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German Pages XIV, 328 [362] Year 2014
Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts herausgegeben von Thomas Duve, Hans-Peter Haferkamp, Joachim Rückert und Christoph Schönberger
76
Lutz Martin Keppeler
Oswald Spengler und die Jurisprudenz Die Spenglerrezeption in der Rechtswissenschaft zwischen 1918 und 1945, insbesondere innerhalb der „dynamischen Rechtslehre“, der Rechtshistoriographie und der Staatsrechtswissenschaft
Mohr Siebeck
Lutz Martin Keppeler, geboren 1981; Studium der Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln und der Universidad da Coruña; 2012 Promotion; zugelassen als Rechtsanwalt bei der Rechtsanwaltskammer Köln.
ISBN 978-3-16-152769-2 / eISBN 978-3-16-160412-6 unveränderte eBook-Ausgabe 2021 ISSN 0934-0955 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und V erarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.
Für Steffi, Nicklas und Noah
Vorwort Vorwort
Diese Arbeit wurde von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Sommersemester 2012 als Dissertation angenommen. Bevor es so weit kam, wurde mir umfangreiche Unterstützung zuteil. Wenn man über vier Jahre der Frage nachspürt, welche Einflüsse auf die untersuchten Autoren gewirkt haben, ist es ein besonderes Vergnügen offenzulegen, von welcher Seite man selber Hilfe erhalten hat. Zuförderst ist hier Herr Prof. Dr. Hans Peter Haferkamp zu nennen, der mich bei meiner Promotion sehr unterstützt hat. Bereits als studentische Hilfskraft durfte ich in seinem Institut erleben, wie er durch die „Montagsrunde“ eine Atmosphäre schuf, in der jeder intellektuell wachsen konnte. Die dort praktizierte Vorstellung fremder Dissertationen und eigener Forschungen beflügelte die Abfassung dieser Dissertation. Da neben Prof. Haferkamp auch Prof. Dr. Dieter Strauch und Prof. Dr. Klaus Luig – denen ich hiermit auch danke – regelmäßig an der Montagsrunde teilnahmen, umfasste die Mischung aus Kritik und Anregung häufig ein breites Spektrum. Trotz aller professoralen Präsenz schaffte es Prof. Dr. Haferkamp jedoch zugleich eine Atmosphäre zu schaffen, in der „dumme Fragen“ erlaubt waren, sodass der Lerneffekt bereits für Studenten ungeheuerlich groß sein konnte. Während die Universität um mich herum „verbachelorte“, durfte ich also in einem Hort des Nachdenkens studieren und später als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig sein. Dies förderte die Dissertation ungemein und dafür muss deutlich Danke gesagt werden. Mit großem Interesse hat auch Prof. Dr. Martin Avenarius die Entstehung dieser Arbeit begleitet. Er bot mir neben allgemeinen Anregungen, Hinweisen auf Spenglernennungen und Übersetzungshilfen auch die Möglichkeit, Teile der Arbeit im Kreis seiner eigenen Doktoranden vorzustellen. Weitere Anregungen erhielt ich bei der Präsentation meiner Ideen innerhalb der Rheinisch-Westphälischen-Graduiertenschule und während der Summer School des Max Planck Institutes für europäische Rechtsgeschichte. Allen Organisatoren und Teilnehmern dieser Veranstaltungen sei daher herzlichst gedankt.
VIII
Vorwort
Prof. Dr. Reinhard Mehring muss ich dafür danken, dass er mir bei aufkommenden Unsicherheiten zu Carl Schmitt mit der raschen Beantwortung einiger Fragen zur Seite gestanden hat. Ich kann mich an viele Diskussionen über meine Arbeit am Institut für neuere Privatrechtsgeschichte der Universität zu Köln erinnern. Als besonders fruchtbar habe ich die jederzeitige Gesprächsbereitschaft von Karin Raude, Lorenz Franck und Dominik Thompson empfunden, wofür ich sehr dankbar bin. Danken muss ich auch Heiko Frank, Timo Eidemüller, Daniel König und wiederum Karin Raude und Lorenz Frank, die sich als Korrekturleser zur Verfügung stellten. Trotz meiner wenigen Archivbesuche in München, Düsseldorf und Berlin muss allen dort tätigen Archivmitarbeitern für ihre stets freundliche und hilfreiche Unterstützung gedankt werden. Ich danke schließlich neben den bereits erwähnten Herausgebern der Reihe den Herren Prof. Dr. Thomas Duve, Prof. Dr. Joachim Rückert und Prof. Dr. Christoph Schönberger für die freundliche Aufnahme in dieselbe. Der größte Dank aber gilt meiner Frau Stephanie Keppeler, die ebenfalls die Arbeit korrekturgelesen hat, und meinen Söhnen Nicklas und Noah Keppeler, die beide während meiner Promotionszeit geboren wurden. Alle Drei mussten zweifelsohne am meisten unter der Erstellung dieser Dissertation leiden. Zugleich waren sie der größte Ansporn die Arbeit auch wirklich zu beenden. Leverkusen, im Sommer 2013
Lutz Martin Keppeler
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis ABR AcP AfU AöR ARWP BAB BayZ DBE DJZ DNotZ DR DRiZ Gruchot GRUR GrünhZ HdR HdS RHZH Hist Ztsr HKK HZ IZfTdR JAkDR JherJB JR JW KritV LZ NDB NZAR QFIAB RabelsZ RG
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XVI RGPrax RuW SeufertsBlfR Schmollers Jahrbuch SJZ UdA VjHZG VVDStRl ZAkDR ZfAuIP ZfH ZgStrafW ZgStaatW ZHR ZNR ZöR ZRB ZSR
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Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Vorwort .................................................................................................. VII Abkürzungsverzeichnis .......................................................................... XV
A. Einleitung ...........................................................................................1 I.
Forschungsstand und Fragestellungen ..........................................3 1. Allgemeine Spenglerforschung .................................................3 2. Rechtshistorischer Forschungsstand ..........................................7
II.
Verwendete Quellen und Probleme der Einflussforschung ..........12 1. Methodische Vorsicht bei der Beforschung von „Spenglereinfluss“............................................................12 2. Zu den Quellen der Arbeit.......................................................13 3. Beschränkung des Forschungsgegenstandes ............................17
B. Allgemeiner Überblick über Spenglers juristische Aussagen vor dem Hintergrund seines Gesamtwerkes und seines Lebens ...........................................................................20 I.
Relevante Stationen aus Spenglers Leben....................................20
II.
Überblick über die Geschichtsphilosophie ..................................24
III. Apollinische und faustische Seele................................................26 1. Antike Kultur ..........................................................................26 2. Abendländische Kultur............................................................27 IV. Anwendung der Geschichtsphilosophie auf das Recht .................28
X
Inhaltsverzeichnis
C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“ unter Berufung auf Spengler ........................................................32 I.
Dynamik und Statik bei Spengler.................................................34 1. Die Rolle des Begriffspaares im Gesamtwerk .........................35 2. Statik, Dynamik und das Recht bei Spengler ...........................37 3. Möglicher Ursprung der spenglerschen Ideen bei der Energetik Wilhelm Ostwalds .............................................39
II.
Überblick über das Teilnehmerfeld .............................................41 1. Hans Fehr................................................................................41 2. Ernst Swoboda ........................................................................45 3. Das übrige Teilnehmerfeld ......................................................49 4. Zwischenergebnis: Ein zivilrechtliches Thema........................58
III. Dynamikkonnotationen in der Spenglerrezeption der Weimarer Zeit .......................................................................59 1. Die Popularität der Begriffe Statik und Dynamik vor dem historischen Hintergrund ...........................................59 a) Die allgemeine Verwendung der Begriffe zu Beginn des 20. Jh. .........................................................59 b) Dynamik im juristischen Sprachgebrauch ...........................63 2. Konnotationen von Dynamik in der juristischen Spenglerrezeption....................................................................68 a) Dynamik als Abstraktion vom Körper und Hinwendung zu Kraft und Wirkungen .....................................................68 aa) Günstige Rezeptionsbedingungen durch die Rechtsentwicklung........................................................71 bb) Anknüpfung an frühere juristische „Substanzkritik“? ...73 b) Dynamik als Bewegung, als flexibles, lebendiges Recht.....78 aa) Abgleich mit der Verwendung der Begriffe bei Spengler ..................................................................82 bb) Die Forderung nach lebensnahem Recht in der Weimarer Republik.............................................84 c) Dynamik als gemeinschaftlich orientiertes, dynamisches Recht .............................................................90 aa) Abgleich mit der Begriffsverwendung von Spengler.....92 bb) Die Forderung nach einem gemeinwohlorientierten Recht im Spiegel der Zeit .............................................95 cc) Gängiges Bild des römischen Rechts als Projektionsfläche des Statikbegriffs ..............................99
Inhaltsverzeichnis
XI
dd) Ergebnis......................................................................101 d) Dynamik als Funktion.......................................................101 e) Zusammenfassung und Analyse – Spengler als „Medium des Zeitgeistes“ ...........................................105 IV. Dynamik und Statik in der Zeit des Nationalsozialismus ...........107 1. Reaktion der Juristen auf Spenglers Bruch mit den Nationalsozialisten ................................................................108 2. Juristische Verwendungen der Begriffe Statik und Dynamik nach 1933........................................................111 3. Zwischenanalyse der Begriffsverwendungen.........................114 4. „Dynamik“ und „Funktionalität“ als Stichworte nationalsozialistischer Rechtsumwertung ..............................115 V.
Bilder der dynamischen Rechtslehre .........................................117 1. Selbstdarstellung der dynamischen Rechtslehre ....................118 2. Fremddarstellung in der Kritik der dynamischen Rechtslehre ...........................................................................121 a) Hermann Jsay ...................................................................121 b) Andere Kritiker.................................................................125 3. Äußerungen in Rezensionen zu Schriften der dynamischen Rechtslehre ................................................127
VI. Dynamikverwendungen zwischen „Rationalität“ und „Irrationalität“ ..................................................................133 1. Wissenschaftliche Grundeinstellung von Spengler und den Juristen des dynamischen Rechtsdenkens ................135 a) Spengler und die Lebensphilosophie.................................135 b) Die Juristen.......................................................................138 aa) Romantisch irrationaler Hans Fehr..............................138 bb) Kantianischer Ernst Swoboda als Gegenmodell? ........141 cc) Andere Stimmen .........................................................142 b) Ergebnis............................................................................143 2. Analyse der Dynamikverwendungen vor dem Hintergrund von zwei Idealtypen des Weimarer Denkens .........................144 3. Zusammenfassung .................................................................153 VII. Einfluss der „Dynamiker“ auf dogmatische Diskurse ...............154 1. Der dynamische Unternehmensbegriff in der dogmatischen Umgebung des BGB .......................................156
XII
Inhaltsverzeichnis
2. Fehrs Beitrag im Handwörterbuch der Rechtswissenschaften ......................................................................159 3. Kein Gehör beim Reichsgericht und den Diskussionsführern in der Literatur..........................................................161 4. Analyse der Gesprächsbarrieren zwischen Spenglerianern und den Meinungsführern der übrigen Diskussion ................165 a) § 90 BGB als Ausgangspunkt der dynamischen Argumentation ..................................................................166 b) Philosophie und Kultur contra positives Recht, Rechtsprechung und Nationalökonomie – zwei unterschiedliche Leitkonzepte ..................................169 5. Zusammenfassung .................................................................170 VIII. Abschließende Betrachtung der „dynamischen Rechtslehre“ ....170
D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler ..........174 I.
Die Rechtsgeschichte im „Untergang des Abendlandes“ ..........175 1. Die zeitgenössisch gängigen Ansichten über den Entwicklungsverlauf des römischen Rechts...........................177 2. Spenglers Neudeutung der Geschichte des „klassischen“ römischen Rechts ..................................................................179
II.
Romanistische Kritik an Spengler .............................................183 1. Überblick ..............................................................................183 2. Warum waren Romanisten der Ansicht, Spenglers (abenteuerliche) Thesen zum römischen Recht könnten für plausibel gehalten werden? ..............................................187 3. Gründe für die „Streit-um Spengler“-Abstinenz der Romanisten .....................................................................192 a) Hintergrund des Streits um Spengler.................................193 b) Politischer Charakter der Aussagen über römisches Recht........................................................195 c) Die Verschärfung der Krise des römischen Rechts als Auslöser für Spenglerkritik?........................................195 4. Spengler und das Bild vom jüdischen-römischen Recht ........196 a) Koschakers Verdacht ........................................................196 b) Die Entwicklung des Bildes vom jüdisch-orientalischen römischen Recht vor Spengler ..........................................198
Inhaltsverzeichnis
XIII
c) Spenglers Beitrag zum Bild vom jüdischen römischen Recht ...............................................................201 III. Die Germanisten und das „faustische“ Recht ...........................204 1. Spenglers Version der germanischen Rechtsgeschichte .........204 2. „Spenglerisierte“ Spuren in der Rechtsgeschichtsschreibung über germanisches bzw. mittelalterliches Recht...........................................................207 3. Einfluss auf weitere Autoren? Ein Blick in die Lehrbücher zur deutschen Rechtsgeschichte..........................216 IV. Spenglers Gesprächsversuch mit der Rechtsgeschichte .............219 V.
Zusammenfassung .....................................................................221
E. Spengler in der Staatsrechtslehre ..............................................224 I.
Überblick über die Spenglerrezeption in den Staatsrechtswissenschaften .......................................................225 1. Spenglerreferenzen bei Otto Koellreutter ..............................228 2. Spenglerreferenzen bei Karl-Otto Petraschek ........................233 3. Spenglerreferenzen bei Hermann Heller................................235 4. Zusammenfassung und weiterer Gang der Untersuchung ......237
II.
Spenglers „vulgäre“ Lebensphilosophie in der Staatsrechtslehre.............................................................240 1. Spenglers Anschauungen.......................................................240 a) Rationalismus als vorübergehende Epoche .......................240 b) Die Verbindung von Lebensphilosophie, Politik und Recht im „Untergang des Abendlandes“ ....................242 c) Die Vielschichtigkeit der Kantkritik bei Spengler.............243 d) Rechtsbegriff Spenglers: Recht ist Macht .........................245 2. Rezeption in der Staatsrechtslehre.........................................247 a) Die Methode des Nachfühlens ..........................................248 b) Die Beachtung der (irrationalen) Tatsachen ......................251 c) Die „Tatsachen“ und das „Leben“ innerhalb des Methoden- und Richtungsstreits als Kontext der Spenglerrezeption .......................................................255 3. Zusammenfassung .................................................................259
XIV
Inhaltsverzeichnis
III. Der junge Carl Schmitt als Vergleichsfolie für Spenglers Lebensphilosophie...............................................259 1. Übereinstimmungen in Spenglers und Schmitts Positionen .............................................................................264 2. Unterschiedliche Argumentation in der Parlamentarismus- und Demokratiekritik ..............................268 a) Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Dimension des Rückgriffs auf die Geistesgeschichte ..........................268 b) Rationalismus und Irrationalismus bei Schmitt und Spengler.....................................................................270 aa) „Irrationalistische Theorien der Gewaltanwendung“ ...271 bb) Dezisionismus und die Irrationalität des Ausnahmezustandes ....................................................274 cc) Ergebnis......................................................................275 IV. Zusammenfassende Analyse ......................................................277
F. Keine Rezeption von Spenglers Kulturvergleich ...................279 G. Zusammenfassung ........................................................................281 I.
Einfluss auf die „dynamische Rechtslehre“...............................282
II.
Einfluss auf die Rechtshistoriographie ......................................284
III. Einfluss auf die Staatsrechtswissenschaft ..................................285 IV. Potentielle Gründe für die Spenglerbegeisterung – Spengler als Medium seiner Zeit ...............................................287
Verzeichnis ungedruckter Quellen..........................................................289 Literaturverzeichnis................................................................................291 Liste der Texte der „Dynamischen Rechtslehre“.....................................321 Namenverzeichnis ..................................................................................323 Sachverzeichnis......................................................................................327
A. Einleitung A. Einleitung
Oswald Spengler (1880–1936) ist als Kulturphilosoph, als konservativer politischer Denker und als ein Gelehrter in Erinnerung geblieben, der Fragen aus allen wissenschaftlichen Disziplinen behandelte, welche seine Zeit zu bieten hatte. Bisher wurde jedoch kaum beachtet, dass auch rechtswissenschaftliche Fragestellungen zu seinem Repertoire gehörten, und dass einige seiner Ideen bei Juristen Karriere machten. Bekannt wurde er durch sein Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“, welches in zwei Bänden 1918 und 1922 erschien. Es handelte sich dabei um einen großen geschichtsphilosophischen Entwurf, der nicht nur die Vergangenheit neu beleuchtete, sondern gleichsam einen prophetischen Blick in die Zukunft wagte. Das Buch machte ihn zum „intellektuellen Star des Jahres 1919“1 und führte zum „Streit um Spengler“2 der mit einer Flut von Schriften ausgetragen wurde. Wenn auch das Interesse an Spengler nach 1922 etwas abflaute, so blieb er dennoch von den 1920ern über die 1930er bis heute permanent ein Gegenstand für wissenschaftliche Betrachtungen. Gerade in jüngster Zeit mehren sich die Neuauflagen seiner Werke3 und die Anzahl der neuen wissenschaftlichen Publikationen über ihn.4
1
So Detlef Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988, S. 114. 2 Der Streit um Spengler hat sich spätestens seit Erscheinen des gleichnamigen Buches von Manfred Schröter, Der Streit um Spengler, Kritik seiner Kritiker, München 1922, als Terminus technicus für die Debatten über Spenglers geschichtsphilosophische Ausführungen etabliert. 3 SZ vom 17. Mai 2008 zu Neuauflagen in Italien. Im Internet abrufbar unter http:// www.sueddeutsche.de/kultur/oswald-spengler-der-untergang-1.540100, Zugriff am 4.11. 2013; dabei soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass die hohe Anzahl der Neuauflagen auch damit zusammenhängt, dass das Urheberrecht an Spenglers Werken 1996 – 60 Jahre nach seinem Tod – in Deutschland abgelaufen ist. 4 So der Sammelband Manfred Gangl/Gilbert Merlio/Markus Ophälders (Hrsg.), Spengler – ein Denker der Zeitenwende, Frankfurt am Main 2009; Wolfgang Krebs, Die Imperiale Endzeit. Oswald Spengler und die Zukunft der Abendländischen Zivilisation, Berlin 2008; Samir Osmančević, Oswald Spengler und das Ende der Geschichte, Wien 2007; Uwe Janensch, Goethe und Nietzsche bei Spengler: eine Untersuchung der strukturellen und konzeptionellen Grundlagen des spenglerschen Systems, Diss. Berlin 2006, Berlin 2006; jüngst erfolgte die Publikation von Spenglers wenigen tagebuchartigen Notizen:
2
A. Einleitung
Spenglers aktuelle Popularität liegt wohl nicht zuletzt darin begründet, dass sich Samuel P. Huntington in seinem „Kampf der Kulturen“ beiläufig auf Spengler bezog.5 Zudem besteht generell nach dem 11. September 2001, dem weltweiten Aufkommen des islamistischen Terrorismus und insgesamt im Zuge des „Cultural Turns“ eine allgemein hohe Konjunktur für Welterklärungsmodelle, welche die Kulturen in den Mittelpunkt rücken. Spengler bot bereits ein Modell an, welches von acht Hochkulturen ausging. Obwohl sein Augenmerk noch deutlich auf Europa zentriert war, versuchte er außerdem China, Indien, das alte Amerika, Babylon und das alte Ägypten zu berücksichtigen. Darin, und in seiner großen Assoziationskraft, die er beim Vergleich der Kulturen präsentierte, liegt sein dauerhafter Erfolg begründet. In der vorliegenden Arbeit wird nicht der Versuch unternommen, mit Spengler die gegenwärtige Welt besser zu verstehen.6 Das Erkenntnisinteresse ist vielmehr auf die Gedankenwelt der Juristen der Weimarer Republik und der NS-Zeit gerichtet. Wenn Spengler eine Vielzahl von Geistesgrößen zu teilweise begeisterten und teilweise perhorreszierenden Äußerungen herausforderte, wenn neben Journalisten und Literaten auch anerkannte Wissenschaftler zu Spenglers Thesen kritisch Stellung nahmen, so liegt die Vermutung nahe, dass Spengler auch eine Wirkung auf die Juristen seiner Zeit ausübte. Verstärkt wird dieser Verdacht dadurch, dass sich Oswald Spengler, Ich beneide jeden der lebt. Die Aufzeichnungen „Eis heauton“ aus dem Nachlaß, Düsseldorf 2007. 5 So insbesondere im zweiten Kapitel über die Kulturen in Geschichte und Gegenwart, wo Spengler in der Reihe der „hervorragendsten Historiker, Soziologen und Anthropologen“ genannt wird, welche Entstehung, Aufstieg und Fall von Kulturen untersuchten (Samuel Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jh., 6. Aufl. München Wien 1998, S. 47; siehe hier auch S. 74 und S. 110). Dies machte den Vergleich zwischen Spengler und Huntington attraktiv. Siehe hierzu: Michael Thöndl, „Der Untergang des Abendlandes“ als „Kampf der Kulturen“? Spengler und Huntington im Vergleich in: Politische Vierteljahresschrift, 1997 (38), S. 824–830; siehe ebenso Henning Ritter, Amerikas Spengler? in: FAZ v. 18.04.1997, Nr. 90, S. 41. Siehe auch Gazi Caglar, Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen. Der Westen gegen den Rest der Welt. Eine Replik auf Samuel P. Huntingtons Kampf der Kulturen, 2. Aufl., Münster 2002, der die These vertritt, dass die Grundlagen von Huntingtons Zivilisationsbegriff bei rechtskonservativen Denkern wie Spengler und Toynbee zu suchen seien. 6 Auch an solchen Versuchen fehlt es nicht (siehe etwa Krebs, Die Imperiale Endzeit, Haruyo Yoshida: Streitfall „Kulturkreise“. Zur Aktualität der Positionen von Spengler, Frobenius und Bloch in: Neue Beiträge zur Germanistik. 3 (2004), S. 58–72; John Farrenkopf, Prophet of Decline. Spengler on World History and Politics, Baton Rouge, 2001; ders., Die Welt in der Krise. Spengler und zeitgenössische Philosophen der internationalen Beziehungen in: Manfred Gangl/Gilbert Merlio/Markus Ophälders (Hrsg.), Spengler – Ein Denker der Zeitenwende, Frankfurt am Main 2009, S. 77–98; Thomas Tartsch, Denn der Mensch ist ein Raubtier. Eine Einführung in die politischen Schriften und Theorien von Oswald Spengler, Norderstedt 2001.
I. Forschungsstand und Fragestellungen
3
Spengler im zweiten Teil des „Untergangs“ auch der Geschichte des römischen Rechts von der Antike bis zur Gegenwart widmete. Hier nahm er aus der Perspektive seiner Geschichtsphilosophie auch Bezug zu zeitgenössisch brisanten Themen der Rechtswissenschaft und der Rechtspolitik, wie dem Einfluss des römischen Rechts auf das BGB, dem Streit um den Diebstahl von Energie und in späteren Werken auch zu dem Konflikt zwischen liberalem und sozialem Eigentumsdenken. Zudem war der gesamte Abschnitt ein Plädoyer Spenglers für eine stärkere Anpassung des Rechts an das Leben. Es drängte sich bei diesen Themen und Spenglers Popularität daher geradezu auf, dass Juristen zu ihm Stellung bezogen, ihn kritisierten, ihn für ihre Argumentationen benutzten oder sich bei ihm Anregungen holten. Damit ist das grobe Programm der vorliegenden Arbeit angedeutet: Es wird das Ausmaß und die Art und Weise der Spenglerrezeption der Juristen zwischen 1918 und 1945 untersucht. Freilich ist damit bisher nur der Zeitraum konkret eingegrenzt. Thematisch wirkte sich Spengler in drei großen Bereichen aus: Der quantitativ deutlichste Niederschlag Spenglers fand sich bei den Anhängern und Gegnern der sog. dynamischen Rechtslehre, einer überwiegend von Zivilrechtlern diskutierten Rechtstheorie, die Spengler teilweise als Propheten auf den Schild hob. Weiterhin lag es nahe, Spuren des Geschichtsphilosophen in der Rechtshistoriographie zu suchen. Zudem wurde Spengler innerhalb der Staatsrechtswissenschaften bzw. der Staatsrechtsphilosophie diskutiert.
I. Forschungsstand und Fragestellungen I. Forschungsstand und Fragestellungen
1. Allgemeine Spenglerforschung Es soll hier nicht ausführlich dargestellt werden, welche Erkenntnisse über die Person Oswald Spengler7 oder über seine Rezeption in anderen Berei-
7
Grundsätzlich für biographische Daten bleibt immer noch Anton Mirko Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968. Eine tief greifende Historisierung von Spenglers Gedankenwelt findet sich bei Frits Botermann, Oswald Spengler und sein Untergang des Abendlandes, Köln 2000; häufig verwendet, wenn auch nicht ganz so tief greifend wie Botermanns Werk ist Felken, Spengler; grundlegend bleibt auch nach wie vor Gilbert Merlio, Oswald Spengler. Témoin de son temps, 2. Bände Stuttgart 1982. Siehe von Merlio auch den kurzen einführenden Überblick „Urgefühl Angst“ in: Spengler, Ich beneide jeden der lebt. Die Aufzeichnungen „Eis heauton“ aus dem Nachlaß, Düsseldorf 2007, S. 89–123. Als Einleitung zu Spenglers Gesamtwerk ist auch nützlich: Frank Lisson, Oswald Spengler. Philosoph des Schicksals, Schnellroda 2005; Domenico Conte, Oswald Spengler, Eine Einführung, Leipzig 2004 und Jürgen Naeher, Oswald Spengler, Hamburg 1984.
4
A. Einleitung
chen8 als der Rechtswissenschaft vorliegen. Es gibt jedenfalls vonseiten der Spenglerforschung keinen Versuch, den Einfluss des Kulturphilosophen auf die Rechtswissenschaft zu untersuchen. Häufig wird die wirkungsgeschichtliche Perspektive auf einzelne Autoren zugeschnitten, sodass wir über die Aufnahme von spenglerschen Ideen durch die Literaten Thomas Mann9, Max Frisch,10 Rainer Maria Rilke11 und Ernst Jünger12 oder die Philosophen Martin Heidegger13, Edmund Husserl14 und Ludwig Wittgenstein15 oder den Historiker Eduard Meyer16 gut unterrichtet sind. Gleichsam besteht aber kein neuerer Überblick über die Spenglerrezeption
8
Die Darstellung der Geschichte der Ablehnung von Spengler begann schon recht früh mit Schröter, Der Streit um Spengler, und wurde fortgeführt in ders., Metaphysik des Untergangs. Eine kulturkritische Studie über Oswald Spengler, München 1949. Siehe zur Wirkungsforschung in Amerika: Hugh Larimore Trigg, The Impact of a Pessimist. The reception of Oswald Spengler, 1919–1939 in America, Diss. Nashville Tenn. 1968, Nashville Tenn. 1969, zur Wirkungsgeschichte in Italien: Michael Thöndl, Die Rezeption Oswald Spenglers in Italien in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven u. Bibliotheken 73 (1933), S. 572–615. 9 Siehe Fn. 67 auf S. 13 und Helmut Koopmann, Der Untergang des Abendlandes und der Aufgang des Morgenlandes. Thomas Mann, die Josephsromane und Spengler in: Jb. der deutschen Schiller Gesellschaft 24 (1980), S. 300–331. 10 Werner Konrad, Max Frischs „Die chinesische Mauer“: ein Paradigma für seine Oswald-Spengler-Rezeption, Frankfurt am Main 1990. 11 Sandra Pott, Lesen, poetisches Lesen und poetischer Text. Rainer Maria Rilkes Auseinandersetzung mit Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (I,1918) in: Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 30/1 (2005), S. 188–213. 12 Siehe zuletzt Maurizio Guerri, Das „Museum der Geschichte“ und die „Metaphysik der Erde“. Ernst Jünger und der Untergang des Abendlandes von Oswald Spengler in: Gangl/Merlio/Ophälders (Hrsg.), Spengler – Ein Denker der Zeitenwende, Frankfurt am Main 2009; Mario Bosincu, „Glauben-Wollen an höhere Gewalten“. Die Rezeption der Schicksalsphilosophie Oswald Spenglers beim frühen Ernst Jünger in: Vietta/Porombka (Hrsg.), Ästhetik – Religion – Säkularisierung, Bd. 2: Die klassische Moderne, München 2009, S. 139–150. 13 Siehe hierzu Ad Verbrugge, Heimkehr des Abendlandes. Nietzsche und die Geschichte des Nihilismus im Denken von Spengler und Heidegger in: Deuter/Heinz/Sallis/ Vedder (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche, Freiburg 2005, S. 222 ff., mit Hinweis auf einen Spenglervortrag Heideggers von 1920. 14 Ferdinant Fellmann, Gelebte Philosophie in Deutschland. Denkformen der Lebensweltphänomenologie und der kritischen Theorie, Freiburg 1983, S. 83–98. 15 Rudolf Haller, War Wittgenstein von Spengler beeinflusst? in: Theoria 5 (1985), S. 97–122; ders., Wittgenstein and Spengler in: Revista Portuguesa de Filosofia 38 (1982), S. 71–78; Stanley Cavell, Declining decline. Wittgenstein as a philosopher of culture in: Inquiry 31 (1988), S. 253–264. 16 Alexander Demandt, Eduard Meyer und Oswald Spengler. Lässt sich Geschichte voraussagen? in: William Musgrave Calder/Alexander Demand (Hrsg.), Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Universalhistorikers, Leiden 1990, S. 160–181.
