ist entweder eine Funktion des Theodotos oder der Vatersname (vgl. Reynolds & Tannenbaum 1987: 42f.). Es kann kein Spitzname sein, da in dieser Inschrift der Spitzname mit der Formel ho kai (»auch NN benannt«) eingeleitet wird (vgl. B 20, 28, 30). Auf die jüdischen Namen, die Ämterbezeichnungen und die Interpretation einzelner Stellen kann ich hier nicht eingehen. Siehe den ausführlichen Kommentar von Reynolds & Tannenbaum 1987 sowie die in den vorigen Anmerkungen zitierte Literatur. Reynolds & Tannenbaum 1987: 19-24. Chaniotis 2002. Schlagende Argumente für die späte Datierung des zweiten Textes (A) haben Boterman (1993) und Bonz (1994: 285-291, 5. Jh.) vorgelegt (vgl. Feldman 1993: 577 Anm. 138; Mitchell 1999a: 73). Reynolds & Tannenbaum 1987: 132-140. Ich lasse eine Reihe von Graffiti unerwähnt, die nicht mit Sicherheit als jüdisch anzusehen sind (Reynolds & Tan-

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Angelos Chaniotis einige (vor allem Graffiti) sind später gefunden worden und werden hier kurz vorgestellt. Die jüdischen Zeugnisse befinden sich an mehreren Orten der Stadt, und zwar im Rathaus (Bouleuterion, früher als Odeion bekannt), in der Stätte des Kaiserkultes (Sebasteion), auf dem nördlichen und südlichen Marktplatz, in der Nähe des östlichen Tores, im Stadium sowie in einem Friedhof außerhalb der Stadt.34 Das Rathaus wurde in der Spätantike unter anderem auch für Schaustellungen verwendet; für einige Gruppen von Zuschauern wurden Plätze reserviert, auch für die Hebraioi und deren Älteste (Abb. 3a/b).35 Die Form der Buchstaben, die Existenz der Circusfraktion der Benetoi und der Name Hebraioi (statt Ioudaioi) führen auf das späte 5. oder 6. Jahrhundert n. Chr.36 Es sei noch daran erinnert, daß neun Ratsherren unter den Gottesfürchtigen der älteren jüdischen Stifterinschrift aufgelistet werden, also die Synagoge besuchten. An verschiedenen Orten gibt es rund zwanzig weitere jüdische Inschriften und Graffiti, vor allem Darstellungen jüdischer Kultgegenstände und Symbole – Menoroth (siebenarmige Leuchter), Shofarim (Widderhörner), Ethrogim (Zitrusfrüchte), Lulavim (Palmzweige), Torah; derartige Darstellungen schmückten in der Spätantike in Rom und in den Provinzstädten nicht nur Synagogen, sondern auch jüdische Privathäuser, Läden und Grabsteine.37 Aus einem Privathaus in Aphrodisias stammen Darstellungen von zwei Menoroth, einem Ethrog und einem fragmentarisch erhaltenen Gebet, Gott möge das Haus schützen.38 Eine weitere sorgfältig ausgearbeitete Relief-Darstellung von Menorah und Shofar stammt vielleicht aus der Synagoge selbst.39 Die meisten Darstellungen jüdischer Kultgegenstände stammen aus dem Sebasteion, das – nach der Unterbrechung des Kaiserkultes im frühen

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nenbaum 1987: 135-139 Nr. 7-12; Chaniotis 2002: Anhang II Nr. 5, 24, 25, 2931). Chaniotis 2002. Reynolds & Tannenbaum 1987: 132f. Nr. 1; Roueché 1989: 221-223 Nr. 180 II-III (Platz der Hebraioi, Platz der Blauen, Platz der Ältesten der Juden). Auch die Inschrift Platz der Jüngeren (Roueché 1989: 180 I) im gleichen Raum ist vielleicht mit einer jüdischen Jugendorganisation in Verbindung zu bringen; vgl. Reynolds & Tannenbaum 1987: 132. Reynolds & Tannenbaum 1987: 132; Roueché 1989: 221. Z.B. Noy 1993 und 1995; Fine 1996. Reynolds & Tannenbaum 1987: 133 Nr. 2, 4. Jh.?. Reynolds & Tannenbaum 1987: 133 Nr. 3.

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias Abb. 3a/b: Platzreservierung für die Circusfraktion der Benetoi und für die Juden (Hebraioi) im Rathaus (5. oder 6. Jh. n. Chr.) (Photo und Zeichnung)

4. Jahrhundert n. Chr. – von Händlern besetzt wurde, die zwischen den Säulen der Nord- und Südhalle ihre Läden errichteten. Joyce Reynolds wies auf die Menorah-Darstellung an einer Säule der Südhalle (Abb. 4)40 sowie auf die große Zahl jüdischer Symbole auf einer Marmorplatte hin – darunter mindestens drei Menoroth, eine Kanne, Widderhörner, Ethrogim, Palmzweige und möglicherweise ein Torah-Behälter (Abb. 5).41 1997 registrierte ich auf den Säulen der Nordhalle des Sebasteion sechs weitere Menorah-Darstellungen (Abb. 6)42, die sich sich auf einer Höhe von circa 0,60 bis 1,40 Meter befinden und demnach gut sichtbar waren; eine weite40 Reynolds & Tannenbaum 1987: 134f. Nr. 4. 41 Reynolds & Tannenbaum 1987: 134 Nr. 5. 42 Chaniotis 2002: Anhang II Nr. 7-12; Abb. 4a.

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Angelos Chaniotis re, teilweise eradierte Menorah befindet sich auf der ersten Stufe der nördlichen Halle (zwischen der 13. und der 14. Säule von Osten). Abb. 4: Eine absichtlich eradierte Menorahdarstellung in der alten Stätte des Kaiserkultes (Sebasteion)

Auch einige andere Graffiti auf den Säulen und dem Fußboden der Süd- und Nordhalle des Sebasteion sind vielleicht mit jüdischer Ikonographie in Verbindung zu bringen: so eine halbfertig gebliebene Rosette mit Vogel in der Nähe einer Menorah-Darstellung und Palmzweige auf dem Boden der Südhalle.43 Man darf annehmen, daß die Läden an den ent43 Chaniotis 2002: Anhang II Nr. 6 und 15. Für diese Motive vgl. z.B. Frey 1936:

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias sprechenden Stellen Juden gehörten, die dadurch nicht nur bei den eigenen Leuten Werbung machten, denn sie waren auch bei Nichtjuden z.B. als Metzger sehr geschätzt.44 Der Kontext führt zu einer Datierung in die Zeit nach der Unterbrechung des Kaiserkultes (2. Hälfte des 4. Jh. oder später). Große Darstellungen von Menoroth sieht man ferner auf zwei Säulen der Westhalle der Südagora auf einer Höhe von 1,50 bzw. 1,80 Meter, die von dem Mäzen Albinus im späten 5. Jahrhundert n. Chr. restauriert wurde.45 Abb. 5: Jüdische Symbole auf einer im Sebasteion gefundenen Marmorplatte

An der südlichen Mauer des gleichen Marktplatzes erkennt man ein sehr schlecht erhaltenes Graffito. Den eingeritzten Text las ich 1997 als I, Nr. 95, 101, 148, 152; Frey 1952: II, Nr. 1192 und 1301 (Rosette mit Vogel); Fine 1996: 109 Abb. XXIXa, 131 Abb. XLVIII, 135 Abb. L (Palmzweig). 44 Einige Händler (Gemüsehändler, Metzger usw.) befinden sich auch unter den jüdischen Stiftern der älteren jüdischen Stifterinschrift (B 15, 21, 26-28). 45 Chaniotis 2002: Anhang II Nr. 1-2. Sie befinden sich unter den Akklamationen für Albinus (Roueché 1989: Nr. 83 VII und 84); eine Menorah erkennt man auf dem Photo in Roueché 1989: Tafel XXII 83/84. Zur Restaurierung des Porticus des Tiberius durch Albinus siehe Roueché 1989: 125-136.

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Angelos Chaniotis Abb. 6: Darstellung einer Menorah auf einer Säule der Nordhalle des Sebasteion

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias euche Danieliou (Gebet des Danielios), möglicherweise handelt es sich dabei um das Gebet eines Juden.46 Auf den Sitzplätzen des Stadiums von Aphrodisias befinden sich ebenfalls viele Graffiti, darunter auch drei Darstellungen von Palmzweigen (Lulavim?).47 Menorah-Darstellungen befinden sich ferner auf einem tönernen Gefäß48 und auf einer 1998 in der Nordagora gefundenen Lampe aus dem späten 5. Jahrhundert n. Chr.49 Auch außerhalb der Stadt gibt es jüdische Zeugnisse, beispielsweise wurde 1993 ein Steinblock (Teil eines Grabes?) mit einer Menorah-Darstellung in einer Nekropole bei Gök Tepesi, in der Nähe von Aphrodisias, gefunden.50 Schließlich darf man vermuten, daß eine unter Herodes Agrippa I. geprägte Münze, die als Anhänger getragen wurde51, einem Juden oder einer Jüdin gehörte. Fast alle diese Zeugnisse stammen aus der Zeit zwischen circa 330 und 500 n. Chr. und sind im gesamten bisher untersuchten Stadtareal verstreut. Die Juden und die Sympathisanten des Judentums gehörten einem breiten Spektrum sozialer Positionen und wirtschaftlicher Tätigkeiten an, traten selbstbewußt auf und brachten Zeichen ihrer Präsenz und ihres Glaubens an den Wänden öffentlicher Bauten an. Für sie waren Plätze im Rathaus reserviert (5./6. Jh. n. Chr.). Drei Personen bekannten sich offen als Proselyten (im 5. Jh. n. Chr.?) – trotz des seit 329 n. Chr. geltenden und immer wieder bekräftigten Verbotes der Konversion.52 Die Säulenhallen der entweihten Stätte des Kaiserkultes wurden von jüdischen Händlern okkupiert. Neun Mitglieder des Rates besuchten regelmäßig die Synagoge (4. Jh. n. Chr.).53 Über die Zahl der Juden beziehungsweise über ihren Anteil an der Bevölkerung von Aphrodisias kann man leider nur spekulieren. Geht man aber davon aus, daß die 71 jüdischen Spender der Stifterinschriften eine Minderheit aller Juden von Aphrodisias (vielleicht sogar der Mitglieder nur einer Synagoge) darstellten – etwa die männlichen Mitglieder einiger 46 47 48 49 50

Chaniotis 2002: Anhang II Nr. 3. Chaniotis 2002: Anhang II Nr. 20-22. Chaniotis 2002: Anhang II Nr. 28; Abb. 6. Smith & Ratté 2000: 234f., Abb. 14; Chaniotis 2002: Anhang II Nr. 4. Smith & Ratté 1995: 38f., Abb. 8; Chaniotis 2002: Anhang II Nr. 34. Für Menorah-Darstellungen auf jüdischen Gräbern siehe z.B. Fine 1996: 57-64 Abb. 3.7-9 und 3.11-12. 51 MacDonald 1976: 4 und 19 Nr. 35; Chaniotis 2002: Anhang II Nr. 33. 52 Vgl. Van der Horst 1990: 171; Feldman 1993: 383-415. 53 Juden als Mitglieder des Rates in Kleinasien: Ameling 1996: 53.

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Angelos Chaniotis wohlhabender Familien –, darf man nach eher bescheidenen Hochrechnungen mit 100 bis 200 jüdischen Familien in der spätantiken Stadt rechnen.54 Viele Bewohner sympathisierten mit dem Judentum, denn unter den Spendern der beiden Stifterinschriften erscheinen auch 54 Gottesfürchtige. Einige dieser Zeugnisse (z.B. die ältere jüdische Stifterinschrift, vielleicht aber auch die Graffiti im Sebasteion) stammen aus der Zeit vor dem Tod Julians (363 n. Chr.), in der sich die Situation der Juden im allgemeinen verbessert hatte.55 Andere aber (die spätere Stifterinschrift und die Graffiti im Rathaus) datieren aus einer Periode, in der die kaiserliche Gesetzgebung zur Diskriminierung der Juden in jeglicher Form beitrug: So durften getaufte Juden zu ihrem alten Glauben nicht zurückkehren; die Beschneidung von Christen war streng verboten; jüdische Bräuche (z.B. die Verbrennung einer Puppe am Purimfest) wurden nicht geduldet; Juden wurden nach und nach aus dem öffentlichen Dienst entlassen.56 Auch in Aphrodisias lassen sich Anzeichen von Verfolgung und Diskriminierung finden, aber erst in relativ später Zeit: Der Name der Hebraioi wurde im Rathaus eradiert,57 aber wohl nicht vor dem 6. Jahrhundert n. Chr.; auch einige Menorah-Darstellungen weisen Spuren der Zerstörung auf (Abb. 4). Das selbstbewußte Auftreten der Juden in Aphrodisias vom 4. bis zum späten 5. Jahrhundert n. Chr. wird vom ebenso selbstsicheren Gebaren einer anderen, von der Zentralgewalt immer weniger geduldeten Gruppe begleitet: der Heiden.58 Sie bildeten in der Stadt der Aphrodite eine starke, aber ebenso uneinheitliche Gruppe wie die durch dogmatische Konflikte gespaltenen Christen. Ob sie der Entweihung ihrer heiligen Stätten widerstandslos zugesehen haben, wissen wir nicht. An anderen Orten, z.B. in Alexandrien, resultierten entsprechende Aktionen der Christen in blutigen Auseinandersetzungen.59 Die Inschriften zeigen aber, daß politisch einflußreiche und philosophisch gebildete Männer Aphrodisias zu einem der wichtigsten heidnischen Zentren Kleinasiens machten. Ich beschränke 54 Vgl. Botermann 1993: 190. Nach den Schätzungen von Ameling (1996: 30) war der Bevölkerungsanteil der Juden in Kleinasien nicht größer als 5 Prozent. Für Antiochia siehe Hahn 1996: 62f. (ca. 15 Prozent). 55 Stemberger 1987: 45-48; Van der Horst 1990: 176-181; Botermann 1993: 191f. 56 Botermann 1993: 190f.; Dassmann 1996: 141-144; Noethlichs 1996: 101-117; Haas 1997: 301-316; Maraval 1997: 10f., 25f., 43. 57 Reynolds & Tannenbaum 1987: 133, Abb. 7. 58 Für die Heidenverfolgung allgemein siehe Dassmann 1996: 102-118; die Heidengesetzgebung: Noethlichs 1998. 59 Trombley 1993: I, 123-147; Haas 1997: 281.

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias mich auf wenige charakteristische Zeugnisse.60 Der Wortschatz einer Weihinschrift für Kaiser Honorius weist z.B. provokativ heidnische Züge auf: »Flavius Honorius, von göttlicher Abstammung, vom Gott geliebt, der angesehenste. Der clarissimus Flavius Eutolmius Tatianus, Praefectus Praetorio, hat seine Statue nach Durchführung des gebräuchlichen Weih-[=Opfer]ritus geweiht.«61

Der Dedikant, der bekannte Heide und hohe Amtsträger (Prätorianerpräfekt im Östlichen Reich, 388-392 n. Chr.) Flavius Eutolmius Tatianus, weist ganz im Sinne der alten Tradition auf die göttliche Abstammung (theia gone) des Kaisers hin; die Inschrift gibt davon Kunde, daß die Statue des Kaisers nach dem gebräuchlichen Opferritus geweiht wurde (tei sunethei kathosiosei aphierosen) – ein Hinweis auf eine wenige Jahre zuvor ausdrücklich verbotene Handlung. Der Name des Eutolmius ist von seinem Nachfolger in Inschriften eradiert worden62, aber sein Enkel restaurierte die Statue, und es gibt Hinweise darauf, daß die Bewohner Tatianus (wie auch andere heidnische Statthalter von Karien) in guter Erinnerung behielten.63 Einhundert Jahre später, im späten 5. Jahrhundert n. Chr., lange Zeit nach dem Tod des letzten heidnischen Kaisers und dem Verbot der heidnischen Tempel durch Kaiser Theodosius II., wurden in einem großen Haus nördlich des Tempels, vielleicht dem Sitz eines heidnischen Kultvereins, Inschriften aufgestellt, die Aphrodite preisen.64 Das von den Kirchenvätern verdammte Fruchtbarkeitsfest Maioumas wurde noch um 450 n. Chr. in Aphrodisias gefeiert, wobei kein Geringerer als der Statthalter Dulcitius als Maioumarches für diese Veranstaltung verantwortlich war.65 Aus noch späterer Zeit (um 480 n. Chr.) stammt ein Ehrenepigramm

60 Für die Heiden von Aphrodisias siehe die Studie von Trombley 1994: II, 5273, besonders 58-69 (für die große Zahl von Heiden unter den vornehmen Familien von Aphrodisias); vgl. Robert 1948, 115-126; Rouché 1989: 47-52, 8597. 61 Roueché 1989: Nr. 25. 62 Roueché 1989: Nr. 25-27. 63 Trombley 1994: II, 53f. 64 Roueché 1989: Nr. 47. 65 Roueché 1989: Nr. 40; Trombley 1994: II, 54f.; Merkelbach & Stauber 1998: I, 236 (Übersetzung). Für das Fest in der Spätantike siehe Mentzu-Meimare 1996.

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Angelos Chaniotis für Pytheas, einen der mächtigsten Männer der Stadt, aufgestellt an einem öffentlichen Ort: »Stadt der paphischen Göttin und des Pytheas! Sie blickt als Göttin gnädig auf die Stadt; er führt ein Bauwerk nach dem anderen auf, spendet reichlich von seinem Reichtum und gründet Gaben spendend [die Stadt neu].«66

Der Verfasser erinnert daran, daß seine Heimat nicht die Stadt des Kreuzes, sondern der Aphrodite ist. Die Göttin wird für die Unterstützung ihrer Stadt gelobt, Pytheas für seine öffentlichen Werke. In diesem Kontext wird das archaisch anmutende Wort aparchomenos (wortwörtlich »ein Erstlingsopfer darbringen«) verwendet. Pytheas’ Werke werden also als Widmung an Aphrodite bezeichnet. In diese Stadt und ihr geistiges Umfeld kam der bedeutende heidnische Philosoph Asklepiodotos von Alexandrien um 450 n. Chr. Er fand eine prosperierende Gruppe Gleichgesinnter vor, ließ sich nieder und heiratete die Tochter eines der führenden Männer der Stadt, des gleichnamigen Philosophen Asklepiodotos. In der Nähe des Sebasteion kam ein großes Haus des 5. oder 6. Jahrhunderts n. Chr. zutage, das mit Bildnissen der größten griechischen Philosophen geschmückt war, darunter Pythagoras, Apollonios, des Wundertäters von Tyana und eines bärtigen Mannes, der vielleicht mit Asklepiodotos von Aphrodisias (oder seinem Schwiegersohn) identifiziert werden kann; in diesem Falle wäre das Haus Sitz der philosophischen Schule des Asklepiodotos.67 Von der Tätigkeit der beiden Asklepiodotoi in Aphrodisias berichtet Damaskios in der Vita des Isidoros.68 Asklepiodotos von Alexandrien erfand unter anderem Maschinen (mechanemata) für die spektakuläre Durchführung heidnischer Kulte, verfaßte Hymnen, hatte Visionen und vollbrachte Wunder.69 Aus Aphrodisias stammt ferner ein Bildnismedaillon, das wahrscheinlich die 415 n. Chr. vom christlichen Mob ermordete heidnische Philosophin Hypatia dar66 Roueché 1989: Nr. 56; Trombley 1994: II, 61f.; Smith 1999: 167f.; Übersetzung von Merkelbach & Stauber 1998: I, 244. 67 Smith 1990 und 1991. 68 Siehe die neue Ausgabe der Fragmente durch Athanassiadi 1999: 202-233, 248f., 284f. Nr. 80-83, 85-87, 90f., 93, 95, 103, 122, mit Kommentar (348f.); vgl. Robert 1948: 115-126; Roueché 1989: 85-93; Trombley 1993: I, 12, 42-44, 79, 81, 84, 88, 94; Trombley 1994: II, 5-7, 15, 20f., 24, 26, 47, 58, 60-62, 67, 72. 69 Athanassiadi 1999: 218-221, Fragment 87.

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias stellt.70 Alle diese Dokumente sind nicht lediglich Zeugnisse heidnischer Götterverehrung, sondern Belege einer offenen Herausforderung der antipaganen Gesetzgebung.

3. Frontenbildung im spätantiken Aphrodisias: Symbole, Schlagworte, Personennamen War nun Aphrodisias ein Paradies religiöser Toleranz? Alles andere als dies. Welche Rolle die religiösen Auseinandersetzungen im Leben der Aphrodisieis spielten, geht aus den Graffiti und den Inschriften deutlich hervor. In der Zeit, in der die Juden ihre religiösen Symbole einritzten, füllten die Christen die Wände öffentlicher Bauten nicht nur mit Kreuzen, um die Dämonen zu vertreiben, sondern auch mit Gebeten und Schlagworten gegen ihre Feinde: »Licht und Leben« lesen wir an zwei Wänden, »es gibt nur einen einzigen Gott« an einer anderen.71 In den Akklamationen für den Mäzen Albinus im frühen 6. Jahrhundert n. Chr. beteuern die Christen: »In der ganzen Welt gibt es nur einen Gott«; offensichtlich aber waren nicht alle dieser Meinung. »In den Fluß mit deinen Feinden; der große Gott [im übrigen ein aus dem Heidentum stammender Ausdruck] möge dies tun.«72 Ähnliche Gedanken drücken die Akklamationen für Kaiser Anastasius (491-518 n. Chr.) aus: »Sohn des Gottes, gib ihm Leben! Der Glaube der Christen siegt!«73 Das sind aggressive Parolen einer Gemeinschaft, die keine andere neben sich duldete und nicht eher ruhte, bis sie die Anhänger anderer Religionen eliminiert hatte. Aus diesen Kampfparänesen spricht ein Christentum der Intoleranz, die auch den jeweils Andersdenkenden innerhalb der eigenen Reihen galt.74 Die Akklamationen der Christen setzen den Andersdenkenden voraus: ihr Symbol, das Kreuz, richtet sich sowohl gegen die religiösen Symbole der Juden, von denen bereits die Rede war, als auch gegen die der Heiden. Letztere sind Darstellungen der Doppelaxt (Labrys) – Attribut des karischen Zeus – die auch die Münzen der mit Aphrodisias in einer Sympolitie ver-

70 71 72 73 74

Hafner 1998: 31-34. Roueché 1989: Nr. 139, 140, 144. Roueché 1989: Nr. 83; Trombley 1994: II, 57. Roueché 1989: Nr. 61; Trombley 1994: II, 57. Dassmann 1996: 118-135.

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Angelos Chaniotis Abb. 7: Eine (später teilweise eradierte) Darstellung einer Doppelaxt auf der Wand einer Zisterne

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias bundenen Siedlung Plarasa schmückte.75 Derartige, flüchtig eingeritzte und manchmal später teilweise eradierte Darstellungen, fand ich an mehreren öffentlichen Bauten der Stadt: auf dem Boden des Tetrapylon, des Osttores des heiligen Bezirks der Aphrodite, auf der Wand einer Zisterne in der Nähe der hadrianischen Bäder (Abb. 7) und im Rathaus (auf den mit Stuck bedeckten Wänden der kleinen Räume hinter der Bühne). Derartige Zeichnungen lassen sich nicht über ihre Form, sondern nur aus ihrem Kontext datieren. In allen Fällen finden sich die Zeichnungen von Doppeläxten in der unmittelbaren Nähe anderer religiöser Symbole: die Doppeläxte auf dem Boden des Tetrapylon befinden sich neben einem großen, eleganten Kreuz. Auf der Wand der Zisterne in der Nähe des hadrianischen Bades gibt es in der Nähe der drei Doppeläxte (von denen eine später eradiert wurde) eine Reihe weiterer spätantiker Graffiti: das für die Spätantike charakteristische Schlagwort, das in diesem Fall halbfertig geblieben ist (»Die Tyche der NN siegt«), der spätantike Personenname Patrikios und ein Kreuz; in diesem Fall ist eine Datierung der Doppeläxte auf die Spätantike sehr wahrscheinlich. Das Umfeld führt auch zu der späten Datierung zweier Doppeläxte im Rathaus; denn die mit Stuck überdeckte Wand, auf der sich der eine von ihnen befindet, ist voll mit spätantiken, teilweise christlichen Graffiti des 4. oder 5. Jahrhunderts n. Chr.76 Dieser Zusammenhang legt den Verdacht nahe, daß die Doppeläxte von Heiden eingeritzt wurden, als Reaktion auf das – sehr ähnliche – Symbol der Christen. Eine Konfrontation gleichartiger Symbole kennt man auch aus Ägypten, wo das ägyptische Kreuz(Ankch), Symbol der Unsterblichkeit, von den Christen adoptiert wurde.77 Die Bedeutung der religiösen Identität für die Bewohner von Aphrodisias ist in diesen Graffiti evident. Die Inschriften sind nicht isoliert angebracht und dürfen deshalb auch nicht unabhängig voneinander betrachtet werden, oft befinden sie sich gewissermaßen in einem Dialog. Der Herausbildung klarer Fronten begegnen wir auch im onomasti75 Z.B. Laumonier 1958: Tafel III 1-2, Tafel IX 18. Die Doppelaxt ist allerdings nicht immer als religiöses Symbol zu deuten. Sie kann auch als Symbol von Steinmetzen verstanden werden (z.B. im Grabstein des Bildhauers Maecius Aprilis, eines Christen: Ferrua 1980: VII, Nr. 19054). Eine Doppelaxt findet sich neben Menorah-Darstellungen und Kreuzen auch unter den Graffiti der Steinmetzen im Palast Diokletians in Split (Marin 1994: 208f. Nr. 21, 68, 175, 245, 247, 270, 271, 313, 338, 411, 483, 484). 76 Vgl. Roueché 1989: 245. 77 Trombley 1993: I, 121f.

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Angelos Chaniotis schen Material dieser Zeit. Namensgebung und Namenswechsel sind zwar nicht immer klare Indizien religiöser Zugehörigkeit oder Konversion78, in stark gespaltenen Gesellschaften können sie jedoch durchaus dazu dienen, ethnische, politische oder religiöse Identität zum Ausdruck zu bringen. Dies scheint im spätantiken Aphrodisias der Fall zu sein: Die Namen der Juden und der Christen, bis zu einem gewissen Grade auch der Heiden, verraten eine Manipulation der Namengebung als Ausdruck religiöser Zugehörigkeit. Die jüdischen Stifterinschriften bieten sich für das Studium onomastischer Gewohnheiten an, weil sie viele Namen aus einem geschlossenen Zusammenhang enthalten.79 Bekannt sind 100 Juden (71 Stifter und 29 Väter von Stiftern), von denen drei auch einen zweiten Namen tragen. 39 (möglicherweise 42) Juden tragen biblische Namen80; eine weitere große Gruppe (17 Personen) trägt verhältnismäßig seltene Namen, die mit religiösen und moralischen Werten verbunden sind, wie Liebe, Gottesnähe, die Bereitschaft, Trost zu spenden, gutes Benehmen.81 Viele dieser Namen (Acholios, Amachios, Amantios, Kyrillos, Nektarios, Paregorios, Praoilios) sind in Aphrodisias nur in den jüdischen Stifterinschriften belegt. Viele Namen haben vergleichbare Formen in der jüdischen Onomastik, wie etwa Heortasios (Haggai) und Paregorios (Menahem). Mindestens 56 Prozent der Personen tragen also Namen mit einer stark religiösen Aussage.82 78 Horsley 1987; Roques 1998 (zum Namen Theoteknos). 79 Für die Etymologie der Namen und ihr Verhältnis zur jüdischen Onomastik siehe den ausführlichen Kommentar von Reynolds & Tannenbaum 1987: 93115. 80 Die Zahl in der Klammer verweist auf die Zahl der Belege: Beniamin (1), Eusabbathios (5), Zacharias (1), Iael (1), Iakob (3), Iesseos (1), Ioudas (10), Ioph (?1), Ioseph (3), Ioses (2), Iosouas (1), Manases (1), Paulos (1), Rouben (1), Sabbathios (2), Samuel (4), Symeon (1). Unsichere Fälle: Iason (1, vgl. Jesus), Rufus (1, vgl. Reuben), Serapion (1, vgl. Seraphim). Für diese Tendenz nach dem 4. Jahrhundert siehe Williams 2000: 318. 81 Acholios (1, »ohne Zorn«), Amachios (1, »Friede«), Amantios (1, »Liebe«), Charinos (1, »Gnade«, cf. Hanan), Eusebios (1, »Fromm«), Heortasios (4, »Fest«, cf. Haggai), Kyrillos (1, »Herr«), Nektarios (1, »Nektar«), Paregorios (1, »Trost«, vgl. Menahem), Praoilios (2, »Milde«), Theodoros (1) und Theodotos (1, »Geschenk Gottes«, cf. Jonathan, Nathaniel), Theophilos (1, »vom Gott geliebt«, cf. Eldad). 82 Analoge Tendenzen erkennt man im jüdischen onomastischen Material auch in anderen Regionen der Diaspora, z.B. am Schwarzen Meer (Dan’shin 1996),

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias Eine derartige Übereinstimmung bezüglich der Namensgebung ist im griechischen Osten nicht üblich, nicht einmal unter den Verehrern von Mysterienkulten.83 Die onomastische Homogenität der Juden von Aphrodisias wird noch deutlicher, wenn wir ihre Namen mit denen der Gottesfürchtigen in denselben Inschriften vergleichen. Nur drei unter den 54 Theosebeis haben vom Judentum beeinflußte Namen (Eusabbathios, Ioun?, Iounbalos?); die Namen von nur elf weiteren Gottesfürchtigen verraten vielleicht religiöse oder moralische Werte.84 Bedenkt man nun, daß nur 20 Prozent der (wohl heidnischen) Theosebeis mit religiösen Werten assoziierte Namen haben, so gewinnt man den Eindruck, daß die Juden – zumindest zur Entstehungszeit der jüdischen Stifterinschriften – intensiver als die Heiden das Bedürfnis gespürt haben, den Personennamen als Mittel von Differenzierung und Identifizierung zu verwenden. Spezifisch jüdische Sitten (etwa die fast obligatorische Namensänderung nach einer Konversion) spielten gewiß eine Rolle, wesentlich bedeuin Rom (Noy 1995) und in Kyrenaika (Horbury & Noy 1992). Die restlichen Namen der Juden in den »Stifterinschriften« bringen oft positive Aspekte zum Ausdruck: Anysios (1, »Nutzen«), Eugenios (2, »Adel«), Eukolos (1, »guter Charakter«), Gorgonios (1, »Geschwindigkeit«?), Hilarianos (1, »gute Laune«), Leontios (2, »Löwe«), Oxycholios (4, »Geistreicher«?) und Politianos (1, »guter Bürger«?); sie hängen auch mit Hoffnungen zusammen: Biotikos (1, »Leben«), Euodos (1, »Erfolg«), Eutychios (2, »Glück«2), Kallikarpos (1, »Frucht«), Zosimos (1, »Leben«) und Zotikos (1, »Leben«). Nur zwei Juden tragen von der griechischen Mythologie inspirierte Namen: Achilleus (1) und Iason (1, vielleicht aber nur die hellenisierte Form von Jesus). Wenig sind auch die aus griechischen Götternamen gebildeten Namen: Diogenes (1), Hermes (1, vielleicht aber nur die hellenisierte Form von Ieremias), Serapion (1, vielleicht die hellenisierte Form von Seraphim), Zenon (4). Es gibt schließlich »neutrale« Namen: Ailianos (3), Ammianos (1), Amphianos (1), Antipeos (1), Archidemos (1), Chilas (1), Damonikos (1), Eutarkios (1?), Gemellos (1), Milon (1), Myrtilos (1), Palatinos (1?), Philanthos (1), Philer[-] (1), Rufus (1, das hellenisierte Reuben?) und Severos (1). 83 In der Prosopographie der Priester und Anhänger der ägyptischen Kulte bilden die Personen, deren Namen sich von den Götternamen Isis und Sarapis ableiten, eine unbedeutende Minderheit (Mora 1990: insbesondere II 128-130). 84 Adolios (1, »ohne Zorn«), Aponerios (1, »ohne Boshaftigkeit«), Eupeithios (2, »Gehorsam«), Eutropios (1, »Benehmen«), Gregorios (1, »Wachsamkeit«), Heortasios (1, »Fest«), Meliton (1, »mit süßer Zunge«), Onesimos (1, »Hilfe«), Paramonos (1, »Ausdauer«), Prokopios (1, »Fortschritt«).

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Angelos Chaniotis tender ist jedoch der historische Kontext: Biblische Namen sind in Aphrodisias vor dem 4. Jahrhundert n. Chr. nicht bekannt – nicht weil es keine Juden gab, sondern weil die Juden ihre jüdische Identität vor dieser Zeit nicht zur Schau stellten. Sie trugen einen griechischen oder römischen Namen und verwendeten vielleicht einen zweiten biblischen Namen in ihrem Familienleben oder beim Besuch der Synagoge; nur noch drei Juden der jüngeren jüdischen Stifterinschrift verwenden zwei Namen (Iakob/ Apellas, Ioudas/Zosimos, Samuel/Ailianos), vor dem 4. Jahrhundert n. Chr. waren vielleicht solche Juden in Aphrodisias die Regel.85 Die bewußte, öffentliche Verwendung typisch jüdischer Namen hängt wohl mit der gewachsenen Rolle der religiösen Konkurrenz im spätantiken Aphrodisias zusammen (vgl. unten). Diese Annahme erscheint plausibel, wenn man die Namen der größten Konkurrenten der Juden in dieser Zeit betrachtet, die der frühen Christen. Obwohl bei den Christen der Namenswechsel nach der Konversion üblich, aber keineswegs zwingend war86, verwendete die Mehrheit der uns bekannten Christen von Aphrodisias Namen, die mit ihrer Religion in engem Zusammenhang standen.87 Auch 85 Auch in der Nachbarstadt Hierapolis ist eine große und ins städtische Leben integrierte jüdische Gemeinde bekannt (Miranda 1999). Unter den 76 Juden (2. bis 4. Jh.) tragen nur drei Personen jüdische Namen (zwei Judas, ein Sanbathios); in einem Fall war Judas nur der zweite Name (Hikesios-Judas): Miranda 1999: 136-140. Für die Übernahme griechischer und lateinischer Namen durch die Juden siehe Rutgers 1995: 139-175; Williams 2000: 317f. 86 So trugen einige Christen (4. bis 6. Jh.) heidniche Theophorennamen (die Zahlen beziehen sich auf Inschriften in der Edition von Roueché 1989): Asklepiodotos (175, von Asklepios), Hermias (9? und 74, von Hermes), Heliodoros (106, von Helios). »Neutrale« Namen von Christen (auch von Heiden getragen) sind Alexandros (191), Asterios (113 I), Epiktetos (190), Euphemios (60), Eutychia (172), Konstantinos (117 II), Leon (113 II), Philippos (66) und Tryphon (188). Selbst einige der frühen Bischöfe von Aphrodisias trugen oft heidnische oder »neutrale« Namen (eine Liste bei Roueché 1989: 322f.): Ammonios (von Ammon), Eumenios, Euphemios, Kyros, Ioulianos, Kritonianos, Nonnos, Orthagoras. 87 Im Fall der Christen verbietet das Fehlen eines geschlossenen Fundes wie der jüdischen Stifterinschriften eine Statistik. Erkennungsmerkmale christlichen Glaubens sind etwa christliche stereotype Ausdrücke, Kreuze, Kirchenämter und der Inhalt der Inschrift (z.B. Stifter christlicher Kirchen). Ich gebe einige Namen von Christen vom 4. bis zum 6. Jahrhundert an, die mit dem Christentum, seinen Werten und seinen Heiligen zusammenhängen (die Zah-

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias dies ist wohl als Hinweis auf Frontenbildung anzusehen. Personen, die als Christen zu erkennen sind, nennen sich nach Aposteln, Evangelisten und Engeln (z.B. Ioannes, Loukas, Michael, Petros, Stephanos); ihre Namen erinnern an den Herren (Kyriakos) und an religiöse Werte und kultische Bräuche, wie etwa Iordanes (ein Hinweis auf die Taufe), Athanasios (Erinnerung an die Unsterblichkeit der Seele), Anastasios (Hinweis auf die Hoffnung auf Auferstehung) oder Photios (von phos, Licht). Viel interessanter sind die leichten, aber klaren Änderungen alttradierter Namen, um eine neue religiöse Identität zum Ausdruck zu bringen: Jeder Heide oder Jude kann Theodoros (»Geschenk des Gottes«), Theochares (»Gottesfreude«) oder Theophilos (»Gottesfreund«) heißen. Wer aber Theodokios (leichte Variante des Sinnes »Geschenk Gottes«) und Theophylaktos heißt, ist ein Christ. Dies hat allerdings einige Christen nicht daran gehindert, heidnische Namen wie Asklepiodotos (»Geschenk des Asklepios«) weiterhin zu benutzen. Ein Namensvetter der beiden führenden Heiden von Aphrodisias machte aber durch die Anbringung eines Kreuzes auf seiner Inschrift klar, daß er trotz seines Namens Christ war.88 Wenn Symbole und Namen dafür benutzt werden, um religiöse Gruppen voneinander zu trennen und die Fronten zu schärfen, stellen auch gewaltsame Konflikte keine Überraschung mehr dar. Und diese sind auch in Aphrodisias bezeugt. Eine Akklamation des 5. Jahrhunderts n. Chr. nennt eine Gruppe mit dem Namen »Pytheaniten«, Männer oder Gefolgsleute von Pytheas, dem wir bereits als einem prominenten heidnischen Staatsmann und Wohltäter begegnet sind.89 Eine fragmentarische Inschrift derselben Zeit lobt einen unbekannten Mann, der die Gemeinde vom drohenden Bürgerkrieg (emphylion derin) befreit hatte.90 Aphrodite wird ebenfalls genannt, wobei der Zusammenhang jedoch unklar bleibt. War der Konflikt religiös motiviert? Und wenn ja, handelt es sich um einen Konflikt zwilen beziehen sich auf Inschriften in der Edition von Roueché 1989): Anastasios (94-95), Athanasios (163, 171, 181 VI), Ioannes (73, 103, 171, 205), Iordanes (156) Kyriakos (93, 168, 189), Loukas (187), Michael (119, 124), Petros (118 I), Philippos (122), Photios (68-70), Stephanos (120, 121 I, 155), Theochares (102), Theodokios (174), Theodoretos (92), Theodoros (114-115, 169, 192), Theoktistos (202, 204), Theophanes (134 III), Theophilos (117 I), Theophylaktos (132), Theopompos (89), Theopropios (165-166); vgl. Eudoxios (Roueché 1989: 323; »der mit dem korrekten Glauben«). 88 Roueché 1989: Nr. 175; Trombley 1994: II, 70. 89 Vgl. Roueché 1989: 96. 90 Roueché 1989: Nr. 64; Trombley 1994: II, 68.

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Angelos Chaniotis schen Christen und Heiden oder zwischen Monophysiten und orthodoxen Christen? Wir wissen es nicht, es fällt lediglich auf, daß die Inschrift mit einem Blatt und nicht, wie andere Texte dieser Zeit, mit einem Kreuz dekoriert ist – ein religiöses Symbol wird bewußt vermieden. Die in syrischer Sprache erhaltene Vita des Severus des Mönchs Zacharias hilft uns vielleicht, diesen Bürgerkrieg zu identifizieren. Zacharias zeichnet ein beeindruckendes Bild von den Hoffnungen der Heiden von Aphrodisias, die um 488 n. Chr. noch an einen Sieg über den christlichen Kaiser Zenon glaubten. Dieser Kaiser war um einen Ausgleich zwischen den als Häretiker verurteilten Monophysiten und den Orthodoxen bemüht, aber seine Politik und sein Edikt (Henotikon, 482 n. Chr.) stießen in den Provinzen auf orthodoxen Widerstand. Diese Kontroverse bot die Gelegenheit für eine politisch motivierte Revolte unter Illus und Leontius in Kleinasien (ca. 482-488 n. Chr.). An einigen Orten, z. B. in Alexandrien und Aphrodisias, bildeten die Gegner des Kaisers – orthodoxe Christen und Heiden – eine opportunistische Allianz.91 In diesem historischen Kontext, nach dem Scheitern der Revolte, wendet sich in der Vita des Severus Paralios von Aphrodisias, der gerade Christ geworden ist (vgl. u.), an seine Brüder und früheren Glaubensgenossen, die weiterhin das Christentum ablehnen: »Habt ihr vergessen, wie oft wir in Karien den heidnischen Göttern Opfer dargebracht hatten, als wir diese angeblichen Götter darum baten, uns zu verraten, ob wir Kaiser Zenon besiegen würden? Wir nahmen die Innereien der Opfertiere heraus und untersuchten sie mit Hilfe der Magie, als wir Leontius, Illus, Pamprepius und die anderen Aufständischen unterstützten. Wir waren damals Empfänger von vielen Orakelsprüchen, die uns versprachen, daß Zenon ihnen nicht widerstehen würde; daß die Zeit gekommen sei, um das Christentum zu beseitigen und den heidnischen Kulten wieder ihre alte Macht zu geben.«92

Wir wissen, wer aus diesem Kampf als Sieger hervorging: die Christen okkupierten die heidnischen Tempel und ritzten ihre Symbole überall in der Stadt ein (Abb. 8). Irgendwann im 6. Jahrhundert n. Chr. wurde der Name der Hebraioi vom Bouleuterion absichtlich eradiert; ein ähnliches Schicksal hatten einige Darstellungen von Menoroth und Doppeläxten (Abb. 4 und 7) sowie heidnische Begriffe in Inschriften (z.B. der Titel »hoher Priester« in Roueché 1989: Nr. 11). Die Philosophenköpfe im spätantiken Haus 91 Trombley 1994: II, 21f.; Haas 1997: 319-327. 92 Vgl. Bowersock 1990: 3; Trombley 1994: II, 22.

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias Abb. 8: Kreuze und christliche Graffiti auf den Wänden des in eine christliche Kirche umgebauten Aphroditetempels

wurden abgeschlagen, die Statuen der Aphrodite zerstört. Auch der nun unliebsam gewordene Name Aphrodisias fiel der damnatio memoriae an111

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Angelos Chaniotis heim. Im 7. Jahrhundert n. Chr. wurde die Stadt in Stauropolis (»Stadt des Kreuzes«) umbenannt und nicht nur der Name der Göttin, sondern auch der frühere Name aus älteren Inschriften getilgt.93

4. Die religiösen Grenzen überwinden Neben der Konfrontation, den Spannungen und blutigen Konflikten gibt es aber auch Hinweise auf wechselseitige Kontakte und Einflüsse. Christen und Juden benutzten häufig dieselben Namen für ihre Organisationen (z.B. den Begriff dekania)94, oft die gleichen Personennamen, die gleichen Formen religiösen Ausdrucks und religiöser Selbstdarstellung. Das Wort euche, das die Heiden im Sinne von »Gelübde« (im Akkusativ oder in der Formel kat’ euchen) verwendeten, findet man sowohl in jüdischen als auch in christlichen Inschriften (stets im Nominativ) im Sinne von »Gebet«.95 Die Akklamation Theos Boethos (»Gott hilft«, bzw. »Gott möge helfen«) findet man – zwischen Kreuzen – in christlichen Graffiti, mit denselben Worten fängt aber auch die jüngere der beiden jüdischen Stifterinschriften an.96 Heiden und Juden bezeichnen ihren Gott als Theos Hypsistos (den »höchsten Gott«); aus diesem Grund ist es oft nicht möglich, Weihungen an den Theos Hypsistos Juden oder Heiden zuzuweisen.97 Manchmal beobachten wir den Gebrauch analoger, wenn auch nicht identischer Begriffe – indem sie an das Bekannte erinnern, distanzieren sie sich gleichzeitig von ihm. Eine jüdische Gruppe in Aphrodisias bezeichnet sich selbst als die philomatheis (»Freunde des Lernens, des Studiums«), ein Begriff, der sehr stark an die Bezeichnung einer christlichen Gruppe, der philoponoi (»Freunde der Mühe«) erinnert.98 Die Grenzen zwischen Heiden, Chri93 Z.B. Roueché 1989: Nr. 42. 94 Er wird in der jüngeren jüdischen Stifterinschrift verwendet. Für den Vorsitzenden einer christlichen Dekania (archidekanos) siehe Roueché 1989: Nr. 188. 95 Beispiele bei Reynolds & Tannenbaum 1987: 138. Wenn das Kreuz fehlt, kann man nicht mit Sicherheit sagen, ob die betreffende Inschrift von einem Juden oder einem Christen aufgezeichnet wurde. 96 Bonz 1994: 289. 97 Für dieses Problem siehe Reynolds & Tannenbaum 1987: 138f.; Trebilco 1991: 127-144; Mitchell 1998 und 1999b. 98 Zu den Philoponoi in Alexandrien siehe Trombley 1994: II, 1-51. Philoponoi sind auch in Aphrodisias bezeugt: Roueché 1989: Nr. 187 mit Kommentar; vgl. Trombley 1994: II, 69.

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias sten und Juden waren nicht immer klar und fest umrissen. Abgesehen von den gelegentlichen und offenkundig opportunistischen Bündnissen, gab es auch einen tiefgreifenderen Austausch, der zum Schluß anhand einiger Beispiele erläutert werden soll. Für den Kontakt zwischen Juden und Heiden sind die drei Proselyten und die 54 Gottesfürchtigen der jüdischen Stifterinschriften Beweis genug. Aber auch Christen folgten im 4. Jahrhundert n. Chr. der Anziehungskraft des Judentums und besuchten die Synagoge – zur großen Bestürzung der Kirchenväter.99 Mitglieder christlicher Familien sind vielleicht ebenfalls unter den Gottesfürchtigen der älteren jüdischen Stifterinschrift vertreten. Ein Theosebes hat den charakteristisch christlichen Namen Glegorios, gleich Gregorios (von grergorein, »wachsam sein«, um keine Sünde zu begehen).100 Es ist verlockend zu mutmaßen, daß Gregorios als Christ (oder Mitglied einer christlichen Familie) die Synagoge besuchte. Auch in Philadelpheia würde man zwei Theosebeis, Stifter der jüdischen Synagoge, allein aufgrund ihrer typisch christlicher Namen – Eustathios (»der in seinem Glauben Standfeste«) und Athanasia (»die an die Unsterblichkeit der Seele Glaubende«) für Christen halten; vielleicht waren sie es auch – und nicht Heiden oder gar Juden.101 Paralios von Aphrodisias ist ein gutes Beispiel für die Überwindung religiöser Grenzen innerhalb einer Familie im späten 5. Jahrhundert n. Chr. Er entstammte einer heidnischen Familie und wurde – wie seine drei Brüder – entsprechend aufgezogen. Sein ältester Bruder wurde während 99 Van der Horst 1990: 176-181; Trebilco 1991: 27-32; Feldman 1993: 356-358, 369382, 383-415; Haas 1997: 288f., 296-316; Horbury 1998; Rutgers 1998: 220224. Für die Konfrontation zwischen Christentum und Judentum siehe Neusner 1991: 30-92; Dassmann 1996: 137-141; Castritius 1998. Ein frühes Zeugnis für die Konkurrenz zwischen Juden und Christen ist Justins Dialog (um 160): Stanton 1998. Rutgers (1998: 224-227) betont zu Recht, daß das Judentum großen Einfluß ausübte, aber auch Empfänger von fremdem Einfluß war; vgl. Rajak 1998; White 1997: 25f. 100 Bei 74 Belegen des Namens Gregorios/Gregoria (Chaniotis 2002) findet man nur eine einzige Jüdin: Frey 1952: II, Nr. 927. Für gregorein in der christlichen Literatur siehe Lautenschlager 1990: 39-42. 101 Frey 1952: II, Nr. 754. Trebilco (1991: 162) hält sie für Juden. Beide Namen sind sehr verbreitet unter den Christen. Es gibt einen einzigen Beleg für Athanasios/Athanasia im jüdischen Kontext (Frey 1952: II, Nr. 796; vielleicht auch Noy 1995: II, Nr. 400) und zwei Belege für Eustathios/Eustathia (Frey 1952: II, Nr. 804 und 813).

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Angelos Chaniotis eines Besuches in Alexandrien Christ (mit dem charakteristisch christlichen Namen Athanasios) und ließ sich im Kloster von Enaton nieder. Paralios machte kurz darauf die lange Reise nach Ägypten, um zu überprüfen, ob im Isistempel tatsächlich Wunder geschahen; von dieser Reise ist aber auch er als Christ zurückgekehrt. Zacharias’ »Leben des Severus« schildert seine Bemühungen, die beiden anderen Brüder (Demochares und Proklos), überzeugte Anhänger der alten Religion, für das Christentum zu gewinnen.102 Ein weiteres Beispiel religiöser Komplexität in ein und derselben Familie liefert uns ein gewisser Polychronios, Stifter einer Kultstätte (hagiasma) im späten 3. oder frühen 4. Jahrhundert n. Chr. (Monumenta Asiae Minoris Antiqua VIII Nr. 457): »Ich, Polychronios, der Schwiegersohn der hohen Priesterin, habe diese Kultstätte [hagiasma] dem Gott in Erfüllung eines Gelübdes geweiht.«

Polychronios hebt hervor, daß er Schwiegersohn einer Priesterin war, also mit Sicherheit einer heidnischen Frau; er verwendet auch die heidnische Weihungsformel euxamenos (in Erfüllung eines Gelübdes). Das Objekt seiner Widmung trägt aber eine vor allem aus dem Alten Testament (z.B. Amos 7:13) bekannte und von den Christen gelegentlich verwendete Bezeichnung (z.B. Supplementum Epigraphicum Graecum XXIX Nr. 1227): hagiasma. Es fällt ferner auf, daß der Empfänger der Dedikation ein nicht namentlich genannter Gott ist (toi theoi). War der Schwiegersohn der Hohepriesterin des Kaiserkultes vielleicht ein Sympathisant des Judentums? Daß den Namen Polychronios (»langes Leben«) zwei Gottesfürchtige in der älteren jüdischen Stifterinschrift trugen (B 42 und 45), hilft uns leider nicht, diese Vermutung zu bestätigen. Eine wechselseitige Beeinflussung von Ideen läßt sich auch in der Verwendung desselben religiösen Vokabulars durch Heiden, Christen und Juden beobachten; dies macht es so schwer, bestimmte Zeugnisse der jeweils einen oder anderen Gemeinde zuzuweisen. Aus Aphrodisias kennt man beispielsweise zwei Weihungen an Theos Hypsistos.103 Die Epiklese Hypsistos (»der Höchste«, aber auch der Gott der Anhöhen) ist für Zeus gut belegt; die gleiche Epiklese verwenden aber auch die Theosebeis104 und die Juden für ihren Gott – in Texten, die in griechischer Sprache geschrieben sind. Dies macht es unmöglich, die beiden Widmungen vom Griechentum 102 Trombley 1994: II, 3-28, 47-50, 60-68. 103 Reynolds & Tannenbaum 1987: 138f. Nr. 11-12. 104 Mitchell 1999b.

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias beeinflußten Juden oder von henotheistischen Tendenzen gelenkten Heiden zuzuweisen. Ähnlich wurde der Ausdruck Pantokrator (»der allherrschende Gott«) von Juden, Christen und Heiden gleichermaßen verwendet.105 Noch deutlicher begegnen uns diese Schwierigkeiten im Fall der Widmung eines gewissen Flavius Eusebios (ca. 325-350 n. Chr.): »An den Gott, der die Gebete erhört. Flavius Eusebius, ehemaliger Primipilarius (Soldat), hat das erste und zweite Interkolumnium aus den Geschenken des Gottes gestiftet.«106

Der Name Eusebios kann christlich oder jüdisch sein. Eusebios verwendet den typischen jüdischen Ausdruck »aus den Geschenken des Gottes«, der aber auch in christlichen Texten gelegentlich vorkommt.107 Eusebios kann schwerlich Jude gewesen sein, da er Soldat (primipilarius) war; eine Konversion nach der Entlassung aus der Armee ist jedoch nicht auszuschließen. Die Sache wird noch rätselhafter, wenn wir den Adressaten seiner Widmung betrachten: »An den Gott, der zuhört«. Dieser Ausdruck (Theos Epekoos) wird in der Regel im Zusammenhang mit heidnischen Göttern verwendet; die Christen benutzten ihn nie; sichere jüdische Zeugnisse gibt es nicht.108 Haben wir es also mit einem Juden zu tun, der einen christlichen Namen trägt, seinen Gott aber mit einer heidnischen Formel anredet? Oder mit einem Theosebes bzw. einem vom Judentum beeinflußten Heiden mit einem christlichen Namen? Oder mit einem Christen, der jüdische und heidnische Redewendungen benutzt? Die Tatsache, daß wir diese Fragen wahrscheinlich nie beantworten werden können, schmälert indes den Wert dieses Textes als Zeugnis religiöser Kommunikation keineswegs. Ähnliche Zeugnisse lassen sich leicht vermehren. Ein Epigramm lobt den Statthalter Flavius Ampelius, der ein Brunnenhaus beim Osttor des Marktplatzes um 450 n. Chr. errichten ließ. Obwohl ein Kreuz verdeutlicht, daß der Stifter Christ war, entstammen die im Epigramm verwendeten Bilder der heidnischen Mythologie: »Wir Nymphen wissen Dank dem Kenner der Gesetze und lieben Vater seiner Amme [seiner Stadt] Ampelius, weil er diesem von Palmen umgebenen Ort Staunen 105 Rajak 1998: 232. 106 Reynolds & Tannenbaum 1987: 136f. Nr. 9; Roueché 1989: Nr. 10; Rajak 1998: 236f. 107 Vgl. White 1997: 39-41. 108 Vgl. Roueché 1989: 23-25.

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Angelos Chaniotis und herrliche Schönheit gegeben hat, damit einer, der sein Auge auf das Wasser richtet, immer ihn und den Platz und die Nymphen hell besinge. Diese Verse hat geschrieben der Rhetor Pythodoros aus Tralleis.«109

Ampelius ist auch sonst als Christ bekannt110, während Pythiodoros (»Geschenk des Apollon Pythios«), der Verfasser des Epigramms, unter Umständen Anhänger der griechischen Religion war.111 Eine Badeanlage, ursprünglich dem Kaiser Hadrian, den olympischen Göttern und der Aphrodite geweiht, trug noch im 6. Jahrhundert n. Chr. den heidnischen Namen »das olympische Bad« (Olympion loutron).112 Die mit einem Kreuz versehene Grabinschrift für Iordanes (Träger eines charakteristisch christlichen Namens) verwendet eine aus heidnischen Inschriften bekannte Formel: baskanos herpase Moire113; heidnische Elemente in christlichen Grabinschriften sind im übrigen in der Spätantike sehr verbreitet, und die Übernahme des geistigen und kulturellen Erbes der griechischen, heidnischen Antike durch das Christentum läßt sich nicht nur in Aphrodisias belegen.114 Die religiösen Unklarheiten, Zwei- und Vieldeutigkeiten und Ambivalenzen dieser Zeit werden schließlich in einigen Grabinschriften vom späten 4. bis zum frühen 6. Jahrhundert n. Chr. offenkundig, die auf die Unsterblichkeit der Seele anspielen, nämlich auf die Idee, daß der Verstorbe109 Roueché 1989: Nr. 38; Trombley 1994: II, 56; Übersetzung von Merkelbach & Stauber 1998: I, 232. 110 Roueché 1989: Nr. 42. 111 Trombley 1994: II, 56. 112 Roueché 1989: Nr. 87. 113 Roueché 1989: Nr. 156, 5./6. Jh. 114 Bowersock 1990; Mastrocinque 1993; Mathews 1993. Ein lehrreiches Beispiel aus Amisos ist vor kurzem veröffentlicht worden (Marek 2000). Eine spätantike Lobrede für den Wohltäter Erythrios fängt mit den Worten Agathei Tychei an (eigentlich eine heidnische Akklamation), flankiert von zwei Kreuzen; dann wird aber erklärt, daß für das angemessene Lob des Erythrios Epigramme erforderlich wären, die aus den Orakelversen der Pythia bestehen; der Text schließt mit einem Gebet an den Gott der Christen (»Allmächtiger Herr, bewahre den Wohltäter [...], indem Du dem göttlichen Mann Deine Gnade erweist«). Für mythologische Motive in frühgriechischen Epigrammen siehe auch Merkelbach & Stauber 1998: I, 304, 307, 309 (Ephesos), 360 (Hypaipa); vgl. Lattimore 1942: 301-340. Für ähnliche Ambivalenzen im spätantiken Ägypten und die Schwierigkeiten, die religiöse Zugehörigkeit zu bestimmen, siehe Vinzent 1998: 46-53.

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias Abb. 9: Der Grabstein des heidnischen Philosophen Asklepiodotos (um 500 n. Chr.): »Asklepiodotos ist nicht gestorben und hat den Fluß des Acheron nicht gesehen, sondern er ist im Olymp ...«

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Angelos Chaniotis ne weiterlebt, sich den Sternen, den Olympischen Göttern oder den Seligen angeschlossen hat (Abb. 9).115 Dieser Gedanke läßt sich in die klassi115 Die meisten dieser Texte (Nr. 3-6) hat bereits Trombley (1994: II, 61-63) zusammengestellt. Ich zitiere die Texte in der Übersetzung von Merkelbach & Stauber 1998: 1) Grabepigramm für den heidnischen Rhetoriklehrer Eupeithios im späten 4. Jahrhundert (Merkelbach & Stauber 1998: I, 239; für seine Tätigkeit s. auch Roueché 1989: Nr. 33; Trombley 1994: II, 60): »Berühmte Bauwerke hast du der Stadt gegeben, du Heros, lebendes Abbild der Frömmigkeit, an dem Gott seine Freude hat [oder die Götter ihre Freude haben]; deshalb wohnst du, Eupeithios, nun auch am Himmelsgewölbe, nachdem du deine Seele nach oben gehaucht hast, als du den Tag des März im Spiel begingst.« 2) Grabepigramm für Klaudia im 4. oder 5. Jahrhundert (Roueché 1989: Nr. 153b; Merkelbach & Stauber 1998: I, 250): »Klaudia, die in frommen Werken, welche man immer erinnern wird, blühte, ist zum Himmel empor aufgebrochen, aber die Schicksalsgöttin hat hier die Gestalt der Verschiedenen mit ihrem Gatten im Grab zusammengeführt.« 3) Fragmentarisches Epigramm für ein achtzehnjähriges Mädchen, um 500 (Roueché 1989: Nr. 154; vgl. Trombley 1994: II, 62f.): »Die Seele verließ den Körper [...] zum heiligen Ort der Seligen [...]. Ihre Seele lebt zusammen mit den Göttern.« 4) Grabepigramm für den Staatsmann und Wohltäter Pytheas, um 500 (Anthologia Graeca 7,690; Merkelbach & Stauber 1998: I, 245; vgl. Trombley 1994: II, 62): »Nicht einmal als Gestorbener hast du deinen weltweiten großen Ruhm verloren, sondern all das Glänzende deines Wesens ist alles erhalten geblieben, was deine Anlage war und was du nach deiner Natur erlernt hast, du allerbester im Planen; darum bist du auch, Pytheas, zu der Insel der Seligen gelangt.« 5) Grabepigramm für den Philosophen Asklepiodotos, circa 490 bis 500 (Roueché 1989: Nr. 54; Merkelbach & Stauber 1998: I, 235; vgl. Trombley 1994: II, 61; das Grab hat die Form einer Pyramide, Abb. 9): »Asklepiodotos ist nicht gestorben und hat den Fluß des Acheron nicht gesehen, sondern er ist im Olymp und wird mit den Sternen im Umlauf gedreht, er, der Bauten errichtet und seiner Amme [der Stadt] viele [Wohltaten] erwiesen hat.« 6) Grabepigramm für Euphemia, ca. 528 bis 558 (Roueché 1989: Nr. 157; Merkelbach & Stauber 1998: I, 251; vgl. Trombley 1994: II, 63-66): »Hier bedeckt die Erde das heilige Haupt des Mädchens, das früher den Namen der Klugheit mit dem schönen Ruf hatte; und sie hatte keinen anderen Ruf als

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias sche Zeit zurückverfolgen und ist in der Spätantike von neuplatonischem Gedankengut geprägt.116 Nichtsdestotrotz ist die Konzentration so vieler Texte mit ähnlichen Gedanken in Raum und Zeit beispiellos. Drei von diesen Texten können bekannten Heiden zugewiesen werden: dem Sophisten Eupeithios, dem Politiker Pytheas und dem neuplatonischen Philosophen Asklepiodotos, also den Anführern der heidnischen Gemeinde von Aphrodisias. Auch die anderen Texte sind wahrscheinlich heidnisch. Sie erwecken fast den Eindruck, daß die späten Heiden darum bemüht waren klarzumachen, daß die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele keineswegs ausschließlich den Christen vorbehalten war.

5. Von der Konkurrenz zum gewaltsamen Konflikt Das hier kurz skizzierte Beispiel von Aphrodisias veranschaulicht den Wandel einer komplexen Gesellschaft unter dem Einfluß unterschiedlicher Faktoren. Eine ethnisch gemischte Bevölkerung – bestehend aus hellenisierten Karern, griechischen Kolonisten, Diaspora-Juden sowie einigen Römern und Einwanderern aus anderen Orten – entwickelte im 1. Jahrhundert v. Chr. eine neue Identität. Maßgebend dabei war die Privilegierung des Ortes durch römische Feldherren und Kaiser, vornehmlich wegen des hier existierenden Heiligtums. Die Stadt der Aphrodite hatte in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung auch eine religiös bestimmte den von guter Art, da sie immer kluge Handlungen verrichtete. So mögest du, Euphemia, zum Reigen der unsterblichen Götter gelangen.« Der Gedanke, daß der Körper des Verstorbenen unter der Erde liegt, während seine Seele auf dem Weg zu den Seligen ist, findet sich auch in einer noch unpublizierten Inschrift von Aphrodisias. 116 Der Gedanke, daß die Seele des Verstorbenen mit dem Aither (Luft) vereint ist, begegnet uns bereits im 5. Jahrhundert v. Chr.; die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod ist in Grabinschriften seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. geläufig (Lattimore 1942: 27-36, 44-54; Sourvinou-Inwood 1995: 202f.; Chaniotis 2000). Ein Blick in die Sammlung kleinasiatischer Epigramme von Merkelbach & Stauber (1998) zeigt, daß keine andere Stadt Kleinasiens so viele spätantike Grabepigramme mit ähnlichen Gedanken geliefert hat. Einige Beispiele: 01/03/01 (Loryma), 01/12/18 (Halikarnassos), 01/20/26, 01/20/29 (Milet), 03/02/71, 03/02/72 (Ephesos), 03/06/03 (Teos), 04/05/04, 04/05/07 (Hierokaisareia), 04/12/09 (Saittai), 04/19/02 (Iaza), 05/01/64 (Smyrna), 06/02/32 (Pergamon), 07/02/02 (Assos).

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Angelos Chaniotis Identität, die jedoch individuelle religiöse Präferenzen und Divergenzen keineswegs ausschloß. Konkurrenz zwischen den Kulten und Religionen hat es im griechischen Osten immer gegeben117, so gewiß auch in Aphrodisias. Konkurrenz führt zwar notwendigerweise zum Bewußtsein der Überlegenheit des eigenen Glaubens, nicht aber unbedingt auch zu gewaltsamen Konflikten, die zumeist einer Politisierung des Religiösen im weitesten Sinne bedürfen. Bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. wird die (sicherlich vorhandene) religiöse Komplexität von Aphrodisias in den Quellen nicht thematisiert und Zeichen einer Konfrontation fehlen ganz. Dies mag daran gelegen haben, daß die religiöse Komplexität nicht mit ethnischen oder sozialen Unterschieden einherging war – wie etwa in Alexandrien.118 Vielleicht vermögen wir aber auch die religiöse Komplexität nur deswegen nicht zu erkennen, weil zwei Gruppen (Juden und Christen) die Opfer von Verfolgung waren und ihre Identität sich im erhaltenen Quellenmaterial nicht niederschlägt. Es ist also vielleicht mit einer »Kryptokomplexität« zu rechnen. Es fällt z.B. auf, daß biblische jüdische Namen nur in den jüdischen Stifterinschriften der Spätantike (vielleicht auch im spätantiken Graffito des Danielios, s.o.) vertreten sind; es läßt sich nicht ausschließen, daß einige der Aphrodisieis, die vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum frühen 4. Jahrhundert n. Chr. in den öffentlichen Dokumenten mit einem griechischen Namen auftreten, in Wahrheit Juden waren und in ihrer Familie oder in der Synagoge einen zweiten biblischen Namen verwendeten (s.o.). Die Lage änderte sich dramatisch seit der Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. durch politisch-administrative Eingriffe in religiöse Angelegenheiten, erst durch die Christenverfolgung, dann durch die Erhebung des Christen117 Vgl. North 1992: 183-192. 118 Haas 1997: 279-283. Der Ursprung der Juden von Aphrodisias ist nicht bekannt. Es kann aber kaum angenommen werden, daß alle jüdischen Familien Nachkommen der im 2. Jahrhundert v. Chr. von König Antiochos III. nach Kleinasien gebrachten Juden waren (für die Maßnahmen des Antiochos s. Trebilco 1991: 5-7; für Juden in Karien Van der Horst 1990: 167; Ameling 1996: 31). Die Juden von Aphrodisias waren wohl nur zum Teil »ethnische Juden«, die Kontakte mit Judäa unterhielten. Neben den Proselyten, die in der jüngeren Stifterinschrift (A) immerhin 20 Prozent der namentlich genannten Juden ausmachen (drei Proselyten unter sechzehn Juden), gab es vielleicht auch jüdische Einwanderer in der Kaiserzeit; dies wird für Aphrodisias (Reynolds & Tannenbaum 1987: 91-115) sowie für Phanagoreia (Dan’shin 1996: 146) vermutet.

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Christen, Juden und Heiden im spätantiken Aphrodisias tums zur Staatsreligion, schließlich durch das Verbot der heidnischen Götterverehrung. Von diesem Zeitpunkt an, mit der Verschärfung der Spannungen durch die Politisierung des Religiösen, läßt sich die Bildung klarer Fronten beobachten. Ein weiterer entscheidender Faktor für die Zuspitzung der religiösen Konkurrenz bis hin zur gewaltsamen Auseinandersetzung war der christliche Alleinvertretungsanspruch – notfalls mit Gewalt. Die lange Phase der Religionsfreiheit – vom Toleranzedikt des Galerius (311 n. Chr.) bis zur Einsetzung des Christentums als Staatsreligion durch Kaiser Theodosius (392 n. Chr.) – hatte die Attraktivität der einst verfolgten Gruppen (Juden und Christen) gesteigert, gleichzeitig aber auch die Konkurrenz untereinander verschärft. Die Bedrohung der Glaubensfreiheit durch die Privilegierung des Christentums führte offenbar zu einer – zumindest kurzfristigen – Solidarität von Gruppen, die sich bedroht fühlten. Die Heiden verbündeten sich mit den gegen den Kaiser kämpfenden Orthodoxen (482-488 n. Chr.) und die Juden Alexandriens mit der Sekte der Arianer.119 Möglicherweise war das selbstbewußte Auftreten von Heiden und Juden in Aphrodisias das Ergebnis einer Bündelung ihrer Kräfte im Widerstand gegen die Christen.120 Derartige Allianzen hatten jedoch keinen dauerhaften Erfolg und brachten teilweise katastrophale Konsequenzen für die jeweils unterlegenen Gruppen mit sich; der Sieg einer Gruppe führte zu repressiven Maßnahmen gegen die andere. Das Ende des Heidentums in Alexandrien und Aphrodisias wurde möglicherweise durch die Unterstützung der Revolte gegen Zenon beschleunigt.121 Die religiöse Komplexität in Aphrodisias war zum Teil das Resultat einer unterschiedlichen Beantwortung derselben Fragen: Gibt es einen Gott? Und greift er in unser Leben ein? Was geschieht nach dem Tod? Welche ist die richtige Lebensführung, und wird sie von Gott belohnt – in dieser Welt oder in einer anderen? Reicht die Reinheit des Körpers aus, oder gibt es auch eine Reinheit des Sinnes und des Herzens? Wie stellt man einen persönlichen Kontakt zu Gott her? Die gemeinsame Fragestellung ermöglichten Begegnung und Austausch auf spiritueller Ebene: So besuchte der Christ Paralios den Isistempel und der heidnische Boxer Alexandros die jüdische Synagoge zusammen mit dem Christen (?) Gregorios. Dabei kam es auch zu einer Annäherung der Begrifflichkeiten und des Vokabulars, das Christentum übernahm in seiner Liturgie Elemente griechischer Rituale; seine Ikonographie ist größtenteils griechisch beeinflußt und heidni119 Haas 1997: 288. 120 Vgl. Van der Horst 1990: 173, 177f. 121 Vgl. Haas 1997: 326-329.

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Angelos Chaniotis sche Feste wurden auch im christlichen Konstantinopel gefeiert.122 Aber auch das spätantike Heidentum veränderte sich unter dem Einfluß von Christen und Juden und befaßte sich stärker mit ethischen Problemen und mit der Unsterblichkeit der Seele. Wir wissen nicht, wohin dieser Dialog geführt hätte, wenn die administrative und um Homogenität bemühte Staatsgewalt kein Machtwort gesprochen hätte; vielleicht dorthin, wohin die Entwicklung nach dem 6. Jahrhundert n. Chr. sowieso geführt hat: zu einem vom Judentum beeinflußten Christentum, aus dem sowohl die griechische Philosophie und Ikonographie als auch heidnische Kultformen nicht mehr wegzudenken sind.

Literatur Alzinger, Walter, 1993: Ephesiaca II. In: Gerhard Dobesch & Georg Rehrenböck (Hg.): Die epigraphische und altertumskundliche Erforschung Kleinasiens: Hundert Jahre Kleinasiatische Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Akten des Symposiums vom 23. bis 25. Oktober 1990. Wien: S. 49-58. Ameling, Walter, 1996: Die jüdischen Gemeinden im antiken Kleinasien. In: Robert Jütte & Abraham R. Kustermann (Hg.): Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Wien: S. 29-55. Athanassiadi, Polymnia, 1999: Damascius, the philosophical history. Text with translation and notes. Athen. Balsdon, J.P.V.D., 1951: Sulla Felix. In: Journal of Roman Studies 41: S. 110. Blümel, Wolfgang, 1992: Einheimische Personennamen in griechischen Inschriften aus Karien. In: Epigraphica Anatolica 20: S. 7-33. Bolognesi Recchi Franceschini, Eugenia, 1995: Winter in the Great Palace: The persistence of pagan festivals in Christian Byzantium. In: Stephanos Efthymiadis et al. (eds.): Bosphorus: essays in honour of Cytil Mango. Amsterdam: S. 117-134.

122 Ikonographie: zuletzt Mathews 1993; vgl. Hannestad 1999. Feste: z.B. Bolognesi Recchi Franceschini 1995. Für die Verschmelzung christlicher, alttestamentlicher und heidnischer Motive in den Zaubertexten der Spätantike siehe Wischmeyer 1998 (mit älterer Bibliographie).

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Chinas Identität

Kulturelle Komplexität, Vagheit der Grenzen und Chinas Identität Helwig Schmidt-Glintzer

1. Vorbemerkung Die Geschichte der Frühen Neuzeit in Europa ist zugleich eine Geschichte der Definition Europas und seiner Außengrenzen.1 Während für Europa die Expansionsgrenzen nicht immer, aber doch zumeist in weiter Ferne lagen und dort die europäischen Mächte auch gegeneinander Interessenkonflikte ausfochten, waren die chinesischen Grenzerfahrungen andersartig gewesen. Durchaus inkongruent waren daher auch die Wahrnehmungen Chinas in Europa einerseits und das chinesische Europabild andererseits.2 Trotz solcher Inkongruenz der eigenen Identität und Fremdwahrnehmung auf beiden Seiten schien das Verhältnis unproblematisch. Doch während für Gottfried Wilhelm Leibniz China als »Europa des Ostens« galt, sind heute solche Spiegelungen problematisch geworden, was wir an der Thematisierung von Globalisierungsprozessen, insbesondere aber an der Menschenrechtsfrage erkennen.3 Meine These ist, daß zwar einerseits kulturelle Komplexität ein zentrales Merkmal Chinas ist, das die längste Zeit seiner Geschichte ein Einheitsreich war und sich nicht in einzelne Staaten differenzierte, daß jedoch andererseits das Bewußtsein von dieser Komplexität in China mangelhaft ist. Dies hat auch etwas mit den spezifischen Grenzerfahrungen zu tun. Gerade weil die Vielfalt der inneren Traditionen weitgehend, namentlich in staatstheoretischen Diskursen, nicht anerkannt wird, liegt für manche Chinesen in der Vielfalt eine Bedrohung. Es muß also durchaus unterschieden werden zwischen Komplexität und reflexiver Komplexität. Wenn wir von China sprechen, gehen wir davon aus, daß es sich hier um etwas handelt, was Identität hat und abgegrenzt werden kann gegenüber anderem, gegenüber allem, was nicht »chinesisch« ist. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, daß China nicht immer so ausgedehnt war, daß die Bevölkerung »rassisch« durchaus nicht homogen ist, daß fernerhin 1 Auf die bis in die Gegenwart maßgebliche Entwicklung europäischer kultureller und politischer Identitätsbildung im 18. Jahrhundert hat Jürgen Osterhammel (1998) hingewiesen. 2 Vgl. hierzu Schmidt-Glintzer 1999c. 3 Vgl. aus der Fülle der Literatur zum Thema Schweidler 1998.

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Helwig Schmidt-Glintzer Teile der Bevölkerung Chinas durchaus ihre eigene Geschichte haben – von Tibet spreche ich hier nicht, aber doch von den Minderheiten4 –, daß Lebenspraxis und religiöse Vorstellungen weithin differieren, Dialekte zum Teil sehr unterschiedlich sind und die allen gemeinsame Außengrenze in der Vergangenheit eher Fiktion denn Realität war.5 Nun wissen wir, daß nur aus der Gleichzeitigkeit von Großreichsidee und kognitiver Vernachlässigung tatsächlicher innerer Diversität Furcht vor kultureller Komplexität entstehen kann. Andererseits scheint reflexive Komplexität die größte Herausforderung Chinas im 21. Jahrhundert darzustellen. China ist ja gerade in jenem Prozeß, den manche als »Modernisierung«, andere spezifischer als »nachholende Modernisierung« bezeichnen6, einer spezifischen Dynamik unterworfen, und zwar auch deshalb, weil sich die Dynamik der Reaktion auf äußere Herausforderungen und insbesondere Integrationsprozesse seit der Reichseinigung in neuer Weise Geltung verschafft, auch wenn die internen Spannungen, Kompromisse und Verwerfungen, wie angedeutet, nicht immer in Erinnerung gehalten wurden, obwohl – wie gesagt – allein die Erinnerung oder die Rekonstruktion der Geschichte von politischer Ordnung und Herrschaft die heutigen Disparitäten – wirtschaftlich, ethnisch, kulturell – verständlich machen würde.

2. Chinas Identität im Prozeß der Globalisierung Sinisierungsthese und erhöhter Integrationsbedarf Es gibt ein allgemein als »Sinisierungsthese« bezeichnetes Theorem, wonach China sich selbst alles, dem es begegnet, anverwandelt – oder: allem anverwandelt: Man hat China daher auch mit einem Chamäleon verglichen. Andererseits ist gerade jene Sinisierungsthese in letzter Zeit – und zwar von mehreren Seiten – zur Disposition gestellt beziehungsweise radikal abgelehnt worden. Seit Karl A. Wittfogel stehen sich in der westlichen Literatur immer wieder erneut zwei Lager gegenüber: Die einen sprechen von der Durchsetzungsfähigkeit des Chinesischen, von der immer neuen

4 Hierzu Schmidt-Glintzer 1997: 46-48. Die Minderheitenpolitik in China ist eine Kombination von Förderung folkloristischer Identitätsbildung und Aufhebung aller Abgrenzungen gegenüber der Han-Identität: Gladney 1994. 5 Zu »Chinas dritter Grenze« siehe Wiethoff 1969. 6 Vgl. etwa Menzel 1994.

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Chinas Identität Sinisierung alles Fremden, während andere die Betonung auf die Identitätsbildung durch fremde Einflüsse legen.7 Obwohl China – ganz im Gegensatz zu europäischen Wahrnehmungen seit dem späten 18. Jahrhundert – eine durchaus positiv besetzte Tradition von Veränderungen und Reformen kennt, schuf der Integrationsdruck regelmäßig doch auch Probleme, der sich mit stärkerer kommunikativer Integration (Eisenbahn, Telegraph, Printmedien, Radio und inzwischen das Fernsehen) beschleunigte und überhaupt erst die Vielfalt von Andersartigkeit für eine große Zahl von Einwohnern, zunächst innerhalb Chinas, inzwischen auch weltweit, wahrnehmbar machte. Angesichts der Unmöglichkeit der Homogenisierung chinesischer Identität konnte auch die »Formierung des Andersseins der Anderen« zum Zwecke eigener Identitätsbildung nicht gelingen. Vielleicht meinten Schelling und Hegel genau dies, wenn sie China Geschichtlichkeit absprachen, Geschichte so verstanden, wie dies Jörn Rüsen an einer Stelle definiert, nämlich als »geistige Tätigkeit des Vergegenwärtigens« und zugleich als Ausdruck und Bildung eigener Identität »und damit zugleich auch der Formierung des Andersseins der Anderen«.8 Denn wer sollte bei der hohen internen Vielfalt das andere repräsentieren? Wenn es so ist, daß China seine Identität nicht durch die Formierung des Andersseins der anderen bekräftigt, stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis und der Identität Chinas in neuer Weise. Die erste Antwort dürfte sein, daß China in gewisser Weise das andere in sich aufgenommen und dadurch viele Identitäten gewonnen hat und viele Kulturen kennt. Dem widerspricht nicht die Rede von der »einen chinesischen Kultur«, die durch eine Vielzahl integrationistischer Elemente ermöglicht

7 Rawski 1996; Ho 1998. Hinweise zur Geschichte von Einheit und Teilung Chinas im ersten nachchristlichen Jahrtausend finden sich in Schmidt-Glintzer 1999a. 8 Rüsen 1998: 22f.: »Geschichte ist eine universelle kulturelle Praxis der erinnernden Vergegenwärtigung der Vergangenheit, die den Zweck verfolgt, die eigene Lebenspraxis in den Umständen der Gegenwart zu orientieren und dabei mit einer Zukunftsperspektive zu versehen. Geschichtsbewußtsein ist die geistige Aktivität, durch die Vergangenheit gedeutet, Gegenwart verstanden und Zukunft erwartet wird. Diese geistige Tätigkeit des Vergegenwärtigens ist ein notwendiges Medium des Selbstverständnisses, des Ausdrucks und der Bildung eigener Identität und damit zugleich auch der Formierung des Andersseins der Anderen.« Zum Thema siehe auch Bauer 1980.

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Helwig Schmidt-Glintzer wird, durch Bürokratie und Kaiserkult und durch Standardisierungen auf zahlreichen Gebieten. Parallel zu dieser integrativen Tendenz und zu den damit verbundenen Vereinheitlichungsbemühungen bestand ein hohes Maß an Vielfalt. Dies wurde manchen chinesischen Politikern seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert selbst zum Problem, weil sie doch meinten, den Standards des Westens genügen zu müssen. Um 1900 glaubte man in Europa – und zum Teil auch in China –, daß die dort eingeschlagene Entwicklungsrichtung »von universeller Bedeutung und Gültigkeit« sei, wie dies Max Weber noch im Jahre 1919 formulierte, allerdings mit dem Zusatz: »wie wenigstens wir uns gern vorstellen«.9 Vor wenigen Jahren noch war in den USA und in Europa von der »pazifischen Herausforderung« die Rede, doch wird in China weiterhin die von dem Soziologieprofessor Chen Xujing im Dezember 1933 in einer Rede in Guangzhou geforderte »Totale Verwestlichung« (quánpán xihuà) Chinas kontrovers diskutiert.10 Die Vertreter der »Totalen Verwestlichung« scheinen Herders berühmt-berüchtigten Ausspruch verinnerlicht zu haben: »Das chinesische Reich ist eine balsamierte Mumie, mit Hieroglyphen bemalt und mit Seide umwunden, sein innerer Kreislauf ist wie das Leben der schlafenden Wintertiere«11,

und sie vergessen, daß China immer schon amalgamierte, sinisierte und seinerseits durch die indische Religion des Buddhismus geprägt wurde, Steppentraditionen aufnahm, von fremden Herren sich beherrschen und beeinflussen ließ. Freilich wurden von chinesischen Intellektuellen auch Gegenbilder entworfen, wie von Gu Hongming (gest. 1928) um die Jahrhundertwende: »Man muß zugeben, daß in der Tat gegenwärtig ein Kampf der Kulturen Europas und des fernen Ostens sich abspielt. Dieser Kampf scheint mir jedoch nicht ein Kampf der Kultur der gelben Rasse und der Kultur der weißen Rasse zu sein, man könnte ihn eher bezeichnen als einen Kampf zwischen der ostasiatischen Kultur und der mittelalterlichen Kultur Europas.«12

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Weber 1920: 1. Birk 1991. Tscharner 1939: 78; vgl. Bauer 1985. Gu 1911: 4. Zum Zusammenhang siehe auch Schmidt-Glintzer 1987. Die Ak-

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Chinas Identität Gu Hongming meinte, die Aufklärung in Europa sei ein Ergebnis des Imports der chinesischen Weisheit durch Jesuiten. Entsprechend schreibt er: »Tatsächlich scheint mir die wirkliche Gefahr nicht nur für die Völker Europas, sondern für das Schicksal und die Zivilisation des gesamten Menschengeschlechts eben darin zu bestehen, daß die Völker Europas Schwierigkeiten haben, die neue moralische Kultur sich anzueignen, nicht aber in der Kultur der gelben Rasse.«13

In China steht seit dem 19. Jahrhundert bis heute hinter der Identitätsbildung ebenso wie hinter außenpolitischen Aktivitäten nicht nur der Inferioritätskomplex der – vermeintlich – zu spät Gekommenen, sondern es gab auch immer wieder Stimmen des Selbstbewußtseins. Oskar Weggel spricht von einem »Jahrhundert der Demütigungen«14 und weist auf den daraus resultierenden Anti-Hegemonismus, die Souveränitätsbesessenheit und auf »scharfkantige Freund- und Feindbilder« hin.15 Dennoch gilt – und das sieht auch Weggel –, daß auf der Grundlage chinesischer Weltbildkonstruktionen kein Abgrenzungs-, sondern ein Beziehungsdenken vorherrscht16 und daß es »im kaiserlichen China keine Außenpolitik im formellen Sinne zu geben pflegte und daß Diplomatie und ›Völkerrecht‹ sowie die Vorstellungen von festen Außengrenzen und »nationalen Interessen« überflüssig waren oder – zutreffender ausgedrückt – durch Impansionismus und durch Personalisierungsstrategien ersetzt wurden.«17

Ausdehnung des Reiches: Kulturraum, Staatsraum und Geschichtsraum Jeder Kenner Chinas weiß, daß diese Besonderheiten mit der Einheitsstaatsbildung zu tun haben, mit der schrittweisen und durchaus auch immer wieder gewalttätigen Integration verschiedener chinesischer Staaten

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tualität Gu Hong-mings wird deutlich in der Neuedition seiner Schriften 1996 im Verlag Hainan zhubanshe in Haikou. Gu 1911: 9. In: China aktuell, Juni 1998: 613ff. China aktuell, Juni 1998: 616. China aktuell, Juni 1998: 619. China aktuell, Juni 1998: 619.

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Helwig Schmidt-Glintzer seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. Beispiele eigenständiger Reiche am Rande, etwa des Nan-Yue-Reiches im 2. Jahrhundert v. Chr. in Südost-China, sind gerade in letzter Zeit immer wieder durch Ausgrabungsfunde illustriert worden. Davon, daß China nicht immer schon die Ausdehnung des späten Kaiserreiches hatte, war bereits die Rede; aber was hatte dies für eine Konsequenz für die Integration des Reiches, innerhalb dessen heute fast 95 Prozent sich als Chinesen empfinden? Wie steht es also mit den Reichweiten von identitätsbildenden Raumvorstellungen? Um den Fall für China zu beleuchten, greife ich auf eine Unterscheidung zurück, die ich bei Georg Berkemer gefunden habe, der sie zum besseren Verständnis des indischen Geschichtsbewußtseins in vergleichender Perspektive vorgestellt hat.18 Berkemer unterscheidet zwischen Kulturraum, Staatsraum und Geschichtsraum, und bemerkenswerterweise konstatiert er nur für das vormoderne China den Fall, daß Geschichtsraum und Kulturraum von gleicher Reichweite seien. Dies trifft auf der Ebene bestimmter Weltbildkonstruktionen durchaus zu; doch praktisch gültig war es nie und ist auch seit den Umbrüchen im chinesischen Mittelalter zu relativieren, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens projiziert nicht erst die songzeitliche Historiographie, das heißt die Geschichtsschreibung des 11. bis 13. Jahrhunderts, die Ausdehnung des Nord-Song-Staates in die Vergangenheit, sondern bereits in der Geschichtsschreibung des 5. Jahrhunderts werden fremde Länder beschrieben, die damit den Geschichtsraum erweitern, ohne gleichzeitig den Kulturraum entsprechend auszudehnen. Zweitens finden wir dann in der Song-Zeit die Ausbildung einer Universalgeschichtsschreibung, derzufolge es nicht nur mehrere Kulturräume, sondern auch mehrere Ausdehnungsgrade gibt.19 Beide Relativierungen hängen übrigens mit dem Siegeszug des Buddhismus in China zusammen. Es gab Zeiten, da war der Kulturraum kleiner als der Staatsraum, und dann gab es wieder Phasen, in denen der Staatsraum kleiner als der Kulturraum war. Identisch waren sie nie. Ein anderer Aspekt tritt hinzu: Der zunehmenden Komplexität begegneten einerseits die Gebildeten (seit dem 11. Jh.) mit »privater Geschichtsschreibung« und mit der Kompilation eigener Klanregister und -genealogien, wodurch sich neue Horizonte bildeten, während andererseits Lokal- und Regionalgeschichten dem Bedürfnis nach Identität innerhalb eines unüberschaubaren Gesamtreichs zuzurechnen sein dürften.

18 Berkemer 1998: 185ff. 19 Dazu Schmidt-Glintzer 1982.

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Chinas Identität Anthropologische Inhomogenität und Zivilisierungsidee Natürlich war nicht alles eine Frage des Bewußtseins, sondern oft auch Folge leidvoller Erfahrung, etwa von Flucht und Vertreibung. Nach den Bevölkerungsverschiebungen und der daraus resultierenden kulturellen Vielfalt im 4. Jahrhundert hatte das Nachdenken über Andersartige ebenso wie über unreine Kulte neue Formen angenommen, zumal auch die lange Zeit als Spielart des Daoismus verstandene Lehre des Buddhismus nun als aus einem fremden Land und einer fremden Kultur gekommene Lehre verstanden wurde. Durch die Auseinandersetzungen um den Buddhismus und die Teilung und schließliche Wiedervereinigung des Reiches wurden die regionalen Entfremdungen ja erst so recht deutlich, und es stieg das Bewußtsein einer eigenen chinesischen Kultur, die freilich keine festumschriebenen Grenzen hatte, sondern die gerade in der Aufnahme des Fremden sich ihrer selbst bewußt wurde.20 Dies führte dann zwar immer wieder zu den bereits erwähnten Polemiken, doch müssen wir diese wohl eher als Versuch zur Selbstvergewisserung betrachten, deren Problematik eben nur – wie schon eingangs angesprochen – darin bestand (und wohl auch heute noch besteht), daß das Fremde abgelehnt wird, obwohl es unter der Hand längst teilweise integriert, vielleicht sogar sinisiert worden ist. Aber was heißt »Sinisierung« etwa in der Tang-Zeit, die noch in einer ganz anderen Weise »chinesisch« war – zum Teil war sie ja noch »barbarisch« – als spätere Epochen in der Geschichte Chinas.21 Es hat oft den Anschein, als hätte die Polemik gegen Fremdes nur dazu gedient, die eigene Besonderheit zu finden, worin sich wohl ein Wesenszug der traditionellen chinesischen Kultur widerspiegelt, der in der Polarität im Denken besteht.22 Gewissermaßen allein schon durch die Denkfigur wird das andere bereits Teil der Selbstbestimmung und der Selbstgewinnung und verliert zugleich seine Andersartigkeit. So formulierte etwa der von der europäischen Aufklärung so überaus gepriesene Tang Taizong im Jahre 644: »Die Barbaren sind auch Menschen, und ihr Empfinden ist nicht anders als das der Chinesen. [...] Wenn aber seine [des Herrschers] Tugend sich überall auswirkt, so kann er die Barbaren der vier Himmelsrichtungen veranlassen, wie eine Familie zu werden. Hegt er jedoch allzuviel Mißtrauen und Besorgnisse, so kann er dem nicht

20 Hierzu Bol 1992. 21 Vgl. Gregory 1991. 22 Hierzu Bodde 1953.

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Helwig Schmidt-Glintzer entgehen, daß seine eigenen Verwandten ihm übel und feindlich gesonnen sind.«23

Und etwa 100 Jahre später betonte der Essayist Li Hua (ca.710 – ca.767), die Dynastie vereinige das Reich »in einem Haus, in dem Chinesen (hua) und Nicht-Chinesen (yi) gleich sind«.24 Tatsächlich bekleideten Ausländer hohe und höchste Ämter während der Zeit der Tang-Dynastie. Die Einheit des Reiches wurde durch den Kaiser getragen und repräsentiert, wie es Wei Zheng (580-643), einer der Berater Taizongs, ausgedrückt hatte: »Die Sicherheit des Staates und die Stabilität des Landes beruhen ganz und gar auf dem Einen.«25 Das Selbstverständnis der Tang-Kaiser gegenüber dem der Han-Kaiser unterschied sich dabei in einer Hinsicht grundlegend: Während die Han-Kaiser noch eine chinesische Herrschaft ausdehnen wollten und sich dann mit den Xiongnu verständigten, wollte Taizong sowohl Herrscher der Chinesen als auch oberster Führer (qaghan) der Steppenvölker sein.26 Einen solchen Anspruch auf Universalherrschaft erhoben erst wieder die Mongolen, die diesen dann im späten 13. Jahrhundert auch zeitweise verwirklichten. Die Entmilitarisierung und zugleich Literarisierung der Elite Chinas steigerte die Bedeutung der kulturellen und in gewisser Weise auch der physischen Identität und ließ den Gegensatz zwischen den Chinesen (hua) und den Barbaren (hu) in bis dahin ungekannter Schärfe erscheinen, so daß er praktisch kaum anwendbar war.27 Die Demilitarisierung und gleichzeitige Zunahme der Bedeutung der kulturellen Identität war zunächst aber eine der Grundlagen für das Auseinanderfallen des TangReiches in zwei auch sozial und zum Teil anthropologisch unterscheidende Kulturen und sich daraus entwickelnde Staaten: die chinesische Kultur mit dem Zentrum und der Hauptstadt Chang’an einerseits, die – nicht zuletzt

23 O. Franke 1930: II, 356. Zur Datierung siehe auch Bischoff 1976: 115-187, hier besonders 119. 24 Wenyuan yinghua 801, 1b. 25 Gao Buying, Tang Song wen juyao 1:16; vgl. Hartman 1986: 121. 26 Hierzu Hartman 1986: 314f.; zur Chinesen-Barbaren-Politik der Tang-Zeit vgl. Pulleyblank 1976: 37-40. 27 Dabei ist zu bedenken, daß die Bezeichnungen für die »Barbaren« zwar nicht streng definiert waren, die Bezeichnung »hu« aber doch vornehmlich die westlichen und nordwestlichen Kulturen meinte: Hartman 1986: 122f., 317 Anm.11. Zum Ausländerbild im China jener Zeit siehe Hildebrandt 1987.

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Chinas Identität infolge von Zuwanderungen von außen – stark von nichtchinesischen Elementen geprägte Kultur im Nordosten andererseits.28 Die fremden Völker, die lange Zeit hindurch als »Klauen und Zähne« der Chinesen verstanden worden waren, die sich selbst als Kopf und Rumpf betrachteten, hatten selber ihren Kopf entdeckt.29 Dies führte aber auf Dauer nicht etwa zur Ausbildung mehrerer Staaten, sondern rief Gegenkräfte hervor, die auf kulturelle Homogenisierung sowie auf Kontrolle zielten. Die Geschichte der Zensur ist hier nur ein Aspekt dieser neuen Entwicklung. Aus der Addition des Han-Kaisertums und des Anspruchs auf Herrschaft über ein Vielvölkerreich aber erwuchsen Widersprüche und Spannungen, die bis heute wirksam sind.

3. Chinas interne Grenzen Es ist sicher auch eine Folge der Ausdehnung des chinesisches Reiches beziehungsweise des Herrschaftsanspruchs während der Zeit der Mandschu-Dynastie (1644-1911), daß weiterhin nicht nur Inhomogenität besteht, sondern Grenzen, Brüche und Widerstände wirksam sind, so daß manche, wie Dru C. Gladney, von »internal colonialism« reden.30 Die chinesische Bürokratie als Ausdruck der Integrationsbemühungen ist ebenso durch ein hohes Maß an Formalisierung und Zentralität wie durch Selbstverwaltung gekennzeichnet. Hinzu tritt, gewissermaßen als Klammer, die im Zensorat realisierte Kontrolle und Aufsicht einer seit der Han-Zeit etablierten Institution, die noch in Verfassungsentwürfen der Jahrhundertwende in einer vierten Gewalt ihren Niederschlag fand und deren Notwendigkeit angesichts der sich dauernd wiederholenden Anti-Korruptionskampagnen wohl auch heute noch besteht. Dieses Wechselverhältnis läßt sich aus vielerlei Perspektiven beschreiben.31 28 Zusammenfassend: Hartman 1986: 123ff. 29 Vgl. Pulleyblank 1976: 40. Zu den Grenzreichen jetzt Franke & Twitchett 1994. 30 Vgl. Gladney 1998. 31 Die u.a. von Missionaren, aber auch von Angehörigen der Handelskreise verfaßte westliche Chinaliteratur hat diese Aspekte der Lokalverwaltung besonders eindrücklich beschrieben. Durch sie wurde dann auch Max Weber angeregt, in seiner China-Studie einen langen Passus dem Thema »Stadt, Recht, Selbstverwaltung und Kapitalismus« zu widmen. Bereits Weber hatte erkannt, daß die Regierung das Dorf als politische Einheit in der Regel ignorierte (We-

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Helwig Schmidt-Glintzer Die Einheit des Reiches war seit der Qin-Dynastie nur durch eine spezifische Form der lokalen Selbstverwaltung zu gewährleisten32; andererseits hat diese Form der »Subbürokratie« immer wieder Anlaß dazu gegeben, den Verlust der Einheit und das Auseinanderbrechen des Reiches zu befürchten.33 Dabei war immer klar, daß Zeit ebenso wie Raum segmentiert ist und deswegen doch kein Segment aus dem verknüpften Netz herausfallen muß, ja eigentlich gar nicht herausfallen kann. Symptomatisch hierfür war die Besonderheit der Orthodoxiebildung, indem »unsaubere« (yin) Kulte abgewertet wurden.34 Auf Konfuzius berief sich die Aufforderung, sich von den Geistern fernzuhalten. Dies führte zu einer Selbstimmunisierung gegenüber allem Fremden, wobei sich die einzelnen Regionen bereits einander fremd waren. Die Integration im Späten Kaiserreich und der Anfang der Moderne Als dann im Späten Kaiserreich die staatlichen oder staatlich anerkannten Kulte die lokalen Kulte weitgehend ersetzten35, führte dies zu einer stärkeren Integration der chinesischen Kultur auch über Regional- und Schichtengrenzen hinweg. Doch verdeckte diese Entwicklung in nicht unerheblichem Maße das Fortbestehen lokaler Besonderheiten gewissermaßen unter der Oberfläche.36 In vielen Fällen wurden die lokalen Kulte nicht durch staatlich anerkannte Kulte ersetzt, sondern lediglich so verändert, daß sie den Anschein erweckten, in Übereinstimmung mit den offiziell

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ber 1991: 269). Er war es auch, der nach der Lektüre einiger Arbeiten über das Dorf in China den Dorftempel und die daran gebundenen Organisationen als die Keimzelle von Selbstverwaltung in China erkannte (Weber 1991: 267), womit er, der sich ja zunächst mehr für die Städte interessierte, dem Dorf in China eine zukunftsweisende Rolle zubilligte. Die Elite und die Regierung jedoch kooperierten, wie bereits angedeutet, weiterhin, trotz sonst widerstreitender Interessen, und vernachlässigten den Agrarsektor. Und was im traditionellen China die Erziehung in den Klassikern wurde, setzte sich fort in den Marxismus-Leninismus-Studien seit der Yan’an-Periode (Lewis 1965). Über die ganbu: Vogel 1967; Whyte 1974. Zu diesem Thema gibt es eine sehr umfangreiche Literatur. Darauf verweist auch Yates 1994. Hierzu Schmidt-Glintzer 1991 und 1997. Zur Orthodoxie: Stein 1979; neue Perspektiven eröffnet Schipper 1994. Watson 1985: 292f. Szonyi 1997.

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Chinas Identität anerkannten Kulten zu sein.37 So war das ländliche China vor 1900 Teil eines kulturell gestützten Machtgefüges gewesen.38 Der verstärkte Zugriff des Staatsapparates bis auf die lokale Ebene seit jener Zeit ersetzte nicht die älteren Formen lokaler Administration.39 Es blieben freilich Reste des von Prasenjit Duara bezeichneten »kulturell gestützten Machtgefüges« (»cultural nexus«), das ja nicht als eine räumliche Einheit zu sehen ist, sondern vielmehr als »ein System, innerhalb dessen eine Vielzahl von Organisationen und von Netzwerken persönlicher Beziehungen an der Verteilung von Macht und Erwerbschancen auf örtlicher Ebene beteiligt ist.«40

Dörfer, Felderbewachungs-Vereine, Bewässerungssysteme, Heiratsverbindungen, Tempelhierarchien und so weiter waren Teile dieses Systems. Wieweit dieses »kulturell gestützte Machtgefüge« durch den Prozeß der Staatsbildung zu Beginn des frühen 20. Jahrhunderts unterminiert wurde, in dessen Gefolge der traditionelle Staat seine Legitimität verlor und die kommunistische Bewegung die Macht errang, ist eine offene Frage. Ob das 1987 initiierte Dorfdemokratie-Programm nun zu neuen Strukturen führen wird oder traditionelle Formen der Sozialorganisation statt dessen wiederbelebt werden, muß dabei einstweilen offenbleiben.41

37 Darauf hat Szonyi hingewiesen, der es folgendermaßen formulierte: »Die Volksreligion hat nicht in erster Linie dadurch zur kulturellen Integration beigetragen, daß sie die Gottheiten standardisierte, sondern daß sie die Illusion der Standardisierung ermöglichte« (Szonyi 1997: 131). 38 Duara 1988. 39 Die Lage des ländlichen China vor der kommunistischen Machtergreifung ist ein bis heute kontrovers diskutiertes Thema: Gamble 1954; Myers 1970. Der »standard marketing area«-Ansatz wurde zuerst von Skinner (1964) vorgetragen. 40 Formulierung von Eastman 1990: 228. 41 Herrmann-Pillath & Kato 1996: 5. Von den überwiegend regional geprägten Unterschieden zwischen arm und reich soll hier nicht die Rede sein. Sogar die Befürchtung, daß »interne Kolonien« entstehen könnten, ist geäußert worden: Wang & Bai 1993. Daraus könnten – insbesondere in Anbetracht der egalitaristischen Traditionen in China – Spannungen entstehen mit möglicherweise zunehmenden lokalen sozialen Unruhen (s. z.B. die Liste in: China aktuell, Dezember 1995: S. 1092f.), vor allem in solchen Gegenden und an solchen

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Helwig Schmidt-Glintzer Es scheint mir übertrieben zu behaupten, daß in erster Linie die Bauern China verändert haben42, aber es trifft sicher zu, daß die von Bauern angeregten Reformen als »spontane, unorganisierte, anführerlose und nichtideologische, unpolitische Bewegungen« beschrieben werden können.43 Angesichts der Ansätze zu Wahlen auf lokaler Ebene dürften hier noch einige neuere Entwicklungen in der Willensbildung von unten zu erwarten sein. Die Lage der Städte Die prominenteste Grenze Chinas ist die Große Mauer, doch sie steht innerhalb Chinas, und zwar bereits seit der Reichseinigung unter Qin Shihuangdi liegt die Mauer innerhalb der Grenzen.44 Nur im 12. Jahrhundert zeigt ein historischer Atlas, wie die Grenzen Chinas in jener Zeit im wesentlichen mit der damaligen Mauer an der Nordgrenze zusammenfallen.45 Wichtiger aber als Grenzlinie und damit auch wichtiger als die Große Mauer waren die Städte an den Grenzen, die Stätten der Kontinuität, aber auch Stätten der Herrschaftssicherung waren. Diese Grenzstädte waren die eigentlichen Vorposten der chinesischen Kultur.46 Dennoch bleibt die Mauer das wichtigste Symbol der Grenze und der Abgrenzung, ähnlich wie der Limes in Deutschland eine Zeitlang ein Symbol nationaler Identität war. Stabilisierungsbemühungen Eines der Elemente zur Stabilisierung der staatlichen Einheit und der Kohäsion zwischen Zentrum und Peripherie ist die gelenkte Erinnerung, wie sie sich in den offiziell geforderten und nach vorgegebenen Richtlinien ab-

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Orten, wo diese Unterschiede aufeinanderprallen: siehe auch Schmidt-Glintzer 1999b. Zhou 1996. Kate Xiao Zhou geht in ihrer Analyse weit über Daniel Kelliher hinaus und spricht der Bauernschaft Chinas sogar die entscheidende Rolle bei der Transformation Chinas zu. Zu Kelliher (1992) siehe auch die Besprechung von David Zweig in: The China Journal 38 (1997): 153-168. Peter J. Seybolt hat jüngst (1996) die Rolle des neuen Typs des Dorfanführers dargestellt. Siehe auch die Besprechung in: Journal of Asian Studies 56, 2 (1997): 492f. Hierzu Waldron 1990. Dieser erst vor wenigen Jahren bekannt gewordene Atlas wird kurz erwähnt bei Black 1997: 2f. Hierzu Gaubatz 1996.

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Chinas Identität zufassenden Regionalchroniken ebenso niederschlägt wie in der Praxis des staatlichen Archivwesens, das zentrale Dokumente in der Hauptstadt, im Archiv Nr. 1, niederlegt. Zum anderen werden Verhaltensvorschriften verbreitet, deren Kontrolle nicht nur zentral, sondern auch lokal gewährleistet wird. Ganz in dieser Tradition stehen auch die gegenwärtigen Bemühungen um Demokratisierung der Dörfer, bei denen es weniger um Partizipation als vielmehr um eine Maßnahme der Kontrolle der unteren Verwaltung und zugleich der Integration der Bevölkerung geht. Dies wird etwa deutlich an dem vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas und dem Staatsrat gemeinsam verbreiteten Zirkular zur »allgemeinen Durchführung des Systems der Offenlegung dörflicher Angelegenheiten und der demokratischen Verwaltung in den Dörfern«.47 Darin wird die Offenlegung und Transparenz dörflicher Angelegenheiten (cunwu gongkai) als Kernerfordernis bezeichnet. 48 Nicht nur die gewählten Dorfkomitees, sondern auch die dörflichen Zellen der Partei sollen einer verstärkten öffentlichen Aufsicht unterzogen werden. Darüber hinaus sollen die Verfahren der demokratischen Leitung (minzhu guanli) durch regelmäßige Versammlungen der Dorfbewohner beziehungsweise derer Repräsentanten sowie durch regelmäßige Bewertungen der Arbeit der Dorfleitung durch die Dorfbewohner gestärkt werden. Eine an schriftlich festgelegten Regeln (guizhang) orientierte Verwaltung dörflicher Angelegenheiten sei unabdingbar, um Willkürakte zu unterbinden. Bemerkenswert ist auch, daß vor »archaischen Klanstrukturen« (zongzu shili) und illegalen religiösen Aktivitäten gewarnt wird, die sich die ländliche Basisdemokratie zunutze machen könnten. Hier kommt also wieder das Thema »Orthodoxie« und Zensur ins Spiel49 – zu Recht, wie die massiven öffentlichen Proteste der Falungong-Bewegung seit dem April 1999 zeigen. Andererseits spiegelt sich noch in den Repressionsmaßnahmen die Erinnerung an die Erfolgsgeschichte der kommunistischen Bewegung in China wider, die ja niemals die Massen auf ihrer Seite hatte, wie sie in ihrer Propaganda immer wieder behauptete, sondern die in der Lage war, sich flexibel auf örtliche und regionale Gegebenheiten einzustellen.50 Der Umstand, daß sich der heutige chinesische Staat erst gegen äuße47 Vgl. Renmin ribao (Pekinger Volkszeitung) vom 11. Juni 1998 sowie den Bericht in: China aktuell, Juni 1998: 595. 48 Ich folge hier der Zusammenfassung in: China aktuell, Juni 1998. 49 Zu dieser ideologischen Kontrolle: Schoenhals 1992. 50 Hierzu Weigelin-Schwiedrzig 1996.

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Helwig Schmidt-Glintzer re Feinde und schließlich auch im unversöhnlichen Kampf zwischen Kommunistischer Partei und anderen Gruppen gebildet hatte, bewirkte eine Abwehrhaltung nach außen und begünstigte nach innen nicht nur ein Harmoniebedürfnis, sondern geradezu einen Zwang zur Harmonie. Nicht »Wer sind meine Gegner, mit denen ich mich streiten und schließlich womöglich einigen kann?« wurde zur entscheidenden Frage, sondern jene, mit der Mao Zedong im März 1926 seine Schrift »Analyse der Klassen in der chinesischen Gesellschaft« einleitete: »Wer sind unsere Feinde? Wer sind unsere Freunde?« Noch bedeutsamer ist aber die alte Methode, bei der Konfrontation mit einer fremden Kultur, diese in dem Sinne aufzuspalten, daß man das Nützliche übernehmen, das Fremde aber fernhalten wolle. Dieses Konzept der Aufspaltung, das mit dem Begriffspaar ti und yong am allgemeinsten beschrieben wird, hatte um die Wende zum 20. Jahrhundert dazu geführt, daß man westliche Technik übernehmen, aber chinesische Kultur und Wertvorstellungen bewahren wollte.

4. Großchina und die Bedeutung von Peripherie und Zentrum heute Verdeckte Erinnerung und die Verklammerung des Reiches Sinisierung führte nicht zu einer vollkommenen Angleichung, sondern ließ, wie etwa unter der Dschurdschen-Herrschaft im 12. Jahrhundert, Nordchina zu einem »anderen China« werden51, oder – anders gesagt: Die absichtsvolle Tilgung der eigenen Kultur dieser nichtchinesischen Eroberer und ihr Chinesischwerden konnte nicht ohne Folgen bleiben für die mentale und soziale Tiefenstruktur der Bevölkerung des Nordens.52 Der Nachfolger Xizongs, Hailing, verstärkte sogar noch die Sinisierungspolitik seines Vorgängers. Er ließ die Gräber der ersten Jin-Herrscher zerstören und ordnete an, daß die Paläste und Häuser der führenden Dschurdschen-Klane in Shangdu, der »Oberen Hauptstadt«, zerstört werden. Er wollte die Dschurdschen-Kultur und die Erinnerung an die eigene Herkunft austilgen. Die Integration des Reiches, nicht zuletzt zum Zwecke der Herrschaftssicherung, erfolgte religiös, ideologisch, aber auch in spezifischer Weise durch die Organisation des Wissens. Die Tradition der Reichsbe51 Franke 1995: XX. 52 Im Süden und Südwesten hatte es je andere und ebenfalls nicht folgenlose Akkulturationsprozesse gegeben.

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Chinas Identität schreibungen muß hier ebenso genannt werden wie die Kartographie und in den letzten 150 Jahren die Ausbildung der Geographie als Fach, die auch dazu diente, China gegenüber anderen Ländern, insbesondere gegenüber Japan, zu definieren.53 Betrachtet man heute einerseits die territorialen Geltungsansprüche Chinas, andererseits die These mancher Exilintellektueller, das eigentliche China liege heute außerhalb Chinas (oder an dessen Rändern), und nimmt man hinzu die ungelöste Spannung zwischen inneren Verschiedenheiten und Ungleichheiten, so stellt sich die Frage, wie eine Befriedung dieser innerchinesischen Grenzen erfolgen kann, wie sie produktiv und nicht destruktiv wirken könnten. In diesem Prozeß ist von Vorteil, daß China völkerrechtlich als Staat auftreten kann und ernsthaft keine äußere Bedrohung oder Einmischung in innere Angelegenheiten mehr zu fürchten hat. Auch der amerikanische Geheimdienst CIA unterstützt die tibetische Exilregierung nicht mehr.54 Die innere Integration ist jedoch erst noch zu leisten. Die Vergangenheit wird aber so lange als Trauma wirken55, als die Geschichte der inneren Diversität nicht rekonstruiert ist, verdeckte Traumata fortwirken. Nur ein kurzer Blick auf die Geschichte Sichuans etwa soll andeuten, was ich meine. Dort fanden zwischen 1621 und 1681 mehr als zehn Kriege statt, von denen einer als »Zhang Xianzhong’s Massaker von Sichuan« in die Historiographie eingegangen ist. Angehörige der Literatenklasse, der Gentry, organisierten den Widerstand gegen den Rebellenführer Zhang Xianzhong, der sich dermaßen an ihnen rächte, daß Sichuan in den folgenden Jahrzehnten nicht nur wirtschaftlich, sondern auch im gesamtchinesischen Bildungsvergleich zurückblieb.56 Dies spiegelt sich etwa auch darin, daß aus Sichuan kein Buch für die große Enzyklopädie Siku quanshu eingesandt wurde, während aus Jiangsu und Zhejiang 4808 beziehungsweise 4600 kamen.57 Was in China heute nötiger ist denn je, ist eine Selbstthematisierung, in der die eigene Vergangenheit nicht nur als eine Serie von Siegen gedeu53 Hierzu Howland 1996. Bereits im Geographiekapitel des Hanshu des Ban Gu (32-92 n. Chr.) wird berichtet, wie der Gelbkaiser im Altertum das Reich bereist und vereinheitlicht hatte. Hanshu, Ausgabe Zhonghua shuju: 1523. 54 China aktuell, September 1998: 897f. 55 Diesen Gedanken hat schon vor langer Zeit auch Wolfgang Bauer vorgetragen: Bauer 1968. 56 Hierzu Li 1998. 57 Li 1998: 48.

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Helwig Schmidt-Glintzer tet wird, entsprechend der von Lu Xun gebrandmarkten »Nationaleigenschaft« des »A-Q-ismus«58, sondern in der auch Verluste und die ganze innere Dynamik einschließlich von Schwächen, Niederlagen und massenhaftem Elend ihren Platz und ihre Funktion bekommen können. Wo liegt China heute? – Diese Frage muß unbeantwortet bleiben. Wir wissen, daß China auch in Indonesien liegt, wenn etwa Auslandschinesen in New York oder Manila gegen die antichinesischen Ausschreitungen zwischen dem 12. und dem 15. Mai 1998 protestieren und wenn dann, vor allem am 17. August 1998, Protestumzüge in Peking organisiert werden.59 Parallel dazu gibt es aber die sich in andere Gesellschaften integrierenden Chinesen, denen ihr Chinesesein fragwürdig geworden ist, die sich beispielsweise als Amerikaner oder Deutsche fühlen und sich dagegen verwahren, nach ihren physischen Merkmalen und kulturell klassifiziert zu werden.60 China liegt also nicht nur in China, und in manchen seiner Grenzregionen ist China nicht oder noch nicht China, sondern Tibet, innere Mon58 Es gehört zu den spannendsten Fragen der neueren Geschichte Chinas, wie sich dieses Selbstbewußtsein im Zuge der Konfrontation mit dem Westen und der Demütigung durch Japan – ich nenne hier nur den chinesisch-japanischen Krieg 1895/96 – aufgelöst hat und in Verunsicherung und Selbstanklage, gelegentlich auch Überheblichkeit, übergegangen ist. Statt eines an die Herrscherermahnungen und die Altertumsidealisierung anknüpfenden Verlustdiskurses, der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts allmählich verstummt zu sein scheint, hat eine Siegeshistorie einen Aufschwung erlebt, eine Siegeshistorie, die auch in der heutigen Zeit, vor allem in der kommunistischen Parteihistoriographie, noch gepflegt wird. Dieser Siegeshistorie hat der große Dichter Lu Xun (1881-1936), der als »Vater der modernen Literatur Chinas« gilt, in der Gestalt des Ah Q Ausdruck gegeben, der sich auch in der größten Schmach und Niederlage noch überlegen fühlt. In seiner »Wahren Biographie des Ah Q« (A Q zhengzhuan) bezieht der einfältige Taugenichts Ah Q, von dem manche behauptet haben, er repräsentiere den chinesischen Nationalcharakter, ständig Prügel, aber »in weniger als zehn Sekunden zog [...] Ah Q [stets] im Bewußtsein ab, den Sieg errungen zu haben, und dachte sich, er sei der ›großartigste Selbstverächter‹, und nachdem er ›Selbstverächter‹ fallen gelassen hatte, was blieb zurück? – ›Der Großartigste‹.« Siehe hierzu auch Mittag 1996. 59 Siehe Weggel 1998. 60 Diese Strömung ist in den USA unter den jüngeren College-Besuchern besonders deutlich: Liu 1996.

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Chinas Identität golei oder Uighurien. Sicherlich rekonstruiert und konstituiert sich China immer wieder von neuem wie Phönix aus der Asche. Vielleicht sind es in Zukunft dann nicht mehr die Intellektuellen, sondern neue Gruppierungen und andere Schichten als die Eliteintellektuellen und die Militärs, die das Selbstbewußtsein Chinas wesentlich bestimmen. Die neueren Oppositionsbewegungen in China artikulieren die Unzufriedenheit der Massen. Sie fordern – selbstverständlich in China – ein »Freies China«.61 Ob sie sich für dieses China auch einen Platz in der Welt vorstellen können, hängt von vielerlei Faktoren ab. Dazu gehört sicherlich, ob es gelingt, Verständnisbrücken und Beziehungen aufzubauen. Ganz entscheidend aber wird die Selbstdefinition Chinas im globalen Kontext davon abhängen, wie die eigene Expansionsgeschichte, wie die eigenen internen Spannungen, die verdeckten Traumata und wie die Frage des Verhältnisses zwischen HanChinesen und den anderen Völkern Chinas rekonstruiert und unter den Bedingungen reziproker Anerkennung gestaltet wird. Dabei werden ausländische Gesprächs-, Handels- und Bündnispartner aller Art eine wichtige Rolle spielen, mit denen Chinas Eliten immer wieder konfrontiert werden, und denen es zuzumuten ist, daß sie von den historischen Dimensionen der ja noch lange nicht abgeschlossenen – und vielleicht niemals abschließbaren – chinesischen Identitätsbildung einige Kenntnisse besitzen.

Literatur Bauer, Wolfgang, 1968: Chinas Vergangenheit als Trauma und Vorbild. Stuttgart. Bauer, Wolfgang (Hg.), 1980: China und die Fremden. München. Bauer, Wolfgang, 1985: Die Rezeption der chinesischen Literatur in Deutschland und Europa. In: Günther Debon (Hg.): Ostasiatische Literaturen. Wiesbaden: S: 159-191. Berkemer, Georg, 1998: Literatur und Geschichte im vormodernen hinduistischen Südasien. In: Jörn Rüsen et al. (Hg.): Die Vielfalt der Kulturen: Erinnerung, Geschichte, Identität 4. Frankfurt am Main: S. 145-190. Birk, Klaus, 1991: Totale Verwestlichung: Eine chinesische Modernisierungsdebatte der dreißiger Jahre. Bochum. Bischoff, Friedrich A., 1976: Interpreting the Fu. Wiesbaden. Black, Jeremy, 1997: Maps and history: constructing images of the past. New Haven. 61 Heilmann 1998.

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Das »Kronprinzenwerk«

Das »Kronprinzenwerk« – eine Darstellung des Habsburgerreiches Justin Stagl

1. Das Habsburgerreich Die Habsburgermonarchie (»Kaisertum Österreich« 1804-1867, »Österreichisch-Ungarische Monarchie« 1867-1918) war nicht nur ein, sie war das paradigmatische Vielvölkerreich. Auf ihrem Staatsgebiet wurden elf Hauptsprachen gesprochen. Von diesen hatten nur fünf – Magyarisch, Tschechisch, Slowakisch, Kroatisch und Slowenisch – die Mehrzahl ihrer Sprecher innerhalb der Reichsgrenzen. Doch auch sie hatten meist keinen kompakten »Volksboden«, sondern waren an den Rändern ausgefranst, ineinander verzahnt, über »Sprachinseln« verstreut. Die anderen sechs – Deutsch, Italienisch, Polnisch, Serbisch, Rumänisch und Ruthenisch (Ukrainisch) – waren nur mit einer Minderheit ihrer Gesamtsprecherzahl innerhalb der Monarchie repräsentiert und damit potentiell zentrifugale Kräfte. Hinzu kamen »Religionsvölker« wie die bosnischen Muslime, die Juden und die Armenier, die eine eigene Sprache nur in Restbeständen oder als Sakralsprache bewahrt hatten, dennoch aber deutlich bewußte ethnische Individualitäten darstellten. Kleinere Sprachen, die jedoch auch in ethnischen Verbänden gesprochen wurden, waren das Armenische, Jiddische, Spaniolische, Griechische, Balkanromanische (Aromunische), Alpenromanische (Ladinische), Zigeunerische (Roma), Bulgarische, Rusinische, Russische (Lippowanische) und Albanische.1 Hinzu kam, daß es hier nicht – wie etwa im ethnisch ebenso heterogenen Russischen und Türkischen Reich – ein als »Traditionskompanie« dominierendes Ethnos und eine Staatssprache gab. Das Reich war in seiner Majorität slawisch, wohingegen zwei nichtslawische Völker, Deutsche und Magyaren, die Monarchie politisch dominierten. Der Widerspruch zwischen diesem staatsrechtlich-historischen Dualismus und dem faktischen Trialismus blieb ungelöst. Einen potentiellen vierten Machtpol stellten die 1 Zu den »Völkern des Reiches« siehe Wandruszka & Urbanistisch 1980. Serbisch und Kroatisch wurden von der österreichischen Verwaltung, entgegen den Wünschen der Sprecher der beiden Sprachen, als eine Sprache, »Serbo-Kroatisch«, behandelt, wie dann auch in Jugoslawien. Die neueste politische Situation hat wieder die Trennung beider – wechselseitig verständlichen – Sprachen mit sich gebracht.

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Justin Stagl Romanen dar, die jedoch in zwei separate Blöcke, die demographisch progressiven, aber kulturell rückständigen Rumänen und das alte Kulturvolk der Italiener, aufgespalten waren; letztere wurden durch die Gebietsabtretungen nach den verlorenen Kriegen von 1859 und 1866 stark reduziert. Überhaupt hatten die großen Sprachvölker zuvor meist eigene Staatswesen besessen, zu denen sich ihre Eliten in historischer Kontinuität wußten. Mit Aufkommen des Nationalismus wurde dies zum politischen Sprengstoff. Auch nach dem wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungsstand war das Reich sehr heterogen; Galizien etwa, die Bukowina oder Bosnien wiesen mit den hochentwickelten Gebieten im Westen oder um die Metropolen nur wenig Gemeinsamkeiten auf; sie hatten für diese einen Stellenwert wie etwa der Kaukasus oder Sibirien für Rußland beziehungsweise der »Wilde Westen« für die USA. Die Kolonialreiche, so etwa das britische, französische oder holländische, beinhalteten zwar vielleicht noch größere Heterogeneitäten; von ihnen unterschied sich das Habsburgerreich aber dadurch, daß es, wie auch das Russische und das Türkische Reich, eine zusammenhängende Ländermasse darstellte. So konnten die Heterogenitäten viel unmittelbarer aufeinander wirken. Betrachtet man die hier angeführten Faktoren im Zusammenhang, sieht man sogleich, daß die zentrifugalen Tendenzen hier stärker waren als in den anderen großen Reichen. Was waren dagegen die zentripetalen Faktoren? Wenn es ein dynamisches Zentrum gab, das die Funktion einer »Traditionskompanie« erfüllte, war dies das Haus Habsburg (domus Austriaca, Casa d’Austria). »Ich bin das Band, das diese Garbe hält«, läßt Franz Grillparzer den Kaiser Rudolf II. sagen.2 Durch dieses Haus über die Jahrhunderte mittels Erbverträgen, Heiraten und Kriegen zusammengebracht, bestand das Reich aus Territorien unterschiedlicher historischer Identität und Verfassung, deren Gemeinsames zunächst nur darauf beruhte, daß sie – zu unterschiedlichen Zeiten – habsburgische Erblande geworden waren. Daraus hatten sich allmählich gemeinsame Interessen, wirtschaftliche Interdependenzen und eine gemeinsame geopolitische Lage entwickelt. Zusammensetzung und Grenzen des Reiches hatten immer wieder gewechselt, wobei isolierte Außenposten nach und nach abgebaut wurden und das sich abrundende Gesamtgebilde sich vom Westen nach dem Osten Europas, vom germanischromanischen in den slawischen Raum hinein verschob. Ein komplizierender Umstand war dabei die jahrhundertealte Verbindung mit dem Deutschen Reich; seit Rudolf von Habsburg 1273 zum Deutschen König gewählt 2 Franz Grillparzer: Ein Bruderzwist in Habsburg, III.

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Das »Kronprinzenwerk« worden war, hatte das Haus Habsburg mit wenigen Unterbrechungen traditionell die Kaiserkrone innegehabt, wobei die Interessen des Reiches und die der habsburgischen Erblande zwar unauflöslich verflochten, doch keineswegs immer im Gleichklang waren. Aufgrund ihrer historisch-staatsrechtlichen und, was vom 16. bis zum 18. Jahrhundert vorrangige Bedeutung hatte, auch religiösen Heterogenität bildeten die habsburgischen Besitzungen vor allem eine Defensivallianz, die durch die Furcht vor mächtigen, expansiven Nachbarn, zunächst den Türken, zeitweilig auch den Franzosen, im 19. Jahrhundert dann den Russen, zusammengeschweißt wurde. Diese Grundkonstellation verwies das Haus Habsburg auf die Allianz mit den bestehenden, legitimen gegen die neuen, illegitimen Mächte: mit der Katholischen Kirche gegen die Reformation, mit den Dynastien gegen die Revolution, im 19. Jahrhundert mit dem europäischen Gleichgewicht gegen den Nationalismus. Zähes Festhalten am Gegebenen war mehr gefragt als konstruktive Staatskunst. Immerhin hatte Franz II unter dem Rationalisierungsdruck der napoleonischen Kriege 1806 die Deutsche Kaiserkrone niedergelegt und so gleichsam einen gordischen Knoten durchschlagen. Zuvor schon hatte er 1804, als Franz I, aus seinen Erblanden das »Kaisertum Österreich« konstituiert. Nach dem Vorbild des Kaisertums Napoleons und als Gegengewicht dazu errichtet, erwies sich dieses staatsrechtlich etwas prekäre Gebilde als erfolgreich in den Befreiungskriegen und wurde zur Großmacht, die übrigens bis zur gewaltsamen Einigung Deutschlands durch Preußen 1866 auch noch eine dominierende Rolle in der deutschen Staatenwelt spielte. Was sich dann 1866 durchsetzte, war die »kleindeutsche« Lösung gegen die »großdeutsche«, das heißt ein neues Deutsches Reich ohne Österreich und dessen Anhang von fremden Völkern. Es lag im existentiellen Interesse Österreichs, der Idee der Volkssouveränität und deren Weiterbildung, dem Nationalismus, zu widerstehen. Die Probe aufs Exempel brachte hier das Revolutionsjahr 1848/49.3 Die deutschnationalen Bestrebungen der Frankfurter Nationalversammlung waren mit dem Fortbestand des Kaisertums Österreich unvereinbar. In seinem Absagebrief an die Nationalversammlung vom 11. April 1848 hat der »austroslawische« Historiker Franz Palacky´ die klassische Formulierung für die Staatsräson dieses Reiches gefunden: Österreich sei ein »not-

3 Zu diesem Revolutionsjahr sind gerade jüngstens wegen des hundertfünfzigjährigen Jubiläums zahlreiche Arbeiten erschienen. Vgl. zuletzt Scheichl & Brix 1999.

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Justin Stagl wendiger Völkerverein«, dessen »wahre Lebensader [...] die Donau« bilde.4 Franz Grillparzer legte in seinem Revolutionsdrama »Ein Bruderzwist in Habsburg« dem Kaiser Rudolf II. die Worte in den Mund: »Ich sage dir: nicht Skythen und Chazaren, Die einst den Glanz getilgt der alten Welt, Bedrohen unsre Zeit, nicht fremde Völker: Aus eignem Schoß ringt los sich der Barbar, Der, wenn erst ohne Zügel, alles Große, Die Kunst, die Wissenschaft, den Staat, die Kirche Herabgestürzt von der Höhe, die sie schützt, Zur Oberfläche eigener Gemeinheit, Bis alles gleich, ei ja, weil alles niedrig.«5

Der Aufstand der Magyaren konnte 1849 nur mit Mühe und mit russischer Hilfe niedergeschlagen werden. Damit hatte sich das Reich als Koloß auf tönernen Füßen erwiesen. Nach zwei daraufhin verlorenen Kriegen und entsprechender weiterer Minderung seines Ansehens wurde es im »Ausgleich« von 1867 faktisch zwischen Deutschen und Magyaren aufgeteilt. Die staatsrechtliche Fassung war höchst komplex. Das Reich umfaßte nunmehr zwei weitgehend selbständige, wenn auch in der Außenpolitik und im Heereswesen kombinierte Staaten, »Reichshälften« genannt. Nach einem östlich von Wien die Grenze bildenden Flüßchen, der Leitha, wurden sie »cisleithanisch« und »transleithanisch« genannt. Cisleithanien, offiziell »die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder«, und Transleithanien, die »Länder der ungarischen Krone«, hatten unterschiedliche Verfassungen, jenes föderalistisch, dieses ziemlich zentralistisch. Der Gesamtstaat erhielt einen neuen, »dualistischen« Namen: »ÖsterreichischUngarische Monarchie«.6 (Für Nichtösterreicher fast undurchschaubar sind die hierbei verwendeten Abwandlungen des Buchstabens »k«: Einrichtungen des Gesamtstaates waren »kaiserlich und königlich«, abgekürzt »k.u.k.«; solche der österreichischen Reichshälfte, zu der neben der Kaiserkrone die Königskronen von Böhmen, Galizien und Dalmatien gehörten, waren »kaiserlich-königlich«, also »k.k.«; solche der ungarischen Reichshälfte »königlich«, »k.«.) Durch den »Ausgleich« konnten zwar die Spannungen zwischen den beiden führenden Nationalitäten verringert werden, 4 Palacky´ 1874: 148ff.; siehe dazu Wandruszka 1980. 5 Grillparzer: Ein Bruderzwist in Habsburg, III. 6 Zur Nomenklatur: Zöllner 1980.