I. Forschungsstand und Fragestellungen
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der Philosophen oder der Historiker17. Die Gruppe der Literaten haben Francis Wilhelm Lantink 199518 und Barbara Beßlich 200919 bearbeitet. Eine Rezeptionsgeschichte für einen gesamten Wissenschaftsbereich des hier anvisierten Zeitraums von 1918–194520 liegt nur für die Auswirkungen von Spengler auf Theologen der Weimarer Republik vor.21 Freilich gibt es einen sehr allgemeinen Überblick über die frühe Beschäftigung mit Spengler: Manfred Schröters 1922 erschienenes Werk „Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker“ und sein 1949 publiziertes, aber früher konzipiertes Werk „Die Metaphysik des Untergangs. Eine kulturmorphologische Studie über Oswald Spengler.“22 Schröter verarbeitete eine Vielzahl von Antworten auf den „Untergang des Abendlandes“ von unterschiedlichen Seiten, wobei er keinen juristischen Bericht über Spenglers Buch wahrgenommen hatte. Er kritisierte Spenglers Kritiker, indem er den Diskutanten mitteilte, dass sie den Kulturphilosophen bisher nicht ausreichend verstanden hätten.23 Schröter gelangte zu dem Ergebnis, dass Speng17
Zwar hat Gert Müller, Oswald Spenglers Bedeutung für die Geschichtswissenschaft in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, 17 (1963), S. 483–498, die Frage nach der Bedeutung Spenglers für die zukünftige historische Forschung gestellt. Er hat diesen Anlass aber nicht genutzt um die bisherige Spenglerrezeption der Historiker zu analysieren. 18 Francis Wilhelm Lantink, Oswald Spengler oder die „zweite Romantik. Der Untergang des Abendlandes, ein intellektueller Roman zwischen Geschichte, Literatur und Politik, Diss. Utrecht 1995, Noord Haarlem 1995, S. 273–298. 19 Siehe aber Barbara Beßlich, Untergangs-Mißverständnisse. Spenglers literarische Provokation und Deutungen der Zeitgenossen in: Gangl/Merlio/Ophälders (Hrsg.), Spengler – Ein Denker der Zeitenwende, Frankfurt am Main 2009, S. 29–52, die zumindest die ersten Reaktionen einer Vielzahl von bedeutender Literaten zusammenstellte. 20 Siehe für die Spenglerrezeption nach 1945 Lantink, Oswald Spengler oder die „zweite Romantik“, S. 17 ff. 21 Siehe hierzu jetzt Jörg Schneider, Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ als Katalysator theologischer Kriseninterpretationen zum Verhältnis von Christentum und Kultur in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte, 10 (2003), S. 196–223; die Theologen wurden bereits von Schröter herausgestellt (siehe Schröter, Metaphysik des Untergangs, S. 115). 22 Das Werk enthält als ersten Teil einen zweiten Abdruck der 1922 erschienenen Schrift. „Oswald Spengler. Kritik seiner Kritiker“ wird hier zitiert nach dem Abdruck von 1949. 23 Bei dem Kulturphilosophen komme es ebenso wie bei Nietzsche – was bisher kaum jemand gesehen habe – nicht darauf an, „ob er die Griechen richtig, sondern ob er sie für sich und uns bedeutungsvoll sah“ (Schröter, Metaphysik des Untergangs, S. 48). Für Schröter war es deswegen selbstverständlich, dass Spengler keinen Wert für einzelwissenschaftliche Detailuntersuchungen besitzen konnte (so etwa Schröter, Metaphysik des Untergangs, S. 48: „Niemand wird dieses [spenglersche, L.M.K.] Verhältnis philologisch oder auch nur wissenschaftlich nennen, insofern es auf spezifische Erkenntnisse der antiken Kulturinhalte gerichtet sei.“). Seine Kapitel „Geisteswissenschaftliche Kritik“, „Naturwissenschaftliche Kritik“, „Geschichtswissenschaftliche Kritik“ und „Philosophische
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A. Einleitung
ler durch die Naturwissenschaften, Geschichtswissenschaften und durch die Philosophie seiner Zeit abgelehnt worden war. Einzig die Theologie fand in Spengler Ansätze, die in die eigene Wissenschaft übernommen werden konnten.24 Die Jurisprudenz tauchte gar nicht auf, und wurde auch im Rückblick von 1949 nicht von Schröter erwähnt. Unausgesprochen bedeutet dies, dass die Jurisprudenz Spengler weder öffentlich kritisierte noch bei dem Kulturphilosophen Ansätze fand, die sie weiterdenken konnte. Die vorliegende Arbeit wird das Gegenteil beweisen. Generell bietet die Spenglerforschung teilweise wichtige Hintergrundinformationen zu Spenglers Konzepten und Einstellungen. Interessant sind hier vor allem die bisher vorgenommenen Untersuchungen über die staatspolitische Einstellung Spenglers. Neben den entsprechenden Kapiteln aus den Spenglerbiographien25 sind hierzu Arbeiten von Eckermann26, Stutz27, Vollnhals28, Thöndl29 und Farrenkopf 30 erschienen. Bei der Analyse des politischen Weltbildes ergeben sich zwangsweise Aussagen über Spenglers staatsrechtliche Ansichten, etwa über den Sinn der Parteien und über die Stellung des Parlamentes. Bei der Darstellung von Spenglers staatsrechtlichen Vorstellungen, die als Hintergrund für die Gespräche von Weimarer Staatsrechtlern über Spengler mitzudenken sind, kann daher auf die vorhandene Forschung zurückgegriffen werden. Im Groben ergibt sich hierbei das Bild eines antidemokratischen, sozialen aber antimarxistischen Denkers, der sowohl der Weimarer Republik als auch der Herrschaft der NSDAP stark ablehnend gegenüberstand. Auf ein Thema, das sich für die Bearbeitung in der Rechtsgeschichte eignet, wird in der allgemeinen Literatur zu Spengler häufig hingewiesen: Kritik“ fragen demnach kaum nach der Art und Weise einer allgemeinen Übernahme von spenglerschen Gedanken in die geisteswissenschaftliche Welt, sondern formulieren einen Überblick über die Kritik an Spengler. Die Einflüsse, die andere später bei den oben genannten Literaten und Wissenschaftlern feststellten, und erst recht mögliche Einflüsse auf die Jurisprudenz gehörten für Schröter nicht zum „Streit um Spengler“. 24 Schröter, Metaphysik des Untergangs, S. 115 ff. 25 Siehe S. 3, Fn. 7. 26 Karin Erika Eckermann, Oswald Spengler und die moderne Kulturkritik, Darstellung und Bewertung der Thesen Spenglers sowie der Vergleich mit einigen neueren gesellschafts- und staatstheoretischen Ansätzen, Diss. Bonn 1980. 27 Ernst Stutz, Oswald Spengler als politischer Denker, Bern 1958. 28 Clemens Vollnhals, Oswald Spengler und der Nationalsozialismus. Das Dilemma eines konservativen Revolutionärs in: Jb. des INst.f.Dt. Gesch. [Tel Aviv], 13 (1984), S. 263–303; ders., Praeceptor Germaniae. Spenglers politische Publizistik in: Alexander Demandt/John Farrenkopf (Hrsg.), Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, Köln 1994, S. 171–197. 29 Michael Thöndl, „Das Politikbild von Oswald Spengler“ (1880–1936) in: ZfPolitik, NF 40 (1993), S. 418–443. 30 Farrenkopf, Prophet of Decline, S. 113 ff.
I. Forschungsstand und Fragestellungen
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die Ähnlichkeiten zwischen der spenglerschen Geschichtsphilosophie und den Werken von Karl Friedrich Vollgraff (1792–1863), Professor für Staatsrecht und Politik in Marburg.31 Ein solches Unterfangen würde zu Forschungen über Spenglers Vorgänger passen32, fällt hier jedoch zu weit aus dem Rahmen. Keiner der für diese Arbeit untersuchten Juristen verglich Spengler mit Vollgraff, oder wies auch nur auf eine Ähnlichkeit hin. Die Gegenüberstellung der beiden Geschichtsphilosophien hat folglich keinen Bezug zur Spenglerrezeption der Juristen in der Weimarer Republik und der NS-Zeit und wird daher hier nicht weiter verfolgt. 2. Rechtshistorischer Forschungsstand Die rechtshistorische Literatur hat bisher der Darstellung der Lehren Oswald Spenglers und deren Auswirkungen auf die Jurisprudenz nur wenige Seiten und Fußnoten gewidmet. Aufgrund seiner allgemeinen Popularität diente er der Rechtsgeschichte bisweilen als „Vertreter des Zeitgeistes“ bei der Zeichnung einer Hintergrundfolie für das rechtliche Denken der Weimarer Republik.33 Spengler wurde hier als verallgemeinerungsfähiges Beispiel für die Darstellung des politischen und geistigen Klimas der Weimarer Republik verwendet. Juristen, die sich mit Spengler beschäftigt haben, wurden in diesem Kontext nicht genannt. Der Kulturphilosoph galt hier als ein exponiertes Beispiel der Konservativen Revolution oder als Verbreiter einer pessimistischen Grundstimmung. 31
Darauf hat deutlich hingewiesen: Hans Joachim Schoeps, Vorläufer Spenglers. Studien zum Geschichtspessimismus im 19. Jh., 2. Aufl., Leiden 1955; siehe daneben auch Alexander Demandt, Der Fall Roms: Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, München 1984, S. 343: „Vollgraffs Gedanken und Formulierungen kehren mit solch verblüffender Ähnlichkeit bei Spengler wieder, daß sich dessen Unabhängigkeit nicht überzeugend damit begründen läßt, Spengler habe Vollgraff nicht gekannt.“; dies betont auch Lisson, Spengler, S. 70 ff. 32 Die Frage nach den Vorgängern Spenglers ist eine seit Erscheinen des ersten Bandes permanent gestellte Frage. Siehe neben Schoeps nur die Zusammenfassung der Verweise bei Botermann, Spengler, S. 130 f., Fn. 78; siehe auch neuerdings Osmančevic, Spengler, Wien 2007, S. 51 ff., und Wolfram A. Wojtecki, Vom Untergang des Abendlandes. Zyklische, organische und morphologische Geschichtstheorien im 19. und 20. Jahrhundert, Diss. Münster 1997, Berlin 2000. 33 So etwa bei Karl Kroeschell, Rechtsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, 5. Aufl. Köln, 2005, S. 237; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3 1914–1945, München 2002, S. 157; Hans Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. Heidelberg 2004, Rn. 1944 und Rn. 1979; Werner Frotscher/ Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 9. Aufl., München 2010, S. 281, Rn. 589. Marxen erwähnt Spengler als einen Vertreter der populären Lebensphilosophie. Klaus Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre, Dissertation Frankfurt am Main 1974, Berlin 1975, S. 52 und S. 54.
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A. Einleitung
Einen kleinen Schritt näher an die Feststellung eines konkreten Spenglereinflusses kommt man mit Rückert, der in einem Nebensatz darauf hinwies, dass gerade unter Richtern in den 20er Jahren eine Spengler-Diskussion geführt wurde.34 Dabei wurde das Gespräch der Richter jedoch nicht weiter rekonstruiert. Verschiedene Aspekte der juristischen Spenglerrezeption stellte jüngst Schubert anlässlich der Publikation einiger Vorträge von Emil Seckel zusammen.35 Noch einen Schritt näher kommt man Spenglers Wirkung auf die Jurisprudenz bei denjenigen Autoren, die Spengler als einen Ideengeber der sogenannten Theorie des „dynamischen Rechtsdenkens“ identifizierten.36 Teilweise wurde Spengler insbesondere mit einer „dynamischen Eigentumslehre“ in Verbindung gebracht.37 Arndt Riechers38 hat den Faden des dynamischen Rechtsdenkens gewissermaßen auf der anderen Seite, jenseits von Philosophie und Theorie, aufgenommen. In seiner Dissertation über die Entstehung des „Unternehmens an sich“ legte er nebenbei kurz dar, dass maßgebliche Autoren für diese aktienrechtliche Figur auf Spengler und sein dynamisches Rechtsdenken verwiesen haben, insbesondere Oskar 34
Joachim Rückert, Richtertum als Organ des Rechtsgeistes: Die Weimarer Erfüllung einer alten Versuchung, in: Nörr/Schefold/Tenbruck (Hrsg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, Stuttgart 1994, S. 277, Fn. 40. 35 Werner Schubert, Die Vorträge Emil Seckels in der Berliner Mittwochs-Gesellschaft in: SZRA 123 (2006), S. 349–374, S. 351 ff. 36 Hans-Peter Haferkamp, Die heutige Rechtsmissbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, Diss. Berlin 1994, Berlin 1995, S. 174 f., insbesondere Fn. 625; ders., Bemerkungen zur deutschen Privatrechtswissenschaft zwischen 1925 und 1935 – dargestellt an der Debatte um die Behandlung der exceptio doli generalis, in FHI (http://fhi.rg.mpg.de/articles/pdf-files/9707haferkamp.pdf), Fn. 105; Knut Wolfgang Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik, Tübingen 1988, S. 35, insbesondere in Fn. 16, wo James Goldschmidt und Rudolf Callmann als von Spengler beeinflusst genannt werden; Dieter Petrig, Emil Erich Hölscher (1880–1935) und Karl Otto Petraschek (1876–1950) im Zusammenhang des katholischen Rechtsdenkens. Ein Beitrag zur Geschichte der juristischen Neuscholastik und der Rechtsphilosophie in Deutschland, Diss. Freiburg 1978, Paderborn 1981, S. 156 ff. 37 So Thorsten Keiser, Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, Tübingen 2005, S. 189 ff., der Statik und Dynamik als eigentumsrechtliche Kategorien in Deutschland und Italien der 20er bis 40er Jahre auf drei Seiten darstellt. Nach Keiser ist im faschistischen Italien Dynamik ein beliebter Kampfbegriff. Ein Einfluss von Spengler auf die italienische Jurisprudenz wurde hier leider nicht untersucht, obwohl nicht zuletzt auf Betreiben des Duces Spengler in Italien sehr populär war. Siehe hierzu Michael Thöndl, Der „Neue Cäsar“ und sein Prophet, die wechselseitige Rezeption von Benito Mussolini und Oswald Spengler in: QFIAB 2005, S. 351–394. Siehe zu dynamischem Eigentum auch Hans Peter, Wandlung der Eigentumsordnung und der Eigentumslehre seit dem 19. Jahrhundert, Ein Beitrag zur neueren Geschichte des Zivilrechts, Aarau 1949. 38 Arndt Riechers, Das „Unternehmen an sich“: Die Entwicklung eines Begriffs in der Aktienrechtsdiskussion des 20. Jahrhunderts, Diss. Tübingen 1995/96, Tübingen 1996.
I. Forschungsstand und Fragestellungen
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Netter und Karl Geiler. Eine umfassende Untersuchung dieses dynamischen Rechtsdenkens und seines Zusammenhangs mit Spengler fehlen jedoch bisher. Auch die Prägung des Begriffs der Dynamik durch andere Disziplinen und der Gleichlauf mit anderen philosophischen Konzepten dieser Zeit wurden noch nicht in Zusammenhang mit der dynamischen Rechtslehre dargestellt. Häufig wurde bisher allenfalls sehr kurz darauf hingewiesen, dass Oswald Spengler ein dynamisches oder auch dynamisch-funktionales Denken forderte, welches sich gegen die Statik des römischen Rechts richtete. Juristen seien ihm darin gefolgt. Was dies bedeutete, welchen Inhalt die Forderung hatte, und welche Konsequenzen sie nach sich zog, wurde bisher kaum dargelegt. Die wenigen Hinweise in der bisherigen Forschung beziehen sich zumeist auf einzelne konkrete Autoren. So hat Dieter Petrig in seiner Dissertation über Emil Erich Hölscher und Karl Otto Petraschek deren Verständnis des Begriffspaares herausgearbeitet: Hölscher teilte naturrechtliche Vorstellungen mithilfe der Begriffe ein. Ist das Naturrecht sittlich moralisch und auf die Gemeinschaft ausgerichtet, wie das mittelalterliche scholastische Naturrecht, so habe es Hölscher als dynamisch bezeichnet. Die angeblich unethische römische egoistische Naturrechtsvorstellung habe er statisch genannt.39 Hans Peter legte in seiner Dissertation über die Wandlung der Eigentumsordnung von 1949 bereits dar, dass Hedemann auf Spengler aufbauend das „Schwergewicht des Eigentumsbegriffes […] nicht mehr im Haben der Güter, in der Ruhelage (wie es das Pandektenrecht und das BGB annahm), sondern in der Ausnutzung der Eigentumsobjekte, in der Bewegung“40 liege. Mit dieser dynamischen und funktionellen Bewertung habe Hedemann vor allem soziales Rechtsdenken, insbesondere die innere Bindung des Eigentums verbunden.41 Ähnlich, so Petrig, nur „wesentlich unbedenklicher“42, habe Hans Fehr mit seinem dynamischen Rechtsdenken den „statischen und egoistischen Eigentumsbegriff“ des römischen Rechts und des BGB“43 abgelehnt. In diesen sozialen Kontext ordnete auch Haferkamp das dynamische Rechtsdenken ein.44 Thorsten Kaiser, der sich in seiner Dissertation auf ein paar Seiten dem dynamischen Eigentumsdenken widmete, erkannte, dass es nicht nur um die soziale Frage, sondern auch um weitere „methodische, historische und
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Vgl. Petrig, Emil Erich Hölscher (1880–1935) und Karl Otto Petraschek (1876– 1950), S. 111 ff. 40 Peter, Wandlung, S. 7. 41 Peter, Wandlung, S. 7 f. 42 Peter, Wandlung, S. 8 f. 43 Peter, Wandlung, S. 8 f. 44 So Haferkamp, Rechtsmissbrauchslehre, S. 174 f.
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A. Einleitung
politische Antithesen“ ging, „wie lebensfremd/lebensnah, römisch/deutsch oder liberalistisch/nationalsozialistisch“.45 In dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, dieses dynamische Rechtsdenken umfassend darzustellen. Dazu werden weit mehr als die bisher in der Forschung anzutreffenden Zeitgenossen, die sich das „Dynamische“ auf die Fahnen schrieben, herangezogen. Schubert nannte hierzu fünf Autoren,46 Keiser sechs.47 Aus der Binnenperspektive des Kölner Rechtsanwalts Rudolf Callmann waren es 1932 zehn Protagonisten und ein Gegner der dynamischen Rechtslehre.48 Aber auch dies ist nur ein Bruchteil der tatsächlich relevanten Autoren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden hier 23 Autoren identifiziert werden, die den Begriff „Dynamik“ nach Spengler verwendeten. In einem Hauptteil dieser Arbeit wird analysiert werden, was sich Spenglers juristische Zeitgenossen unter dynamischem Rechtsdenken vorstellten. Es wird auch zu klären sein, inwiefern es fruchtbar ist, auf ideengeschichtliche Wurzeln der Verwendung eines speziellen Dynamikbegriffes zu verweisen. In der bisherigen Forschung wurde teilweise im Zusammenhang mit der dynamischen Rechtslehre darauf hingewiesen, dass bereits Auguste Comte49 und Henri Bergson50 diese Begriffe verwendet, bzw. dass neben Spengler auch Nietzsche51 dem dynamischen Denken Impulse gegeben hatte. Bekannt ist auch, dass Spengler eine gewisse Rolle bei der in nationalsozialistischen Kreisen kursierenden Vorstellung über das römische Recht spielte.52 So haben Bender53, Stolleis54 und Simon55 darauf hingewiesen, 45
Keiser, Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, S. 190. Schubert, Die Vorträge Emil Seckels in der Berliner Mittwochs-Gesellschaft, S. 353 ff. 47 So Keiser, Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, S. 190 f. 48 Rudolf Callmann, Der unlautere Wettbewerb, 2. Aufl. Mannheim 1932, S. 88 f. 49 Petrig, Emil Erich Hölscher (1880–1935) und Karl Otto Petraschek (1876–1950), S. 113; Haferkamp, exceptio doli generalis, Fn. 105. 50 Haferkamp, exceptio doli generalis, Fn. 105. 51 Petrig, Emil Erich Hölscher (1880–1935) und Karl Otto Petraschek (1876–1950), S. 113. 52 Bei der Ablehnung der Rezeption durch die Nationalsozialisten waren nach Stolleis auch die populären Autoren Julius Langbehn, Houston Steward Chamberlain, Moeller van den Bruck und Oswald Spengler Vordenker (Michael Stolleis, „Fortschritte der Rechtsgeschichte“ in: Stolleis/Simon (Hrsg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, Tübingen 1989, S. 191). 53 Peter Bender, Die Rezeption des römischen Rechts im Urteil der deutschen Rechtswissenschaft, Frankfurt am Main 1979, S. 155 f. in Fn. 594. 54 Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974, S. 33. 55 Dieter Simon, Die deutsche Wissenschaft vom römischen Recht 1933 in: Stolleis/ Simon (Hrsg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, Tübingen 1989, S. 169. 46
I. Forschungsstand und Fragestellungen
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dass Spengler entscheidende ideologische Puzzlestücke für die Verdammung des römischen Rechts als „orientalisch-jüdisches“ Erzeugnis lieferte. Diese Erwägungen stützen sich meist auf kleinere Textstellen von Koschaker, die für den vorliegenden Untersuchungszeitraum teilweise als Primärquelle56 und teilweise als dem Forschungsstand zugehörige ältere Sekundärquelle einzuordnen sind.57 Dies thematisierte auch Giaros in seinem fiktiven Interview mit Koschaker.58 Eine Auseinandersetzung mit Spenglers Text findet bei allen genannten Autoren kaum statt, aber es werden wertvolle Hinweise auf weitere ideologische Wurzeln der Vorstellung vom „verjudeten“ römischen Recht geliefert. Während bei Koschaker Spengler der hauptverdächtige Ideenlieferant ist, werden bei Simon auch weitere Autoren wie etwa Houston Stewart Chamberlain neben Spengler gestellt. Am ausführlichsten ist Spengler in der rechtswissenschaftlichen Literatur nach 1945 jüngst von Hebeisen behandelt worden.59 Sein Interesse galt Spenglers vulgär-lebensphilosophischem Ansatz von der „Identität von Geschichte und Staatslehre“60. Insbesondere ging er auf eine Rede des Staatsrechtlers Otto Koellreutter über Spengler ein.61 Dabei verwendete er die Lebensphilosophie als Hintergrund für Spenglers Rechtsverständnis und grenzte dieses vom Rechtsverständnis des Lebensphilosophen Diltheys ab. Insofern kann Hebeisens Werk nützliche Anhaltspunkte für die vorliegende Analyse bieten, wenn auch seine Bewertung von Spenglers Thesen aus der Perspektive des 21. Jhs. für die Wirkungsgeschichte im Untersuchungszeitraum irrelevant ist. Was bei Hebeisen Identität von Geschichte und Staatslehre genannt wird, findet sich auch bei dem Staatsrechtsphilosophen Karl Otto Petraschek unter dem Einfluss von Spengler wieder. Auch hierzu finden sich kurze Analyseansätze in einer Dissertation von 1978.62 Weitere Forschungen nennen die Beziehung zwischen Spengler
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Vgl. die bereits frühe reflektierte Einsicht über den Einfluss von Spengler auf nationalsozialistisches Rechtsdenken bei Paul Koschaker, Rez. Georgescu, Exista o crisă a studilor de Drept Roman? (Gibt es eine Krise des Studiums des römischen Rechts?), Czernowitz 1937 in: SZRG RA 58 (1938), S. 226. 57 Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, München 1947, S. 158 f. 58 Tomasz Giaro, Aktualisierung Europas. Gespräche mit Paul Koschaker, Genova 2000. 59 Michael Walter Hebeisen, Recht und Staat als Objektivationen des Geistes in der Geschichte. Eine Grundlegung von Jurisprudenz und Staatslehre als Geisteswissenschaft, Biel 2004, S. 489 ff. 60 Ebda., S. 489. 61 Zu Spengler bei Koellreutter siehe auch Jörg Schmidt, Otto Koellreutter 1883– 1972. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, Diss. München 1994, Frankfurt am Main 1995, S. 23 ff. 62 Petrig, Emil Erich Hölscher (1880–1935) und Karl Otto Petraschek (1876–1950), S. 156 ff.
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A. Einleitung
und dem staatsrechtlichen Denken nur sehr am Rande, häufig nur in einer Fußnote.63 Die Frage, ob Spengler auch rechtshistorische Forschungen angeregt hat, wurde bisher noch nicht einmal gestellt. Hier wird insofern völliges Neuland betreten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass trotz einiger punktueller Ansätze der Erforschung von Spenglers Einflüssen auf die Jurisprudenz bisher noch nicht der Versuch unternommen wurde, unter breiter Berücksichtigung der Spenglerforschung, die Auswirkungen des Kulturphilosophen auf die verschiedenen Rechtsbereiche nebeneinanderzustellen und so ein Gesamtbild zu zeichnen.
II. Verwendete Quellen und Probleme der Einflussforschung II. Verwendete Quellen und Probleme der Einflussforschung
Insgesamt geht es um das Ziel, Gespräche, die Spengler bei Juristen ausgelöst hat, genauer darzustellen und ihren Hintergrund zu rekonstruieren. Wenn eingangs gesagt wurde, es soll der Einfluss von Spengler auf das Denken der Juristen untersucht werden, so muss nun klar aufgezeigt werden, welche Grenzen diesem Vorhaben gesetzt sind. 1. Methodische Vorsicht bei der Beforschung von „Spenglereinfluss“ Spengler war derart populär, dass vermutlich nahezu jeder Jurist der Weimarer Republik Kenntnis von Spenglers Ideen hatte. Die Anzahl der potenziell Beeinflussten ist daher von Anfang an kaum überschaubar. Die Rekonstruktion solcher „Einflüsse“ steht dabei vor dem Problem, dass jedenfalls dann, wenn der Autor sich nicht explizit auf Spengler bezieht, unklar ist, ob hier spenglersche Gedanken übernommen, über Dritte transportiert oder vielleicht vom Autor ähnlich entwickelt wurden. Sicher gab es eindeutige Fälle, in denen Autoren den Einfluss selber offen legten, etwa indem sie Spengler in ihrem Text oder zumindest in ihren Fußnoten deutlich als den Ursprung eines eigenen Gedankengangs auswiesen. Solche Werke, in denen Spengler zitiert wurde, bilden die Hauptquellen dieser Arbeit. Damit lassen sich gut die spenglerbegeisterten Juristen erfassen, die sich offen zu den Ideen des Kulturphilosophen bekannten. Aber gerade aufgrund seiner Popularität wäre es freilich eine Illusion, wenn man hoffte, damit den gesamten Spenglereinfluss zu erfassen. Da der Kulturphilosoph in den meisten wissenschaftlichen Kreisen nach außen hin zwar als interes63
Stolleis, Gemeinwohlformeln, S. 208; Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklung in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, Diss. München 1993, München 1994, S. 60 mit Hinweis auf Spenglerablehnung bei Tatarin-Tarnheyden.
II. Verwendete Quellen und Probleme der Einflussforschung
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sante Unterhaltung, aber inhaltlich letztlich als großer Dilettant dargestellt wurde, publizierte man eher nicht über ihn, dachte aber vielleicht intensiv über seine Thesen nach. Die Aussage des Straf- und Prozessrechtlers Richard Schmidt traf vielleicht ganz gut das Verhältnis einer älteren Wissenschaftlergeneration zu Spengler. Mit Jakob Burkhard schrieb Schmidt, Geschichtsphilosophen wie Spengler seien „nicht mehr als Kentauren, denen man nur gelegentlich gern einmal am Waldrand begegnet“64. Kein bleibender wissenschaftlicher Wert stecke in ihren Abhandlungen.65 Sie seien mit anderen Worten „Zwitterwesen, die nur als Unterhaltungsobjekt müßiger Stunden oder allenfalls als Anregungsmittel zu tieferer Forschung zu dienen vermögen“66. Wenn dies die gängige Ansicht von Wissenschaftlern über Spengler war, so wird klar: Selbst wenn man sich bei Spengler Anregungen holte, wollte man vielleicht doch nicht öffentlich mit dem „Kentauren“ in Verbindung gebracht werden. Gerade die subtile Wirkung von Spenglers assoziationsreicher Geschichtsphilosophie, von seinem antidemokratischen Gedankengut und seinem radikal antirationalistischen Ansatz darf nicht unterschätzt werden. Es ließ sich aber kaum anhand der publizierten Werke nachweisen, ob Spengler hinter einem bestimmten Gedanken stand, wenn keine weiteren Hinweise existierten. Aufgrund der Popularität des Kulturphilosophen ist unter der Oberfläche – jenseits der publizierten Werke – bei vielen Juristen ein unterschwelliger Spenglereinfluss zu vermuten. Um dies im Einzelnen nachzuweisen, müsste versucht werden, ein Abbild des Wissens und Denkens sämtlicher Juristen, die zwischen 1918 und 1945 lebten, zu schaffen – eine unmögliche Aufgabe. 2. Zu den Quellen der Arbeit Möglichst nahe an einzelne Individuen käme man über Tagebücher und Briefe von juristischen Zeitgenossen. Barbara Beßlich hat gezeigt, was bei einer guten Quellenlage möglich ist: Sie hat aus verschiedenen Briefen und Tagebüchern die Entwicklung von Thomas Manns Ansicht über Spengler sehr genau rekonstruieren können.67 Tagebücher und Briefe von Juristen 64
Richard Schmidt, Verfassungsbau und Weltreichsbildung in: Gedenkschrift für Ludwig Mitteis, Leipzig 1926, S. 139–223, S. 141. Siehe zu Schmitt Thomas Duve, Normativität und Empirie im öffentlichen Recht und der Politikwissenschaft um 1900. Historisch-systematische Untersuchung des Lebens und Werks von Richard Schmidt (1862– 1944) und der Methodenentwicklung seiner Zeit, Diss. München 1998, Ebelsbach 1998. 65 Neben der „absonderlichen Erscheinung Oswalds Spenglers“ bezog sich Schmidt ebenfalls auf den Grafen Gobineau oder Houston Stuart Chamberlain (Schmidt, Verfassungsbau, S. 141). 66 Ebda. 67 Eine Detailuntersuchung hierzu bietet Barbara Beßlich, Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler, Berlin 2002; dies., Untergangs-Mißverständnisse, S. 29–52.
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A. Einleitung
aus dieser Zeit liegen aber kaum in publizierter Form vor.68 Die einzigen bisher veröffentlichten Briefe von Spengler an Juristen führten kaum zu genaueren Erkenntnissen.69 Die Hoffnung, in Biographien von Juristen, die im Untersuchungszeitraum lebten, fündig zu werden, zerschlug sich rasch. In nur drei von 40 durchgesehenen Lebensbeschreibungen aus dieser Zeit legte der jeweilige Biograph einen Spenglereinfluss frei.70 Juristenbiogra68
Für die vorliegende Arbeit konnten lediglich die autobiographischen Notizen des Rechtshistorikers Hans Fehr gewinnbringend verwendet werden (Hans Fehr, Mein Wissenschaftliches Lebenswerk, Bern 1945). 69 Aus den Briefen Spenglers geht hervor, dass der Herausgeber der DJZ, Otto Liebmann, Spengler 1925 um Beiträge bat. Spengler lehnte unter Hinweis auf sein „philosophisches Werk“ ab (Spengler, Briefe, S. 389). Zu Liebmann als Herausgeber der DJZ siehe die kurzen Hinweise in Spengler, Briefe, S. 785 (Fn. 5 zu 1925); Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 300 f.; Otto Liebmann, zum Abschied, DJZ 1933, Sp. 1582–1584. Weitere Bezüge zu Spengler ließen sich hier jedoch nicht ermitteln. Ein ganz anderes Anliegen trug Alfons Sack, einer der Verteidiger im Reichstagsbrandprozess, an Spengler heran. Er erbat sich von dem Kulturphilosophen Hinweise auf „Parallelvorgänge zu dem Reichtagsbrand in der Geschichte“ (Spengler, Briefe, S. 712), da er in seinem Plädoyer allgemein auf die innen- und außenpolitische Auswirkung der Brände von Staatsgebäuden einzugehen gedachte. Zudem begehrte er von Spengler dessen Meinung über staatsrechtliche Ausführungen des Plädoyers, insbesondere unter Beachtung des neuesten Buches von Schmitt (Carl Schmitt, Staat, Bewegung und Volk, Hamburg 1933). Spengler antwortete und gab Auskunft über eine Reihe von ähnlichen Bränden. Es kam auch mindestens ein Treffen zustande, bei dem weiter über das Plädoyer diskutiert wurde. Dies geht aus drei publizierten (Spengler, Briefe S. 712, S. 715 f., S. 717) und einem unpublizierten Brief hervor. Die Quellen geben leider keine Hinweise über Spenglers Ansicht zu Carl Schmitt. Sack schätzte Spenglers Meinung offenbar, wie auch aus folgender Zeile hervorgeht: „Ich wäre Ihnen sehr, sehr, dankbar, wenn Sie trotz Ihrer vielen Arbeit mir ganz unverblümt Ihre Meinung zukommen ließen, an der mir sehr viel liegt.“ Bisher ungedruckter Brief von Sack an Spengler vom 30.12.1933 (Ana 533 Sch 77 Sack, Alfons). Da Spengler aber ansonsten innerhalb der Strafrechtswissenschaften kaum diskutiert wurde und sich auch bei Sack keine weiteren „Spenglerismen“ fanden, führte diese brieflich gesicherte Spur leider nicht zu weiteren Forschungsergebnissen. 70 Die folgenden Biographien enthielten keinen Hinweis auf Spengler im Namensverzeichnis und keine Werke Spenglers im Literaturverzeichnis. Auch das spenglertypische Stichwort „Dynamisches Recht“ wurde nicht gefunden. Wenn die Biographien nicht weiter in der vorliegenden Arbeit Verwendung fanden, wurden sie nicht in das Literaturverzeichnis aufgenommen. Antonia Leugers, Georg Angermaier (1913–1945), Katholischer Jurist zwischen Nationalsozialistischem Regime und Kirche. Lebensbild und Tagebücher, Diss. Münster 1993, Mainz 1994; Joachim Henning, Dr. Ernst Biesten (1884– 1953). Demokrat in vier Epochen, Frankfurt am Main 1996; Jörg Luxem, Konrad Cosack – Leben und Werk – 1855–1933, Diss. Köln 1995, Frankfurt am Main 1995; Bernd Wörner, Adelbert Düringers Einfluss als Richter am Reichsgericht in Leipzig auf dem Gebiet des Personengesellschaftsrechts, Diss. Mannheim 2006, Frankfurt am Main 2007; Stefan Pinter, Zwischen Anhängerschaft und Kritik. Der Rechtsphilosoph C.A. Emge im Nationalsozialismus, Diss. Berlin 1994; Sibylle Hofer, Zwischen Gesetzestreue und Juristenrecht – Die Zivilrechtslehre Friedrich Endemanns (1857–1936), Diss. Hannover 1992,
II. Verwendete Quellen und Probleme der Einflussforschung
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Baden-Baden 1993; Sabine Jacobi, Ludwig Enneccerus 1843–1928 Rechtswissenschaftler und nationalliberaler Parlamentarier. Eine politische Biographie, Diss. Marburg 1997, Hamburg 1999; Roger Müller, Verwaltungsrecht als Wissenschaft. Fritz Fleiner 1867– 1937, Diss. Frankfurt am Main 2005, Frankfurt am Main 2006; Manfred Wolf, Philipp Heck als Zivilrechtsdogmatiker. Studien zur dogmatischen Umsetzung seiner Methodenlehre, Ebersbach 1996; Heinrich Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe. Leben, Werk und Wirkungsgeschichte Philipp Hecks, Diss. Konstanz 2000, Tübingen 2001; Christine Wegerich, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit. Justus Wilhelm Hedemann (1878–1963), Diss. Frankfurt am Main 2003, Tübingen 2004; Daniel von Mayenburg, Kriminologie und Strafrecht zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Hans von Henting (1887–1974), Diss. Bonn 2005, Baden-Baden 2006; Christian Weißhuhn, Alfred Hueck 1889–1975, Sein Leben, sein Wirken, seine Zeit, Diss. 2007 Jena, Frankfurt am Main 2009; Felix Gaul, Der Jurist Rudolf Isay (1886–1956). Ein verantwortungsbewusster Vermittler im Spannungsfeld zwischen dynamischer Rechtschöpfung, ökonomischem Wandel und technischem Fortschritt, Diss. Frankfurt am Main 2005, Frankfurt am Main 2005. Trotz der Übereinstimmung im Stichwort „Dynamik“ besteht keine Verbindung zu Spengler; Susanne Adlberger, Wilhelm Kisch – Leben und Wirken (1874–1952). Von der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg bis zur nationalsozialistischen Akademie für Deutsches Recht, Diss. München 2007, Frankfurt am Main 2007; René Schorsch, Eberhard Georg Otto Freiherr von Künßberg (1881–1941). Vom Wirken eines Rechtshistorikers, Diss. Potsdam 2008, Frankfurt am Main u.a., 2010; Wilhelm Wolf, Vom alten zum neuen Privatrecht: Das Konzept der normgestützten Kollektivierung in den zivilrechtlichen Arbeiten Heinrich Langes (1900–1977), Tübingen 1998; André Depping, Das BGB als Durchgangspunkt. Privatrechtsmethode und Privatrechtsleitbilder bei Heinrich Lehmann (1876–1963), Diss. 2001 Frankfurt am Main, 2002 Tübingen; Knut Bergbauer/ Sabine Fröhlich/Stefanie Schüler-Springorum, Denkmalsfigur – Biographische Annäherung an Hans Litten 1903–1938, Göttingen 2008; Harald Kahlenberg, Leben und Werk des Rechtshistorikers Walter Merk, Diss. München 1994, Frankfurt am Main 1995; Gerit Thulfaut, Kriminalpolitik und Strafrechtslehre bei Edmund Mezger (1883–1962), eine wissenschaftsgeschichtliche und biographische Untersuchung, Baden-Baden 2000; Georg Brun, Leben und Werk des Rechtshistorikers Heinrich Mitteis unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zum Nationalsozialismus, Diss. München 1990; Frankfurt am Main 1991; Christian Nunn, Rudolf Müller-Erzbach 1874–1959. Von der realen Methode über die Interessenjurisprudenz zum kausalen Rechtsdenken, Diss. München 1997, Frankfurt am Main 1998; Annett Böhm, Arthur Phillip Nikisch – Leben und Wirken, Diss. Leipzig 2003, Berlin 2003; Thorsten Hollstein, Die Verfassung als „Allgemeiner Teil“. Privatrechtsmethode und Privatrechtskonzeption bei Hans Carl Nipperdey (1895– 1968), Diss. Frankfurt am Main, Tübingen 2007. Rüdiger Brodhun, Paul Ernst Wilhelm Oertmann (1865–1938). Leben, Werk, Rechtsverständnis sowie Gesetzeszwang und Richterfreiheit, Diss. Hannover 1998/99, Baden-Baden 1999; Marie Louise Seelig, Heinz Potthoff (1875–1945) – Arbeitsrecht als volkswirtschaftliches und sozialpolitisches Gestaltungsinstrument, Diss. Berlin 2007, Berlin 2008; Karlheinz Muscheler, Hermann Ulrich Kantorowicz – eine Biographie, Berlin 1984; Ebelsbach 2001; Walter Cordes, (Hrsg.), Eugen Schmalenbach, der Mann, sein Werk, seine Wirkung, Stuttgart 1984; Hans Wrobel, Heinrich Schönfelder. Sammler Deutscher Gesetze (1902–1944), München 1997; Keiji Kubo, Hugo Sinzheimer – Vater des deutschen Arbeitsrecht, Frankfurt am Main 1995; Anna Bartels-Ishikawa, Theodor Sternberg einer der Begründer des Freirechts in Deutschland und Japan, Berlin 1998; Ko Vos, Eugen Rosenstock-Hussey. Eine kleine Biographie, Aachen 1997; Thorsten Miederhoff, Man erspare es mir, mein Juris-
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A. Einleitung
phien jener Zeit kommen zwar als generelle Quelle für einzelne Persönlichkeiten für die vorliegende Arbeit in Betracht, enthalten jedoch nur in sehr wenigen Einzelfällen Hinweise auf eine juristische Spenglerrezeption. Das ist freilich in den meisten Fällen kein Manko der jeweiligen Arbeit. Erwähnte ein umfangreich publizierender Autor an ein paar wenigen Stellen seines Oeuvres Spengler, so muss dies je nach Perspektive der jeweiligen Werkbiographie nicht unbedingt Erwähnung finden. So äußerte sich Hedemann an vier Stellen seines Lebenswerkes zu Spengler.71 Dass Wegerich dies nicht für erwähnenswert hielt, ist verständlich. Trotzdem wurde Hedemann dadurch im Rahmen dieser Arbeit interessant. In keinem Fall, in dem die Biographen auf Spengler hinwiesen, gingen die Spenglerverweise über die gedruckten Quellen hinaus. Das bedeutet, das wirkliche Ausmaß der Spenglerrezeption kann mit den gegebenen Quellen nur annäherungsweise rekonstruiert werden. Am Beispiel der Beforschung der Spenglerrezeption von Thomas Mann lässt sich sehen, wie nahe man einem „Spenglereinfluss“ kommen kann, wenn viele verschiedene Briefe und Tagebücher zur Verfügung stehen. Die besonders bekannten und viel beforschten Juristen, für die es eine mit Mann vergleichbare Vielzahl an publizierten Briefen und Ähnliches gibt – idealerweise in einer Gesamtausgabe mit Namensverzeichnis – haben sich allerdings nur teilweise für Spengler erwärmen können. So fand sich bei allen Materialien zu Radbruch kaum etwas über Spengler.72 Im Falle von Carl Schmitt wiedertenherz auszuschütten. Dr. iur. Kurt Tucholsky (1890–1935); sein juristischer Werdegang und seine Auseinandersetzung mit der Weimarer Strafrechtsreformdebatte am Beispiel der Rechtsprechung durch Laienrichter, Diss. Münster 2007, Frankfurt am Main 2008; Dagmar Unger, Adolf Wach (1843–1926) und das liberale Zivilprozessrecht, Diss. Leipzig 2002, Berlin 2005; Dirk Henning Hofer, Karl Konrad Werner Wedemeyer. Ein Juristen- und Gelehrtenleben in drei Reichen, Diss. Kiel 2009, Frankfurt am Main 2010; Thomas Hansen, Martin Wolf (1872–1953) – Ordnung und Klarheit als Rechts- und Lebensprinzip, Diss. Köln 2008, Tübingen 2009; Julia Schmidt, Konservative Staatsrechtslehre und Friedenspolitik. Leben und Werk Philipp Zorns, Diss. München 2000; leider verfügte bei weitem nicht jede Biographie über ein Namensverzeichnis, was die Suche erschwerte und nicht so sicher machte, wie der Verfasser der vorliegenden Arbeit dies gerne hätte. Folgende Biographien enthalten einen Bezug zwischen Spengler und dem Werk eines Juristen: Petrig, Emil Erich Hölscher (1880–1935) und Karl Otto Petraschek (1876– 1950); Schmidt, Otto Koellreutter 1883–1972; Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjurist des Dritten Reiches“, Darmstadt 1995. Dabei ging es jedes Mal um wenige Seiten umfassende Passagen. Im Fall von Carl Schmitt um nur eine kurze Nennung in einem Vortrag. 71 Siehe die vier Schriften im Anhang. 72 Selbstverständlich kannte Radbruch Spengler zumindest in groben Zügen, was anhand einer Rede über Sozialismus und Kultur von 1925 deutlich wird (Gustav Radbruch, Sozialismus und Kultur in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch. Gesamtausgabe Bd. 4, kulturphilosophische und kulturhistorische Schriften, Heidelberg 2002, S. 164– 169, S. 165). Die einzige weitere Spenglernennung in der Gesamtausgabe befindet sich in
II. Verwendete Quellen und Probleme der Einflussforschung
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um zeigt sich eine gewisse Spenglersympathie nur deshalb, weil die intensive Schmittforschung viele kleine verstreute Puzzleteile über Spengler und Schmitt bereits aufbereitet hat. So konnte nur aufgrund der Rekonstruktionsbemühungen bezüglich der Bibliothek von Carl Schmitt bemerkt werden, dass Schmitts persönliches, mit Anmerkungen und Unterstreichungen versehenes Exemplar von Spenglers „Preußentum und Sozialismus“ leicht einzusehen ist. Konsultiert wurden auch weitere publizierte Briefwechsel des Untersuchungszeitraumes, wenn auch ebenfalls ohne großen Erfolg.73 Spenglers direkte Briefkontakte waren hierbei freilich von größtem Interesse. Neben den von Koktanek herausgegebenen Briefen Spenglers wurde auch der Nachlass des Kulturphilosophen auf Kontakte mit Juristen durchgesehen. Dabei tauchten zwei bisher unpublizierte Briefe Otto Koellreutters und eine interessante Korrespondenz der Nichte Spenglers mit einer Reihe namhafter Rechtshistoriker auf. Anhand dieser Quellen lassen sich die jeweiligen Fragmente der Spenglerrezeption freilich viel genauer rekonstruieren. Um den vertretbaren Arbeitsaufwand aber nicht zu sprengen, wurde darauf verzichtet, in weiteren Archiven nach „der Nadel im Heuhaufen“ zu suchen. Die Hauptquellen bilden daher die von Juristen publizierten Werke, die einen deutlichen Hinweis auf Spengler enthalten. Dem wirklichen Denken der Zeit kommt man daher nur so nahe, wie diese Schriften es ausschnittsweise zulassen. 3. Beschränkung des Forschungsgegenstandes Spengler war ab 1919 derart berühmt, dass auch das Ausland – und insbesondere auch ausländische Rechtsgelehrte – auf ihn aufmerksam wurden. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung soll jedoch nur die Aufnahme von spenglerischem Gedanken innerhalb des deutschen Sprachraums und innerhalb der Zeit von 1918 bis 1945 sein. Ausländische Autoren werden
einer Rezension von Hans Fehrs zentraler Schrift „Recht und Wirklichkeit“. An Radbruchs sehr kurzer Zusammenfassung der nach seiner Ansicht gelungenen Kapitel über den Eigentumsbegriff wird zugleich deutlich, dass Radbruch 1928 Spenglers Aussagen übers Recht nicht mehr allzu detailliert präsent waren. (Gustav Radbruch, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit in: JW 57 (1928), S. 785). 73 Der reine Briefwechsel unter Juristen ist ohnehin eine Ausnahme. Man muss sich daher häufig damit begnügen, wenn wenigstens ein Jurist mitkommuniziert: So etwa Inken Rühle/Reinhold Mayer (Hrsg.), Franz Rosenzweig, Die „Gritli“-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy, Tübingen 2002. (Mit einigen Hinweisen, auf den Spenglertext des Juristen Eugen Rosenstock-Huessy); ohne Hinweise auf Spengler: Dorothee Mußgnug (Hrsg.), Ernst Levy und Wolfgang Kunkel. Briefwechsel 1922–1968, Heidelberg 2005; Villinger/Jaser (Hrsg.), Briefwechsel, Gretha Jünger – Carl Schmitt, Berlin 2007.
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A. Einleitung
nur in den seltenen Fällen herangezogen, in denen sie von inländischen Autoren in Bezug auf eine Spenglerrezeption wahrgenommen wurden. Dennoch sollen hier kurz vier Schlaglichter auf Amerika, Argentinien, Italien und Frankreich geworfen werden, um eine Vorstellung von der dortigen Spenglerrezeption zu geben. Von dem berühmten amerikanischen Juristen Oliver Wendel Holmes, der Spengler im Original las, ist ein Ausspruch überliefert, der für Trigg stellvertretend für die gesamte amerikanische Spenglerwahrnehmung stand: Der Untergang des Abendlandes sei „an interesting humbug of a book“.74 Wiliam Seagle hat die Diskussion über den orientalischen Einfluss auf das römische Recht und Spenglers Beitrag hierzu kurz in seinem Werk „The Quest for Law“75 angesprochen. In Argentinien fand sich der vielleicht größte Spenglerfan unter den Juristen: Ernesto Quesada.76 Er hielt eine Reihe von Vorlesungen über Spengler, die er auch publizierte.77 Seine nur auf Spanisch erschienenen
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Trigg, The impact of a pessimist, S. 163; Holmes arbeitete sich mit einem Wörterbuch 1924 durch den ersten Band des Untergangs, wie er an seinen Freund Felix Frankfurter schrieb. Sein Urteil lautet hier „It will repaid me by the stimulus it gave – and none the less that I happy disbelief half of what he said.“ (Siehe Christine L. Compston/Robert M. Mennel, Holmes and Frankfurter. Their Correspondence, 1912–1934, Hanover and London 1996, S. 175). Ähnlich fällt das Urteil von Holmes in einem späteren Brief aus: „When I finished Spengler I felt repaid by his suggestiveness, but I concluded that if he had made a philosophy for Germany, as he aspired to, he had not made one for me.“ (S. 176). Nach dieser deutlichen Ablehnung muss wohl nicht mehr weiter nach einem Spenglereinfluss bei Holmes gesucht werden, zumal nicht sicher ist, ob er den rechtshistorisch interessanten zweiten Band überhaupt jemals las. 75 Wiliam Seagal, The Quest for Law, New York 1941, S. 391 Fn. 12. 76 Zwischen Quesada und Spengler entwickelte sich sogar eine enge Freundschaft: Vgl. einen Tagebucheintrag von Spenglers Schwester Hildegard Kornhardt anlässlich des Todes von Quesada am 7.2.1934: „Mit Quesada verband ihn echte Freundschaft“ (zitiert nach Koktanek, Spengler, S. 457 (KTB 9,64)). Vgl. auch den intensiven Austausch von Briefen, der jetzt von Günter Vollmer mit einer Edition der Briefe gewürdigt wurde: Günter Vollmer (Hrsg.), Oswald Spenglers Briefwechsel mit Ernesto Quesada und Leonore Deiters: 163 Briefe, Postkarten oder Telegramme aus dem Nachlass Quesadas des Iberoamerikanischen Instituts, Berlin 1994; von ihrer Freundschaft zeugte auch der Plan, 1929 zusammen Geburtstag zu feiern (Spengler hatte am 19.5. Geburtstag, Quesada am 1.6. (siehe Spengler, Briefe S. 591). Bezeichnend ist auch, dass das einzige erhaltene Foto, auf dem Spengler lachend zu sehen ist, im Garten der Quesadas in Spiez aufgenommen wurde (siehe Günter Vollmer, Spengler, Quesada, Leonore und ich: Wie das Iberoamerikanische Institut wirklich entstanden ist. in: Wolf (Hrsg.), Die Berliner und Brandenburger Lateinamerikaforschung in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2001, S. 45). 77 Die allgemeine Spenglervorlesung: Ernesto Quesada, La sociologia relativista Spengleriana. Curso dado en la Universidad de Buenos Aires y La Plata en el año academico 1921, Buenos Aires 1921, und die Juristischen Vorlesungen: ders., La evolucion sociologica del derecho segun la doctrina Spengleriana, Cordoba 1923; ders., La
II. Verwendete Quellen und Probleme der Einflussforschung
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Werke wurden jedoch in Deutschland während des Untersuchungszeitraumes nicht wahrgenommen. In Italien,78 wo die Spenglerrezeption insgesamt nicht zuletzt durch die Unterstützung Mussolinis besonders groß war, konnte Spengler bei Zivilrechtlern freilich nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Die Verehrung des römischen Rechts79 und die Vorstellung einer kontinuierlichen Rechtsentwicklung seit der Antike standen Spenglers Ansichten in Italien entgegen. Ein Beispiel aus Frankreich zeigt, dass auch das Ausland wenig von den deutschsprachigen juristischen Spenglerdebatten wahrnahm. Der Aufsatz „La dynamique et la statique dans le droit“ begann mit Spengler, zitierte aber keinen weiteren der zahlreichen deutschsprachigen Autoren, die im Anschluss an Spengler die Begriffe „Dynamik“ und „Statik“ verwendeten.80
concepcion spengleriana del derecho, Cordoba 1923; ders., La evolución del derecho público segun la doctrina Spengleriana, Buenos Aires 1924. 78 Siehe zur Rezeption von Spengler bei italienischen Juristen auch Antonio Mantello, La giurisprudenza romana fra nazismo e fascism in: Quaderni di Storia 13 (1987), S. 23– 71. 79 Siehe hierzu jüngst Keiser, Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, S. 225 ff., der herausgearbeitet hat, dass ein maßgeblicher Unterschied zwischen dem Nationalsozialistischen und dem Faschistischen Eigentumsdenken darin bestand, dass die Nationalsozialisten gegen das römische Recht kämpften, während die Faschisten weiter „ihr“ römisches Recht verteidigten und gut mit ihren Gemeinwohlformeln in Einklang bringen konnten. 80 A. M. Ladijensky, La dynamique et la statique dans le droit in: Revue internatinale de la theorie du droit 2 (1927/28), S. 110–138.
B. Allgemeiner Überblick über Spenglers juristische Aussagen vor dem Hintergrund seines Gesamtwerkes und seines Lebens B. Allgemeiner Überblick über Spenglers juristische Aussagen
Für die Erforschung der Spenglerrezeption ist ein kurzer Überblick über Spenglers Gesamtwerk und seine wichtigsten Thesen unerlässlich. Nur vor ihrem Hintergrund können die Aussagen des Kulturphilosophen über das Recht verstanden werden. Zudem sind zwei Stationen aus dem Leben des Kulturphilosophen wichtige Wendepunkte für seine Rezeptionsgeschichte, 1. das Erscheinen seines Hauptwerkes und 2. sein Bruch mit den Nationalsozialisten. Bei der Darstellung dieser Ereignisse kann auf die bestehende Spenglerforschung zurückgegriffen werden.