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Das »Kronprinzenwerk« doch um den Preis, die zwischen denselben und allen übrigen zu verschärfen und ein einheitliches Handeln der Gesamtmonarchie fast unmöglich zu machen. Daran ist sie 1918 auch zerbrochen. Daß sie trotz allem so lange gehalten hat, zeugt von der Beharrungsund Bindungskraft der zentripetalen Faktoren. Das angestammte Herrscherhaus vermochte, unter seinen vielsprachigen Untertanen Loyalität zu wecken. Die »Traditionskompanie« umfaßte weitere am Herrscherhaus und der Gesamtmonarchie orientierte Personengruppen, wie den hohen Adel, das Offiziers- und Beamtencorps und zumindest den höheren Klerus. Die gerühmte unparteiische Verwaltung – vor allem Cisleithaniens – sowie das fortschrittliche Bildungssystem, dem die Kulturblüte der franzisko-josephinischen Epoche zu verdanken war, schufen ein den Völkern des Reiches gemeinsames geistiges Klima, mit dem sich auch Intellektuelle identifizieren konnten.7 Ein kaum zu überschätzender Integrationsfaktor war ferner die Angst der Nationalitäten voreinander. Vor allem die kleineren Ethnien und verstreuten Gruppen, besonders die Juden, sahen in der Zentralmacht ihre Beschützer gegen die Großvölker. Die auf das Jahr 1914 folgenden Katastrophen haben gezeigt, daß diese Furcht nicht unbegründet war. Eben darum hat sich ja der »Habsburgermythos« so lebenskräftig erhalten. Heute, drei Generationen nach ihrem Untergang, lassen sich die Leistungen und Versäumnisse der Monarchie vielleicht objektiver beurteilen.

2. Gesamthafte Beschreibungen Im 19. Jahrhundert wurden gut ein Dutzend Werke publiziert, die die Monarchie als Ganzes beschrieben. Soweit ich sehen kann, gibt es keine vergleichende Studie über diese Werke, doch mir scheint, daß ihr geistiger Gehalt (parallel zu den das Reich zusammenhaltenden Kräften) über die Jahre abnahm. Als Textgattung gehen sie auf die frühneuzeitlichen »Kosmographien«, »Reiche und Republiken«, »Sitten aller Völker« und sonstige Werke dieser Art zurück.8 Solche vergleichenden Gesamtdarstellungen der Erde oder eines ihrer signifikanten Teile zeigen einerseits den humanistischen Sinn für das Besondere, Einzigartige und andererseits eine uni7 Hierzu sind mehrere zusammenfassende Arbeiten erschienen: Kann 1950; Johnston 1992; Kiss 1986. Siehe auch Rupp-Eisenreich & Stagl 1995; Kiss, Kiss & Stagl 1997. 8 Stagl 1995a: 115-121.

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Justin Stagl versalistische Ausrichtung. Beides wurde damals von den Mächten mit Anspruch auf Weltgeltung gepflegt, dem Kaisertum, dem Papsttum und der Gelehrtenrepublik (res publica literaria). Die Darstellung mehrerer Länder oder Völker nach ein und demselben Beschreibungsschema leistete implizit der Annahme ihrer Gleichwertigkeit Vorschub. Indem sie nebeneinandergestellt wurden, erfuhren die kleineren, weniger wichtigeren auf Kosten der größeren und bedeutenderen eine Aufwertung. Denn eine universale Macht protegiert notwendig die Kleinen, die ihr nicht so gefährlich werden können, gegen die Großen. So barg auch das scheinbar unparteiische humanistische Beschreibungsprinzip in sich eine politische Spitze.9 Dieses Beschreibungsprinzip hat sich keineswegs zufällig im Habsburgerreich besonders lange gehalten, ja im 19. Jahrhundert noch eine Nachblüte erlebt. War das Kaisertum Österreich doch dem Heiligen Römischen Reich nachgefolgt. Auch stützte es sich besonders auf die übernationale Integrationskraft des Katholizismus.10 Österreich hat übrigens am humanistischen Geist länger als andere Nationen festgehalten.11 Vor allem in der Erziehung der Erzherzöge und des Hochadels lebte das humanistische Ideal des »universalen Menschen«, der das wirklich wesentliche Wissen und Können in sich vereint und auf dieser Grundlage auch handelt, bis zum Ende der Monarchie fort.12 All dies wird durch eine Gesamtbeschreibung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie verdeutlicht, die nach ihrem Initiator »Kronprinzenwerk« genannt wird.

3. Czoernigs »Ethnographie der österreichischen Monarchie« Sein ungenanntes Muster war Carl Freiherr Czoernig von Czernhausens »Ethnographie der österreichischen Monarchie« (3 Bde, 1855-1857). Czoernig (1804-1889), der sich aus bescheidenen Anfängen heraufgearbeitet hatte, war Direktor der administrativen Statistik Österreichs, auf ihn geht die Einrichtung der »Statistischen Zentralkommission« zurück. Er saß 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung, wo er dezidiert das Interesse Österreichs vertrat; er hat dort den auch in Franz Palacky´s Absagebrief geäußerten Ausspruch verkündet, daß Österreich, gäbe es dieses nicht, im Interes-

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Stagl 1995a: 51-58. Offengelegt wird dies in der Kaiserhymne »Gott erhalte, Gott beschütze«. Siehe etwa Thienen-Adlerflycht 1967; Rassem 1995. Stagl 1995a: 209-231.

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Das »Kronprinzenwerk« se aller seiner Völker erfunden werden müßte.13 Das ist auch die Grundaussage seiner »Ethnographie der österreichischen Monarchie«. Der Sieger über die Revolution von 1848/49, der junge Kaiser Franz Joseph, ist der »Kulturheros« dieses Werkes.14 Czoernig, zusätzlich auch Sektionschef des entstehenden Eisenbahnwesens der Monarchie, wollte die Wissenschaft in den Dienst von deren Rationalisierung und Modernisierung stellen. Bei seiner Freiherrnstandserhebung 1852 wählte er die Devise »Wissenschaft ist Macht«.15 Sein Programm erforderte administrative Zentralisierung und Abstellung des Völkerhaders.16 Dabei wies er der damals mit der Statistik eng verbundenen Ethnographie eine entscheidende Bedeutung zu.17 Die »Ethnographie der österreichischen Monarchie« ist als Kommentar zu Czoernigs »Ethnographischer Karte« konzipiert.18 Diese unterscheidet zwischen 137 »Volksstämmen«, die unter 22 »Sprachstämme« fallen, welche ihrerseits je einer der vier großen Sprachfamilien – Germanen, Romanen, Slawen und Magyaren – zugeordnet werden. Große wie kleine Volks- und Sprachstämme werden von Czoernig mit der gleichen liebenden Sorgfalt und Objektivität bestimmt, gezählt und beschrieben. Von den elf großen Völkern der Monarchie ist dabei weniger die Rede.19 In seinem Reformprogramm enttäuscht, zog sich Czoernig noch vor dem »Ausgleich« auf das Altenteil in Görz zurück. Im Widerspruch zum von ihm hochgehaltenen Impartialitätsprinzip bedeutete ja der Ausgleich, daß die nichtmagyarischen Minoritäten der transleithanischen Reichshälfte dem magyarischen Nationalismus ausgeliefert wurden. In Görz erschloß sich Czoernig ein neues Forschungsfeld: die Entstehung und ethnographische Untergliederung des italienischen Volkes. Er sah dieses, wie auch die anderen großen Völker Europas, nicht als durch nationbildende Eliten

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Rupp-Eisenreich 1995: 83. Siehe auch Anmerkung 4. Rupp-Eisenreich 1995: 83. Gothaisches Taschenbuch der Freiherrlichen Häuser 1919: 152. Czoernig von Czernhausen 1859. Diese Verbindung bestand seit A. L. von Schlözer, dem Schulhaupt der »Göttinger Universitätsstatistik«, die auch die Statistik in Österreich zutiefst beeinflußt hat. Von Schlözer prägte auch den Begriff »Ethnographie« (ca. 1770, s. Stagl 1995a: 233-268). Czoernig wurde auch als »Kind Schlözers« bezeichnet (Rupp-Eisenreich 1995: 83). 18 Czoernig von Czernhausen 1855. 19 Czoernig von Czernhausen 1855-57; siehe dazu Rupp-Eisenreich 1995: 83-85.

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Justin Stagl zusammengeschweißt, sondern als von selbst aus kleineren Einheiten zusammengewachsen an.20 Seine Ansicht war der der in Österreich gerade aufblühenden Soziologie diametral entgegengesetzt. Diese betonte die »natürliche Auslese«, das Gruppeninteresse als letztgültiges Entscheidungskriterium, die sozialen Funktionen der Konflikte und damit auch die Leistungen der Eroberer und Nationbilder.21 Ihr bedeutendster Vertreter, Ludwig Gumplowicz, kritisierte Czoernigs »Verwechslung« von Ethnizität und Nationalität und seine Gleichstellung großer und kleiner Gruppen.22 Im letzten Drittel des Jahrhunderts triumphierte ja der Sozialdarwinismus über das bislang in Österreich vorherrschend gewesene Leibniz’sche Harmoniedenken. Doch dieses Harmoniedenken sollte im frühen 20. Jahrhundert in Gestalt des »Holismus« wieder aufleben und nun seinerseits den Sozialdarwinismus in den Limbus des Vorwissenschaftlichen verweisen.23 In der Genealogie des »Kronprinzenwerkes« spielte der Leibnizianismus als das Denken der österreichischen Hochbürokratie eine besondere Rolle. Hierher gehört auch Czoernigs Nachfolger im Wiener Statistischen Zentralamt, Adolf Fikker (»Die Volksstämme der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, ihre Gebiete, Gränzen und Inseln«, 1869).24 Und eben dies war auch die Einstellung des Kronprinzen Rudolf.

4. Erzherzöge als Ethnographen Es war das Schicksal Österreichs, daß die Kaiser des 19. Jahrhunderts mehr oder minder mittelmäßig waren, wogegen keiner der hochbegabten jüngeren Mitglieder des Hauses auf den Thron gelangte. Deren Reformideen mußten unausgeführt bleiben. Manche von ihnen, die dennoch dem Chef des Hauses gegenüber zutiefst loyal blieben, zerbrachen an diesem Konflikt. Zwei von ihnen müssen hier noch vor dem Kronprinzen Rudolf genannt werden. Erzherzog Johann (1782-1859), Bruder von Kaiser Franz II (I), der mit dem Projekt eines Volksaufstandes gegen Napoleon gescheitert war, widmete sich daraufhin der statistisch-ethnographischen Erforschung der al20 21 22 23 24

Czoernig von Czernhausen 1876 und 1885. Siehe dazu Stagl 1999. Gumplowicz 1879. Siehe dazu Johnston 1972-92: 279-293. Ficker 1869; siehe dazu Tóth 1997: 58, 61f.

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Das »Kronprinzenwerk« pinen Gebiete des Habsburgerreiches.25 Damit wollte er das Herrschaftssystem zugleich rationaler und volksnäher gestalten und das (deutsche) Nationalgefühl sowohl anregen wie innerhalb der Grenzen der Legitimität bewahren. Zu seinem Programm gehörte auch die Förderung von Landwirtschaft und Gewerbe, die malerische Darstellung der Schönheit der Bergwelt und die Belebung der Volkstrachten und Volksfeste. Erzherzog Johann wurde außerordentlich populär, besonders seit er eine Bürgerliche geheiratet hatte und selbst Modellandwirt geworden war. In der Revolution von 1848/49 amtierte er in Frankfurt als Reichsverweser. Hier erwies sich sein Frühliberalismus dem Deutschnationalismus gegenüber als veraltet und wirkungslos, während zugleich der Ungarnaufstand die Bedrohung des Bestandes der Habsburgermonarchie durch die nationalrevolutionären Tendenzen der nichtdeutschen Völker jedermann vor Augen führte. Erzherzog Johann Salvator (1852-1891) hatte als General an der Okkupation Bosniens 1878 teilgenommen. Er war Militärreformer und dilettierte als Komponist und Schriftsteller. Er verwickelte sich in Balkanintrigen und wurde 1887 plötzlich seines Kommandos enthoben. Darauf verzichtete er auf seine Zugehörigkeit zum Haus Habsburg, nahm den bürgerlichen Namen Johann Orth an und qualifizierte sich als Schiffskapitän. Er ging mit seinem Schiff auf hoher See verloren. Er war der bewunderte ältere Vetter des Kronprinzen. Unter dessen Papieren fand sich der Entwurf einer ethnographischen Beschreibung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie von Johann Salvators Hand. Es sollten diesem zufolge alle Teilgruppen der Monarchie, einschließlich der Zigeuner, auf dem gleichen Fuße behandelt und die kulturellen Leistungen der Juden besonders hervorgehoben werden. Die Habsburgermonarchie sollte damit im Palacky´schen und Czoernigschen Sinne als Produkt der historischen Notwendigkeit erwiesen werden. Es ist durchaus möglich, daß die Idee zum »Kronprinzenwerk« eigentlich von Johann Salvator stammt. Dieser zerstritt sich später mit dem Kronprinzen über Fragen der Militärreform und nahm an der Verwirklichung seines Projekts keinen Anteil mehr. Im Oberösterreich-Teil findet sich jedoch noch ein kunsthistorischer Beitrag aus seiner Feder.26 Erzherzog Rudolf (1858-1889) war der einzige Sohn Kaiser Franz Josephs. Er erhielt die umfassende Erziehung eines Kronprinzen des Vielvöl25 Klingenstein 1982; Schneider 1994. 26 Hamann 1978: 227f., 247ff ; siehe »Architektur, Plastik und Malerei«, 1889, von Seiner kaiserlichen Hoheit dem durchlauchtigsten Herrn Erzherzog Johann. In: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild (im folgenden Ö-UM): VI, 219-270.

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Justin Stagl kerreiches und absolvierte in späthumanistischer Tradition eine anspruchsvolle Bildungsreise.27 Unter seinen Erziehern waren, wohl aufgrund des Einflusses der Kaiserin Elisabeth, bekannte Liberale. Der einflußreichste von diesen, der dann auch Rudolfs Reisebegleiter wurde, war Carl Menger (1840-1921), der Nationalökonom, Mitbegründer der Grenznutzenlehre und dezidierte Vertreter des Werturteilsfreiheitsprinzips.28 Menger war nebenbei politischer Journalist, der ein klares, kraftvolles Deutsch schrieb und Rudolf auch in dieser Hinsicht prägte. Rudolf war hochbegabt, doch etwas überspannt. Er drängte nach politischer Wirksamkeit, die ihm sein Vater versagte. Er wollte die Monarchie durch Lösung ihres Nationalitätenproblems vor dem Zerfall retten. Im Zusammenhang damit verwickelte er sich in schattenhafte Intrigen mit nationalungarischen Politikern. Er verfiel in eine morbide Depression und machte schließlich seinem Leben ein Ende. Nach dieser Tragödie wurden seine Spuren sorgfältig verwischt. Vieles um ihn ist bis heute ein Geheimnis geblieben.29

5. Die Grundidee des »Kronprinzenwerkes« Rudolf spürte in sich die Berufung zum Schriftsteller. Sein Rang erlaubte es ihm zwar, Reiseskizzen zu veröffentlichen, nicht aber politische Arbeiten. Dennoch publizierte er Dutzende solcher anonym in einer liberalen Zeitung, deren Herausgeber, Moriz Szeps (1834-1902), ein Jude, sein literarischer Mentor wurde. Seit 1884 konzentrierte der Kronprinz seine anderweitig nicht beanspruchten Energien auf seinen Kampf gegen den Nationalismus. Szeps leistete ihm hierbei Schützenhilfe. Dabei kam auch die Idee einer ethnographischen Beschreibung der gesamten Monarchie zum Tragen. Ein derartig zwischen Reisebericht und politischer Abhandlung die Mitte haltendes Werk war mit seinem Rang gerade noch vereinbar.30 Es sollte ein volkstümliches Werk werden, das die von Autoren wie Czoernig und Ficker zusammengetragenen Wissensmassen gefällig aufbereitete. Die beiden sind nicht genannt. Doch das »Kronprinzenwerk« übernahm die statistische Zentralperspektive und das Impartialitätsideal und zog wie Czoernig und Ficker den Begriff der »Volksstämme« dem der »Nationalitäten« vor. Als Popularisierung mußte es auch nicht allzusehr dem 27 28 29 30

Hamann 1978: 53-85. Siehe Boos 1986. Die bis heute gültige Biographie ist Hamann 1978. Hamann 1978: 227-238.

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Das »Kronprinzenwerk« Mengerschen Werturteilsfreiheitsprinzip gehorchen; es wird vielmehr reichlich gelobt und kaum getadelt. Wie Erzherzog Johann, der populärste der Habsburger, verband der Kronprinz die Bestandsaufnahme von »Land und Leuten«31, Agrikultur und Gewerbe mit einer Kunst- und Kulturpolitik und dem Ziel, durch Selbstvergewisserung auch den Stolz der Völker der Monarchie auf sich selbst und das ihnen Gemeinsame zu wecken. An die Stelle ihres gegenseitigen Hasses und Neides sollte gegenseitige Achtung und Wertschätzung treten: »Wissen ist Versöhnung«, wie Szeps in einem zur Subskription des Werkes aufrufenden Leitartikel schrieb.32 Es muß hier noch auf eine andere umfassende Monarchiebeschreibung hingewiesen werden, die kurz vor dem »Kronprinzenwerk« erschienen war, mehrere Mitarbeiter33 mit diesem gemeinsam und ihm wohl als Muster, wenn nicht überhaupt als auslösendes Moment gedient hatte. Es war nämlich in Teschen in Österreichisch-Schlesien zwischen 1881 und 1883 ein dreizehnbändiges Sammelwerk, »Die Völker Österreich-Ungarns. Ethnographische und culturhistorische Schilderungen«, erschienen, als dessen Herausgeber der Verleger, Carl Prochaska, firmierte.34 Auch Prochaska betonte in seiner Einführung, daß sein Werk »vom Geist der Versöhnung« getragen sei.35

31 Die in der frühen statistisch-ethnographischen Literatur, so auch mit Vorliebe von Erzherzog Johann (Schneider 1994) immer wieder gebrauchte Formel »Land und Leute« geht auf Luthers Übersetzung des Johannesevangeliums zurück (Joh. 11: 49). 32 Moriz Szeps: Erkennet Euch selbst. In: Neues Wiener Tagblatt vom 27. März 1884. Zitiert nach Hamann 1978: 228. 33 Karl Schober, Josef Egger, Josef Bendel und Johann Heinrich Schwicker behandeln die Deutschen in verschiedenen Teilen der Monarchie; Pál Hunfalvy die Ungarn, Joan Slavici die Rumänen, Gerson Wolf die Juden, Jaroslav Vlach und Joseph Alexander Freiherr von Helfert die Tschechen und Slowaken, Józef Szujski die Polen und Ukrainer, Josef Sumann die Slowenen, Josef Starò die Kroaten, Theodor Ritter Stefanovic´ Vilovsky die Serben, Géza Czirbusz die (in Südungarn angesiedelten) Bulgaren und Johann Heinrich Schwicker die Zigeuner. 34 Prochaska 1881-83; siehe dazu Rupp-Eisenreich 1997: 109-111. Hamann 1978 kennt dieses Muster des »Kronprinzenwerks« nicht. 35 Prochaska 1881-83: I, Einführung. ^

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Justin Stagl 6. Die Verwirklichung dieser Idee Der volle Titel des »Kronprinzenwerkes« lautet »Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild«. [Abb. 1] Es erschien in 397 Lieferungen zwischen 1885 und 1902. Diese wurden, beginnend mit 1886, zu insgesamt 24 Quartbänden zusammengefaßt.36 Wie im Titel ausgedrückt, treten die Illustrationen gleichwertig neben den Text. Es gibt davon insgesamt 4529; ihre Thematik ist enzyklopädisch und reicht von Naturschilderungen über Historiengemälde und (sehr beliebt) Paare mit Volkstrachten bis zu Abbildungen von Haustypen, Werkzeugen und Geräten. Das Werk ist dem Kaiser gewidmet und im Verlag der Hof- und Staatsdruckerei erschienen. Es ist kein Herausgebername genannt; nur der Untertitel weist auf die »Anregung« und »Mitwirkung« des Kronprinzen hin.37

36 Diese sind: I. Wien (1886); II. Übersichtsband. 1. Abtheilung (Naturwissenschaftlicher Theil) (1887); III. Übersichtsband. 2. Abtheilung (Ethnographisch-geschichtlicher Theil) (1887); IV. Niederösterreich (1888); V. Ungarn. Band 1 (1888); VI. Oberösterreich und Salzburg (1889); VII. Steiermark (1890); VIII. Kärnten und Krain (1891); IX. Ungarn. Band 2 (1891); X. Das Küstenland (Görz, Gradiska, Triest und Istrien) (1891); XI. Dalmatien (1892); XII. Ungarn. Band 3 (1893); XIII. Tirol und Vorarlberg (1893); XIV. Böhmen. 1. Abtheilung (1894); XV. Böhmen. 2. Abtheilung (1896); XVI. Ungarn. Band 4 (1896); XVII. Mähren und Schlesien (1897); XVIII. Ungarn. Band 5. 1. Abtheilung (1897); XIX. Galizien (1898); XX. Bukowina (1899); XXI. Ungarn. Band 5. 2. Abtheilung (1900); XXII. Bosnien und Hercegovina (1901); XXIII. Ungarn. Band 6 (1902); XXIV. Länder der St. Stephanskrone. Band 7. Croatien und Slavonien (1902). 37 Zuerst lautet der Untertitel: »Auf Anregung und unter Mitwirkung Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen Erzherzog Rudolf«; zum Schluß »Auf Anregung und unter Mitwirkung weiland Seiner kaiserl. und königl. Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen Erzherzog Rudolf begonnen, fortgesetzt unter dem Protectorate der Frau Gräfin Stephanie Lónyay, geborenen Prinzessin von Belgien, Herzogin von SachsenCoburg«.

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Das »Kronprinzenwerk« Abb. 1: »Schlußwort« aus »Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild«

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Justin Stagl Einleitend fordert Rudolf den Leser »zu einer Wanderung durch weite, weite Lande, zwischen vielsprachigen Nationen, inmitten stets wechselnder Bilder« auf.38 Das solle die Völker der Monarchie besser miteinander bekannt machen und ihren Stolz aufeinander fördern. Sei doch gerade die Ethnographie eine in hohem Maße patriotische Disziplin, »da dieselbe[.], ferne von allen unreifen Theorien und von allen Parteileidenschaften, das Material sammel[t], aus welchem allein eine objective Vergleichung und Abschätzung der verschiedenen Völker hervorgeht.«39

Unter diesen »unreifen Theorien« ist wohl vor allem die sozialdarwinistische zu verstehen. So würden sich hier auch bislang vernachlässigte Volksstämme gebührend gewürdigt finden: »Dieselben werden dadurch aufgefordert, ihren geistigen Schwerpunkt in Österreich-Ungarn zu suchen«.40 »Darum drängt sich der Gedanke auf, dieses reiche, für uns noch brach liegende Material in Österreich-Ungarn zu vereinigen und dadurch die Schaffung eines Werkes zu ermöglichen, welches innerhalb der Grenzen dieser Monarchie dem wissenschaftlichen und künstlerischen Selbstgefühl der einzelnen Nationen Rechnung tragen, der ganzen Monarchie und allen ihren Theilen zur Ehre gereichen würde. [Sei doch ihre] Interessengemeinschaft und ihre innige Verbindung [...] ein Naturgesetz!«41

Sonore Worte, hinter denen sich Selbstzweifel verbirgt. Von Czoernigs hochgemuter Devise »Wissenschaft ist Macht« zu Rudolfs und Szeps’ beschwörendem »Wissen ist Versöhnung«: welch resignative Färbung hatte doch dieser Gedanke nach einer Generation der Niederlagen angenommen! Bevor Rudolfs Einleitung überhaupt publiziert werden konnte, war sein Programm auf immer größere Schwierigkeiten gestoßen. Er konnte nicht daran denken, wie dies etwa Prochaska getan hatte, das Reich als ein Insgesamt von Völkern zu präsentieren. Bestand es doch aus Kronländern, die vor allem das eine miteinander gemeinsam hatten, nämlich daß der Kaiser, Rudolfs Vater, ihr legitimer Herrscher war. Dennoch hatte der Kronprinz gehofft, jedes Volk gleichsam von innen her, durch seine eige-

38 39 40 41

Kronprinz Rudolf: Einleitung. In: Ö-UM: II, 5-17, hier 8. Ö-UM: II, 6. Ö-UM: II, 6. Ö-UM: II, 7, 16.

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Das »Kronprinzenwerk« nen Gelehrten und Künstler schildern zu können.42 Dieser Plan wurde von seinen ungarischen Freunden durchkreuzt. Österreich-Ungarn war ja jetzt eine »Doppelmonarchie«. So konnten die Ungarn die Bestellung zweier Redaktionskomitees durchsetzen, eines in Wien und eines in Budapest. Diese Komitees wählten dann die Mitarbeiter für die cis- und für die transleithanische Reichshälfte aus und bereiteten zwei parallele Ausgaben vor, eine deutsche und eine ungarische (»Az Osztrák-Magyar Monarchia irásban és képben«). Damit war das Werk »dualistisch« wie die Monarchie selbst geworden.43 Wenn es unter diesen Umständen überhaupt zustande kam, war dies nur dem beharrlichen Einsatz und Takt des Kronprinzen zuzuschreiben, was auch von allen Beteiligten anerkannt wurde. Er führte bei den Redaktionssitzungen in Wien und in Budapest den Vorsitz und beteiligte sich auch an der Redaktionsarbeit selbst. Zweimal im Jahr gab er ein Diner für die Mitarbeiter – das erstemal, daß Intellektuelle durch das Kaiserhaus in dieser Weise geehrt wurden. Nach dem Erscheinen der ersten Lieferung veranstaltete auch der Kaiser einen Empfang für sie. Und doch waren sie zumeist eingefleischte Liberale, wie sie sonst vom Kaiser nicht geschätzt wurden. Zum Planungsstab gehörten neben Menger, Szeps und anderen auch der bekannte Musikkritiker Eduard Hanslick.44 Es gab ein Kunstund ein Finanzkomitee. Ersteres wurde von dem Industriellen und Sammler Nikolaus Dumba geleitet, letzteres von Hans Graf Wilczek, einem Patron von Kunst und Wissenschaft und persönlichen Freund des Kronprinzen. Die Vorsitzenden der Redaktionskomitees waren beide Veteranen der Revolution von 1848/49: in Budapest der Nationalschriftsteller Maurus

42 »Das ist das Programm unseres Werkes; Österreich-Ungarn in Wort und Bild möge in wissenschaftlicher und künstlerischer Beziehung und zugleich als wahres Volksbuch ernste patriotische Bedeutung gewinnen. Die literarischen und künstlerischen Kreise aller Völker dieser Monarchie haben sich zu gemeinsamer Arbeit vereinigt, und dem In- und Auslande soll dieses Werk zeigen, welch reiche Summe an geistiger Kraft wir in allen Ländern und Völkern besitzen, und wie sie sich alle vereinigt haben zu einer schönen Schöpfung, die dem Selbst- und Machtgefühl der allgemeinen Vaterlandsliebe dienen soll« (Ö-UM: II, 16f.). 43 Hamann 1978: 229-232. 44 Hamann 1978: 229-232.

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Justin Stagl (Mór) Jókai (1825-1904), in Wien Professor Joseph von Weilen (1828-1889), ein Jude.45 Das »Kronprinzenwerk« erschien zur Hochblüte des österreichischen Antisemitismus, gegen den es dezidiert Stellung bezog.46 Es wurde durch Szeps’ Vermittlung im Stillen mit jüdischem Kapital unterstützt und von der liberalen sogenannten »Judenpresse« lauthals akklamiert. Die klerikalen und die deutsch- und tschechischnationalen Blätter machten Gegenpropaganda. Dennoch wurde es in Cisleithanien ein finanzieller Erfolg; in Transleithanien war die Aufnahme »feierlich und lauwarm«.47 Es gibt keinen direkten Beweis, daß es das selbstgesetzte Ziel, den Reichspatriotismus zu befeuern, erreicht hätte. Doch ich gestehe, daß es heute nostalgische Gefühle zu erwecken vermag. Die deutsche und die ungarische Ausgabe unterschieden sich in einem kleinen, doch bezeichnenden Punkt: In letzterer wurde es gewissen antisemitischen Äußerungen hereinzuschlüpfen gestattet, die in ersterer fehlen.48 In den sieben dem Königreich Ungarn gewidmeten Bänden wird der dort seit dem »Ausgleich« durchgesetzte Zentralismus diskret, doch unmißverständlich erkennbar. Der erste von ihnen behandelt, nach einer separaten Einleitung des Kronprinzen, das Land und seine Geschichte sowie das magyarische Volk – wie wenn Ungarn sonst von keinem anderen bewohnt gewesen wäre. Kannte doch das ungarische Öffentliche Recht den von Rudolf bevorzugten Begriff der »Volksstämme« nicht, sondern nur ethnographisch unterschiedliche Bestandteile der ungarischen Staatsnation.49 Diese letzteren werden jedoch, im übrigen objektiv und fair, bei der Besprechung der einzelnen Komitate in den folgenden Bänden mitbehandelt – fast so, als ob sie eine Art Zubehör des transleithanischen Bodens bildeten.50 Nach dem Tode des Kronprinzen wurde die Fortführung des Werkes zur Prestigeangelegenheit: »Auf Allerhöchsten Befehl« wurde es zu einem »Monument, bestimmt, das Gedächtniß des Kronprinzen, um den die Thränen der Völker flossen, zu verewigen«.51 Die Witwe des Kronprinzen, 45 Ein Mitarbeiterverzeichnis gibt das anonyme »Schlußwort« (Ö-UM: XXIV, 5-16). 46 Hamann 1978: 229-232. Zum Antisemitismus siehe auch Hamann 1996. 47 Szász 1997: 70. 48 Heiszler 1997. 49 Szász 1997: 67f. 50 Heiszler 1997. 51 »Schlußwort« (wie Anm. 45): 6.

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Das »Kronprinzenwerk« Stephanie, wurde zur neuen Schirmherrin. Sie hat keinen Einfluß auf die Textgestaltung genommen, aber einige Aquarelle zum Bilderschmuck beigesteuert. Das Werk wurde planmäßig 1902 abgeschlossen.52

7. Ein Überblick über das »Kronprinzenwerk« Wie alles, was mit Rudolf zusammenhängt, ist das »Kronprinzenwerk« ungenügend bekannt. Die Sozial- und Kulturwissenschaften haben keine Notiz von ihm genommen. Das mag so sein, weil es ein volkstümliches Werk darstellte, vielleicht auch eines, das als heikel zu rezensieren galt. Möglicherweise aber auch, weil seinem politischen Programm kein Erfolg beschieden war. Das Darstellungsprinzip nach Kronländern beziehungsweise Komitaten statt nach Ethnien legte das Werk auf die politische Struktur der Monarchie fest, die mit der Entwicklung dieser Wissenschaften nicht kompatibel war. Unter den Verfassern der 587 literarischen Beiträge finden sich indes hervorragende Persönlichkeiten. Am produktivsten waren Menger und Jókai. Menger schrieb oder redigierte in den meisten Bänden den volkswirtschaftlichen Teil. Jókai brillierte mit Volks- und Landschaftsschilderungen und behandelte mit ausgezeichnetem Takt kritische Episoden der neueren ungarischen Geschichte, insbesondere die Revolution von 1848/ 49. (Der Name des Revolutionsführers Kossuth wird nicht genannt. Doch auf einer Illustration, »Die Eröffnung des Reichstags von 1848 zu Budapest«, ist er deutlich zu sehen. Die einleitende Allegorie zu Jókais Kapitel »Die neue Epoche« zeigt den Genius Ungarns, der sternenbeglänzt und stolz in die Zukunft marschiert, in den Händen gesprengte Ketten, flankiert von einer dampfenden Eisenbahn.)53 Auch andere Nationalschriftsteller waren beteiligt, so Koloman (Kálmán) Mikszáth und Peter Rosegger. Die personelle Kontinuität zu Prochaskas Vorgängerwerk repräsentierten Josef Egger, Josef Alexander Freiherr von Helfert und Paul (Pál) Hunfalvy.54 Helfert war der führende Vertreter des »Austroslawismus«, das heißt der Verbindung von slawischem Nationalgefühl und österreichischem Reichspatriotismus, in der Generation nach Palacky´. Ein anderer Austroslawist, der Historiker Michael Bobrzyn´ski, behandelte die polnische Geschichte in 52 Ö-UM: XXIV, 6. 53 Maurus Jókai: Die neue Epoche; Fortsetzung des Zeitalters der Könige aus dem Hause Habsburg. In: Ö-UM: V, 269-282, Illustrationen: 269, 279. 54 Siehe Anmerkung 33. Zu Paul Hunfalvy siehe auch Tóth 1997.

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Justin Stagl ähnlichem Sinne wie Jókai die ungarische.55 Der greise Czoernig schrieb über seine neue Heimat, Görz und Gradiska. Unter den sonstigen Mitgliedern entstammten viele der »k.k. Geographischen Gesellschaft«, deren Direktor Czoernig und deren Schirmherr Rudolf gewesen war, sowie der mit dieser engstens verbundenen »Anthropologischen Gesellschaft in Wien«.56 Erzherzog Joseph, Sohn des in Ungarn populärsten Habsburgers, des Palatins Joseph, schrieb über die Zigeuner.57 Während die Juden durch Schriftsteller aus ihren Reihen dargestellt wurden, war dies für die Zigeuner noch nicht möglich, doch fanden sie ihr Sprachrohr an allerhöchster Stelle. Die kleinen, vorindustriellen Minderheiten wurden mit dem »ethnographischen Blick« gesehen und beschrieben. Gerade sie werden im »Kronprinzenwerk« besonders herausgestellt. Neben den genannten liberalen Aristokraten und Großbürgern ist im »Kronprinzenwerk« die Hochbürokratie besonders stark repräsentiert; sie ist als dessen eigentliche Trägerschicht anzusehen. Diese Männer waren durch den speziell für die österreichische Aufklärung maßgebenden Leibnizianismus geprägt worden, welcher in seiner Neufassung durch Johann Friedrich Herbart das österreichische Bildungswesen bis spät ins 19. Jahrhundert bestimmte.58 Erst in den späteren Bänden tauchen kleinbürgerlichere Mitarbeiter auf und mit ihnen nationalistischere Töne. Zur Zeit seines Abschlusses war das »Kronprinzenwerk« wohl schon ein altmodisches Relikt wie die franzisko-josephinische Epoche selbst. Doch finden sich in diesem Werk auch schon Vorboten des »Holismus«, der erst nach dem Zerfall der Monarchie in den zwanziger Jahren zur bestimmenden Richtung in den Sozial- und Kulturwissenschaften aufsteigen sollte. Es ist bekannt, daß dieser Holismus besonders kräftige Wurzeln auf dem Boden der Habsburgermonarchie hatte, wo er die moderne Verwandlungsform des leibnizianischen Harmoniedenkens darstellt. Eine Verbindungslinie läuft über Eduard Hanslick. Sein Schüler war Otakar Hostinsky´, Begründer des »Formalismus« in der Musikwissenschaft. Er war auch Mitarbeiter des »Kronprinzenwerkes«. Von ihm wird erzählt, er habe die nationale Impartialität so weit getrieben, daß er in Prag immer erst wartete, bis er gegrüßt wurde, um dann je nachdem in Tschechisch oder Deutsch zurückgrüßen zu können. Hostinsky´ war Herbartianer und 55 Michael Bobrzyn´ski: Geschichte: Seit der Vereinigung. In: Ö-UM: XIX, 180238. 56 Siehe Feest 1995. 57 Erzherzog Joseph: Die Zigeuner. In: Ö-UM: XXIII, 565-574. 58 Siehe Anmerkung 23.

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Das »Kronprinzenwerk« hatte nach dem Krieg Kontakt zur »Prager Schule des Strukturalismus«, über die sich diese Denkrichtung nach dem Westen verbreitete.59 Eine Parallelerscheinung dazu war der »Funktionalismus«, dessen Begründung insbesondere mit dem Namen Bronislaw Malinowski verbunden ist. Auch dessen Umfeld ist im »Kronprinzenwerk« repräsentiert. Malinowskis Vater Lucian war Austroslawist und Kollege Bobrzyn´skis in Krakau. Er war »Neogrammatiker«, das heißt, er behandelte Sprachen als lebende Ganzheiten, und er schrieb im »Kronprinzenwerk« über die Dialekte des Polnischen. Ein weiterer österreichischer Pionier des Funktionalismus, Richard Thurnwald, veröffentlichte seine Erstlingsarbeit, über die bosnische Hausindustrie, 1901 im Bosnien-Band.60 Die Illustrationen des Werkes würden gleichfalls ein näheres Studium lohnen. Das Werk ist opulent aufgemacht, es enthält zahlreiche Zier- und Randleisten und allegorische Darstellungen. Die eigentlichen Illustrationen stammen von führenden Künstlern des Zeitstils, also des Historismus. Daneben gibt es zahlreiche Zeichnungen von Geographen, Prähistorikern, Ethnographen und anderen Gelehrten, zu deren Handwerk das Zeichnen damals noch gehörte, dazu solche von Damen der Gesellschaft. In den allerletzten Bänden finden sich Vorboten des Jugendstils. Die Illustrationen tragen wesentlich zum Charme des »Kronprinzenwerks« bei. Sie sind im allgemeinen eher pittoresk als exakt, und eben dies kann man auch von den Texten sagen. Von den ganz großen Schriftstellern abgesehen, waltet ein glatter, feuilletonistischer, etwas selbstgefälliger Stil vor. Geographie, Prähistorie, Ethnographie und Volkswirtschaft werden gegenüber der Historie und der Politik akzentuiert. Mit anderen Worten: Das »Kronprinzenwerk« blendet den Wandel so gut es geht aus. Halkyonische Tage! Nur eine Generation später, und der historische Wandel würde das Habsburgerreich eingeholt und zerstört haben.

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59 Strítecky´ 1992. 60 Lucian Malinowski: Die polnischen Mundarten. In: Ö-UM: XIX, 500-509; Richard Thurnwald: Gewerbe und Handel. In: Ö-UM: XXII, 487-500. Siehe dazu Stagl 1995b.

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»Many Races, One Singapore«

»Many Races, One Singapore«: Kulturelle Komplexität, Ethnizität und Nation in Singapur Andreas Ackermann

1. Identität, Multikulturalität, Nation 1 Aufgrund der im Zuge der Globalisierung zunehmenden Migrationsbewegungen werden immer mehr europäische Nationalstaaten empirisch multikulturell und traditionelle Vorstellungen von Homogenität obsolet. Die damit einhergehende Zunahme der Bedeutung von ethnisch-kultureller Identität wirft die Frage nach dem Selbstverständnis der jeweiligen Nationen auf, in der Bundesrepublik etwa in Form einer Debatte um eine (je nach Standpunkt entweder notwendige oder überflüssige) »Leitkultur«. Ein vergleichender Blick nach Asien, anhand des Beispiels Singapur, scheint in diesem Zusammenhang hilfreich, um wichtige Fragen im nationalstaatlichen Umgang mit kultureller Komplexität näher beleuchten zu können. Die häufig unklare Verwendung der Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit ethnischer Identität und Multikulturalität läßt eine kurze Klärung der im folgenden verwendeten Begriffe geboten erscheinen. Der umfassende Begriff der Identität soll in einem ethnologischen Sinne gelten, das heißt, er bezieht sich auf die Zugehörigkeit zu Gruppen, die durch bestimmte, von den jeweiligen Mitgliedern als entscheidend bzw. signifikant interpretierte Qualitäten gekennzeichnet sind. Diese können sich auf Sprache, materielle Kultur, Religion, Verwandtschaft, aber auch auf geschlechts-, alters- sowie berufsspezifische Merkmale gründen. Sowohl ethnische als auch nationale Identitäten (bzw. »Ethnizität«) sind daher ledig-

1 Der folgende Beitrag verwendet ethnographisches Material, das während eines halbjährigen Forschungsaufenthaltes in Singapur zwischen 1992 und 1993 gesammelt wurde. Die Forschung fand im Rahmen des Bielefelder DFG-Graduiertenkollegs »Markt, Staat, Ethnizität« statt. Die daraus resultierende Studie untersucht sowohl Prozesse ethnischer Identifikation, als auch das Aufeinandertreffen verschiedener ethnisch-kultureller Gruppen in zwei unterschiedlich multikulturellen Städten, nämlich Singapur und Frankfurt am Main (Ackermann 1997).

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Andreas Ackermann lich spezielle Ausprägungen eines allgemeinen Abgrenzungsprozesses soziokultureller Entitäten.2 Einer Definition Max Webers folgend, läßt sich eine Gruppe immer dann als ethnisch beschreiben, wenn die von ihren Mitgliedern behaupteten Gemeinsamkeiten sich überwiegend auf eine postulierte gemeinsame Abstammung beziehen, mithin Blutsverwandtschaft geltend machen.3 Nationale Identität dagegen kann sich entweder gleichfalls auf den Gedanken einer Abstammungsgemeinschaft mit gemeinsamer Geschichte und Territorium stützen (und wird dann häufig als »ethnischer Nationalismus« bezeichnet) oder auf gemeinsame Werte und Normen (»politischer Nationalismus«). Während der ethnische Nationalismus auf den kulturell homogenen Staat ausgerichtet ist, in dem – idealerweise – alle Mitglieder einer einzigen nationalen Gruppe versammelt sind, bildet der politische Nationalismus ein »Konzept postkonventioneller kollektiver Identität, geregelt durch normative Faktoren universalistischer Art«, und es ist genau dieser, ethnische Kriterien übergreifende Aspekt, der die Nation »modern« erscheinen läßt.4 Eine Nation ist mithin keine ursprüngliche oder unveränderbare soziale Einheit, vielmehr ist mit Eric. J. Hobsbawm das Element des Künstlichen, der Erfindung und des social engineering zu betonen, das in die Bildung von Nationen einfließt, denn: »Nicht die Nationen sind es, die Staaten und Nationalismen hervorbringen, sondern umgekehrt.«5 Besonders deutlich läßt sich dies am Beispiel der relativ jungen Nationalstaaten Asiens zeigen, die aus ehemaligen Kolonien entstanden sind. Mit Stein Tønneson und Hans Antlöv soll von ihnen – und von Singapur speziell – als nations-of-intent die Rede sein, die sich letztlich der Umsetzung jeweiliger Visionen von social engineers in bezug auf territoriale Einheit, entsprechende Institutionen, eine Ideal-Staatsbürgerschaft sowie ein klares Identitäts-Profil verdanken.6 Staaten wie Singapur, die das Resultat sowohl einer Kolonisierung als auch der darauf folgenden Dekolonisierung darstellen, haben nur selten eine kollektive Identität, die den Prozeß des nation building stützen könnte. Ihre territorialen Grenzen waren häufig ohne Rücksicht auf die Bevölkerung gezogen worden, unter Umständen sogar ohne deren Kenntnis, und besaßen demzufolge auch nur wenig Bedeutung für die Einwohner, mit Ausnahme der – häufig »westlich« erzo2 3 4 5 6

Für eine grundlegende ethnologische Theorie der Identität: Müller 1987. Weber 1980: 237. Rüsen 1996: 146f. Hobsbawm 1996: 21. Tønneson & Antlöv 1996: 38.

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»Many Races, One Singapore« genen – einheimischen Eliten. Diesen fiel dann die Aufgabe zu, eine die existierenden partikularen Interessen überwölbende kollektive Identität zu schaffen. Allerdings bedeutet eine Ausdehnung des Kollektivs keinesfalls auch das gleichzeitige Aufgehen kleinerer Gruppen in der Großgruppe. Kollektive Identität weitet sich nicht einfach aus, sie wird im selben Maße auch komplexer und variantenreicher. Dies birgt die Gefahr wachsender Konfliktpotentiale und erhöht den Bedarf an identitätsstiftender Symbolik. Daher stützt sich nationale Identität in der Mehrheit der Fälle auf eine häufig nur schwer auseinanderzuhaltende Mischung sowohl ethnisch als auch politisch bestimmter Komponenten. Hinzu kommt die gegenläufige Dynamik kollektiver Identität, die zwar einerseits integriert, andererseits aber auch einen ungemeinen Druck zur Anpassung und zur Ablehnung kultureller Differenzen produziert. Vor allem der ethnisch motivierte Nationalismus bewertet so kulturelle Komplexität als unerwünschte Differenz, die entweder angeglichen oder ausgesondert werden muß. In diesem Zusammenhang spielt der Begriff der Ethnizität eine große Rolle, mit dem Strategien der Selbst- und Fremdzuschreibungen bezeichnet werden sollen, die im Kontext komplex gewordener Kollektive Anwendung finden, seien es nun Imperien oder Nationalstaaten. Ethnizität ist sozusagen die reflexive Form des strategischen Appellierens an eine imaginierte Abstammungsgemeinschaft, die um so mehr an Bedeutung gewinnt, als Kategorien der Reinheit im Verlauf steigender Komplexität zunehmend fragwürdig erscheinen. Im Unterschied dazu bezeichnet ethnische Identität die eher unreflektierte (bzw. unausgesprochene) Annahme von Blutsverwandtschaft in noch überschaubaren traditionellen Gruppen, die nicht mit komplexeren Organisationsstrukturen konfrontiert sind. Der Begriff des Multikulturalismus schließlich läßt sich in einem doppelten Sinne verstehen: Deskriptiv gefaßt verweist er einfach auf das Vorhandensein von ethnisch-kulturellen Differenzen in einem gegebenen Kollektiv (und in diesem Sinne sind die weitaus meisten Gesellschaften multikulturell). Normativ gewendet steht er für die politische Organisation von Ethnizität als ein im wesentlichen gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedener, ethnisch-kulturell kategorisierter Gruppen innerhalb von Kollektiven – mithin reduzierter kultureller Komplexität.7 Die zunehmende Komplexität kollektiver Identitäten innerhalb des Nationalstaates führt letztlich zu einer paradoxen Entwicklung: Obwohl sei7 Multikulturell verfaßte Gesellschaften in diesem Sinne wären etwa Kanada, Australien und Singapur.

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Andreas Ackermann ne Legitimität das Verblassen ethnischer Loyalitäten verlangt, provoziert gerade diese Struktur das Erstarken von Ethnizität, indem ethnische Kriterien zum Maßstab politischen Handelns werden. Das bedeutet aber auch, daß ein Nationalstaat, der keine politischen identitätsstiftenden Bezugspunkte anbieten kann, zwangsläufig ethnische Identitäten reproduziert. Das heißt, sowohl (der ethnische) Nationalismus als auch Multikulturalismus produzieren Ethnizität und perpetuieren damit ein Problem, zu dessen Lösung sie doch eigentlich hatten beitragen wollen. Der Stadtstaat Singapur bietet für dieses Dilemma ein anschauliches Beispiel und soll hier exemplarisch für die Probleme stehen, mit denen nations-of-intent konfrontiert sind, wenn sie die heterogene Bevölkerungsstruktur, die die Kolonisatoren hinterlassen haben, in eine kollektive Identität nationaler Prägung einzubinden versuchen.

2. Eine kurze Geschichte des singapurischen Multikulturalismus Migration, Ethnizität und Multikulturalität in unterschiedlicher Ausprägung haben in den verschiedenen Phasen der modernen Geschichte Singapurs jeweils eine zentrale Rolle gespielt.8 Im Jahre 1819 erwarb Sir Stamford Raffles (1781-1826) im Namen der British East India Company die Insel vom Sultan Hussein von Johor. Singapur lag strategisch günstig auf dem Seeweg nach China, so daß die Engländer sowohl der holländischen Vorherrschaft in der Region entgegensteuern als auch den Opiumhandel zwischen Indien und China kontrollieren konnten. Aufgrund der vorteilhaften Lage und zahlreicher Steuervergünstigungen erlebte der britische Handelsposten am Singapurfluß einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung und zog rasch unzählige Einwanderer aus den Kolonien Indien und Malaya (heute ungefähr Westmalaysia), aus dem malaiischen Archipel und Indonesien, vor allem aber aus China an. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Singapur zur kosmopolitischsten Stadt Asiens entwickelt, in der nicht nur der – ausschließlich von Europäern kontrollierte – Handel mit England und Indien abgewickelt wurde, sondern auch der – überwiegend von Asiaten kontrollierte – Han8 Die folgende Darstellung stützt sich vor allem auf Turnbull 1989 sowie Chew & Lee 1991. Natürlich gibt es auch eine Geschichte Singapurs vor der Gründung des britischen Handelspostens, auf die hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden kann.

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»Many Races, One Singapore« del mit Indonesien, Thailand, China und Malaya. Von 43 Handelshäusern im Jahre 1846 waren zwanzig britisch, fünf jüdisch, fünf chinesisch, fünf arabisch, zwei armenisch, zwei deutsch sowie je eines portugiesisch, amerikanisch und parsisch.9 Lebten bei Raffles’ Ankunft etwa 1.000 Menschen auf der zum größten Teil mit Urwald bedeckten Insel, zur Hauptsache malaiische Fischer und chinesische Händler, so war die Bevölkerung Singapurs im Jahre 1824 bereits auf über 10.000 Einwohner angewachsen und zur Jahrhundertwende betrug sie mehr als 200.000. Dabei nahm der chinesische Anteil der Bevölkerung stetig zu: 1827 stellten die Chinesen bereits fast die Hälfte der Bevölkerung, 1865 waren es 65 Prozent und 1931 schließlich 75 Prozent, also etwa jene Quote, die auch heute noch gilt (2000: 77 Prozent).10 Die überwiegende Zahl der chinesischen Migranten kam aus den südöstlichen Provinzen Kwangtung und Fukien und setzte sich im wesentlichen aus vier Sprachgruppen zusammen: Hokkien, Teochew, Cantonese, und Hakka. Während Hokkiens und Teochews das Wirtschaftsleben Singapurs dominierten, arbeiteten Kantonesen und Hakka vor allem in der Landwirtschaft, in den Zinn-Minen (Malayas), als Zimmerleute, Schneider und Goldschmiede. Malaiische Zuwanderer kamen zur Hauptsache aus Malakka, Sumatra und von den Riau-Inseln und arbeiteten als Bootsleute, Fischer, Holzschnitzer oder Zimmerleute. Indische Migranten wanderten überwiegend aus Südindien ein, es gab aber auch Sikhs, Punjabis, Gujaratis, Bengalis sowie einige wohlhabende Parsen. Sie kamen als Händler, Verkäufer und Büroangestellte, als Garnisonstruppen, als Sträflinge, vor allem aber waren die Inder im Transportwesen vertreten, wo sie als Flußschiffer, Hafenarbeiter und Ochsenkarrenkutscher tätig wurden.11 Zu den zahlenmäßig kleineren Einwanderergruppen gehörten auch die Bugis, seefahrende Händler aus Sulawesi, Araber und Juden, die ab 1870 aus dem Nahen Osten zuwanderten.12 Obwohl Raffles selbst die Stadt insgesamt nur dreimal besuchte, hatte er doch dezidierte Vorstellungen von ihrer Zukunft. Sein Plan zur Stadtentwicklung sah vor, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen getrennt nach ihrer Herkunft in je eigenen Stadtvierteln anzusiedeln, und er berief daher einen Ausschuß »zur angemessenen Verteilung der Eingeborenenviertel (native divisions) der Stadt«. Er hielt es für ratsam 9 10 11 12

Turnbull 1989: 39. Chew 1991: 139. Turnbull 1989: 97. Turnbull 1989: 96.

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Andreas Ackermann »that in providing for its accommodation a timely attention should be paid to its future regulation, with reference to the circumstances of the place and the peculiar character and institutions of the several classes of inhabitants of which the society will be composed.«13

Das Gebiet zu beiden Seiten des Singapurflusses wurde in der Folge sowohl für Regierungsbelange als auch zur ökonomischen Nutzung und als Wohngebiet ausgewiesen. Das unmittelbar nördlich an den Fluß grenzende Gebiet blieb für die Regierung reserviert, während das Wirtschaftszentrum am südlichen Flußufer seinen Platz fand. Das Europäerviertel erstreckte sich entlang dem Regierungsviertel, das arabische Viertel gruppierte sich weiter nördlich um die Sultansmoschee, und die Bugis siedelten an der Küste zwischen dem arabischen Viertel und dem Rochor-Fluß. Die indischen und chinesischen Handelshäuser befanden sich dagegen direkt am Singapurfluß, im ökonomischen Zentrum der Stadt.14 Stamford Raffles’ Plan legte so die räumliche Segregation der Migranten fest und initiierte die Entwicklung ethnischer Viertel, von denen zum Beispiel Chinatown, Little India und Kampong Glam (als malaiisches Viertel) immer noch existieren. Die chinesischen Migranten wurden teilweise sogar noch einmal nach ihren Sprachen differenziert angesiedelt, worauf Straßennamen wie Teochew, Hokkien oder Amoy Street noch heute hinweisen. Somit wurden ethnische Lebenswelten geschaffen, die sozusagen als »Identitäts-Anker« für die Zuwanderer dienen konnten, und zwar sowohl für die zuerst als auch die in der Folge Angekommenen bzw. die in anderen Vierteln lebenden Landsleute, die hier ihre vertraute Umgebung wiederfanden, sozusagen ihren community space.15 In der Folge entwickelte sich daher auch kein »Schmelztiegel« der verschiedenen Einwanderergruppen, im Gegenteil – dank der Haltung der Kolonialverwaltung, sich möglichst wenig in die native affairs einzumischen, wurde Singapur sowohl zu einer archetypischen Kolonialstadt als auch zu einer Plural Society im Sinne John Sydenham Furnivalls, bei der verschiedene Gruppen einer Gemeinschaft nebeneinander, aber getrennt, innerhalb derselben politischen Einheit leben.16 Bereits Raffles hatte gefordert:

13 In: Buckley 1969: 81. 14 Teo & Savage 1991: 314. 15 Der Begriff »Identitäts-Anker« stammt von John W. Humphrey (1985: 77), »community space« verwenden Siddique & PuruShotam (1990: 6). 16 Furnivall 1970: 283. Ausführlicher dazu die Einleitung dieses Bandes.

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»Many Races, One Singapore« »Let the native institutions as far as regards religious ceremonies, marriage and inheritance be respected.«17 Die Engländer förderten soziale Kontakte zwischen den ethnischen Eliten, und die Minderzahl von Frauen in Singapur führte zu interethnischen Heiraten, vor allem von chinesischen, indischen und europäischen Männern mit malaiischen Frauen. Solche Kontakte führten jedoch in den seltensten Fällen zur Aufweichung ethnischer Grenzziehungen. Zwei bedeutende Ausnahmen verdienen es jedoch erwähnt zu werden, die Eurasians und die Babas. Als Eurasians werden Nachkommen der Heiraten zwischen europäischen Männern und asiatischen Frauen bezeichnet, die ab einem gewissen Zeitpunkt begannen, überwiegend untereinander zu heiraten, wodurch eine eigenständige Kombination aus europäischen und asiatischen Einflüssen entstand. Eurasians »würzen« ihr Englisch mit vielen malaiischen Ausdrücken, ihre Küche verrät neben europäischen auch malaiische, indische und chinesische Einflüsse, so wie ihre Kleidung traditionell malaiisch geprägt war.18 Babas (auch Straits Chinese oder malaiisch Peranakan) nennt man die Nachkommen aus Heiraten zwischen malaiischen Frauen und männlichen chinesischen Einwanderern (denn chinesische Frauen durften nicht auswandern). Die Babas wurden im Verlauf des 18. Jahrhunderts kulturell »malaiisiert«, tendierten zur ebenfalls endogenen Heirat und entwickelten ein Patois, das sogenannte BabaMalay. Nach einer wechselvollen Geschichte, in der sie zwischenzeitlich an der Seite der Engländer operierten, waren sie nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Öffentlichkeit so gut wie verschwunden, bis in den letztvergangenen Jahren eine »Baba-Renaissance« einsetzte.19 Beide Gruppen können in bestimmter Hinsicht als die Singapurer par excellence gelten, verweisen sie doch auf das kulturelle Erbe des Stadtstaates mit seiner langen Migrationsgeschichte. Daß sie trotzdem in der offiziellen Repräsentation Singapurs als multikultureller Stadtstaat fehlen, hat etwas mit dem identitätspolitischen Bedürfnis nach »unvermischten« Kategorien zu tun und wird später noch eingehender analysiert werden. Auch konnte es offensichtlich vorkommen, daß aus Indien eingewanderte Hindus und Muslime sich gelegentlich über religiöse Trennlinien hinwegsetzten:

17 In: Buckley 1969: 115. 18 Vgl. Braga-Blake 1992. 19 Vgl. Rudolph 1998.

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Andreas Ackermann »Mussalmen may be seen seated in the houses of Orthodox Hindus eating off the same board; and the Hindu has no hesitation in cohabiting with Mahomedan women. Such a proceeding in India would render them outcasts forever, but here they do not lose caste. The writer has seen a Hindu and a Muslim bathing in the same tank, the water from the latter’s body falling on the former and vice-versa. Such a sight in India would be a novelty indeed.«20

Nichtsdestotrotz konnte ein Besucher Singapurs im 19. Jahrhundert beobachten, daß »jedes Volk eine eigene Gemeinschaft forme und seine Sitten so vollständig beibehalte, als wäre es niemals verpflanzt worden«, und daß jede Gemeinschaft ihren jeweils eigenen Vorstellungen und Gewohnheiten folge.21 Auch 100 Jahre später wurde Singapur noch als Stadt der Fremden beschrieben, in der »niemand wirklich dazugehöre« und in der keine Kultur »ursprünglich« sei.22 Obwohl der Status Singapurs innerhalb des britischen Kolonialsystems in den folgenden Jahren wechselte, blieb es doch immer eine Plural Society. Die Insel wurde als Teil der Straits Settlements (zusammen mit Penang und Malakka) nacheinander von der Presidency of Bengal und dem India Office in Indien, später dann vom Colonial Office in London aus verwaltet. Während des Zweiten Weltkrieges, von 1942 bis 1945, besetzten die Japaner die Insel, und Singapur wurde Teil der »Südlichen Region« des japanisch beherrschten Territoriums in Asien. Die Stadt wurde in Syonan (»Licht des Südens«) umbenannt, Kalender und Uhr wurden auf japanisches Datum und Zeit umgestellt. Auch die neuen Herrscher behandelten die jeweiligen ethnischen Gruppen unterschiedlich: Während die Chinesen als »Feinde« galten und dementsprechend behandelt wurden (Tausende von ihnen kamen bei den sogenannten sook ching-Massakern ums Leben), wurden die Malaien und Inder eher freundlich behandelt und japanische Unterstützung im Unabhängigkeitskampf in Aussicht gestellt. Europäer, insbesondere Briten, wurden interniert und häufig zu Arbeitseinsätzen unter härtesten Bedingungen gezwungen.23 Nach der Befreiung durch die Alliierten im September 1945 und der Auflösung der Straits Settlements wurde Singapur zunächst eigenständige Kronkolonie, bekam dann 1959 eine begrenzte Selbständigkeit, um schließlich im Jahre 1963 mit den anderen ehemaligen britischen Koloni20 21 22 23

Vaughan 1879, in: Yong 1991: 65. Earl 1837, in: Savage 1992: 14. Anderson 1955, in: Savage 1992: 14. Vgl. Thio 1991.

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»Many Races, One Singapore« algebieten Malaya, Sarawak und Sabah die Malaysische Föderation zu bilden. In diesem Verbund blieb Singapur allerdings nur zwei Jahre, denn die jeweils unterschiedlichen Gewichtungen im Umgang mit kultureller Komplexität hatten zu unüberwindbaren Gräben geführt, die schließlich in der bis heute als traumatisch empfundenen Trennung resultierten.24 Vor allem weigerte sich Singapur, den Malaien dieselben Privilegien zuzuerkennen, die ihnen im westlichen Teil Malaysias als bumiputera (»Söhne des Landes«) seitens der Regierung in Kuala Lumpur eingeräumt wurden. Die singapurische Regierung trat demgegenüber für ein multikulturelles, »malaysisches« Malaysia (im Unterschied zu einem »malaiischen« Malaysia) ein, in der alle ethnischen Gruppen dieselben Rechte hätten.25 Als Organisationsrahmen für den neuen Staat optierte die (auch heute noch amtierende) Regierungspartei PAP (People’s Action Party) unter Lee Kuan Yew dann auch dementsprechend für einen unity-in-diversity-approach, einen Multikulturalismus mithin, der die als problematisch empfundenen jeweiligen Ethnizitäten »ordnen« und damit auch »zähmen« sollte. Daher beinhaltete die Organisation kultureller Komplexität seitens des Staates auch den Versuch, die jeweiligen ethnischen Kategorien entsprechend zu rekonstruieren, wobei ethnische und religiöse Interessen in den Bereich der Privatsphäre verwiesen wurden. In dem kleinen Stadtstaat war man sich aufgrund der Vorfälle in den Nachbarländern der Gefahren nur zu bewußt, denen man sich aussetzte, wenn die Politik von ethnischen Interessen beherrscht wurde. Sowohl in Malaysia als auch in Indonesien war es im Verlauf der Unabhängigkeitsbemühungen zu schweren, ethnisch motivierten Ausschreitungen gekommen, die man in Singapur auf jeden Fall zu verhindern trachtete.26 Eine nationale Identität, die über den ein24 In seinen Memoiren berichtet Lee Kuan Yew, seinerzeit Premierminister, daß die anläßlich der Teilung anberaumte Pressekonferenz für zwanzig Minuten unterbrochen werden mußte, weil er von seinen Gefühlen überwältigt wurde und nicht weitersprechen konnte (Lee 1998, 16). 25 Interessanterweise gibt es inzwischen wieder öffentliche Überlegungen seitens Malaysias und Singapurs bezüglich einer »Wiedervereinigung« beider Staaten. Als Haupthindernis wird aber immer noch die unterschiedliche Minderheitenpolitik gesehen (vgl. Straits Times vom 21. August 1996). 26 In Singapur kam es nur in ganz wenigen Fällen zu Ausschreitungen, am bekanntesten ist wohl der sogenannte »Maria Hertogh Zwischenfall« im Jahre 1950. Maria Hertogh wurde 1937 auf Java geboren und von ihren holländischen Eltern römisch-katholisch getauft. 1942, während der Wirren der japanischen Besetzung, kam sie in die Obhut einer Malaiin, Che Aminah, die sie

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Andreas Ackermann zelnen Gruppeninteressen stehen sollte, würde sich, so war die – durchaus trügerische – Hoffnung, im Laufe der Zeit »von selbst« einstellen. Auf die daraus resultierende Problematik von Kultur, Differenz und Nation werde ich dann im vierten Abschnitt eingehen. Auch wenn Singapur heutzutage keine wirkliche »Stadt der Fremden« mehr ist – inzwischen sind rund 80 Prozent der Einwohner auf der Insel geboren – Immigration gibt es nach wie vor.27 Nun kommen vor allem ungelernte Bauarbeiter (hauptsächlich aus Indonesien und Thailand) und domestic servants (überwiegend von den Philippinen, aus Indonesien und Sri Lanka), deren Aufenthaltsdauer aber zumeist auf wenige Jahre, wenn nicht Monate beschränkt bleibt, bzw. ausländische Fachkräfte, die sogenannten expatriates, die auch nur wenige Jahre bleiben.28 Im Jahre 2000 betrug der Anteil der Einwohner Singapurs ohne Staatsbürgerschaft 26 Prozent.29

3. Multikulturalismus versus kulturelle Komplexität Die vier »M’s« und CMIO Multikulturalismus als staatliche Strategie im Umgang mit ethnisch-kultureller Differenz bedeutet im Fall Singapurs, daß die tatsächlich vorhandene ethnisch-kulturelle Komplexität auf vier Kategorien reduziert und mit den sogenannten »vier M’s« »in Schach« gehalten werden soll: multiracialism, multilingualism, multireligiosity und multiculturalism. Dabei stellt das Prinmuslimisch erzog. Seitdem lebte sie in Malaya und heiratete schließlich einen Muslim. Als die Eltern ihren Aufenthalt nach dem Kriege ausfindig machen konnten, unternahmen sie rechtliche Schritte, um die Vormundschaft wiederzuerlangen. Der Fall wurde in Singapur verhandelt, mit dem Ergebnis, daß die Hochzeit für ungültig erklärt wurde, da Maria nach gültigem Recht noch minderjährig sei und die Vormundschaft ihrem Vater übertragen wurde. Nach islamischem Recht hingegen war die Heirat gültig, da das Mädchen die Pubertät erreicht und in die Heirat eingewilligt hatte. Kurz nach Bekanntgabe des Urteils, das von den Muslimen als Angriff auf das muslimische Recht gesehen wurde, kam es zu Unruhen, bei denen achtzehn Personen getötet und mehr als 150 verletzt wurden (s. Hughes 1980). 27 Singapore Department of Statistics 2000a: 8. 28 Siehe Stengel 2000 (expatriates); Jordan 2000 (Bauarbeiter u. domestic servants). 29 Singapore Department of Statistics 2000a: 3.