I. Relevante Stationen aus Spenglers Leben I. Relevante Stationen aus Spenglers Leben
Der in einer bildungsfernen Umgebung aufgewachsene Spengler war bis zum Sommer 1918 ein vollkommen unbekannter Gelehrter.1 Er hatte neben 1
Oswald Arnold Gottfried Spengler wurde am 29.05.1880 im preußischen Blankenburg geboren (Koktanek, Spengler, S. 2). Der Vater, ein Postsekretär, der oft bis spät in der Nacht arbeitete, um die Familie zu ernähren, versuchte dem Sohn die Lektüre von Büchern, die nicht unmittelbar der Schule dienten, zu untersagen. Daher trieb es Oswald Spengler noch als Schüler oft heimlich in die Universitätsbibliothek, in der er, unter anderem Haeckel, Büchner, Strauß und Darwin las (Conde, Spengler, S. 14; Lisson, Spengler, S. 13; siehe hierzu auch Spengler selbst in Eis Heauton: „Meine Eltern beide unliterarisch, nie d. Bücherschrank geöffnet, kein Buch gekauft. M[utter] las Journale, V[ater] überhaupt nicht“ (Spengler, Eh 4D, S. 13). Spengler schrieb sich nach seinem 1899 bestandenen Abitur in Halle für Naturwissenschaften und Mathematik ein. Den Wunsch Lehrer zu werden, gestand sich Spengler in seinen persönlichen Aufzeichnungen selber als Ausrede ein (Spengler, Eh 57, S. 41). Wenig begeistert von der Universität lernte er gerade genug, um seine Examina zu bestehen, oder wenn man seinen Aufzeichnungen glaubt, teilweise auch gar nicht (Spengler, Eh 60, S. 42). Nach Gastaufenthalten an der Universität in München und Berlin beendet er sein Studium und verfasste eine Dissertation über den energetischen Grundgedanken bei Heraklid. Die Arbeit wurde zunächst abgelehnt, weil zu wenig Fachliteratur zitiert wurde (Koktanek, Spengler, S. 68; die Dissertation von Oswald Spengler ist abgedruckt in: Spengler, Reden und Aufsätze, München 1937, S. 1–47). Nach erfolgter Promotion folgte ab 1904 eine Zeit in der Spengler als
I. Relevante Stationen aus Spenglers Leben
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familiären Kontakten im Wesentlichen einen intellektuellen Briefpartner, mit dem er sich austauschen konnte.2 Als aber im November 1918 zeitgleich mit der deutschen Niederlage der erste Band seines „Untergang des Abendlandes“ veröffentlicht wurde, stieg er zum literarischen Star auf und wurde über Nacht zu einem vielbeachteten Schriftsteller. Das Ausmaß der Reaktion auf Spengler kann kaum überschätzt werden. Die zahlreichen öffentlichen Debatten um sein Werk waren bald als „Streit um Spengler“ in aller Munde.3 Daran beteiligt waren die Geistesgrößen der Zeit,4 wie etwa Thomas Mann5, Walter Benjamin, Max Frisch, Kurt Tucholsky, Rainer Maria Rilke, Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger, Edmund Husserl, Georg Simmel, Herbert Marcuse, Leo Frobenius6, Ernst Jünger, Franz Kafka und Max Weber7. Die meisten äußerten sich ablehnend und stark Lehrer in Hamburg arbeitete, eine Tätigkeit, die ihm nach eigenen Aussagen ganz fremd, lästig und widerwärtig war (Naeher, Spengler, S. 40). Eine Erbschaft erlaubte ihm, 1910 den Lehrerberuf aufzugeben und sich als Privatgelehrter in München niederzulassen (Conde, Spengler, S. 17). 2 Es handelt sich um Hans Klöres, der in Spenglers Zeit als Lehrer dessen Kollege gewesen war. Er freundete sich ab Mitte 1913 mit Spengler an (Koktanek, Spengler, S. 191), siehe zudem in den von Spengler publizierten Briefen der Jahre bis 1919, die durch Briefe mit Klöres dominiert wurden (Koktanek, Spenglers Briefe). 3 Die generelle Kenntnis um den Streit um Spengler ist hauptsächlich durch Manfreds Schröters Werk „Der Streit um Spengler“ überliefert. Schröter hat zwar in einer ungeheuren Breite die Spenglerkritik wahrgenommen, aber er verstand sich nicht als Chronist, sondern brachte seine eigenen zeitgebundenen Vorstellungen deutlich zum Ausdruck. Es fehlt leider an einer neueren umfassenden Darstellung des „Streits um Spengler“. Zwar schaffte es Schröter mit seinem Werk die Bewertung von Spengler auf eine höhere Ebene zu bringen, er war jedoch auch selber seiner Zeit und seinen persönlichen Vorstellungen verhaftet. Siehe hierzu etwa schon den Zeitgenossen Ernst Troeltsch, Rez. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Band 2, München 1922, in Hist. Ztsr. 128 (1923), S. 313– 121. 4 Siehe die kurze Zusammenstellung der Äußerungen von Felken, Spengler, vor allem S. 114 ff., aber auch S. 74 und 84; eine Zusammenstellung der Reaktionen deutscher Schriftsteller findet sich bei Beßlich, Untergangs-Mißverständnisse, S. 29–52; eine Zusammenfassung der historischen Kritik mit einer eigenen Bewertung verbindet Farrenkopf, Prophet of Decline, S. 91 ff. Siehe für Verweise auf einen Spenglereinfluss bei einigen Autoren auch S. 3 f., Fn. 9 ff. 5 Siehe auch Fn. 67 auf S. 13. 6 Siehe zur Beziehung zwischen Frobenius und Spengler bei Koktanek, Spengler, S. 333 ff. Einen groben Vergleich der Lehren Spenglers und Frobenius findet sich bei Hans-Jürgen Heinrichs, Die fremde Welt, das bin ich. Leo Frobenius, Ethnologe, Forschungsreisender, Abenteurer, Wuppertal 1998, S. 83 ff. Das maßgebliche Werk des Afrikaforschers ist Leo Frobenius, Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre, München 1921. 7 Siehe hierzu die Darstellung des Streitgesprächs zwischen Weber und Spengler im Münchener Rathaus im Wintersemester 1919/20 aus der Sicht Marianne Webers bei Joachim Radkau, Max Weber, Die Leidenschaft des Denkens, München, Wien 2005, S. 766 f.; Eine kurze Beschreibung des Streitgespräches ist abgedruckt bei Eduard
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B. Allgemeiner Überblick über Spenglers juristische Aussagen
kritisierend. Doch es gab auch prominente Fürsprecher von akademischer Seite. Die Universität Göttingen bot Spengler noch 1918 einen Lehrstuhl für Philosophie an.8 Der Althistoriker Eduard Meyer bekannte sich öffentlich zu einem Teil der spenglerschen Thesen.9 So auch der Afrikaforscher Leo Frobenius.10 Vor dem Hintergrund dieser plötzlichen, gigantischen Aufmerksamkeit in der akademischen und literarischen Welt ist die juristische Spenglerrezeption zu sehen. Entscheidend für das Verhalten der Juristen dürfte in vielen Fällen auch Spenglers Bruch mit den Nationalsozialisten gewesen sein. Der Kulturphilosoph fiel im Sommer 1933 in Ungnade und wurde schließlich offiziell ignoriert.11 Zunächst wurde der profilierte Gegner der Weimarer Demokratie12 von der NSADAP noch hofiert.13 Doch Spengler trat im Juli 1933 mit einer Schrift hervor, die als die bedeutendste offen geäußerte Kritik am Nationalsozialismus von konservativer Seite bezeichnet wurde.14 Dies Baumgarten, Max Weber. Werk und Person. Dokumente, Tübingen 1964, S. 554 Fn. 1. Inhaltlich wurden hier freilich keine juristischen Thesen ausgetauscht. Ein Streit zwischen beiden entzündete sich vor allem an Spenglers Kritik an Marx und Nietzsche, welche beide für Weber Voraussetzungen für das zeitgenössische Denken überhaupt darstellte. Spenglers Kulturphilosophie fand Weber schlichtweg zu spekulativ. 8 Siehe Felken, Spengler, S. 116. 9 Eduard Meyer, Spenglers Untergang des Abendlandes, Berlin 1925; siehe hierzu auch Victor Ehrenberg, Eduard Meyer in: Historische Zeitschrift, Bd. 143 (1931), S. 501–511, S. 509 („… so ist er [Eduard Meyer, L.M.K.] mit aller Entschiedenheit für das Spengler Werk eingetreten, dass er in seiner Bedeutung als schöpferischen anreget sogar mit Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit vergleicht.“); siehe auch Koktanek, Spengler, S. 270. Siehe hierzu außerdem Demandt, Eduard Meyer und Oswald Spengler. 10 Dessen Werk Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre, München 1921 von Spengler inspiriert war. Siehe zu Frobenius und Spengler Koktanek, Spengler, S. 332 ff., S. 342 ff. 11 Über Spenglers Verhältnis zum Nationalsozialismus wurde bereits mehrfach geforscht, so dass eine Beschränkung auf die wesentlichen Eckdaten angezeigt ist. Siehe vor allem Vollnhals, Oswald Spengler und der Nationalsozialismus; Boterman, Spengler, S. 375 ff.; Felken, Spengler, S. 196 ff.; Koktanek, Spengler, S. 436 ff. 12 Dies wurde vor allem in den Schriften „Preußentum und Sozialismus“ (1919) und „Neubau des Deutschen Reiches“ (1924) deutlich. Daneben pflegte Spengler in den wilden Anfangsjahren der Republik auch Kontakt zu Politikern, führenden Unternehmern und verschiedenen Akteuren der Tagespresse um politischen Einfluss zu erlangen. Dies ist gut beschrieben bei Felken, Spengler, S. 134 ff.; Boterman, Spengler, S. 260 ff. 13 So wurde er unter Zustimmung des nun nationalsozialistisch geleiteten sächsischen Wissenschaftsministeriums auf den ersten Platz einer Berufungsliste für das Institut für Kultur- und Universalgeschichte in Leipzig gesetzt (siehe etwa Boterman, Spengler, S. 404; Koktanek, Spengler, S. 451 ff.). 14 So das allgemeine Urteil, das schon Koktanek traf. Er bezeichnete „Jahre der Entscheidung“ als das „einzige während des Dritten Reichs in Deutschland erschienene Manifest des inneren konservativen Widerstandes“ (Koktanek, Spengler, S. 446). Dieser Satz
I. Relevante Stationen aus Spenglers Leben
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musste unweigerlich zum Bruch mit den Nationalsozialisten führen.15 Ab August 1933 begann eine nationalsozialistische Pressekampagne gegen Spengler16, die in einer Anweisung von Göbbels gipfelte, von „diesem Mann keinerlei Notiz mehr zu nehmen.“17 Parallel zu dem regimegesteuerten Feldzug gegen Spengler erschienen zahlreiche Schmähschriften gegen den Kulturphilosophen.18 Zudem trat Spengler aus dem Vorstand des Nietzschearchivs aus, als sich dort die nationalsozialistische Interpretation Nietzsches durchsetzte.19 Die zum Teil deutliche Feindschaft zwischen den Nationalsozialisten und Spengler schlug also zeitweise hohe Wellen.
wird zunehmend Pflichtzitat in Spenglerbüchern (so etwa zitiert bei Conte, Spengler, S. 61). Um nur ein Beispiel der NS-Kritik anzuführen sei folgendes erwähnt: Spengler ging von dem konservativen Ideal einer vom Plebs abgehobenen Funktionselite aus. Der Nationalsozialismus war für ihn das Gegenteil davon. Diejenigen, die in seiner Zeit Politik betrieben, seien, so Spengler, „Missratene und Minderwertige an Seele und Leib“. Weiter schrieb er: „(M)an sehe sich nur einmal die Gestalten in diesen Versammlungen, Kneipen, Umzügen und Krawallen an; irgendwie sind sie alle Missgeburten, Leute die statt tüchtiger Rasse im Leib nur noch Rechthabereien und Rache für ihr verfehltes Leben im Kopfe haben, und an denen der Mund der wichtigste Körperteil ist. […] (G)escheiterte Akademiker, Abenteurer und Spekulanten, Verbrecher und Dirnen, Tagediebe, Schwachsinnige, untermischt mit ein paar traurigen Schwärmern für irgendwelche abstrakten Ideale.[…] Aus diesem Dunstkreis gehen die Tageshelden aller Pöbelbewegungen und radikalen Parteien hervor.“ (Spengler, Jahre der Entscheidung, S. 67). Zwar wurde die NSDAP dabei nicht ausdrücklich genannt, aber es wurden unmissverständlich alle radikalen Parteien seiner Zeit, also zumindest auch die NSDAP, angesprochen. Seine Kritik gipfelte darin, der NSDAP vorzuwerfen, den Begriff der Rasse nicht verstanden zu haben. 15 Auch wenn Spengler die Absicht hatte die „Bewegung“ seinem konservativen Ideal nach zu reformieren und zu diesem Behufe auch Hitler persönlich ein Exemplar seines Werkes zukommen ließ (Spengler, Briefe, S. 699). 16 Spengler, Briefe, S. 710. 17 H. Bohrmann (Hrsg.) bearbeitet von G.Toepser-Zigert, NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, München 1984, S. 242; Vollnhals, Oswald Spengler und der Nationalsozialismus, S. 286. 18 Allen voran: Arthur Zweiniger, Spengler im Dritten Reich: eine Antwort auf Oswald Spenglers „Jahre der Entscheidung“, Oldenburg 1933; Ernst Horneffer, Oswald Spengler – wie ich ihn sehe, Stuttgart 1934; Karl Muhs, Spengler und der wirtschaftliche Untergang Europas, Berlin 1934; Johann von Leers, Spenglers weltpolitisches System und der Nationalsozialismus, Berlin 1934; Ernst Günter Gründel, Jahre der Überwindung. Umfassende Abrechnung mit dem „Untergangs“-Magier – Aufgabe der deutschen Intellektuellen – weltgeschichtliche Sinndeutung des Nationalsozialismus. Ein offenes Wort an alle Geistigen, Breslau 1934; etwas neben der politischen Spur: Wilhelm Düren, Goethe widerlegt Spengler, Bonn 1934. 19 Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 459.
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B. Allgemeiner Überblick über Spenglers juristische Aussagen
II. Überblick über die Geschichtsphilosophie II. Überblick über die Geschichtsphilosophie
Neben seinem philosophischen Hauptwerk publizierte Spengler eine Reihe von politischen Schriften, die für seien Aufnahme in der Rechtswissenschaft eine gewisse Relevanz hatten, insbesondere innerhalb der Staatsrechtswissenschaften. Dazu gehörten vor allem „Preußentum und Sozialismus“ (1919) und „Neubau des deutschen Reiches“ (1924).20 Der folgende, vor die Klammer gezogene, Überblick über Spengler Thesen behandelt jedoch nur die Aussagen aus dem Untergang des Abendlandes, da nur diese für alle Fragen der juristischen Spenglerrezeption gleichermaßen relevant sind. Auf die übrigen Werke wird an gegebener Stelle eingegangen. Da unter den juristischen „Spenglerianern“ kein Streit um die Auslegung des „Untergangs“ geführt wurde, kann Spengler hier – soweit dies möglich ist – im Original wiedergegeben werden.21 Im Kern enthielt der Untergang des Abendlandes eine Geschichtsphilosophie, welche die Hochkulturen in den Mittelpunkt stellte. Diese Hochkulturen verstand Spengler als organische, lebendige Einheiten, die jeweils über eine individuelle Seele verfügten bzw. verfügen.22 Alles was eine Hochkultur in ihrer rund 1000 Jahre währenden Lebenszeit hervorbringe, sei Ausdruck ihrer Seele, sodass es einem Historiker durch jedes Zeugnis einer Hochkultur möglich sei, auf den konkreten Stil der jeweiligen Kulturseele zu schließen.23 Diese Tätigkeit bezeichnete Spengler als Morphologie der Weltgeschichte. Freilich hinterlassen Menschen seit ihrem Auftreten stets Spuren, jedoch sei nicht hinter jedem Artefakt eine Seele auszumachen. Eine Hochkultur beginne, so Spengler, erst dort, wo alle Er20
Die weiteren Monographien Spenglers und seine zahlreichen Reden und Aufsätze spielten für die juristische Spenglerrezeption kaum eine Rolle und sind daher hier zu vernachlässigen. 21 Zudem bietet es sich aufgrund der Vielzahl und der Unterschiedlichkeit der in den Blick genommenen juristischen Autoren kaum an, Spengler hier so darzustellen, wie ihn „die“ Juristen verstanden haben. Die Juristen hielten es darüber hinaus nicht für nötig, sich intensiv exegetisch mit Spengler auseinander zu setzen. Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass die Grundthesen des „Literarischen Stars“ von 1919 vor allem in den 1920er Jahren in großem Umfang zur Allgemeinbildung der belesenen Schichten gehörten. Das bedeutet, dass die juristischen Autoren beim Leser einen gewissen Spenglerhorizont voraussetzten durften. Daher wurden häufig nicht allzu viele Grundthesen Spengler erläutert, weil man sich damit vor seiner Leserschaft blamiert hätte. In dieser Situation fällt es naturgemäß schwer, das „Spenglerverständnis“ eines konkreten Juristen oder gar „der Juristen“ herauszuarbeiten. Als Ausgangspunkt wird daher nicht der, durch die spezifisch „juristische Brille“ bereits modifizierte, spenglersche Text, sondern der – soweit dies möglich ist – noch nicht durch andere interpretierte Text Spenglers gewählt. 22 Spengler, UdA I, Einleitung S. 29 und Kapitel II, Abschnitt I 6, S. 140; siehe hierzu auch Koktanek, Spengler, S. 151 f. 23 Spengler, UdA II, Kapitel II, Abschnitt I 6, S. 141.
II. Überblick über die Geschichtsphilosophie
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zeugnisse verschiedenster Disziplinen eine einheitliche Tendenz erhielten und so als Ausdruck einer einheitlichen Kulturseele bezeichnet werden könnten.24 Der zeitliche Verlauf der einzelnen Phasen einer Kultur halte sich an ein strenges Schema. Bestimmte Entdeckungen oder Geisteshaltungen würden sich bei jeder Kultur zur selben Zeit ab ihrem Entstehungsdatum feststellen lassen. Dadurch sollte es möglich werden, den weiteren Verlauf einer Kultur für die Zukunft zu prognostizieren. Spengler führte hierzu einen speziellen Begriff der Gleichzeitigkeit ein: „Ich nenne ‚gleichzeitig‘ zwei geschichtliche Tatsachen, die jede in ihrer Kultur, in genau derselben – relativen – Lage auftreten und also eine genaue entsprechende Bedeutung haben.“25 Gleichzeitigkeit meinte also im „Untergang“, dass epochale Ereignisse den gleichen Abstand zum Beginn der jeweiligen Kultur haben. Daher konnte Spengler sagen, dass Pythagoras, der um 540 v. Chr. die Zahl als Größe entwickelte, „gleichzeitig“ mit Descartes lebte, der um 1630 die abstrakte Zahlenvorstellung erdachte.26 Weiter referierte Spengler, dass die Gründung von Alexandria, Bagdad und Washington „gleichzeitig“ in der ägyptischen, der arabischen und der abendländischen Kultur erfolgt seien. Ebenso trete die antike Münze „gleichzeitig“ mit der abendländischen doppelten Buchführung auf, Konfuzius, Aristoteles und Kant hätten „gleichzeitig“ ihre Philosophien entwickelt und Qin Shi Huangdi, der erste chinesische Kaiser, habe „gleichzeitig“ mit Augustus regiert.27 Aus solchen Überlegungen folgten auch brisante Fragen für die Zukunft, wie etwa: Wann werde das Äquivalent des Abendlandes zum antiken Phänomen Caesar auftauchen? Oder: Wann werde für uns die Zeit gekommen sein, die „gleichzeitig“ zu der Phase verläuft, in der die Antike die entscheidenden Rechtsentwicklungen hervorbrachte? Das Ende einer Kultur sei gekommen, so Spengler, wenn sich die Kulturseele dergestalt verwirklicht habe, dass alles, was sie hervorzubringen imstande sei, in vollkommen ausgereifter Form entwickelt wurde. Was darauf folge nannte Spengler den Übergang in den Zustand der Zivilisation. Der Begriff der Zivilisation wurde von Spengler, wie im deutschen Sprachraum üblich, negativ belegt und war hauptsächlich dadurch gekennzeichnet, dass kulturelle Leistungen im Sinne der Verwirklichung der Seele schlichtweg nicht mehr möglich seien.28 Der Titel des Werkes „Untergang 24
Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt B 9, S. 41. Spengler, UdA I, Kapitel II, Abschnitt I 8, S. 152. 26 Spengler, UdA I, Kapitel II, Abschnitt I 8 zur Gleichzeitigkeit. Zur Gleichzeitigkeit der Mathematik siehe insbesondere die Tabelle am Ende des ersten Kapitels, S. 124. 27 Spengler, UdA I, Kapitel II, Abschnitt I 8, S. 152. 28 Spengler führte kein abgeschlossenes Schema für die Unterscheidung von Kultur und Zivilisation vor, nannte jedoch entsprechende Indizien. So sei die Geisteshaltung in der Kultur idealistischer und in der Zivilisation materialistischer (Spengler, UdA I, Einleitung, S. 39). Das Geld mutiere in der Zivilisation zu einer anorganischen, abstrakten 25
26
B. Allgemeiner Überblick über Spenglers juristische Aussagen
des Abendlandes“ erklärte sich dadurch, dass Spengler die Hochkultur des Abendlandes auf dem Scheidepunkt zur Zivilisation sah. 29
III. Apollinische und faustische Seele III. Apollinische und faustische Seele
Spengler behandelte schwerpunktmäßig die antike und die abendländische Kultur. Daneben ging er auf die ägyptische, babylonische, indische, chinesische, arabische und uramerikanische Kultur ein. Für den Kontext der juristischen Spenglerrezeption interessieren zunächst nur die antike und die abendländische Kultur. Um die Seelen dieser zwei Kulturen schlagwortartig zu beschreiben verwendete Spengler den Begriff „apollinische“ Seele für die antike Kultur und „faustische“ Seele für die abendländische Kultur. Spenglers Bild von dem Charakter der jeweiligen Kulturseelen soll im Folgenden genauer beschrieben werden. 1. Antike Kultur Den Beginn der Antike legte Spengler auf das Jahr 1100 v. Chr. Bereits zur Zeit des frühen Prinzipats, also lange vor dem tatsächlichen Untergang Westroms 476 n. Chr., sei der Übergang in die Zivilisation erfolgt, so der Kulturphilosoph.30 Die Kulturseele der Antike habe zwei Merkmale gehabt: Zum einen sei sie plastisch gewesen, also in jeder Hinsicht auf real existierende Körper bezogen, und zum anderen sei sie ahistorisch gewesen, also auf den Augenblick ausgerichtet.31 Deshalb hätten sich antike Astronomen den Weltraum als eine Hohlkugel vorgestellt, also als einen abgegrenzten Raum, in welchem die Sterne aufgehängt gewesen seien.32 Die Größe, mithin zu einem Machtfaktor, der weit abgelöst ist von ursprünglichen Bedeutungen als Tauschmittel zur Lebenserhaltung (Spengler, UdA I, Einleitung, S. 46). Wichtige Entscheidungen würden in der Zivilisation in wenigen zentralen Städten getroffen, und zwar von einer kleinen Anzahl überlegener Köpfe. Zwar verfüge die Zivilisation über mehr Politiker, es handele sich jedoch um Politiker zweiten Ranges, die nur dazu dienen, die Illusion der Selbstbestimmung des Volkes aufrechtzuerhalten (Spengler, UdA I, Einleitung, S. 48). In Zeiten der Kultur hätten Künstler, Philosophen und andere Denker einen wirkungsmächtigen Einfluss auf Politik, Kriegsführung und Wirtschaft. In Zeiten der Zivilisation gebe es keine Kulturschaffenden mehr, die Einfluss auf die Politik haben könne. (Spengler, UdA I, Einleitung, S. 60 ff.). Eine Zusammenstellung von konkreteren Beispielen Spenglers findet sich bei Koktanek, Spengler, S. 158 ff. 29 Die konkrete Form der Zivilisation des Abendlandes ist der Sozialismus, in der Antike der Stoizismus. Siehe hierzu Koktanek, Spengler, S. 162 ff. 30 Vgl. Spengler, UdA I, I. Tafel „gleichzeitiger“ Geistesepochen, S. 70 ff. 31 Vgl. insgesamt zum Vergleich der drei hier wichtigen Kulturseelen Spengler, UdA I, Kapitel III, Abschnitt II. 7, S. 237 ff. 32 Siehe Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt 5, S. 86 ff. für die antike Mathematik.
III. Apollinische und faustische Seele
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Götter hätten nach antiker Vorstellung weder im Nichts, noch im Himmel existiert, sondern auf dem Olymp, und seien damit stets körperlich anwesend auf der Erde gewesen.33 Die Kunst habe menschliche Körper plastisch so abgebildet, wie sie in der Realität existierten.34 Die antike Mathematik habe sich mit Gebilden beschäftigt, die in der Natur vorkommen, also mit Körpern und deren Grundbestandteilen.35 Im antiken Theater, so Spengler, sei die Handlung im Situationsdrama auf einen Raum und eine Zeit festgelegt gewesen, was zugleich Symbol für plastisches, also auch für ahistorisches Denken gewesen sei.36 Ebenso habe es sich mit der Grabsitte der Antike verhalten, die in der Kulturzeit der antiken Welt auf die Verbrennung des Toten ausgerichtet gewesen sei. Dies deutete Spengler als einen „Akt der Vernichtung“, durch den der antike Mensch der Existenz seines Körpers im Hier und Jetzt ein Ende setzte.37 2. Abendländische Kultur Die abendländische Kulturseele war nach Spengler durch abstraktes Denken und dem Streben nach der Unendlichkeit bestimmt. Daher konnten abendländische Mathematiker die Infinitesimalrechnung erdenken.38 Den Weltraum stelle sich der Abendländer unendlich in alle Richtungen vor, was nach Spengler für einen antiken Denker schlichtweg nicht möglich gewesen wäre. In der Kunst entwickelte sich die Perspektive, durch die Bilder gemalt werden können, die bis in die ferne Unendlichkeit wiesen.39 Das Abendland brachte die kontrapunktische Musik und die Fuge hervor.40 Man erkennt schnell: Die abendländische, auch „faustisch“ genannte Kulturseele, ist mit ihrer Abstraktion und ihrem Unendlichkeitsdrang als Gegenteil der antiken apollinischen plastischen Kulturseele konstruiert, wie sich auch an folgenden Beispielen zeigt. Spengler referierte, dass der antike Historiker den Horizont seiner Lebenserfahrung kaum überschritt, während der „perspektivische Blick über die Geschichte von Jahrhunderten“41 eine Eigenart abendländischer Historiker sei. Während in der antiken Tragödie nur eine kurze Zeitspanne auf die Bühne gebracht wurde, stellte man in der abendländischen Tragödie die Entwicklung ganzer Lebensläufe
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Spengler, UdA I, Kapitel III, Abschnitt II 6, S. 241. Spengler, UdA I, Kapitel III, Abschnitt II 6, S. 239 f. 35 Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt II 4, S. 88. 36 Spengler, UdA I, Kapitel II, Abschnitt II 12, S. 171 f. 37 Spengler, UdA I, Kapitel II, Abschnitt II 13, S. 177. 38 Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt II 9, 101 f. 39 Spengler, UdA I, Kapitel III, Abschnitt II 6, S. 236. 40 Spengler, UdA I, Kapitel IV, Abschnitt I vollständig, insbesondere S. 297 ff. 41 Spengler, UdA I, Einleitung, Abschnitt 4, S. 12 f. 34
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B. Allgemeiner Überblick über Spenglers juristische Aussagen
dar.42 Die abendländischen Dome würden dem Himmel entgegen streben und seien im Innenraum so konstruiert, dass sie ein inneres unendliches Tiefenerlebnis bieten. Dies stehe wiederum ganz im Gegensatz zum ausgewogenen und übersichtlichen antiken Tempel, dessen Innenraum mit einem Blick in seiner abgegrenzten Körperlichkeit abschließend erfasst werden könne.43 Nur am Rande sei erwähnt, dass Spengler damit diejenigen Aspekte der europäischen Geschichte als besonders abstrakt-faustischunendlich beschrieb, die Max Weber als Beispiele des Voranschreitens der Rationalität dienten.44
IV. Anwendung der Geschichtsphilosophie auf das Recht IV. Anwendung der Geschichtsphilosophie auf das Recht
Nach Spengler musste sich nun auch in den konkreten Rechtsinstituten der jeweiligen Kultur ihre Kulturseele spiegeln. Über das römische Recht und das Recht des Abendlandes verfasste der Kulturphilosoph im Untergang des Abendlandes eigene Unterkapitel. Hier wendete er seine Kulturphilosophie auf die Rechtsgeschichte und das gegenwärtige Recht an. Die körperliche, plastische Seele der Antike erkannte Spengler auch im römischen Recht. Rechtssubjekte seien hier die einzelnen Körper gewesen, aus denen der Staat bestand, nämlich die römischen Bürger45 als rechtliche 42
Spengler, UdA I, Kapitel II, Abschnitt II 12, S. 170. Spengler, UdA I, Kapitel III, Abschnitt II 6, S. 235 f. 44 Soweit ersichtlich hat noch niemand auf die Parallelität zwischen Max Webers Beschreibung der zunehmenden Rationalität des westlichen Denkens und der abendländischen Kulturseele nach Spengler hingewiesen. Es hilft aber zu verstehen, welche Charakteristika Spengler der abendländischen Kulturseele zuschreibt, wenn man erkennt, dass sich Weber und Spengler auf die gleichen Elemente der – bei Weber so genannten okzidentalen – Kultur berufen. Auch Weber nimmt als Beispiele die Wissenschaft, das Recht, die Musik, die mittelalterliche Bautätigkeit und Kunstproduktion und die Art der Staatsund Wirtschaftsführung, (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Nachdruck Köln 2009, Vorbemerkungen, S. 7 ff.) um darzustellen, dass „gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gerne vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen.“ (S. 7). Freilich überwog bei Zeitgenossen vermutlich die Wahrnehmung der Differenzen zwischen Spengler und Weber, die bei vielen anderen grundsätzlichen Fragen mannigfach hervortraten, aber die Beispiele an denen der eine den spezifisch rationalen Charakter des Okzidents und der andere die dynamischfaustisch-abstrakte Seele des Abendlandes festmacht, sind auf den ersten Blick auffallend identisch. Wichtig ist nur sich klarzumachen, dass es sich für Max Weber dabei um empirisch feststellbare metaphysiklose objektive Fakten handelt, die ohne die Einflüsse eines Werturteils erkannt werden. Bei Spengler ist die Rationalität eine dem faustischen Denken durch die Kulturseele vorgegebene Notwendigkeit. 45 Spengler betont dabei, dass mit Persona im Sinne des römischen jus civile nur der römische Bürger gemeint ist. Der römische Bürger als Körper ist zugleich Konstituent 43
IV. Anwendung der Geschichtsphilosophie auf das Recht
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personae.46 Die Einheit von rechtlicher persona mit dem Staat ist nach Spengler „eine formale Tatsache des antiken Weltgefühls“ aus der sich das „gesamte antike Recht entwickelt“47 habe. Eine persona könne rechtlich wiederum nur mit anderen körperlichen Dingen in Kontakt treten, nämlich mit anderen personae, oder mit res. Ein rechtlicher Kontakt zu etwas letztlich Unkörperlichen sei nach römischem Recht nicht denkbar gewesen.48 Das römische Recht habe also die Welt in körperliche Personen und körperliche Sachen getrennt und behandelte ihre Beziehungen „als eine euklidische Mathematik des öffentlichen Lebens.“49 Um die Körperbezogenheit weiter zu erläutern, verwies Spengler auf die capitis deminutio, durch die der antike Mensch zur Strafe aufgehört habe „eine Person zu sein, obwohl er körperlich weiterlebt“50. Dies sei dem abendländischen Rechtsdenken fremd, da die Antike den Verlust der Rechtsfähigkeit mit dem Verlust der Eigenschaft eine natürliche Person zu sein assoziiert habe. Die körperlichen Rechtsgrundbegriffe hätten dazu geführt, dass das rechtswissenschaftliche Denken der Römer dem mathematischen bzw. geometrischen Denken sehr ähnlich gewesen sei. Beide Disziplinen hätten die Wirkung, die verschiedene Köper aufeinander zu entfalten vermögen, zum Gegenstand gehabt. Um diese Ähnlichkeit zu betonen, verwendete Spengler den Begriff der juristischen Statik.51 Die Geschichte des abendländischen Rechts besteht bei Spengler im Wesentlichen aus zwei Informationen. Erstens sei die Rezeption des römischen Rechts eine Katastrophe gewesen,52 zweitens habe die Rezeption bis in die Gegenwart verhindert, dass die abendländische Kulturseele ihr entsprechende Rechtsbegriffe und ein eigenes Rechtsdenken entwickelte. In der zweiten Aussage steckte zugleich eine heftige Kritik an der bisherigen abendländischen Jurisprudenz. Spengler ging so weit, zu behaupten, dass die soziale Wirklichkeit der abendländischen Kultur noch nie in einem hochentwickelten abendländischen Privatrecht abgebildet gewesen sei: des römischen Staates, der sich in der Zenturialversammlung körperlich manifestiert, ganz ohne jede höhere Abstraktion (UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 13, S. 70). 46 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 13, S. 68 f. 47 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 13, S. 68 f. 48 Zum Unterschied zwischen res corporalis und res incorporalis siehe unten S. 211, Fn. 179. 49 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 15, S. 78. 50 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 13, S. 69. 51 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 15, S. 78. Siehe hierzu unten S. 82. 52 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 93 f. Die Rezeption des römischen Rechts wird als ein Prozess dargestellt, der die Entwicklung einer eigenen abendländischen Rechtskultur hemmt. Spengler spricht davon, dass das corpus iuris ein fertiges Gedankengebäude bereitstellt, welches von Beginn an die abendländische Seele hindert, eigene Rechtsbegriffe auszubilden.