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»Many Races, One Singapore« zip des multiracialism den bewußten Versuch dar, die tatsächlich existierende ethnisch-kulturelle Komplexität des Stadtstaates mit Hilfe der (von der britischen Kolonialadministration übernommenen) vier Kategorien Chinese, Malaie, Inder und »Sonstige« (others) – im weiteren Verlauf CMIO genannt – zu »ordnen«.30 Die Kategorie »Sonstige« bezieht sich dabei auf all jene, die nicht zu den ersten drei Kategorien gehören und umfaßt damit so unterschiedliche Bezeichnungen wie »Eurasier« (Abkömmlinge von Mischehen zwischen europäischen Männern und asiatischen Frauen), Filipinos, Armenier, Juden, Araber, Japaner und Menschen »kaukasischen« Ursprungs (d.h. Nordamerikaner und Europäer). Die 3,7 Millionen Einwohner Singapurs im Jahre 2000 setzen sich demzufolge zu rund 77 Prozent aus Chinesen, zu knapp 14 Prozent aus Malaien, zu etwa 8 Prozent aus Indern und zu etwas mehr als einem Prozent aus »Anderen« zusammen.31 Wichtiger Bestandteil des multiracialism ist die sogenannte »Meritokratie«, das heißt die Gleichberechtigung aller Singapurer im Rahmen der CMIO. Lediglich Muslimen wird in Fällen des Ehe- und Familienrechts der Rückgriff auf islamisch-traditionelles Recht gewährt.32 Das Prinzip des multilingualism verknüpft nun diese races mit den drei offiziellen »Muttersprachen« (mother tongues), nämlich Mandarin für die Chinesen, Malaiisch für die Malaien und Tamil für die Inder, während Englisch als Verkehrssprache gilt. Das singapurische Schulsystem ist bilingual: Unterrichtssprache ist Englisch, um den Anschluß an Wissen und Technologie des »Westens« zu garantieren, während die mother tongue letztlich der Vermittlung der jeweils eigenen kulturellen Werte dienen soll. Analog zur Sprache – wenn auch wesentlich unbestimmter – ordnet das Prinzip der multireligiosity den verschiedenen races bestimmte Religionen zu. So werden die Malaien dem Islam zugerechnet, die Inder überwiegend dem Hinduismus, während andererseits von Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus als den »chinesischen Religionen« gesprochen wird.33 Der sich als säkular verstehende Staat garantiert die Religionsfreiheit und verbietet das aktive Missionieren. Alle großen religiösen Feste sind Feierta30 Wenn im folgenden von »Chinesen«, »Indern« oder »Malaien« die Rede ist, dann im Sinne der in Singapur verwandten Kategorien. 31 Singapore Department of Statistics 2000a: 3. 32 Clammer 1988: 99. 33 Der Begriff »chinesische Religion« bezieht sich eigentlich genauer auf jenes praxisorientierte System, welches vor allem Taoismus, Buddhismus und Konfuzianismus vereint und auf Ahnenriten und der sogenannten »kindlichen Ergebenheit« (filial piety oder xiao) beruht (vgl. Wee 1988).

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Andreas Ackermann ge, so zum Beispiel Neujahr, Karfreitag und Weihnachten für die Christen, das chinesische Neujahrsfest für die Anhänger chinesischer Religionen, Hari Raya Puasa und Hari Raya Haji für die Muslime, Vesak für die Buddhisten und Deepavali für die Hindus. Auch hier wird wieder die homogenisierende Absicht der Kategorisierung deutlich, denn laut Statistik bekannten sich im Jahre 2000 knapp 15 Prozent der Einwohner zum Christentum, 42 Prozent zum Buddhismus, 8 Prozent zum Taoismus, 15 Prozent zum Islam, 4 Prozent zum Hinduismus, ein halbes Prozent zu anderen Religionen (z.B. Judentum, Zoroastrismus) und knapp 15 Prozent zu gar keiner Religion. Nach ethnischen Kategorien aufgeschlüsselt, sind 54 Prozent der Chinesen Buddhisten, 17 Prozent Christen und 10 Prozent Taoisten, während die Malaien praktisch alle Muslime sind. Bei den Indern wiederum sind 55 Prozent Hindus, 25 Prozent Muslime und 12 Prozent Christen.34 Das Prinzip der Multireligiosität hat zu einer überwiegend friedlichen Koexistenz der verschiedenen religiösen Gruppen geführt, sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privatleben. Es ist von daher nicht ungewöhnlich, wenn man entlang der Telok Ayer Street in Chinatown einen chinesischen Tempel (Thian Hock Keng), eine südindische Moschee (Al-Abrar), eine chinesisch-methodistische Kirche und einen muslimischen Schrein (Nagore Durgha) findet.35 Multiculturalism schließlich, womit in Singapur im wesentlichen die Förderung »ethnisch-traditioneller« Kultur gemeint ist, stellt ein zentrales Element der offiziellen Regierungspolitik dar und soll daher etwas eingehender behandelt werden. Obwohl mit der Unabhängigkeit 1965 die koloniale Politik der Segregation aufgegeben wurde, ist die ethnische Differenzierung des öffentlichen Raums keineswegs verschwunden. Da sind zum einen die historisch gewachsenen ethnischen Viertel im Stadtkern, in der Hauptsache Chinatown und Little India. Aber auch im Central Business District, dem modernen Banken- und Versicherungsviertel, wird es zum Beispiel kaum ein chinesisches Unternehmen versäumen – trotz aller Orientierung am internationalen, westlichen Stil –, den Grundriß seines Verwaltungsgebäudes in Einklang mit den traditionellen geomantischen Vorstellungen des feng shui (wörtlich: Wind und Wasser) zu konzipieren und vielleicht auch noch zwei Wächterfiguren am Eingang zu postieren.36 Einfa34 Singapore Department of Statistics 2000b. 35 Selena Heng verdanke ich einige klärende Hinweise in diesem Zusammenhang. 36 So verzichtete z.B. der international renommierte Architekt I M Pei dementsprechend auf den vierten Stock des Overseas Chinese Banking Corporation

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»Many Races, One Singapore« che Garküchen, sogenannte hawker centres, bieten überall in der Mittagspause den Büroangestellten die typischen Gerichte der verschiedenen regionalen Küchen. Ansagen während der U-Bahnfahrt sind genauso in den vier offiziellen Sprachen gehalten, wie die Hinweisschilder in öffentlichen Gebäuden, Ministerien oder der Stadtverwaltung. Ethnizitätskonstruktionen werden für die Singapurer in den unterschiedlichsten Bereichen ihres Alltags relevant, bei der jährlich stattfindenden Volkszählung ebenso wie bei der Wahl der mother tongue (der neben Englisch zweiten Sprache in der Schule), oder bei der Bewerbung um staatlich geförderte Wohnungen, die nach einem, den nationalen Mehrheitsverhältnissen entsprechenden, ethnischen Quotensystem vergeben werden. Die meisten Formulare in Singapur, ob im öffentlichen Dienst oder der freien Wirtschaft, haben eine Rubrik für Race.37 Schließlich führt jede Form von Statistik auch jeweils die entsprechenden CMIO-Kategorien. Bereits bei Erstellung der Geburtsurkunde wird die »Rassen«-Kategorie der Eltern vermerkt, mit der ersten Ausstellung eines Ausweises mit zwölf Jahren werden race und Sprache verzeichnet. Dabei läßt sich durchaus von einem – zumindest administrativen – Streben nach »rassischer Reinheit« sprechen: Kinder sogenannter mixed marriages werden nur einer, überwiegend der väterlichen race zugeordnet. Der konstruierte Charakter dieser Kategorien wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß die entsprechende Einteilung unter Umständen von der Laune oder der Auffassungsgabe des zuständigen Beamten beim Einwohnermeldeamt abhängen kann. So wird von einer Frau berichtet, die als Eurasian (also unter der Kategorie others) geführt wurde, obwohl ihre Eltern als Chinese und Ceylonese (eine indische subcategory) vermerkt waren, sie also eigentlich nach ihrem Vater als »Chinesin« hätte kategorisiert werden müssen. Die Straits Times zitierte sie mit den Worten: »Der Beamte am Schalter schaute mich an und schrieb ›Eurasian‹ bevor ich noch irgend etwas erklären konnte«.38 Die Konstruktion kultureller Traditionen läßt sich exemplarisch an der offiziellen Selbstdarstellung Singapurs in der Tourismuswerbung verfolgen. Da die Stadt kaum noch historische Bausubstanz aufzuweisen hat und auch nur noch wenige Reste relativ unberührter Natur existieren, setzt das staatliche Singapore Tourist Promotion Board mit seiner Vermarktungstrategie vor allem auf die exotische Kultur der verschiedenen ethnischen Grup(OCBC) Gebäudes – die Zahl vier gilt als unglückbringend –, indem er eine entsprechend hohe Eingangshalle konzipierte (P Lim 1992). 37 PuruShotam 1998: 53. 38 In: Braga-Blake 1992: 12.

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Andreas Ackermann pen. Dabei wird wiederum nicht auf die tatsächliche ethnische Vielfalt des Stadtstaates gesetzt, sondern das »kulturelle Erbe« wird mit den Kategorien Chinese, Malaie und Inder vermarktet, das heißt, Singapur wird letztlich als triple-ethnic-nation vorgestellt. In einer Broschüre wird Singapur unter der Überschrift »Many Races, One Singapore« als ein hervorragendes Beispiel dafür gepriesen, »how people of many different creeds can live and work together in harmony while retaining their own distinctive cultures«.39 Die Chinesen, so lesen wir, besitzen eine schier unerschöpfliche Auswahl an kulturellen Traditionen und regionalen Küchen und sind stark familienorientiert. Die Malaien haben dagegen einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn, eine wunderbar gewürzte Küche und islamische Werte. Die indische Gemeinschaft schließlich zeichnet sich durch ihren Familiensinn aus, ihre Vorliebe für bunte Kleidung, ihre bemerkenswerten curries sowie ihre religiösen Feste.40 Der offizielle Führer der Behörde preist diese bemerkenswerte kulturelle Vielfalt Singapurs im wesentlichen durch Abbildungen verschiedener Folkloregruppen, ethnischer Gerichte und ethnischer Architektur. Den Touristen werden Chinatown, Little India und Arab Street (womit in diesem Fall die Malaien gemeint sind) angeboten, sozusagen als ethnisch verdichteter Raum. Neuerdings gibt es auch ein »malaiisches Dorf«, das allerdings im wesentlichen aus Souvenirläden besteht, die in Anlehnung an malaiische Architektur gestaltet wurden. Ungeachtet ihrer offiziellen Nichtanerkennung wird auch die Kultur der bereits erwähnten Babas oder Peranakan touristisch vermarktet. Dazu wurde ein Peranakan-Haus in bester Lage restauriert und als Museum umgestaltet, durch das die Besucher von Führern in »authentischer« Tracht geleitet werden. Die angrenzenden Gebäude (bei denen es sich allerdings keineswegs um Peranakan-Architektur handelt) beherbergen ein Café sowie ein Restaurant mit Peranakan-Küche und Läden, die Peranakan-Souvenirs verkaufen. So existiert nun mit dem sogenannten Peranakan Place ein gemütlicher Treffpunkt für Touristen an der Haupt-Einkaufsstraße Orchard Road, der allerdings nur wenig mit der Peranakan-Kultur zu tun hat, die er eigentlich repräsentieren soll. Eine konsequente Weiterentwicklung dieses »kulinarischen« Multikulturalismus ist die sogenannte Instant Asia Cultural Show, bei der Touristen in großen Hotels bzw. Restaurants zum Mittag- oder zum Abendessen ein 35-minütiges Unterhaltungs-»Fertigmenü« serviert wird, das aus den verschiedensten ethnisch-kulturellen Ver-

39 Singapore Tourist Promotion Board 1994: 14. 40 Singapore Tourist Promotion Board 1994: 15.

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»Many Races, One Singapore« satzstücken – unter anderem ein chinesischer Löwentanz, ein malaiischer Erntetanz und indische Schlangenbeschwörer – komponiert ist. Selbstdefinitionen41 Die fortwährende Betonung ethnisch-kultureller Aspekte hat zur Folge, daß ethnische Identität einen wesentlichen Bestandteil der Selbstdefinition der Singapurer darstellt: »They give us the categories and we fill ourselves into it, you see«, erklärt Gunalan, ein junger Singapurer indischer Herkunft. Selbstbeschreibungen verbinden häufig die nationale und eine der ethnischen Kategorien in verschiedenen Kombinationen, so zum Beispiel »We are Singaporean by citizen – but our race is Malay«, »I think of myself as Singaporean, more than Chinese«, »I’m a Singaporean. Raised Indian«, »Singaporean first and then Indian«. Alle Antworten sind geprägt von dem Wissen, daß eine Verortung innerhalb des ethnischen Schemas erwartet wird: »I do understand that those labels are placed upon me and almost everyone around me will be working with those labels, and so I just have to work with it to a certain extent (Ooi).«

Betrachtet man diese ethnisch-kulturellen »Etiketten« allerdings näher, so erweist sich die offizielle, starre Verknüpfung von race, Sprache, Kultur und Religion als problematisch. Sie unterschlägt nämlich die Tatsache, daß jede Kommunität bei aller getreulichen Überlieferung kultureller Traditionen mit der Zeit auch speziell singapurische Ausprägungen entwickelt und eine lokale Färbung angenommen hat, die sie von der jeweiligen Herkunftsgesellschaft unterscheiden. Die verschiedenen ethnisch-kulturellen Gruppen sind eben nicht nur ein Teil der Heimatkultur, sondern auch das Ergebnis fortwährender Anpassungen an sich ändernde Bedingungen innerhalb ihres jeweiligen Umfeldes. Was aber bleibt von der multikulturellen Konstruktion eines unveränderbaren Ensembles kultureller Traditionen, zusammengesetzt aus Religion, Sprache und gemeinsamer Abstammung, wenn man nach der Selbstdefinition der Singapurer fragt? Zwar kommt der Religion nach wie vor eine identitätsstiftende Rolle zu, denn »it puts you in the right place«, wie sich die Malaiin Raihan ausdrückt. Allerdings läßt sich eine Verschiebung hin zu einer mehr individuellen Religionsausübung feststellen.42 Daß re41 Ausführlicher wird dieses Thema in Ackermann 1997: 63ff. behandelt. 42 Vgl. Tham 1984; Tong, Ho & Lin 1991.

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Andreas Ackermann ligiöse Praxis keineswegs eine Konstante darstellt, zeigt die zunehmende Zahl an Konversionen sowohl zum Islam als auch zum Christentum.43 Rituale unterliegen dem Prozeß einer Vereinfachung und Anpassung: »All the rituals change through the years, we’re constantly changing those practices with no problems at all«, berichtet Ooi, ein junger Chinese. Traditionell überliefertes Handeln wird unter Umständen auch ganz aufgegeben, wenn es als nicht mehr »zeitgemäß« erscheint. So meint die Malaiin Linda: »But for the tradition, if it’s not practical, we’ll get rid of it.« Das Schwinden der Bedeutung vieler Traditionen innerhalb der jüngeren Generation hat zur Folge, daß nur noch die wichtigsten der traditionellen Feste begangen werden, so zum Beispiel das Chinesische Neujahr, Hari Raya am Ende der Fastenzeit für die Muslime und Deepavali von den Indern, und zwar vor allem als soziales Ereignis im engsten Familienkreis. Die zunehmende Anzahl an Übertritten zum Christentum hat zudem eine steigende Teilnahme am Oster- und Weihnachtsfest mit sich gebracht. Besonders Weihnachten scheint von vielen als Fest ohne die sonst üblichen traditionellen familiären Verpflichtungen geschätzt zu werden. Für die Chinesin Jen ist dieser christliche Festtag »just a holiday where everybody’s happy and just enjoying himself«. Während sich also Traditionen als weitaus dynamischer erweisen, als dies in den offiziellen Konstruktionen zum Ausdruck kommt, so läßt sich auch die Vorstellung einer ethnisch gebundenen Kultur empirisch relativieren. Zwar soll der Transport des »kulturellen Ballastes« (so lautet nämlich die in Singapur übliche Bezeichnung für die öffentliche Vermittlung ethnischer Kultur) hauptsächlich über die jeweilige mother tongue abgewikkelt werden. Während die sogenannte Muttersprache noch am ehesten für die Malaien als Ausdruck ethnischer Identität gelten kann, so sprechen der überwiegende Teil der als Chinesen und fast 40 Prozent der als Inder klassifizierten Singapurer zu Hause nicht die offiziellen Sprachen Tamil und Mandarin. Die am häufigsten vertretenen chinesischen Sprachen in Singapur sind Hokkien, Teochew, Cantonese, Hakka und Hainanese. So erfolgt die Selbstkategorisierung der Chinesen weniger über die offizielle Sprache Mandarin als über lokale Sprachen: »I’m a Singaporean. Yeah, a Cantonese Singaporean.« Der Sprachenkosmos der indischen community in Singapur ist ähnlich heterogen und umfaßt neben Tamil unter anderem Malayali, Punjabi und Gujarati. Auskünften chinesischer Gesprächspartner zufolge besitzt das »Chinesischsein« eine gleichsam primordiale Qualität, das heißt, man wird »als 43 Vgl. Kuo, Quah & Tong 1988.

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»Many Races, One Singapore« Chinese geboren«, ist »von Natur aus Chinese« und »bleibt Chinese, ob man will oder nicht«. Auch Chinesen, die überwiegend Englisch sprechen und sich »modern« kleiden, orientieren sich doch mehrheitlich am traditionellen chinesischen Modell familiärer Beziehungen, das wesentlich auf dem Konzept des »kindlichen Gehorsams« (filial piety) basiert. Auf weiteres Nachfragen wird die Aussagekraft des Etiketts »chinesisch« aber zusehends fraglich. Statt dessen wird der Bezug zur Hokkien, Teochew oder Kantonesischen Kommunität hergestellt, ist man »stolz, Kantonese zu sein«, betont, daß die »eigentlichen Wurzeln im Hakka-tum liegen« oder daß das »eigentliche kulturelle Erbe Teochew« ist. Identität im eigentlich ethnischen Sinne wird also über die Zugehörigkeit zu einer der Untergruppen hergestellt und verwandtschaftlich interpretiert: »We’re all Teochews, so we’re all the same« (Ooi). Das gleiche gilt für die indischen Gesprächspartner, die ebenfalls darauf hinweisen, daß es keine homogene indische Kommunität gibt. Der Begriff »Inder« stellt lediglich »a catch-all phrase for everything that exists within the Indian subcontinent« (Gunalan) dar. Die indische Gemeinde differenziert sich nach Beruf, Erziehung und Sprache sowie nach Kaste und Herkunft. Statistiker haben demzufolge Probleme bei der Erfassung relevanter Untergruppen, so daß im Zensus die zweitgrößte indische Untergruppe nach den Tamilen als »Sonstige« geführt wird. Allgemein wird in einem geographischen Sinne unterschieden zwischen nord- und südindischer Herkunft (nicht ohne auf den Unterschied zwischen hellhäutigen Nordindern und dunkelhäutigen Südindern hinzuweisen) sowie in religiöser Hinsicht zwischen Muslimen und Hindus. Die Tamilen gelten in Singapur gemeinhin als »die« Inder, während Angehörige kleinerer Gruppen sich dagegen eher als Sikhs, Punjabi oder Ceylonesen bezeichnen. Ein Malayali sprechender Inder wurde von den Tamilen nicht als Inder akzeptiert, »because I’m not Tamil-speaking they kept saying that I’m not Indian« (Sharaad). Obwohl die Kategorie Malaie noch am ehesten »Eindeutigkeit« verspricht, verhält es sich mit ihr bei näherem Hinsehen ähnlich wie bei Chinesen und Indern. Die Bezeichnung orang Melayu betul (reiner Malaie) bezieht sich auf den Ursprung der eigenen Vorfahren, das heißt, ein »reiner« Malaie hat Eltern, die entweder aus Singapur oder Westmalaysia stammen. Zugehörigkeit zur malaiischen Kommunität bestimmt sich zur Hauptsache über die Herkunft aus der malaiischen Welt, die Zugehörigkeit zum Islam und dem Beherrschen der malaiischen Sprache. So bezeichnete ein älterer Malaie die überwiegend Englisch sprechenden Malaien als »Fälschung« (fake) und beklagte: 189

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Andreas Ackermann »That youngsters nowadays speak too much English, they cannot even have a proper Malay conversation without adding English words into it.«

Auch hier dienen wieder lokale Sprachen (z.B. das Javanische) einer weiteren Differenzierung innerhalb der malaiischen Kommunität. Auch wenn die Aussagekraft ethnischer labels in bezug auf die eigene Kategorie schnell in Zweifel gezogen wird, so läßt sich doch feststellen, daß hinsichtlich Angehöriger der jeweils anderen Kategorien weitaus weniger differenziert wird. In der Außenperspektive erscheinen diese dann unter ihren jeweils öffentlich propagierten Identitäten, als homogene Gemeinschaften mit vorgeblich klaren Grenzen. So wird eine Person, die sich eher als Kantonese denn als Chinese bezeichnen würde, doch über »die« Malaien oder »die« Inder reden (»Die sehen doch alle gleich aus!«), und dementsprechend kursieren eine ganze Reihe von ethnischen Stereotypen in Singapur. Dabei gelten Chinesen als aggressiv, arbeitsam, konkurrent, materialistisch, abergläubisch und unhöflich, während die Malaien als in religiösen Dingen fanatisch, gleichzeitig aber auch herzlich, eben als »traditioneller« als die anderen Singapurer gelten, als rückständige Dörfler, die Schwierigkeiten haben, sich den Bedingungen des Stadtlebens anzupassen. Die Inder wiederum werden als immer auf ihren Vorteil bedacht, wortgewandt und cliquish beschrieben. Soziale Beziehungen44 Die multikulturelle Politik Singapurs hat zu einer Akzeptanz der (vermeintlichen) ethnischen Unterschiede geführt, sowohl was die Selbstbeschreibung als auch, was die Zuschreibung anderer betrifft. Oberflächliche soziale Kontakte auf einer formalen, öffentlichen Begegnungsebene verlaufen überwiegend ohne Probleme, wie sich am Beispiel des Zusammenlebens in multiethnischen Wohnquartieren zeigen läßt. In den Jahren unmittelbar nach der Unabhängigkeit nutzte die Regierung Singapurs vor allem den staatlich geförderten Wohnungsbau, um ihre Multikulturalitäts-Vorstellungen in die Praxis umzusetzen. Bis in die sechziger Jahre war Singapur gemäß den Plänen Raffles’ als eine Stadt mit in weiten Teilen in ethnischen Vierteln segregiert lebender Bevölkerung gewachsen. Anhaltende Zuwanderung, überalterte Bausubstanz und die durch die Kriegswirren erheblich beschädigte Wirtschaft hatten inzwischen zu teilweise katastrophalen Wohnbedingungen geführt.45 44 Auch dieser Aspekt findet sich ausführlicher in Ackermann 1997: 63ff. 45 Vgl. Teo & Savage 1991: 325

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»Many Races, One Singapore« Daher versuchte die regierende PAP mit Hilfe der staatlichen Baugesellschaft Housing and Development Board (HDB), sowohl die Arbeitslosigkeit zu mindern als auch dringend benötigten Wohnraum zu schaffen und gleichzeitig die ethnische Segregation aufzuheben. Die großräumige Zerstörung alter Wohnquartiere und quasi-dörflicher Ansiedlungen, verbunden mit der massenhaften Umsiedlung ihrer ehemaligen Bewohner, resultierte schließlich in den für das heutige Singapur so typischen Satellitenstädten, den sogenannten new towns. Diese, nicht mehr als 15 bis 30 UBahnminuten vom Stadtzentrum entfernten Siedlungen, in denen mehr als 85 Prozent der Einwohner Singapurs leben, bestehen aus Gruppen von 10- bis 25-stöckigen Wohngebäuden und besitzen eine eigene Infrastruktur, die bis zu 250.000 Personen versorgen kann. Das HDB vergibt die Wohnungen nach einem Quotensystem analog zum Bevölkerungsdurchschnitt, das heißt, die Zusammensetzung der Bewohner eines Wohnblocks bildet die nationalen Mehrheitsverhältnisse ab.46 Obwohl diese Neubaugebiete an den Rändern der Stadt architektonisch einheitlich und ethnisch neutral gestaltet sind, findet eine äußerlich sichtbare Differenzierung der Bewohner untereinander statt. Der karge Beton des Korridors, an dem die einzelnen Wohnungstüren aufgereiht liegen, wird von den Bewohnern zur Bühne umfunktioniert, auf der sich ethnische und religiöse Identität mittels Symbolen und Ritualen in Szene setzen lassen. So finden sich glückbringende Pflanzen überwiegend vor chinesischen Haushalten, während Malaien die eßbaren bevorzugen und Inder mit Vorliebe blaue Übertöpfe benutzen. Kanarienvogelkäfige hängen gewöhnlich vor chinesischen oder malaiischen Wohnungen. Rote Metallcontainer dienen dem chinesischen Brauch, Papiergeld bei religiösen Zeremonien zu verbrennen (und weisen auf das Ordnungsbedürfnis des HDB hin, der das früher übliche Verbrennen auf dem Gras vor dem Hause wegen der entstehenden braunen Flecken nicht mehr duldet). An den Türen chinesischer Familien finden sich rote Laternen, Drachenmuster und Löwenfiguren, häufig auch kleine rote Altäre, auf denen Räucherstäbchen ihren Duft verbreiten. Muslime bringen Koransuren neben der Türe an, Hindus ebenfalls Räucherstäbchen oder ein Bild von Lord Shiva. Häufig findet man auch christliche Kreuze, Jesusdarstellungen oder Marienbilder über der Türe, die genau wie taoistische Trigramme und Spiegel das Böse abwehren sollen.47 46 Zur multikulturellen Politik des HDB: Chua 1991a und 1991b; Ooi, Siddique & Soh 1993. 47 Vgl. auch Chua 1988.

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Andreas Ackermann Diese Symbole kultureller Differenz, dazu der Geruch gebratenen Schweinefleischs an chinesischen Festtagen, schwelender Räucherstäbchen und verbrannten Papiergeldes auf den Korridoren sowie der Lärm chinesischer Totenfeiern oder malaiischer Hochzeiten, die gewöhnlich im nach allen Seiten offenen Erdgeschoß des Hauses abgehalten werden – all das sind Zumutungen, die als Ausdruck kulturell bzw. religiös unterschiedlicher Praktiken von allen Bewohnern ertragen werden müssen, ein Prozeß, der Zeit benötigt. So wird in einer Studie multiethnischer Nachbarschaft in einer HDB-Siedlung ein Bewohner zitiert: »Integration is not like making rojak [a local mixed fruit dish], add a bit here and mix a bit there. You don’t get integration just by putting people together.«48

Es scheint allerdings, als führe das staatlich verordnete Zusammenleben auf engem Raum doch zu einer Nachbarschaft, die das kulturell Andere zumindest aus dem Bewußtsein toleriert, aufeinander angewiesen zu sein. »After all we have to live on the same corridor«, ist in diesem Zusammenhang eine (dem Inhalt nach) häufig getroffene Feststellung. Diese »tolerierende Nachbarschaft« (wie sich ein Bewohner ausdrückte) findet ihren Ausdruck aber auch in der Gewohnheit, an Festen den Nachbarn traditionelle Speisen zu überreichen, sich gegenseitig mit Lebensmittel auszuhelfen oder füreinander einzukaufen. Von staatlicher Seite aus gibt es Versuche, sich solchermaßen entwikkelnde nachbarschaftlichen Gefühle zu unterstützen. So wurde etwa im Jahre 1988 ein Wettbewerb vom Ministry of Community Development organisiert, bei dem Wandgemälde zum Thema »harmonische multikulturelle Gesellschaft« prämiert wurden. Diese Wandgemälde befinden sich häufig in den sogenannten »void decks«, wie die nach mehreren Seiten offenen und ansonsten leeren Erdgeschosse der HDB-Gebäude genannt werden. Gedacht sind diese »leeren« Räume als alltägliche Treffpunkte der Bewohner. Üblicherweise repräsentieren Paare in der jeweiligen traditionellen Tracht die vier offiziellen races, die Religionen werden zumeist durch Gebäude symbolisiert, etwa eine Kirche, ein (indischer) Tempel, eine chinesische Pagode und eine Moschee. Den Hintergrund der Szene bilden geographische und architektonische Landmarken Singapurs: Palmen, Hügel und das Meer, der Kontrollturm des Flughafens, die Seilbahn auf den Mount Faber, ein Zug des öffentlichen Nahverkehrs. [Abb. 1] Interessant ist auch folgende Ikonographie: Die singapurische Nationalfahne weht im 48 Lai 1995: 126.

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»Many Races, One Singapore« Abb. 1: Wandgemälde zum Thema »harmonische multikulturelle Gesellschaft«

Vordergrund, gefolgt von einem chinesischen Wimpel, einem malaiischen fliegenden Teppich und einem indischen Sari, unter dem Motto »We Celebrate in Unity«. Unter der Fahne Singapurs liest man: »The fluttering flags depict the success of our multiracial society in variety and rich heritage.« [Abb. 2] Nichtsdestotrotz bleiben soziale Kontakte mit Angehörigen anderer Kategorien überwiegend oberflächlich. In öffentlichen Institutionen, in der Schulklasse, im Seminar an der Universität oder beim Sport ist diese Art der Kooperation ebenso selbstverständlich, wie weitergehende soziale Beziehungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Gruppen im Privatleben als eher ungewöhnlich gelten. So erzählt ein Inder über seine Zeit in der Schule: »Of course, within classroom environment we work together, we run together, we play together, but with personal relationship I always preferred my own race.«

Zusätzlich zur sprachlichen Differenzierung im muttersprachlichen Unterricht kommt es dann in den Pausen zu ethnischer Differenzierung: »The Malays will stick together, the Chinese will stick together, and the Indians will stick together.« Dasselbe Phänomen läßt sich auch an der Universität beobachten. Da sind zum einen die verschiedenen Cultural Socie193

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Andreas Ackermann Abb. 2: Wandgemälde »We celebrate in Unity«

ties, die sich jeweils an Kommilitonen der eigenen ethnischen Gruppe wenden. Aber auch die religiös geprägten Vereinigungen, die auf dem Campus aktiv sind, besitzen eine ethnische Klientel. Die evangelisch-freikirchlichen Christen zum Beispiel scheinen zur Hauptsache für chinesische Studenten attraktiv zu sein, während muslimische Gruppen überwiegend Malaien in sich vereinen und die Hindu Society hauptsächlich Inder zu ihren Mitgliedern zählt. Die meisten Informanten wußten ebenfalls von speziellen Aufenthaltsorten der verschiedenen ethnischen Gruppen auf dem Universitätsgelände zu berichten (interessanterweise konnten auf Nachfrage nur die malaiischen Treffpunkte näher bezeichnet werden). In bezug auf Freundschaften und Liebesbeziehungen schließlich werden die ethnischen Grenzen – zumindest in der Außendarstellung – noch deutlicher gezogen. Eine Inderin findet: »I don’t mind to have Chinese friends and Malay friends, but as a family member – it’s debatable.« Keiner der befragten jüngeren Singapurer vermochte denn auch, sich die Akzeptanz einer interethnischen Heirat seitens der Familie vorzustellen. In einem solchen Falle befürchteten sie, daß es »Krieg zu Hause« geben würde, daß die Eltern »ausflippen« und einem »die Hölle heiß machen« würden.49 49 Die durchschnittliche Quote interethnischer Heiraten in Singapur seit den

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»Many Races, One Singapore« Für einen chinesischen Geschäftsmann ist die Konsequenz solch ethnischer Differenzierung offensichtlich: »In your everyday treatings you won’t mix with Malays as much as you mix with the Chinese. There is a difference – just because they are Malays.«

4. Kultur, Differenz und Nation(building)

»We the citizens of Singapore, pledge ourselves as one united people, regardless of race, language or religion, to build a democratic society based on justice and equality so as to achieve happiness, prosperity and progress for our nation.« (Singapur Gelöbnis)

Für die meisten Schüler in Singapur beginnt jeder Schultag mit diesem Gelöbnis, begleitet vom Hissen der Flagge und dem Abspielen der Nationalhymne. Deren Text allerdings wird von einem großen Teil der Jugendlichen gar nicht verstanden, ist er doch in Malaiisch, der Nationalsprache Singapurs, verfaßt. Damit ist das prekäre Verhältnis von Nation und Ethnizität bereits angedeutet, als einem Vermächtnis des Kolonialismus, mit dem sich die Singapurer auseinandersetzen müssen. Der Prozeß der Nationalstaatsbildung, des Versuchs, eine die unterschiedlichen ethnischkulturellen Gruppen einbindende Identität zu finden, läßt sich in drei Phasen einteilen, die als Emanzipation (1965 bis 1980), Konsolidierung (1980er Jahre) und Identifizierung (ab 1990) charakterisiert werden sollen.

sechziger Jahren überstieg selten 4 Prozent – auch ein deutlicher Hinweis darauf, daß Singapur eben kein »Schmelztiegel« ist, nicht zuletzt aufgrund der angewandten Patrilinearität in bezug auf die Kinder solcher mixed marriages (vgl. dazu Kuo & Hassan 1979; Siddique 1990).

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Andreas Ackermann Phase I: Emanzipation Die erste Phase des nationbuilding nach dem Erreichen der Unabhängigkeit läßt sich als Emanzipationsprozeß beschreiben, bei dem sich – aufgrund der bereits erwähnten schwierigen Umstände – ein eigenständiger Staat (sozusagen im nachhinein) erst etablieren, das heißt von seinem bisherigen Umfeld lösen mußte. Goh Keng Swee, der damalige Innen- und Verteidigungsminister, bekannte 1967: »We are a complex, multiracial community with little sense of common history, with a group purpose which is yet to be properly articulated. We are in the process of rapid transition towards a destiny which we do not yet know.«50

Bis zur Trennung von Malaysia war eine spezifisch singapurische Identität eine unbekannte Größe geblieben, galt die Idee eines unabhängigen Stadtstaates als »politische, ökonomische und geographische Absurdität«, so der langjährige Premierminister Lee Kuan Yew. Politisch absurd, weil man bisher immer Teil eines größeren (zumeist kolonialen) Ganzen und im wesentlichen ohne eigenständige Ambitionen gewesen war; ökonomisch absurd, weil man in bezug auf Ressourcen auf das malaysische Hinterland angewiesen war (und teilweise auch heute noch ist); und geographisch absurd, weil die Insel zur malaiischen Kultursphäre gehörte, aber mit mehrheitlich chinesischen Einwohnern bevölkert war. Gerade diese geopolitischen Voraussetzungen ließen es nicht ratsam erscheinen, eine eindeutig ethnisch-kulturell geprägte nationale Identität ins Auge zu fassen. Eine britisch ausgerichtete nationale Identität war durch die koloniale Vergangenheit desavouiert, wohingegen die Orientierung hin zu China von den malaiischen Nachbarn nicht akzeptiert worden wäre. Eine malaiisch geprägte nationale Identität wiederum wäre der chinesischen Mehrheit gegenüber nicht durchzusetzen gewesen. Lediglich in bezug auf die nationale Symbolik machte man Zugeständnisse an – auch außenpolitisch bedeutsame – ethnische Befindlichkeiten. Die Malaien werden daher als die ursprünglichen Bewohner der Insel in der Verfassung erwähnt (Artikel 152, 2), ihre Sprache wurde zur Nationalsprache erklärt und die Fahne Singapurs setzt sich aus Elementen der malaysischen und indonesischen Fahnen zusammen. Als »Stadt der Fremden« besaß Singapur zudem keine eigenständige politische Tradition, auf die man hätte zurückgreifen können, aber auch keine gemeinsamen nationalen oder kulturellen Ursprungsmythen. Daher bedurfte der singapurische Staat eines 50 In: Chew 1991: 363.

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»Many Races, One Singapore« universalistischen Konzeptes zu seiner Legitimation, das in der Lage war, die verschiedenen partikularen Interessen zu transzendieren. Von dem zu dieser Zeit gültigen Angebot an universalistischen Konzepten – Anti-Kolonialismus, Sozialismus/Kommunismus und Kapitalismus – kam eigentlich nur letzteres in Frage, schließlich war die Unabhängigkeit eben nicht das Resultat eines anti-kolonialen Befreiungskampfes gewesen und die PAP strikt antikommunistisch ausgerichtet. Also entschied man sich für die kapitalistische Option, mit den Begriffen »Modernisierung« und »Wirtschaftswachstum« als Identifikationssymbole, um die Plural Society auf nationaler Ebene zu integrieren. Politik wurde dementsprechend auf Ökonomie reduziert, die Steigerung des Lebensstandards zur ausschließlichen Legitimation des politischen Systems. Die multikulturelle Verfassung des Stadtstaates stellte gleichzeitig sicher, daß ethnischkulturelle Interessen in den Bereich des Privaten verwiesen wurden. Darüber hinaus wurde ein Krisenszenario beschworen, angesichts dessen alle Singapurer an einem Strang ziehen müßten. Dazu zählten vor allem die wirtschaftlichen Anfangsschwierigkeiten, die kommunistische Bedrohung (sowohl in Malaysia als auch in Indonesien kämpften kommunistische Guerillas) und die Gefahr ethnischer Konflikte, die jederzeit ausbrechen konnten. Die nationale Politik des ersten Jahrzehnts ist demzufolge auch als »ideology of survival«, als »ideology of pragmatism« bzw. als »garrison mentality« bezeichnet worden.51 Vor allem die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, der öffentliche Wohnungsbau und die Erziehungs- und Sprachenpolitik wurden in der Folge als Instrumente des nationbuilding genutzt.52 Mit Hilfe der bereits erwähnten staatlichen Wohnungsbaugesellschaft (HDB) wurde sowohl dringend benötigter Wohnraum geschaffen als auch durch den Abriß bislang kulturell homogener Siedlungen die ethnischen Konzentrationen innerhalb des Stadtgebietes weitgehend aufgelöst. Unter der britischen Kolonialherrschaft war die Schulbildung im wesentlichen von den jeweiligen ethnischen Gruppen selbst finanziert und durchgeführt worden. Auch dies 51 Ideology of survival: Chan 1971; ideology of pragmatism: Chan & Evers 1973; garrison mentality: Brown 1989. 52 Die 1967 eingeführte Wehrpflicht wird unter anderem folgendermaßen begründet: »A large part of the population, having migrated mainly from China and India, in search of fortunes, lacked full commitment to the long term viability of Singapore. National Service offered the prospect of fostering such a commitment while unifying a diverse population through a common experience« (Ministry of Culture 1984: 178, in: Wilkinson 1988: 168).

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Andreas Ackermann hatte zur Segregation der Bevölkerung beigetragen, da sowohl die Lehrbücher als auch das Lehrpersonal aus den jeweiligen Herkunftsländern bezogen wurden. In den frühen sechziger Jahren wurden daher ein neues nationales Schulsystem mit einem gemeinsamen Lehrplan, der Englisch als Unterrichtssprache vorsah, eingeführt, die Schulbücher vor Ort entwickelt und die Lehrer in Singapur ausgebildet.53 Phase II: Konsolidierung Nachdem die Regierung während der Emanzipationsphase erfolgreich versucht hatte, Ethnizität aus der politischen Arena zu verbannen und das Nationale weitgehend sich selbst zu überlassen, kam es in der Phase der Konsolidierung erstmals zu einer Thematisierung ethnisch-kultureller Differenzen in bestimmten Bereichen (vor allem in bezug auf die malaiische Minderheit). Während der anhaltende wirtschaftliche Erfolg des Stadtstaates der Regierung einerseits die notwendige Legitimität verschaffte, bewirkte er andererseits aber auch eine zunehmende Konsumorientierung innerhalb der Bevölkerung, die mit einer stärkeren Betonung der Individualität einherging, die sich von den allfälligen Krisenszenarien nicht länger in der gebotenen Weise beeindrucken ließ. Dies wurde von der PAP als »Verwestlichung« bzw. »Dekulturation« interpretiert, der es mittels einer gezielten Bereitstellung des bereits erwähnten »kulturellen Ballastes« im Sinne der einzelnen »ethnischen« Kategorien bzw. sogenannter »asiatischer Werte« entgegenzusteuern galt. Letztere entziehen sich einer konzeptionellen öffentlichen Debatte in Singapur und meinen vor allem den Vorrang des Kollektivs vor dem Individuum und den Respekt vor Autoritäten.54 Hiermit nahm man staatlicherseits das Paradox in Kauf, einerseits »moderne westliche« Technologien zu fördern und andererseits die Beibehaltung »traditioneller östlicher« Werte zu propagieren. Dazu wurden zum Beispiel kulturelle Festivals offiziell gefördert, Fernsehprogramme für die jeweiligen ethnischen Gruppen produziert und ganz allgemein die ethnische Selbstvergewisserung als eine »gesunde Entwicklung« gelobt, so der heutige Premierminister Goh Chok Tong.55 In der Schule wurde der Religious Knowledge-Unterricht im Jahre 1982 eingeführt, und zwar den CMIO-Kategorien entsprechend jeweils für Christen, Buddhisten, Hindus und Muslime. Chinesische Schüler, die sich keiner der Buchreligionen zu53 Vgl. Gopinathan 1976 und 1991; Inglis 1985. 54 Vgl. Chua 1992. 55 Straits Times vom 17. Dezember 1990.

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»Many Races, One Singapore« rechneten, konnten konfuzianische Ethik wählen.56 Nach den Worten Lee Kuan Yews sollte kein Kind die Schule verlassen haben, »without having the ›soft-ware‹ of his culture programmed into his subconscious«.57 Der Unterricht in Religious Knowledge und konfuzianischer Ethik fand allerdings 1990 ein jähes Ende, nachdem eine Studie nahegelegt hatte, daß dadurch auf lange Sicht interreligiöse Konflikte produziert werden könnten.58 Zusätzlich wurden in jüngster Zeit mit der staatlichen Förderung von ethnischen Selbsthilfegruppen Artikulations- und Regulationsmöglichkeiten für die jeweiligen Interessen der drei offiziell anerkannten ethnischen Gruppen in Singapur geschaffen. Besonders im Hinblick auf die Malaien befürchtete man, daß die Frustration über den bisher erreichten Lebensstandard (der niedrigste unter den CMIO) in eine Unzufriedenheit gegenüber der Regierungspolitik umschlagen könnte. Bis zur Unabhängigkeit hatten die Malaien zwar eine Minderheit in Singapur gebildet, waren gleichzeitig aber ein Teil der Mehrheitsbevölkerung der malaysischen Nation gewesen. Die Trennung von Malaysia machte daher eine grundsätzliche Neuorientierung der malaiischen Kommunität erforderlich, und die Diskussion der sozialen und wirtschaftlichen Situation der Malaien innerhalb der multikulturellen Gesellschaft Singapurs bzw. ihrer daraus resultierenden (eventuell mangelhaften) Loyalität zum singapurischen Staat gehörte dann auch zu den zentralen Debatten der achtziger Jahre. Vor allem wurde eine schleichende »Islamisierung« als eine mögliche Kompensierung ihrer empfundenen Rückständigkeit befürchtet, die auf Dauer zu Allianzen mit den Muslimen in Malaysia und Indonesien führen könnte. Aus diesem Grunde durften Malaien beispielsweise keine als militärisch sensibel eingestuften Posten etwa bei der Luftwaffe oder Marine bekleiden.59 Das vergleichsweise schlechtere Abschneiden der Malaien sah man in ihrem kulturellen Hintergrund begründet: Schon der britischen Kolonialadministration galten Malaien als rückständig, harter Arbeit abgeneigt und an Veränderung nicht interessiert.60 Um die Malaien bei ihrer »Moderni56 57 58 59

Chua 1995: 28. In: Hill & Lian 1995: 198. Vgl. Kuo, Quah & Tong 1988. Vasil 1992: 68. Mißtrauen herrscht aber nicht nur den Malaien gegenüber. Ein indischer Gesprächspartner erinnert sich an seinen Wehrdienst, als er mit vier anderen indischen Freunden nach dem Training zusammensaß und der Vorgesetzte im Vorbeigehen fragte: »Plotting to overthrow the government?« (Gunalan). 60 Vgl. Li 1989: 166ff.

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Andreas Ackermann sierung« zu unterstützen, wurde seitens der Regierung 1981 die malaiische Selbsthilfeorganisation MENDAKI (Council for the Development of Muslims in Singapore) ins Leben gerufen, um eine bessere Ausbildung und damit die beruflichen Aufstiegschancen der Malaien zu fördern. Damit allerdings hatte man eine Dynamik in Gang gesetzt, bei der Ethnizität die ausschlaggebende Rolle bei der Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen zukam und demzufolge auch als »corporatist management of ethnicity« bezeichnet worden ist.61 So war es im Sinne des singapurischen Multikulturalismus nur folgerichtig, daß im Abstand von wenigen Jahren SINDA (Singapore Indian Development Agency, 1990) für die indische Kommunität, CDAC (Chinese Development Assistance Council, 1992) für die Chinesen und schließlich auch eine Eurasian Association (1994) eingerichtet wurden. Ein weiteres Beispiel der offiziellen Thematisierung von Ethnizität ist die im Jahre 1979 initiierte sogenannte »Speak Mandarin«-Kampagne, die auf eine Homogenisierung der chinesischen Kommunität abzielte, indem die faktisch existierende Vielfalt der chinesischen Dialekte zugunsten des Hochchinesischen abgelöst werden sollte. Seitdem ist jährlich ein Monat »der« chinesischen Sprache und Kultur gewidmet, mit Postern, Veranstaltungen, offiziellen Stellungnahmen seitens der Regierung, Werbespots in Radio und Fernsehen und neuerdings mit Internet-Unterstützung.62 Die öffentliche Verwendung anderer chinesischer Sprachen als Mandarin, etwa in den Medien, ist dagegen seit 1977 verboten. Drei Argumente dienen im wesentlichen der offiziellen Begründung dieser Kampagne: Die Ersetzung von Hokkien, Kantonesisch, Teochew usw. durch Mandarin soll erstens die Zweisprachigkeit fördern, zweitens das chinesische Erbe bewahren helfen und drittens als lingua franca die Verständigung zwischen allen Chinesen fördern. In den Worten des Premierministers Goh Chok Tong: »For the Chinese community, our aim should be a single people, speaking the same primary language, possessing a distinct culture and a shared past, and sharing a common destiny for the future. Such a Chinese community will then be tightly knit.«63

Angesichts der von offizieller Seite so betonten kulturellen Differenzen stellt sich natürlich die Frage nach den verbindenden Gemeinsamkeiten. 61 Brown 1993. 62 (15. Januar 2001). 63 Goh 1991, in: (15. Januar 2001).

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»Many Races, One Singapore« Was bedeutet es für die verschiedenen ethnischen Gruppen Singapurer zu sein? Auf diese Frage weiß jeder Singapurer die offizielle Antwort, nämlich: »You should call yourself a Singaporean first, then your race second«. Jenseits solcher wohlfeilen Beteuerungen bleibt die nationale Komponente der singapurischen Identität allerdings eher unbestimmt. Die fortwährende Betonung der kulturellen Differenz läßt wenig Raum für die Entwicklung einer gemeinsamen Identität. Hier zeigt sich, daß die Aufrechterhaltung bzw. Förderung ethnisch-kultureller Grenzziehungen nicht nur auf der Ebene des individuellen Kontaktes zwischen den vier Gruppen problematisch ist, sondern auch die Identifikation der oder des Einzelnen mit der singapurischen Nation betrifft.64 Die Tatsache, daß die nationale Zugehörigkeit untrennbar mit der ethnischen-kulturellen Kategorisierung als CMIO verknüpft ist, schafft für viele Singapurer eine paradoxe Situation. Ein Gesprächspartner schildert die Konfusion folgendermaßen: »So I have to identify myself as an Indian living in Singapore, which, it sometimes doesn’t sit very well in people’s mind, they don’t understand the concept between nationality and race being different. […] Because, when I say I’m an Indian, I can talk about the culture, when I say I’m a Singaporean, culture – it’s a question mark! So it’s an identity which exists in a vacuum.« (Viva)

Phase III: Identifizierung Die dritte und bisher letzte Phase des Nationsbildungsprozesses ist durch den Versuch gekennzeichnet, dieses Identitäts-Vakuum zu füllen. Immer deutlicher begann sich nämlich abzuzeichnen, daß eine lediglich pragmatisch ausgerichtete, überwiegend an materiellen Werten orientierte Identität nur wenig identitätsstiftend wirkt: Die PAP verlor bei den Wahlen stetig an Stimmen (von durchschnittlich 75 Prozent in den Jahren 1963-1984 auf 61 Prozent in 1991), während die Zahlen der Auswanderungswilligen kontinuierlich zunahmen, von etwa 1.000 Familien jährlich in den Siebzigern auf 2.000 in den frühen Achtzigern und über 4.000 im Jahre 1988.65 Die Regierung reagierte auf diese Entwicklungen, indem sie 1991 eine offizielle nationale Ideologie einführte, die auf fünf sogenannten »Shared Values« aufbaute. Diese Werte propagieren (1) den Anspruch der Nation über die jeweilige ethnische Kommunität bzw. der Gesellschaft über das Individuum; (2) die Familie als Keimzelle der Gesellschaft; (3) die Unterstützung 64 Mehr Interviewmaterial findet sich in Ackermann 1997: 90ff. 65 Mutalib 1992: 85.

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Andreas Ackermann des Einzelnen durch seine ethnische Kommunität; (4) Konsens anstelle von Konflikt als Austragungsmuster gesellschaftlicher Interessengegensätze und schließlich (5) »rassische« und religiöse Harmonie.66 Zudem wurde versucht, die nationale Symbolik zusätzlich durch öffentliche Massenveranstaltungen aufzuladen, etwa durch den Nationalfeiertag, der jeweils unter ein Thema gestellt wird, mit dem sich alle Singapurer, ungeachtet ihrer ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit, identifizieren können sollen.67 Eigens komponierte Lieder mit klingenden Titeln wie »This is our land«, »Salute to Singapore«, »Stand up for Singapore«, »Count on me Singapore« und »Together, Singapore forever« sollen Jung und Alt begeistern und über das gemeinsame Singen ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl kultivieren.68 Des weiteren wird nun auch immer häufiger die inzwischen 30 Jahre umspannende Geschichte (bzw. ihre offizielle Interpretation) zur Schaffung eines nationalen Bewußtseins herangezogen. Im November 1996 wurde das Singapore Discovery Centre eröffnet, ein 70 Millionen Mark teurer Vergnügungspark, der die historischen Meilensteine der Republik ihren Bürgern nahebringen soll.69 Bereits im Sommer desselben Jahres wurde ein neues Curriculum für den Geschichtsunterricht an den Schulen eingeführt, unter dem Motto »lessons of citizenship«. Der Unterricht umfaßt unter anderem Videos, die Schlüsselbegriffe des bereits zitierten Singapur-Gelöbnisses sowie staatsbürgerliche Rechte und Pflichten illustrieren sollen (ein Zeichentrickfilm, bei dem ein Elefant, eine Maus, ein Eichhörnchen und ein Tiger zusammen Musik machen, soll dabei auf die Bedeutung der Harmonie der »Rassen« hinweisen), Ausflüge zu historisch 66 Vgl. Chua 1995: 31ff.; Hill & Lian 1995: 188ff. 67 Ein zentrales Element der Nationalfeiertagsparade 1994 z.B. war ein Tanz der »Rassen in Harmonie«, wobei als Chinesen, Malaien, Inder und Eurasier kostümierte Tänzer auftraten. Dazu erklang ein eigens komponiertes Lied mit der sinnreichen Zeile: »Every creed and every race, Has its role and has its place« (PuruShotam 1998: 52f.); vgl. auch Kong & Yeoh 1997. 68 So jedenfalls die offizielle website »Sing Singapore 2000«, die insgesamt 23 patriotische Gesänge zum Abspielen bereit hält ( [08. Januar 2001]). Das »Ministry of Information and the Arts« (MITA) bietet darüber hinaus vierzehn Lieder zum download an ( [08. Januar 2001]). Siehe dazu auch Shrz Ee Tan 2001. 69 Das Singapore Discovery Centre ist natürlich auch im Internet präsent: (15. Januar 2001).

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»Many Races, One Singapore« bedeutsamen Plätzen (unter anderem Chinatown, Little India, Kampong Glam) sowie neues Unterrichtsmaterial zu Fragen nationaler Identität (Politikerreden, Zeitungsartikel und Bücher).70 Im Jahre 1998 lief dann die »Singapore Story – Overcoming the Odds« mit großem Erfolg – innerhalb eines Monats hat eine halbe Million Singapurer die Ausstellung bei freiem Eintritt gesehen. In einer »National Education Multimedia Show« wird den Besuchern Archivmaterial (bestehend aus alten Fotografien, Rundfunkund Fernsehsendungen) mit den neuesten technischen Mitteln präsentiert, um ihnen Singapurs – angeblich nach wie vor bestehende – »Verwundbarkeit« eindrücklich ins Bewußtsein zu rücken.71 Angesichts der Globalisierungstendenzen sieht sich Singapur vor zusätzliche Herausforderungen gestellt, die jüngst von einem von der Regierung einberufenen Komitee mit dem Namen »Singapur 21« auf den Begriff gebracht worden sind. Die zukünftigen Probleme werden in einem Bericht der Kommission auf fünf Dilemmata reduziert: (1) weniger Streß oder Beibehaltung des (ökonomischen) Schwungs; (2) Bedürfnisse der älteren oder Ansprüche der jüngeren Generation; (3) Anwerbung von externem Know how oder Verantwortung gegenüber den eigenen Bürgern; (4) Internationalisierung bzw. Regionalisierung oder Heimat Singapur; (5) Konsultation und Konsens oder Entschlossenheit und Schnelligkeit.72 Das dazugehörige Logo illustriert sehr schön die dahinterstehende Ideologie: Vier Figuren, sich an den Händen haltend, symbolisieren die Einheit der CMIO. Sie stehen unter einem gemeinsamen, roten Dach, welches die Heimat aller Singapurer repräsentiert, wo immer auf der Welt sie sich auch gerade befinden mögen. Darüber schwebt ein – ebenfalls rotes – Herz, das für den »Singapore heartbeat« steht, die Verbundenheit mit dem Vaterland, in dem sich jeder Singapurer zuhause fühlen soll.

70 Straits Times vom 28. Juli 1996. 71 Straits Times vom 14. Juli 1998. 72 Singapore 21 Facilitation Committee 2000.

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Andreas Ackermann 5. »Creating the Singapore Tribe«: Zur kulturellen Logik des singapurischen Multikulturalismus 73 Während die Regierung in den fünfziger Jahren die Nation mit ihrer Krisenrhetorik – Unabhängigkeit, Trennung von Malaysia, Nationsbildung, »Rassen«-Konflikte, Bedrohung von außen, wirtschaftlicher Überlebenskampf – um sich scharen konnte, so wirken diese Szenarien in den wohlhabenden und stabilen neunziger Jahren nicht länger identitätsstiftend. Ansprüche auf mehr Mitbestimmung und weniger Kampagnen werden von der PAP als verwerfliche westliche Konsumorientierung, Individualismus und Egoismus interpretiert, mithin als moralische Krise inszeniert, die das traditionelle Ethos Singapurs gefährden. Die damit erfolgte Entgegensetzung von »westlichen« und »östlichen« bzw. »asiatischen« Werten läßt sich auch als »internalisierten Orientalismus« bezeichnen, nur daß dieser Diskurs eben von den lokalen Eliten betrieben wird.74 Paradoxerweise kommt der Ideologie des Multikulturalismus in diesem Zusammenhang nicht – wie in herkömmlicher Lesart – die Funktion eines empowerment von Minderheiten zu, im Gegenteil, Chua Beng Huat zufolge verwehrt der singapurische Multikulturalismus einer ethnischen Gruppe die Möglichkeit, aufgrund ihrer Differenz Ansprüche formulieren zu können, ohne gleichzeitig die gleichberechtigten Ansprüche der jeweils anderen Minderheiten zu verletzen.75 Problematisch bleibt aber nach wie vor die Tatsache, daß sich nationale Identität in Singapur letztlich über die Zugehörigkeit zu einer der ethnischen Kategorien herstellt, das heißt, man ist Singapurer als Chinese, Malaie oder Inder (oder other) in Relation zu den jeweils anderen ethnischen Gruppen. Die offizielle multikulturelle Politik schafft so eine Situation, in der nationale Identität überwiegend als Bezugspunkt verschiedener ethnischer Gruppen dient und damit an verbindender Bedeutung verliert. Dies führt zu dem Paradoxon, daß die Singapurer zwar die jeweiligen ethnischen Loyalitäten hinter die nationale Integration zurückstellen sollen, andererseits aber permanent mit ethnischkultureller Identität konfrontiert werden. Damit entsteht eine Spannung zwischen den Möglichkeiten individueller Selbstidentifizierung auf der einen und Forderungen nach eindeutiger Zuschreibung durch den Staat auf der anderen Seite. 73 In Anlehnung an Benjamin 1976. 74 Kuah 1997: 66. 75 Chua 1998: 36.

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»Many Races, One Singapore« Die offizielle Verknüpfung von race, Sprache, Kultur und Religion bedeutet aber auch, daß diejenigen Gruppen, die sich nicht unter die Kategorien Chinese, Malaie oder Inder subsumieren lassen, auf der nationalen Ebene praktisch nicht präsent sind. Dazu zählen zum Beispiel Armenier, Juden, Filipinos, Araber, Japaner, aber auch die Babas und Eurasians. Besonders diese beiden letzten Gruppen hätten eigentlich einen legitimen Anspruch darauf, das kulturelle Erbe Singapurs zu vertreten, da sie mit zu den ersten Einwohnern Singapurs zählen. Eine »Misch«-Kategorie aber ist im singapurischen Modell nicht vorgesehen, so daß die Eurasians sich in der Kategorie others wiederfinden, während die Babas offiziell zu den Chinesen gerechnet werden. Die kulturelle Logik des singapurischen Multikulturalismus schafft so Zugehörigkeitsprobleme für alle diejenigen, die sich jenseits eindeutig zu bestimmender Grenzen verorten, und schließt Ambivalenzen (in-betweens) aus. Damit bleiben die Individuen an eine als traditionsbestimmt gedachte Kultur gebunden, werden die Unterschiede vor den Gemeinsamkeiten betont. Insofern verwundert es auch nicht, wenn die neueste Version singapurischer nationaler Identität wiederum ethnisch gedacht wird. In einer Rede vor dem Parlament im Mai 1999 sprach Premierminister Goh Chok Tong von der notwendigen Schaffung eines »Singapore Tribe«, in Anlehnung an die »einfache« singapurische Familie, eine Schicksalsgemeinschaft mit den für sie typischen eigenen Normen und Werten. In diesem Zusammenhang fanden auch die vermeintlichen asiatischen Tugenden Erwähnung, nämlich Respekt vor dem Alter, die Familie als Zelle der Gesellschaft, den Vorrang der Gesellschaft vor dem Einzelnen und Konsens anstelle von Konflikt. Weiter führte er aus: »We can, over time, imbue in our diverse population a sense of community, trust in each other, a commitment to Singapore, and a passion to make it work. We can maximize the significant common elements of our different ancestral heritage as well as our common Singapore heritage, and together, build a nation where we will share a common destiny. We can create the Singapore tribe.«76

Damit schließt sich der Kreis und führt zurück zur These des Anfangs, nämlich daß ein Nationalstaat, der keine politischen identitätsstiftenden Marker anbietet, zwangsläufig ethnische Identitäten reproduziert. Wie das multikulturelle Modell Singapurs zeigt, produziert nicht nur der Nationa76 Parlamentsrede des Premierministers Goh Chok Tong vom 05. Mai 1999, in:

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Andreas Ackermann lismus, sondern auch der Multikulturalismus Ethnizität und bildet damit einen Teil des Problems, dessen Lösung zu sein er vorgibt.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar

Das Lob der Mischung: Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar 1 Dieter Haller

1. Einleitung Zu Beginn meiner einjährigen Feldforschung in Gibraltar lerne ich Fiorina Sayers-Kelly (geb. 1957) kennen, die mir eines Abends im kenyanisch-indischen Restaurant »Maasai Grill« stolz ihre Familiengeschichte erzählt: »Mein Mann ist Ire. Mein Bruder Max hat eine Inderin geheiratet. Ich selbst wurde in Gibraltar geboren. Die Familie meines Vaters ist protestantisch und stammt aus England, aber seine Großmutter war Jüdin aus Amsterdam. Die Familie meiner Mutter, eine geborene Ruffino, ist typische gibraltarianisch: Sie stammen aus Sizilien und haben sich vor fünf Generationen in Gibraltar niedergelassen. Die Ruffinos heirateten vornehmlich in genuesische und englische Familien ein. Meine Großmutter stammt allerdings aus La Línea. Grannys Schwester, die einen Chinesen aus Borneo geheiratet hat, ist als einzige in der Familie blond, wohl weil unter ihren Vorfahren auch eine Deutsche gewesen war. Ich bin eine typische Gibraltarianerin.«

Die positive Bezugnahme auf den gemischten Charakter der Gibraltarianer ist nicht auf solchermaßen individuelle und private Diskursformen beschränkt, vielmehr ist er integraler und zentraler Bestandteil der öffentlichen Repräsentation gibraltarianischer Identität. Auf acht Tafeln wird im ersten Raum neben dem Eingangsbereich des lokalen »Gibraltar Museums«, dem sogenannten wing of the gibraltarian (in der Folge zum Teil einfach wing genannt), der Öffentlichkeit die fiktive und idealtypische Familiengeschichte (in der Folge auch »Museumsgeschichte« bzw. »Geschichte des wing« genannt) präsentiert, in der, ähnlich wie in Fiorinas Erzählung, Mischung und Toleranz eine zentrale Rolle spielen. Der wing of the gibraltarian wurde am 8. September 1995 auf eine Initiative der damaligen Regierung und der ihr nahestehenden »Bewegung für das Recht auf nationale Selbstbestimmung« (Self-determination Group for Gibraltar = SDGG) eingerichtet. Erzähler der Geschichte ist Calpe selbst, der Felsen von Gibraltar (Mons 1 Leicht modifizierte Version von Haller 2001. Der Beitrag beruht auf meiner einjährigen Feldforschung in Gibraltar (1996-1997), deren Ergebnisse in meiner Habilitationsschrift (Haller 2000a) publiziert wurden.