30
B. Allgemeiner Überblick über Spenglers juristische Aussagen
„Darüber ist uns eine Tatsache vollständig abhanden gekommen, daß nämlich das Privatrecht den Geist des jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Daseins darstellen soll. Weder der Code civil noch das preußische Landrecht, weder Grotius noch Mommsen sind sich dieser Tatsache deutlich bewusst. Weder die Ausbildung des Juristenstandes noch die Literatur lassen auch nur die geringste Ahnung von der eigentlichen ‚Quelle‘ des geltenden Rechts aufkommen.“53
Das BGB und die gesamte Arbeit des 19. Jh. ist zwar nach Spengler ein Schritt in die richtige Richtung, aber es „hat uns nur von dem Buch Justinians befreit, nicht von dessen Begriffen.“54 Es bleibt nach Spengler eine Aufgabe der Zukunft, die Grundwerte des abendländischen wirklichen Lebens rechtstheoretisch zu erfassen.55 Die abendländischen Juristen werden insgesamt als ein lebensfremder Gelehrtenstand gezeichnet. Die Juristen, deren Welt aus dem Corpus Iuris bestehe, „verachteten die Erfahrung, die nicht aus dem Denken stammt.“56 Ihnen sei zu verdanken, dass das abendländische Privatrecht immer noch „auf der schattenhaften Grundlage der spätantiken Wirtschaft“57 fuße. So entscheidende Begriffe „wie Person, Sache und Eigentum“ dürfen aber, so Spengler, nicht mehr „an Zustände und Einteilungen des antiken Lebens anknüpft“58 werden. Im Gegensatz zu den deutschen Juristen lobte Spengler die englische „rezeptionsfreie“ Rechtsentwicklung.59 Als zentrales Problem der deutschen Jurisprudenz seiner Gegenwart arbeitete Spengler die Definition der Sache im BGB heraus. Eine Sache ist gem. § 90 BGB ein körperlicher Gegenstand. Diese antike Konstruktion führe zu Problemen, die mit einem abendländischen faustisch-dynamischen Sachbegriff nicht entstünden. Daher, so verlangte Spengler, müsse die abendländische Rechtswissenschaft, um zur vollen Blüte zu gelangen, Rechtsbegriffe schaffen, die der dynamischen, erzeugenden und ausführenden Lebensweise der faustischen Kulturseele entsprechen.60 Spengler prophezeite, dass noch mehr als ein Jahrhundert „schärfsten und tiefsten Denkens“61 benötigt werde, um das Ziel einer an die abendländische Kultur angepassten Rechtsordnung zu erreichen. Dazu müsse auch die Juristenausbildung geändert werden. Juristen bräuchten wirt53
Spengler, UDA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 94, Hervorhebung im Original. Spengler, UDA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 95. 55 Spengler, UDA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 96. 56 Spengler, UDA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 95. 57 Spengler, UDA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 94. 58 Spengler, UDA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 94. 59 Blackstones Kommentar des englischen Rechts von 1765 wird von Spengler als „der einzig rein germanische Kodex an der Schwelle der abendländischen Zivilisation“ (Spengler, UdA, S. 649) angesehen. 60 Spengler, UdA, S. 97. 61 Spengler, UdA, S. 98. 54
IV. Anwendung der Geschichtsphilosophie auf das Recht
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schaftliche Erfahrung, genaue Kenntnisse der Rechtsgeschichte und zwar auch der römischen, so Spengler. Das antike Recht solle in der Ausbildung als ein Beispiel für ein Recht gelehrt werden, welches in hohem Maße, dem Leben und der Kultur der Antike entsprochen habe.62
62
Spengler, UDA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 98.
C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“ unter Berufung auf Spengler C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“ „Auch die Rechtsbegriffe haben ihre Schicksale. Manche erfreuen sich einer gewissen Popularität und werden immer wieder zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht; andere, freilich die Minderheit, bleiben im Verborgenen und führen ein jahrhundertelang unbeachtetes Leben, bis sie die Hand eines bedeutenden Gelehrten ans Licht zieht und sie dadurch mit einem Male Modebegriffe werden und später vielleicht sogar Grundpfeiler unserer juristischen Begriffswelt bilden.“ (Julius Binder, 19071)
Seine Aussagen über die Rechtsgeschichte verdichtete der Kulturphilosoph schlagwortartig in der Forderung: „Die Römer schufen eine juristische Statik, unsere Aufgabe ist eine juristische Dynamik“2. Es ist zu beobachten, dass Spenglers Stichworte „Statik“ und „Dynamik“ nach 1922 vermehrt in der juristischen Fachliteratur auftauchten. Allein in Überschriften von Artikeln in juristischen Fachzeitschriften erschien eine variantenreiche Fülle solcher Kombinationen, die davon kündeten, dass der jeweilige Autor nun „dynamisches Recht“3, „dynamisches Eigentum“4 oder eine ähnliche Frage erörterte. Insgesamt 205 solcher Überschriften konnten für den Zeitraum 1
Julius Binder, Der Gegenstand in: ZHR 59 (1907), S. 1–78, S. 1. Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 98. 3 Regierungsrat Ludwig Gebhard, Dynamisches Recht in: ZRB 19 (1932), S. 201–206. 4 Curt Du Chesne, Dynamisches Eigentum in: ARWP 18 (1924/25), S. 447–468. 5 Curt du Chesne, Die Entwicklungslinie des dynamischen Rechts in: ARWP 19 (1925/1926), S. 303–307; Lüben Dikoff, Statisches oder dynamisches Recht? in: ZAkDR 10 (1943), S. 125–129; Franz Arthur Müllereisert, Juristische Dynamik, in: LZ 27 (1933), S. 985–993; Ludwig Bendix, Die Rechtsanwendung: Statisch-rational oder Dynamisch-irrational? in: BAB Heft 10 1928, S. 6–11; Alexander Elster, Der „dynamische“ Gedanke im gewerblichen Rechtsschutz in: GRUR 34 (1929), S. 1363–1368; ders., Zum „Dynamischen“ in: GRUR 35 (1930), S. 238; ders., Urheber- und Erfinderrecht als Beispiel dynamischer Rechtsauffassung in: ZSR n.F. 58 (1939), S. 117–127; Hermann Jsay, Die Verwendung der Begriffe des „Statischen“ und „Dynamischen“ in der Rechtswissenschaft in: GRUR 35 (1930), S. 106–111; Wilhelm Glungler, Die Ueberwindung des „Sta2
IV. Anwendung der Geschichtsphilosophie auf das Recht
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zwischen 1922 und 1943 gefunden werden, ohne dass garantiert werden kann, dass sämtliche Aufsätze gefunden wurden. Der überwiegende Teil dieser Artikel zitierte direkt aus Spenglers Untergang des Abendlandes. Einige Dissertationen befassten sich zentral mit „juristischer Dynamik“ bzw. einem hierzu synonym zu verstehenden Begriff der Funktionalität.6 Darüber hinaus gab es weitere Aufsätze und Monographien, die Spengler zitierten und seine Gedanken anhand der Schlagworte „Dynamik“ und Statik“ übernahmen oder kritisierten.7 „Statik“ und „Dynamik“, diese Begriffe sind die aus der Textmasse der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus herausstrahlenden „Leuchttürme“, die auf der Suche nach Spenglers Spuren in der juristischen Literatur einen Weg weisen können. Ihre Verwendung in juristischen Kontexten rückt daher hier in diesem Kapitel in den Fokus der Untersuchung. Der bisherige Forschungsstand8 kann wie folgt zusammengefasst werden: Es ist mehreren aufmerksamen Beobachtern der Weimarer Republik aufgefallen, dass Juristen unter Berufung auf Spengler das Gegensatzbegriffspaar Statik und Dynamik verwendeten. Dabei wendeten die Juristen tischen“ und „Dynamischen“ in: GRUR 35 (1930), S. 739–747; Otto Baumecker, Ethik, Dynamik und Technik des Erbhofgesetzes als Vorbild für die neue Rechtsgestaltung in: JAkDR 3 (1936), S. 154–157; Erich Volkmar, Das dynamische Element bei der Neubildung des deutschen Rechts in: ZAkDR 2 (1935), S. 472–481; Albrecht Haushofer, Recht und Dynamik im Fortleben der Völker in: ZAkDR 5 (1938), S. 418–420; Alfred Müller, „Statisches und dynamisches Recht“ in: ARWP 20 (1926/27), S. 529–548; Hans Fehr, Statisches und dynamisches Recht in: Süddeutsche Monatshefte 26 (1928/29), S. 266– 269; Erich Emil Hölscher, Statisches und dynamisches Recht in: Ethik: Sexual- und Gesellschafts-Ethik 6 (1929), S. 389–394. 6 So etwa bei Paul Baender, Statische und Dynamische Rechtsbetrachtung, Diss. Breslau 1929, Eschenhagen 1929; Franz Gerd Oppenheimer, Der Gesetzesmissbrauch, Diss. Köln 1929, Wuppertal 1930, S. 29; Manfred Bott-Bodenhausen, Formatives und funktionales Recht in der gegenwärtigen Kulturkrisis, Diss. Hamburg 1925, Berlin 1926. 7 Davon zeugen Kapitelüberschriften wie etwa „Die statische Deutung“ und „Die dynamische Deutung“ (Wilhelm Glungler, Rechtsschoepfung und Rechtsgestaltung, Diss. München 1929, 3. Aufl. München 1930), „Die Umwertung der Eigentumsordnung im Lichte der dynamischen Rechtslehre“ und „Der russische Versuch, statisches Recht durch dynamisches Recht zu ersetzen“ (Hans Fehr, Recht und Wirklichkeit. Einblick in Werden und Vergehen der Rechtsdogmen, Potsdam 1928), „Der Weg zur Auffindung des modernen Fundaments. Die Zeit, in welcher das dynamische Denken das Übergewicht über die statische Einstellung der Vergangenheit gewann“, „die dynamische Einstellung Kants“ und „Der dynamische Sachbegriff und seine Entwicklung aus den in Kants Rechtslehren enthaltenen Anregungen“ (Ernst Swoboda, Das Privatrecht der Zukunft in: ARWP 25 (1931/32), S. 459–520), „Statische und Dynamische Auffassung des Besitzrechtes“ (Gustav Klemens Schmelzeisen, Die Relativität des Besitzbegriffes in: AcP 132 (1932), S. 38–60 und S. 129–168). 8 Siehe oben S. 9 f.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
nach Ansicht der meisten Rechtshistoriker das Antonym dazu an, den Gegensatz zwischen sozialem, germanischen und liberalem römischen Rechtsdenken zu beschreiben. Kaiser merkte an, dass auch andere Gegensätze angesprochen wurden, wie Lebensnähe (= Dynamik) und Lebensfremde (= Statik). Eine Reihe von Dynamikverwendern wurde dabei bereits identifiziert. An diesen Forschungsstand anknüpfend erfolgt die Untersuchung in folgenden Schritten. Zunächst ist – was bisher mangels Spenglerfokus verabsäumt wurde – der Dynamik- und Statikbegriff des Kulturphilosophen darzustellen. Davon ausgehend wird das Teilnehmerfeld des dynamischen Rechtsdenkens umrissen. Sodann ist zu analysieren, welche inhaltlichen Bedeutungen „Statik“ und „Dynamik“ in den juristischen Texten annahmen. Dabei bietet es sich an, zunächst die Dynamikund Statik-Verwendungen für die Weimarer Republik zu rekonstruieren, um dann in einem nächsten Schritt genauer bewerten zu können, wie sich die Machtergreifung der Nationalsozialisten auf die „Dynamiker“ auswirkte. In einem nächsten Schritt wird gefragt, inwieweit es sich bei den spenglerzitierenden „Dynamikern“ um eine einheitliche Gruppe handelte. Zudem wird die erkenntnistheoretische Grundhaltung dieser Juristen untersucht und auch auf dieser Ebene nach einem Spenglereinfluss gefragt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt werden hauptsächlich die theoretischen, abstrakten und generellen Ausführungen der spenglerzitierenden Juristen begutachtet, da sich an diesen besonders gut der prinzipielle Spenglereinfluss zeigen lässt. Zum Schluss der Untersuchung soll aber auch aufgezeigt werden, dass der Begriff innerhalb von konkreten dogmatischen Diskursen eine Rolle spielte. Dabei wird bewusst zunächst nicht von einer „Dynamischen Rechtslehre“, sondern möglichst neutral von der Verwendung der Begriffe gesprochen. Wenn zwischendurch die Wendung von „Dynamischem Rechtsdenken nach Spengler“ verwendet oder schlicht von „Dynamikern“ gesprochen wird, so geschieht dies, um sperrige Wendungen zu reduzieren. Da die Juristen selber häufig von dynamischem Rechtsdenken und teilweise auch von „Dynamikern“ sprachen, erscheint dies wenig verfänglich. Nur ganz selten fand sich dagegen der Ausdruck „Dynamische Rechtslehre“ in den Quellen. Ob es so etwas wie eine „Dynamische Rechtslehre“ nach Spengler, also eine eigenständige juristische Schule gab, muss im Laufe dieser Arbeit erst noch geklärt werden.
I. Dynamik und Statik bei Spengler I. Dynamik und Statik bei Spengler
Eine Untersuchung über die Verwendung der Begriffe Statik und Dynamik einer von Oswald Spengler begründeten dynamischen Rechtslehre hat von
I. Dynamik und Statik bei Spengler
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den Begriffen Statik und Dynamik auszugehen, wie Spengler sie verwendete. Dabei ist zu beachten, dass der Kulturphilosoph nicht mit trennscharfen Definitionen arbeitete. Es gehörte vielmehr zu Spenglers Methodenprogramm, dass die „grundlegenden Bestimmungen zum großen Teil nicht mehr im Bereich der Mitteilbarkeit durch Begriff, Definition und Beweis liegen“, sie sollten vielmehr „ihrer tiefsten Bedeutung nach gefühlt, erlebt, erschaut werden“9. Um sich der Begriffsverwendung Spenglers zu nähern ist es daher nötig, den Kulturphilosophen im Folgenden möglichst häufig selber zu Wort kommen zu lassen. 1. Die Rolle des Begriffspaares im Gesamtwerk Statik und Dynamik gehörten zum festen Vokabular Spenglers, mit dessen Hilfe er Gegensätze zwischen abendländischer und antiker Kultur darstellte.10 Letztlich stand Dynamik für all das, was die abendländische Kultur ausmachte, und Statik für alle Merkmale der antiken Kulturseele. Dynamik und Statik tauchten jeweils synonym für all die anderen bildhaften Umschreibungen der faustischen Kultur auf, wie die Zitate auf den folgenden Seiten belegen sollen: „Wir [die abendländische Kultur, L.M.K.] fassen die Dinge auf, wie sie werden und sich verhalten, als Funktionen. Das führt zur Dynamik, zur analytischen Geometrie und von ihr zur Differentialrechnung. Die moderne Funktionentheorie ist die riesenhafte Ordnung dieser ganzen Gedankenmasse. Es ist eine bizarre, aber seelisch streng begründete Tatsache, daß die griechische Physik – als Statik im Gegensatz zur Dynamik – den Gebrauch der Uhr nicht kennt und nicht vermissen lässt und, während wir mit Tausendstel von Sekunden rechnen, von Zeitmessung vollständig absieht.“ 11
Dynamik stand hier für eine abendländische, Statik für die antike Naturwissenschaft. Dieser Sprachgebrauch war auch naheliegend, da der Begriff „Dynamik“ im 19. Jh. durch die Naturwissenschaft verbreitet wurde.12 Da sich nach Spenglers Vorstellung aber alles, was eine Kultur hervorbrachte, nach den Prinzipien der jeweiligen Kulturseele richtete, übertrug er den Begriff der Dynamik von der Naturwissenschaft auf andere Bereiche. Wie Naturwissenschaft betrieben wurde, konnte bei Spengler daher auch ausschlaggebend für alles künstlerische, geisteswissenschaftliche, rechtliche 9
Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt 1, S. 71. Dies ist gut zu erkennen bei Koktanek, der ohne Anspruch auf Vollständigkeit 19 Begriffspaare auflistet, welche Spengler verwendet, um den Gegensatz zwischen Antike und Abendland zu bezeichnen. Hier finden sich auch „Dynamik“ und „Statik“ als ein Begriffspaar unter vielen. Koktanek, Spengler, S. 156; bezeichnenderweise taucht der Begriff der Dynamik bei Botermans Analyse der Lebensphilosophie in Spenglers Werk nicht auf (Boterman, Spengler, S. 100 ff.). 11 Spengler, UdA I, Kapitel III, Abschnitt II. 6, S. 237 f. 12 Siehe hierzu unten S. 59. 10
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
und politische Handeln innerhalb einer Kultur sein. Dementsprechend stellte Spengler fest, dass der erste Hauptsatz der Thermodynamik selbst das Prinzip des abendländischen Denkens enthielt: „Der erste Hauptsatz, das Prinzip der Erhaltung der Energie, formuliert einfach das Wesen der Dynamik, um nicht zu sagen, die Struktur des westeuropäischen Geistes, dem allein die Natur mit Notwendigkeit in der Form einer kontrapunktisch-dynamischen Kausalität im Gegensatz zur statisch-plastischen des Aristoteles erscheint.“13
Hier wurde der ursprünglich naturwissenschaftliche Dynamikbegriff zur Beschreibung des faustischen Geistes verwendet. Noch deutlicher wurde die Übertragung des Begriffs ins geistig-kulturelle bei folgendem Zitat: „Wie alle Formen der Dynamik – die malerische, musikalische, physikalische, soziale, politische – unendliche Zusammenhänge zur Geltung bringen, und nicht wie die antike Plastik den Einzelfall und deren Summe“ 14
Es gab also bei Spengler eine malerische, musikalische usw. Dynamik und diese war der antiken plastischen Statik gegenübergestellt. Weiter fanden sich die Begriffe Statik und Dynamik auch noch bei der Erläuterung des abendländischen Zahlenverständnisses15 und bei der abendländischen Metaphysik.16 In dem folgendem Zitat wird deutlich, wie stark Spenglers Dynamikbegriff mit Elementen der abendländischen Kultur verbunden war: „Der Wille zur Macht – um Nietzsches große Formel zu gebrauchen –, der von der frühesten Gotik der Edda, der Kathedralen und Kreuzzüge, ja von den erobernden Wikingern und Goten an das Verhalten der nordischen Seele ihrer Welt gegenüber bezeichnet, liegt auch in dieser Energie der abendländischen Zahl gegenüber der Anschauung. Das ist ‚Dynamik‘.“17
Der Wille zur Macht in Kombination mit Unendlichkeitsstreben und dem Drang zur Abstraktion, das alles bündelte er in dem Begriff der Dynamik. Ähnliche Zitate, die den Unterschied zwischen apollinischer Statik und faustischer Dynamik beschrieben, ließen sich noch viele finden.18 13
Spengler, UdA I, Kapitel VI, Abschnitt 14, S. 545. Spengler, UdA I, Kapitel V, Abschnitt I 4, S. 407. 15 Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt 16, S. 118 f. 16 Spengler, UdA I, Kapitel V, Abschnitt I 3, S. 401. 17 Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt 17, S. 120. 18 Etwa: „Das faustische und das apollinische Seelenbild stehen einander schroff gegenüber [...]. Man darf die imaginäre Einheit hier als Seelenkörper, dort als Seelenraum bezeichnen [...]. Der seelischen Statik des apollinischen Daseins – dem stereometrischen Ideal der Sorophyne und Ataraxia – steht die Seelendynamik des faustischen gegenüber.“ (Spengler, UdA I, Kapitel V, Abschnitt I 2, S. 393); „Aber während die Antike, an der Spitze das Forum von Rom, die Volksmasse zu einem sichtbaren und dichten Körper zusammenzog, um ihn zu zwingen, von seinem Recht Gebrauch zu machen, [...] schuf „gleichzeitig“ die europäisch-amerikanische Politik durch die Presse ein Kraftfeld von geistigen und Geldspannungen über die ganze Erde hin, in das jeder Einzelne eingeordnet 14
I. Dynamik und Statik bei Spengler
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2. Statik, Dynamik und das Recht bei Spengler Betrachtet man nur die 30-seitige Geschichte des römischen Rechts im Untergang des Abendlandes, so stellt man fest, dass Spengler hier den Begriff Statik dreimal und den Begriff Dynamik zweimal verwendete.19 Angesichts der Fokussierung der juristischen Autoren auf dieses Begriffspaar erscheint dies überraschend wenig. Auch in seinen anderen Schriften benutzte Spengler den Begriff im Zusammenhang mit rechtlichen Erwägungen nicht häufig: nur einmal in „Preußentum und Sozialismus“,20 in „Neubau des deutschen Reiches“ gar nicht. Auch in seinem „Entwurf zu einem juristischen Preisausschreiben“ sprach Spengler von der grundlegenden Umformung des deutschen Rechts, ohne den Begriff Dynamik zu verwenden. Die Begriffe wurden also nicht deshalb zu Schlagworten in juristischen Kontexten, weil sie sich durch andauernde, gebetsmühlenartige Wiederholung beim Leser einbrannten. Es muss wohl vielmehr daran gelegen haben, dass Spenglers zentraler, das rechtliche Thema zusammenfassender Satz, sehr eingängig war und als treffend empfunden wurde. Auch für den Bereich des Rechts standen Statik und Dynamik für die antike und die abendländische Kulturseele. Dies kann für die Statik gut an folgender Passage gezeigt werden: „Das antike Recht ist ein Recht der Körper. Es unterscheidet im Bestand der Welt körperliche Personen und körperliche Sachen und stellt als eine euklidische Mathematik des öffentlichen Lebens die Beziehungen zwischen ihnen fest. Das Rechtsdenken ist dem mathematischen am nächsten verwandt. Beide wollen von den optisch gegebenen Fällen das Sinnlich-zufällige absondern, um das Gedanklich-prinzipielle zu finden: die reine Form des Gegenstandes, den reinen Typus der Lage, die reine Verknüpfung von Ursache ist, ohne daß es ihm zum Bewusstsein kommt, so daß er denken, wollen und handeln muß, wie es irgendwo in der Ferne eine herrschende Persönlichkeit für zweckmäßig hält. Das ist Dynamik gegen Statik, faustisches gegen apollinisches Weltgefühl, das Pathos der dritten Dimension gegen die reine, sinnliche Gegenwart.“ (Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt C 19, S. 577). 19 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 15, S. 78: „Da das antike Leben [...] durchaus euklidische Züge besitzt, so entsteht ein Bild von Körpern, von Lageverhältnissen zwischen ihnen und von wechselseitigen Einwirkungen durch Stoß und Gegenstoß wie bei den Atomen Demokrits. Es ist eine juristische Statik.“ „Das Wort Eigentum ist in unserem Denken mit der antiken statischen Definition behaftet und fälscht deshalb in allen Anwendungen den dynamischen Charakter unserer Lebensführung.“ (Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 97). „Die Römer schufen eine juritische Statik, unsere Aufgabe ist eine juristische Dynamik.“ (Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 98). 20 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1919, zitiert nach dem Abdruck in: Spengler, Politische Schriften, München 1932, S. 90 f.: „Was nicht dynamisch wirkt, aller toter Besitz, das ‚Haben‘ an sich gilt dem echt faustischen Menschen wenig.“
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
und Wirkung. Da das antike Leben in Gestalt, wie es sich dem antiken kritischen Wachsein darstellt, durchaus euklidische Züge besitzt, so entsteht ein Bild von Körpern, von Lageverhältnissen zwischen ihnen und von wechselseitigen Einwirkungen durch Stoß und Gegenstoß wie bei den Atomen Demokrits. Es ist eine juristische Statik“21
Das antike, auf Körper bezogene Recht regelte das antike, auf Körper bezogene Leben und erschien daher wie eine juristische Statik. Der Statiker habe berechnet, wie sich unbewegte Körper zueinander verhielten, welchen Druck sie aufeinander ausübten etc. Übertragen auf Spenglers Aussage bedeutete dies: Das antike Recht machte Aussagen darüber, wie sich die Körper, also die Personen und die Gegenstände der antiken Welt, rechtlich zueinander verhielten. Auch „Dynamik“ stand im rechtlichen Kontext für alles FaustischAbendländische. Noch bevor Spengler die Forderung aussprach, eine juristische Dynamik zu schaffen, nannte er Beispiele für rechtliche Fragen, in denen die alte antike Denkweise einer faustischen Lösung entgegenstehe: „Warum mußte der Diebstahl von elektrischer Kraft, nach einem grotesken Streit, ob es sich um eine körperliche Sache handele, 1900 durch ein Notgesetz unter Strafe gestellt werden? Warum kann der Inhalt der Patentgesetze nicht in das Sachenrecht hineingearbeitet werden? Warum vermag das Urheberrecht die geistige Schöpfung, deren mittelbare Gestalt als Manuskript und das gegenständliche Druckwerk begrifflich nicht auseinanderzuhalten? Warum mußte im Widerspruch zum Sachenrecht an einem Gemälde das künstlerische und das materielle Eigentum durch die Trennung vom Erwerb des Originals und des Reproduktionsrechts unterschieden werden? Warum ist die Entwendung einer geschäftlichen Idee oder eines Organisationsplans straffrei, die Entwendung des Papierstückes, auf dem der Entwurf steht, aber nicht?“ 22
All diese Probleme werden erst gelöst werden, so Spengler, wenn man sich von dem antiken Begriff der körperlichen Sache verabschiedete habe. Dieser Appell mündete in der Forderung nach einem dynamischen Recht. Man sieht also, dass in Spenglers Dynamikbegriff die Loslösung vom Körperlichen und die Betrachtung der Energien und Beziehungen kulminierten. Das Antonym Statik/Dynamik stand bei dem Kulturphilosophen für die apollinische und faustische Kulturseele. Im Kern ging es Spengler darum, die Verhaftung am Körperlichen der Antike zu zeigen und die Hinwendung der faustischen Kultur zu körperlosen Energien, Funktionen, Wirkungen und Beziehungen auf den Punkt zu bringen. Dadurch bekamen die Begriffe bei Spengler einen eigenen Sinn, der sich vom alltäglichen Sprachgebrauch durch den Verweis auf seine Kulturphilosophie abhob. Das dynamische funktionale abendländische Recht solle sich dem abstrakten Rechtsdenken in Energien und Wirkungen des faustischen Menschen anpassen. 21
Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 15, S. 78 (Hervorhebung im Original gesperrt). 22 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 94 f.
I. Dynamik und Statik bei Spengler
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3. Möglicher Ursprung der spenglerschen Ideen bei der Energetik Wilhelm Ostwalds Sucht man an der Schnittstelle zwischen Spengler und der juristischen Gedankenwelt, so stößt man unweigerlich auf die philosophische Energetik und insbesondere auf die juristischen Ausführungen von Wilhelm Ostwald. Bei der Energetik handelte es sich um eine aus der Naturwissenschaft stammende Lehre, die gegen Ende des 19. Jh. entstand. Die Energetik sah hinter sämtlichen Natur- und Geistesvorgängen ein einheitliches Energieprinzip am Werk. Bekannter Vertreter war neben Ernst Mach vor allem der deutsch-baltische Chemiker Wilhelm Ostwald, der mithilfe der Energetik den Gegensatz zwischen Geist und Materie aufheben wollte.23 Ostwald argumentierte, dass alle Materie nur als Energie wahrgenommen werde. Die Wahrnehmung funktioniere über die Erregung unserer Sinne, was wiederum letztlich nur durch verschiedene Formen von Energie möglich sei. „Somit ist Materie nichts als eine räumlich zusammengeordnete Gruppe von Energien, und alles was wir aussagen wollen, sagen wir von diesen Energien aus.“24 Der junge Spengler legte Ostwald und Mach bei seiner Doktorarbeit mit dem Titel „Der energetische Grundgedanke bei Heraklit“ zugrunde.25 Hier versuchte er zu beweisen, dass bereits Heraklit26 erkannt habe, dass die Grundlage des gesamten Kosmos letztlich die Energie sei.27 Bereits in Spenglers Dissertation fand sich damit ein Thema, das bei seiner Konzeption der antiken und abendländischen Kulturseele später Karriere machte: der Gegensatz zwischen einem modernen energetischen und einem antiken, eher plastischen Substanzbegriff.28 Hier klangen bereits die Körperlichkeit der antiken Kulturseele und der Abstraktionsdrang und das Funktionen-
23
Siehe Max Jammer, Art. Energie in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 1972 Basel, Sp. 494–499, 497, ders., Art. Energy in: Encyclopedia od Philosophy, 2. Band, 2. Auflage 2006, S. 225–234. 24 Wilhelm Ostwald, Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus, Leipzig 1895, S. 28. 25 Oswald Spengler, Heraklit. Eine Studie über den energetischen Grundgedanken seiner Philosophie, Diss. Halle 1904, hier zitiert nach Abdruck in: Oswald Spengler. Reden und Aufsätze, Beck 1937, S. 1–47. 26 Zur Beliebtheit von Heraklit für die Lebensphilosophen und den möglichen Einfluss seiner Dissertation auf Spenglers späteres Konzept von Werden und Sein siehe Boterman, Spengler, S. 104 ff.; zu Heraklits Vorbild bei dem Prinzip der ewigen Wiederkehr als Grundlage des Kulturzyklenmodells siehe Boterman, Spengler. S. 131. 27 Spengler, Heraklit, S. 2 f. Siehe auch die Zusammenfassungen bei Koktanek, Spengler, S. 77 und Felken, Spengler, S. 20 ff. 28 Spengler, Heraklit, S. 2 f.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
denken der abendländischen Kulturseele an,29 ein Umstand, der in der Spenglerforschung bisher kaum Beachtung gefunden hat. Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang war, dass Spengler zur Erläuterung der modernen Energetik in seiner Dissertation insbesondere auf Wilhelm Ostwald zurückgriff, woraus man schließen kann, dass sich Spengler mit Ostwalds Werk vor Abfassung des „Untergangs“ intensiv beschäftigt hatte.30 Ostwald hatte seine Energetik an verschiedenen Stellen auf juristische Fragestellungen angewendet. Er schrieb, angestoßen durch den Streit um den Diebstahl elektrischer Energie, einen, wie er später in seiner Autobiographie formulierte, „aufklärenden Aufsatz“ in der DJZ, über den er mit seinen Leipziger Kollegen von der Juristenfakultät diskutierte.31 Einleitend sprach der Chemiker in seinem Aufsatz davon, dass der Begriff der Sache wohl seit der römischen Zeit eine Entwicklung durchgemacht habe.32 Ostwald machte deutlich, dass der Diebstahl oder zumindest der furtum usus an der Elektrizität möglich sein müsse. „Die wesentliche Schwierigkeit für die Anerkennung dieses Standpunktes“ schien Ostwald „im Worte ‚Sache‘ zu liegen, indem man sich scheut, den entsprechenden Begriff über den Körper im physikalischen Sinne hinaus auszudehnen.“33 Er erläuterte, dass nach seiner Ansicht, die Materie nicht so eine große Rolle spielen könne, wie die dahinter verborgene Energie. Da zudem der Wert von alltäglichen Geschäften vor allem durch die ausgetauschten Energiepotentiale gebildet werde, und im Übrigen problemlos Gewahrsam an ihr möglich sei, habe „Energie in ihren verschiedenen Formen alle Kennzeichen einer beweglichen Sache im juristischen Sinne“34. Damit klangen bereits in kompakter Form die Grundzüge der spenglerschen Kritik des modernen Rechtssystems an. Dies erkannte auch der Zeitgenosse Hermann Jsay. „Im Grunde“
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Bei den meisten Griechen, werde, so Spengler, „ein körperlich gedachter Hintergrund der Empfindung angenommen“ (Spengler, Heraklit, S. 17), während seit Galilei in der modernen Welt die Erkenntnis der Energetik reift, nach der Materie nichts anderes sei, „als eine räumlich zusammengeordnete Gruppe verschiedener Energien“ ( Spengler, Heraklit, S. 15 f.). 30 So auch Boterman, Spengler, S. 28, Fn. 85. 31 Wilhelm Ostwald, Die Frage des Diebstahls an Elektrizität vom technischen Standpunkte, DJZ 2 (1897), S. 115–117; siehe dazu ders., Lebenslinien. Eine Selbstbiographie, Berlin 1926/1927, S. 317 ff. 32 Ostwald, Die Frage des Diebstahls an Elektrizität vom technischen Standpunkte, S. 115. 33 Ostwald, Die Frage des Diebstahls an Elektrizität vom technischen Standpunkte, S. 116. 34 Ostwald, Die Frage des Diebstahls an Elektrizität vom technischen Standpunkte, S. 117.
II. Überblick über das Teilnehmerfeld
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sagte Jsay, sei auch „die von Spengler geforderte ‚dynamische‘ Betrachtung nichts anderes als Ostwalds ‚energetische‘“35. Da bekannt ist, dass Spengler sich mit Ostwald beschäftigte, ist es plausibel, dass dessen Kritik des Stromdiebstahlstreits von Spengler als Grundlage für seine Kritik des abendländischen Rechts genommen wurde.
II. Überblick über das Teilnehmerfeld II. Überblick über das Teilnehmerfeld
Für die meisten Autoren, die den Begriff Dynamik verwendeten und Spengler dabei zitierten, erschien Hans Fehr, vor allem mit seinem Werk „Recht und Wirklichkeit“, als ein Dreh- und Angelpunkt. Hans Fehr stach zudem durch die Anzahl seiner Publikationen, die mit Dynamit und Statik argumentierten, hervor. Einen vergleichbaren Umfang hatten nur die Schriften von Ernst Swoboda, der nicht ganz so häufig wie Hans Fehr zitiert wurde. Für diese beiden Juristen war das Dynamische ein Forschungsschwerpunkt, vielleicht gleichsam ein Lebensthema. Sie bildeten das Zentrum der Dynamikrezeption nach Spengler. Es erscheint daher geboten sie mit ihren wesentlichen Werken hier kurz vorzustellen. Im Anschluss sollen die übrigen relevanten Autoren benannt werden. 1. Hans Fehr Hans Fehr (1874–1961)36 muss deutlich als der wichtigste Autor der dynamischen Rechtslehre nach Spengler bezeichnet werden. Der Ausgangspunkt vieler Überlegungen über die dynamische Rechtslehre war die Schrift „Recht und Wirklichkeit“ von 1928. Die Wirklichkeit, die in dieser Zeit eine metaphysische Überhöhung erlebte,37 war auch bei anderen Juristen ein in dieser Zeit beliebtes Titelwort.38 Wer in der Weimarer Republik 35
Hermann Jsay, Rez. Rosenstock, Vom Industrierecht. Rechtssystematische Fragen. Festgabe der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Breslau zum 50jährigen Doktorjubiläum von X. Gretener, in: ARWP 20 (1926/27), S. 623–629, S. 628. 36 Siehe allgemein Rolf Lieberwirth, Fehr, Hans in: Cordes, Lück, Werkmüller (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band I, 2. Aufl. 2004, Sp. 1525– 1526; Karl S. Bader, Nekrolog Hans Fehr in: ZRG GA 80 (1963), S. XV–XXXVIII; zudem sind die autobiographischen Aufzeichnungen interessant: Fehr, Die Wissenschaft. Universitäten. Professoren, S. 63–73 und ders., Mein wissenschaftliches Lebenswerk; Fehr war Professor in Jena (ab 1907), Halle (ab 1912), Heidelberg (ab 1917) und Bern (ab 1924) (siehe zu den Stationen Bader, Nekrolog Hans Fehr, S. XXIII ff.). 37 So auch Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, S. 238. 38 Ein Jahr zuvor erschien Karl Larenz, Die Wirklichkeit des Rechts in: Logos 16 (1927), S. 204–210. Ein Jahr nach Fehrs Schrift erschien Wilhelm Sauer, Wirklichkeit des Rechts, Berlin-Grunewald 1929 und Walter Schönfeld, Rechtsperson und Rechtsgut
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
Wirklichkeit sagte, war vor allem antipositivistisch, antibegriffsjuristisch und in irgendeiner Form an Werten orientiert, so auch Hans Fehr.39 Als wesentliches Element der zeitgenössischen Ordnung arbeitete Fehr die soziale Verbundenheit im Sinne eines nicht marxistischen Kollektivismus heraus.40 Spätestens durch den Ersten Weltkrieg und die neue Reichsverfassung sei die ursprüngliche Eigentumsordnung umgestoßen worden.41 Wo früher die Freiheit des bürgerlichen Eigentums regierte, herrsche heute die Mieterschutzgesetzgebung, die Pachtschutzordnung und die sozialisierenden Eingriffe,42 wie etwa die Verstaatlichung der Eisenwirtschaft.43 Unter Berufung auf Gierke forderte Fehr, das Privatrecht weiter im genossenschaftlichen Sinn umzugestalten.44 Insoweit handelte es sich bei Fehrs Publikation um eine Streitschrift, welche den allgemeinen juristischen Zeitgeist wiedergab. Aus der Masse der übrigen Werke dieser Zeit stach es bis zu diesem Punkt lediglich durch den schwungvollen Schreibstil hervor. Nachdem Fehr diese soziale Verbundenheit als das wichtigste Element des zukünftigen Rechts herausgearbeitet hatte, präsentierte er einen „Einblick in die dynamische Rechtslehre.“45 Das dynamische Rechtsdenken wendete Fehr sodann jeweils relativ kurz auf verschiedene rechtliche Themen an.46 Er kam zu dem Schluss, dass die rechtliche Zukunft wesentlich dynamischer gestaltet werden müsse.
im Lichte des Reichsgerichts als Vorarbeit zu einer künftigen Wirklichkeitslehre des deutschen Rechts in: RGPrax Bd. II, S. 191–272; siehe zudem die Titel des ebenfalls für die dynamische Rechtslehre bedeutsamen Schmelzeisen (Gustav Klemens Schmelzeisen, Die Wirklichkeitsauffassung des neuen Staatsrechts in: Deutsche Verwaltung 11 (1934), S. 25–29; ders., Vom deutschen Recht und seiner Wirklichkeit, Düsseldorf 1933.); die Wirklichkeit ist zugleich Fehrs „metaphysischer“ Anknüpfungspunkt. Er verweist hierzu auf den Philosophen Heinrich Maier, der schrieb: „Das praktische Gelten ist schließlich stets ein Wirklichsein.“ (Siehe Fehr, ebda., S. 7). 39 Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 25 und S. 100. 40 AaO, S. 38. 41 AaO, S. 113 ff. Hier hob Fehr vor allem hervor, dass Art. 153 Abs. 3 (Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das gemeine Beste) den Gedanken der Pflicht mit dem Eigentumsrecht verbunden habe. 42 AaO, S. 111. 43 AaO, S. 113. 44 Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 98. 45 Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 99, so die Überschrift des entsprechenden Abschnitts. 46 So wurden der Kredit (S. 100 f.), die germanische Gewere (S. 101), das Wesen der Erfolgshaftung (S. 103), das deutsche Schuldrecht (S. 102), das deutsche System der Klagen (103 f.), der Unternehmensbegriff (S. 106 ff.) und schließlich eine auf Einzelfallgerechtigkeit ausgerichtete Rechtsprechung (S. 162) behandelt.
II. Überblick über das Teilnehmerfeld
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Das insgesamt positiv aufgenommene Werk47 fand aber auch Kritik. So wurde einerseits gerade auch in Bezug auf das Dynamische „bisweilen die erwünschte Eindeutigkeit“48 vermisst, während der Fehr geistig nahe stehende Ernst Fuchs die „kristallene Klarheit“49 der Gedankenführung lobte. Weil sich Fehr durchweg nicht mit Gegenmeinungen auseinandersetzte50 und niemals zu lange bei einem Thema verharrte, kamen viele zu dem Schluss, dass „Büchlein sei eher für ein gebildetes Publikum als für Juristen geschrieben“51 und habe im Übrigen keinen philosophischen, sondern einen „essayistischen-räsonierenden Charakter“52. Gerade deshalb empfand es aber etwa Radbruch, der das Buch mehrfach „eigenartig“53 nannte, als eine reizvolle Lektüre. Demgegenüber lobten andere gerade, dass Fehr „in die Tiefe der Probleme“54 gehe und sie „furchtlos mit festem Griff“55 anfasse. Die nun folgenden Werke unterschieden sich von „Recht und Wirklichkeit“ vor allem dadurch, dass sie das dynamische Rechtsdenken viel deutlicher in den Mittelpunkt stellten, was sich auch an den Überschriften zeigte. Den Auftakt machte der kleine Aufsatz „Statisches und Dynamisches Recht“56. Das Pathos ist hier jedoch noch euphorischer als 1928, wie sich aus folgender Aussage ablesen lässt: „Spätere Geschichtsschreiber werden wahrscheinlich das 20. Jahrhundert als den Beginn der dynamischen Kultur bezeichnen.“57 In demselben Jahr folgte Fehrs Artikel über das „Unternehmen“ im Handwörterbuch für Rechtswissenschaften58 und seine längeren Rezensionsartikel „Der Eigentumsbegriff und das Unternehmen“ zu Oppikofers Habi47
Radbruch, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, nennt Fehrs Werk eine „reizvolle Lektüre“; Fuchs, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, spricht von einem besonders köstlichen „Juwel“; ähnlich auch Reichsminister a.D. Schiffer, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, in: DJZ 34 (1929), Sp 513. Nicht unkritisch, in der Tendenz aber positiv ist Eduard His, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, in: ZSR 47 (1928), S. 373 f.; eher kritisch, Wolf, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S 180–102. 48 Wolf, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 182. 49 Fuchs, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 785. 50 Das wird auch deutlich bemängelt von Wolf, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit 80 f. 51 His, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 373. 52 His, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 373. 53 Radbruch, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 785. 54 Schiffer, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 513. 55 Schiffer, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 513. 56 Fehr, Statisches und Dynamisches Recht, S. 266–269. Der kleine Artikel enthielt inhaltlich kaum etwas, das über „Recht und Wirklichkeit“ hinausging. Auch in seiner Autobiographie erwähnt Fehr hierzu nur, dass er im Januar 1929 eine „kurze Studie“ (Fehr, Mein wissenschaftliches Lebenswerk, S. 20) veröffentlichte. 57 Fehr, Statisches und Dynamisches Recht, S. 266. 58 Hans Fehr, Art. Unternehmen in: HdR, Bd. VI. 1929, S. 247–249.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
litation.59 Es handelt sich in beiden Fällen um erste detaillierte Anwendungen des dynamischen Rechtsdenkens auf ein dogmatisches Spezialthema. Nach der Machtergreifung bemühte sich Fehr zunächst wenig, die dynamische Rechtslehre in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen. Er lehnte das Naziregime nicht ab, er befürwortete es aber auch nicht ausdrücklich.60 Spengler wurde hier noch deutlich als der erste unter den dynamischen Rechtsdenkern vorgestellt. Fehr entfernte sich jedoch nach 1933 sukzessive immer weiter von Spengler und zitierte ihn immer seltener. Das mag auch daran gelegen haben, dass er nun häufiger dogmatische Fragen aus verschiedenen Bereichen des Wirtschaftsrechts behandelte. Trotzdem blieben für Fehr die Begriffe Statik und Dynamik noch bis 1945 zentral.61 So ambivalent, wie Fehr war, so gestaltete sich auch die Erinnerung an ihn. Innerhalb eines 24 Seiten langen Nekrologes in der Savigny-Zeitschrift wurde nur auf etwa einer halben Seite geschildert, wie Fehr einen missglückten Ausflug in die Rechtsphilosophie unternahm und einem dynamischen Rechtsverständnis das Wort redete. Niemand sei ihm in dieser Idee gefolgt, resümierte Bader nach wenigen Zeilen.62 Dass das Gegenteil der Fall ist, erkennt man bereits daran, dass sich viele weitere Autoren, die sich auf Spengler beriefen, ebenfalls auf Fehrs „Recht und Wirklichkeit“ stützten.63 59
Hans Fehr, Der Eigentumsbegriff und das Unternehmen, in ZSR 47 (1928), S 1–7. Er bemerkte lediglich, dass Schmelzeisen versuchte, das nationalsozialistische Rechtsdenken mit der dynamischen Rechtslehre zu verbinden (Hans Fehr, Das kommende Recht, Berlin und Leipzig 1933, S. 7) und erwähnte „Gleichschaltung“ völlig kritikfrei, als ein Beispiel eines dynamischen Rechtsbegriffes (S. 5). Diese beiden Punkte wurden von Fehr allerdings eher am Rande erwähnt. 61 Er stellte das Antonym noch in folgenden Beiträgen in den Mittelpunkt: 1934 schrieb Fehr in der Festgabe für Carl Wieland (Festgabe für Carl Wieland, Basel 1934) über „Das dynamische Element im künftigen schweizerischen Handelsrecht“ (S. 66–78) und 1938 in der Festschrift für Heinrich Lehmann (Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Festschrift Justus Wilhelm Hedemann, Jena 1938) über „Die Fortschritte des dynamischen Rechts“ (S. 63–73). 1940 folgte ein letzter Aufsatz über „dynamische Gesetzgebung“ (in: ZSR 59 (1940), S. 53–64). 62 Bader, Nekrolog Hans Fehr, S. XXXV. 63 Etwa Callmann, Der unlautere Wettbewerb, S. 88; Hedemann, Fortschritte, zweiter Teil, 2. Hälfte, S. 346; Oppenheimer, Der Gesetzesmissbrauch, S. 35; Elster, Urheberund Erfinderrecht, S. 118.; Martin Domke, Rez. Oppikofer, Das Unternehmensrecht in: JW 57 (1928), S. 1549; Schmelzeisen, Die Relativität des Besitzbegriffes, S. 45 ff.; Haushofer, Recht und Dynamik im Fortleben der Völker, S. 418; Volkmar, Das dynamische Element bei der Neubildung des deutschen Rechts, S. 119; Baender, Statische und dynamische Rechtsbetrachtung, S. 37 und 41; zudem wird Fehrs Wirkungsmacht deutlich, wenn man bedenkt, dass er 1928 den jüngeren Manfred Bott-Bodenhausen mit Spengler in Verbindung brachte, der vorher kaum rezensiert und zitiert wurde. Später gehörte er zum festen Zitationskanon des dynamischen Rechts nach Spengler. Bott60
II. Überblick über das Teilnehmerfeld
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2. Ernst Swoboda Ernst Swoboda64, geboren 1879, wurde zunächst Richter und habilitierte sich dann 1919 unter der Betreuung von Gustav Hanausek. Er ist der bisherigen Forschung bereits an unterschiedlichen Stellen mit seinem Spenglerismus aufgefallen.65 Swoboda veröffentlichte mehrere Monographien, in denen die dynamische Rechtslehre nach Spengler eine große Rolle spielte. Schon 1926 bemerkte Swoboda, dass das ABGB „Mit seinem weiten Sachbegriff […] die enge Hülle des körperlichen Sachbegriffs, den Spengler so heftig tadelt, bereits gesprengt und dadurch die Möglichkeit der Erfassung modernster wirtschaftlicher Erscheinungen eröffnet“66 habe. Bodenhausens Buch wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen 1926 kaum wahrgenommen. Nur eine Rezension ließ sich finden (Ministerialrat Johan David Sauerländer, Rez. Bott-Bodenhausen, Formatives und funktionales Recht in der gegenwärtigen Kulturkrisis in: LZ 21 (1927), Sp. 152). Nachdem Fehr ihn 1928 erwähnte, avancierte er zu einem festen Bestandteil des Zitationskanons der durch Fehr vermittelten dynamischen Rechtslehre nach Spengler (so etwa zitiert durch Callmann, Der unlautere Wettbewerb, S. 88; Schmelzeisen, Die Relativität des Besitzbegriffes, S. 47; Baender, Statische und dynamische Rechtsbetrachtung, S. 5). Dies zeigt bereits die Wirkung des Berner Rechtshistorikers. 64 Über Swoboda wurde bisher nicht monographisch geforscht. Siehe die Kurzbiographie in: Werner Schubert, Werner Schmid, Jürgen Regge (Hrsg.), Akademie für deutsches Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse, Bd. III, 3, Berlin 1990, S. 80 f.; Einige darüber hinausgehenden Informationen finden sich bei Peter Goller, Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Zur Geschichte der Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten, Frankfurt am Main u.A., 1997, S. 293 ff.; Swoboda habilitierte über Bereicherungsrecht und die Geschäftsführung ohne Auftrag. 65 Im Zuge der Kodifikationen während der NS-Zeit kam man bisher teilweise auf ihn zu sprechen. Dabei erwähnte ihn Hattenhauer nur sehr kurz als einen Juristen, „der Spenglers Thesen aufnahm und die ‚Neugestaltung des bürgerlichen Rechts‘ zu seinem Lebensthema machte“ (Hattenhauer, Das NS-Volksgesetzbuch in: Arno Buschmann, Franz-Ludwig Knemeyer, Gerhard Otte und Werner Schubert (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Gmür, Bielefeld 1983, S. 255–279, S. 258). Schubert stellte dar, dass Swoboda maßgebend an der Kodifikation des tschechoslowakischen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1937 beteiligt war (Werner Schubert, Der tschechoslowakische Entwurf zu einem Bürgerlichen Gesetzbuch und das ABGB von 1937 in: ZRG GA 112 (1995), S. 271–315, S. 276). Zudem berichtet Schuber über Swobodas Bemühungen, das ABGB gegen das BGB und das Volksgesetzbuch zu verteidigten (Werner Schubert, Der Einfluss des ABGB auf Deutschland, in: Elisabeth Berger (Hrsg.), Österreichs Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB). Eine europäische Privatrechtskodifikation, Bd. III, Berlin 2010, S. 361–398). Für Schubert führt der Grazer die „Postulate Kants und Zeilers fort“, wobei er „in Anlehnung an eine Begriffsbildung von Spengler dynamische Rechtsbegriffe“ forderte (Schubert, Der tschechoslowakische Entwurf zu einem Bürgerlichen Gesetzbuch und das ABGB von 1937, S. 277). 66 So Ernst Swoboda, Das allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants. Eine Untersuchung der Philosophischen Grundlagen des Österreichischen Bürger-
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Ab 1928 baute Swoboda in einer Reihe von mehreren Beiträgen und Monographien67 die dynamische Rechtslehre immer weiter aus.68 Den Auftakt machte der Aufsatz: „Die philosophischen Grundlagen des österreichischen bürgerlichen Rechts und ihre Bedeutung für die Gegenwart“, der auch als Sonderdruck verfügbar war.69 Auch wenn er danach noch Monographien veröffentlichte, welche nicht die Umgestaltung des bürgerlichen Rechts im Sinne einer dynamischen Rechtslehre zum Ziel hatten,70 lag der deutliche Schwerpunkt in seinem Lebenswerk zwischen 1928 und 1935 auf der dynamischen Rechtslehre. 1935 schrieb Swoboda, dass seine Arbeit über die Neugestaltung des bürgerlichen Rechts „aus mehr als 15jährigen Studien über die Notwendigkeit, das Maß und die Art einer dynamischen Gestaltung des Privatrechts“71 entstanden sei. Spengler erschien dabei noch als eine bedeutende Säule der Argumentation Swobodas. Der Grazer argumentierte 1935 in einigen Fragen noch entgegen der nationalsozialistischen Linie. Die dynamische Person sei zwar durch Pflichten an die Gemeinschaft gebunden, sie erhalte gerade deshalb aber ihre Menschenwürde.72 Swoboda verwendete tatsächlich diesen Begriff! Zudem verknüpfte Swoboda den Persönlichkeitsbegriff bereits mit Grundrechten,73 wobei er lichen Rechts, ihrer Auswirkung im Einzelnen und ihrer Bedeutung für die Rechtsentwicklung Mitteleuropas, Graz 1926, S. 62 f. 67 Siehe für die Vielzahl kleinerer Aufsätze die Literaturangaben bei Werner Schubert, Werner Schmid, Jürgen Regge (Hrsg.), Akademie für deutsches Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse, Bd. III, 3, S. 81. Die meisten der hier aufgelisteten Aufsätze enthalten zumindest einen kleinen Hinweis auf die überragende Wichtigkeit der dynamischen Rechtslehre. 68 Siehe die Liste der Texte der dynamischen Rechtslehre im Anhang. 69 Ernst Swoboda, Die philosophischen Grundlagen des österreichischen bürgerlichen Rechts und ihre Bedeutung für die Gegenwart, Graz 1928. 70 So etwa Ernst Swoboda, Fragen aus dem Miteigentumsrecht, Wien und Leipzig 1927; ders., Kommentar zum Mietengesetz und die Vorschriften über die Wohnbauförderung samt Erläuterungen, Graz 1929. Obwohl das Werk tendenziell auch rechtsphilosophische Erwägungen anstellte, spielte Spengler hier keine große Rolle. (Siehe hierzu die Rezensionen von Professor Klang in: DJZ 36 (1931), S. 177, und von Kiefersauer (Vorname unbekannt) in: LZ 25 (1931), S. 56; Ernst Swoboda, Kommentar zum Preßgesetz und zur Strafgesetznovelle 1929, Graz 1930. Siehe zum letzten Werk die Rezension von Ministerialdirigent Kurt Hänschel (in: JW 59 (1930), S. 1849), der das Werk generell lobt, aber bedauert, dass die deutsche Entwicklung nicht berücksichtigt wurde; Ernst Swoboda, Bevollmächtigungsvertrag und Auftrag, Geschäftsführung ohne Auftrag, versio in rem, Wien und Leipzig 1932. Hierzu Ohne Namen, Rez. In ZSR 51 (1932), S. 254. 71 Ernst Swoboda, Die Neugestaltung des Bürgerlichen Rechts, Brünn-Prag-LeipzigWien 1935, S. 5. 72 Swoboda, Die Neugestaltung des Bürgerlichen Rechts, S. 49. 73 Das Plädoyer für die Menschenwürde war deutlich und stützte sich vornehmlich auf Kant, von Spengler kahm vor allem die Begrifflichkeit (Swoboda, Die Neugestaltung des Bürgerlichen Rechts, S. 51). Interessant ist die Vermengung zwischen Kants Menschenwürde und dynamischer Rechtslehre auch deshalb, weil die Menschenwürde des Grund-
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bedauernd anmerkte, dass die Verordnung vom 28. Februar 1933 die Grundrechte außer Kraft gesetzt hatte.74 Auch wenn Swoboda die germanischen Wurzeln dieser Ideen und die Bedeutung der Ehre für den Persönlichkeitsbegriff erwähnte,75 so wirkte die Argumentationskette aus Kant, Spengler und der Menschenwürde wie ein Fremdkörper im nationalsozialistischen Schrifttum.76 Bei Larenz las man über den Personenbegriff zu dieser Zeit die berüchtigten Worte: „Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist. Dieser Satz könnte anstelle des die Rechtsfähigkeit ‚jedes Menschen‘ aussprechenden § 1 BGB“77 stehen. Obwohl er in den folgenden Jahren nicht auf die Argumentation mit dem Begriff Dynamik verzichtete, hörte Swoboda schlagartig ab 1936 auf, Spengler zu nennen. Das fiel umso mehr auf, als er inhaltlich seinen alten Themen in hohem Maße treu blieb. Das zeigte sich etwa an Swobodas Beitrag für das zusammen mit Reinhard Höhn und Theodor Maunz78 heraus-
gesetzes nach 1945 eine Garantie dafür sein sollte, dass sich die Gräueltaten des Nationalsozialismus niemals wiederholen können. Die Objektformel zur Definition der Menschenwürde wurde ebenfalls anhand von Kant entwickelt. Dies macht noch deutlicher, wie weit Swobodas Kantianismus und damit auch die dynamische Rechtslehre wenigstens in der Frage der Persönlichkeit noch 1935 vom Nationalsozialismus entfernt waren. Zum ersten Mal wurde Kant nach 1945 für die Definition der Menschenwürde fruchtbar gemacht bei Josef Wintrich, Über Eigenart und Methode verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung in: Verfassung und Verwaltung in Theorie und Wirklichkeit. Festschrift für Herrn Geheimrat Professor Dr. Wilhelm Laforet anlässlich seines 75. Geburtstages, München 1952, S. 227–249, S. 235 f. 74 Swoboda, Die Neugestaltung des Bürgerlichen Rechts, S. 51. 75 Swoboda, Die Neugestaltung des Bürgerlichen Rechts, S. 53. 76 Siehe Schmelzeisen, Rez. Swoboda, Die Neugestaltung des bürgerlichen Rechts, S. 360: „Leider verwendet Swoboda nicht die wichtigen Erkenntnisse der neuen deutschen Rechtswissenschaft. Von den Beziehungen zwischen Rasse und Recht, von der nationalsozialistischen Rechtsanschauung usw. hören wir nichts.“ Insbesondere sein Kantianismus wurde angegriffen. Siehe etwa Eugen Wohlhaupter, der in seiner Besprechung von Swobodas Buch bemerkte, dass seine Rezension wohl zu weit führte, wenn er „mit den Gesichtspunkten der heute in Deutschland wieder herrschend gewordenen hegelianischen Rechtsphilosophie“ Swobodas kantianisch basierte Ausführungen untersuchen würde (Eugen Wohlhaupter, Rez. Swoboda, Die Neugestaltung des bürgerlichen Rechts in: KritV 64 (1936), S. 317–320, S. 319). 77 Karl Larenz, Rechtsperson und subjektives Recht, Berlin 1935, S. 21; jüngst bemühte sich Hüpers darum, die Sätze im Zusammenhang zu sehen, damit sie ihren „mörderischen Sinn“ verlieren, auch wenn sie nicht „vollständig relativiert“ werden können (Bernd Hüpers, Karl-Larenz – Methodenlehre und Philosophie des Rechts in Geschichte und Gegenwart, Diss. Rostock 2008, Berlin 2010). 78 Die Mitautoren Höhn und Maunz – beides Juristen, die sich dem Nationalsozialismus in überüblichem Umfang zur Verfügung stellten (siehe nur die Artikel zu Höhn und Maunz in Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und
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gegebene Buch über die „Grundanschauung der Rechtsauffassung“ von 1938.79 Hier wurde zwar das Persönlichkeitsrecht nicht mehr mit einem dynamischen Kant und der Menschenwürde begründet und vollkommen dem Gemeinwohl unterworfen,80 grundsätzlich blieb er aber dabei, dass ein „dynamisches Denken“ notwendig sei, das „sich der Vielgestaltigkeit des Lebens anschmiegt“ und dass auch „die Begriffe nicht starr gebildet“ würden, „sondern ihre Funktion, ihre Auswirkungen, ihre Eignung für das ständig vorwärtsstürmende Leben“81 entscheidend seien. Nur Spengler spielte für diesen Gedanken plötzlich keine Rolle mehr.82 In den folgenden Jahren wurden die Zugeständnisse des Grazers an den Nationalsozialismus immer deutlicher. Er begann, von „nationalsozialistischer Rechtsanschauung“83 und „gesundem Volksempfinden“84 zu reden. Seit 1938 nahm er an Sitzungen der Akademie für deutsches Recht teil,85 wurde in seiner Prager Zeit Mitglied des Sudetendeutschen Freikorps und später SA-Sturmbannführer.86 Ob Swoboda nur zum Schein Nazi wurde87 nach 1945, Frankfurt am Main 2003, S. 261 für Höhn und S. 395) – lassen eine neue offiziöse Nähe zur Rechtserneuerung vermuten. 79 Vorerst erschöpft sich der Nationalsozialismus Swobodas auf die ohnehin schon vor 1933 vorgenommene Beschimpfung des Liberalismus und die seit 1935 gemachte Beobachtung, dass die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem zunehmend verschwimmt (Ernst Swoboda, Die aktuellen Tendenzen im öffentlichen Recht und im Privatrecht in: Reinhard Höhn, Theodor Maunz, Ernst Swoboda (Hrsg.), Grundfragen der Rechtsauffassung, München 1938, S. 87–114, S. 90 ff.; es handelte sich für Swoboda um ein relativ wichtiges Thema, welches er seit Ernst Swoboda, Die gegenseitige Durchdringung des öffentlichen und privaten Rechts in: ARSP 28 (1934/35), S. 184–194, und ders., Die Neugestaltung des bürgerlichen Rechts, verfolgte). 80 Swoboda, Die aktuellen Tendenzen im öffentlichen Recht und im Privatrecht, S. 95. Der Gedanke der Persönlichkeit wird nun vollkommen dem Gemeinwohl unterworfen, was laut Swoboda insbesondere im Arbeitsrecht zu einer Betonung der gegenseitigen Treuepflicht von Arbeitnehmer und Arbeitgeber führen müsse. 81 Ebda., S. 93. 82 Auch in anderen Schriften verwendete Swoboda zunächst noch nicht allzuviele nationalsozialistische Konzepte. Siehe etwa Ernst Swoboda, Die Rückkehr zu den Grundgedanken des Rechts in: Roland Freisler (Hrsg.), Festschrift Justus Wilhelm Hedemann zum sechzigsten Geburtstag am 24. April 1938, Jena 1938, S. 87–94. Auch hier behauptete Swoboda weiterhin, dass das dynamische Denken unentbehrlich geworden sei (S. 87.) Die Huldigungen gegenüber dem Nationalsozialismus halten sich auch hier stark in Grenzen. 83 Swoboda, Die Neuregelung des Schadensersatzrechtes, S. 275. 84 Swoboda, Die Neuregelung des Schadensersatzrechtes, S. 301. 85 Schubert, Der tschechoslowakische BGB-Entwurf, S. 277, Fn. 28. 86 Siehe Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 617. 87 Laut einer früheren Beurteilung von Schubert habe Swoboda zwischen 1939 und 1945 seine „beachtenswerte Konzeption in einer kaum mehr zu überbietenden Weise dem Nationalsozialismus dienstbar zu machen versucht.“ (Schubert, Der tschechoslowakische BGB-Entwurf, S. 277).