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Dieter Haller Calpe ist der antike Name des Felsens von Gibraltar), der dem Besucher auf der ersten Tafel ankündigt, die »story of my children, of those who found me and choose to live with me« zu erzählen. Es folgt eine »Tour de Force« durch die jüngere Historie, die mit der britischen Eroberung (ebenfalls auf Tafel 1) beginnt und mit der nationalen Bewegung (auf Tafel 8) endet. Die einzelnen Epochen werden anhand des Schicksals einzelner Personen und deren Nachkommen dargestellt, die Fäden dieser fiktiven Genealogie laufen schießlich auf der letzten Tafel in der Generation von Jason (geb. 1965) und Michelle (geb. 1971) zusammen. Die Vorfahren von Jason und Michelle sind wie die Verwandten von Fiorina unterschiedlicher Herkunft. Es treten auf: zwei Militärs aus England, ein portugiesischer Maurer, ein maltesischer Hafenarbeiter, ein Kaufmann aus Italien, zwei Spanierinnen, ein genuesischer Händler und zwei Genuesinnen. »So here they are«, schließt der Calpe, »after 200 years of struggle at hard life, my children, the product of generations of people who have settled here, now have their own character.«

Die unterschiedlichen Einwanderergruppen seien zu einer einzigartigen Bevölkerung verschmolzen, die sich durch eine »common history, traditions and way of life« auszeichnen würde. Und schließlich möchte ich ein drittes Artefakt anführen: die deutschsprachige Version der »Informationen für den Tagestouristen« des Nationalen Tourismusbüros von 1996. Diese lobt die Friedfertigkeit, mit der noch heute die unterschiedlichen Gruppen zusammenleben: »Gibraltar ist stolz auf seine religiöse Toleranz, seine zwei Kathedralen, vier Synagogen, einen Hindutempel, eine Moschee (die gerade gebaut wird) und eine Reihe kleinerer Kirchen und Gotteshäuser der unterschiedlichsten christlichen Konfessionen.«

Fiorinas Geschichte wie auch die beiden anderen, eher öffentlichen Befunde über die Repräsentation gibraltarianischer Identität vermitteln ein Bild kultureller Harmonie, religiöser und ethnischer Pluralität und Toleranz, das im Zeitalter der Huntingtonschen Kulturen im Zusammenprall, des Diskurses von »ethnischen Säuberungen« und kultureller Integrität (Debatte um die deutsche Leitkultur und den Nationalstolz) eher ungewöhnlich ist. Der Stolz auf die gemischte und hybride Herkunft nicht nur des zivilen Gemeinwesens, sondern auch des Einzelnen und der Familien, sowie ein Ethos religiöser und ethnischer Toleranz stehen im krassen Ge212

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar gensatz zu diesen, ethnische und kulturelle Reinheit propagierenden Diskursen des Nationalismus. Die ethnologische Forschung hat deutlich gemacht, daß ethnische Gruppen und Kulturen niemals als selbstgenügsame Einheiten mit langem, überzeitlichem Charakter bestanden. Vielmehr standen auch scheinbar isolierte Gruppen immer in Kontakt mit anderen Gruppen, und es sind diese Kontaktsituationen, die das Eigenbewußtsein einer Gruppe häufig entweder erst hervorrufen und schärfen oder aber wieder verschwinden lassen. Die meisten Kulturanthropologen vertreten heute die Auffassung, daß kollektive Identitäten generell als Resultate der Interaktion von Gruppen zu verstehen sind. Im Gegensatz dazu propagieren Nationalisten und Vertreter indigener Gruppen die Überzeitlichkeit der eigenen, von anderen Gruppen distinkten Ethnizität. Die Ideen von Reinheit, Nation und Staatlichkeit sind heute eng miteinander verknüpft. Staatlichkeit ist das zentrale Prinzip der internationalen Rechtsordnung. In der Konvention von Montevideo (1933) werden vier Definitionskriterien benannt, die einen Staat als solchen definieren: Staaten müssen über eine permanente Bevölkerung, ein definiertes Territorium, eine Regierung und über die Möglichkeit verfügen, mit anderen Staaten Beziehungen einzugehen. In der Praxis werden von den Vereinten Nationen und von bereits existierenden Nationalstaaten nur die ersten beiden Kriterien durchgängig verfochten. Das Konzept der Staatlichkeit politisiert und eint plurale, gemischte und territorial verstreute Bevölkerungen in Form der Kategorien von staatlicher Souveränität und staatlicher Integrität. Im vornationalen Staat – also etwa in der Militärkolonie Gibraltar – definiert sich die Zivilbevölkerung in erster Linie über Staatsangehörigkeit (z.B. als britische Staatsbürger), Religion (z.B. katholisch, jüdisch, protestantisch) und über Kultur (im regionalen, nicht im ethnischen Sinne, z.B. als Angehörige einer andalusischen oder mediterranen Kultur). Diese Zuordnungen sind nicht an eindeutige ethnische Kategorien gebunden und ähneln damit dem von Ingeborg Weber-Kellermann (1978) beschriebenen und von Piero Vereni (1996) am Beispiel Mazedoniens (vor 1913) explizierten Persona-Konzept: So verfügten die Bewohner des osmanischen Mazedonien über die Möglichkeit, sich als Griechen zu bezeichnen, wenn sie handelten, als Albaner, wenn sie heirateten, und als Muslime, wenn sie beteten. Für diese pluralen Möglichkeiten verwendet Vereni den Begriff der »Person« im etymologischen Sinne, um die Flexibilität, die Verhandelbarkeit dieser Identität anzuzeigen. Die Frage danach, welcher Gruppe sich eine Person zugehörig fühlt, wäre im osmanischen Kontext zweifellos

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Dieter Haller mit einer Gegenfrage beantwortet worden: wann und in welchem Kontext?2 Mit der modernen Idee der Nation dagegen werden »Personen« zu »Individuen«. »Individuum« läßt sich im etymologischen Sinne auf das lateinische dividere (»teilen«) zurückführen und bedeutet sinngemäß »der/die Unteilbare.« Die Idee der Nation ist mit der Idee der Staatlichkeit zwar verbunden, geht über dieses Konzept jedoch hinaus.3 Die Nation ist diejenige (angestrebte oder verwirklichte) Staatsform, in der die politischterritoriale Einheit mit der kulturell-ethnischen kongruent sein soll. Die Forderung nach Deckungsgleichheit entsteht aus der strukturellen Notwendigkeit zur Vergesellschaftung ökonomisch mobiler Bevölkerungen. Benedict Anderson (1983), Eric Hobsbawm (1990), Friedrich Heckmann (1991) und Ernest Gellner (1995) zeigen, daß sich nationalistische Ideologien nicht aller verfügbarer kultureller Ressourcen innerhalb eines Staatswesens bedienen, um die Inklusion der Staatsbevölkerung in einen homogenen »Volkskörper« zu befördern, sondern daß dabei lediglich auf bestimmte kulturelle Ressourcen zurückgegriffen wird. Nationalismen bedienen sich dabei eines Satzes an Mythen, Ritualen und Symbolen, um eine historische Kontinuität zwischen Gruppe und Raum zu behaupten, um die kulturelle Homogenität der Bevölkerung, ihre territorialen Besitzstände und sozialen Hierarchien zu legitimieren4 und um die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der nationalen Gemeinschaft gleichsam zu naturalisieren und zu familiarisieren. Die Absicht des vorliegenden Textes ist es zu zeigen, warum in Gibraltar nicht Homogenität, sondern Mischung, Hybridität und Pluralismus positiv bewertet werden und darüber hinaus sogar zur Grundlage für die Forderung der nationalen Bewegung werden konnten. Ich werde argumentieren, daß sich die spezifische Situation des gibraltarianischen Mischungsdiskurses aus der politischen und historischen Situation der Kolonie ergibt, eingespannt zwischen den Interessen des Mutterlandes Großbritannien und den Territorialansprüchen des Nachbarlandes Spanien. Dabei werde ich zunächst einige demographische, politische und historische Grunddaten über Gibraltar präsentieren. In einem zweiten Schritt werde ich die Ge2 Vergleichbares bestätigt Ilbert (1992: 27) für Alexandria. »À la fin du XIXe siècle, on pouvait encore avoir plusieurs nationalités et jouer d’elles comme de cartes de crédit, au point que le seul critère déterminant se trouve dans la combinaison nationalité-religion.« 3 Vgl. Borneman & Fowler 1997. 4 Vgl. Armstrong 1982; Smith 1984.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar schichte des wing untersuchen und die beiden Hauptstränge der Argumentation präsentieren, mit der dort nationale Identifikation hergestellt wird: Neben der Familiarisierung unpersönlicher Beziehungen über den Mischungsdiskurs betrifft dies auch deren Naturalisierung. Drittens werde ich zeigen, daß es sich beim Mischungsdiskurs nicht um ein Lob jeglicher Mischung handelt, sondern vielmehr um ein Lob einer bestimmten Mischung, einer bestimmten Herkunft und einer bestimmten Pluralität. Diese »richtige Mischung« werde ich vor dem Hintergrund des politischen Kampfes um Selbstbestimmung analysieren. Schließlich möchte ich danach fragen, was uns das gibraltarianische Beispiel für die ethnologische Diskussion von Ethnizität und Nationalismus zu sagen vermag. Ich werde dabei auf die Beziehung zwischen Nation, Ethnizität und Territorialität eingehen.

2. Grunddaten über Gibraltar Gibraltar gehört zu den letzten Kolonien des britischen Empire. Das Territorium der Kolonie umfaßt kaum mehr als 6 Quadratkilometer. Die rund 28.000 Einwohner, davon 25.000 Zivilisten und etwa 3.000 Angehörige des britischen Militärs mit ihren Familien, leben in der einzigen Siedlung. Die Kolonie genießt mit einer eigenen Regierung weitgehende und vor allem innenpolitische Autonomie. Staatsoberhaupt ist die Queen, die britische Regierung ist durch einen Gouverneur vertreten. Gibraltar ist seit dem Beitritt Großbritanniens im Jahre 1974 EWG- bzw. EU-Territorium, gehört allerdings weder dem Bereich des Schengener Abkommens noch der Zoll- und Agrarunion an und ist nicht Geltungsbereich der Mehrwertsteuer. Lange bestimmten zwei Faktoren die Geschicke des kleinen Ländchens: die britische Garnison und der Konflikt mit dem Nachbarland Spanien. Gibraltar als Teil des Empire Vor fast 300 Jahren eroberte die anglo-holländische Flotte unter dem Prinzen von Hessen-Darmstadt für einen der Anwärter auf den spanischen Thron, den Habsburger Erzherzog Karl, im spanischen Erbfolgekrieg den Felsen von Gibraltar. Karl verlor den Erbfolgekrieg gegen den Bourbonen Philippe, der als Felipe V. zum König von Spanien gekrönt wurde. Gibraltar indes wurde im Frieden von Utrecht im Jahre 1713 an Großbritannien abgetreten. Seither weht am strategisch wichtigen Eingang zum Mittelmeer

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Dieter Haller der Union Jack und seit einigen Jahren auch die weiß-rote Flagge Gibraltars mit Burg und Schlüssel. Bedeutsam wurde Gibraltar als Zwischenstation für die Handels- und Kriegsschiffe des Empire auf der Route von Großbritannien über den Suezkanal nach Indien und Australien. Die Präsenz der britischen Truppen in Gibraltar besaß noch im Kalten Krieg besondere militärstrategische Bedeutung für Großbritannien und die NATO, da die Garnison die Kontrolle des Zugangs zur Meerenge zwischen Atlantik und Mittelmeer ermöglichte. Gibraltars strategisch-militärische Bedeutung für Großbritannien ist jedoch nach dem Beitritt Spaniens zur NATO 1982 und nach dem Wegfall der militärischen Konkurrenz der sowjetischen Flotte zurückgegangen. Auch die Präsenz der britischen Truppen nahm in der Folge ab; bereits 1991 wurden die Landstreitkräfte abgezogen, 1997 folgte die Royal Air Force. Seither verbleibt nur noch das Gibraltar Regiment mit 300 Soldaten und 200 Reservisten auf dem Felsen. Damit verbunden stellte sich eine ökonomische Umorientierung von der hauptsächlich vom Militär abhängigen lokalen Wirtschaft (Militärhafen, Versorgung der Truppen) ein. Das Militär war lange der bedeutsamste Wirtschaftsfaktor gewesen, doch die vom ehemaligen Hauptarbeitgeber, der Royal Navy, betriebenen Docks wurden bereits 1984 geschlossen. Trug das Militär im Jahre 1960 noch 65 Prozent zum Bruttosozialprodukt der Kolonie bei, so waren es 1994 nur noch 9 Prozent. Anfang der neunziger Jahre wurde Gibraltar durch die ökonomischen Schwierigkeiten, die der Umbau von einer Militär- auf Zivilwirtschaft mit sich brachte, arg gebeutelt. Kurzfristig wurde die Kolonie zum Schmuggelparadies für Tabak und Haschisch. Diese Phase ist heute weitgehend überwunden, die gegenwärtige Wirtschaft basiert auf drei starken Säulen: dem Finanzzentrum mit seinen Im- und Exportgeschäften5, den Hafenanlagen6 und dem Touris5 In den achtziger Jahren hat sich Gibraltar zu einem internationalen Finanzzentrum entwickelt, das Schutz vor nationalen Finanzämtern und internationalen Steuerbehörden versprach. 1991 waren 18.000 Holding-Gesellschaften in Gibraltars Handelsregister registriert, 1994 waren es bereits 53.000. Für die Holdings residieren 75 Treuhänder in der Kolonie. 28 internationale Banken sind in Gibraltar ansässig, davon fünf aus Spanien. 6 Der mittlerweile privatisierte und von Cammell Laird betriebene Hafen ist heute die größte Anlage im Mittelmeer, die Schiffe mit Kohlebrennstoffen versorgt. Gibunko Group versorgt mit seinen Ladeschiffen über 2,5 Millionen Brennstoff an die 3.500 Schiffe jährlich. Vor zehn Jahren waren das lediglich 250.000 Tonnen. Insgesamt liefen 1999 etwa 5.500 Schiffe den Hafen an, ein

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar mus7; die Regierung rechnet für 1999 mit einem Haushaltsüberschuß von 12 bis 15 Millionen Pfund. Der spanische Anspruch Spanien hat sich mit dem Verlust des Felsens nie abgefunden. Bis heute reklamieren spanische Regierungen Gibraltar als einen integralen Bestandteil des eigenen Territoriums. Im Laufe der Geschichte wurde dieser Anspruch durch mehrere Belagerungen bekräftigt. Im Zuge der Entkolonialisierung wurde Großbritannien 1964 von der UN auch zur Entkolonialisierung Gibraltars aufgefordert. Diese Forderung wurde nicht, wie in anderen Fällen, an das Recht der Zivilbevölkerung auf Selbstbestimmung gebunden, sondern an die Rückgabe des Territoriums (hier: an Spanien). In den entsprechenden Verhandlungen verwies Großbritannien auf eben dieses Recht auf Selbstbestimmung und organisierte 1967 ein Referendum, dessen Ergebnis eindeutig war: Nur 44 Gibraltarianer sprachen sich für die Integration nach Spanien aus, aber 12.138 optierten für einen Verbleib beim Mutterland. Daraufhin gewährte das Mutterland der Kolonie 1969 eine Verfassung, in der geregelt wurde, daß über eine Änderung der Souveränität und eine mögliche Übereignung an Spanien nur in Übereinstimmung mit dem Volkswillen der Gibraltarianer entschieden werden würde. Aus Protest schloß Spanien daraufhin im selben Jahr die Landgrenze zwischen der Grenzstadt La Línea und der Kolonie. So entstand zwischen 1969 und 1982/85 ein Eiserner Vorhang am Südzipfel Europas; sogar die Telefonleitungen wurden gekappt.8 Erst mit dem Beitritt zu jener NATO (1982) starker Anstieg zu den 3.700 Schiffen vom Vorjahr. Gut 10 Millionen Pfund wurden ausgegeben, um dem Meer den nötigen Platz für den Ausbau des Handelshafens abzutrotzen. 7 Der Tourismus ist das dritte wirtschaftliche Standbein der Kolonie und befriedigt vor allem die Bedürfnisse der Besucher, meist Tagestouristen von der Costa del Sol, die sich neben der Main Street, die sich zu einem Einkaufzentrum gemausert hat, in dem Zigaretten, Alkohol, Elektronikgeräte, Schmuck, Uhren, Stoffe und Tabak angeboten werden, besonders für die landschaftliche Schönheit des Naturreservats auf dem Felsens interessiert – und natürlich für die berühmten Berbermakaken, die einzigen halbwild in Europa lebenden Affen. Die haben sich mittlerweile derart vermehrt, daß diesen November erstmals 25 von ihnen exportiert wurde, und zwar in den Safaripark von Daun in der Eifel. 8 Ein besonderes kurioser Aspekt der spanischen Rache war es, daß nicht einmal mehr Meßwein für die hauptsächlich katholische Bevölkerung über die

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Dieter Haller und jener Europäischen Gemeinschaft (1986), der Gibraltar durch das britische Mutterland bereits angehörte, öffnete Spanien die Grenze. Die Tatsache, daß eine demokratische Regierung jedoch immerhin gut sieben bzw. elf Jahre benötigte, um die Grenze 1982 für Fußgänger und 1985 auch für Autos zu öffnen, trug jedoch nicht dazu bei, das Vertrauen der Gibraltarianer in das Nachbarland zu stärken. Die Erfahrung, daß Gibraltarianer sich weder als Spanier noch als Engländer empfinden, sondern als Gibraltarianer, Briten, Europäer oder Mediterraneans, schlägt sich sowohl in Fiorinas Geschichte als auch in der Geschichte des wing nieder. Spaniens Hoffnung auf ein Aufgehen (man spricht in diesem Zusammenhang von osmosis) der Gibraltarianer in die Kultur des spanischen Hinterlandes, des Campo de Gibraltar, wird allerdings enttäuscht: Das Trauma der Grenzschließung wirkt lange nach und wird durch massive Schikanen am Grenzübergang bis heute wachgehalten.9 Die Konfrontation mit den nach wie vor feindlichen Nachbarn hat im Gegenteil die Abgrenzungsmechanismen zu Spanien und den Spaniern verstärkt. Der ethnische und religiöse Pluralismus Wie andere Hafenstädte des Mittelmeerraumes ist auch Gibraltar ein Ort des Kosmopolitanismus, des ethnischen Pluralismus und der religiösen Toleranz. Während aber das Triest des Italo Svevo, das Odessa des Isaak Babel, das Tanger der Internationalen Zone, das Alexandria Lawrence Durells und die Städte des osmanischen Reiches in neue Nationalstaaten eingegliedert und damit nationalstaatlichen Homogenisierungsbestrebungen Grenze geliefert wurde. Wer in diesen Jahren von Spanien nach Gibraltar reisen wollte, mußte den Umweg über Marokko in Kauf nehmen. Verwandte auf beiden Seiten der Grenze hatten oft keine andere Möglichkeit, als sich an der Grenze zu treffen und sich – wenn die Windverhältnisse es zuließen – über den trennenden Grenzstreifen hinweg die Nachricht von der Geburt oder dem Todesfall eines Familienmitgliedes zuzurufen. 9 Auch heute noch bestimmt die Erfahrung der geschlossenen Grenze auf erstaunliche Art und Weise manches Verhalten der Einheimischen. So fahren an den Wochenenden die Jugendlichen nicht etwa an die Badeorte an Spaniens Küste. Sie ziehen die vergleichsweise ärmliche Eastern Beach vor, einen schmalen Sandstreifen, der vom Lärm der landenden Flugzeuge des nahen Flughafens erbebt. Hier ist man unter sich. Oder sie fahren, scheinbar ziellos und einem sonderbaren Lockruf folgend, mit ihren Autos in stetigen Kreisen rund um die Kolonie, ohne anzuhalten, ein Relikt aus den Zeiten des Eingesperrtseins. Vgl. Haller 2000b.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar unterworfen wurden,10 konnten sich in der kleinen Kolonie ethnische Toleranz und Pluralismus erhalten, ja sie wurden sogar zur Grundlage der Ideologie des gibraltarianischen Nationalismus. Die heutigen Bewohner Gibraltars sind nach Deszendenz, Religion und Staatsangehörigkeit heterogen und stammen von Migranten ab, die erst seit der Eroberung durch die Briten im Jahre 1704 zugezogen sind: Sie sind britischer, spanischer, genuesischer, indischer, jüdischer, französischer, maltesischer und marokkanischer Herkunft; sie sind anglikanisch, katholisch, moslemisch, jüdisch oder hinduistisch; sie sind British-Citizens, British-Gibraltarians oder Non-British-Residents. In der kolonialen Zeit spielte regionale Herkunft neben Religionszugehörigkeit und Staatsangehörigkeit eine zentrale Rolle. So wurden die Zivilisten in den Volkszählungen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nach ihrer Herkunftsregion und nach ihrer Religion geordnet. Ehen zwischen den verschiedenen katholischen Gruppen, sowie zwischen Christen und Juden, vermischten die Bevölkerung, so daß die Volkszählungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr nach dem Herkunftsland, sondern nach der Religion und der Staatsangehörigkeit geordnet werden. Für die britische Militärverwaltung waren konfessionelle und ethnische Unterschiede bei der Behandlung der Zivilbevölkerung von untergeordneter Bedeutung.11 Seit der Eroberung durch die Briten bestanden in 10 Alexandria, wo zu Hochzeiten ein knappes Drittel der Bevölkerung nichtmuslimisch, ottomanisch oder europäisch gewesen war, ist hier ein besonders anschauliches Beispiel. Die kosmopolitische Mischung aus religiösen Gemeinschaften und nationalen Kolonien fand erst mit der Nationalisierungspolitik Nassers zu Beginn der fünfziger Jahre ein Ende. Nach der Gründung Israels 1949 verließen die Juden die Stadt, nach dem Suezkrieg 1956 die Franzosen und Briten und nach der Verstaatlichung der Industrie 1961 emigrierten auch Griechen, Armenier und Italiener. Alexandria wurde zur monoethnischen Provinzmetropole. Ilbert 1992. 11 Die erste Institution der Garnison, in der Zivilisten mit öffentlichen Aufgaben betraut wurden, entstand mit dem Committee for the Public Health während der Gelbfieberepidemie des Jahres 1804. In diesem Komitee waren die führenden Bürger aller Konfessionen vertreten: Es umfaßte die führenden katholischen und protestantischen Händler, den marokkanischen Konsul Hamet Beggia (einen Moslem), die Methodist Society und den jüdischen Händler Aaron Cardozo. Aufgabe des Komitees war es, ein oder mehrere Hospitäler für die Erkrankten einzurichten. Es dauerte zwölf Jahre, bis das Hospital am 17. Juli 1816 von Gouverneur General Don eröffnet wurde (vgl. Benady 1994: 16f.).

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Dieter Haller Gibraltar nie ethnisch oder religiös geprägte Wohnviertel oder gar Ghettos. Auf der Grundlage des – das Kolonialsystem dominierenden – Klassenantagonismus zwischen (britischen) Militärs und (lokalen) Zivilisten bildete sich bei letzteren jenes Ethos der gegenseitigen Toleranz heraus, das in Fiorinas Erzählung ausgedrückt wird. Dieses Ethos unterstreicht die gemeinsame Identität der Zivilisten, unabhängig von den religiös-kulturellen Unterschieden der Partikulargruppen. In Kolonialregimen, so schreibt Frederik Barth in seiner Einleitung zu »Ethnic groups and boundaries«, sind die Verwaltung und deren Regeln vom Leben der lokalen Gesellschaft getrennt: »Under such a regime, individuals hold certain rights to protection uniformly through large population aggregates and regions, far beyond the reach of their own social relationships and institutions. This allows physical proximity and opportunities for contact between persons of different ethnic groups regardless of the absence of shared understandings between them, and thus clearly removes one of the constraints that normally operate on inter-ethnic relations.«12

In kolonialen Konstellationen wurden ethnisch-kulturelle Differenzen häufig reduziert, andere Zugehörigkeiten dagegen betont, da sie die Organisation sozialer Beziehungen um differenzierte und komplementäre Werte erlaubten. In Gibraltar ist dies bis in die jüngste Vergangenheit hinein die religiöse Zugehörigkeit. Ein Anstoß für die Entwicklung der religiösen Toleranz kommt aus der Dichotomie zwischen kolonialer Elite und Zivilbevölkerung. Die militärisch-politische Elite der Garnison gehörte einer Religion an – der Church of England –, die sich im Verhältnis zur Zivilbevölkerung in der Minderheit befand. Diese Tatsache, die von Informanten häufig als wichtige Erklärung für die Entstehung der Toleranz angeführt wurde, kann jedoch nicht ausschlaggebend gewesen sein, schließlich traf diese Situation auf nahezu jede Das Hospital war konfessionell strukturiert und verfügte über drei Abteilungen, die sich jeweils um katholische, protestantische und jüdische Patienten kümmerten. Jede Abteilung wurde von einem Verwaltungskomitee der jeweiligen Konfession, dem ein Deputy Governor vorstand, geleitet (Benady 1994: 21). Diese Struktur bestand bis 1882 fort, als die katholische Abteilung in einen Frauentrakt umgewandelt und die jüdische Abteilung aus dem Hospitalgebäude ausgegliedert und in einem Nebengebäude untergebracht wurde (Benady 1994: 39). Die jüdische Abteilung bestand bis 1891 weiter. 12 Barth 1981: 225.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar britische Kolonie zu, die nicht vornehmlich von Siedlern aus dem Vereinigten Königreich bevölkert wurde. Entscheidend ist vielmehr, daß die Kolonialherren in den Untertanen vornehmlich Zivilisten sahen, deren einziger Anwesenheitsgrund auf dem Felsen ihre Dienste für die Garnison waren. Spätestens seit Edward Saids Überlegungen zum Orientalismus (1978) und seit Jean Paul Sartres (1976) und Frantz Fanons (1981) Kritik am Neokolonialismus wissen wir, daß die Stereotypisierung der Kolonialbevölkerungen mehr über das Selbstbild der Kolonialherren als über die Kolonisierten verrät. In ihren Arbeiten werden zwei antagonistische Gruppen formuliert, die Kolonisierten und die Kolonisatoren. Das Verhältnis zwischen beiden Gruppen wird maßgeblich von der Idee rassischer Reinheit geprägt, wobei aus der Perspektive der Kolonisatoren die Kolonisierten als verunreinigt, als Mischbevölkerung, als hybride und bastardisiert gefaßt werden, sie für sich selbst dagegen eine Reinheit in Anspruch nehmen, die jedoch potentiell durch leibliche, soziale und kulturelle Vermischung bedroht ist.13 13 Zwischen dem Selbstbild der Kolonisatoren und dem der Ethnographen lassen sich durchaus gewisse Parallelen feststellen: Beide sind geprägt von Rationalität und Objektivität. Diese Selbstbilder konnten aber erschüttert werden, was sowohl für die koloniale Verwaltung als auch für die wissenschaftliche Methode der teilnehmenden Beobachtung ein zentrales Problem darstellte, das in dem Verbot des »Going Native« gipfelte. So lehnte beispielsweise Paul Radin die Möglichkeit ab, daß der Forscher zu einem Stammesmitglied werde, weil man dann »a good portion in one’s life in a primitve community« verbringen müsse, aber er kenne keinen »well qualified ethnologist«, der bereit wäre, das zu tun (Diamond 1981). »Going Native« entstand im kolonialen Kontext als Bezeichnung für die Angst des Kolonisators vor einer Verunreinigung durch die Absorption in die Sitten und die Gebräuche der Einheimischen. Diese Verunreinigung betraf unterschiedliche Bereiche, gipfelte aber letztlich in der Vorstellung, der Kolonisator könne durch zu engen Kontakt mit den natives selbst zum native werden. Insbesondere stellten die Möglichkeit sexueller Liaisons mit natives und die Nachkommen dieser Verbindung eine Gefahr der physischen Degeneration für die »weiße Rasse« und damit die Schwächung des kolonialen Systems dar, das sich auf die Naturalisierung der Differenzen zwischen Beherrschern und Beherrschten gründete. In der Ethnologie wurde das Verbot des »Going Native« essentiell für die Aufrechterhaltung der Distanz zwischen Forschern und Erforschten, die die Objektivität des Forschers gewährleisten sollte. Said, Sartre und Fanon reproduzieren damit jene Dichotomie, die sie zu überwinden trachten. Ihre Ansätze übersehen etwa die zeitgenös-

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Dieter Haller Zum Zeitpunkt meiner Feldforschung (1996/97) stammt das koloniale Personal zum Großteil nicht mehr aus der aristokratischen Oberklasse, sondern vornehmlich aus der Mittelschicht und aus der Arbeiterklasse. Allerdings gilt für Gibraltar, was Robin Cohen auch für andere Kolonien bemerkt: Die Kolonialverwalter aus der englischen Mittelklasse nehmen für sich eine aristokratische Ethik in Anspruch und ahmen einen aristokratische Habitus nach. »Even working-class Britons who fled post war Britain for the easy lifestyle available in southern Africa in the 1950s and 1960s soon adopted the overbearing hauteur of a racial élite.«14

Noch heute sprechen aus den Urteilen der expats, der Briten des Vereinigten Königreiches, über Gibraltar, wie Gareth Stanton zu Recht bemerkt, häufig die Stimmen von Personen, die sich in einer strukturell schwachen Position befinden: »Often they are escaping from their own past or failure to find work back home. They’ve come to somewhere which is British, but can find no real place for themselves.«15

Gibraltar ist sozusagen – neben anderen Rückzugsgebieten der Nostalgiker16 – ein letzter Strohhalm, ein Ort, an dem Verlierer und Nostalgiker des Empire gleichermaßen eine Rückzugsmöglichkeit zu finden hoffen. Die Zivilbevölkerung Gibraltars definiert sich heute rechtlich – auf der Basis des 1962 durch die Gibraltarian Status Ordinance eingeführten Gibraltarian Status – im Gegensatz zum kolonialen britischen Establishment und zur spanischen Arbeiterschicht. Diese dadurch bestimmte Gruppe der Gibraltarians umfaßt die meisten Katholiken, Protestanten und Juden, ein gutes Viertel der Hindus und nur vereinzelt auch Muslime. Bis in die sische Diskussion im 19. Jahrhundert innerhalb des Mutterlandes um die hybriden Ursprünge der Engländer selbst sowie insbesondere die Tatsache, daß die Selbstpräsentation des kolonialen Establishments das gesellschaftliche Leitbild der aristokratischen Oberklasse wiedergibt und klassenplurale Perspektiven ausblendet. Eine vorzügliche Abhandlung über diese Diskussion findet sich bei Young 1995: 1-29. 14 Vgl. Cohen 1994: 20. 15 Stanton 1994: 177. 16 Vgl. dazu Oliver 2000.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar sechziger Jahre hinein bestanden intensive ökonomische und demographische Beziehungen ins spanische Hinterland. Dies änderte sich jedoch nach der Grenzschließung von 1969 abrupt. Die Zahl der intermarriages17 mit Spaniern ist seither stark rückläufig – wie auch die der Ehen zwischen Gibraltarianern und UK-Briten.18 Die Intensität der Beziehungen zum spanischen Hinterland wurde nach der Grenzöffnung 1982/85 nicht wieder aufgenommen. Im Gegensatz zur Rechtskategorie der Gibraltarians umfaßt die demographisch-territoriale Kategorie der Gibraltar Residents (gibraltarianische Wohnbevölkerung) all jene, die in Gibraltar registriert sind. Dazu gehören neben den Gibraltarians insbesondere der Großteil der muslimischen Gastarbeiter marokkanischer Nationalität; die hinduistischen Angestellten indischer Nationalität; hinduistische, jüdische und vor allem protestantische Briten aus dem UK (die sogenannten expats), die auf Dauer oder für einen begrenzten Zeitraum in Gibraltar leben; Juden aus Israel und den USA sowie andere Gruppen. Eine dritte Kategorie wird – in der Tradition von Barth (1981) – durch gegenseitige Zuschreibung in der Interaktion von Individuen und Gruppen bestimmt; es handelt sich um die ethnische Kategorie der Yanitos. Yanito19 wird affektiv zur Fremd- und Selbstbezeichnung benutzt und ist gleichsam der Name für das lokale spanisch-britische Idiom. Katholische, protestantische und jüdische Gibraltarians gelten generell als Yanitos, hinduistische und muslimische Gibraltarians dagegen nur in Ausnahmefällen. Die Yanitos zeichnet aus: • die Identifikation mit der Territorialgemeinschaft; • verwandtschaftliche Beziehungen innerhalb Gibraltars und zwischen den religiösen Gruppen; • das Ethos der Toleranz, der Harmonie und des Respekts; • der rechtliche Status als Gibraltarian. Für die Ausbildung der Yanito-Identifikation werden im nationalen Diskurs darüber hinaus drei Faktoren geltend gemacht: der gemeinsame 17 Ich ziehe den englischen Begriff der intermarriage dem diskreditierten deutschen Begriff der Mischehe vor, zumal die meisten intermarriages, auf die ich eingehen werde, Heiraten zwischen Christen und Juden sind. 18 Die Zahl der Militärangehörigen wird seit 1985 drastisch reduziert. 19 Es existieren mehrere geschriebene Versionen des Begriffes, so neben Yanito auch Llanito oder Janito.

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Dieter Haller Schulbesuch20, das gemeinsame Wohnen in den traditionellen Wohnhöfen (den Patios)21 und intermarriages. Schulen, Patios und interreligiöse Ehen werden von den Gibraltarianern im Diskurs sozusagen retrospektiv zu »Gibraltarianisier-Maschinen« geadelt. Heute leben neben den zumeist katholischen und protestantischen Yanitos verschiedene Religionsgruppen in Gibraltar.22 Die jüdische Gemeinde war in den ersten Jahren nach der britischen Eroberung die stärkste Bevölkerungsgruppe.23 Sie ist auf 627 Personen (das entspricht 2,3 Prozent der Gesamtbevölkerung)24 zusammengeschrumpft. Die Gemeinde besteht zum Großteil aus sephardischen Juden ursprünglich marokkani20 Bis in die siebziger Jahre wurde die Schulbildung für Jungen von den katholischen Irish Christian Brothers und für die Mädchen von den ebenfalls katholischen Loreto Nuns dominiert. Heute halten sich bei den Grundschulen die religiös dominierten und die staatlichen Schulen die Waage: Es gibt katholische und protestantische Grundschulen, daneben seit 100 Jahren eine jüdische Grundschule, die Talmud Torah. Allerdings besuchten viele jüdische Schüler die katholischen Schulen und die Kinder der hinduistischen Sindhis häufig die Talmud Torah, da die hinduistischen Kinder dort keinen Missionsbestrebungen ausgesetzt waren. Das britische Bildungssystem ermöglicht seit dem Education Act von 1944 die Errichtung privater (auch religiöser) Schulen. Bis zur Gründung der beiden jüdischen Sekundarschulen in den neunziger Jahren besuchten die Jugendlichen in der Sekundarstufe jedoch ausschließlich staatliche Schulen. Ich danke Werner Menski (SOAS, London) für diesen Hinweis während des Cours Erasmus zum Thema Interculturality and Migrations in the European Union, Sèvres, 26. April – 3. Mai 1998. 21 Haller 1999. 22 Die Existenz einer rund hundertköpfigen russischen Gemeinde ist jüngeren Datums. Ob es sich dabei lediglich um eine statistische »Phantomguppe« handelt, die aus steuerlichen Gründen den Wohnort nach Gibraltar verlegt hat, kann bislang nicht abschließend beantwortet werden. Allerdings befindet sich der russische Medienmagnat Gussinsky unter dieser Gruppe, der ein Apartment in der Kolonie besitzt. 23 Der Anteil der Juden an der Bevölkerung ging nahezu kontinuierlich zurück: von 527 Personen beziehungsweise 32 Prozent der Gesamtbevölkerung (1753), über 680 bzw. 23,5 (1777), 1690 bzw. 10,6 (1844), 1465 bzw. 8,13 (1878), 1499 bzw. 7,85 (1891), 1067 bzw. 5,24 (1901), 1123 bzw. 5,87 (1911), 963 bzw. 5,33 (1921), 850 bzw. 4,38 (1931), 640 bzw. 3,07 (1951), 654 bzw. 3,02 (1961), bis hin zu 552 Personen bzw. 2,23 Prozent (1970). 24 Abstract of Statistics 1994, Government of Gibraltar.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar scher Herkunft. Daneben erlebt die Gemeinde seit zwanzig Jahren eine rege Missionstätigkeit durch vornehmlich aschkenasische Juden aus England und Israel, die mittlerweile ortsansässig sind. Die Rolle der Juden im politischen Leben war traditionell stark, sie ist jedoch seit 1988 kontinuierlich zurückgegangen.25 Unter dem Einfluß der Aschkenasim schließt sich die jüdische Gemeinde auch kulturell und sozial zunehmend nach außen ab. Die 555 Hindus26 gehören nahezu ausschließlich der ethnischen Gruppe der Sindhis an. Ein Teil der Sindhis lebt seit mehreren Generationen in der Kolonie und besitzt den gibraltarianischen oder einen anderen britischen Status, der andere Teil besitzt die indische Staatsangehörigkeit. Diese zweite Gruppe zog in den letzten 25 Jahren aus Indien zu, um in Gibraltar zu arbeiten. Erst seit etwa fünfzehn Jahren befinden sich die Hindus in einem langsamen, aber zunehmenden Prozeß der Integration in die Gesamtgesellschaft, was sich in einem Anstieg der intermarriages und des parteipolitischen Engagements ausdrückt. Neben den Juden stellen auch die Sindhis eine einflußreiche Händlergruppe dar; als Korporation sind sie (auf nichtreligiöser Ebene) lediglich in der Handelskammer, der Chamber of Commerce, organisiert. Das kulturelle Leben der jungen Sindhi-Generation ist sehr aktiv – und unter Kultur meine ich hier ausnahmsweise nicht Kultur im ethnologischen Sinne, sondern im Sinne von Kunst. So sind in den letzten Jahren indische Tanzgruppen unter jungen Sindhis und Yanitos populär geworden. Im Gegensatz zu den Sindhis stehen die 1.850 Muslime (1991)27 eher am Rande der Gesellschaft, sie nehmen die unterste soziale Position ein und sind auch institutionell nicht in die Gesellschaft integriert. Sie gehören weder zu den Yanitos noch zu den Gibraltarians und werden als Fremdkörper empfunden. Bei den Muslimen handelt es sich um Marokkaner, die seit der Grenzschließung nach Gibraltar geholt wurden, um die spanischen Arbeitskräfte zu ersetzen. Nur 2 Prozent der Muslime besitzen den Gibraltarian Status, weniger als 1 Prozent eine andere Form der britischen Natio25 Mit Sir Joshua Hassan stellten die Juden über lange Jahre den Chief Minister, mehrere Juden bekleideten Ministerämter unter Hassan. In den Regierungen Bossano und Caruana sind Juden nicht vertreten. Heute ist nur ein Mitglied der jüdischen Gemeinde im Abgeordnetenhaus als Angehöriger der GSLP vertreten. Die kleinste Partei Gibraltars, die heutige AACR, ist quasi ein Familienunternehmen einer jüdischen Familie, entstanden aus einer innerjüdischen Fehde gegen Hassan. 26 Abstract of Statistics 1994, Government of Gibraltar. 27 Abstract of Statistics 1994, Government of Gibraltar.

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Dieter Haller nalität – bei diesen handelt es sich nicht um Muslime marokkanischer, sondern vor allem pakistanischer oder indischer Herkunft. Nur einzelne Marokkaner haben es geschafft, sich statusrechtlich in die Zivilbevölkerung zu integrieren. Nur eine Handvoll Marokkaner ist mit local girls verheiratet, zu vernachlässigen ist die Gruppe derer, die in gehobenen Berufspositionen stehen oder gar ein Geschäft ihr eigen nennen.

3. Das Museum: Repräsentation der Mischung und der Prozeß der Geschichtsschreibung Das von Shirley Ardener (1975) entwickelte Modell dominanter und untergeordneter Gruppen läßt sich auch auf Kolonialbevölkerungen wie die Gibraltarianer anwenden. Ardener geht davon aus, daß es in jeder nichtegalitären Gesellschaft soziale Gruppen gibt, die von anderen Gruppen dominiert werden. Die dominierende Gruppe besitzt Mittel, die eigenen Konzepte von der Wirklichkeit den dominierten Gruppen im Diskurs überzustülpen – etwa durch die Unterbindung der Entwicklung oder Darstellung von Konzepten der Dominierten. Zwar mag die Struktur innerhalb der Dominierenden unterschiedlich sein. Das Machtverhältnis zwischen Dominierenden und Dominierten sowie die dieses Verhältnis legitimierende ideologische Haltung der Dominierenden sind jedoch einheitlich. Die Entwicklung eigener Konzeptionen wird durch die Wirklichkeit der Dominierenden – die auch die Terminologie und die Ausdrucksmöglichkeiten bestimmt – erschwert. Der Grad der Ausdrucksmöglichkeiten der Dominierten kann unterschiedlich sein: Bestimmte, durch die »Wirklichkeit« nicht konzeptionalisierte Sachverhalte können nicht ausgedrückt werden, weil das entsprechende Ausdrucksrepertoire fehlt; Sachverhalte, die in der »Wirklichkeit« einen Platz haben, können nur in Termini der dominanten Gruppe ausgedrückt werden. Die Übergeordneten bestimmen die Diskursmöglichkeiten der Untergeordneten. Aspekte, die in der »Wirklichkeit« keinen Platz haben – the inchoate –, können aber von den Dominierten thematisiert und sogar in Termini eben dieser »Wirklichkeit« ausgedrückt werden, ohne daß die dominierende Gruppe dies als alternativen Ausdruck wahrnimmt. Für unseren Untersuchungsgegenstand bedeutet dies, daß Aspekte der zivilen gibraltarianischen Wirklichkeit in der britisch-imperialen Konzeption ausgeblendet wurden und erst langsam eine Sprache finden – etwa in den Bemühungen der Heimatforscher, Hobbyhistoriker und Kulturmanager, die die Politik der Abnabelung von Großbritannien durch die sozialistische Regierung 226

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar seit 1988 begleiten, indem sie das Besondere, das von Großbritannien und Spanien Differente entdeckten und als typisch gibraltarianisch formulierten. Innerhalb der – von der dominanten Gruppe vorgegebenen – Ausdrucksmöglichkeiten der Untergeordneten finden alternative Konzepte nur begrenzt eine Sprache. Im Falle Gibraltars wird das Ausdrucksrepertoire der Gibraltarianer von der diskursdominanten britischen und spanischen Rede über Ethnizität und Nationalität begrenzt und erlaubt auch heute vor allem nur eine – ablehnende oder zustimmende – Haltung innerhalb des ethnischen und des nationalen Paradigmas. Daß der Nationalismus in der britischen Kolonie Anklang findet, hängt mit den Entkolonialisierungsbestrebungen der SDGG sowie mit der Rolle zusammen, die heutige Nationalismen von historischen Formen unterscheidet. Der Nationalstaat ist derzeit die offensichtlich dominierende Realität globaler Organisation von Politik, und kulturell differente Gruppen innerhalb eines Nationalstaats – wie die Québecois, die schottischen, baskischen oder korsischen Nationalisten – nehmen die Idee der Nationalstaatlichkeit für sich selbst in Anspruch. Ich vermute, daß die Äußerung dieser Selbstverständlichkeit in Weltkarten, Hymnen und Sportwettkämpfen, Armeen, Regierungen, Reisepässen und Nationalgerichten eine Folgerichtigkeit besitzt, der sich territorial definierte Populationen nicht entziehen können, und die Logik der nationalen Verfassung von Staatswesen auf performative Art und Weise repetiert.28 Das Weiterbestehen des kolonialen Systems und der Bedrohung des Gemeinwesens durch Spanien führt in den achtziger Jahren zu einer innenpolitischen Umorientierung Gibraltars. In der Folge dieser Umorientierung gewinnen in Gibraltar nationale Motive zunehmend an Bedeutung. 1988 wird die britentreue Lokalregierung abgewählt und durch den Sozialistenführer Joe Bossano ersetzt. Während der Regierungszeit Bossanos (1988-96) wurden nationale Symbolik und Rhetorik zu bestimmenden Mustern des politischen Diskurses. Dieser Diskurs begleitete die Politik der ökonomischen Neubestimmung wie auch die Politik der langsamen Loslösung vom Mutterland, an deren Ende ein unabhängiges Gibraltar als Mitgliedsstaat der EU stehen sollte. Die nationale Politik Bossanos und seiner Partei, der GSLP (Gibraltar Socialist and Labour Party), äußerte sich im zunehmenden Gebrauch des Begriffs »national« im öffentlich-politischen Leben – so wurde eine Nationalhymne ausgelobt, calentita, ein Kichererbsengericht genuesischer Herkunft zum Nationalgericht gekürt, die nationalistische Lobbygruppe SDGG 28 Vgl. Butler 1998: 9ff.; Assmann 1994.

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Dieter Haller und ein National Day ins Leben gerufen. Dieser Prozeß ist eingebettet in eine wahre Flut identitätsstiftender Kulturprodukte, die sich seit Ende der achtziger Jahre über die Kolonie ergießt. Dazu gehören materielle Objekte (z.B. ein Grenzlandmonument) genauso wie Publikationen, die das Gemeinsame der Zivilisten zu ergründen suchen und sich vornehmlich mit der (Re-)Konstruktion von Geschichte beschäftigen. Im Gegensatz zu Publikationen über die militärische Vergangenheit der Garnison lagen bis in die jüngste Gegenwart kaum Werke über die Geschichte der Zivilbevölkerung vor. Diese zu bergen, ist Absicht einer Reihe lokaler Autoren.29 Diese begleitenden intellektuellen Leistungen waren nur teilweise auf Initiative der Regierung geplant oder intendiert. In der Tat gehören einige der produktivsten Intellektuellen eher ins Lager der konservativen Opposition. Die politische Führung konnte jedoch auf die Resultate der Intellektuellen zurückgreifen und sie zu den Legitimationsgrundlagen der Forderung nach Selbstbestimmung heranziehen. Wie Gellner festgestellt hat, ergibt sich bei der Analyse nationaler Ideologien die Schwierigkeit, daß es nur selten Autoren gibt, die mit ihren Schriften den Status der Meistererzählung einer nationalen Bewegung in Anspruch nehmen können.30 In Gibraltar gibt es gewissermaßen den Versuch einer Meistererzählung durch das Unternehmen Knightsfield Ltd., das von der Bossanoschen Klientelpolitik profitierte. Knightsfield kontrolliert die offizielle Kulturpräsentation in Gibraltar31, darunter das lokale Gibraltar Museum. Ich werde 29 1993 wurde das Gibraltar Heritage Journal gegründet und zahlreiche Publikationen über die lokale Kultur, Lokalgeschichte und zivile Belange wurden herausgegeben. Darunter Publikationen über die Geschichte der katholischen Kirche (Caruana 1989) und der jüdischen Gemeinde, über die Evakuierung der Zivilisten im Zweiten Weltkrieg (Finlayson 1991), Biographien über bedeutende Lokalpolitiker (S. Benady 1993; Jackson & Cantos 1995), Abhandlungen über das Gesundheitssystem (S. Benady 1994), die Straßenzüge und Stadtviertel (M. Benady 1996), Theaterstücke über das Familienleben der fünfziger und sechziger Jahre (Cruz 1996), unterschiedliche Aspekte der Lokalgeschichte (Chichon 1990; Lamelas 1992; Finlayson 1996) und Folklore (Cavilla 1994), Bücher über Anekdoten und Klatsch (Reynolds 1993 und 1994; Garcia 1996). 30 Gellner 1995. 31 Das Gibraltar Museum wurde 1930 eröffnet und von einem staatlichen Museum Committee geleitet, das vor allem mit der Pflege und Konservierung alter Monumente betraut wurde. Am 31. März 1989 löste die Regierung Bossano das Komitee auf, die Verpflichtungen gegenüber der Pflege und Konservierung der Monumente wurden dem Gibraltar Heritage Trust übertragen. Der Gibral-

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar im folgenden zwei identitätsstiftende Produkte untersuchen, die von Knightsfield Ltd. hergestellt wurden. Der wing of the gibraltarian des Gibraltar Museums präsentiert dem Besucher eine historisierte Autoritätskette in Form der Geschichte einer fiktiven Familie. In deren Genealogie werden einerseits die Beziehungen zwischen Territorium und Bevölkerung naturalisiert, indem der Fels die Rolle des Elternteils einnimmt, der zu seinen Kindern spricht. Darüber hinaus werden die Beziehungen zwischen den einzelnen kulturellen Gruppen familiarisiert, indem die Kategorien Heirat und Deszendenz eingeführt werden. Die Naturalisierung des Sozialen: Der Fels und das Video Nationale Geschichtsschreibung bindet die Bevölkerung zumeist an ein Territorium. Naturmetaphern wie klimatische und landschaftliche Assoziationen werden häufig bemüht, um den Charakter eines Volkes zu beschreiben – man denke an die Stereotypen von den »heißblütigen« Italienern und dem rauhen Charakter der schottischen Highlander, der insularen Mentalität der Engländer und der tiefen Weite der russischen Seele. Auch an den meisten Grenzen, die wie die Berliner Mauer oder die spanisch-gibraltarianische Grenze zwischen 1969 und 1982 auf den ersten Blick unüberwindlich erscheinen, bestehen für unterschiedliche Personengruppen, Güter und Informationen unterschiedliche Grade der Durchlässigkeit. Der regulierende und kanalisierende Charakter soll jedoch nicht tar Heritage Trust wurde am 21. Mai 1987 gegründet. Einige Mitglieder des aufgelösten Museum Committee übernahmen Vorstandsposten im Heritage Trust. Die Kuratorenstelle wurde im Zuge der Umstrukturierung mit einem einheimischen Naturwissenschaftler besetzt. Obwohl de jure unter der Ägide des Heritage Trust, stand das Museum nunmehr de facto unter dem Einfluß der Regierung. Das Subkomitee vergab den Betrieb des Museums an Knightsfield Holdings Ltd., deren Vorstandsmitglied wiederum der neue Kurator war. Heritage Commission und Heritage Trust bestehen heute parallel; während aber der Heritage Trust weitgehend machtlos ist und auf ehrenamtlicher Basis arbeitet, hat sich Knightsfield, weitgehend in den Händen der Familie des Kurators, eine dominante Stellung im Kulturbetrieb geschaffen. So leitet Knightsfield auch die Stadt- und Kulturhalle John-Mackintosh Hall. Der Bruder des Kurators ist Archivar des Gouverneurs und Hobbyhistoriker. Zu Knightsfield gehört seit 1996 ein kleiner Verlag, in dem populäre Texte zu Gibraltar publiziert werden. Knightsfield kontrolliert damit weitgehend den Kulturbetrieb der Kolonie und ist maßgeblich für die Gestaltung der Geschichtsschreibung verantwortlich.

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Dieter Haller darüber hinwegtäuschen, daß die Präsentation von Grenzen als absolut kontrollierbar und unverrückbar oft integraler Bestandteil nationaler Ideologien ist. Topographische Besonderheiten, wie Flüsse, Bergketten, Inseln und Täler, werden häufig zur Markierung der Grenzen des Sozialen eingesetzt. Historiker, Nationalisten und Politiker nehmen eine herausragende Rolle ein, wenn es darum geht, das Gegenwärtige dadurch zu legitimieren, daß sie es in historische Kontinuitätsketten stellen und auf die vorgeblich »natürlichen« Grenzen zurückführen: Der Pyrenäenkamm, der Ärmelkanal und der Rhein sind hierfür wohl die bekanntesten Beispiele. Landkarten sind Teil des performativen Diskurses, mit dem die Akteure versuchen, die soziale Welt zu definieren und ihre Sicht der Welt als natürliche Perspektive erscheinen zu lassen, wobei gegnerische Perspektiven eine Denaturalisierung erfahren.32 Im Falle Gibraltars operieren sowohl Spanien als auch die nationalistische Bewegung SDGG mit dem Bild der territorialen (sprich: »naturräumlichen« bzw. »natürlichen«) Integrität. Für Spanien ist Gibraltar schon geographisch ein »natürlicher« Teil des spanischen Territoriums. Diese Argumentation ist noch heute Bestandteil des politischen Diskurses der spanischen Parteien und Regierungen. Vor dem Entkolonialisierungskomitee der UN setzte sich Spanien mit der Berufung auf das Prinzip der territorialen Integrität durch. Die Körpermetapher, die im Terminus der territorialen Integrität zum Ausdruck kommt, wird seit der Francozeit auf Gibraltar angewendet: Gibraltar ist kein Körper im eigenen Recht, sondern vielmehr ein amputierter Teil des spanischen Territoriums. Solange dieser Körperteil nicht wieder an den Körper angewachsen ist, solange verspürt Spanien den Wundschmerz der Unvollständigkeit. Dieser Wundschmerz wird durch die aus spanischer Sicht »fremde« Bevölkerung repräsentiert. In der fiktiven Familiengeschichte des wing of the gibraltarian nimmt kein Politiker und kein Hobbyhistoriker, sondern der Felsen von Gibraltar selbst, Calpe, die Rolle des Erzählers ein. Wir finden den sichtbarsten Ausdruck der Naturalisierung durch gibraltarianische Medien aber im Video »The Gibraltar Story – Jurassic Rock«, das 1994 von Knightsfield produziert wurde. Das Video argumentiert folgendermaßen: In der jurassischen Periode des Erdzeitalters wurde Europa von Afrika durch den Thetysozean getrennt. Die sterblichen Überreste winziger Lebewesen wurden zu Kalkstein (limestone). Dieser Kalkstein lag etwa 100 Kilometer westlich von da, wo sich heute Gibraltar befindet. Durch die Erdplattenverschiebung vor 16 und 20 Millionen Jahren driftete Afrika in Richtung Europa, was zur Ent32 Vgl. Bourdieu 1991.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar stehung der Alpen, der Sierra Nevada und der Pyrenäen führte. Unsere Kalksteinplatte driftete nach Westen und dockte an den anderen Felsen an. Es wird ein roter afrikanischer Kontinent gezeigt, der sich nach Westen bewegt, eine grüne iberische Halbinsel, die in sich ruht, und ein weißer limestone in den Umrissen Gibraltars, der sich von Nordafrika loslöst und in nordöstlicher Richtung auf die iberische Halbinsel zu bewegt, an die er letztlich andockt. Die politische Relevanz des Videos ergibt sich aus der Gegenposition zum spanischen Argument der topographisch-territorialen Zugehörigkeit Gibraltars zu Spanien. Die Familiarisierung des Sozialen: Der Gibraltarflügel des lokalen Museums Die Repräsentation der Genese des gibraltarianischen Volkes in der Museumsgeschichte erscheint auf den ersten Blick einleuchtend und nachvollziehbar. Allerdings muß daran erinnert werden, daß es keine politisch unbelastete Geschichtsschreibung gibt, so logisch, unschuldig und eingängig sie auch erscheinen mag. Historiographie findet immer in einem gesellschaftlichen und politischen Kontext statt. Der wing of the gibraltarian ist wie kein anderes Produkt der lokalen Kulturschaffenden Ausdruck sowohl für das zunehmende Interesse der Zivilisten an ihrer Geschichte als auch für die Institutionalisierung dieses Interesses in einem politischen Rahmen. Im Gegensatz zu den meisten Publikationen der Heimatforscher und in Übereinstimmung mit der zunehmenden nationalen Terminologie ist der wing das geplante Ergebnis politischer Handlung; in Übereinstimmung mit den Publikationen und im Gegensatz zu anderen nationalen Symbolen ist er Ausdruck des Interesses an Lokalgeschichte. Die plurale Herkunft der Zivilbevölkerung spiegelt sich auf den ersten Blick in der Geschichte des wing wieder. Das konfliktfreie Zusammenleben der einzelnen Einwanderergruppen und der Stolz auf die Hybridität, die in Fiorinas Familiengeschichte als Topoi auftreten, finden sich auch im Museumstext wieder. Tatsächlich? Der Museumstext ist ein öffentlicher Text, der von konkreten Personen mit konkreten Absichten verfaßt wurde und an ein bestimmtes Publikum gerichtet ist. Nehmen wir nämlich auf die Zensusdaten Rekurs, so ergibt sich die bemerkenswerte Tatsache, daß das im Museumstext angestimmte Lob der Mischung kein Lob einer egalitären Mischung ist. Vielmehr stellt sie eine Hierarchisierung entlang ethnischkultureller Trennlinien auf. Der Inhalt des Textes spiegelt eher die aktuelle political correctness wieder, bestimmte Konflikte werden verklärt oder ausgeklammert. Schauen wir uns den Museumstext etwas genauer an. Der Text ver231

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Dieter Haller weist auf historische Ereignisse: Die Lebensumstände der Zivilisten in der Vergangenheit werden durchweg als von Entbehrungen und Härten gekennzeichnet dargestellt – von Krankheitsepidemien, Wassermangel, Lebensmittelknappheit, Stürmen, Kriegen und beengten Wohnverhältnissen. Die Zivilbevölkerung wird uns als Schicksalsgemeinschaft präsentiert: Es wird behauptet, daß das Purgatorium der Entbehrungen und die Teilhabe an gemeinsamen historischen Erfahrungen die Zivilisten zu einer Gemeinschaft zusammenschweißte und daß die gemeinsamen Anstrengungen der Zivilisten langsam zu materiellem Wohlstand und politischem Selbstbewußtsein führten. Die Vergangenheit bildet das Fundament für die Zukunft, in der das Band zwischen Territorium und Bevölkerung unzertrennbar sein wird. Die Phase der Einwanderung ist mit der Geburt der Figuren Maria (1870) und Victoria (1866), spätestens aber mit dem Zuzug des maltesischen Ahnherrn (1890er) beendet. Seit dieser Zeit, so legt der Museumstext nahe, sei die ethnisch-kulturelle Homogenisierung der Gibraltarianer abgeschlossen. Die nachfolgenden Generationen heiraten endogam gibraltarianisch (lediglich eine Figur vermählt sich mit einem Mädchen aus La Línea). Die in der Museumsgeschichte präsentierten Gibraltarianer gehören einer christlichen, vornehmlich katholischen, italienisch-dominierten romanischen Mischbevölkerung mit einigen wenigen englischen Wurzeln (die allerdings schon gut 200 Jahre zurückliegen) an. Das höchste Prestige wird den Genuesen und Italienern zugemessen, bei denen es sich um eher wohlhabende Kaufleute und Händler handelt; an zweiter Stelle stehen die englischen Militärs und der portugiesische Maurer – Angehörige der Kolonialherren und des zivilen Mittelstandes; ganz unten stehen der maltesische Arbeiter und die spanischen Dienstmädchen. Andere Einwanderergruppen werden nicht erwähnt. Mit hohem Prestige ausgestattet und von daher auch besonders gerne sowohl in privaten Familiengeschichten als auch in der Museumsgeschichte erwähnt ist die Herkunft von genuesischen Kaufleuten. In der Geschichte des wing treten gleich drei Genueser auf. Die Briten sind durch zwei englische Militärs repräsentiert, die im 19. Jahrhundert einheimische Frauen geheiratet haben. Über diese Figuren erfahren wir wenig. Einer »kam 1787 aus England mit der Armee, gleich nach der großen Belagerung«, der andere war ein englischer Offizier. Der englische Beitrag zum Grundstock der Yanitos hat sich damit in der Museumsgeschichte erledigt. Lediglich die Vornamen der meisten Figuren, die in der Geschichte genannt werden, sind englisch: Victoria, Winston, Joe, Jason und Albert. Die sephardischen Juden, seit Anbeginn der britischen Herrschaft ein 232

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar integraler Bestandteil der Zivilbevölkerung, sind nicht nur Bewohner der Kolonie, sondern in ihrer überwiegenden Mehrheit auch rechtlich Gibraltarianer oder UK-Briten. Auch wenn die jüdische Gemeinde heute eine zahlenmäßig relativ kleine Gruppe darstellt, so ist ihr Beitrag zur Geschichte, zur Politik und zum Wirtschaftsleben der Kolonie bedeutend. Umso verwunderlicher ist deshalb die Exklusion der Juden aus dem Museumstext. Die kulturelle und demographische Verflechtung der gibraltarianischen Zivilbevölkerung mit den Bewohnern des spanischen Hinterlandes war von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts besonders stark. Bereits um 1830 wurde das Genuesische vom Spanischen als Umgangsprache weitgehend verdrängt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließen sich aufgrund des mangelnden Wohnraums in der Kolonie viele Gibraltarianer in La Línea nieder, wo die Kosten für Wohnung und Lebensmittel weitaus niedriger waren. Viele Gibraltarianer kauften im Campo Häuser, behielten aber ihre britische Nationalität bei. Die kulturelle Verbindung Gibraltars mit dem Hinterland in den Jahren vor 1969 wurde häufig als Osmose bezeichnet, bei der sich die Gibraltarianer langsam hispanisierten. Heute tragen viele Gibraltarianer spanische Familiennamen und sprechen mit Yanito ein Idiom, dessen Wortschatz zum Großteil aus dem Spanischen stammt. Bis in die sechziger Jahre waren gibraltarianische Familien mit den Bewohnern des Hinterlandes durch intermarriages eng vernetzt. Ehefrauen stammen häufig aus dem Hinterland. Die Museumsgeschichte präsentiert Spanien ausschließlich in negativen Kontexten: als Zerstörer der Stadt (Tafel 1), als Verursacher der großen Belagerung (Tafel 1) und der Grenzschließung mit allen Schikanen (Tafeln 6, 7, 8). Die langen Perioden der Kooperation mit dem Hinterland werden dagegen nicht benannt. Auch spanische Ahnen spielen, entgegen der Register der standesamtlichen Archive, nur eine untergeordnete Rolle. Bei den in der Geschichte auftretenden Spaniern handelt es sich ausschließlich um Frauen.