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oder aus Überzeugung handelte,88 ist für die Rekonstruktion seines Verhältnisses zu Spengler unerheblich. Seine nach außen erkennbaren Zugeständnisse an den Nationalsozialismus waren jedenfalls groß.89 In beiden Fällen war er – oder sah sich zumindest – gezwungen, mit dem Kulturphilosophen zu brechen, um innerhalb des Nationalsozialismus mitreden zu dürfen. 3. Das übrige Teilnehmerfeld Es lässt sich, abstellend auf den Umfang der Publikation zum dynamischen Recht, eine Gruppe von Autoren ausmachen, die sich mehr als nur einmal zum Thema äußerten, und zumindest teilweise in Fußnoten anderer „Dynamiker“ wahrgenommen wurden, aber bei Weitem nicht in dem Umfang wie Swoboda und Fehr. Dazu gehörten Justus Wilhelm Hedemann, Curt du Chesne, Heinz Potthoff, Gustav Clemens Schmelzeisen und Alexander Elster, die aufgrund der Anzahl ihrer Publikationen mit Spenglerbezug kurz vorgestellt werden. Justus Wilhelm Hedemann (1878–1963) ist wohl die bekannteste Figur unter all den Juristen, die Spengler für ihr rechtliches Denken fruchtbar machten.90 Er nutzte Spengler für eine neue Kategorisierung des dynamischen bzw. funktionalen Eigentums, wonach „das Eigentum einmal in der Ruhelage und zum anderen in der Bewegung“91 erfasst werden sollte.92 88
Schubert kam 15 Jahre Später zu einer anderen Einschätzung. Zwar lägen es gewisse Passagen „in seinen Publikationen zwischen 1940 und 1944 […] in ihrer kaum zu überbietenden Aufdringlichkeit nahe“, dass sich Swoboda „dem nationalsozialistischen Regime andienen woll(te). In Wirklichkeit wollte er wohl mit der Verwendung der nationalsozialistischen Phraseologie die Grundgedanken des österreichischen Rechts gegenüber der von den Österreichern befürchteten Einführung des BGB bzw. eines vom reichsdeutschen Zivilrecht geprägten Volksgesetzbuchs entgegentreten.“ (Schubert, Der Einfluss des ABGB auf Deutschland, S. 365). 89 Ihren Abschluss fand die Entwicklung der „Menschenwürde“ bei Swoboda in dessen ABGB-Lehrbuch von 1940/41. Dort war zu lesen: „Die Gleichberechtigung aber kann nur dem Volksgenossen zugestanden werden. […] Es ist selbstverständlich, daß im Dritten Reich die Gleichberechtigung der Juden nach den leitenden Grundgedanken des Nationalsozialismus nicht aufrechterhalten werden konnte.“ (Swoboda, Das österreichische Allgemeine Gesetzbuch, Teil 1, S. 49). 90 Siehe zu Hedemann grundsätzlich die Werkbiographie Wegerich, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit; daneben Heinz Monhaupt, Justus Wilhelm Hedemann als Rechtshistoriker und Zivilrechtsdogmatiker vor und während der Epoche des Nationalsozialismus in: Michael Stolleis, Dieter Simon (Hrsg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus: Beiträge zur Geschichte einer Disziplin, Tübingen 1989, S. 107–159; ders., Justus Wilhelm Hedemann und die Entwicklung der Disziplin „Wirtschaftsrecht“, ZNR 25 (2003), S. 238–268. 91 Justus Wilhelm Hedemann, Die Umwandlung des Eigentumsbegriffes in: RuW 11 (1922), Sp. 585– 592, Sp. 588. Hinter dieser Unterscheidung des Eigentums in der Ruhe-
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Hedemanns Bild vom Eigentum in Bewegung und in Ruhe machte Karriere.93 Er verwendete es auch, allerdings ohne jeden Hinweis auf Spengler, in seinem populären94 Sachenrechtslehrbuch.95 Dann folgte eine elfjährige
lage und in der Bewegung stand letztlich die zeittypische Differenzierung zwischen dem liberalen, kapitalistischen Ausnutzen des absoluten römischen Rechts und dem pflichtgebundenen, germanischen, sozialen Eigentum. Das Eigentum in seiner Bewegung betrachtet, so Hedemann, fokussiere seine Handhabung und fortlaufende Ausnutzung und inkorporiere daher von vornherein eine Begrenzung einer übermäßigen Ausnutzung (Hedemann, Die Umwandlung des Eigentumsbegriffes, Sp. 589, hierbei verweist Hedemann insbesondere auf Anton Menger und Karl Renner). 92 Angedacht wurde dieses Konzept zuerst 1922, zunächst ohne den Hinweis auf Spengler (Hedemann, Die Umwandlung des Eigentumsbegriffes). Zwei Jahre Später argumentierte Hedemann dann zum ersten Mal mit Spengler und sprach nun auch von funktionellem Eigentum in: Justus Wilhelm Hedemann, Funktionelle Wertung des Eigentums in: SJZ (20) 1924, S. 270–274. Hedemann unterstützte seine Argumentation durch einen Verweis auf den Zeitgeist (S. 273), der denkerische Strömungen enthalte, die mit seinen Eigentumskategorien korrespondierten. Spengler benannte Hedemann dabei als das erste außerjuristische Signal des Zeitgeistes, denn Spengler habe den „Gegensatz des statischen und des dynamischen oder, wie es auch genannt wird, funktionellen Denkens zur Basis einer weittragenden Weltanschauungslehre gemacht.“ (S. 273). 93 Insbesondere bei allen Autoren, welche die „Wandlung“ des Eigentumsdenkens beobachteten, war Hedemann mit seiner Kategorisierung erfolgreich, etwa bei Hans Würdinger, Wandlung in der Eigentumsverfassung in: ZAkDR 3 (1936), S. 70–77, S. 70; Volkmar, Das dynamische Element bei der Neubildung des deutschen Rechts, S. 474; Hermann Eichler, Wandlung des Eigentumsbegriffes in der deutschen Rechtsauffassung und Gesetzgebung, Weimar 1938, S. 67; Fritz Gerbert, Das Wesen des Eigentums, Diss. Erlangen 1935, Düsseldorf 1935, S. 6 ff.; Fritz Krüger, Der Eigentumsbegriff nach der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Diss. Göttingen 1930, Quakenbrück 1931, S. 36. Auch der Nationalökonom Ferdinand Tönnies griff auf Hedemanns Bild zurück (Ferdinand Tönnies, Das Eigentum, Wien 1926, S. 49). Die meisten der genannten Autoren verbanden das dynamische Rechtsdenken mit dem Eigentum in Bewegung, was nach Hedemanns Aufsatz von 1924 nahe lag. 94 Siehe die positiven Rezensionen zu Hedemanns Sachenrechtslehrbuch bei Wegerich, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit, S. 44. 95 Hedemann präsentiere den Unterschied zwischen Eigentum in Ruhe und in Bewegung in seinem Lehrbuch von 1924 als die „jüngste Wandlung“ (Justus Wilhelm Hedemann, Sachenrecht, Berlin und Leipzig 1924, S. 61 ff.) des Eigentumsrechts. Es ist nicht ganz klar ob Hedemann das Sachenrechtslehrbuch bereits fertig geschrieben hatte, als er in seinem Aufsatz über die „funktionale Wandlung des Eigentums“ beschloss, Spenglers Diagnose der gegenwärtigen Rechtsentwicklung mit seinem Eigentum in Ruhe und in Bewegung zu verbinden. (Das Vorwort des Sachenrechtslehrbuches datiert in den April 1924. Das Sachenrechtslehrbuch war also vermutlich vor April 1924 fertig geschrieben. Der Aufsatz erschien Anfang 1924 in der SJZ.) Spengler wird jedoch in dem Sachenrechtslehrbuch, welches freilich viel populärer war, als der Aufsatz in der SJZ, nicht genannt, obwohl es im Vergleich zu anderen Lehrbüchern seiner Zeit viel größeren Wert auf politische und rechtstheoretische Betrachtung des Stoffes legte (siehe auch hierzu Wegerich, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit, S. 43). Die zweite Auflage des Sachen-
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Phase, in der Hedemann nicht mehr auf seine Kategorien zu sprechen kam.96 1935 kam Hedemann noch einmal auf Spengler zurück und präsentierte die beiden Aufsätze aus den 1920igern noch ausdrücklicher unter dem Stichwort des dynamischen Rechtsdenkens und erklärte mithilfe von Spenglers Begriffen unter Berufung auf den Kulturphilosophen das nationalsozialistische Wesen im Zivilrecht.97 Der Landgerichtsdirektor und Kommentator im „Soergel“ Curt du Chesne98 beschäftigte sich ab 1924 mit Spengler. Im Kern ging es ihm um die Beschreibung von sogenannten Wertrechten.99 Den Begriff Wertrecht rechtslehrbuches von 1950 kannte jedenfalls weder die Unterscheidung von Haben und Ausnutzen noch Spengler. 96 Nach diesem viel zitierten Aufsatz äußerte sich Hedemann elf Jahre nicht mehr zum dynamischen Eigentum, als „soziales“ Eigentum in Bewegung und das obwohl er eine passende Gelegenheit hatte, um diese Gedanken im Handwörterbuch der Rechtswissenschaften zu verbreiten. Hier verfasste er den Artikel zum Eigentum (Justus Wilhelm Hedemann Art. Eigentum in HdR, Bd. 2, Berlin und Leipzig 1927, S. 166–171, S. 166). Dieser war insgesamt weniger politisch und rechtstheoretisch als Hedemanns Sachenrechtslehrbuch. Dies spricht für die Analyse von Wegerich, nach der Hedemann in den stabilen Jahren der Weimarer Republik eine gesetzestreue BGB-konservative Phase hatte (Wegerich, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit, S. 203). 97 Justus Wilhelm Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX. Jahrhundert, II/2, Köln 1935, S. 346. Fn. 20. Dabei wies er auch darauf hin, dass er den Unterschied zwischen „Haben“ und „Ausnützendürfen“ in sein Sachenrechtslehrbuch übernommen hatte. Der Bezug zu Spengler war nun überdeutlich. Hedemann schrieb: Der Gegensatz von Statik und Dynamik sei „in breite Kreise hineingetragen worden durch das mächtige Werk von Oswald Spengler“ (Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX. Jahrhundert, II/2, S. 346). 98 Über den Landgerichtsdirektor du Chesne ist wenig bekannt. Neben einigen Aufsätzen zu verschiedenen allgemeinen zivilrechtlichen und zivilprozessualen Fragen und einigen kleineren Monographien zum Liegenschaftsrecht trat er für die breite Masse der Juristen vor allem als Bearbeiter in Soergels Kommentar zum BGB hervor. Es existiert weder ein Eintrag in Kirschners Gelehrtenkalender noch in der neuen deutschen Biographie. Ein Nachruf wurde ebenfalls nicht verfasst. Curt du Chesne aus Leipzig ist jedenfalls nicht zu verwechseln mit dem bisweilen in der GRUR publizierenden Direktor Dr. Duchesne aus Berlin. Um 1900 war du Chesne noch Assessor, ab 1901 Landrichter in Leipzig, ab 1912 Landgerichtsrat und spätestens ab 1917 Landgerichtsdirektor. Dies lässt sich den Aufsätzen entnehmen, die er in diesem Zeitraum zahlreich vor allem in folgenden Zeitschriften publiziert hat: Sächsisches Archiv für bürgerliches Recht und Prozeß, SeufertsBlfR, Zeitschrift für deutschen Zivilprozess, DJZ. 99 Du Chesne arbeitete heraus, dass Pfand und Hypothek etwas grundsätzlich anderes seien als obligatorische oder dingliche Rechte. Nicht das Grundstück sei der unmittelbare Gegenstand einer Hypothek, sondern ein bestimmter Teil eines möglichen künftigen Erlöses des Verkaufs des Grundstücks. Dies ist für du Chesne eine zentrale Erkenntnis. Sie ist so bedeutsam, dass er zu einem vermeintlichen Neologismus greift: „Damit stellt sich die Hypothek als ein – von mir so genanntes – Wertrecht dar.“ (du Chesne, Rechtssubjekt, Forderung und Sache, Sp. 425–434, Sp. 434). Im letzten Absatz deutet sich schon an, dass du Chesne diesen Ansatz weiter auszubauen dachte: „Was wird aus
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hatte du Chesne bereits 1908 verwendet, aber in seinen folgenden Publikationen wieder fallen gelassen.100 Du Chesne arbeitete heraus, dass sowohl Grundschuld als auch Hypothek nicht so recht in das sonstige System des Vermögensrechts eingeordnet werden können.101 „Auf jeden Fall erhellt, daß hier das moderne Kredit- und Geldbedürfnis die bisherige enge Einteilung in dingliche und obligatorische Rechte gesprengt hat, indem es einen dynamischen Faktor zur Entwicklung gebracht hat.“102 Diesen Gedanken verfolgte er bis zu seinem frühen Tod 1929103 in verschiedenen weiteren Publikationen,104 wobei er Spengler auch mit Hilfe diesen Wertrechten sich noch entwickelt? War es eine Sackgasse oder führt der Weg weiter zu ungeahnten Entwicklungsstufen?“ (Sp. 434). 100 Dies liest sich so, als sei der Begriff „Wertrecht“ du Chesnes Wortneuschöpfung. Er zitiert hierzu keinen weiteren Autor und verkündet, dass die Hypothek von „ihm“ Wertrecht genannt wird. In einem wenig später erschienenen Aufsatz verweist er darauf, dass er bereits 1908 vertreten habe, dass sich die Grundschuld immer mehr dem Papiergeld annähere und daher hier von Werteigentum gesprochen werden müsse (Curt du Chesne, Zukunftstraum eines Grundbuchrichters in: DNotZ 8 (1908), S. 386–389; ähnlich zum Thema auch ders., Der Absolute Schutz von Tauschwerten in: SeufertsBlfR 73 (1908), S. 209–211; der Verweis findet sich in ders., Dynamisches Eigentum, S. 457). Tatsächlich findet sich in diesem prosaischen Stück juristischer Literatur bereits der Begriff „Wertrecht“. Zu beachten ist allerdings, dass zu dieser Zeit ausgehend von Josef Kohler in der Rechtsphilosophie und darüber hinaus eine Debatte über die Begriffe Substanz- und Wertrecht stattfand (siehe zu Substanz und Wertrecht allgemein unten S. 73 ff.). Hinweise auf diese Debatte finden sich bei du Chesne nicht. Das bedeutet, dass der Begriff „Wertrecht“ bei du Chesne ursprünglich ohne Spengler und möglicherweise separat von Kohler entwickelt wurde. Du Chesne hatte den Begriff aber nach 1908 nicht mehr verwendet und erst durch die dynamische Rechtslehre Spenglers wieder entdeckt. 101 So argumentiert er etwa, dass die Art der Befriedigung über die Zwangsvollstreckung öffentlich rechtlich und damit nicht schuldrechtlich sei. Zudem sei die geschuldete Handlung der Duldung der Zwangsvollstreckung direkt auf die Übertragung eines Wertes gerichtet. Die Handlung habe also keinen Eigenwert. Ein Sachenrecht liege aber auch nicht vor, da es niemals final um die Substanz der Sache, um den Besitz oder eine Vindikation gehe (Curt du Chesne, Dinglich – obligatorisch – dynamisch in: DJZ 30 (1925), Sp. 576–578, Sp. 577). 102 Du Chesne, Dinglich – obligatorisch – dynamisch, Sp. 577. 103 In der vierten Auflage des Soergel von 1929 wurde das Verscheiden des Landgerichtsrats du Chesne bedauert: „Obwohl ihn schon seit vielen Monaten ein schweres Leiden fast arbeitsunfähig gemacht hatte, griff er immer wieder zur Feder für die ihn lieb gewordene Arbeit an unserer Ausgabe. Es war erschütternd zu sehen, wie er, kaum mehr fähig zu schreiben, doch immer wieder sein Manuskript zu ergänzen suchte.“ (Hans Theodor Soergel, Vorwort zur vierten Aufl. in: Soergel, 4. Aufl., Berlin/Stuttgart/Leipzig 1929, S. VI). Seine Arbeiten blieben aber unvollendet, sodass die Kommentierung von anderen übernommen wurde. 104 Du Chesne, Die Entwicklungslinie des dynamischen Rechts, S. 303–307; ders., Der Absolute Schutz von Tauschwerten, S. 209–211; ders., Wertrecht und Pfandrecht in: JherJB 76 (1926), S. 207–232; ab der 3. Auflage des Sörgels von 1926 – der letzten, die von ihm besorgt wurde – fanden sich kurze Ausführungen über das Wesen der Hypothek.
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der, in der Nationalökonomie verbreiteten, nicht zuletzt durch Karl Marx berühmt gemachten, Unterscheidung zwischen Tauschwert und Gebrauchswert einer Sache interpretierte.105 Dabei übernahm du Chesne auch Spenglers Zivilisationskritik und mit dem Kulturphilosophen das zeittypische „Denken in Geld“.106 Seine Ideen fanden eine gewisse Anerkennung in der Wissenschaft.107
In einem Satz wurde festgestellt, dass es sich nach h.M. um ein dingliches Recht handele. Du Chesne führte sich sodann als einzigen Autor einer beachtenswerten Mindermeinung auf. Er habe, so die Kommentierung, für die Hypothek die „Sonderkategorie der dynamischen Rechte“ (Soergel, 5. Aufl. 1931, § 1113, Rn. 2) aufgestellt. 105 Die Begriffe waren in den 1920er Jahren keineswegs zwangsweise unterschwellig mit kommunistischer Kapitalismuskritik verbunden (siehe etwa Richard Strigl, Art. Tausch in: HdS, S. 37–40, insbesondere S. 39). Während die eigentlichen Sachenrechte auf den Gebrauchswert einer Sache abzielen, stehe bei Hypothek, Grundschuld und Rentenschuld deutlich der Tauschwert im Vordergrund (du Chesne, Dynamisches Eigentum, S. 457 ff.). 106 Du Chesne beschrieb, dass der Wirtschaftsverkehr insgesamt deutlicher den Tauschwert der Güter in den Vordergrund stelle. Es komme nach einer „dem Zeitalter des ausgebreiteten Rechtsverkehrs mehr entsprechende(n) Auffassung“ unabhängig von den rechtlichen Konstruktionen darauf an, „was der Berechtigte im Rechtsverkehr sich für seine Vermögensstücke verschaffen kann.“ (du Chesne, Die Entwicklungslinien des dynamischen Rechts, S. 304). So habe sich auch die Grundschuld immer mehr dem Papiergeld angeglichen. „Wenn ich Recht sehe“, schrieb du Chesne hierzu, „entspricht dieser Entwicklungsgang etwa dem von Spengler vorausgesagten (‚Denken und Geld‘ usw.).“ Nach Spengler war das „Denken in Geld“, wie auch die Entwicklung der wenigen zentralen Großstädte eines der typischen Merkmale eines Übergangs in ein Zivilisationszeitalter (siehe Spengler, UdA II, Kapitel V, Abschnitt A 2, S. 603 ff.) Dies erkannte Spengler in der Antike und anderswo und prophezeite es auch für die zukünftige Entwicklung des Abendlandes: „Für den frühzeitlichen Bauern ist ‚seine‘ Kuh zuerst gerade dieses eine Wesen und dann erst Tauschgut; für den Wirtschaftsblick eines echten Städters gibt es nur einen abstrakten Geldwert in der zufälligen Gestalt einer Kuh, der jederzeit in die Gestalt etwa einer Banknote umgesetzt werden kann.“ […] Geld sei wie das Recht „eine eigene ‚Kategorie des Denkens‘ die erst der Städter in der Zivilisation hervorbringe“ (Spengler, UdA, S. 1163). Es war eine Seltenheit, dass Juristen über diese Passagen stolperten. Bei du Chesne waren die Ausführungen auch zivilisationskritisch gemeint. Er sagte deutlich, dass man diese Entwicklung nicht widerstandslos hinnehmen solle. Dabei blieb er im Fahrwasser spenglerscher Gedanken, war aber gleichzeitig auch den marxistisch inspirierten Prophezeiungen über die Entwicklung des Kapitalismus und eine anschließende Diktatur des Proletariats verpflichtet (du Chesne, Dynamisches Eigentum, S. 458). 107 Siehe vor allem Martin Willms, Über das Verhältnis der Hypothek zur hypothekarisch gesicherten Forderung im geltenden Recht. Diss. Göttingen 1927, S. 4; Joachim Saling, Der gutgläubige Erwerb der persönlichen Hypothekenforderung, Diss. Freiburg 1934.
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Alexander Elster108 wurde durch Fehrs „Recht und Wirklichkeit“ vor Augen geführt, wie bedeutsam Spenglers Ausführungen für die Fortentwicklung des Rechts seien.109 Elster war 1929 davon überzeugt, dass bisher das Verständnis weiter Bereiche des Immaterialgüterrechts aufgrund des fehlenden Vokabelpaares Statik/Dynamik nicht ausreichend möglich war. 108
Über Alexander Elster (1877–1942) ist wenig bekannt. Es gibt weder eine Biographie noch einen Nachruf. Daten finden sich nur bei Hans-Robert Cram, Weimarer Republik und Nationalsozialismus in: Anne Katrin Ziesak (Hrsg.), Der Verlag Walter DeGruyter 1749–1999, Berlin 1999, S. 239–256, S. 242. Gleichwohl ist an verschiedenen Stellen über ihn geschrieben worden. Führt man die Fäden zusammen, so ergibt sich vor allem das Bild eines besonders vielseitigen Autors. Alexander Elster war eine anerkannte Kapazität auf dem Gebiet des Immaterialgüterrechts. Obwohl er nie die Laufbahn eines akademischen Wissenschaftlers einschlug, wurden seine zahlreichen Werke in Wissenschaft und Praxis viel beachtet. Der prominente urheberrechtliche Begriff der „kleinen Münze“ geht auf ihn zurück (so Karl Nikolaus Peifer, Individualität im Zivilrecht: der Schutz persönlicher, gegenständlicher und wettbewerblicher Individualität im Persönlichkeitsrecht, Immaterialgüterrecht und Recht der Unternehmen, Tübingen 2001, S. 81, Fn. 134). Dem Immaterialgüterrecht widmete er sich auch in rechtsvergleichender Perspektive intensiv. Er war zudem eng mit dem Kaiser Wilhelm Institut für ausländisches und internationales Privatrecht verbunden, in dessen Zentralorgan, der Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, er häufig publizierte. Regelmäßig veröffentlichte er auch in der Zeitschrift für gewerblichen Rechtschutz und Urheberrecht und in der juristischen Rundschau. Im maßgeblichen Zeitraum arbeitete Elster beim Verlag Walter de Gruyter in Berlin, wo er ab 1914 der Direktor der Staats- und Rechtswissenschaftlichen Abteilung wurde (Rolf-Ulrich Kunze, Ernst Rabel und das Kaiser-WilhelmInstitut für ausländisches und internationales Privatrecht 1926–1945, Diss. Göttingen 2004, S. 98). Von hier aus knüpfte er Kontakte zur Wissenschaft und publizierte selber (siehe Cram, Weimarer Republik und Nationalsozialismus, S. 242 f.). Seine Vielseitigkeit kam vor allem in seinen zahlreichen Artikeln in dem von ihm mit herausgegebenem Handwörterbuch der Rechtswissenschaften zum Ausdruck. Neben dem berühmten Handwörterbuch der Rechtswissenschaften (1928–1936), das er zusammen mit Fritz Stier-Somlo herausgab, war er zusammen mit Paul Dienstag verantwortlich für das Handbuch des deutschen Theater-, Film-, Musik- und Artistenrechts (1932), publizierte mit Heinrich Lingemann das Handwörterbuch der Kriminologie und der anderen strafrechtlichen Hilfswissenschaften (1933–1936). Schon sehr früh gab er ein Lexikon des Arbeitsrechts heraus. Für sämtliche Handbücher verfasste er selber zahlreiche Artikel. Zusätzlich erschienen Artikel von ihm im Handwörterbuch der deutschen Staatsrechtswissenschaften. 109 Vor 1928 fanden sich keine Texte des Vielschreibers mit Bezug auf die dynamische Rechtslehre. Elster publizierte 1929 in der Zeitschrift für schweizerisches Recht einen Offenbarungsaufsatz über das dynamische Recht (Elster, Urheber- und Erfinderrecht als Beispiel dynamischer Rechtsauffassung, S. 117–127). Ausgehend von den „viele(n) interessante(n) Fragen grundsätzlicher Natur“ (S. 117), die das Immaterialgüterrecht der Rechtswissenschaft aufgetragen habe, erörtert Elster, dass die Entwicklung des Immaterialgüterrechts stets gehemmt war, da „man früher das Recht allzu sichtbar hat sehen wollen“ (S. 118). Der fundamentale Unterschied zwischen statischem und dynamischem Recht, „den Spengler betont und den Fehr weiter ausgebaut hat“ (S. 118) eröffne hier neue Perspektiven.