4. Die richtige Mischung: Die Rolle der einzelnen Gruppen in der nationalen Politik Hauptbestandteil des nationalistischen Diskurses ist der friedliche Charakter des Zusammenlebens der verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen und das Lob der Mischung oder zumindest die Integration dieser Gruppen, die eine von den britischen Kolonialherren und dem Nachbarn Spanien distinkte Identität hervorgebracht hat. Ich möchte in der Folge die Funktion der unterschiedlichen Deszendenzen für die Bossanosche Politik 233

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Dieter Haller und für die nationale Bewegung untersuchen. Dabei werde ich insbesondere einen Blick auf die Repräsentation der Briten, der Genuesen, der Malteser, der Juden, der Inder, Marokkaner und der Spanier werfen. From English to Celtic: Redefining Britishness Die Identifikation der Gibraltarianer als british ist von der für Kolonialgesellschaften typischen Ambivalenz zwischen mimicry (das heißt einer Nachahmung und Adaption der Kultur der Kolonisatoren) und mockery (des Nachäffens bzw. Verspottens der Kultur der Kolonisatoren) gekennzeichnet.33 Britannien ist in Gibraltar neben der politisch-administrativen Ordnung und neben den Repräsentationen der Oberklasse in Form von Sportvereinen, Tennisplätzen und Jachtclubs insbesondere durch materielle Artefakte öffentlich sichtbar präsent. Dies wird nicht nur durch den Baustil der Militärbastionen deutlich. Darüber hinaus ist vor allem auch das Mobiliar der Main Street zu nennen, etwa die roten Telefonzellen, die Uniformen der Polizisten (die man hier wie im Mutterland als »Bobbies« bezeichnet), die Doppeldeckerbusse, wie auch die Namensgebung von Geschäften, Lokalen und Straßen. Gerade die Straßennamen sind samt und sonders englisch, Mitglieder britischer Herrscherhäuser, Sir Winston Churchill und alle bedeutenden Gouverneure der Kolonie wurden durch die Benennung einer Avenue, eines Platzes oder einer Gasse geehrt. Die Namen der Lokale und Restaurants zeugen ausschließlich von England, dem Empire und der Marine. Nicht zu vergessen ist auch die Berichterstattung des Gibraltar Chronicle, die zwar die Geschehnisse im Campo im Nachbarland Spanien und in der weiteren Welt (sofern sie Gibraltar nicht direkt betreffen) weitgehend ignoriert, den Nachrichten aus Politik und Gesellschaft des Mutterlandes allerdings eine ganze Seite – die UK-files – widmet.34 Ein erster Schritt in der nationalen Politik Bossanos bestand darin, die Gibraltarianer, die sich ja als very British empfanden – und es wird gesagt, »more British than the British themselves« –, dazu zu bringen, neue nationale Prioritäten zu setzen: eine Bewegung von firstly British, then Gibraltarian zu firstly Gibraltarian und erst in zweiter Linie, wenn überhaupt, als British zu vollziehen. Verminderte Zusammenarbeit mit dem britischen 33 Siehe Young 1995; Bhabha 1985 und 1987. 34 Und schließlich ist die Inszenierung von Öffentlichkeit durch die Performanz von Feiertagen und öffentlichen Anlässen dezidiert britisch: Commonwealth Day, Guy Fawkes Day, Halloween, St. Patrick’s Day, Queens Birthday und Poppy Day.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar Außenamt, dem Foreign & Colonial Office, war Teil dieser Strategie. Darüber hinaus nahm Bossano häufig eine dezidiert antibritische Haltung ein.35 Es erwies sich jedoch als schwierig, eine Bevölkerung vom Britentum zu entfremden, deren Familiennamen häufig so britisch sind wie Ingwerbrot und Christmas Pudding, und deren Bedrohung vor den begehrlichen Gelüsten des Nachbarlandes von ebendiesem Bekenntnis zum Britentum geschützt wird. So bedurfte es besonderer Anstrengungen, schließlich befürwortete noch 1987 eine Mehrheit der Gibraltarianer (62 Prozent) ein britisches Gibraltar.36 Eine kuriose Strategie, die das Kunststück anstrebt, gleichzeitig britisch und antibritisch zu sein, ist der Versuch der Trennung der britishness von englishness. Diese Strategie wird beispielsweise in einem Artikel der Juniausgabe des lokalen Insight Magazine verfolgt.37 Der Autor Paul Hod35 Besonders augenfällig wird dies durch die Verabschiedung des sogenannten July 1st law aus dem Jahr 1993. Dieses Gesetz erschwerte es Bürgern des Vereinigten Königreiches, einen Arbeitsplatz in Gibraltar anzutreten. Offiziell wurde das Gesetz damit begründet, daß der lokale Arbeitsmarkt vor auswärtigen Arbeitskräften geschützt werden mußte. Als Teil der EU konnte der Zugang spanischer, dänischer oder deutscher Arbeitskräfte nicht eingeschränkt werden. Allerdings besteht die Möglichkeit, lokale Arbeitsmärkte vor Konkurrenz aus anderen Teilen der eigenen Nation zu schützen. Bossano berief sich auf diese Möglichkeit, und da Gibraltar Teil Großbritanniens ist, konnte ein Arbeitsverbot für britische Bürger von außerhalb verhängt werden. Symbolisch signalisierte das July 1st law eine Abkehr vom UK und einen weiteren Schritt in Richtung Schaffung einer eigenen Nation. 36 Für ein unabhängiges Gibraltar votierten 37,5 Prozent, für ein spanisches Gibraltar lediglich 0,5 Prozent (Panorama vom 24. August 1987, Seite 2). Noch 1989 sprechen sich mehr Gibraltarianer für ein britisches (52 Prozent) als für ein gibraltarianisches (47 Prozent) Gibraltar aus (Panorama vom 17. Juli 1989). 1991 dreht sich dieses Verhältnis zum ersten Mal um: 52 Prozent befürworten ein gibraltarianisches, 47,5 Prozent ein britisches Gibraltar (Panorama vom 05. November 1991, Seite 2.) 37 Eine ähnliche Strategie der »Entanglisierung« unternimmt Reynolds (1996). Er berichtet von den (gegen die Engländer aufständischen) schottischen Highlandern, die 1741 nach Gibraltar verbracht wurden. In einer weiteren Passage führt er »[t]he primary bloodlines of the established Gibraltarian inhabitants« auf »Maltese, Italian (Genoese), Portuguese, Irish, Moorish and Jewish« zurück – bemerkenswert ist hierbei das gänzliche Fehlen von Engländern und insbesondere von Spaniern. Die britischen Bestandteile der gibraltarianischen

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Dieter Haller kinson unterscheidet dort zwischen »Teutonic British« (d.h. englisch) und »Celtic people« (i.e. britisch) und stellt charakteristische Ähnlichkeiten zwischen Kelten und den Gibraltarianern fest: »Generous, humourous, inventive and energetic, [...] lucid communicators, using language and non-verbal communications well. [...] [Being] insular and suspicious of outsiders when they wish, [...] superstitious, intuitive, impulsive and fierce gossips. Celts are renowned for their fiery tempers (the old redmist); they are quick to anger and usually quick to forgive. They are however, experts in mala leche, able to carry a grudge or a lifetime, even down through generations if necessary. Amazingly, they can be more tolerant than most and are usually well liked.«

Nach Hodkinson sorgten die Gemeinsamkeiten mit Iren und Schotten dafür, »to integrate into this community more easily than the Teutonic British«. In einem weiteren Schritt verweist der Autor darauf, daß häufige gibraltarianische Familiennamen wie Finlayson, Dewar und Douglas schottisch, Clinton, Donovan und Dermott irisch und Carey cornisch seien. Indem er »Celts« von »Teutonic British« trennt, ermöglichte es Hodkinson den Gibraltarianern, den guten (d.h. keltischen) Teil des Britentums beizubehalten und gleichzeitig antibritisch (also antienglisch) zu sein. Es verwundert daher, daß die beiden britischen Vorfahren, die in der Familiengeschichte präsentiert werden, Engländer sind und nicht etwa Schotten oder Iren. Die Tatsache, daß es sich um Engländer handelt, ist jedoch weniger über die ethnische Komponente zu erklären, als vielmehr über die Statuskomponente: Die höheren Dienstgrade der britischen Armee werden in den Augen der Gibraltarianer von Engländern eingenommen, die niederen Ränge dagegen vornehmlich von »keltischen« Briten. Die Abkunft von Engländern suggeriert damit ein erhöhtes soziales Prestige. Dies spiegelt sich auch in der Geschichte des wing wieder: Ein Ahnherr gehört zu jenen Helden, die den britischen Besitz der Kolonie nach der Großen Belagerung sicherten; der zweite Ahnherr ist ebenfalls kein einfacher Soldat, sondern ein Offizier.

Identität werden laut Feldtagebuchnotiz vom 28. August 1996 auf die keltischen Merkmale – auf »Irish« und »Highlanders« – reduziert.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar Der Patio als Schmelztiegel – das Primat der genuesischen Kultur Das hohe Prestige der Abkunft von Genuesen ist zum Teil der ethnischen Komponente, zum Teil der Klassenkomponente geschuldet. Einerseits ermöglicht ihre romanische Herkunft die Interpretation von Familiennamen und Yanito-Vokabular als allgemein romanisch und damit als nicht spezifisch spanisch. Zum zweiten fußt das Prestige auf der Überzeugung, »die Genuesen«, die sich in Gibraltar niedergelassen haben, seien samt und sonders reiche Kaufmannsfamilien oder politische Flüchtlinge aus dem Genua der napoleonischen Zeit gewesen – ungeachtet der Tatsache, daß die meisten genuesischen Zuwanderer eher arme Fischer und Seeleute waren. Das hohe Prestige, daß sich in der Berufung der Abkunft von genuesischen Vorfahren äußert, wird auch in der Interpretation zentraler Symbole des Gibraltarianismus deutlich: Das zum Nationalgericht gekürte Kichererbsengericht Calentita stamme aus Genua, die Eigenbezeichnung Yanito begründe sich auf dem genuesischen Vornamen »Gianni« und die Patios (Innenhöfe) der Altstadt seien von genuesischer Architektur maßgeblich beeinflußt.38 Die Patios gelten heute als Schmelztiegel, die zur Entstehung der Gibraltarianer maßgeblich beigetragen haben. Die Entleerung der überfüllten Patios führte in den Neunzigern zu einer romantischen Rückbesinnung auf die Patios und das Leben in ihnen. Während die ehemaligen Bewohner der Patios sich vielleicht nostalgisch an die Vergangenheit erinnern, so würden sie jedoch ihre neuen Wohnungen um nichts in der Welt gegen ein Leben in den Patios eintauschen. Ganz anders bei den Kulturexperten39, die eine kollektive Mythologie um das Leben in den Patios entwerfen: Die furchtbaren hygienischen Verhältnisse und die beengte Lebensweise mit mehreren Generationen innerhalb desselben Wohnraumes werden romantisiert, das aufeinander Angewiesensein und die Solidarität zwischen

38 Cavilla 1994: 112ff. 39 1995 und 1996 publizierte das Monatsmagazin Insight Magazine eine wehmütige Artikelserie über die verschwundene Welt der Patios, geschrieben von einem Autor, der sich wie der fiktive Erzähler der Museumsgeschichte ebenfalls das Pseudonym Calpe zugelegt hat. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich ein pensionierter Beamter, der sich heute als Memorabilia-Sammler und Organisator von Ausstellungen über das alte Gibraltar betätigt und an der Produktion des Mythos Patio maßgeblich beteiligt ist. Der Autor hat mit seiner Patio-Kolumne das Interesse der Gibraltarianer an den Patios geweckt und macht damit eine wichtige Identitätsressource bewußt.

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Dieter Haller den Patio-Bewohnern beschworen und gepriesen. Es handelt sich um regelrechte »Gibraltarianisier-Maschinen«. Das Bild, das dergestalt von den Patios gezeichnet wird, romantisiert und beschwört ein einfacheres, aber glücklicheres Leben. Der Patio-Topos findet auch Eingang in die politische Argumentation. Die Not des kommunalen Lebens in den Patios, die gewiß maßgeblich an der Entstehung der Nachbarschaftssolidarität beteiligt war, wird zu einer Tugend gemacht, die bedrückende soziale Kontrolle durch Verwandte und Nachbarn dagegen wird minimalisiert. So verbindet Kulturminister Joe Moss das verschwundene Leben in den Patios explizit mit den Feierlichkeiten des National Day: »Die Nachbarn waren früher durch das Leben in den Patios sehr wichtig, man veranstaltete oft miteinander spontane Patio-Feste, das ist heute aber verschwunden. Man hat sich heute auseinandergelebt, die Nachbarschaftsbeziehungen sind verschwunden, und die familiären Bindungen haben sich gelockert. Seit einigen Jahren gibt es den National Day, wo man Straßenfeste veranstaltet wie damals in den Patios.«40

Durch die Feiern des National Day wird nicht nur wie von Minister Moss symbolisch auf das verschwundene Leben der Patios Bezug genommen; der National Day wirkt auch direkt auf die Patios zurück, denn es wird der gepflegteste und am schönsten geschmückte Patio gekürt.41 Die Malteser – Working in the Dockyards Das traditionell geringe Prestige maltesischer Vorfahren liegt in ihrem Status als arme Arbeitsmigranten begründet. 695 Arbeiter wurden im letzten Jahrhundert in Malta angeheuert, um die Hafenanlagen zu bauen.42 Noch heute werden maltesische Familiennamen mit der Arbeiterklasse assoziiert, auch wenn ein maltesischer Name – Caruana – zum Synonym für die anglisierte Oberklasse geworden ist und gegenwärtig zwei renommierte Träger ausweist: den katholischen Bischof Charles Caruana sowie den Chief Minister Peter Caruana. Insofern sind die Malteser das hervorragende 40 Interview mit Joe Moss, 12. April 1996. 41 Haller 1999. 42 Jackson 1987: 249. Im Jahre 1873 beschrieb der katholische apostolische Vikar Dr. J.B. Scandella die Malteser wie folgt: »[…] the greater number of said Maltese live clustered together in the greatest indigence in caves unfit for animals, and are filthy in their dwellings, in their dress and in their food.« In: Howes 1991: 132.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar Beispiel für die gelungene Integration von Einwanderern in die gibraltarianische Gesellschaft und gleichzeitig für die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Exklusion einer alteingesessenen Gruppe: die sephardischen Juden Die Nichtexistenz der Juden im Museumstext ist merkwürdig, da sie durch vielfältige Bindungen mit den anderen Gruppen verbunden sind, wozu der gemeinsame Schulbesuch ebenso gehört wie die Vielzahl der intermarriages in der Zeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zwischen Katholiken, Protestanten und Sepharden. Es ergeben sich einige Zweifel daran, daß heute weniger Intermarriages zwischen den religiösen Gruppen stattfinden als »früher« – wie mir dies von Vertretern der jüdischen und katholischen Gemeinde erzählt wurde. Darauf deuten auch die Unterlagen des Standesamtes hin: Quantitativ hat sich die Zahl der Intermarriages zwischen Christen und Juden nicht merklich verändert. Was sich allerdings verändert hat, ist die Bedeutung, die a posteriori den Intermarriages zugeschrieben wird. Seien »früher« religiöse Grenzen zwischen Juden und Christen durch intermarriages und »unkomplizierte« Konversionen leicht zu überschreiten gewesen, so wird heute die Möglichkeit zur Konversion vom katholischen, protestantischen und vor allem vom jüdischen Establishment de facto nahezu unterbunden. Aufgrund des wachsenden Einflusses orthodoxer Fundamentalisten exkludieren sich die Sepharden seit den achtziger Jahren (Haller 2000c): Zwei weiterführende jüdische Schulen wurden unter anderem mit der Absicht gegründet, den Kontakt zwischen jüdischen und nichtjüdischen Kindern zu minimieren. Die Ausblendung der Juden aus der Museumsgeschichte zollt der heutigen Entwicklung in der jüdischen Gemeinde, sich als »rein« zu präsentieren und aus den öffentlichen Belangen der Gesellschaft zurückzuziehen, Tribut. Der Rückzug aus gesamtgesellschaftlichen Aktivitäten, etwa aus der Politik, wird von nichtorthodoxen Juden wie von den meisten Nichtjuden als Aufkündigung des Konsenses der Mischung beklagt und als Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes verstanden, da er das Potential der Zersplitterung und Fragmentierung in sich birgt. Es wird befürchtet, daß dies eine Kettenreaktion in den anderen Gruppen auslösen könnte. Fundamentalistische und separierende Entwicklungen in den einzelnen Partikulargemeinschaften Gibraltars bedrohen also die Ideologie des Lobes der Mischung. Allerdings kann die Ausblendung der Sepharden aus der Museumsgeschichte auch unter politischen Vorzeichen diskutiert werden. Denn die jüdische Gemeinde exkludiert sich in den neunziger Jahren

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Dieter Haller nicht nur selbst aus der Gesamtgemeinschaft, sie erlebte in der Zeit Bossanos auch den Verlust ihrer politischen Bedeutung für das gesamte Gemeinwesen. Die jüdische Gemeinde war zuvor eng an die vorhergehende Regierung der AACR gebunden. Der langjährige AACR-Chief Minister, Sir Joshua Hassan, war Ehrenpräsident der jüdischen Gemeinde, viele Minister der Partei waren Juden. Darüber hinaus handelt es sich bei den Sepharden vornehmlich um eine in der Handelskammer (Chamber of Commerce) organisierte Kaufmannsgemeinde; sie stehen insofern in einem Klassengegensatz zu Bossanos sozialistischer Arbeiterpartei. Die Exklusion der Juden aus dem kollektiven Gedächtnis, das im Museumstext aufgefächert wird, entspricht damit zwei sich gegenseitig begünstigenden Entwicklungen: dem Interesse der heute in der jüdischen Gemeinde dominierenden Puristen, die eine Segregation propagieren; zum zweiten der politischen Klientel der Bossano-Regierung. Sindhis und Marokkaner: None of our kind Die Sindhis gelten als Gruppe, die sowohl heimisch als auch fremd ist, und es ist dieser ambivalente Charakter, der die Gefahr der Absonderung in sich trägt. Sie sind eine Diasporagemeinde, die in ein globales Netzwerk eingebettet ist und sich ökonomisch, sozial und individuell an Entwicklungen innerhalb dieses Netzwerkes orientiert. Dies führt zu einem Mißtrauen der Gibraltarianer an der territorialen Loyalität der Sindhis – territoriale Loyalität ist jedoch zentraler Bestandteil des nationalistischen Diskurses um gibraltarianische Identität. Darüber hinaus stehen die zumeist einer Händlerkaste angehörenden Hindus, die in der Handelskammer organisiert sind, wie die Juden der Bossano-Regierung eher fern und gelten als Anhänger der konservativen GSD. Zum zweiten wird der Händlergeist und der wirtschaftliche Erfolg der Inder mit Neid betrachtet. Gibraltar ist zwar eine traditionell auf Handel ausgerichtete Gesellschaft, die aber gegenwärtig eine Wirtschaftskrise durchlebt. Die ökonomischen Vorteile des Diasporanetzwerkes wie auch das offensiv zur Schau gestellte Händlerethos der Inder nähren versteckten und offenen Neid. Die Exklusion der Sindhis aus dem Museumstext greift auf eine lange Tradition rechtlicher Restriktionen zurück.43 Die Unterscheidung der 43 Ein Beispiel hierfür ist der Gibraltarian Status Ordinance von 1962, der nur von denjenigen erworben werden kann, die Abkommen männlicher, vor dem 30. Juni 1925 geborener Gibraltarianer sind. Der Stichtag wurde gewählt, um die Inder davon auszuschließen; am 07. Juli 1925 wurde der erste Inder in Gibraltar geboren. Daß heute dennoch ein gutes Viertel der Inder über den

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar christlich-jüdischen Mehrheit in us (Gibraltarianer) und them (Inder, Marokkaner) – auch wenn sie heute vornehmlich kulturell begründet wird – ist somit rechtlich abgestützt. Beide Gruppen werden – entgegen des Diskurses von Harmonie und ethno-religiöser Toleranz – nicht als Gibraltarians und auch nicht als Yanitos kategorisiert, allenfalls als integrale Bestandteile der gibraltarianischen Wohnbevölkerung. Im Gegensatz zu den Indern werden die Marokkaner von offizieller Seite nicht als Gruppe betrachtet, die sich – unabhängig von der Länge ihres tatsächlichen Aufenthaltes und ihrer Integration in lokale Netzwerke – auf Dauer in Gibraltar niedergelassen hat.44 Spanier oder der verleugnete Großvater Die interne Kohäsion einer Gruppe wird, wie Georg Simmel gezeigt hat, häufig vom Druck von außen bedingt. Wie sich die Gruppe zusammensetzt, die der Kohäsion unterliegt, hängt somit davon ab, aus welcher Richtung Druck ausgeübt bzw. wo sein Ursprung lokalisiert wird. Gemäß der Museumsgeschichte ist die Entstehung einer gibraltarianischen Identität maßgeblich das Resultat des Drucks von Spanien, und da der Druck als aus Spanien kommend wahrgenommen wird, werden »spanische« Identifikationen aus der Geschichte des wing exkludiert. Daher muß auf die Beziehung zu Spanien etwas ausführlicher eingegangen werden. In der Zeit des spanischen Diktators Franco zwischen 1939 und 1975 wurde die gibraltarianische Bevölkerung mit einem ideologischen Krieg überzogen. Der territorialrechtliche Anspruch wurde mit ethnisch-kulturellen Merkmalen unterfüttert. Ethnische Reinheit war eine zentrale Grundlage der nationalen Ideologie des frankistischen Staates. In einer Reihe offizieller und populärer Publikationen45 wurde zu beweisen versucht, daß die Gibraltarianer kein Volk mit eigenem Recht seien, sondern lediglich eine Anhäufung von Zivilisten unterschiedlicher Herkunft, die von Großbritannien auf den Felsen gebracht wurden, um der Garnison zu dienen.46 Die dahinterstehende Logik funktioniert folgendermaßen: VerfüGibraltar Status verfügt, ist auf Gnadenakte des Gouverneurs zurückzuführen, der das Recht besitzt, den Status zu verleihen. 44 Die Position der Marokkaner gleicht damit derjenigen der »Gastarbeiter« in Deutschland in den neunziger Jahren, die in der Regierungsrhetorik noch immer nicht als dauerhafte Mitbürger kategorisiert werden. 45 Spanish Government 1965; Cordero Torres 1966; Barcía Trelles 1968. 46 Exemplarisch sei auf die zentralen Punkte der Argumentation des Soziologen Gumersindo Rico verwiesen. Wenn Rico feststellt, daß die Gibraltarianer »im

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Dieter Haller gen die Gibraltarianer über keine gemeinsamen Wurzeln, dann besitzen sie auch keine gemeinsame Identität, geschweige denn einen nationalen Charakter, der eine volontée générale ausdrücken könnte, die wiederum dazu geeignet wäre, über das Schicksal des Territoriums und der Gemeinschaft zu beschließen. Mit dem Demokratisierungsprozeß nach dem Tod Francos (1975), der Transición, ändert sich die Haltung Spaniens zur kulturellen Pluralität. In der Folge zerbricht die Ideologie von der ethnisch-kulturellen Homogenität der Spanier. Mit dem Machtzuwachs der baskischen und katalanischen Regionalisten wird ethnisch-kulturelle Differenz zur Basis für die Gewährung dezentraler politischer Rechte, etwa der Autonomiestatute, und somit zu einer der Grundlagen für den spanischen Staat selbst. Damit taugte der Topos der Mischung nicht mehr als ideologischer Kampfbegriff gegen die Bevölkerung Gibraltars. Die spanische Argumentation wendet sich daraufhin der kulturellen Orientierung der Gibraltarianer nach Großbritannien zu: Die Gibraltarianer seien entweder Engländer, die sich an der Mittelmeerküste einen faulen Lenz machten, oder aber Andalusier, die auf Gibesten Falle« Nachkommen der Juden seien, dann ist dies im Lichte der autoritären Tradition Spaniens zu verstehen, in der Juden (wie auch politische Flüchtlinge) als Inkarnationen des Antihispanismus gelten. Francos teilweise projüdische Politik und seine Berufung darauf, selbst aus einer Familie von Konvertiten zu stammen, ändert nichts an der antisemitischen Propaganda, die im ideologischen Krieg gegen Gibraltar mobilisiert wurde. Um es kurz zu machen: Wenn die besten Elemente Gibraltars Juden waren, dann mußte die ganze Gesellschaft total verworfen und verkommen sein. Die Zivilbevölkerung des Felsens sei kein einheitliches Volk, sie bestehe vielmehr aus allerlei Individuen ohne jeglichen nationalen Stolz und ohne politische Organisationsform. Besonders die heterogene Herkunft der Gibraltarianer ist Rico ein Dorn im Auge. Er bezeichnet die Gibraltarianer als Delinquenten, desertierte Soldaten, Zuhälter, Prostituierte und politische Flüchtlinge aus Spanien. Darüber hinaus lebten die Gibraltarianer unter unhygienischen Bedingungen und seien besonders anfällig für Epidemien. Die spanische Position rekurriert hier auf die Vorstellung der Reinheit des Blutes, der staatstragenden Ideologie Spaniens im 16. Jahrhundert und später; sie diente dazu, »reinblütige« Katholiken von jenen Katholiken zu unterscheiden, die von konvertierten Juden abstammten. Diese Vorstellung ist in Spanien immer noch wirksam. So werden die Nachkommen der im 14. und 15. Jahrhundert in Mallorca zum Katholizismus konvertierten Juden noch heute pejorativ als chuetas beziehungsweise Xuetas (von mallorkin. Xua: Schweinefett) bezeichnet. Vgl. Moore 1976.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar braltar meist zweifelhaften Geschäften wie Schmuggel nachgehen. Wenn sie aber entweder Engländer oder Andalusier wären, dann seien sie entweder fremd (und unterscheiden sich in nichts von den englischen Rentnern, die sich etwa an der Costa del Sol in Marbella niedergelassen haben und als Gäste keines politischen Sonderstatutes bedürfen) oder Einheimische, deren Territorium Teil des spanischen Staates ist. Anders als die Transformation der Vorbevölkerung zu Ortsgeistern, die wir bei vornationalen Gesellschaften häufig finden47, tabuisiert der nationalen Ideologien implizite Kontinuitätsanspruch die Frage nach der Umgestaltung von Lokalitäten und Orten zu Territorien.48 In der nationalen 47 Bloch 1986. 48 Zur Ausdifferenzierung der Raum- und Flächenterminologie siehe Haller 1995: 30: »Fläche bezeichnet die unbenannte und uneingegrenzte geographische Extension. Raum bezieht sich auf die Morphologie von Fläche (z.B. Topographie, Vegetation, bebaute Umwelt). Raum- und Flächenkategorien sind kulturell determiniert. Bedeutung bekommen Raum und Fläche erst innerhalb der Dynamik der sozialen Situation (Interaktion, Identität und Zeit), in der um die blanke Flächenextension Grenzen gezogen und das so umschlossene Gebiet definiert wird. Kulturen drücken sich im von ihnen genutzten Raum aus (z.B. durch Anbaumethoden, Siedlungsformen). Jede Flächenextension ist vielfältig nutzbar und benennbar (Multidimensionalität). Lokalität bezeichnet eine benannte, markierte – also lokalisierbare – geographische Extension mit Namen und Grenzen. Von utopischer Lokalität ist zu reden, wenn es sich lediglich um eine imaginierte, nichtgeographische Extension mit Namen und Grenzen (z.B. Campanellas Sonnenstaat, Morus’ Utopia) handelt. Als Ort möchte ich eine Lokalität bezeichnen, die Interaktionsfeld einer sozialen Gruppe ist. Bei imaginierten Orten liegt die Nutzung in der Vergangenheit beziehungsweise Zukunft (z.B. der Ort der ›Kindheit‹, Paradiesvorstellungen). Ein Territorium ist ein Ort, der besessen wird beziehungsweise auf den ein Besitzanspruch erhoben wird (z.B. Nationalstaaten). Grenzen zwischen Territorien sind immer Ausdruck rechtlicher, politischer und kultureller Konventionen, da ihre Gültigkeit darauf ausgerichtet ist, von den voneinander abgegrenzten Gruppen anerkannt zu werden. Dabei sind konkurrierende Territorialansprüche häufig. Bei imaginierten Territorien liegt der Besitz in der Vergangenheit beziehungsweise Zukunft (z.B. Jerusalem in der jüdischen Tradition während des Zuzugverbotes durch die osmanischen Herrscher; Kosovo, das heute zu 90 Prozent von Albanern bewohnt wird, als mythische Heimat der Serben; Konstantinopel als mythisches Zentrum des Griechentums).«

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Dieter Haller Historiographie scheint die Exklusion des spanischen Elements durch die demographischen Folgen der britischen Eroberung des Felsens von 1704 abgesichert: Der Großteil der (spanischsprachigen) Bewohner Gibraltars verließ den Felsen und zog ins spanische Hinterland. Gegenwärtig gehören spanische Bestandteile zweifellos zu denjenigen Elementen, deren Einfluß am besten verschwiegen oder zumindest minimiert wird. Fiorinas Familiengeschichte, die mir ja zu Beginn der Feldforschung erzählt wurde, ist auch hierfür typisch. Sie erfuhr nämlich gegen Ende meines Aufenthalts eine interessante Wendung. Sie habe neulich etwas erfahren, was mich bestimmt interessiere, erzählte mir die Freundin eines Tages aufgeregt. Ihre Großmutter, die eingangs bereits erwähnte Mrs. Ruffino, habe sich mit 84 Jahren doch noch dazu entschlossen, sich einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen, nämlich einmal im Leben nach San Francisco zu reisen. Die Verwandtschaft habe die Reise vorbereitet, und Fiorina kümmerte sich um das Einreisevisum; dafür mußte sie die Geburtsurkunde des verstorbenen Großvaters beibringen, und nur unter Widerwillen habe Granny das Dokument herausgegeben. Aus der Urkunde wurde etwas ersichtlich, was bislang niemand in der Familie gewußt hatte: daß Großvater Ruffino in La Línea geboren worden war. Die Großmutter sei sichtlich unerfreut darüber gewesen, daß das Geheimnis nun gelüftet war: »Meine Mutter fiel aus allen Wolken, als sie erfuhr, daß ihr Vater eigentlich ein Spanier ist. Sie war doch immer so stolz darauf, eine typische Gibraltarianerin zu sein! Sie kann es einfach immer noch nicht glauben, daß sie jetzt eine hundertprozentige Spanierin ist, weil Granny ja auch in Málaga geboren wurde.«

Um das Unglück perfekt zu machen, entdeckte Fiorina auch noch zu allem Überfluß, daß die Ruffinos vor fünf Generationen gar nicht aus Sizilien nach Gibraltar gezogen waren, sondern ins Campo, wo sie fast ausschließlich spanische Frauen heirateten. Wenn ich Fiorinas Familiengeschichte zu Beginn als typisch gibraltarianisch bezeichnet habe, so ist auch diese Wendung, entstanden durch die Reisepläne der Großmutter, nicht untypisch. In Familiengeschichten wird häufig die enge familiäre Verbindung nach Spanien verschwiegen, selbst den eigenen Kindern und Enkeln gegenüber. Ehen zwischen gibraltarianischen Männern und spanischen Frauen wurden dabei durch das virizentrische Fremdenrecht begünstigt, die Einbürgerung der spanischen Ehemänner einheimischer Frauen dagegen unterbunden. Der Topos der aus

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar Spanien stammenden Großmütter ist in Gibraltar positiv besetzt, sie werden als »more antispanish than the Gibraltarians themselves« beschrieben. Diese Haltung, so wird unterstellt, sei ein Dank für die Möglichkeit, der heimischen Misere durch die Heirat ins wohlhabende Gibraltar zu entkommen. Das rigorose Fremdenrecht legte fest, daß ein Kind, das nach dem 29. Juni 1900 in Gibraltar geboren wurde, aus der rechtmäßigen ehelichen Verbindung eines in Gibraltar geborenen Mannes entstammen mußte, um den Status eines native of Gibraltar zu erhalten. Dieses Recht wurde allerdings erst 1935 eingeführt. Zuvor war es auch spanischen Männern möglich, den Status eines permanent resident zu erwerben. Auf diese vor 1935 naturalisierten Männer ist die Häufigkeit spanischer Familiennamen, die ja über die männliche Linie vererbt werden, zurückzuführen. Während aber der spanischen Großmutter ein flammendes Bekenntnis zu Gibraltar zugeschrieben wird, tabuisiert man die spanische Herkunft der Großväter und anderer männlichen Ahnen aus Spanien. Während meines Feldaufenthaltes stieß ich immer wieder auf Familien, die einen offensichtlich spanischen Familiennamen als genuesisch, katalanisch oder portugiesisch bezeichneten und spanische Vorfahren aus ihrer Familiengeschichte löschten. Die Tabuisierung der männlichen spanischen Ahnen (und folgerichtig auch des spanischen Familiennamens) läßt sich auf die spanische Propaganda der sechziger Jahre zurückführen, die den Anspruch Spaniens und Gibraltars vor dem Entkolonialisierungskomitee der UN unterstützen sollte. Zentrales Argument der spanischen Vertreter war gewesen, daß die Zivilbevölkerung der Kolonie keinen Anspruch auf Selbstbestimmung besitze, da es sich – was man an den Familiennamen ablesen könne – ethnisch und kulturell um Spanier handle.

5. Homogenität und Mischung Das Lob der richtigen Mischung im gibraltarianischen Diskurs verweist darauf, daß nationale Identität als besondere Form ethnischer Identität mit der Forderung nach politischer Selbstbestimmung (self-determination) verbunden ist. In den Prozessen der Nationenbildung und Ethnisierung wird vor allem auf essentialistische Identitätsbezüge zurückgegriffen. Die unmittelbar vom Individuum erlebten persönlichen Beziehungssysteme (Familie, Freundschaft, Nachbarschaft) werden naturalisiert und auf unper-

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Dieter Haller sönliche und größere Gemeinschaften transponiert.49 Entgegen der Erwartung, daß sich politischer Nationalismus dadurch auszeichnet, daß er unpersönliche Beziehungssysteme in persönliche übersetzt, daß also Familiarität gewissermaßen imaginiert wird, finden wir einen virulenten Nationalismus auch in der 30.000-Seelen-Gemeinde Gibraltar wieder, einer face-to-face-Gesellschaft, die sich nur schwerlich als unpersönliches Beziehungssystem oder als imagined community bezeichnen läßt. Gibraltarianer kennen in der Regel ihr Gegenüber, dessen Familiengeschichte, dessen Verdienste und dessen Sündenregister, zumindest aber vermögen sie ohne Schwierigkeiten, eine Verbindung zwischen sich und dem Gegenüber über gemeinsame Bekannte, Verwandte oder Arbeitskollegen herzustellen. Das Lob der Mischung ist im Kontext des Kampfes der Gibraltarianer um politische Selbstbestimmung zu interpretieren. Dieser Kampf ist sowohl gegen das Mutterland Großbritannien als auch das Nachbarland Spanien gerichtet. Die nationalistische Rhetorik, die sowohl in der Geschichtsschreibung als auch im populären Diskurs zum Ausdruck kommt, verknüpft zwei Elemente: das ethnisch-kulturelle und das naturhaft-topographische. Beide Bestandteile des nationalen Diskurses sind darauf ausgerichtet, den Anspruch auf Selbstbestimmung zu legitimieren. Die Betonung von Ethnizität und Territorialität ist keine Reaktion auf die Unsicherheiten und Entwurzelungen, die im Rahmen der Globalisierung entstanden sind, sondern auf konkrete politische und ökonomische Problemlagen. In Gibraltar ist die Problemlage bestimmt durch die koloniale Situation und die Ansprüche des feindlichen Nachbarn. Die nationale Bewegung ist somit ein Reflex auf den einzig legitimen Ausweg, der in der nationalstaatlich verfaßten Welt aus einer solchen Problemlage nahegelegt wird: die nationalstaatliche Organisation selbst. Die Lokalregierung des kolonialen Gemeinwesens und die nationale Bewegung eignen sich die Attribute an, die Nationalstaaten auszeichnen. Sie performieren damit mimetisch die Grundlagen, auf die Nationalstaaten aufbauen: die Synonymisierung von Staat, Territorium, Ethnizität und Kultur. Nationalismus imaginiert weiterhin die Existenz separater Kulturen, was zwangsläufig das Bestreben einer Entflechtung der grenzüberschreitenden Beziehungen oder aber deren Einverleibung zur Folge hat.

49 So bemühen Nationalismen insbesondere Bezüge aus den Bereichen gender und Verwandtschaft; die Bedeutung von gender- und Verwandtschaftstermini wird – über Metaphern und Metonymien – ausgeweitet, um vertikale Beziehungen von Klasse und Ethnizität, Staat und Volk zu konstruieren.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar Nation und Ethnizität Nationenbildung und Ethnisierung sind miteinander verknüpft, weil Kultur und Ethnizität – neben Klasse, Geschlecht und Alter – Schlüsseldimensionen für die Konstruktion und die Aushandlung von Status und Macht in staatlich organisierten Gesellschaften und damit für die Herstellung von Solidaritätsbeziehungen der nationalen Gesellschaft darstellen.50 Diese Schlüsselstellung erfordert vom Individuum die Festlegung auf eine ethnische und eine nationale Identität und ist damit darauf ausgerichtet, die Möglichkeit auszuschließen, je nach Kontext zwischen mehreren ethnischen Identitäten zu wechseln, so wie dies etwa in bestimmten afrikanischen Ethnien beobachtbar ist.51 Nationalstaatliche Inklusionsbestrebungen führen zur Exklusion derjenigen Gruppen als ethnisch, die bestimmte kulturelle Ressourcen (z.B. eine differente Sprache) gegen die nationalstaatlichen Inklusionsbestrebungen aufrechterhalten. Nationalismus ist teilweise ein Resultat der homogenisierenden und totalisierenden Tendenzen der Nationalstaatenbildung; diese Tendenzen produzieren eine imaginierte politische Gemeinschaft, in der Volk, Territorium und Staat synonymisiert werden. Nationalstaatenbildung generiert Kategorien des Eigenen und des Fremden innerhalb der Gemeinschaft. Im Gegensatz zu Nationalismus ist Ethnisierung teilweise Resultat der partikularisierenden Tendenzen der Nationalstaatenbildung. Diese Tendenzen produzieren hierarchisierte Formen der Vorstellung von Volkszugehörigkeit, denen unterschiedliche Grade von Selbstwertgefühl und differenzierende Privilegien und Vorrechte innerhalb der politischen Gemeinschaft zugeschrieben werden. Dabei wird die Bedeutung interethnischer Beziehungen zugunsten des innerethnischen Zusammenhaltes minimiert. Die Exklusion der Juden aus der Geschichte des wing beruht auf zwei kulturellen Ressourcen. Eine Ressource ist parteipolitischer Natur: Die einflußreichen Repräsentanten der jüdischen Gemeinde sind durch ihre Nähe zu Bossanos Vorgänger Hassan bzw. durch ihren Einfluß in der Handelskammer (dem Widerpart des Gewerkschaftlers Bossano) dessen Projekt der nationalen Neubestimmung gegenüber eher skeptisch eingestellt. Die zweite Ressource ist kultureller Art und kommt aus der jüdischen Gemeinde selbst: die Segregation vor allem aus Schulwesen und Politik im Zuge der religiösen Fundamentalisierung, einhergehend mit Purifikationsversuchen jüdischer Stammbäume. 50 Norton 1984; R. T. Smith 1993. 51 Elwert 1989: 111.

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Dieter Haller Ethnisierung und Nationenbildung sind Transformationsprozesse zur Schaffung und Bekräftigung von Wir-Gruppen, die einerseits wirtschaftliche Gegensätze ignorieren und andererseits Stabilität über alle Zeitläufe hinweg verheißen.52 Dies finden wir in der Geschichte des wing auf geradezu idealtypische Weise wieder: Die Stabilität wird insbesondere durch den Erzähler Calpe – den Felsen selbst – suggeriert, die wirtschaftlichen Gegensätze werden durch die gemeinsame (Leidens-)Geschichte von arm und reich sowie durch die Abkunft von noblen bzw. aufgestiegenen Gruppen (hochrangigen Engländern, genuesischen Kaufleuten, Maltesern) negiert. Ethnologen haben den Glauben an Reinheit als Grundlage für die Konstitution von Nationen als Produkte machtpolitischer und symbolischer Prozesse benannt und weitgehend den essentiellen Charakter von ethnischer und nationaler Identität verworfen. Gellner schreibt, Nationalismus sei das Prinzip homogener kultureller Eigenheiten als Grundlage des politischen Lebens und der obligatorischen kulturellen Einheit von Herrschern und Beherrschten53, also ein politisches Prinzip, das besagt, politische und nationale Einheiten sollten deckungsgleich sein, sprich: kulturelle Einheit in einem Staate. Anderson spricht in diesem Zusammenhang von imagined community, und Imagination bedeutet hier das Herstellen von symbolischer Gemeinsamkeit der Mitglieder einer Nation, die keine faceto-face-Gesellschaft ist und durch das Transponieren der unpersönlichen Beziehung zu den anderen Mitgliedern der Nation in Metaphern der Verwandtschaft eine imaginierte Gemeinsamkeit herstellen soll. Bestandteil der kulturellen Elemente, auf die Nationalismen legitimierend zurückgreifen54, ist die Produktion der ethnischen Homogenität, verbunden mit Mythen gemeinsamer Abstammung: Nationale Ideologien greifen auf den Glauben an ethnisch-kulturelle Reinheit und Homogenität zurück, um die kollektive Identität der Mitglieder der nationalstaatlichen Bevölkerung zu begründen. Der Glaube an Reinheit und Homogenität, entweder der gesamten Nation oder aber ihrer Einzelbestandteile, wird in den meisten ethnologischen Nationalismustheorien als konstitutiv für Nationalismen erkannt. Die gibraltarianischen Befunde, sowohl Fiorinas Familiengeschichte als auch die Genealogie aus dem Museum, heben dagegen auf den ethnisch-kulturellen Mischcharakter der Zivilbevölkerung Gibraltars ab. 52 McDonald 1993. 53 Gellner 1995: 184. 54 A. D. Smith 1984 und 1993.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar Die Mischung ist dabei nicht in erster Linie als Faktum einer historischdemographischen Entwicklung relevant – es gibt andere Gesellschaften, die als multikulturell oder ethno-plural beschrieben werden; darüber hinaus ist jede vermeintlich ethnisch homogene Gruppe in Wahrheit Ergebnis einer Mischung und Homogenität damit weitgehend das Resultat einer Imagination, die auf Exklusion und Selektion beruht. Was also ist das Besondere daran, daß die gibraltarianische Gesellschaft ethnisch und kulturell gemischt ist? Es ist die Tatsache, daß Mischung im Alltagsdiskurs wie auch im politischen Diskurs positiv bewertet wird und ein grundlegendes Element für die Konstitution nationaler Identität durch die politische und intellektuelle Elite darstellt. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Mischung in Gibraltar zweierlei bedeutet. In Fiorinas Familiengeschichte kommt religiöser Pluralismus unter dem Vorzeichen des Persona-konzeptes zum Ausdruck: Es koexistieren auf friedliche Weise fünf verschiedene Religionen (Katholiken, Protestanten, Juden, Hindus und Muslime). Gleichzeitig sind diese Gruppen untereinander aufs engste verbunden: Durch den gemeinsamen Status als Gibraltarians und/oder Gibraltar Residents; durch gemeinsame Sozialisation (z.B. durch das Leben in den Patios, über den gemeinsamen Schulbesuch und interreligiöse Freundschaften); durch die gemeinsame Umgangssprache Yanito und durch das kollektive Erleben der Zugehörigkeit zu einer rechtlichen und territorialen Gemeinschaft im Angesicht eines Aggressors, nämlich des Nachbarlandes Spanien. Fiorinas Familiengeschichte verweist darüber hinaus auf einen Aspekt, der über einen bloß additiven Pluralismus religiöser Gruppen hinausgeht: Mischung bezieht sich bei ihr auf die Abkunft des einzelnen von (untereinander durch intermarriages miteinander verbundenen) Familien differenter Religion und differenter territorialer Herkunft. In der fiktiven Familiengeschichte des Museums rückt Mischung dagegen aus der nationalistischen Perspektive ins Blickfeld: Hier stellt die heterogene Herkunft lediglich den Hintergrund für die Entstehung einer als homogen gefaßten Gemeinschaft dar. Aus der Pluralität der Personae wurde gewissermaßen die Eindeutigkeit eines Konzepts vom ethnisch-nationalen Individuum. Beide Bedeutungen von Mischung koexistieren heute nebeneinander, sie überschneiden sich zum Teil, sind jedoch nicht dekkungsgleich, sondern an unterschiedliche Identitätskonzepte – hier Persona, dort Individuum – gebunden, die an verschiedene Vorstellungen über das politische Modell für die Zukunft des Territoriums geknüpft sind: Während das Persona-modell im kolonialen Bezugssystem Geltung besaß, ist das Konzept vom Individuum an nationalstaatliche Aspirationen ge249

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Dieter Haller bunden. Könnte man das nationalistische Modell eher als Konzept beschreiben, das auf der Imagination einer gemeinsamen Deszendenz innerhalb ethnisch reiner Gruppen abhebt und somit ein exklusives und vertikales Verwandtschaftsmodell reproduziert, so kombiniert Fiorinas Modell religiösen Pluralismus mit pluraler Deszendenz und dem Bekenntnis zum Territorium und könnte als additives und horizontales Verwandtschaftsmodell dargestellt werden. Im kolonialen Bezugssystem wurde die Zivilbevölkerung durch den ideologischen Krieg Francos jahrelang mit der Idee bombardiert, daß ethnische Reinheit Grundlage für politische Selbstbestimmung sein müsse. Es handelte sich bei diesem Bombardement um die negative Mimesis des Nationalen: Das Lob der Mischung und das Bekenntnis zur Hybridität stellten eine Abwehrreaktion zu dieser Forderung dar; der Verweis auf die Mischung bedeutete hier in erster Linie das Nichtspanischsein, formulierte das kulturell oder ethnisch Eigene aber nicht auf positive Weise. Das Recht auf politische Selbstbestimmung basierte für die politische Elite der Zivilgesellschaft weniger im Bekenntnis zum Territorium (Gibraltar) und zum politischen System (parlamentarische Demokratie im Sinne Westminsters). Im nationalistischen Bezugssystem wird über den Verweis auf die Mischung das Eigene positiv formuliert. Mischung bedeutete hier nicht mehr nur ein Nichtspanischsein, sondern behauptete eine ethnisch und kulturell differente gibraltarian identity. Rolf Lindner55 weist zu Recht darauf hin, daß im Insistieren auf die Integritas kultureller Identität immer auch das Moment der Bewahrung vor Durchmischung steckt.56 Das Moment der Bewahrung stellte die nationalistische Ideologie somit vor der Frage, wie mit Mischung und Unreinheit umzugehen ist. Der gibraltarianische Fall scheint typisch für die Reaktion nationalistischer Bewegungen auf Heterogenität: Die Pluralität der Religion und der Herkunft wurde zu einer Pluralität der Ethnien und Kulturen umgedeutet. Diese Umdeutung erforderte eine Umwertung der demographischen Tatsache der intermarriage: War diese in der religions-pluralen Welt durch 55 Lindner 1994. 56 Dies betrifft nicht nur den von Stolcke (1994) analysierten Ethnopluralismus der Neuen Rechten, sondern auch den ethnisch plural verfaßten Nationalstaat der Schweiz. Auch das Schweizer Modell geht von der Idee mehrerer Abstammungsgemeinschaften aus, die in sich ethnisch homogen seien, ohne daß eine Vermischung der Einzelbestandteile politisch als wünschenswert erachtet würde.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar die Möglichkeit zur Konversion nur dann problematisch, wenn ein Partner nicht die Religion des anderen annahm, so wird in der ethnisch-pluralen Welt die an essentielle Vorstellungen von Ethnizität und Kultur gekoppelte intermarriage selbst zum Problem. Retrospektiv erfahren dadurch die interreligiösen Ehen eine Umdeutung: Es habe sie nicht gegeben oder sie seien unbedeutend gewesen. Aus der Perspektive der nationalen Ideologie wird die religiöse intermarriage umgedeutet als kulturelle Ehe innerhalb einer Religion: D.h. bestimmte Heiraten werden als Grundbausteine einer nationalen Identität positiv bewertet, andere dagegen erfahren eine Abjektion. Als Grundbausteine der nationalen Identität gelten diejenigen intermarriages, bei denen keine Konversion stattfand: Es sind die Ehen zwischen Katholiken unterschiedlicher Herkunft (etwa zwischen Maltesern und Katalanen) oder zwischen Christen unterschiedlicher Konfession (etwa protestantischen Engländern und katholischen Andalusierinnen). Intermarriages zwischen den Religionen werden dagegen problematisiert. In Gibraltar betrifft dies insbesondere die zahlreichen Ehen zwischen Juden und Christen, die eine Grundlage der kolonialen Zivilgesellschaft darstellen.57 Nation und Territorium Präsentiert uns die nationalistische Ideologie mit der Ethnisierung der Yanitos nichts anderes als eine weitere Variante der Vorstellung von der ethnischen Reinheit der Bevölkerung? Nicht ganz. Denn die Ideologie feiert zwar einerseits die ethnische Einheit der Yanitos, andererseits spricht sie auch ein Lob der ethno-pluralen Mischung. Wenngleich in Gibraltar Religion und Herkunft von Ethnizität als dem wichtigsten sozialen Inklusions-/Exklusionskriterium abgelöst wurden, so ist damit Ethnizität jedoch bei weitem nicht zum einzigen Kriterium geworden. Die rechtliche Kategorie des Gibraltarian Status gibt uns einen Hinweis auf dieses andere Kriterium: Der Status kann nicht nur durch Geburt, sondern auch durch Verleihung vom Gouverneur erworben werden. Die Vergabe erfolgt an diejenigen, die sich den Status durch besondere Verdienste errungen haben; sie erfordert darüber hinaus ein aktives Bekenntnis zur Territorialgemeinschaft. Es steht zu vermuten, daß der Glaube an die Reinheit der einzelnen ethnischen Gruppen in ethno-pluralen Gesellschaften heute vielfach durch den Versuch der Territorialisierung und Regionalisierung von Gemeinschaften ergänzt wird. Ich lehne mich hier an Werner 57 Im Gegensatz dazu sind Ehen zwischen Hindus beziehungsweise Muslimen mit Christen und Juden noch heute zahlenmäßig so gering, daß sie eher individuell denn als soziales Phänomen gedeutet werden.

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Dieter Haller Schiffauer58 und Lindner59 an, die regionale Bewegungen der Gegenwart nicht als Gegenbewegung zur Globalisierung, sondern eher als deren Komplement verstehen: Regionalisierung von Identität heißt Rückbesinnung auf eigene Qualitäten bei der Bewältigung eines tendenziell globalen Strukturwandels. Regionen sind hier nicht nur wirtschaftliche Nutzungsräume, sondern kulturelle Identitäts-, ökologische Lebens- und politische Entscheidungsräume. In Gibraltar bekommt das Territorium sogar eine Stimme und ein Eigenleben, repräsentiert durch den Erzähler der Geschichte des wing und die geologische Eigenbewegung, die im Video präsentiert werden. Der Glaube an ethnische Reinheit kann vernachlässigt werden, wenn Territorialität die Erfahrung von Gemeinsamkeit maßgeblich bestimmt. Falls Globalisierung kulturelle Differenzen intensiviert, falls sie neue Einheiten schafft, falls sie die Fragmentierung von Nationalstaaten vorantreibt, dann müssen wir uns dringlicher denn je mit der Frage beschäftigen, welche politischen und konstitutionellen Arrangements eine Balance zwischen der Notwendigkeit zu kultureller Autonomie und den Erfordernissen des friedlichen Zusammenlebens herzustellen vermögen. Gregory Jusdanis60 sieht eine Möglichkeit im Föderalismus, der kulturelle Pluralität garantiert und gleichzeitig die Einbettung in einen größeren Zusammenhang institutionalisiert. Die politischen Kräfte Gibraltars wie auch weite Teile der Bevölkerung diskursivieren diese Notwendigkeit nicht nur explizit, sie berufen sich sogar auf die spirituell und politisch begründete Territorialität als Quelle der gemeinsamen Identität und Solidarität. Erfahrungen aus der face-to-face-Gesellschaft Gibraltars sind in der Gegenwart nicht ohne weiteres auf anonyme Massengesellschaften zu übertragen. In Gibraltar wird aufgrund der Übersichtlichkeit der face-toface-Netzwerke die in Massengesellschaften unvermeidliche Distanz zwischen politischer nationaler Ideologie und der nationalen Identifikation seiner Mitglieder überbrückt. Die Übersichtlichkeit der Gesellschaft erlaubt aber einen Einblick in die Entstehung, Funktion und Wirkung nationalistischer Bewegungen und in symbolische Identifikationsprozesse ethnischer Gruppen. Die gibraltarianischen Befunde zeigen uns, daß ethnologische Theorien zum Nationalismus den Aspekt der permanenten Aktualisierung nationaler Gefühlsbindungen einer Territorialgemeinschaft einbeziehen sollten. 58 Schiffauer 1999. 59 Lindner 1994. 60 Jusdanis 1996.

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Nationalismus und Ethnizität in Gibraltar Ich vermute, daß Gellners Feststellung, daß Nationalismus von Menschen gemacht wird, den heutigen Bewohnern der Nationalstaaten bei weitem nicht so unbekannt ist, wie es die unhinterfragte Übertragung des Glaubens an Homogenität und Abstammung auf heutige Nationalismen suggeriert. Vielleicht ist dieser Glaube in einer Zeit weniger anwendbar, die von der Fragmentierung traditioneller Nationalstaaten und der Entsolidarisierung nationalstaatlicher Gesellschaften geprägt ist. Die gegenwärtige Diskussion betont Nation vor Staat, Identität im Gegensatz zu Staatsbürgerschaft, Kultur statt Politik, als ob der jeweils erste Teil dieser Oppositionen alleine die Quelle nationaler Einheit oder Fragmentierung ausmachte.61 Die Kategorie der Territorialgemeinschaft vermag Ethnizität und Kultur zu ergänzen und so die Relevanz von Reinheit für die Konstitution von Identität zu hinterfragen – zumal im Zeitalter der Transformation des Nationalstaates.

Literatur Abstract of Statistics 1994, Government of Gibraltar. Anderson, Benedict, 1983: Imagined communities – reflections on the origin and spread of nationalism. London. Ardener, Shirley (ed.), 1975: Perceiving women. London. Armstrong, John Alexander, 1982: Nations before nationalism. Chapel Hill. Assmann, Aleida, 1994: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Rolf Lindner (Hg.): Die Wiederkehr des Regionalen – über neue Formen kultureller Identität. Frankfurt am Main: S. 1336. Barcía Trelles, Camilo, 1968: Pasado, presente y futuro de un problema colonial: Gibraltar. In: Revista de Política Internacional 96: S. 127-154. Barth, Frederik, 1981: Ethnic groups and boundaries. The social organization of cultural difference. In: Process and form in social life. Selected essays of Frederik Barth. Vol. I. London: S. 198-227. Benady, Mesod, 1996: The streets of Gibraltar – a short history. Gibraltar. Benady, Sam M., 1993: Memoirs of a Gibraltarian (1905-1993). Gibraltar. Benady, Sam M., 1994: Civil hospital and epidemics in Gibraltar. Gibraltar. Bhabha, Homi, 1985: Signs taken for wonders: questions of ambivalence and authority under a tree outside Delhi, May 1817. In: Critical Inquiry 12 (1): S. 144-165. 61 Jusdanis 1996: 154.

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»Multikulturelle« Praxen in Frankfurt am Main

»Multikulturelle« Praxen in der Stadt Frankfurt am Main Jörn Rebholz

1. Die Stadt »Knapp 30« – mit dieser kurzen, in Frankfurt am Main zum Alltagswissen gehörenden Formel wird seit einigen Jahren der Anteil der nichtdeutschen Bevölkerung in der Mainmetropole grob beziffert. Im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten weist Frankfurt am Main damit den höchsten Anteil ausländischer Bevölkerungsanteile auf. Zuwanderung ist für die Messestadt, die im Jahr 1994 ihr 1200-jähriges Jubiläum feierte, kein neues Phänomen – durch Handelskontakte ist Frankfurt am Main schon seit Jahrhunderten Ort für Durchreisende, Neuankommende und Zuwanderer.1 Mit der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte der Bundesrepublik Deutschland kamen bereits in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre »Gastarbeiter« in die Mainmetropole, die damals einen bedeutenden Anteil von verarbeitendem Gewerbe mit geringen Qualifikationsanforderungen aufwies.2 Ende 1996 sind von den 652.324 Einwohnern 28,6 Prozent Ausländer, die aus insgesamt 178 verschiedenen Ländern kommen, vor allem aus den »Gastarbeiter«-Anwerbeländern des Mittelmeerraums, wie dem ehemaligen Jugoslawien (23,8 Prozent), der Türkei (19,3 Prozent), Italien (8,7 Prozent), Griechenland und Marokko (je 4,6 Prozent) sowie Spanien mit 3,4 Prozent.3 Mit dem höchsten Ausländeranteil unter den Großstädten (gefolgt von München und Stuttgart mit 22 bzw. 23 Prozent) beschritt Frankfurt am Main mit der Einrichtung eines »Amtes für multikulturelle Angelegenheiten« im Jahr 1989 zugleich einen eigenen Weg in der kommunalen Ausländerpolitik. Die dauerhafte Anwesenheit von Migranten führte zur Gründung einer Vielzahl von neuen Vereinen, kulturellen Organisationen, Religionsgemeinschaften, Initiativen und Selbsthilfeeinrichtungen, sie führte aber auch zur Neugründung von Geschäften und Betrieben – kurz, es entstand eine Infrastruktur, die auf die vielfältigen Bedürfnisse der Zugewanderten reagierte. Andere, bereits bestehende Institutionen, wie zum Beispiel die 1 Siehe Karpf 1993. 2 Schmid 1992: 6ff. 3 Amt für Statistik 1997.

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Jörn Rebholz Schulen und Kindergärten, mußten beziehungsweise müssen unter dem Druck der sich verändernden Zusammensetzung der Stadtbevölkerung neue Wege beschreiten. Durch die Einbindung in globale Wirtschaftsbeziehungen ergeben sich auch weit umfassendere, die Stadt verändernde Einflußfaktoren: Im Prozeß der Ver-Weltstädterung lassen sich Phänomene beobachten, die sich einer kommunalen Steuerungspolitik weitgehend entziehen.4 Zuwanderung steht somit im Kontext einer sich verändernden Stadtgesellschaft; in einem globalen Kontext und im Zusammenhang mit dem Diskurs über »Multikulturalität« oder »kultureller Vielfalt«.5 In diesem Beitrag soll die Zuwanderung nach Frankfurt am Main an einem konkreten Praxisfeld entfaltet werden, um Sinnbildungsprozesse aufzuzeigen. Dazu möchte ich die spezifische soziale Praxis nichtdeutscher Jugendlicher (die gerne als Produzenten »kultureller Vielfalt« gesehen werden) vorstellen, die in einem als »multikulturell« geltenden Frankfurter Stadtteil leben.6 Dabei stehen vor allem die Strategien der Jugendlichen, gefaßt als Ausdruck verschiedener, jugendspezifischer Normalitäten, ihre Selbstsicht, ihre peer-groups, ihr Verhältnis zur städtischen Lebensumwelt und zu ihrer Herkunft im Vordergrund. Mit einigen Anmerkungen zum Gebrauch der Begriffe »kulturelle Vielfalt« und »Multikulturalität« im Kontext der Kulturwissenschaften möchte ich meinen Beitrag abschließen.

2. Im »Kamerun«: das Gallusviertel und seine »fremden« Jugendlichen Wer in Frankfurt am Main vom »Kamerun« spricht, der weiß, daß es um das nahe am Zentrum liegende Gallusviertel geht. Seine Chronik verzeichnet vor allem mit Beginn des 20. Jahrhunderts Entwicklungen, die, im Zei-

4 Zum Begriff der Ver-Weltstädterung siehe Welz 1996: 131ff. 5 Diese globalen Veränderungsprozesse, die das städtische Ensemble von Institutionen und damit auch das sozio-kulturelle Leben in der Stadt verändern, sind hier nur angedeutet. Eine ausführliche Betrachtung über das Zusammenwirken dieser drei Ebenen findet sich bei Welz 1996: 99ff. 6 Bourdieus Habitusbegriff (1987: 98f.) und der Begriff einer sozialen Praxis als Ausdruck eines spezifischen Spiel-Sinns (vgl. Bourdieu 1987: 122) liegen diesem Ansatz zugrunde. Zur grundsätzlichen Bedeutung des Sinn-Begriffs im Werk Bourdieus siehe Wagner 1993 und Willems 1997; perspektivisch in bezug auf die Migrationsforschung siehe Bröskamp 1993.

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»Multikulturelle« Praxen in Frankfurt am Main chen der Industrialisierung, zur Entstehung dieses Stadtteils führten.7 Um 1900 kommt in der Bevölkerung die Bezeichnung »Kamerun« für das damalige Neubaugebiet auf und hat sich bis in unsere Tage erhalten.8 Die Bewohner des Gallusviertels verstehen sich (in unterschiedlichen Varianten) als »Kameruner«, tragen den Namen zum Beispiel in einem Karnevalsverein oder werden, etwa auf öffentlichen Veranstaltungen, mit »Liebe Kameruner!« begrüßt. Aus Presseberichten der vergangenen Jahrzehnte ergibt sich das bedrückende Bild eines vernachlässigten Stadtteils, ja das »Kamerun« erscheint sogar als das Frankfurter Problemviertel9: Es ist mit öffentlichen Einrichtungen unterversorgt, es gibt Verkehrsprobleme, Häuser- und Grundstücksspekulation, eine demographische Überalterung des Viertels und – einen auffallend hohen Ausländeranteil.10 Entstand das Viertel mit der Industrialisierung, so sind es heute Deindustrialisierungstendenzen, die das Viertel prägen. Sie gehen einher mit einer Ausweitung des Dienstleistungssektors und dem Rückgang des produzierenden Gewerbes, für den beispielhaft der Niedergang der Adler-Werke genannt werden kann.11 Diese Prozesse stehen im Kontext jener Internationalisierung des Wirtschaftstandorts Frankfurt am Main, auf die eingangs bereits hingewiesen wurde. Dank geeigneter Imageplanung durch ein entsprechendes Stadtmarketing gewannen mit Beginn der achtziger Jahre Stadtzentrum und zentrumsnahe Viertel, wie etwa das Gallusviertel, wieder an Attraktivität 7 Die historischen Angaben basieren auf der vom Stadtarchiv Frankfurt am Main erstellten Chronik (s. Stadtarchiv Frankfurt am Main, Signatur S3/E3599). 8 Mit der Etymologie dieses Begriffes verbinden sich verschiedene Bezüge: Neben vielen anderen Versionen bezieht sich der Vergleich mit der ehemaligen deutschen Kolonie angeblich auf die vom Kohleverladen geschwärzten Arbeiter oder auf die durch Industrieansiedlungen verschmutzte Luft; auf die beengten Wohnverhältnisse oder auf die Abgelegenheit des einstigen Neubaugebietes; oder es wird an schwarze französische Besatzungs-Soldaten aus den Kolonialgebieten, die im Gallus einen Exerzierplatz hatten, erinnert. 9 Siehe hierzu die Presseartikel im Stadtarchiv Frankfurt am Main, Signatur S3/E3599. 10 Im Sommer 1994 gingen einige Meldungen durch die Frankfurter Lokalpresse, in denen über die schwierige Vermietung von Sozialwohnungen im Gallus berichtet wurde. Als Gründe für die Abneigung der Mieter wird immer wieder der schlechte Ruf einiger Straßen im Gallus bzw. des Gallusviertels insgesamt genannt. 11 Siehe Welz 1992: 82f.

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Jörn Rebholz für Besserverdienende (Gentrifizierung).12 Die vielschichtigen Umbrüche innerhalb der Stadtgesellschaft und die Konzeptionslosigkeit der Planer ließen Beobachter Ende der achtziger Jahre von einee Krise des Urban Managements sprechen.13 Diese Umbrüche, besonders Gentrifizierungs- und Tertiarisierungsprozesse lassen sich auch im Frankfurter Gallusviertel aufzeigen.14 Letztere gehen mit dem Steigen der Bodenpreise einher, dem Rückgang des produzierenden Gewerbes und Verdrängungsprozessen der ortsansässigen Bevölkerung. Da im Gallus der Anteil der ausländischen Bevölkerung seit 1970 kontinuierlich von 16 Prozent bis zum Jahre 1996 auf 52,51 Prozent anstieg, ist sie besonders von diesen Prozessen betroffen.15 Eine postindustrielle Metropole bedarf dieser Zuwandererfamilien, da Tertiarisierung nicht nur den Zuzug von gutbezahltem und hochqualifiziertem Dienstleistungsgewerbe und seiner Angestellten bedeutet, sondern auch jener Arbeitskräfte bedarf, die in schlecht bezahlten, zum Teil illegalen Beschäftigungsverhältnissen leben.16 Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Außenwahrnehmung des Viertels eher negativ geprägt ist. Äußerungen wie »Ja, irgendwie so Niemandsland zwischen Innenstadt und Griesheim« oder »Das is’ doch das Viertel, wo die Leute vom Fahrrad geschossen werden« kennzeichnen das »Kamerun« als Niemandsland, sogar als bedrohlichen Ort. Bei einer Befragung Jugendlicher mit nichtdeutscher Herkunft hingegen17, die Ende 1993 durchschnittlich knapp 67 Prozent unter den 15- bis 25-Jährigen stellten18, ergibt sich eine Paradoxie: Gerade jene, die qua Rechtsstatus zu Fremden, zu Ausländern gemacht werden, identifizieren sich mit ihrem Stadtteil: »Ich sag’ oft, gerne, manchmal, ich komm’ halt aus Kamerun und so. Kameruner, ja 12 13 14 15

Scholz 1989. Siehe Prigge 1994: 24. Siehe Welz 1993: 61ff. Nach Angaben des Amtes für Statistik, Wahlen und Einwohnerwesen der Stadt Frankfurt vom 31. Dezember 96. 16 Siehe Welz 1993: 64f.; Heins & Hirsch 1991: 48f. 17 Die hier zusammengefaßten Ergebnisse wurden an anderer Stelle ausführlich dargestellt (s. Rebholz 1994). 18 Dieser Durchschnittswert beruht auf eigenen Berechnungen nach Zahlen des Amtes für Statistik, Wahlen und Einwohnerwesen der Stadt Frankfurt am Main für die Stadtbezirke des Gallusviertels vom 31. Dezember 1993.

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»Multikulturelle« Praxen in Frankfurt am Main so. Also schon was besonderes irgendwie, ich kann’s dir nicht erklären. Halt schon des Gemischte, des is’ halt schon was besonderes. Das gerad’ in so ’nem Stadtteil, dem halt auch noch, wie schon gesagt ’n afrikanischer Name gegeben wird, also es ist schon was besonderes, ist ja auch was besonderes. Hier ist’s ja ziemlich gemischt und – ich fand des Gallus immer gut. Also ich würd’ hier auch nicht gerne wegziehen, ehrlich gesagt.«

Das »Kamerun« kann in diesem Sinn als ambivalenter Ort, letztlich als Ort der Fremden betrachtet werden. Fremde sind nach dem Verständnis des britischen Soziologen Bauman »prinzipiell ›Unentschiedene‹. Sie sind jenes ›dritte Element‹, das nicht sein sollte. Die wahren Zwitterwesen, die Monster: nicht nur unklassifiziert, sondern nicht klassifizierbar. Sie hinterfragen daher nicht den einen Gegensatz hier und jetzt: Sie hinterfragen Gegensätze als solche, stellen das Prinzip des Gegensatzes, die Plausibilität der Dichotomie, die es nahelegt, in Frage. Sie demaskieren die brüchige Künstlichkeit der Trennungen – sie zerstören die Welt. Sie dehnen das zeitlich begrenzte Unwohlsein des Nichtwissens, wie es weitergeht, zu einer endlosen Paralyse aus. Sie müssen tabuisiert, entwaffnet, unterdrückt, physisch oder psychisch ausgewiesen werden – oder die Welt geht zugrunde.«19

Die von außerhalb Kommenden, die eigentlich Fremden (die sich jedoch als Nichtfremde verstehen können, weil sie deutscher Herkunft sind), sehen im Gallus den bedrohlichen, nicht verortbaren Ort. Die im »Kamerun« Lebenden, Nichtfremden, sind mit dem Stadtteil vertraut. Eine Bewohnerin, die aufgrund ihrer türkischen Herkunft zur Fremden gemacht wird, beschreibt das Gallus als den Ort, an dem sie lebt und sich wohlfühlt. Die Widersprüchlichkeit der jeweiligen Aussagen, die hier zum Ausdruck kommende Ambivalenz, läßt sich auf eine gesellschaftlich konstruierte zurückführen.20 In ihr spiegeln sich die unterschiedlichen Perspektiven wider, die darauf verweisen, daß Fremdheit selbst ein perspektivisches Phänomen ist. Aus den Gesprächen mit den Jugendlichen läßt sich ein Spektrum verschiedener Normalitäten herauspräparieren, die einen Teil jugendlicher Alltagskultur in der Auseinandersetzung mit dem städtischen Raum »Kamerun« reflektieren.21 In diesem Zusammenhang gewinnt die peer-group 19 Bauman 1991: 29. 20 Siehe Bauman 1992: 73ff. 21 Mit den Jugendlichen wurden überwiegend narrative Interviews geführt, um

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Jörn Rebholz eine zentrale Bedeutung: als Gruppe von Altersgleichen, in der alte Regeln bestätigt oder verworfen, neue Regeln erfunden, erprobt und auch riskiert werden können, ist sie die zentrale Form jugendlicher Selbstorganisation, in der jugendspezifische Sinnproduktion stattfindet. Das bedeutet, daß von den vorhandenen Sinnangeboten nur einigen Relevanz verliehen wird und Verhaltensweisen, (symbolische) Handlungen und Wertvorstellungen generiert werden, die als Stile oder Varianten einer Jugendkultur gelten können. Ergänzend zu diesen »Normalitäten«, die die Jugendlichen eher trennen, werden noch zwei weitere identitätsgenerierende Prinzipien erwähnt, die alle Befragten teilen.22 Die zu benennenden Normalitäten werden zusammen mit den geteilten Prinzipien als soziale Praxen verstanden.23

3. Das Spiel mit den Karten als Ausdruck der normalen Normalität Fast jedesmal, wenn ich im Café des Falkenheims Jugendliche antraf, spielten sie Karten.24 Auch wenn das Café geschlossen war und sie sich im Sommer auf dem angrenzenden Schulhof trafen, spielten sie Karten (manchmal auch Basket- bzw. Fußball). Auf meine Frage »Spielt ihr schon wieder Karten?« bekam ich, so oft ich diese Frage stellte, regelmäßige Rückfragen wie »Was sollen wir sonst tun, Mann?« oder »Was sollen wir hier schon anderes machen?« Die Jugendlichen kennen sich untereinander – oft durch eine gemeinsam verbrachte Kindheit und die geteilte Nachbarschaft. Sie verabreden sich oder treffen sich zufällig zu den Öffnungszeiten des Cafés, auf dem Schulhof oder auf der Wiese hinter dem Falkenheim. Hier finden sich im Sommer ungefähr 50 bis 60 Kinder und Jugendliche ein. Manchmal dienen diese Orte als Treffpunkte, um von dort aus etwa in den Rahmen möglichst offen zu halten. In Leitfadeninterviews fragte ich nach der unmittelbaren Wohnumgebung, dem Gallusviertel, nach der Freizeitgestaltung und der Wohnzufriedenheit. Es folgten Fragen zur Freundschaft, zum jeweils anderen Geschlecht und Fragen zum Verhältnis zu den Eltern. Fragen zur Schul- und Ausbildungssituation, ebenso wie Fragen zu ihren Zukunftsperspektiven schlossen sich an. 22 An anderer Stelle (s. Rebholz 1994) habe ich in diesem Kontext von Bedeutungsgeweben im Sinne von Geertz (1987: 9) gesprochen. 23 Siehe Anmerkung 6. 24 Dieses Café bildete den offenen Bereich eines Jugendhauses, der JugendKulturwerkstatt Gallus Falkenheim e.V., kurz Falkenheim genannt.

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»Multikulturelle« Praxen in Frankfurt am Main die Innenstadt zu fahren; oft bleiben die Besucher aber auch auf der Wiese oder dem Schulhof, vor allem wenn das Falkenheim geschlossen ist. »A: Ich mein’, in Gallus geht überhaupt nichts mehr ab. O.k., ein Tag war das, glaub’ ich, Feiertag, gell? Gallus-Tag oder so was.25 Das hat uns mehr Spaß gemacht. Kann man da, was weiß ich, haben wir was gegessen, haben wir nach Mädchen geguckt, angekuckt und so weiter, weil da war auch schönes Wetter. J: Fändet ihr das gut, wenn das öfter stattfinden würde, so? B: Ja, aber öfter geht es eh’ nicht. A: Öfter, dann ist langweilig, dann jedesmal die gleiche. B: Einmal im Jahr oder so. A: ... macht Spaß, aber wenn jedesmal wieder das [gleiche] geht, wie Beispiel ›Dippemess‹26, wenn jedesmal wieder kommt, aber ›Dippemess‹ kann man vergessen, ja, das kommt jetzt ein Jahr zweimal oder so was, kann man da hingehen, Spaß machen. Aber hier in der Gegend? Jeden Tag oder jede Woche, Monat, das macht kein’ Spaß. ... J: Ja gibt’s denn noch andere Treffpunkte hier? B: Wo denn, wo sollen wir [uns] treffen? A: Wo muß man [sich] treffen? ... B: Im Winter sind wir öfter ins Falkenheim gekommen. Was haben wir gemacht? Wieder Karten gespielt. C: Und geraucht. B: Und geraucht. Ich komme nach Hause – meine Mutter meint: ›Du stinkst nach Zigaretten.‹ Die meint so: ›Du warst bestimmt im Falkenheim.‹ Ich mein so: ›Aber wo soll ich sonst gewesen sein?‹ Wirklich.«

Was sich in der Gesprächspassage wie ein Kokettieren mit der Langeweile anhört, das ist Bestandteil ihres hanging out, des Verweilens an Orten, wo sie gemeinsam ihre Zeit verbringen, mit Erzählen, Sport oder eben dem Kartenspiel. Selbst dem Alltag enthobene Festtage oder Jahrmärkte drohen langweilig zu werden, würden sie öfter stattfinden. Die Langeweile scheint allgegenwärtig. Neben der Geringschätzung des Viertels, wie es in vielen 25 Gemeint ist der Gallustag vom 23. Mai 1993. Mit einem Festival wurde die Multikulturalität des Gallusviertels mit einer Vielzahl von Aktionen und Vorführungen der verschiedenen, im Gallus lebenden Vereine, Gruppen und Initiativen, aber auch mit eingeladenen Gästen »aus aller Welt« mit einem großen Straßenfest gefeiert. 26 »Dippemess« (mundartlich für: Geschirrmarkt) ist ein zweimal im Jahr stattfindender Frankfurter Jahrmarkt.

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Jörn Rebholz Gesprächspassagen mit Bezug auf die Freizeitmöglichkeiten zum Ausdruck kommt, zeigt sich zum Beispiel in der Aufzählung verschiedener Spiel- und Sportmöglichkeiten, aber auch in der Nennung von Konsumangeboten, welche Bedeutung eine Jugendeinrichtung hat, wenn es darum geht, seine Freizeit in der Stadt unter Altersgleichen zu verbringen.27 Als Treff- und Spielraum bieten die Jugendeinrichtungen Gelegenheit, durch das Spiel soziale Umgangsformen zu erlernen und auszuprobieren. Erfahrungen aus Jugendhäusern in anderen Stadtteilen sind aber nicht nur Ausdruck eines Mangels an Orten, wo sich Jugendliche im Gallus treffen können. In einem Gespräch mit den Leitern des Falkenheims machen diese auf die Wohnbedingungen im Gallus aufmerksam, die mit der Mobilität der Heranwachsenden und damit auch der Struktur der peer-groups zusammenfallen: »Also diese Jugendsituation hat sich gleichzeitig auch verändert mit einer anderen Wohnstruktur hier im Viertel ... Wenn die Familie größer geworden ist, ... hat natürlich eine fünfköpfige Familie jetzt nicht mehr in einer 62 qm2 Wohnung Platz gehabt, ... bis sie jetzt meinetwegen in Griesheim von der Wohnungs-GmbH eine 80 oder 90 qm2 Wohnung zugeordnet bekamen, [haben] aber die Jugendlichen ... ihre Freundschaften halt erhalten, was sie aber nicht mehr jetzt als Quartiersgruppe betrifft, sondern nur noch als Freundschaftsgruppe und diese Freundschaftsgruppe verortet sich dann natürlich nicht mehr so notwendig in dieser zweiten Heimat Falkenheim, weil sie nicht mehr jeden Tag nur hier sind, weil sie halt schlicht und einfach in Nied wohnen oder in Griesheim wohnen und dadurch entstand im Grunde so ’ne eher fluktuierende Jugendszene, die alle betrifft – alle Jugendhäuser –, das hat sehr viel, wie gesagt, mit den Wohnbedürfnissen und der Gestaltung des Wohnens hier im Viertel und der Veränderung dieses Viertels überhaupt zu tun, also mit der Stadtteilveränderung auch zu tun.«

Dem Zusammensein in der peer-group kann wohl nach wie vor große Bedeutung zuerkannt werden. Mit Bezug auf die wenigen Jugendeinrichtungen im Gallus stellt sich die Frage, wo Jugendliche überhaupt noch unter 27 In diesem Zusammenhang gewinnen mädchen- bzw. frauenspezifische Jugendeinrichtungen, wie z.B. der Mädchentreff, eine andere Bedeutung für Mädchen und junge Frauen. Neben den Bildungs- und Freizeitangeboten ist es hier der den jungen Frauen vorbehaltene Treffpunkt, der als solcher von den weiblichen Jugendlichen geschätzt wird. Darüber hinaus wird der Mädchentreff als frauenspezifisches Freizeitangebot seitens der ausländischen Eltern eher akzeptiert wie etwa eine gemischtgeschlechtliche Jugendeinrichtung.

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»Multikulturelle« Praxen in Frankfurt am Main sich sein können, wo sie keine Eltern im Nacken haben, wo sie unbeobachtet sind, auch von sozialpädagogischer Aufsicht? Im Kartenspiel der Jugendlichen zeigt sich deren Rückzugsort. In jenem Spiel, das ohne großen Aufwand fast überall gespielt werden kann und wo sie in relativer Abgeschiedenheit ihre Ruhe, aber auch Langweile haben. Diese Selbstabgeschiedenheit gibt dem Spiel mit den Karten eine melancholische Stimmung. Solange sie ihr zurückgezogenes Spiel spielen, kann man gelassen bleiben: Sie sind beschäftigt, fallen in der Öffentlichkeit nicht unangenehm auf, schlagen weder ihre Altersgenossen noch andere, dealen nicht, »rippen« keine Leute ab. Das Kartenspiel ist der letzte legale Rückzugsort, in dem eine unproblematische Normalität zum Ausdruck kommt. Sie steht im Kontrast zu einer weiteren Normalität, die sich für die Jugendlichen längst nicht so unproblematisch gestaltet.

4. »Scheiße bauen« als illegale Normalität »E: ... unsere Eltern meinen, wir sollen net Schlechtes machen, keine Scheiße bauen, was weiß ich, Drogen nehmen und so weiter. J: Was würde da noch dazu zählen, was die Eltern nicht gerne sehen würden? E: Ja, wenn die Polizei nach Hause käme.«

Neben der bereits beschriebenen Normalität existiert eine zweite, die von den Jugendlichen mit dem Begriff des »Scheiße bauen« bezeichnet wird: »J: Mhhm. Und was heißt des so – ›Scheiße bauen‹? E: Ja – Scheiße bauen, auf die Straße gehen, was weiß ich, in die Stadt und alles mögliche. J: Ja, was machen die denn da? E: Na, ja, Leute anmachen, dumm anmachen, was weiß ich, versuchen irgendwo was aufzureißen, Geschäfte und was weiß ich, versuchen ein bißchen Geld zu verdienen, so was halt. J: Und kommt das häufig vor? E: Früher – jeden Tag, vier Stunden, Scheiße gemacht. – Ich stand auch schon ein paarmal in der Zeitung. J: Du? E: Ja, ... mit ein paar Freunden. J: Und wegen was? E: Raubes.«

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Jörn Rebholz Die Straße und die Innenstadt werden hier als Handlungsräume benannt. Dabei handelt es sich entweder um anonyme Orte oder solche, die weit genug vom Gallus entfernt sind, um die Gefahr, erkannt zu werden, zu verringern. Doch ist diese Form der illegalen Betätigung auch im Kontext der normalen Normalität zu betrachten: So liegt für Cetin die Bedeutung des »Scheiße bauen« im Reiz des Abenteuers, das die so beklemmend wirkende Monotonie des Alltags, des hanging out im Gallus, kontrastiert: »C: Abenteuer, die suchen, die suchen Abenteuer, weißt du? A: Ja, Abenteuer oder action oder so was, was die im Fernseher sehen, die wollen des auch, ... J: Wo findet man des dann, des Abenteuer? C: Am ehesten findest [du es] hier in der Nähe. J: Hier in der Nähe? A: Im Gallusviertel, nicht nur im Gallus, sondern überall in Frankfurt, glaub’ ich, gell? Die machen fast alle Abenteuer. Ich mein’, was heißt Abenteuer? Ist Autodiebstahl, Auto knacken, Geld zu bekommen.«

Allerdings liegt nicht nur das Bedürfnis nach Abenteuer Formen delinquenten Verhaltens zugrunde. Von Devran werden beispielsweise Konflikte im Elternhaus beziehungsweise im sozialen Milieu als Anlaß für das »Scheiße bauen« angeführt: »Ich weiß es nicht, auch dieser Frust einfach, auch von zu Hause, irgendwie. Viele, weiß ich noch, die ham dann halt auch gemeint, ah, bei denen zu Hause ist es halt so und so, was weiß ich. Viele kamen mit den Eltern gar nicht zurecht und so, auch Mädchen kamen überhaupt nicht mit den Eltern zurecht und so Sachen. Oder manche, die aus Eritrea kamen, ganz ohne Eltern fast und so Sachen, ja? Die bei irgendwelchen anderen Leuten oder in irgendwelchen Heimen aufgewachsen sind, ja? Des war für die ihre Aggression rauszulassen. Mit halt diesen Banden oder Schlägereien, oder sonst was unter den Mädchen, diese Prügeleien, oder einfach nur ’n Grund zu suchen, sich zu schlagen.«

Und Enis begegnet der Frage, wie es zu Straftaten kommt, mit einer Reihe unterschiedlicher Erklärungsversuche: »Ich weiß net. Einige haben kein Geld. Einige haben reiche Eltern, aber machen trotzdem Scheiße, und die einen wollen nur angeben. Verstehst du: ›Ich kann so was.‹ Oder einige werden reingezogen mit von Freunden. Bei mir war’s alles mögliche. Kein Geld oder was weiß ich, Angeberei oder ein bißchen Spaß oder irgendwas,

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»Multikulturelle« Praxen in Frankfurt am Main war alles mögliche drin bei mir. Es gibt Leute, die sind reich, die haben reiche Eltern, weil – ich kenn’ jetzt einen, der hat ’nen reichen Vater, verstehst du, der fährt drei, vier Autos und der ist jetzt drin wegen Betrug. Warum? Er hat doch Geld! Ist doch Schwachsinn. Wenn ich Geld haben würde, mein Vater wär’ Rechtsanwalt, würd’ ich so was doch net machen. Würd’ ich niemals was anfassen. Ich hab’ mein Geld, mein Auto. Warum?«

An diesen Passagen wird deutlich, daß sowohl die Motive als auch die Formen delinquenter Handlungen vielfältig sind. Der Katalog reicht hier von Pöbeleien, Schlägereien bis hin zu Autoknacken, Autodiebstahl und Raub. Die Anlässe hierfür sind individuell verschieden: Mangelndes Taschengeld, das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und Überlegenheit scheinen ebenso ausschlaggebend zu sein wie Spaß, Lust, und der Reiz des Abenteuers als sinnliche Erlebnisweisen. So sperren sich die mannigfaltigen Motive und Formen delinquenter Praktiken eindimensionalen Erklärungsversuchen, die Kriminalität entweder auf ökonomische Nützlichkeitserwägungen, auf soziostrukturelle Benachteiligungen oder auf die Folge eines Kulturkonfliktes reduzieren. Sie müssen vielmehr im je spezifischen Kontext der Jugendlichen gedeutet werden.28 So unterschiedlich die Motivationen für das »Scheiße bauen« sind, so lassen sich bei allen von mir Befragten doch auch Gemeinsamkeiten aufzeigen, die diese Form der Normalität als äußerst problematisch erschei28 Hermann Tertilt hat die »Turkish Power Boys«, eine Frankfurter Jugendbande, die Anfang der neunziger Jahre in der Frankfurter Lokalpresse Schlagzeilen machte, über Jahre ethnographisch untersucht und die gruppeninternen Strukturen analysiert. Seine zentrale These lautet, daß sich das delinquente Auftreten der Gruppe aus den kollektiven Status- und Anerkennungsdefiziten speist und die Gruppe der Bewältigung der migrationsspezifischen Schwierigkeiten dient, das heißt, die Mitgliedschaft in der Gruppe wird zur Kompensationsstrategie (s. Tertilt 1996: 171). Er benennt Freundschaft, Männlichkeit und Gruppendelinquenz als wesentliche Wertanschauungen und Verhaltensmuster. Die brutale Ausübung von Gewalt gegenüber den Opfern sieht er vor allem im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Mißachtung der Jugendlichen, die ökonomischen Nützlichkeitserwägungen treten offensichtlich bei den Demütigungsritualen gegenüber den Opfern in den Hintergrund. In der Analyse der dort vorgestellten Biographien zeigt sich immer wieder die Bedeutung der Familie und die sich ergebenden Brüche, die in der Auseinandersetzung mit der hiesigen Gesellschaft von den Jugendlichen verarbeitet werden müssen.

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Jörn Rebholz nen läßt. Auffallend sind hier zunächst zwei Aspekte: Die Jugendlichen sprechen von einem »Hineinschlittern« und sehen sich selbst als Marionetten, die nicht wissen, wie ihnen geschieht. Die illegale Normalität wird als konfliktbeladen und problematisch geschildert: »Probleme bis zum Hals« rufen Gefühle der Ohnmacht beziehungsweise der Ausweglosigkeit bei denen hervor, die in ihnen »gefangen« sind. Zu diesem »Selbstlauf« und dem »Gefangensein« delinquenter Handlungsweisen tritt der drohende Konflikt mit den Eltern (der sich bis zu den Verwandten ins Herkunftsland der Eltern ausdehnen kann) als normative Belastung für die Heranwachsenden. Auch wenn der Eindruck entsteht, daß die Jugendlichen illegale Handlungen als Bagatelldelikte zu relativieren oder zu legitimieren versuchen, heißt das nicht, daß sie kein Unrechtsbewußtsein hinsichtlich ihres Verhaltens besitzen. Meiner Ansicht nach drückt sich hier vielmehr der Wunsch aus, die Übertretungen nicht als Grundmodus ihrer Aktivitäten zu interpretieren, eine Sichtweise die dem Selbstverständnis der Jugendlichen widersprechen beziehungsweise ihnen nicht gerecht werden würde. Dem entspricht auch Enis, wenn er Wert auf die Feststellung legt, daß seine Altersgenossen durchaus über Unrechtsbewußtsein beziehungsweise Moralempfinden verfügen, das auch bei ihren Freizeitaktivitäten zum Tragen komme. Strafrechtliche Sanktionen werden – insbesondere von Jugendlichen, die »ausgestiegen« sind – als drittes Moment benannt, das »Scheiße bauen« als ein »in der Scheiße stecken« bewußt werden läßt: »Nur nach so ’ner Zeit hat man keine Lust mehr, diese Scheiße zu bauen. Man will da raus gehen, von diesem Dreck. Man hat keine Lust mehr irgendwie, vor Gericht zu kommen, in den Knast zu gehen. Das ist deswegen. Lieber von solche Dinge raushalten als weiter zu machen, finde ich also.«

Hinter diesen so lapidar formulierten Ängsten verbergen sich weitreichende Konsequenzen für die Jugendlichen, denn »erwischt zu werden« bedeutet letztlich den gesellschaftlichen Ausschluß; einerseits droht ein Gefängnisaufenthalt und im Wiederholungsfall sogar die Abschiebung, andererseits der Konflikt mit den Eltern. Angesichts dieser Konflikte, die von den Jugendlichen als existenzgefährdende Einschnitte in ihrem Leben wahrgenommen werden, überrascht es nicht, daß die Zukunftsvisionen vieler um so »normaler« ausfallen. Sie lassen sich mit dem Wunsch nach einem Familienleben und einer geregelten Arbeit zusammenfassen:

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»Multikulturelle« Praxen in Frankfurt am Main »J: Und was wären so deine Träume für dein späteres Leben? L: Meine Träume? Ich will ein ganz kleines normales Haus haben, ein schönes Auto, ein Mann und zwei Kinder. Und das Geld, ich will net soviel Geld haben, ich will ganz normal leben, des sind meine Träume. Irgend so ein kleinen Laden haben, des ist schon alles. Vor zwei Jahren zum Beispiel hab’ ich schon geträumt, was weiß ich, ein dickes Auto zu fahren, ein Riesenhaus und so, ja? Das kann man nur träumen. Oder man raubt ’ne Bank aus, oder so was, dann hat man schon was.«

Aber nicht nur für die Zukunft werden Bilder eines idealen Lebens entworfen, auch bezüglich der momentanen Situation existieren Vorstellungen und Wünsche nach einer qualitativ anderen normalen Normalität, konkrete Vorschläge darüber, welche sozialen und kommunalpolitischen Veränderungen zur Verbesserung ihrer Situation im Freizeitbereich notwendig wären. Daß diese nicht ins Utopische ausufern, sondern sich an der aktuellen Lage der Heranwachsenden orientieren (normale und illegale Normalität) und durchaus im Bereich des Möglichen liegen, zeigt die folgende Passage: »Man müßte mehr Jugendhäuser aufmachen im Gallus, weil, es gibt ja im Gallus die meisten Jugendlichen in Frankfurt eigentlich, hab ich mal gehört, aber stimmt, glaub’ ich auch, die meisten Jugendlichen gibt’s hier im Gallus, die meisten Ausländer und alles mögliche. Und es sind sehr wenige, sehr wenige Jugendhäuser offen, wo die Jugendlichen hingehen können. Die Jugendlichen laufen ’rum, finden nix, wo sie sich hinsetzen können und Zigaretten rauchen können, Cola trinken können, Bier trinken können und Karten spielen können. Gibt es nur die Teestube. Und wenn es mal voll ist, weil es ist sehr klein dort, wenn es mal voll ist – und was machen die? Gehen die auf die Paul-Hindemith-Schule auf die Wiese und rauchen die ein Joint. Weil die keine Möglichkeit haben oder spielen Basketball oder Fußball oder so was. Danach, nach dem Spiel, was machen die, die zieh’n sich noch’n Joint rein, verstehst du?«

Gerade weil die normale Normalität der illegalen diametral entgegengesetzt ist, müssen beide miteinander in Bezug gesetzt werden, denn hier sind die Grenzen, folgt man den Jugendlichen, leicht überschritten: Dem Reiz des »Scheiße bauens« kann man sich nur schwer entziehen; steckt man drin, ist es schwierig, wieder herauszukommen. Straffällige Jugendliche wurden mir von anderen Heranwachsenden als ideale Informanten angepriesen, die auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen könnten. Einer der Jugendlichen verwies mich an einen Bekannten, er könne mir

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Jörn Rebholz »drei Tage lang erzählen, der ist 23, der hat fünfmal soviel Erfahrung wie wir beide zusammen, ich bring dir einen, der erzählt dir eine Woche vom Knast.«

In Gesprächen wurde immer wieder darauf hingewiesen, daß für die Jugendlichen mehr geboten werden müßte. Bei einem Gespräch mit einem Straffälligen forderte dieser mich auf, nicht einen Bericht zu schreiben, sondern mit den Jugendlichen etwas zu unternehmen. Sucht, Reiz, Spaß und Lust – sinnliche Erlebnisweisen werden genannt, um zu erklären, wie es zur illegalen Normalität kommt. So ist die illegale Normalität im Zusammenhang mit der normalen Normalität zu betrachten. Steht auf der einen Seite Langeweile und damit einhergehend das Gefühl der Erfahrungslosigkeit, so steht dem die Normalität der Erfahrungsfülle sinnlicher Erlebnisweisen und eine vielschichtige Problematik gegenüber. Neben diesen beiden Normalitäten läßt sich noch eine dritte benennen, die ich als erwünscht-verhinderte Normalität bezeichne.

5. »Was machen« als erwünscht-verhinderte Normalität »Ja, mal sehn was auf uns zukommt, wir gehen nicht blind durch die Welt, wir hören zu; wir sind mitengagiert.«

Die dritte zu benennende Normalitätsform unterscheidet sich von den beiden anderen vor allem dadurch, daß eigenes Engagement im Vordergrund steht. Die Jugendlichen nehmen die Gestaltung des Lebens in die Hand und gehen offensiv an die Anforderungen der Gesellschaft heran. Dies bedeutet in erster Linie, daß sie versuchen, ihr Leben selbst zu gestalten, auch wenn die dabei eingesetzten Strategien nicht immer mit den Vorstellungen der Eltern übereinstimmen. Sie greifen auf Einrichtungen (z.B. Vereine) zurück und nutzen sie als Ausgangspunkt eines Engagements, wie im folgenden kurz ausgeführt werden soll. Auffallend ist in diesem Zusammenhang die positive Identifikation mit dem Stadtteil, die in mehrfacher Hinsicht zum Ausdruck kommt. Mahmut, der sich aktiv im Jugendbereich engagiert (z.B. bei der Wahrnehmung politischer Funktionen oder ehrenamtlicher Vorstandstätigkeit), stellt sich selbstbewußt vor: »Ich bin hier geboren in Frankfurt, bin ein Frankfurter [er betont das auf frankfurterisch], wie man so schön sagt, und ich fühl mich hier auch wohl.«

Aufgrund seiner Überzeugung, Gleichaltrigen und Jüngeren helfen zu 270

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»Multikulturelle« Praxen in Frankfurt am Main können, übernimmt er in seiner Freizeit ehrenamtliche Tätigkeiten. Neben dem gesellschaftspolitischen Engagement macht er Musik in einer Band, deren Name eine eigenwillige, fast schon pragmatische Nähe zum Viertel ausdrückt: »60326 Kamerun« – benannt nach der Postleitzahl des Viertels und seines Beinamens. Die Band, die bei öffentlichen Auftritten im Gallus schon »Heimvorteil« genießt, besteht aus vier jungen Männern. Zusammen arbeiten, ein gemeinsames Ziel verfolgen, gegenseitige Kritik und Akzeptanz sind Vorstellungen, die Mahmut mit der musikalischen Arbeit in der Band verknüpft. Die Gruppe, die schon seit knapp zwei Jahren existiert, probt in einem Jugendhaus; in der Nähe befindet sich die Teestube, eine Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Als regelmäßiger Besucher der Teestube und des Jugendhauses entwickelte Mahmut ein Engagement für die Einrichtungen und deren Besucher. In dieser Darstellung der jugendlichen Normalitäten sollten Momente aus ihrer Alltagskultur vorgestellt werden. Meines Erachtens zeugen die Gespräche vor allem vom besonderen Lebenszusammenhang im Gallusviertel, der sich nicht gerade durch eine Vielfalt von Freizeitmöglichkeiten auszeichnet. Für die normale Normalität steht das »Kartenspiel«, jenes Spiel der Jugendlichen, in dem sich vor allem die erfahrene Langeweile verdichtet. Die zweite Form, die illegale Normalität, zeichnet sich durch Handlungsweisen aus, die die Jugendlichen selbst als »Scheiße bauen« charakterisieren. Diese Handlungsform bedeutet für die Heranwachsenden einerseits Erfahrungsfülle, andererseits äußerste Konflikthaftigkeit. Beide Normalitätsformen sind komplementär aufeinander bezogen, ihre Übergänge fließend. Sie stecken den Bezugsrahmen für die im Alltag möglichen Verhaltensweisen ab. Jenseits dieser beiden Pole deutet sich eine dritte Größe an, die erwünscht-verhinderte Normalität: Als gedachte ist sie allen präsent, faktisch jedoch wird sie nur von wenigen Jugendlichen realisiert. In den Begriffen der Heranwachsenden umreißt sie den Bereich, den sie als ein »was machen« bezeichnen. Hier geht es um das Verlangen nach Teilhabe an einer Regelgestaltung, die ver- beziehungsweise behindert wird. Neben diesen drei Normalitäten, welche die Jugendlichen eher unterscheiden, lassen sich noch zwei identitätsgenerierende Prinzipien benennen, die alle Befragten teilen. Sie werden im folgenden kurz ausgeführt.

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Jörn Rebholz 6. Ambivalente Verortung und Korrektsein Allen befragten Jugendlichen sind zwei identitätsgenerierende Prinzipien gemeinsam, die ich das Prinzip der ambivalenten Verortung und das Prinzip des Korrektseins nennen möchte. In artikulierten Ambivalenzen bezüglich ihrer Zugehörigkeit kommt die Unmöglichkeit einer eindeutigen, nationalen Verortung zum Ausdruck. Bildhaft könnte man sie als ein Pendeln zwischen zwei Polen betrachten, dem Herkunftsland der Eltern und dem Aufenthaltsland, wobei die dazwischen stattfindende Bewegung ausgeklammert wird. Dagegen zeigt sich im Prinzip des Korrektseins eine selbstkonstruierte Form der Identität. Gerade dieser Aspekt steht nach meiner Interpretation für die Durchdringung der häufig postulierten »ethnischen Grenzen« und verweist auf die – angesichts von Diskriminierungserfahrungen – beachtliche Offenheit der Jugendlichen. In bezug auf die ambivalente Verortung kommt eine wesentliche Dimension des Zuordnungsproblems für die Jugendlichen zum Ausdruck, nämlich die doppelte Nichtanerkennung ihrer Zugehörigkeit, sowohl seitens der deutschen Aufnahmegesellschaft als auch des Herkunftslandes Türkei. »B: Also du bist, eigentlich wir alle so, also so wie wir hier sitzen, wir sind eigentlich so, kann man sagen, ... du kannst, wir sind eigentlich so wie Deutsche. In der Türkei sagen sie zu uns Deutsche und hier sagen sie zu uns Ausländer, ja? Also in der Türkei wirst du nicht mal als Türke anerkannt, ja? So ungefähr. A: Die sagen: ›Guck mal, der kommt aus Deutschland, ja, das sind Deutsche.‹ Weil du lebst in Deutschland ... B: Die sagen sofort ›Almancı‹, also so, ›Deutsche‹ zu dir. In Deutschland wirst du als Ausländer ... A: ...behandelt. B: Ja. Und in der Türkei wirst du als Deutscher. Und wo haben wir dann überhaupt unsere Heimat? C: Wir ham keine. B: Heimatlos sind wir, ja, so ungefähr, kann man sagen.«

Die beidseitige Verweigerung der Anerkennung macht sie symbolisch zu Heimatlosen, zu un-Zugehörigen, zu Fremden. Bei einem Gespräch der Jugendlichen über ihre Situation wird darüber spekuliert, was es bedeuten würde, im Falle eines neuen deutschen faschistischen Regimes in die Türkei fliehen zu müssen. Dabei zeigt sich die erwähnte »Heimatlosigkeit« in ihrer existentiellen Dimension. 272

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»Multikulturelle« Praxen in Frankfurt am Main »B: Also Beispiel, es wird wieder so ähnlich wie Hitler oder so was wieder geben und wir müßten alle wieder in die Türkei. Und danach, was weiß ich, dann wären die alle auf uns neidisch. Dann würden die, wie soll ich sagen? C: Die würden dann sagen, ... B: Ja was sucht ihr wieder hier in dem Land? Ich denk’ ihr kommt aus Deutschland? Also ihr seid Deutsche und so was. Was wollt ihr überhaupt in dem Land? So ungefähr.«

Wären sie in der Türkei Türken und in der Bundesrepublik Deutsche, so wäre die Angelegenheit wohl weniger problematisch. Die Zuordnungen werden aber geradewegs vertauscht, so daß die Jugendlichen, immer dort, wo sie sich gerade aufhalten, als Fremde gelten. Diese Erfahrung verweist, so scheint mir, auf zwei Sachverhalte. Zum einen auf den problematischen Status, der den Ein- beziehungsweise Auswanderern in den entsprechenden Gesellschaften zugeschrieben wird. Sie werden jeweils als Vertreter der verkehrten Gesellschaft anerkannt und damit verkannt. Es kommt zu keiner Begegnung, zu keinem Austausch und keiner Horizontverschmelzung, sondern lediglich zu Abgrenzung und Distanzierung. Der zweite Aspekt birgt eine Rückbezogenheit in dem Sinne, daß über das Versagen einer Anerkennung den Jugendlichen ein Identitätsproblem zugeschrieben wird. Fast alle Jugendlichen, mit denen ich gesprochen habe, sind in Deutschland aufgewachsen und in den Gesprächen wurde immer wieder das Verhältnis zum Herkunftsland der Eltern thematisiert, das durch ein permanentes Optieren für das Leben »hier« versus dem Leben »dort« charakterisiert ist. Dieses Lavieren zwischen den jeweiligen Polen bedeutet, daß ein »dazwischen« ausgeklammert werden muß, als es bedeuten würde, keine Identität oder Heimat zu haben. Das Herkunftsland der Eltern wird einmal als Urlaubsland, ein andermal als Heimatland bezeichnet, wobei die Orientierung aller Gesprächspartner an einer möglichen Rückkehr auffällt. Bemerkenswert ist auch, daß es kaum einem Jugendlichen gelang, sich zuzuordnen, ohne auf Nations- oder Volkskonstruktionen zurückzugreifen. Sich für einen offenbar notwendigen Identitätsnachweis einordnen zu müssen, scheint Bestandteil der alltäglichen Erfahrungen der Jugendlichen zu sein. Die Frage der nationalen Zuordnung ist für die Jugendlichen nicht eindeutig zu beantworten. Hier kann nur an den konstruierten Charakter dieser vereinfachten Pole erinnert werden und darauf verwiesen werden, daß sich Identität ausschließlich über die nationale Perspektive nicht fassen läßt, weshalb eine ambivalente Verortung unter Einschluß des »dazwi273

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Jörn Rebholz schen« sinnvoll sein kann. Das Pendeln der Jugendlichen kann aber auch Ausdruck einer Suchbewegung sein, wodurch die Frage der Zuordnung besonders relevant wird.29 Das Prinzip des Korrektseins beschreibt ein tragendes Moment in der Beziehung zwischen den Jugendlichen, wobei face-to-face-Beziehungen und peer-groups von zentraler Bedeutung sind. Die Kenntnis des anderen erlaubt seine Einschätzung und Zuordnung anhand von Vorstellungen, die ich im folgenden anhand einiger Gesprächspassagen herausarbeiten möchte. Hierbei handelt es sich um ein grundlegendes Prinzip, das die Chance bietet, sozial konstruierte nationale Differenzen zu überwinden. In einem Gespräch vertrat ein Jugendlicher die Ansicht, daß viele Deutsche nicht mit ausländischen Jugendlichen zusammen sein wollen. Auf meine Frage, woran das liegen könnte, antwortete Enis: »E.: Mir is des egal, ob da ein Deutscher sitzt oder ein Jugoslawe oder ein Türke sitzt, neben mir, ob der neben mir trinkt oder raucht – war mir egal, war mir immer egal. Solang der korrekt ist und kein Scheiß’ labert, des war mir egal, ob das ein Deutscher, Iraker oder Inder ist, verstehst du? Ich hab nie gesagt: ›Du bist ein Deutscher, du bist ein Inder, bleib du da, bleib du da, oder komm du, Türke, her, wir reden.‹ War mir egal, solang der korrekt ist, is egal. J: Und was kann man darunter verstehen, daß jemand korrekt ist? E: Ja, korrekt, der muß sich halt – viele verarschen sich auch gegenseitig, verstehst du? Verarschen sich gegenseitig, labern Scheiße und was weiß ich was. Betrug oder betrügen sich oder so was.«

Enis bezieht die allgemeine Frage auf seine Person und weist die Annahme zurück, die Abwesenheit deutscher Jugendlicher könne vielleicht mit seinem Verhalten zusammenhängen. Im Zusammenhang mit der Betonung seiner Gleichgültigkeit nationaler Zugehörigkeit gegenüber spricht er das Korrektsein an, jenes Prinzip, das offenbar nationale Unterschiede zugunsten einer Kenntnis des anderen zurücktreten läßt und das er hier der nationalen Zuordnung entgegensetzt. Dieser Vorrang ist jedoch beschränkt und gilt nur so lange, wie der andere auch »korrekt« ist. Ist das nicht der Fall, kann die Nationalität wieder bedeutsam werden. Hier zeigt sich die 29 Sven Sauter, der mit Jugendlichen aus Immigrantenfamilien Gruppengespräche führte, kommt mit bezug auf die Frage nach dem Leben mit zwei Kulturen zu ähnlichen Ergebnissen. Das Leben mit der Ambivalenz nimmt in seiner Arbeit (»Frankfurter Türken«, 1998) eine zentrale Stellung ein; siehe auch Ackermann 1997, 199f.

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»Multikulturelle« Praxen in Frankfurt am Main Brüchigkeit des Prinzips und die Notwendigkeit des persönlichen Kontakts. Unmittelbarkeit ist das entscheidende Moment: Neben ihm sitzend, trinkend oder rauchend, weist Enis auf die unmittelbare Präsenz des anderen in räumlicher Nähe hin, mit dem das Korrektsein beziehungsweise die Frage nach der Entscheidbarkeit, ob jemand »korrekt« ist oder nicht, untrennbar verknüpft ist. Was unter dem »Korrektsein« verstanden werden kann, beantwortet Enis – wie andere Jugendliche auch – erst nach kurzem Überlegen. Ich werte dies als Hinweis auf den Charakter der Selbstverständlichkeit dieses Prinzips: Jeder weiß, was darunter zu verstehen ist, und die Explikation solcher Selbstverständlichkeiten fällt schwer. Dennoch versucht es Enis, allerdings in umgekehrter Form, indem er das Nichtkorrektsein mit gegenseitigem »auf-den-Arm nehmen« und wechselseitigem Betrügen umschreibt und auch hier wieder auf den persönlichen Umgang verweist, der Gegenseitigkeit voraussetzt. Positiv formuliert drückt sich im Prinzip des Korrektseins Gegenseitigkeit, Anerkennung, Akzeptanz, Fairneß und Ehrlichkeit aus. Auch in der folgenden Gesprächspassage zeigt sich die Bedeutung persönlichen Kontaktes: »Wenn die merken, da hat jemand einen guten Charakter, ja korrektes Mädchen oder was weiß ich, oder so, oder wenn einer irgendwie was cooles macht und einfach witzig ist oder so, kann er genauso korrekt sein, ja, wie in dem Film ›korrekte Material‹ da ham die des zum Beispiel auch gemeint, ja? Wenn die merken, du kannst mit jemanden reden, dann – auch korrekt, ja, oder wenn jemand etwas cooler ist und witziger ist, sagen die auch korrekt. Oder was weiß ich, wenn einer... Aber es ist halt immer mehr im positiven, also seh’ ich schon so, also nichts was grad so negativ ist, wenn einer nur kriminell ist, daß die sagen der is’ korrekt oder so, ich glaub das ist weniger.«

Das Prinzip der Gegenseitigkeit findet sich auch im Dialog zweier Mädchen. Ihr Verhältnis ist durch langjährige Freundschaft gekennzeichnet, sie kennen sich schon vom gemeinsamen Spiel im Sandkasten. Hier treten vereinfachende Zugehörigkeiten weit in den Hintergrund: »H: ... wenn jemand sich korrekt zu mir verhält, dann bin ich auch korrekt zu dem. I: Ja, des is’ auch so. J: Was is’ korrekt? I: Ja, zum Beispiel sie akzeptiert mich als Kroatin, ich sie als Serbin und warum sollten wir uns beide jetzt wegen ein paar blöden Arschlöchern da unten, Politikern

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Jörn Rebholz streiten? Für unnötige Doofheit. Ich mein’, wenn Politiker so blöd sind, ich weiß auch net.«

Das Prinzip des Korrektseins verweist auf die Bedeutung der face-to-faceBeziehung, bei der die anfängliche Fremdheit von Angehörigen anderer Nationalitäten überwunden werden und nationale Identität in den Hintergrund treten kann. Für eine solche Erfahrung der Unmittelbarkeit bedarf es allerdings entsprechender Räume. Von der vielfach postulierten »Buntheit« des Viertels beziehungsweise der – positiv verstandenen – Multikulturalität war im Gallusviertel während der Erhebungsphase nichts zu spüren. Ohne in einen beschreibenden Miserabilismus verfallen zu wollen, waren die Eindrücke von der alltäglichen Lebenssituation der Jugendlichen doch eher bedrückend. »Kamerun« wird bei den Heranwachsenden, die sich mit dem Stadtteil auseinandersetzen, zur kompensatorischen Nische. Jene, die in der erwünscht-verhinderten Normalität als einer auf Engagement und Veränderung angelegten Normalität leben, setzen ihr adoleszentes Potential gesellschaftsfördernd um. Angesichts meiner Erfahrungen mit den Jugendlichen wäre es wünschenswert, Räume zur Verfügung zu stellen und entsprechende Einrichtungen zu fördern, um die Chancen für ein weiteres Vordringen dieser Normalität zu ermöglichen. Auch sollten Bedingungen geschaffen werden, die es erlauben, daß das Prinzip der ambivalenten Verortung gegenüber dem Prinzip des Korrektseins in den Hintergrund treten kann. Dies allerdings wäre eine kulturpolitische Forderung, die den Primat der Politik anerkennt – im Gegensatz zum intellektuellen Multikultur-Diskurs, der dort von Kultur spricht, wo doch eigentlich Politik gefordert ist.

7. Schlußbetrachtungen Aus den Gesprächen mit den Jugendlichen konnten drei verschiedene Normalitätsformen herausgearbeitet werden, die auf unterschiedliche Sinnsetzungen in der Auseinandersetzung mit den einzelnen peer-groups und der städtischen Umwelt verweisen. In bezug auf die erwünschtverhinderte Normalität zeigt sich, daß diese neben der positiven Bezugnahme auf das »Kamerun« durch eine Umsetzung adoleszenten Potentials gekennzeichnet und als Indiz für eine Stadtteilidentität interpretierbar ist. Die beiden genannten Prinzipien der ambivalenten Verortung und des Korrektseins zeigen eine gemeinsame Schwierigkeit der Zuwanderer-Jugendlichen im Umgang mit einer eindeutigen nationalen Zuordnung und der 276

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»Multikulturelle« Praxen in Frankfurt am Main Bedeutung von peer-groups im Zusammenhang mit der Herausbildung neuer Identitätsformen. Konflikte der Jugendlichen verweisen auf deren zu bearbeitende Brüche: Ein verschärfter Generationenkonflikt, der mit einem Kulturkonflikt verschränkt ist, bei dem zumindest die darin aufgehobenen Konfliktherde nicht eindeutig auf die Generations- oder Kulturunterschiede zurückführen sind. Ein emotionaler Bezug zum Herkunftsland und ein überwiegend negativer, auf Diskriminierungserfahrungen gegründeter, Bezug zum Aufenthaltsland sind Bestandteil der Ambivalenz der Jugendlichen. Im Hinblick auf letzteres spielt die Herkunft der Eltern zwar eine Rolle, aber lediglich in der Form, daß die nichtdeutsche Herkunft ein Stigma mit sich bringt und nur sehr begrenzte Handlungsspielräume zugelassen werden. Eine Herausforderung der Kulturwissenschaften besteht darin, Prozesse der Selbst- und Fremdethnisierung – die durch den Diskurs des Multikulturalismus befördert werden – kritisch zu hinterfragen. Kulturwissenschaft muß meines Erachtens auch reflektieren, inwiefern multikulturalistische Programme dazu beitragen, soziale Ungleichheiten zwischen »Einwanderungsminoritäten« und »Mehrheitsgesellschaft« zugleich festzuschreiben und – mittels einer unzulässigen Akzentverschiebung von Politik zu Kultur – zu verschleiern.30 Obgleich die Frage der Anerkennung zu Recht im Mittelpunkt steht, kann nicht von »kultureller Differenz«, »kultureller Identität«, »multikultureller Vielfalt« oder »Multikultur« die Rede sein, wenn politische Lösungen gefragt sind, um soziale Ungleichheiten zu entschärfen. Andernfalls droht die Gefahr einer Kulturalisierung sozialer Ungleichheit. Eine mögliche Perspektive sehe ich in einem praxeologischen Ansatz, der versucht, gesamtgesellschaftliche Prozesse im sozialen Raum abzubilden und über die Kategorie der Differenz Unterschiede in der sozialen Positionierung sowie das Machtgefälle in einer Gesellschaft abzubilden beziehungsweise zu hinterfragen, welche Kultur aus welchem Grund als legitim erscheint.

Literatur Ackermann, Andreas, 1997: Ethnic identity by design or by default? A comparative study of multiculturalism in Singapore and Frankfurt am Main. Frankfurt am Main. 30 Zur Gefahr und Kritik der Kulturalisierung siehe Kaschuba 1995; Welz 1996: 125ff., 361ff.

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Jörn Rebholz Amt für Statistik, Wahlen und Einwohnerwesen der Stadt Frankfurt am Main (Hg.), 1997: Ausländer und Ausländerinnen in Frankfurt am Main. Statistische Porträts zur KAV-Wahl. Faltblatt. Frankfurt am Main. Bauman, Zygmunt, 1991: Moderne und Ambivalenz. In: Uli Bielefeld (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? Hamburg: S. 23-49. Bauman, Zygmunt, 1992: Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg. Bourdieu, Pierre, 1987: Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main. Bröskamp, Bernd, 1993: Ethnische Grenzen des Geschmacks. Perspektiven einer praxeologischen Migrationsforschung. In: Gunter Gebauer & Christoph Wulf (Hg.): Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus. Frankfurt am Main: S. 174-207. Geertz, Clifford, 1987: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main. Heins, Volker & Joachim Hirsch, 1991: Auf welchem Mist wächst grün? Sozialstruktur und Politik in einem »tertiarisierten Dienstleistungszentrum«. In: Frank-Olaf Brauerhoch (Hg.): Frankfurt am Main. Stadt, Soziologie und Kultur. Frankfurt am Main: S. 45-60. Karpf, Ernst, 1993: »Und mache es denen hiernächst Ankommenden nicht so schwer...« Kleine Geschichte der Zuwanderung nach Frankfurt am Main. Frankfurt am Main. Kaschuba, Wolfgang, 1995: Kulturalismus. Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs. In: Zeitschrift für Volkskunde 91: S. 27-46. Prigge, Walter, 1994: Capitale Mythen. Zum endgültigen Abschied von den 80er Jahren. In: Bauwelt 1-2: S. 24-29. Rebholz, Jörn, 1994: »Im Kamerun. Ein Frankfurter Stadtteil und seine ›fremden‹ Jugendlichen«. In: Ina-Maria Greverus & Johannes Moser (Hg.): STADTgedanken – aus und über Frankfurt am Main. Frankfurt am Main: S. 213-241. Sauter, Sven, 1998: »Frankfurter Türken«. Adoleszente Lebensentwürfe in der deutschen Einwanderungsgesellschaft: Gruppengespräche mit Jugendlichen aus Immigrantenfamilien. Frankfurt am Main. (Unveröffentlichte Dissertation) Schmid, Thomas, 1992: Nicht-Deutsche in einer deutschen Großstadt: Über die Entwicklung der ausländischen Populationen in Frankfurt am Main. Frankfurt am Main. 278

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Resümee

Resümee Klaus E. Müller

1. Grundlagen In den alten, ländlichen Gesellschaften der vergangenen Jahrtausende lebten Junge und Alte, Frauen und Männer sowie, unsichtbar, Ahnen und Schutzgeister der Gruppe eng beieinander: im Haus, das gewöhnlich aus einem einzigen Raum bestand, wie im Dorf, das meist nur wenige, vielleicht fünfzehn bis zwanzig Familien umfaßte. Doch waren die Menschen damals deutlicher als heute nach Verhalten, Tracht, Sprache, Rechten und vor allem Zuständigkeiten voneinander geschieden: Je dichter das Zusammenleben, desto notwendiger die Differenzierung, die das erforderliche Maß an Distanz verbürgt, das es dem einzelnen wie Geschlechter- und Altersgruppen erlaubt, sich ihrer je eigenen Identität versichern zu können. Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer und Alte gingen unterschiedlichen Tätigkeiten nach, wie sie ihren Gaben und Kräften entsprachen. Sie waren bestimmend für ihren Status; daher kam es nur selten, etwa in Notfällen, zu Kompetenzüberschreitungen. Es herrschte eine streng regulierte Arbeitsteilung, die zwar zu wechselseitigen Abhängigkeiten führte, gleichzeitig aber alle aufs engste miteinander verband; allein auf sich gestellt, wäre niemand überlebensfähig gewesen. Außerdem wurden Ansätze zu sozialem Gefälle, wie sie aus asymmetrischen Besitzverhältnissen hätten herrühren können, strikt durch das unmittelbar wirksame Reziprozitäts-, über längere Zeiträume hin durch das Redistributionsgebot immer wieder ausgeglichen. Letzteres besagte, daß die Akkumulation von Dienstleistungen, Abgaben, Gütern und Informationen mit Hilfe anderer zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder aufgelöst und das einseitig Angesammelte an alle Beteiligten rückverteilt werden mußte (Beitrag Müller). Beide Verpflichtungen banden die Gesellschaft durch ein dichtes Netz wechselseitiger Verbindlichkeiten, was ein hohes Maß an Solidarität bewirkte und insgesamt die Identität der Gruppe stärkte. Gleichzeitig trugen auf untergeordneter Ebene die Gemeinsamkeiten der alters-, geschlechter- und statusspezifischen Erfahrungen dazu bei, daß Jugendliche, in der Regel nach Geschlechtern getrennt, Frauen, Männer und Alte untereinander engere Bindungen eingingen und einen Großteil nicht nur ihrer Arbeits-, sondern auch Mußezeit gemeinsam verbrachten. Jungen und Mädchen fanden sich zum Beispiel in der Nacht am Rande des 281

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Klaus E. Müller Lagers unter einem bestimmten Baum oder in eigenen Jugendhäusern ein, erwachsene Männer kamen allabendlich auf dem Dorfplatz oder im Männerhaus zusammen, Frauen trafen sich morgens an der Wasserstelle und verrichteten häusliche Tätigkeiten gemeinsam. Das hatte in allen Kulturen spezielle, teils institutionalisierte Formen der Geselligkeit und des Verhaltens, ja auch der sprachlichen Ausdrucksweise zur Folge, führte, zumindest in Ansätzen, zu einer eigenen Folklore, das heißt insgesamt zur Ausbildung spezifischer »Subkulturen« mit entsprechendem partialem Identitätsbewußtsein. Man kann daher schon in weniger differenzierten Gesellschaften durchaus von einer gewissen kulturellen Komplexität, von Ansätzen eigener Kinder-, Jugend-, Krieger-, Männer-, Frauen- und Altenkulturen sprechen, die gewöhnlich auch nach außen hin ihren Ausdruck in gruppenspezifischen Trachten, Frisuren, Geräten (Werkzeugen, Waffen), Tatauierungsmustern, Arten der Unterhaltung und anderem fanden. Darin lag indes auch, wie man wohl wußte, eine stete Gefährdung für den Bestand der Gruppe. Um die Dissoziationskräfte nicht überhandnehmen zu lassen, besaßen alle Gesellschaften daher einen bestimmten – weltweit übereinstimmenden – Satz an identitätsstabilisierenden Regularien. Die wichtigsten waren, abgesehen von Reziprozität und Redistribution, die Konventionalisierung der übergeordneten, allen gemeinsamen Brauchtümer und Traditionen, die Verwandtschaftsbande, die Verhaltensritualisierung in kritischen, das heißt in Grenz- und Übergangssituationen, die Bereitstellung ebenso einsichtiger wie unantastbarer Begründungen namentlich für die zentralen Güter und Institutionen, die Abgrenzung der eigenen Gruppe und Kultur nach außen, die Verabsolutierung der – vermeintlich seit Urzeiten – überkommenen Daseinsordnung insgesamt (Ethnozentrismus) und die strenge Überwachung des Ganzen durch eherne Normenkontrollmechanismen, letztinstanzlich durch die Ältesten (Ältestenräte) und Ahnen.1 Traditionelle Gesellschaften waren sonach im Kern multikulturell angelegt. Das ergab sich zwangsläufig aus der Geschlechter- und Generationendifferenz und der daraus folgenden Kompetenzen- und Aufgabenverteilung. Individuen wie Subgruppen hatten stets teil an mehreren »Kulturen«, gehörten gleichzeitig einer bestimmten Geschlechts- und Alterskohorte, einem bestimmten Klan, einer bestimmten Status- oder Berufsgruppe an (Töpferinnen, Korbflechter, Priester, Schmiede, Musikanten). Die Komplexität besaß dabei ebenso eine horizontale wie vertikale (Kinder – Jugendliche – Erwachsene; Verarmte – Besitzende) Dimension. Dennoch 1 Vgl. Müller 1992: 22-26.

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Resümee blieb die Einheit im ganzen gewahrt. Traditionelle Gesellschaften erscheinen so zwar als geschlossene, nicht jedoch auch homogene Gemeinschaften. Multikulturalität stellt ein gesellschaftsinhärentes, mithin sozietär universales Phänomen dar.

2. Erweiterungen Ein analog strukturiertes, nur dimensional gleichsam gedehntes, mehr aufgelockertes Bild boten oft auch ganze Regionen, in denen die einzelnen ethnischen Gruppen zwar auf Distanz bedacht blieben und ihre eigenen Traditionen, in bewußter Differenzierung voneinander, achtsam pflegten2, gleichwohl aber regelmäßige Kontakte unterhielten. Manche waren durch stete Wechselheiraten miteinander verbunden3, die sich vielfach zu geschlossenen Dualsystemen verdichtet hatten, andere bildeten lineare oder zirkuläre Handelspartnerschaften, aus denen mit der Zeit wiederum festgefügte symbiontische Gruppierungen entstanden sein konnten. Märkte boten die Gelegenheit, Unstimmigkeiten zu bereinigen, neue Absprachen zu treffen und bestehende erneut zu bekräftigen.4 Die originäre innergesellschaftliche Arbeitsteilung hatte gewissermaßen eine grenzübergreifende transethnische Erweiterung erfahren. Sofern es nicht zu störenden exogenen Eingriffen kam, herrschte unter allen friedliche, multikulturelle Koexistenz. In anderen, hochkulturnahen Bereichen traten dagegen häufiger durch anhaltenden Außendruck ausgelöste Migrationsturbulenzen auf, die zu Verschiebungen im Siedlungsbild und asymmetrischen Interdependenzverhältnissen führten. Typische Folge waren konzentrische Formationen mit dem dominanten Ethnos im Kern und den ringsherum angelagerten Weilern der autochthonen Klansegmente oder ethnisch dichter gepackten, hierarchisch geschichteten Verbundsystemen. In beiden Fällen jedoch blieben die ethnischen Identitäten weitgehend erhalten. Die Abhängigkeiten waren auf diese Weise zwar ungleichgewichtiger geworden, doch bestanden auch weiterhin, jetzt nur mehr dichter geschlossene komplementäre Interdependenzstrukturen. Reziprozität und Redistribution bestimmten nach wie vor Kooperation wie Koexistenz; in stärker hierarchisch strukturierten Verbänden begann letztere allerdings an 2 Vgl. Izikowitz 1969: 136f.; Musil 1999: 67f. 3 Vgl. Schott 2000: 183. 4 Vgl. Izikowitz 1969: 143f.

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Klaus E. Müller Gewicht zu gewinnen. Die kulturellen Eigenständigkeiten verwischten sich nicht, sondern wurden unter dem wachsenden Druck der ethnischen Verdichtung eher noch schärfer herauskontrastiert. Der Kaleidoskopcharakter derartig komprimiert multikultureller Systeme trat mit noch größerer Deutlichkeit in Erscheinung.

3. Aufschichtungen Der entscheidende Anstoß zu dieser Entwicklung ging von den Archaischen Hochkulturen aus. Seit ihrer Entstehung gegen Ende des 5. Jahrtausends v. Chr. kam es erstmals und in stetig wachsendem Ausmaß zu Kriegen im eigentlichen Sinne, insbesondere während der Bronzezeit (ca. 1800-700 v. Chr.), und in der Folge zu ausgreifenden Eroberungsschüben, Verdrängungs- und Überschichtungsprozessen, die wiederum Migrationen mit teils weiträumigen Bevölkerungsverschiebungen nach sich zogen. An die Stelle der älteren horizontalen traten zunehmend gewaltsam verschichtete hierarchisch gestufte Verbundsysteme. Besondere Konzentrationszonen bildeten die Städte, in denen sich die Überschachtelung auf engstem Raum vollzog. Der sozialen folgte die Bedarfsdifferenzierung, der eine wachsende Spezialisierung im Gewerbewesen entsprach. Tagelöhner und Lastenträger, Handwerker aller Art, Kaufleute und Händler nahmen, in konzentrischer Abfolge entsprechend ihrer gesellschaftlichen Rangstellung, eigene Straßenzüge oder Viertel rings um den Kern der Stadt mit den Sitzen der hohen Würdenträger und dem Palast des Herrschers ein. Geschlossen siedelnd und durch ihre Tätigkeit aufs engste miteinander verbunden, bildeten sie sich bald zu – in der Regel auch endogamen – Sondersozietäten oder Kasten aus, wie sie noch in Indien nachleben, mit eigenen Trachten, Brauchtümern und Traditionen. So entstand eine Vielfalt wohlausgeprägter »zünftiger«, dicht geschachtelter Lebensformen, überdacht von der höfischen »Leitkultur«. Nach außen hin, auf dem »flachen Land«, nahm die Dynamik zwar mit der Entfernung vom Zentrum ab, blieb jedoch wirksam. Migrationen in der Folge periodischer Druckwellen zersprengten und gruppierten die altansässigen Bevölkerungen immer wieder aufs neue um. Teils erhielten sich die Spuren davon gleich geologischen Ablagerungen bis in die ethnische Zusammensetzung der Einwohner einzelner Dörfer hinein. In manchen Teilen der Welt, wie im Sudan und Ostafrika, in Vorder- und Innerasien, waren vor allem die mobileren nomadischen Gruppen Träger der Ex284

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Resümee pansionsdynamik. Periodische Wellenschübe führten zu immer neuen Überlagerungen, in deren Folge – meist locker stratifizierte – lokale Königtümer (Ostafrika), teils ganze Imperien (Hunnen, Mongolen, Türken) entstanden. Die siegreichen »aristokratischen« Ethnien bildeten die Herrenschichten, die Adel und Herrscher stellten, während die autochthonen Bevölkerungen ihnen zwar leistungs- und abgabenpflichtig waren, sonst aber in ihrer Lebensführung und Kultur weitgehend unangetastet blieben. Die Multikulturalität nahm sich hier ungezwungener aus, besaß einen eher diffusen Charakter. In den Bindestrukturen hatte sich eine nachhaltige Verschiebung ergeben. Reziprozität waltete nur mehr im engeren familiären, verwandtschaftlichen, Nachbarschafts- oder Zunftbereich. Die Beziehungen zwischen Dominierenden und Dominierten dagegen wurden, dem Schein nach zumindest, von Redistribution bestimmt – überwiegend als Einwegverpflichtung gehandhabt, da den Abgaben und Dienstleistungen der untergeordneten Bevölkerungsschichten kaum adäquate Reinvestitionen, etwa in Form von verbesserten Gebrauchsgütern und Produktionsmitteln, Bildung oder Schutz, entsprachen. Die Herrschenden schöpften lediglich ab und behielten alle wichtigen Ressourcen, Wertgüter und Zahlungsmittel unter ihrer Kontrolle. Märkte, innerhalb wie außerhalb der Städte, behielten als Zentren der Begegnung und Beziehungspflege über soziale und ethnische Schranken hinweg ihre neutralisierende Vermittlungsfunktion, die nunmehr, unter den verschärften Bedingungen, noch an Bedeutung gewann. Marktgott, Marktherr und ein eigenes Marktrecht, das vor allem den Marktfrieden zu garantieren hatte, sicherten ihre quasi extraterritoriale Sonderstellung ab. Die kulturelle Vielfalt einer Stadt, ihres Umlands, einer ganzen Region oder eines Reichs verdichtete sich hier, zellulär agglutiniert und komprimiert, zum pointilistisch getupften Miniaturbild der Makrostruktur größerer geographischer und politischer Einheiten. Gleichzeitig boten Märkte immer eine wichtige Einnahmequelle. Für Nomadenimperien, die ökonomisch allein auf der ständig von Seuchen, Trockenheit, harten Wintern und Kriegen bedrohten Viehwirtschaft basierten, bildete die Kontrolle der Karawanenstraßen und Oasenmärkte daher nicht nur eine zusätzliche Existenzsicherung, sondern eine Überlebensfrage schlechthin. Wenn man so will, glichen sie überdimensionalen mehrzentrischen Märkten, die durch Ableger und Verbindungslinien zu einem einzigen weiträumigen Netz verflochten waren. Konfliktfreie Multikulturalität bildete die conditio sine qua non dafür. Nomadenherrscher waren daher immer auf friedliche Koexistenz der verschiedenen Volksgruppen und Religionen ihrer Imperien be285

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Klaus E. Müller dacht.5 Zur Glanzzeit der Mongolen, unter dem Großkhan Möngke (1251-1259), einem Enkel des Reichsgründers Dschingis-Khan (ca. 11551227), hatte sich die Hauptstadt Karakorum, ursprünglich eine Karawanenstation, zu einer kosmopolitischen Metropole entwickelt, in der Gesandtschaften aller Herren Länder aufeinander trafen. Der flämische Franziskaner Wilhelm von Rubruk (ca. 1210-1270), der Karakorum 1254 im Auftrag Ludwigs IX. von Frankreich und Papst Innozenz IV. besuchte, schreibt in seinem Reisebericht: »Zwei Stadtviertel befinden sich daselbst: einmal das Viertel der Sarazenen, wo die Märkte stattfinden und wo viele Kaufleute zusammenströmen wegen des Hofes, der sich immer nahe dabei aufhält, und wegen der Menge der Gesandten, zum andern das Viertel der Chinesen, die sämtlich Handwerker sind. Außerhalb dieses Viertels liegen die großen Häuser, die den Schreibern vom Hofe gehören. Es gibt dort zwölf Götzentempel der verschiedenen Völker, zwei Moscheen und eine christliche Kirche am äußersten Ende der Stadt.«6

Im gesamten Innern des Imperiums herrschte damals tiefster Friede, die »Pax Tatarica«, streng überwacht von den wohldisziplinierten Truppen des Großkhans. Das Reisen war so gefahrlos geworden, daß »eine Jungfrau«, wie ein zeitgenössischer Chronist vermerkt, »mit einem Klumpen Goldes auf dem Kopfe ungefährdet durch das ganze Reich wandern könnte«.7 Markt und Multikulturalität bildeten fortan, mehr noch als früher schon, eine interdependente, komplementäre Beziehungseinheit.

4. Das Erbe In den knapp 5.000 Jahren seit der Herausbildung der Archaischen Hochkulturen waren zahllose Reiche entstanden und wieder versunken, kleinere immer größeren gewichen. Ihr wachsendes Ausmaß schloß kulturelle Vielfalt unvermeidlich ein; florierender Handel wie politische Allianzen hatten multiethnische Koexistenz zwingend zur Voraussetzung, letztere war nach wie vor, wenn auch nur mehr auf »höchster Ebene«, zusätzlich durch Heiratsbeziehungen abgesichert. Alle alten Reiche waren Vielvölkerstaaten, in Eurasien wie in Meso5 Schakir-zade 1931: 10, 79, 141. 6 Heissig 1964: 283ff. 7 Prawdin 1957: 238f.

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Resümee amerika (Azteken, Maya, Inka). Besonders typische Beispiele bildeten, abgesehen von den antiken und mittelalterlichen Nomadenimperien Innerasiens (Hsiung-nu, Skythen, Osttürken, Mongolen), Phönizien (Khartago), das seine Existenz erstmals vom Fernhandel über See bestritt, das Hethiter-, Assyrer- und Perserreich, das altindische Maurya-Reich, das Imperium Alexanders des Großen, West- und Ostrom (Byzanz), das Abbasiden-Kalifat und das Osmanische Reich. Und wieder bildeten sich die Verhältnisse in mosaikartiger Konzentration in den Städten und Metropolen (Alexandria, Rom, Konstantinopel) ab, wie selbst am Beispiel einer kleinen spätantiken, wenn auch nicht unbedeutenden Provinzstadt wie Aphrodisias in Kleinasien exemplarisch deutlich wird (Beitrag Chaniotis). Die Situation beschwor in jedem Fall Spannungen, auch offene Konflikte herauf, da Dominierende und Dominierte sozial wie rechtlich ungleichgestellt waren und Machtwillkür, Diskriminierung und Ausbeutung allzusehr von der Persönlichkeit des Herrschers und den jeweiligen Umständen (Blütezeiten bzw. Niederlagen, Not und Seuchen) abhingen. Ethnische und religiöse Minderheiten tendierten unter kritischen Voraussetzungen, sofern ihre Identität noch weithin intakt war, dazu, sich stärker zu segregieren und offen beziehungsweise arkan ihr Eigendasein zu kultivieren, oder wurden gewaltsam ghettoisiert. Auf dem offenen Land wuchsen die Spannungen mit der Entfernung von den Zentren der Macht, so daß immer wieder Unruheherde, wie im kleinen in den städtischen Unterschichten (Sklaven, Tagelöhner), an der Peripherie der Reiche entstanden und es am ehesten dort zu Aufruhr und Rebellion kam. Waren die Aussichten hoffnungslos, gediehen gerade in diesen beiden Bereichen, unter Minderprivilegierten und Unterdrückten, synkretistisch formierte Mysterien- und Erlösungsreligionen: Die gemeinsame Not ließ nur mehr Hoffnung auf Heil aus dritter, »höherer« Hand. Potentielle und mehr noch offene Konflikte aber stellten eine ernste Bedrohung für den Bestand sowohl der städtischen Kommunen als auch des Gesamtreiches dar. Es bedurfte daher gerade in ethnisch, kulturell und religiös komplexen Gemeinschaften wirkungsvoller Instrumentarien, um der unabdinglichen, ja notwendigen Vielfalt sowohl in den Grundstrukturen als auch im umspannenden Ganzen die unerläßliche Einheitlichkeit zu verleihen. In den alten Dorfgesellschaften hatte das voll die Autorität der Alten und Ahnen, in Korrespondenz mit der allgegenwärtigen Normenkontrolle durch die Öffentlichkeit, zu gewährleisten vermocht. In den hochkulturlichen Großreichen jedoch bedurfte es dazu weiterreichender, notfalls gewaltsam durchsetzungsfähiger obrigkeitlicher organisationssichernder Me287

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Klaus E. Müller chanismen – sowie auch einer übergeordneten Ideologie, die alle gleichermaßen auf »bürgerliche« Gemeinsinnigkeit und zu reibungsloser Kooperation verpflichtete. Von der Situation her kamen nur wenige Alternativen in Betracht, die sich daher denn auch stets in den Grundzügen glichen und lediglich der Schwerpunktsetzung nach schwankten. Teils festigte man den Zusammenhalt durch bindenden Bezug auf den alles überragenden, für gottgleich, ja göttlich erklärten Herrscher, der in den altorientalischen Reichen mal als »guter Hirte« (Mesopotamien), mal, wie zu hellenistischer Zeit, als heilverbürgender »Beglücker« oder »Erlöser« (soter), mal als »Himmelssohn« (China) tituliert wurde, teils bediente man sich kurzerhand brutaler Gewalt (Assyrer). In anderen Fällen setzte man, wie in China (Beitrag Schmidt-Glintzer) oder Byzanz, mehr auf eine durchgängig und straff organisierte Bürokratie, in China gestützt durch die »Leitideologie« des Konfuzianismus, ein einheitlich geltendes Recht und staatlich betriebene schulische, teils auch universitäre Bildung (Byzanz). Häufig auch dienten der »Staatskult« (China) beziehungsweise die Staatsreligionen, vorangetragen durch zügige Missionierung, als Mittel zur transkulturellen Kohärenz- und Identitätsstiftung (Europa, Byzanz, islamische Staaten). Eine gewisse – zukunftweisende – Ausnahme bildeten sichtlich die Römer (Beitrag Demandt). Allezeit bereit und offen, von anderen, insbesondere den Etruskern und Griechen, zu lernen, entwickelten sie selbst ein vorbildliches, bis heute nachwirkendes Zivilrecht und besaßen hinreichend Selbstbewußtsein, sich berufen zu fühlen, die Segnungen der Zivilisation auch allen anderen, noch minderentwickelten »barbarischen« Völkern zu vermitteln. Die Grundlage dafür bildete ihr besonderes, speziell von der griechischen Stoa geprägtes Humanitätsideal, das kulturelle, namentlich religiöse Toleranz und nach Möglichkeit den Verzicht auf Gewalt im Umgang mit Menschen gebot, auch Sklaven gegenüber. Ihre Eroberungen hatten, dem Ideal nach zumindest, immer auch zum Ziel, ein universales »Friedensreich« und »Vaterland aller Völker« (patria gentium) zu schaffen, getragen von der »Pax Romana«, die letzten Endes jedem die Möglichkeit bieten sollte, Reichsbürger zu werden, sich nach Vermögen zu bilden und jedes beliebige Amt anzustreben, bis hinauf zum Provinzgouverneur, Feldherrn und Kaiser. Plinius der Ältere (23-79) rühmte so, im stolzen Bewußtsein des Erreichten, seine Heimat Italien als ein Land, »das zugleich Pflegling und Vater aller anderen Länder ist, ein Land, das nach dem Rat der Götter ausersehen ist, den Himmel selbst noch zu verherrlichen, die zerstreuten Staaten zu einem Ganzen zu verbinden, die Sitten zu veredeln, die so verschiedenen und rohen Sprachen so vieler Völker durch Anwendung der Umgangs-

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Resümee sprache zu vereinigen, mündlichen Verkehr und Veredelung der Menschen selbst herbeizuführen, kurz: das gemeinsame Vaterland sämtlicher Völker des Erdkreises zu werden.«8

5. Die »neue« Zeit In Europa lebte jahrhundertelang im westlichen Kaiser- wie im östlichen Zarenreich das römische Erbe nominell zwar noch fort, doch hatte das Christentum als die beherrschende »Leitreligion« dem Toleranzideal der Römer – das im Islam zumindest noch den Anhängern der »Buchreligionen« gegenüber bestand – das Rückgrat gebrochen. Die »Frohe Botschaft« wurde den »Heiden« notfalls mit Gewalt aufgezwungen. Dabei konnte man sich auf die Autorität der Kirchenväter berufen. Athanasios von Alexandrien (295-373) hatte den Standpunkt vertreten, daß die Barbaren per se »Feinde des Friedens« (pacis inimici) seien – womit natürlich die »Pax Christiana« gemeint war. Daraus folge, daß sie eine unbezwingliche Neigung zu kriegerischem Aufruhr besäßen, der ihrer angeborenen Grausamkeit wegen verheerende Formen anzunehmen drohe, würde ihnen nicht Einhalt geboten. Allein Bekehrung könne sie befrieden und einführen ins Kulturreich des »Orbis Christianus«. Der heilige Augustinus (354-430), zunächst überzeugt, »keiner dürfe zur Einheit in Christus gezwungen werden«, fand später zu der praktikableren Auffassung, »daß es nicht darauf ankomme, ob einer gezwungen wird, sondern allein darauf, wozu er gezwungen wird, ob es nämlich etwas Gutes oder Böses ist.«9 Zum andern trat mit den »Entdeckungen« ab Ende des 15. Jahrhunderts insofern eine entscheidende Wende ein, als die imperiale Expansionspolitik sich über die kontinentale Orientierung der antiken und mittelalterlichen Reiche hinaus zu globalisieren begann. Zunächst bildeten sich Handelsimperien im Stil der Phönizier (Venedig, Genua, Portugal, Niederlande), dann transkontinentale Kolonialreiche heraus (Spanien, England, Frankreich, Belgien, Rußland mit Alaska). Mehr denn je wurde kulturelle Vielfalt zur Normalität. Doch anders als zu Zeiten Alexanders und der Römer war die Überlegenheit der Sieger zur absolutistischen Doktrin geworden: Die Kolonialherren führten ihren Erfolg auf physische, mehr noch geistige Höherartung zurück, die ihnen eine Art Sendungsbewußtsein (franz.: mission civilisatrice) verlieh und sie zur Führung der weniger Be8 Gaius Plinius Secundus: Naturalis historia III 6. 9 Müller 1996: 178f.

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Klaus E. Müller günstigten geradezu verpflichtete. Cecil Rhodes (1853-1902), der 1890 bis 1896 Präsident der Kapkolonie war und die britischen »Besitzungen« in Südostafrika nach Norden bis hin zu dem später nach ihm benannten Rhodesien ausweitete, erklärte zum Beispiel: »Ich behaupte, daß wir die erste Rasse dieser Welt sind, und je mehr wir von dieser Welt beherrschen, um so besser ist es für die ganze menschliche Rasse.«10

Andere äußerten sich analog. Der amerikanische Historiker James Kendall Hosmer (1834-1927) prophezeite mit Seherblick: »Angelsächsische Institutionen, angelsächsisches Denken und die englische Sprache werden zum Hauptmerkmal des politischen, sozialen und geistigen Lebens der Menschheit werden müssen.«11

Die Ethnien zu Füßen der Führernationen besaßen bestenfalls rudimentäre Kulturen und konnten daher entweder nach Belieben benutzt und versklavt oder aber »bekehrt« und entwickelt werden, wenn auch ihrer geringeren Artung wegen nur bedingt. Die Asymmetrie in den Machtverhältnissen hatte sich noch einmal verschärft. Entsprechend war weniger Handel als Erpressung und rigoroser Raubbau an Land und Leuten die Regel und das Redistributionsprinzip vollends außer Kraft gesetzt – es sei denn, man versteht die Christianisierung als Rückentgelt. Nach den Unabhängigkeitsbewegungen des 20. Jahrhunderts schrumpften die Hoheitsbereiche zwar wieder, doch änderte sich an den Verhältnissen der Kolonialzeit nur wenig: An die Stelle des Kolonialismus trat der Endokolonialismus, die Positionen der Kolonialherren nahmen führende Klane und ihre ethnische Klientel ein. Seitdem brechen die Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen den verschiedenen kulturdifferenten Völkern, zwischen Muslimen, Christen und »Heiden« zunehmend in verheerenden »Bürgerkriegen« auf (Afghanistan, Indien, Ost-, Zentralund Westafrika). Die Probleme sind jedoch nicht nur für die ehemaligen Kolonialländer typisch. In manchen Teilen der Welt, wie auf dem Balkan oder im Bereich der früheren Österreichisch-Ungarischen Monarchie (Beitrag Stagl), lebten Völker unterschiedlicher Herkunft, Sprache, Kultur und Religion minde10 Koch 1973: 91ff. 11 Koch 1973: 120f.

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Resümee stens schon seit Jahrhunderten annähernd friedlich zusammen (Albaner, Kroaten, Serben, Türken, Mazedonier und Griechen bzw. Slowenen, Ungarn, Österreicher, Tschechen, Böhmen, Slowaken, Juden usw.), in anderen besteht die alte koloniale Struktur gleichsam als Petrefakt und auf kleinstem Raum insulär komprimiert bis heute fort: so beispielsweise auf der Insel La Réunion im Indischen Ozean (Inder, Chinesen, Bretonen, Mulatten), einem französischen Département (wie analog FranzösischGuayana im Nordosten Südamerikas, Französisch-Polynesien und Guadeloupe in der Karibik), oder in Gibraltar (Beitrag Haller) – die letzteren stellen dabei insofern Ausnahmefälle dar, als es hier praktisch zu keinerlei Konflikten zwischen den Angehörigen der verschiedenen Kulturen und Religionen kommt! Das hat sicherlich mit der – namentlich in französischen Kolonien – straffer durchorganisierten Verwaltungspraxis (der administration directe), wie sie auf kleinem Raum leichter durchsetzbar ist, und nicht zuletzt auch mit den Vorzügen zu tun, integraler Teil eines europäischen Staates zu sein und so auch in den Genuß des Rechtsgrundsatzes der Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetz zu kommen (wie auch in modernen Vielvölkerstaaten wie den USA und Kanada). Zu Beginn der Entwicklung sah das freilich noch anders aus. Die unterworfenen Kolonialvölker ließen sich unschwer mit den Unterschichten daheim analogisieren. Nur bestanden ihnen gegenüber noch weniger Skrupel. Erzwungene Arbeitsmigration, im Extremfall der transatlantische Sklavenhandel waren die Folge. Doch widersprachen dem mißlicherweise der Missionsauftrag und die Ideale der Aufklärung, die an sich ja für alle Menschen gelten sollten. Indes, die Ziele ließen sich durchaus verbinden. Mission konnte, da es das Gute galt, auch auf gewaltsame Weise durchgeführt werden. Die Franziskaner gaben in Amerika ein Beispiel dafür. Ergänzend zu Tempelzerstörungen und Massentaufen erwies sich als erfolgreichstes Mittel, den Einheimischen die Kinder fortzunehmen, sie in klösterlichen Internaten zusammenzufassen und von kleinauf, unbeeinträchtigt durch den Einfluß ihrer nur oberflächlich bekehrten Eltern, zu guten Christen heranzubilden. Das hatte den willkommenen Nebeneffekt, daß man sie zu verläßlichen Spionen in ihren Familien einsetzen konnte, um herauszufinden, wo etwa heimlich noch heidnische Sakralrequisiten aufbewahrt wurden – mit dem besten Erfolg. In einem Bericht vom 12. Juni 1531 an das Generalkapitel der Franziskaner in Toulouse schreibt Juan de Zumárraga, Ordensbruder und erster Erzbischof von Mexiko:

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Klaus E. Müller »Sie erspähen mit großer Sorgfalt, wo ihre Väter die Idole versteckt haben, und nehmen sie ihnen weg, und sie bringen sie treu unseren Ordensmännern, wofür einige von ihren eigenen Vätern auf unmenschliche Weise getötet wurden – doch sie leben gekrönt in der Glorie mit Christus.«12

Der neue Glaube sollte die störenden kulturellen Divergenzen nivellieren oder doch wenigstens, wie später der Katholizismus in Österreich-Ungarn (Beitrag Stagl), die verschiedenen Völker einigen helfen. Als sich dann ab 1800, gerade aus Kreisen der Gläubigen in den Heimatländern heraus – einen wesentlichen Anteil daran hatten die englischen Freikirchen der Quäker, Methodisten und Baptisten – die Proteste gegen die kolonialen Greuel, wie insbesondere den Sklavenhandel, verstärkten (um schließlich in den Jahren von 1807 bis 1830 zu seinem Verbot zu führen), setzte man, wie schon die Chinesen auf »Sinisierung« (Beitrag Schmidt-Glintzer), vorübergehend auf »Assimilation«. Ziel der vor allem von Portugal und Frankreich betriebenen Politik war, die Kolonialvölker nach der Devise »e pluribus unum« dazu zu bringen, ihre angestammten Kulturen aufzugeben und die ihrer Herren zu übernehmen, um so an den Früchten der Aufklärung teilhaben und Bürger des »Mutterlandes« werden zu können. Da dies insgesamt nur wenig fruchtete, gingen nach dem Ersten Weltkrieg mehr oder weniger alle Kolonialmächte zur »Assoziationspolitik« über, wie sie die Briten bereits mit dem von ihnen bevorzugten Prinzip der »Indirect Rule« praktiziert hatten: Statt die indigenen Strukturen und Institutionen zu zerstören, bedienten sie sich ihrer, was pragmatisch sinnvoller, weil billiger und letztlich effektiver war. Den betroffenen Völkern blieb so eine gewisse Autonomie erhalten. Immerhin war damit der Weg zu späteren Konzepten des »kulturellen Pluralismus« geebnet. Gleichwohl blieb die »Melting Pot-Politik« lebendig. Die potentiellen Konflikte, die multikulturelle Gesellschaften in sich tragen, lösen nun mal Beunruhigung aus. Allein kompromißlose Vereinheitlichung könnte, wie viele meinen, dem wirkungsvoll wehren. Da bisherige Versuche fehlgeschlagen waren, setzte sich Mitte des 19. Jahrhunderts bei denen, die innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft die bittere Erfahrung von Unterdrükkung und Ausbeutung gemacht hatten, die Überzeugung durch, Assimilation könne voll nur durch Revolution erkämpft, das heißt durch die Schaffung klassenloser Gesellschaften, auf nationaler wie auf internationaler Ebene, erreicht werden. Der Möglichkeit, die Idee in die Tat umzusetzen, sahen sich die Sow12 Bey 1995: 33.

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Resümee jets nach ihrer Machtübernahme im Vielvölkerstaat Rußland unmittelbar gegenüber. Handeln schien auch insofern geboten, als einige der ethnischen Minderheiten über wertvolle Naturressourcen verfügten und sich ihre Mehrheit zudem noch an der Peripherie des Reiches befand und so die Gefahr bestand, daß sie unter Fremdeinfluß gerieten, »abtrünnig« wurden und Allianzen mit Nachbarmächten eingingen. Stalin, der anfangs für die Minderheitenpolitik verantwortlich war, machte keinen Hehl aus der Situation: »Zentralrußland, dieser Herd der Weltrevolution, kann sich nicht lange ohne die Hilfe der Randgebiete halten, die Roh- und Brennstoffe sowie Lebensmittel in Hülle und Fülle haben [...] Daher die Notwendigkeit, bestimmte Beziehungen, bestimmte Verbindungen zwischen dem Zentrum und den Randgebieten Rußlands herzustellen, die ein festes, unzerstörbares Bündnis zwischen ihnen sichern.«13

Bei Uneinsichtigkeit war Härte um des höheren revolutionären Zieles willen geheiligt. Prompt kam es in den zwanziger Jahren in den »Randgebieten« zu Aufruhr mit deutlich ethnonationalistischen Tendenzen.14 Letztere wurden gewaltsam erstickt, zum Ausgleich gewährte man den rebellischen Regionen eine begrenzte »Gebietsautonomie«. Sie empfehle sich, versicherte Stalin mit geheuchelter Väterlichkeit, »gerade deswegen, weil sie die zu spät gekommenen [die sowjetische Umschreibung für Unterentwicklung] Nationen in die allgemeine kulturelle Entwicklung einbezieht, ihnen behilflich ist, die Schalen der Abgeschlossenheit kleiner Nationalitäten abzuwerfen, sie vorwärtstreibt und ihnen den Zutritt zu den Gütern der höheren Kultur erleichtert.«15

Im Ergebnis lief das darauf hinaus, daß man den Minderheiten die Pflege ihrer traditionellen Folklore (vor allem Volksmusik und Trachtentänze) zugestand, gleichzeitig aber alles daransetzte, sie so rasch wie möglich und fugenlos der – wie es im Parteijargon der DDR hieß – »sozialistischen Menschengemeinschaft« zu integrieren. Man verwandte für diese Art Lösung des Multikulturalitätsproblems die Formel, es handle sich um »ihrer Form nach nationale und ihrem Inhalt nach sozialistische Kulturen«. Gleichwohl blieb es erklärtes Ziel, alle 13 Stalin 1955: 113f.; vgl. 159f. 14 Stalin 1955: 192f., 197f., 329. 15 Stalin 1955: 79.

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Klaus E. Müller »Voraussetzungen zu schaffen für ihre Verschmelzung zu einer gemeinsamen Kultur mit einer gemeinsamen Sprache in der Periode, da der Sozialismus in der ganzen Welt gesiegt haben wird.«16

Hinter der – zunächst noch – farbenscheinigen Fassade stand die Vision nicht allein eines klassenlosen, »einig« Volkes (»eine Klasse, eine Partei, ein Generalsekretär«), sondern mehr noch eines »neuen«, des »Sowjetmenschen«, voll durchgeprägt von der marxistisch-leninistischen, das heißt einer fundamentalistischen Dachideologie. Die Utopie wirkte zündend auf manchen »Leader« der ersten Stunde nach Gewinn der Unabhängigkeit in den neuen Staaten der Dritten Welt. Dort sah man sich den Problemen der Multikulturalität in ganz besonderem Maße ausgesetzt. Viele Länder umfaßten nicht nur hunderte einzelständiger Ethnien, sie hatten auch mit gebrochenen Traditionen, Entwurzelten in den Städten und verfallenden Institutionen der Kolonialbürokratie zu tun. Männer wie Léopold Sédar Senghor (geb. 1906), von 1960 bis 1981 Präsident der Republik Senegal, oder Kenneth David Kaunda (geb. 1924) und Julius Kambarage Nyerere (1922-1999), beide ebenfalls lange Jahre Staatspräsidenten ihrer Heimatländer Sambia und Tansania, suchten das Heil in der Rückbesinnung auf vermeintlich panafrikanische Gemeinsamkeiten der vorkolonialen Zeit. Alle Genannten dachten dabei hauptsächlich an den dörflichen, quasi »urkommunistischen« (Nyerere) Kommunalismus, gegründet auf verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Solidarität, deren Rückgrat wiederum das Reziprozitäts- und Redistributionsgebot bildeten. Sie waren überzeugt, diese Art verantwortungsbewußter, tätiger Gemeinsinnigkeit lasse sich grenzübergreifend ausbauen zu »nationalen« Konzepten eines spezifisch afrikanischen Sozialismus. Senghor, ein europäisch hochgebildeter Humanist und gefeierter Dichter, umschrieb, was er meinte, unscharf und in Anlehnung an die »Volksgeist«-Ideen der deutschen Romantik, mit dem Begriff »Négritude«17, Kaunda wollte den neuen Sozialismus wesentlich von »humanistischen« Idealen bestimmt sehen.18 Nyerere ging ihn pragmatischer an, indem er überall im Lande sozialistische Musterkommunen, die berühmten »Ujamaa-Dörfer«, entstehen ließ, die Kernzellen und Modell der künftigen tansanischen Gesellschaft sein sollten. Und aller drei Staatsmänner Vision reichte dabei weit über die Grenzen des Kontinents hinaus. Der »afrikanische Sozialismus« könne, so 16 Stalin 1955: 350f. (Hervorhebungen von mir, KEM). 17 Senghor 1968. 18 Vgl. Hatch 1976: 245.

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Resümee hofften sie, exemplarische Bedeutung für alle Völker der Erde gewinnen und zu mehr Brüderlichkeit und Verständnisbereitschaft untereinander beitragen. »Unsere Hochschätzung der Familie, der wir alle angehören«, forderte Julius Nyerere, »muß noch weiter tragen – über den Stamm, die Gemeinschaft, die Nation, ja den Kontinent hinaus –, um die gesamte Menschheit einzuschließen.«19

6. Die Gegenwart Der Sozialismus löste die Probleme bekanntlich nicht, ebensowenig wie sonst eine fundamentalistische Doktrin, zu welcher Zeit und in welchem Land auch immer. Das hat mit vielem zu tun, das hier nicht zur Debatte steht, nicht zuletzt aber auch mit ethnischer, kultureller und religiöser Divergenz. Die Distanz, die benachbarte Gesellschaften ursprünglich hielten, schmolz unter dem Druck des Bevölkerungswachstums, zunächst im Umfeld der Archaischen Hochkulturen, dann weltweit, sowie im Gefolge der zunehmend gewaltsamen kriegerischen Konflikte dahin. Die Ethnien und Völker verschoben und verkeilten sich ineinander, brachen auf oder wuchsen zusammen, viele wurden ausgelöscht, einige wenige ernteten die Früchte der Entwicklung; für die Mehrheit hängen sie heute unerreichbar hoch. Die Probleme verschärfen sich zusehends, namentlich in den Ländern der Dritten Welt, die teils mit einer Vielzahl ethnischer Gemeinschaften, zahlreichen Sprachen und noch mehr Dialekten, entsprechend unterschiedlichen kulturellen Traditionen, mit Gläubigen mehrerer Kirchen und neuerlich auch zahlreicher Kultgemeinschaften und Sekten, dem Bildungsnachlaß des Kolonialismus und in den sprunghaft wachsenden Städten mit einem verdichteten Kaleidoskop von alledem sowie dem ungleichen Nebeneinander von Slum-, Arbeiter- und Großbürgerkulturen samt Europäerkolonien der unterschiedlichsten Nationalität zu kämpfen haben. Die »westlichen« Länder kann das nicht unberührt lassen. Ströme von Arbeitsmigranten, Kriegsflüchtlingen und Asylsuchenden haben zum Teil schon zu ähnlichen Verhältnissen geführt, nur daß die Asymmetrie in der Besitz- und Privilegienverteilung hier noch schärfer ausgeprägt in Erscheinung tritt. Die Anfänge dieser zunächst durch die Industrialisierung bedingten Entwicklung reichen ins 19. Jahrhundert zurück. Länder wie die USA, die »unbegrenzte Möglichkeiten« verhießen, aber auch Staaten im 19 Nyerere bei Hatch 1976: 182; vgl. 214.; Nyerere 1976.

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Klaus E. Müller Grenzbereich zu noch ausgeprägt ländlichen Regionen, wie ÖsterreichUngarn (Osteuropa), Deutschland (Polen) oder Großbritannien (Irland), waren besonders betroffen. Um die Jahrhundertwende bildeten Wien, Budapest, Prag, London und vor allem New York, Chicago und andere Großstädte der Vereinigten Staaten bereits Prototypen urbaner multikultureller Kommunen, wie sie heute in der gesamten »westlichen« Welt praktisch die Regel darstellen, handle es sich um Paris, Berlin, Frankfurt am Main (Beitrag Rebholz), London, New York oder São Paulo und Rio de Janeiro.20 Doch der Druck ist größer geworden. Fremde, der Lebensart wie dem Aussehen, Glauben und der Sprache nach, rücken hart aufeinander. Das weckt »Unbehagen«21, ja Ängste, weil es die vertrauten Lebensbereiche mit ihren »lieben Gewohnheiten«, die Geborgenheit verbürgen, unter Umständen selbst die Privatsphäre einengt, das heißt die familiären, nachbarschaftlichen, beruflichen, glaubensgemeinschaftlichen und so weiter Identitäten zu erschüttern droht. Das »neue Marktangebot« an Moden, »Möglichkeiten, Weltbildern, religiösen Ideen und Einstellungen« verursacht »Gefühle der Orientierungslosigkeit und Überforderung«.22 Vermeintlich verläßliche Sinnsysteme geraten ins Wanken. Konkurrenz und Rivalitäten um Prärogative und Besitzansprüche bauen sich auf, die Spannungen und Konflikte auslösen23, die wiederum Vorurteile und Feindseligkeiten schüren. »Den gegenwärtig lebenden Generationen wird mehr an Veränderung und Anpassung zugemutet, als unsere Vorfahren seit der Erfindung des Rades je zu verkraften hatten.«24

Eine häufige Reaktion auf derartige Bedrängnisse besteht, wie immer schon, in Rückzug und verstärkter Abgrenzung. Konnten sich in früheren Jahrhunderten geängstigte Gruppen noch in unbesiedelte, weniger zugängliche Gebiete absetzen, ist dafür heute kein Raum mehr. Es bleibt und verfestigt sich, aus der Not heraus, eine Art soziales Trutzburgen-Bewußtsein, das entweder in die »innere Emigration« oder zu verhärtetem »Gruppen20 Altermatt 1999: 309f. 21 Claude Lévi-Strauss in einem Interview mit Constantin von Barloewen in der Frankfurter Rundschau vom 13. Januar 2000, S. 9. 22 U. Baumann 1998: 45 (Hervorhebungen im Original); vgl. Soeffner 1998: 248, 251. 23 Eibl-Eibesfeldt 1998: 49; vgl. Musil 1999: 68. 24 U. Baumann 1998: 46.

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Resümee narzißmus«25 führt – nicht nur bei einheimischen, sondern ebenso auch bei Zuwanderer-Gruppen, die auf beharrliche Ablehnung stoßen.26 Purismus im Innern und eherne Intoleranz nach außen bilden die Konsequenz: In Krisenzeiten schlägt »geistige Desorientierung« in »ApartheidDenken« um.27 Schon werden in Rußland Stimmen laut, »Mischehen« zu verbieten, da man befürchten zu müssen meint, sie könnten den Bestand des Volkes und seiner altangestammten Kultur gefährden (Beitrag Müller). Demselben Denken, nur gleichsam zur Strategie der »Vorwärtsverteidigung« gewendet, entspricht die Idee der »Melting Pot-Politik«: Die autochthone Mehrheit sollte danach auf kompromißloser Integration der Minderheiten bestehen. Dies hat zwangsläufig fundamentalistische – ideologische, religiöse oder pseudo-wissenschaftliche – Doktrinen zur Voraussetzung und letzten Endes den »modernen Nationalstaat« im Visier. Die politische Elite entscheidet dabei über die »Leitkultur«.28 Derartige Prozesse sind derzeit zum Beispiel in den jungen – und allesamt multiethnisch zusammengesetzten – türksprachigen Republiken Zentralasiens zu beobachten. In Kasachstan beispielsweise glaubt man den Problemen durch eine konsequent betriebene, als »ethnische Idee« ausgegebene Politik der »Rekasachisierung« (russ. raskazasivanie) beikommen zu können.29 Bedingte Chancen könnten solche Bemühungen um Vereinheitlichung ehestens noch in polyethnischen Miniaturstaaten wie dem britischen Kondominium Gibraltar (Beitrag Haller) besitzen. Dort setzte, nicht von ungefähr unter der anhaltenden Bedrohung durch Spanien, seit den achtziger Jahren eine quasi-nationale Rückbesinnung auf die – zumindest als solche ausgegebene – gemeinsame Geschichte und Kultur ein und gewannen gemeingibraltarische, »nationale« Motive in der Politik zunehmend an Bedeutung – mit dem Ziel, letztlich auch die Unabhängigkeit von Großbritannien zu erreichen. Die eigentliche Geißel derartiger Bestrebungen aber besteht in ihren latenten oder offenen fundamentalistischen Zielsetzungen, ob nun als politische Leitdoktrin oder aus der Opposition heraus (Sowjetsozialismus, Faschismus), ob als säkulare Ideologie oder Religion vertreten (Absolutismus, Christentum, Islam). Im antiken Aphrodisias (Beitrag Chaniotis) lebten autochthone, altgläubige Heiden jahrhundertelang offenbar weitgehend ver^

25 26 27 28 29

U. Baumann 1998: 45. Habermas 1993: 175. Altermatt 1999: 305f. G. Baumann 1999: 18. Brusina 1996: 94 u. passim.; vgl. Mitina 1996.

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Klaus E. Müller träglich mit Juden und Christen zusammen. Das änderte sich radikal mit der »Konstantinischen Wende« (Demandt) und vollends, nachdem unter Theodosius 380 das Christentum zur allein legitimen Religion erklärt worden war und ein unüberbrückbarer Dissens zwischen der traditionellen Toleranzpraxis der Römer und dem christlichen Monotheismus mit seinem Absolutheitsanspruch entstand. Der allein seligmachende Glaube duldete keine anderen Götter neben sich. Es begann ein Jahrhunderte währender grausamer und blutiger »Kreuzzug« wider Andersdenkende und »Ungläubige«. Wohin das führt, lehrt die Geschichte: zur Pax Romana oder Pax Tatarica auf der einen, zu Totalitarismus, religiösem Fanatismus und Nationalismus auf der anderen Seite. Nationalismus, verstanden als ethnische Abstammungsgemeinschaft (»Ethnochauvinismus«), wie man das bis Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa verstand (und in Zentralasien zu verstehen beginnt), ist angesichts der de facto und ubiquitär real existierenden Multikulturalität eine pure Fiktion.30 »Der Ethnonationalismus erwies sich als Sackgasse«.31 Politisch verordnete Toleranz dagegen, ob von den Römern oder selbst den Mongolen praktiziert, trug sichtbar Früchte, gerade weil sich das Friedensgebot aus kommerziellen Interessen speiste. Die uralte Institution des Marktes liefert das elementare Paradigma dafür: Sie schuf den Rahmen für eine ebenso konfliktfreie wie kommerziell lohnende Begegnung unterschiedlicher Völker und Glaubensgemeinschaften. Ihre eigene Rechtshoheit bot Verfolgten Asyl. Neben Waren wurden auch Informationen umgeschlagen, neben Verträgen auch neue Bündnisse geschlossen. Märkte boten Alternativen feil, die Voraussetzung für Neuorientierungen, noch unerprobte Kombinationen – kurz: für Innovationen waren. Erkenntnis lebt vom Widerspruch, der als Problem erfahren wird, was die Überprüfung des bislang für gesichert Gehaltenen erzwingt und so die Bereitschaft weckt, Alternativen ernst zu nehmen und neue Lösungsmöglichkeiten zu erkunden. Viele Völker haben davon profitiert, nicht nur die Römer oder Chinesen (Beitrag Schmidt-Glintzer), sondern in der Neuzeit etwa auch Deutsche in der geistigen Auseinandersetzung mit ihren französischen Nachbarn, sowie Russen oder Japaner, die bereit waren, Anregungen europäischer Kulturen aufzunehmen. Kulturelle Vielfalt – in bestimmten Grenzen allerdings, damit sie nicht in die Desorientierung und

30 Altermatt 1999: 315. 31 Altermatt 1999: 314.

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Resümee letztlich zur Handlungsunfähigkeit führt – schärft kognitive Flexibilität, weckt Kreativitätspotentiale, trägt zur Entfaltung individueller Neigungen und Talente bei32 und stärkt »im Austausch mit anderen« das Entscheidungsvermögen.33 »Wir lernen«, beschreibt Charles Taylor die Chancen, die sich mit kultureller Vielfalt verbinden, »uns in einem erweiterten Horizont zu bewegen, in dem wir das, was uns vorher als die selbstverständlichen Koordinaten unserer Urteile erschien, nun als mögliche Koordinaten neben denen der uns bislang nicht vertrauten Kultur wahrzunehmen vermögen.« Allerdings sei »die Bedingung, daß wir durch die Auseinandersetzung mit dem Anderen selbst eine Veränderung erfahren, also nicht mehr bloß nach unseren ursprünglichen Wertmaßstäben urteilen.«34 Nicht Homo-, sondern Heterogenität bildet die notwendige Voraussetzung dafür.35 Aber eben hier liegt für Glaubensgemeinschaften, die nicht anders als vom Wahrheitsanspruch ihrer Lehre ausgehen können, das Problem. Bei aller Bereitschaft zum »interreligiösen Dialog« lassen auch sozusagen »bekennende Ökumeniker« wie der katholische Theologe Urs Baumann keinen Zweifel daran, daß eine Veränderung im Taylorschen Sinne, die eine Revision der eigenen Wertmaßstäbe nach sich zöge, keinesfalls in Betracht kommen kann. Zwar solle man »sich in das Selbstverständnis Andersgläubiger einfühlen und die eigene Sache selbstkritisch mit den Augen der anderen sehen«, doch dürfe das nicht dahin führen, »daß man seine eigene Sache fahrlässig [sic] zur Disposition stellt, so daß der interreligiöse Dialog am Ende doch auf einen billigen [sic] Synkretismus hinauslaufen würde, der an der Wahrheitsfrage letztlich nicht mehr interessiert wäre.«36 Das Gespräch setze voraus, »daß die Dialogpartner gleichzeitig ihrer eigenen Sache treu bleiben«.37 Zwar könne es »kein Monopol auf Wahrheit« geben, doch »durchaus ein Bekenntnis zur Wahrheit«. Schwer nachzuvollziehen, wie sich das zusammenreimen soll. Ein Miteinander nach der Maxime: »Für mich ist meine Religion die wahre Religion, aber ich anerkenne, daß für dich deine Religion die wahre Religion ist«38, liefe bestenfalls auf

32 33 34 35 36 37 38

U. Baumann 1998: 44f. Taylor 1993: 21f. Taylor 1993: 63f., 68. Krupat 1992: 3. U. Baumann 1998: 172. U. Baumann 1998: 173. U. Baumann 1998: 174 (Hervorhebungen im Original).

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Klaus E. Müller bloße Tolerierung, nicht echte Kommunikations- und Verständnisbereitschaft hinaus. Jede Krise liefe sofort Gefahr, die alten Vorurteile und Feindseligkeiten heraufzubeschwören. Ethnologisch gesehen erscheint es, zunächst jedenfalls, durchaus ratsam, ethnisch oder wie sonst immer definierten Minderheiten, soweit sie selbst darauf Wert legen, die Möglichkeit einzuräumen, ihre angestammten Traditionen zu wahren und sich dadurch ihre Gruppenidentität zu erhalten, was notwendig auch eine gewisse Abgrenzung nach außen hin einschließt. Erst dadurch gewinnt kulturelle Vielfalt klarkonturierte, stabile, weil innergemeinschaftlich standardisierte Formen, mit denen sich verläßlich umgehen läßt, und stehen sich annähernd gleichständige, autonome Partner gegenüber, die in einen echten, ungezwungenen Dialog treten können.39 Auf der anderen Seite jedoch darf Abgrenzung nicht zu minoritärer Selbstisolation führen, sondern muß gleichzeitig und komplementär mit der Bereitschaft verbunden sein, den »anderen« nicht lediglich zu tolerieren und großzügig seine abweichenden Auffassungen zur Kenntnis zu nehmen, sondern eben auch von ihm zu lernen, das heißt sich selbst zu verändern – in seinen Ansichten, Urteilen, Verhaltensgewohnheiten usw. mehr. Im kleinen funktioniert das bereits – häufiger und besser, als die Schlagzeilen von gegenteiligen Vorkommnissen vermuten lassen. Zunehmend verlassen Angehörige ethnischer Minderheiten die Stadtviertel und Häuserblocks, die sie bislang miteinander teilten, und ziehen in Wohnungen oder erwerben Häuser in Siedlungsgebieten der einheimischen Bevölkerung. Dadurch kommt es zwangsläufig zu regelmäßigen Kontakten unter Nachbarn. Die Kinder spielen miteinander und gehen gemeinsamen zur Schule. Ihre wechselseitigen Besuche bringen auch die Eltern einander näher. Man hilft sich bei der Betreuung, bei Schulaufgaben oder in Notfällen. Derartige informelle Regelkontakte tragen, wie mittlerweile auch zahlreiche Untersuchungen bestätigt haben, ganz entscheidend dazu bei, Vorurteile zu relativieren und nicht nur Interesse und Verständnis für die »Kultur« des Nachbarn zu wecken40, sondern, und das erscheint mir sehr viel wichtiger, auch die Gemeinsamkeiten zu entdecken. Jugendliche spielen eine erhebliche Rolle dabei, haben allerdings keinen leichten Stand; denn ihre Vermittlungsposition kann allzuleicht beiderseits auf Mißverständnisse stoßen. Ihre Maxime kann daher lauten: »Möglichst korrekt bleiben«, um nirgendwo anzuecken (Beitrag Rebholz). Die 39 Barth 1969: 19. 40 Musil 1999: 69.

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Resümee Notwendigkeit, sich ihren Lebensunterhalt in Institutionen des Aufenthaltslandes zu verdienen, treibt »Entwurzelung« und Assimilierung stärker als bei den älteren Generationen voran. Die Vorbehalte gegenüber »Mischehen« schwinden allmählich. Durch sie treten nicht nur die Eheleute selbst, sondern auch ihre Familien in feste Beziehungen ein. Und spätestens in der Folgegeneration derartiger Verbindungen sollten sich Vorurteile und Mißtrauen vollends verlieren. Vermutlich wird sich, auf die Dauer zumindest, eher auf diesem Weg ein Großteil der Probleme lösen lassen. Die rechtlichen Voraussetzungen zu einem geregelten Zusammenleben multikultureller Mehrheiten und Minderheiten bestehen bereits. Laut Artikel 27 des UN-Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte von 1966 haben Minderheiten Anspruch darauf, »ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, sich zu ihrer eigenen Religion zu bekennen und sie auszuüben und sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen« (Beitrag Müller). In Europa wurden entsprechende Richtlinien mehrfach in den KSZEVereinbarungen formuliert. In der Pariser Schlußakte vom 21. November 1990 ist so zum Beispiel festgelegt, »daß die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität nationaler Minderheiten Schutz genießen muß und daß Angehörige nationaler Minderheiten das Recht haben, diese Identität ohne jegliche Diskriminierung und in voller Gleichheit vor dem Gesetz frei zum Ausdruck zu bringen, zu wahren und weiterzuentwickeln.«41

Und noch einmal wurde die Wahrung der »kulturellen Vielfalt« dezidiert in den Verträgen von Maastricht (1991) und Amsterdam (1997) garantiert.42 Allerdings sind diese Festsetzungen im Rahmen der neuzeitlichen Vertragstheorien zu verstehen. Zeitgenössischer Rechtsauffassung zufolge regeln sie lediglich generell, was für alle Bürger als gut und gerecht im Sinne des gebotenen friedfertigen Zusammenlebens zu gelten hat. Gesetzgeber und staatliche Ordnungsorgane haben sich grundsätzlich neutral in bezug auf Vorstellungen des Guten zu verhalten, nach denen einzelne oder Gruppen meinen, ihr Leben führen zu sollen. Der Staat ist danach nicht autorisiert, die Ansichten und Lebensformen seiner Bürger – sofern sie nicht die Rechte anderer, also das Gemeinwohl, verletzen – zu bewerten:

41 Geier 1999: 53. 42 Forstner 1999: 145f.

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Klaus E. Müller »Politische Maßnahmen dürfen nicht durch die Berufung auf Vorstellungen des Guten begründet werden, die nicht von allen Bürgern geteilt werden.«43

Diese Kriterien entsprechen den Prinzipien des demokratischen Föderalismus, zu dem sich, da mehr noch als in der Vergangenheit auch in Zukunft ethnische und kulturelle Komplexität den Regelfall darstellen werden, eine realistische Alternative ohnehin kaum denken läßt. Funktionsfähig können föderalistische Staaten freilich nur sein, wenn – und darin stimmen nahezu alle Autoren überein – die Teilgruppen stabile Identitäten besitzen44, was voraussetzt, • daß sie, zumindest vorübergehend, geschlossene Siedlungsareale (Stadtviertel, Straßenzüge, Regionen) einnehmen können45, das heißt sich auch von anderen »mehr oder weniger territorial voneinander abgrenzen lassen«46; das elementare Bedürfnis dazu belegen Beispiele aus aller Welt (vgl. die ethnische Siedlungsstruktur in Großstädten sowie regionale Autonomieansprüche in Indien, Afrika oder Europa)47; • daß sie die Möglichkeit haben, die ihnen rechtlich garantierte Eigenständigkeit auch tatsächlich zu entfalten. Das elementare Bedürfnis danach ist unbestritten. Taylor betont seine Bedeutung unter Rückverweis auf Johann Gottfried von Herder (1744-1803).48 Das empfiehlt sich laut Jürgen Habermas auch schon um der Chancen willen, die daraus für alle erwachsen: »In multikulturellen Gesellschaften bedeutet die gleichberechtigte Koexistenz der Lebensformen für jeden Bürger eine gesicherte Chance, ungekränkt in seiner kulturellen Herkunftswelt aufzuwachsen, [...] sich mit dieser Kultur – wie mit jeder anderen – auseinanderzusetzen, sie konventionell fortzusetzen oder sie zu transformieren, auch die Chance, sich von ihren Imperativen gleichgültig abzuwenden oder selbstkritisch loszusagen«49; • daß die verbürgte Divergenz auch allgemeine und öffentliche Anerkennung findet, was nicht einer generellen Wertschätzung aller Einzelkulturen entsprechen muß, zumal es an allgemeingültigen Wertmaßstäben 43 44 45 46 47 48 49

Huster 1997: 4f. (Hervorhebung von mir, KEM). Barth 1969: 19. Vgl. Altermatt 1999: 310ff. Habermas 1993: 171. Vgl. Altermatt 1999: 305. Taylor 1993: 20. Habermas 1993: 175.

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Resümee dazu fehlt und die Versuchung, sich von eurozentrischen Kriterien leiten zu lassen, rasch bei der Hand wäre.50 »Das Recht auf gleichen Respekt, den jeder auch in seinen identitätsbildenden Lebenszusammenhängen beanspruchen darf, hat nichts mit der vermuteten Exzellenz seiner Herkunftskultur, also mit allgemein goutierten Leistungen zu tun«51: Die politische Staatsbürgerschaft wäre dezidiert von der ethnischen, kulturellen oder religiösen Identität zu scheiden.52 In eben dem Sinne wird bereits von der »Wiederentdeckung ethnischer und kultureller Identitäten« gesprochen.53 Ihre konfliktfreie Koexistenz – gleichsam gemäß der Markt-Metapher – ist allerdings nur dann verbürgt, wenn alle sich ihrerseits zur Treue gegenüber den konstitutionellen Normen und Verfassungsprinzipien des Staates verpflichten, in dessen territorialen Grenzen sie leben, das heißt uneingeschränkt seine Rechtshoheit anerkennen.54 Denn allein unter dieser Voraussetzung lassen sich, ganz im Sinne des klassischen Funktionalismus, demzufolge die Rechtsordnung (Kultur) eines Gemeinwesens die übergeordnete Funktion erfüllt, die Leistungen aller Teilgrößen so zu koordinieren, daß alles störungsfrei funktioniert und der Erhalt des Ganzen gewährleistet erscheint, Divergenz- und Autonomieansprüche legitim verfechten und die Wahrung der Menschenrechte gewährleisten. »Ebendieser politische Mix einer universalistischen Bürgerrechtsdefinition (alle Bürger sind, ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Glaubens, vor dem Gesetz gleich) und einer ›Politik der Anerkennung‹ [unter Bezug auf Taylor] im Hinblick auf ihre Besonderheiten bildet den Kern des Multikulturalismus.«55

Diese Bedingungen komplexer Gemeinstaatlichkeit sicherzustellen, ist Aufgabe moderner, jetzt wie in Zukunft per se multikulturalistisch strukturierter Demokratien, so daß sich der Nationalstaatsgedanke alter und verhängnisvoller Art überwinden und ein föderaler Aufbau von der kommunalen Ebene zuunterst über autonome Regionalverbände nach dem bewährten Muster der Schweiz oder auch Kanadas, Spaniens, Singapurs (Bei50 51 52 53 54 55

Taylor 1993: 68f. Habermas 1993: 173. Taylor 1993: 53, 59ff.; Eibl-Eibesfeldt 2000: 83; Altermatt 1999: 312, 315, 318. Kazancigil 1999: 21. Habermas 1993: 177, 183f.; Kazancigil 1999: 21f. Kazancigil 1999: 23; vgl. Taylor 1993: 28f., 33, 43, 47ff.

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Klaus E. Müller trag Ackermann) und dem Modell Valery Tishkovs für Rußland (Beitrag Müller) bis hinauf zum Konzept der Europäischen Union verwirklichen läßt. Eine »doppelte Staatsbürgerschaft« würde dem nur im Wege stehen, weil sie unter Umständen einen »Diaspora-Effekt« auslösen könnte und gegebenenfalls zu Interessen- und Loyalitätskonflikten gegenüber den Herkunftsländern führen müßte.56 Zur intrasozietären Verklammerung ließen sich hinreichend Lehren aus Ethnologie und Geschichte ziehen. In dieser Hinsicht wäre zum Beispiel an grundlegende Formen der Arbeitsteilung und die daraus folgenden Dependenzbeziehungen, ganz besonders aber an die nach wie vor gültige und hochwirksame Funktion der Reziprozitäts-, mehr noch, da es sich heute so gut wie ausschließlich lediglich um hierarchische Stufenverbundsysteme handelt, der Redistributionsverpflichtung (Beitrag Müller) zu erinnern. Vielleicht ließe sich sogar auch an eine Wiederbelebung mancher bewährter Institutionen wie der »Pflegekindschaft« (Beitrag Müller) denken, um kulturell alternierende Gruppen – über Zwischenheiraten hinaus – enger aneinander zu binden, zumal analoge, allerdings eher lockere Formen bereits in persönlichen, institutionellen (Vereine, Schulen, Gemeinden) und kommunalen »Partnerschaften« bestehen und sich sogar zu mehren scheinen. Der Aufbau ethnokulturell komplexer Gemeinwesen setzt allerdings voraus, daß die Zusammensetzung der Bevölkerung zumindest mittelfristig annähernd konstant bleibt, so daß sich die notwendigen Identitäten auch ausbilden und stabilisieren können. Größere Zuwanderungen in rascher Folge würden den Prozeß der Konsolidierung immer wieder aufs neue stören, die staatliche Kontrolle erschweren und unter allen Bevölkerungsteilen Desorientierung und Verunsicherung auslösen, was nicht gleich zu einem »sozialen und ökologischen Dumping« führen muß57, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber weiterhin Vorurteile und Fremdenhaß schüren würde. Indes ist mit derartigen Konfliktträchtigkeiten immer und nicht nur während der Entstehungsprozesse föderaler Gemeinwesen zu rechnen, da sie in den Voraussetzungen und Geltungskriterien der Identitätsideologie selbst begründet liegen. Abgesehen von dem Hauptkontrollinstrument der staatlichen Rechtshoheit wird hier, gerade auch kirchlicherseits, immer wieder zur Prophylaxe praktizierte Toleranzbereitschaft empfohlen, die in-

56 Eibl-Eibesfeldt 2000: 78f. 57 Eibl-Eibesfeldt 2000: 76f.

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Resümee des zwei grundsätzlichen Bedenken begegnet: Sie verstetigt Distanz und gründet sich, namentlich im Falle religiöser Toleranzgebote, auf fundamentalistische, zumindest proto- oder potentiell fundamentalistische Positionen. Ein »interreligiöser Dialog« bleibt daher, wie oben gezeigt, in sich widersprüchlich und führt bestenfalls zu wohlgemeinten Adhortationen, wie einander geduldig zuzuhören und im Umgang gewaltlos zu begegnen. Die »Weltethoserklärung« des sogenannten »Parlaments der Weltreligionen« vom 4. September 1993 erschöpft sich denn auch in puren Trivialitäten, die niemanden tatsächlich zu etwas verpflichten. Als »Grundforderung« wird beispielsweise empfohlen: »Jeder Mensch muß menschlich behandelt werden«, als »goldene Regel« deklariert: »Was du nicht willst, das man dir tut, das füg’ auch keinem anderen zu«.58 Religiöse Grundsätze sollten, da sie vom Ansatz her nicht konsensfähig sind, beim Aufbau multikultureller föderalistischer Gemeinwesen keinerlei Rolle spielen. Erst recht »schließt die politische Integration«, wie Habermas unterstreicht, »fundamentalistische Einwandererkulturen aus«.59 Eher erscheint bedenkenswert, eine säkulare »universalistische Metaethik« zu entwickeln, wie der Philosoph Karl-Otto Apel (Beitrag Müller) und andere angeregt haben. Dazu müßten allerdings erst noch ethnologische und kulturwissenschaftliche Untersuchungen auf breitester Vergleichsgrundlage durchgeführt werden, um nicht zuletzt den bislang nur vage formulierten und zudem auf europäische Geistestraditionen gegründeten »Menschenrechten« eine allseits plausible Fundierung zu verleihen, die es auch erlaubte, sie politisch in geltendes Recht umzusetzen. Das erscheint, ethnologisch gesehen, immerhin realistisch. Claude Lévi-Strauss, der die ethnologischen Kenntnisvoraussetzungen dazu besitzt, äußert sich allerdings höchst skeptisch dazu. Dem »Unbehagen«, das der zunehmende Druck multikultureller Komplexität bei den Menschen auslöse, suchten sie sich durch die Flucht in den Traum »von einer universalen Ethik« zu entziehen. Allein »zur Zeit entdeckt man ständig neue Rechte, und selbst die Vorstellung von Menschenrechten wird verwässert oder für nichtig erklärt, indem man sie bestimmten Interessen unterordnet. In bezug auf eine universale Ethik würden wir uns wohl auf die Formel einigen, daß alle Menschen das Recht haben, glücklich zu sein. Ein sol-

58 U. Baumann 1998: 165f., 168ff. 59 Habermas 1993: 184.

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Klaus E. Müller cher Zustand wäre zwar wünschenswert, aber meiner Meinung nach wird er niemals eintreten.«60

Sicherlich nicht, schon aus Gründen der Identitätsgesetzmäßigkeiten heraus. Doch wäre schon viel gewonnen, wenn es gelänge, die generellen Prinzipien und Normen des friedfertigen wie unfriedfertigen Zusammenlebens in und unter Gruppen zu bestimmen und das Gebot der einen wie die Ächtung der anderen rechtskräftig festzusetzen. Das würde verbürgen, daß die Menschen, welcher Herkunft, Kultur- und Glaubenszugehörigkeit sie immer auch sind, wenn schon nicht allezeit glücklich, so doch in Rechtssicherheit leben könnten. Multikulturalität ist, seit Jahrtausenden schon, die conditio sine qua non der menschlichen Überlebensfähigkeit. Um so mehr stellt sich die Aufgabe, ihre moralischen und verhaltensgesetzmäßigen Grundlagen klar zu bestimmen und ihr den erforderlichen normativ-rechtlich verpflichtenden gesetzlich fixierten Rahmen zu verleihen.

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60 Claude Lévi-Strauss im Interview mit Constantin von Barloewen in der Frankfurter Rundschau vom 13. Januar 2000, S. 9.

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Resümee . vopros« v Kazachstane. In: Etniceskij faktor v sovremennom social’nopoliticeskom razvitii Kazachstana. Moskva. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus, 1998: Us and the others: the familial roots of ethnonationalism. In: Irenäus Eibl-Eibesfeldt & F. K. Salter (eds.): Indoctrinability, ideology, and warfare: evolutionary perspectives. Oxford: S. 21-53. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus, 2000: Die Konkurrenzfalle – Sind wir fähig, unsere Zukunft verantwortlich zu gestalten? In: Die europäische Seele: ein interdisziplinärer Dialog. Wien: S. 59-86. Forstner, Martin, 1999: Das EU-Dogma der »kulturellen Vielfalt« und seine Auswirkungen auf die Religionen im allgemeinen und auf den Islam im besonderen. In: Ernst-Peter Brezovszky et al. (Hg.): Multikulturalität und Multiethnizität in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Frankfurt am Main: S. 145-169. Geier, Wolfgang, 1999: Multiethnische und multikulturelle Konfliktlagen im östlichen und südöstlichen Europa. In: Ernst-Peter Brezovszky et al. (Hg.): Multikulturalität und Multiethnizität in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Frankfurt am Main: S. 37-55. Habermas, Jürgen, 1993: Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat. In: Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main: S. 147-196. Hatch, John, 1976: Two African statesmen: Kaunda of Zambia and Nyerere of Tanzania. London. Heissig, Walther, 1964: Ein Volk sucht seine Geschichte: die Mongolen und die verlorenen Dokumente ihrer großen Zeit. Düsseldorf. Huster, Stefan, 1997: Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. Das Kreuz in der Schule aus liberaler Sicht. In: ZiF: Mitteilungen 1997 (3): S. 4-8. Izikowitz, Karl G., 1969: Neighbours in Laos. In: Fredrik Barth (ed.): Ethnic groups and boundaries: the social organization of culture difference. Bergen-Oslo: S. 135-148. Kazancigil, Ali, 1999: Multiculturalism: a democratic challenge for Europe. In: Ernst-Peter Brezovszky et al. (Hg.): Multikulturalität und Multiethnizität in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Frankfurt am Main: S. 21-33. Koch, Hannsjoachim W., 1973: Der Sozialdarwinismus: seine Genese und sein Einfluß auf das imperialistische Denken. München. Krupat, Arnold, 1992: Ethnocriticism: ethnography, history, literature. Berkeley. ^

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Klaus E. Müller Mitina, Dar’ja Aleksandrovna, 1996: Migracionnye processy i tendencii . . etnosocial’nogo razvitija v Kazachstane (1991 – 1995 gg.). In: Etniceskij faktor v sovremennom social’no-politiceskom razvitii Kazachstana. Moskva: S. 15-29. Müller, Klaus E., 1992: Identität und Geschichte. Widerspruch oder Komplementarität? Ein ethnologischer Beitrag. In: Paideuma 38: S. 17-29. Müller, Klaus E., 1996: Der Krüppel: Ethnologia passionis humanae. München. Musil, Jiri, 1999: Conflict potential of multiculturalism. In: Ernst-Peter Brezovszky et al. (Hg.): Multikulturalität und Multiethnizität in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Frankfurt am Main: S. 63-70. Nyerere, Julius K., 1976: Freiheit und Entwicklung: aus neuen Reden und Schriften von Julius K. Nyerere. 2. Aufl. Stuttgart. Prawdin, Michael, 1957: Tschingis-Chan und sein Erbe. 3. Aufl. Stuttgart. Schakir-zade, Tahir, 1931: Grundzüge der Nomadenwirtschaft: Betrachtung des Wirtschaftslebens der sibirisch-centralasiatischen Nomadenvölker. Bruchsal. Schott, Rüdiger, 2000: Schriftlose Geschichte in akephalen Gesellschaften der westafrikanischen Savanne. In: Saeculum 51, 2: S. 175-190. Senghor, Léopold Sédar, 1968: Afrika und die Deutschen. Tübingen. Soeffner, Hans-Georg, 1998: Zum Verhältnis von Kunst und Religion in der »Spätmoderne«. In: Dieter Fritz-Assmus (Hg.): Wirtschaftsgesellschaft und Kultur. Gottfried Eisermann zum 80. Geburtstag. Stuttgart: S. 239-255. Stalin, Jossif, 1955: Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage: eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden. 3. Aufl. Berlin. Taylor, Charles, 1993: Die Politik der Anerkennung. In: Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main: S. 13-78. ^

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Die Autoren

Die Autoren

Andreas Ackermann, geboren 1963. Studium der Ethnologie, Europäischen Ethnologie und Kunstgeschichte in Frankfurt a.M. Forschungsschwerpunkte: Multikulturalität und Migration. Zur Zeit Habilitationsstudie über die Diasporisierung kurdischer Yeziden in Deutschland. Veröffentlichungen u.a.: Ethnic Identity by Design or by Default? A Comparative Study of Multiculturalism in Singapore and Frankfurt am Main. Frankfurt am Main, 1997; »Ethnologische Migrationsforschung – ein Überblick«. In: kea 10, Winter 1997, 1-28; »Das virtuelle Universum der Identität: Überlegungen zu einer Ethnographie des Cyberspace«. In: S. Schomburg-Scherff und B. Heintze (Hg.): Die offenen Grenzen der Ethnologie. Frankfurt am Main, 2000. Angelos Chaniotis, geboren 1959. Studium der Alten Geschichte und Archäologie an den Universitäten Athen und Heidelberg. Professor für Alte Geschichte an der Universität Heidelberg. Seine Forschungen gelten vor allem der Geschichte der Institutionen, der Religion und der Gesellschaft im griechischen Osten im Hellenismus und in der Kaiserzeit. Mitherausgeber des Supplementum Epigraphicum Graecum. Veröffentlichungen u.a.: Historie und Historiker in den griechischen Inschriften. Epigraphische Beiträge zur griechischen Historiographie. Stuttgart, 1988; Die Verträge zwischen kretischen Städten in der hellenistischen Zeit. Stuttgart, 1996. Alexander Demandt, geboren 1937. Studium der Geschichte, Latein und Philosophie in Tübingen, München und Marburg. Seit 1974 Professor für Alte Geschichte an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Spätantike, Geschichtstheorie und -philosophie, Wissenschaftsgeschichte. Neuere Veröffentlichungen: (Hg.): Mit den Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München, 1995; Geschichte der Geschichte. Wissenschaftshistorische Essays. Köln 1997; Die Kelten, München, 32000. Sternstunden der Geschichte, München, 32001. Dieter Haller, geboren 1962. Studium der Ethnologie, Hispanistik und Soziologie in Sevilla und Heidelberg. Feldforschungen in Sevilla und Gibraltar. Habilitation in Frankfurt/Oder zum Thema Transnationalismus, Lokalität und Identität in Gibraltar. Neuere Veröffentlichungen: Transcending Locality – the Diaspora Network of Sephardic Jews in the Western Medi309

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Die Autoren terranean, in: Anthropological Journal on European Cultures, 2001, 9, 1: 3-31; Herausgeber des kea-Sonderheftes 14, 2001: »Heteronormativität«; Mit H. Donnan Herausgeber des Ethnologia Europaea Special Issue: Border Anthropology, 2000; Gelebte Grenze Gibraltar – Transnationalismus, Lokalität und Identität in kulturanthropologischer Perspektive. Wiesbaden, 2000. Klaus E. Müller, geboren 1935. Studium der Philosophie, Musik- und Theaterwissenschaft, Turkologie, Mongolistik und Ethnologie in München. Feldforschungen in der Türkei, Kurdistan und Nordpakistan. Prof. emer. für Ethnologie in Frankfurt, jetzt Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und dem Wissenschaftskolleg Delmenhorst. Neuere Veröffentlichungen: Der Krüppel. Ethnologia passionis humanae. München, 1996; Der gesprungene Ring. Wie man die Seele gewinnt und verliert. Frankfurt am Main, 1997; Die fünfte Dimension. Soziale Raumzeit und Geschichtsverständnis in primordialen Kulturen. Göttingen, 1999; Wortzauber. Eine Ethnologie der Eloquenz. Frankfurt am Main, 2001. Jörn Rebholz, geboren 1964. Studium der Kulturanthropologie und Historische Ethnologie sowie Erziehung und Internationale Entwicklungen in Frankfurt a.M. Durchführung interkultureller Projekte – z.B. für das Amt für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt a.M. Inzwischen für eine Personalberatung tätig. Veröffentlichungen u.a.: Im Kamerun. Ein Frankfurter Stadtteil und seine »fremden« Jugendlichen. In: I.-M. Greverus u.a. (Hg.): STADTgedanken. Frankfurt a.M., 1994; Religionen der Welt in Frankfurt a.M. Frankfurt a.M., 1997 (m. Stefan Rech); Spurensuche im heiligen Bezirk. In: I.-M. Greverus u.a. (Hg.): Frankfurt a.M.: ein kulturanthropologischer Stadtführer. Frankfurt a.M., 1998 (m. Stefan Rech). Helwig Schmidt-Glintzer, geboren 1948. Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und Professor für Sinologie an der Universität Göttingen. Arbeitsschwerpunkte sind Chinas Geschichte, die Geschichte der politischen Kultur in China sowie die Rekonstruktion der Geschichte Eurasiens. Herausgeber der Schriften Max Webers zu Indien und China im Rahmen der Max Weber Gesamtausgabe. Neuere Veröffentlichungen: Geschichte der chinesischen Literatur. München, 21999; Geschichte Chinas bis zur mongolischen Eroberung. München, 1999; Wir und China – China und wir. Göttingen, 2000; Das alte China. München, 32001; Das neue China. München, 22001.

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Die Autoren Justin Stagl, geboren 1941. Studium der Ethnologie, Psychologie, Linguistik und Soziologie in Wien, Leiden und Münster. Promotion Wien 1965, Habilitation (»Soziologie mit Einschluß der Ethnosoziologie«) Salzburg 1973. Professor der Soziologie in Salzburg. Veröffentlichungen u.a.: Kulturanthropologie und Gesellschaft. Eine wissenschaftssoziologische Darstellung der Kulturanthropologie und Ethnologie. Berlin, 1981; A History of Curiosity: The Theory of Travel 1550-1800. Chur, 1995.

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