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Insbesondere argumentierte Elster mithilfe der dynamischen Rechtsanschauung gegen die dualistische Immaterialgüterrechtstheorie Kohlers, die er seit 1928 bekämpfte.110 Elster verfasste 1929 in einer gewissen Dynamik- und Spenglereuphorie noch mehrere Artikel im Handwörterbuch der Rechtswissenschaften, in denen er immaterialgüterrechtliche Konzepte mithilfe der Vokabeln des Kulturphilosophen erläuterte.111 Noch im selben Jahr folgte ein Aufsatz über den Wettbewerb unter dynamischen Vorzeichen betrachtet112 und ein Beitrag zur Jubiläumsfestgabe des Reichsgerichtes 1929,113 der zumindest auch Spengler und die Dynamik am Rande erwähnte. Ein weiterer Aufsatz aus diesem Jahr behandelte die Spannung zwischen positivistischer und freirechtlicher Gesetzesauslegung aus dynamischer Perspektive.114 Weiterhin beteiligte sich Elster an der Diskussion um die dynamische Rechtslehre in der GRUR von 1929/30. Nach 1930 ließ sein Spenglerinteresse jedoch merklich nach. Dennoch verwendete er den spenglerschen Begriff der Dynamik weiter als – gewissermaßen theoriefreies – Synonym zu Wirksamkeit und Gebrauchsmöglichkeit, ohne dass damit die Hoffnung verbunden wäre, tiefer in das Wesen des Immaterialgüterrechts vorzudringen.115 110
Schon seit längerer Zeit führte Elster seine eigene „Geistesgut-Wettbewerbstheorie“ gegen Kohler ins Feld (Alexander Elster, Urheber- und Erfinder-, Warenzeichenund Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. Berlin und Leipzig 1928). Während Kohler zwischen einem reinen Vermögensrecht und einem reinen Persönlichkeitsrecht unterscheidet, fordert Elster 1928 eine Dreiteilung (S. 21 ff.). Zwischen Persönlichkeitsrecht und Vermögensrecht solle ein wettbewerblicher Anteil treten. Dies beruhe auf der Überlegung, dass „erst durch das Hinzutreten des Wettbewerbscharakters“ die geistigen Schöpfungen zu „Objekten“ des „besonders gearteten“ immaterialgüterrechtlichen Rechtsschutzes werden (S. 21). 111 Siehe oben S. 161 f., Fn. 616 f. 112 Alexander Elster, Der geistige und körperliche Wettbewerb als Faktor der Sozialgestaltung im Rechts- und Wirtschaftsleben in: Archiv für angewandte Soziologie Heft 6 1929, S. 1–17. 113 Alexander Elster, Das Urheberpersönlichkeitsrecht in der Rechtsprechung des Reichsgerichts in: Otto Schreiber (Hrsg.), Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50-jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929), Bd. 6, Berlin 1929, S. 253–286. 114 Alexander Elster, Vom kulturellen Fortschritt der Rechtsfindung in: JR 5 (1929), S. 212–216. 115 So etwa in Paul Dienstag, Alexander Elster, Handbuch des Deutschen TheaterFilm- Musik- und Artistenrecht, S. 12 „[…] Beeinträchtigung der Wirksamkeit des Werkes (der „immanenten Dynamik“).“; noch deutlicher dem gewöhnlichen theoriefreien Sprachgebrauch entlehnt ist die Formulierung in Robert Voigtländer, Alexander Elster, Gesetz über das Urheberrecht, 3. Aufl., Berlin 1942, S. 13: Das Urheberrecht sei „von schematischen und formalistischen Behandlungsweisen und von statischer Kategoriemethodik fernzuhalten“. Alexander Elster, Gebrauchsdiebstahl von Geistesgut in: ZgStrafW 53 (1933/34), S. 442–457, S. 446: „Die starke Unterscheidung zwischen Gegenstandsund Gebrauchsdiebstahl […] unterschätzt andererseits das Funktionelle, das Dynamische
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Der Arbeitsrechtler Heinz Potthoff hat sich in den zwei Aufsätzen „Faustisches im Arbeitsrecht“116 und „Weltanschauliche Grundlagen des Arbeitsrechtes“117 mit den spenglerschen Thesen beschäftigt. Potthoff räumt der Darstellung von Spenglers Geschichtsphilosophie und seinen Ausführungen zum römischen und abendländischen Recht zu Beginn von „Faustisches im Arbeitsrecht“ einen ungewöhnlich breiten Raum ein.118 Mit Spengler argumentierte er dafür, die Arbeit stets verbunden mit der Persönlichkeit des Menschen zu betrachten. Daher forderte er ein soziales Arbeitsrecht, welches den Wert des Menschen höher einstuft, als alle anderen Güter. Damit verbunden sollte auch ein Vorrecht „der menschlichen Arbeitskraft vor allen anderen Kräften und Energien“119 sein. Gustav Klemens Schmelzeisen, Jahrgang 1900, ist hier der erste näher untersuchte Autor, der aus einer späteren Generation als Spengler stammt.120 Er begann sein Jurastudium im Sommersemester 1919 in Heidelberg, wo er vor allen von Hans Fehr – der damals allerdings noch nicht spenglerbegeistert war – geprägt wurde.121 In einem Aufsatz von 1932 behandelte er rechtstheoretisch den Besitzbegriff des geltenden Rechts.122 Hier verband er die Interessenjurisprudenz und die spenglersche Konzeption auf originelle Weise.123 des Eigentums und Besitzes: die Gebrauchsmöglichkeit“; ders., Was heißt und bedeutet Übertragung des Urheberrechts oder des Erfinderrechts? in: ZfAuIP 8 (1934), S. 321– 341, S. 321: Es komme nicht „auf die feststehenden Termini (Begriffe)“ an, „also nicht auf Statik, sondern auf ihre dynamische Funktion in der rechtlichen, vertraglichen, lebendigen Umgebung“. 116 Heinz Potthoff, Faustisches Arbeitsrecht in: ArbR 1924, S. 489–501. 117 Heinz Potthoff, Weltanschauliche Grundlagen des Arbeitsrechtes in: ArchfRsuWPhil 20, 1926/27, S. 450. 118 Potthoff, Faustisches Arbeitsrecht, S. 489–496. 119 Potthoff, Faustisches Arbeitsrecht, S. 498 f. 120 Siehe zu ihm allgemein Hans-Wolf Thümmel, Gustav Klemens Schmelzeisen in: SZRG GA 100 (1983), S. 432–440. Siehe zu Schmelzeisens Vorstellung von Volk und Reich Elmar Wadle, Visionen vom „Reich“. Streiflichter zur Deutschen Rechtsgeschichte zwischen 1933 und 1945 in: Joachim Rückert/Dietmar Willoweit (Hrsg.), die deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen, Tübingen 1995, S. 241–299, S. 269 f. 121 Thümmel, Gustav Klemens Schmelzeisen, S. 432–440. 122 Das Hauptbeispiel hierfür hatte Schmelzeisen dem Sachenrechtslehrbuch Hecks entnommen: Wenn zunächst A eine Filiale des B führt, es dem B aber dann vollständig abkauft und fortführt ohne die Änderung der Eigentumsverhältnisse nach außen kundzutun, dann ist zunächst prinzipiell der A unmittelbarer Besitzer. Der Verkehr darf aber in gewissen Fällen noch annehmen, B sei weiterhin Besitzer. Daher könne etwa gem. § 851 BGB die Ersatzleistung mit Erfüllungswirkung an B gezahlt werden. (Schmelzeisen, Die Relativität des Besitzbegriffs, S. 39). 123 Das Zusammenspiel kommt in der Bezeichnung einer „teleologisch-dynamischen Rechtsbetrachtung“ schlagwortartig zum Ausdruck (Schmelzeisen, Die Relativität des
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Betrachtet man Schmelzeisens Schriften nach 1933 genauer, so wird schnell deutlich, dass er Phillip Heck deutlich Hans Fehr vorzog und phasenweise eher seinen Tübinger Habilitationsbetreuer Schönfeld als den Berner Germanisten heranzog. Nur noch an wenigen Stellen ist von Spengler, Fehr und der dynamischen Rechtslehre zu lesen. In einem Aufsatz von 1934 postuliert er deutlich, dass es darum gehe, die statische und die dynamische Rechtsauffassung dialektisch zu einer höheren Einheit zu führen.124 Er näherte sich zudem immer deutlicher dem Nationalsozialismus und erteilte dem dynamischen Rechtsdenken 1926 eine deutliche Absage.125 Viele der übrigen Autoren des dynamischen Rechtsdenkens traten mit der Verwendung der Begriffe Statik und Dynamik nach Spengler nicht so massiv in Erscheinung. Einige wurden noch nicht einmal von Gleichgesinnten zitiert. So fand vermutlich kein anderer „Dynamiker“ die zwei einschlägigen Schriften von Emil Erich Hölscher.126 Diese waren auch freilich gut versteckt: Nach dem Aufsatz „Statisches und dynamisches Recht“ hätte wohl niemand absichtlich in der zivilrechtlich kaum frequentierten Zeitschrift „Ethik: Sexual- und Gesellschaftsethik“ gesucht, und auch der Schrift „Vom Römischen zum Christlichen Naturrecht“ konnte man das Kapitel über statisches und dynamisches Rechtsdenken von außen nicht ansehen. Ähnlich ging es den Autoren Gebhard127, Rosenfeld128, Ledig129, Alfred Müller130, Franz Gerd Oppenheimer131, Rudolf Callmann,132 Her-
Besitzbegriffs, S. 45). Schmelzeisen führte hierzu aus, dass die Relativität der Rechtsbegriffe dadurch zustande komme, dass für einige, vom Gesetzgeber vorausgesehene Fälle die Begriffe in ihrer Urform weitergelten, während sie für neue Fälle modifiziert werden müssen, denn ein Rechtsbegriff könne „infolge seines statischen (zuständlichen) Wesens der Dynamik (Bewegtheit) der Wirklichkeit nicht gerecht werden“ (S. 42). Begriffe zu beforschen mache demnach nur einen beschränkten Sinn. Es lasse sich allenfalls die „Zielstrebigkeit des Gesetzgebers, die auf einen Interessenausgleich zurückgeht“ (S. 45) erforschen und auf neue Sachverhalte anwenden. 124 Gustaf Klemens Schmelzeisen, Vom deutschen Recht und seiner Wirklichkeit, Düsseldorf 1933, S. 22. 125 Siehe unten S. 108 f. 126 Hölscher, Statisches und dynamisches Recht, S. 389–394; ders., Vom Römischen zum Christlichen Naturrecht, S. 31 ff. 127 Gebhard, Dynamisches Recht. 128 (Vorname unbekannt) Rosenfeld, Oswald Spengler und das Recht in: DJZ 1923, Sp. 141. 129 (Vorname unbekannt) Ledig, Oswald Spengler und die Rechtswissenschaft in: DRiZ 1924, Sp. 362–364. 130 Alfred Müller, Statisches und Dynamisches Recht in: ARWP 20 (1926/27), S. 529– 548. 131 Oppenheimer, Der Gesetzesmissbrauch, Dissertation Köln 1930. 132 Callmann, Der unlautere Wettbewerb.
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mann Eichler133, Andreas Popp134, Eduard H. Hoffmann,135 Franz Jenny,136 Otto Baumecker137 und Lüben Dikoff,138 die mit ihren Äußerungen zur dynamischen Rechtslehre offenbar weniger Resonanz ernteten. Die genannten Autoren hatten teilweise umfangreich zu verschiedenen Themen publiziert, aber zumeist nur einen Aufsatz, nur ein kleines Kapitel in einem Buch oder manchmal nur einige Zeilen der dynamischen Rechtslehre gewidmet. Allen bisher genannten Schriften war gemein, dass zur Erläuterung des Begriffes der Dynamik und des dahinterstehenden Konzepts hauptsächlich Spengler und/oder weitere Autoren, die sich wiederum hauptsächlich auf Spengler beriefen, heranzogen wurde. Dies stellte sich bei drei Autoren fundamental anders dar, nämlich Manfred Bott-Bodenhausen139, Paul Baender140 und Herbert Hill141. Alle drei verfassten jeweils eine Monographie über das Thema, stellten dabei Spengler aber neben oder unter eine Reihe von anderen Philosophen und Rechtswissenschaftlern. Spengler erschien bei ihnen weniger zentral und wurde auch fundamentalerer Kritik ausgesetzt. 4. Zwischenergebnis: Ein zivilrechtliches Thema Damit liegt ein erstes Ergebnis vor. Diejenigen Juristen, die das Begriffspaar an prominenter Stelle verwendeten, waren in der ganz überwiegenden Mehrheit Zivilrechtler oder im Fall von Hans Fehr zugleich Rechtshistoriker und Zivilrechtler. Bedenkt man, dass auch Fehr den Begriff vorwiegend in dogmatischen und rechtstheoretischen Kontexten verwendete, kann von einem vorwiegend zivilrechtlichen Phänomen gesprochen werden. Dem entspricht auch, dass Spenglers Beispiele hautsächlich aus dem Zivil133
Eichler, Wandlung des Eigentumsbegriffes in der deutschen Rechtsauffassung und Gesetzgebung, S. 66 f. 134 Andreas Popp, Das aktienrechtliche Unternehmen an sich und die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Aufsichtsrat und Generalversammlung der Aktiengesellschaft im geltenden deutschen Aktienrecht, Diss. Erlangen 1931. 135 Eduard. H. Hoffmann, Die Stellung des Staatshauptes zur Legislative und Exekutive im Deutschen Reich und seinen Ländern. Eine rechtsvergleichende Betrachtung unter Gesichtspunkten politischer Dynamik in: AöR 45 NF. 6 (1924), S. 257–303. 136 Franz Jenny, Wandlung des Eigentumsbegriffes in: ZSR 51 (1932), S. 23–50. 137 Baumecker, Ethik, Dynamik und Technik des Erbhofgesetzes als Vorbild für die neue Rechtsgestaltung. 138 Dikoff, Statisches oder Dynamisches Recht? 139 Bott-Bodenhausen, Formatives und funktionales Recht in der gegenwärtigen Kulturkrisis. 140 Baender, Statische und dynamische Rechtsbetrachtung. 141 Herbert Hill, Der Sachbegriff im deutschen und österreichischen Zivilrecht, Diss. Gießen 1939, Gießen 1940.
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recht stammten. Der Kulturphilosoph kritisierte in seiner Rechtsgeschichte im Untergang des Abendlandes § 90 BGB, sprach urheberrechtliche und patentrechtliche Probleme an und diskreditierte den Einfluss des corpus iuris auf die Rechtsbegriffe. Nur das Beispiel des Stromdiebstahls stammte aus dem Strafrecht. Verfassungsrechtliche Themen sprach er in diesem Kapitel nicht an.
III. Dynamikkonnotationen in der Spenglerrezeption der Weimarer Zeit III. Dynamikkonnotationen in der Spenglerrezeption der Weimarer Zeit
Im Folgenden soll untersucht werden, mit welchen Konnotationen und mit welchen Intentionen die Juristen die Begriffe „Statik“ und „Dynamik“ verwendeten. Dabei soll auch geklärt werden, inwiefern von einem Spenglereinfluss gesprochen werden kann. Diente der Kulturphilosoph nur als Schlagwortgeber oder fungierten seine Begriffe als Vehikel für einen Transfer seiner kulturphilosophischen Konzepte? Um die Frage zu beantworten, wie wirkungsmächtig Spengler „Statik“ und „Dynamik“ verbreiten konnte, ist auch zu fragen, inwiefern er als Monopolist dieser Begriffe gelten kann. Es ist also zu untersuchen, inwieweit „Statik“ und „Dynamik“ in der Zeit von 1918 bis 1933 im allgemeinen und juristischen Sprachgebrauch etabliert waren. Daher gliedert sich dieser Abschnitt wie folgt: Zunächst wird die Frage nach der Popularität des Dynamikbegriffs vor Spengler geklärt. Sodann werden die verschiedenen Konnotationen von Dynamik in der juristischen Spenglerrezeption jeweils dargestellt und analysiert. Dabei werden die konkreten Texte der Juristen und der Einfluss von Spengler auf diese jeweils auch vor dem Hintergrund allgemeiner juristischer Strömungen der Zeit interpretiert. 1. Die Popularität der Begriffe Statik und Dynamik vor dem historischen Hintergrund a) Die allgemeine Verwendung der Begriffe zu Beginn des 20. Jh. Das Wort „Dynamik“ geht auf das griechische Wort dynamis (δύναμις) zurück, ein unter anderem von Platon und Aristoteles verwendeter Begriff.142 Das neuzeitliche Verständnis von Dynamik war von einer natur142
Bei Aristoteles, dessen Begriffsverwendung sehr wirkungsmächtig war, bezeichnete dynamis das Vermögen eine Veränderung zu bewirken (Gert Plamböck, Art. Dynamis in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Basel 1972, Sp. 303–304, Sp. 304) bzw. das Prinzip der Bewegung selbst. Vorher sprachen bereits die griechischen Ärzte von Dynamis, um die Wirkung eines Stoffes auf den Menschen zu bezeichnen (Plam-
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wissenschaftlich-mathematisch-philosophischen Sichtweise geprägt. Vermutlich gebrauchte Leibniz als Erster den Begriff in seiner heutigen naturwissenschaftlichen Form.143 Der Begriff etablierte sich im 19. Jh. in der Natur- und Musikwissenschaft und der Philosophie.144 In Fachlexika wurde zu Beginn des 20. Jhs. bereits auf einen spezifisch soziologischen Begriff der Dynamik hingewiesen, der auf Auguste Comte zurückging. Dieser hatte in seinem 1830–1842 erschienenen „Cours de philosophie positive“ zwischen einer „statischen“ und „dynamischen“ Betrachtung unterschieden.145 Das Antonym Statik und Dynamik wurde auch von anderen Urvätern der Soziologie, wie etwa Herbert Spencer146 und Lester Frank Ward147 zur Konstruktion wichtiger Theoriebausteine verwendet. Die statische Betrachtung meinte in der beginnenden Soziologie „die Darstellung der eine Gesellschaft constituierenden Factoren, Elemente
böck, Art. Dynamis, Sp. 304). Die ersten mittelalterlichen scholastischen Kommentatoren und Interpreten des Aristoteles übersetzen den Begriff mit „potentia“ (Herbert M. Nobis, Dynamik in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Basel 1972, Sp. 302–303, Sp. 302). 143 Nobis, Art. Dynamik, Sp. 303. 144 Wie der Begriff sich von dort aus auch auf andere Wissenschaften ausbreitete, lässt sich anhand von Lexika beobachten. Zu Beginn des 19. Jhs. war im Brockhaus noch eine einheitlich naturwissenschaftlich-philosophische Begriffsauffassung präsent: Dynamik war demnach die Wissenschaft von der Bewegung der Körper, die aber zugleich auch schon für die Erklärung der Künste und des allgemeinen Wesens für wichtig erachtet wurden (siehe Dynamik in: Brockhaus Conversationslexikon, Bd. 1, Amsterdam 1809, S. 374–375). Große Bedeutung erlangte der Begriff zudem durch die Lehre der Thermodynamik und nicht zuletzt auch durch die Benennung des bedeutsamen, 1866 erfundenen, Sprengmittels Dynamit. Gegen Mitte des Jahrhunderts trat neben die Naturwissenschaft die Erläuterung von Dynamismus als einer Naturanschauung, welche die Welt aus den ihr innewohnenden Kräften erklärte und im Gegensatz zu einer mechanischen bzw. atomistischen Naturauffassung stand, die die Natur aus der Lage ihrer kleinsten Bestandteile zu erklären versuchte. Ferner war der Begriff der Dynamik bereits fest in der Musikwissenschaft etabliert (Dynamik in: Herders Conversations-Lexikon, Bd. 2, Freiburg im Breisgau 1854, S. 482; Dynamik in Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 5 Altenburg 1858, S. 433). Diese drei Bedeutungen werden bis in den vorliegenden Untersuchungszeitraum beibehalten, wobei der Gegensatz Dynamismus – Atomismus immer seltener genannt wird (siehe Dynamik in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 5, Leipzig 1906, S. 321; Dynamik in: Brockhaus, Kleines Konservations-Lexikon, 5. Aufl., Leipzig 1911, S. 473). 145 August Comte, Cours de philosophie positive, Bd. 1, Paris 1830, S. 653 ff. 146 Herbert Spencer, Social Statics, or the condition essential to human happiness, New York 1866, Spencer gab allerdings an, dass er seinen Statikbegriff nicht anhand von Comte entwickelte, siehe ebda., S. IX. 147 Lester Frank Ward, Dynamic Sociologie or applied social science, as based upon statical sociology and the less complex science, Vol. I, New York 1883.
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und Verknüpfungen.“ Die soziale Dynamik hingegen meinte „die Darstellung der Entwicklung der Gesellschaft, ihrer Ursachen und Ziele.“148 Eine steile Karriere erlebte der Begriff der Dynamik zudem im frühen 20. Jh. in der Nationalökonomie. Er war dort so neu, dass er in allgemeinen Lexika zunächst nicht auftauchte. Auf dem Dynamikbegriff von Comte und Spencer aufbauend, gab es in den 1920er Jahren in der Nationalökonomie den Höhepunkt einer Diskussion über die Frage, wie die Begriffe Statik und Dynamik, angewendet auf eine Volkswirtschaft, insbesondere im Bereich der Konjunkturtheorie,149 am fruchtbarsten zu definieren seien. Obwohl international geführt, wurde die Diskussion in Deutschland besonders angefacht.150 Oskar Morgenstern schrieb hierzu 1930: „In der nationalökonomischen Hexenküche wird jetzt manch dynamisches Tränklein gebraut, und wer davon genossen hat, sieht zwar leider nicht wie Faust Helena in jedem Weibe, wohl aber ein Gewimmel ‚dynamischer‘ Probleme und die Zeit in jedem ökonomischen Vorgang“.151 Erst 1929 bzw. 1933 wurden von dem norwegischen Ökonom Ragnar Frisch Definitionen vorgeschlagen, die langsam allgemein anerkannt wurden.152 Im Zuge der Lebensphilosophie, der für das Spenglerverständnis vielleicht wichtigsten philosophischen Strömung, die von 1880 bis 1930 sehr populär war, erhielt das Wort Dynamik endgültig die Bedeutung „Leben“, „lebensnah“, „dem Leben angepasst“ etc.153 Die Lebensphilosophie war im 148
Rudolf Eisler, Art. Sociale Dynamik-Statik in: (ders.) Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, Bd. 2, Berlin 1904, S. 390. 149 Siehe Hauke Janssen, Nationalökonomie und Nationalsozialismus. Die deutsche Volkswirtschaftslehre in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, 3. Aufl., Marburg 2009, S. 356 ff. 150 So Alfred Eugen Ott, Einführung in die dynamische Wirtschaftstheorie, 2. Aufl. Göttingen 1970, S. 15; Janssen, Nationalökonomie und Nationalsozialismus, S. 56. 151 Oskar Morgenstern, die Dynamik der theoretischen Nationalökonomie in: Zeitschrift für Nationalökonomie 1 (1930), S. 470–474, S. 470. 152 Ott, Einführung in die dynamische Wirtschaftstheorie, S. 9. 153 In der Lebensphilosophie wurde der Gegensatz zwischen Statik und Dynamik häufig angesprochen. Schnädelbach fasst die Wirkung der Lebensphilosophie dahin gehend zusammen, dass ab 1880 wieder ähnlich wie in der Epoche der Romantik das „Dynamische gegen das Statische, das Lebendige gegen das Tote, das Organische gegen das Mechanische [...] und die Intuition, Anschauung, Erfahrung gegen die Abstraktion und den ‚bloßen Verstand‘ gestellt“ wurden (Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt am Main 1983, S. 176 f.). Das Dynamische, das gegen das Statische vorging war also ein Zentralbegriff der gesamten Bewegung. Die Gegensätze aus Intuition und Vernunfterkenntnis, wie z. B. „‚Innerlichkeit‘ und ‚Außenwelt‘, ‚Seele‘ und ‚Geist‘, ‚Erleben‘ und ‚Erklären‘, ‚Organismus‘ und ‚Mechanismus‘, ‚statisch‘ und ‚dynamisch‘“ (Boterman, Spengler, S. 93) sollten im subjektiven Erleben aufgelöst werden. Nach Sontheimer trat das Leben unter verschiedenen Namen auf: „als das Organische im Gegensatz zum Mechanischen, als das Universalistische im Gegensatz zum Individualistischen, als Dynamik gegen Statik, als Seele gegen Geist.“ (Kurt Sontheimer, Antidemo-
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Untersuchungszeitraum vermutlich für den allgemeinen Sprachgebrauch noch wirkungsmächtiger als die bisher vorgestellten wissenschaftlichen Verwendungen, da sie nicht nur in akademischen Fächern vertreten war, sondern auch durch eine gewisse Anzahl an außeruniversitären populären Autoren verbreitet wurde. Dynamik konnte im Zusammenhang der Lebensphilosophie geradezu als Kampfbegriff aufgefasst werden.154 Teile der nationalökonomischen Begriffsbildung machten, der Lebensphilosophie nahestehend, ebenfalls Anleihen bei einem irrationalen vitalistischen Dynamikbegriff.155 Verbindungen zu Spengler konnten in den nationalökonomischen Diskussionen um einen Dynamikbegriff aber kaum wirksam werden, da die Begriffe bereits ab 1908 intensiv diskutiert wurden,156 wenngleich sich auch Nationalökonomen finden lassen, für die Spengler generell ein Thema war.157 Nimmt man all dies zusammen, so wird klar, dass der Begriff Dynamik im frühen 20. Jh. Hochkonjunktur hatte. Er wurde im allgemeinen Sprachgebrauch und in der Fachsprache der Sozialwissenschaft, der Nationalökonomie, der Naturwissenschaft und der Lebensphilosophie als Synonym für kratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962, S. 48). Safranski fasste den Lebensbegriff dieser Epoche als „die Einheit von Leib und Seele, Dynamik, Kreativität“ (Rüdiger Safranski, Romantik, eine deutsche Affäre, München 2007, S. 303) zusammen. Auch die Gegner der Lebensphilosophie, welche die Gefahren des Irrationalistischen betonten, verwendeten das Wort Dynamik. So etwa der spätere Thomas Mann. Er bezeichnete die Lebensphilosophie als einen „irrationalistische(n), den Lebensbegriff in den Mittelpunkt des Denkens stellende(n) Rückschlag, der die allein lebensspendenden Kräfte des Unbewußten, Dynamischen, Dunkelschöpferischen auf den Schild hob“ (Thomas Mann, Deutsche Ansprache, ein Appell an die Vernunft in: Thomas Mann: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band XII, Berlin und Weimar 1965, S. 533–553, S. 540). 154 Siehe hierzu Safranski, Romantik, eine deutsche Affäre, S. 303 ff., der im Zusammenhang mit „Leben“ von „Kampfbegriff“ und „Kampfparole“ spricht; so auch Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, S. 172. 155 Siehe hierzu Janssen, Nationalökonomie und Nationalsozialismus, S. 55 ff. Schumpeter konstruierte einen dynamischen Unternehmer, der „durch einen Gewaltakt der schöpferischen Zerstörung die wirtschaftliche Entwicklung ins Gang setzt“. Seine Motive folgen nicht mehr dem rationalen homo oeconomicus, sondern teilweise eher „psychologisch [...] motivierten Willens- und Machtimpulsen.“ (zitiert nach Janssen, Nationalökonomie und Nationalsozialismus, S. 56). 156 Janssen, Nationalökonomie und Nationalsozialismus, S. 361. 157 Siehe etwa Erwin von Beckerath, Spengler als Staats- und Wirtschaftsphilosoph in: Schmollers Jahrbuch 47 (1924), S. 33–49; Peter Winkelnkemper, Die geschichtsmorphologische Wirtschaftsbetrachtung Oswald Spenglers im Lichte moderner nationalökonomischer Forschung, Diss. Köln 1930, Düren 1930; Muhs, Spengler und der wirtschaftliche Untergang Europas; siehe auch das 1942 verfasste Vorwort zur dritten Aufl. von Walter Euken, Die Grundlagen der Nationalökonmie, 9. Aufl., Berlin, Heidelberg 1989 S. XII. Hier wehrt sich Euken dagegen, dass seine Auffassung bezüglich der bestehenden Nationalökonomie mit der von Spengler verglichen wurde.
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Bewegung, Flexibilität, Anpassung, Energie, Kraft und Wirkung verwendet. b) Dynamik im juristischen Sprachgebrauch Eine ähnliche Karriere machte das Antonym Statik-Dynamik bei den Juristen vor 1918 nicht. Es lassen sich für diesen Zeitraum kaum Beispiele dafür finden, dass Juristen die Begriffe zur Erläuterung zentraler Aussagen verwendeten. Eines der wenigen Beispiele findet sich bei dem Rechtssoziologen Eugen Ehrlich,158 was jedoch angesichts der Verwendung des Begriffs in der allgemeinen Soziologie kaum verwundert. Außerdem wurde Ehrlichs Rechtssoziologie insgesamt eher mit dem Stichwort „Lebendes Recht“ assoziiert. Eine Verwendung des Begriffs Dynamik fand sich auch bei Georg Jellinek,159 der damit den Gegensatz zwischen einer statischen, unbeweglichen normativen Verfassung und die diese Verfassung ausnutzenden, dynamischen politischen Akteure kennzeichnete. Relativ prominent wurde der Begriff „Dynamik“ auch innerhalb der Lehre vom Stufenbau in der Wiener Schule verwendet,160 jedoch vor 1918 158
Eugen Ehrlich schrieb etwa 1903: „Der hergebrachten dogmatischen Rechtsauffassung“ möge „die dynamische entgegengesetzt werden, für die es nicht bloß darauf ankommt, was ein Rechtssatz bedeutet, sondern wie er lebt, wie er wirkt, wie er sich in verschiedene Verhältnissen bricht, wie sie ihm ausweichen und wie er ihnen folgt.“ (Eugen Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, Leipzig 1903, abgedruckt in: Manfred Rehbinder (Hrsg.), Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, Berlin 1967, S. 170–203, S. 197.) Hier wurde einerseits von einer dynamischen Rechtsauffassung gesprochen, was schon ganz nach einer dynamischen Rechtslehre klang. Andererseits bezeichnete Ehrlich das in dem Zitat zusammengefasste Konzept ansonsten eher seltener mit dem Begriff der Dynamik. 159 Jellinek sprach schon von der dynamischen Natur des Staates (Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. Berlin 1914, S. 240, S. 244, S. 249). 160 Die „Wiener Schule“ ist vielleicht der bis heute prominenteste Ort, an dem die Begriffe Statik und Dynamik massiv gebraucht wurden. Kelsen selber sprach davon, den Unterschied zwischen Statik und Dynamik „zum systematischen Leitgedanken zu machen“ (Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. VIII). Der Ausgangspunkt war hierbei die Stufenbaulehre von Adolf Merkel. Merkel ging davon aus, dass die Hierarchie der Rechtsquellen weitaus mehr beinhalten musste, als das primäre Verfassungsrecht und das sekundäre Gesetzesrecht. Der Zwangsakt aufgrund eines Gesetzes oder Verwaltungsaktes, Privatrechtsgeschäfte, Detailakte der Gesetzgebung und die aus dem Gesetzesrecht entstehenden Urteile haben nach Merkel alle Rechtssatzeigenschaft und müssen in einem rechtlichen Stufenbau angeordnet werden (Adolf Merkel, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus in: Alfred Verdorss (Hrsg.), Gesellschaft Staat und Recht. Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre, Festschrift Hans Kelsen zum 50. Geburtstag gewidmet, S. 252–294). Damit stellt sich die Frage der Verhältnisse dieser Rechtssätze untereinander. „Für eine statische Betrachtung der Rechtsordnung“, so Merkel weiter, „bleiben sämtliche bedingenden Glieder des Rechtsverfahrens mit Ausnahme derer, die als Rechtssätze zu erkennen sind, naturgemäß außer Betracht.“ Eine
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nur in seltenen Fällen.161 Josef Kunz ging so weit, in der ersten Festschrift für Kelsen zu schreiben, dass dieser, „die Zweiteilung von Statik und Dynamik zum Haupteinteilungsprinzip seines monumentalen Werkes“162 gemacht habe. Ein Spenglereinfluss kann hier im Übrigen bereits aus ideologischen Gründen ausgeschlossen werden. Bei Weitem weniger bekannt, aber ebenso sicher ohne jeden Spenglereinfluss, entwickelte Franz Arthur Müllereisert seit 1913 seine Lehre von einer „Wert-Dynamik“163. Im Ge-
statische Betrachtung würde etwa all die bedingenden Rechtssätze innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens oder das Phänomen der Erzeugung eines Urteils ausblenden. Die dynamische Betrachtung würde ein „System des Rechtsverfahrens“ statt eines „Systems von Rechtsnormen“ erzeugen. (Merkel, Prolegoma, S. 274). Hans Kelsen, nahm diesen prozeduralistischen Stufenbau auf und sprach ab 1925 in seiner allgemeinen Staatslehre und seiner Reinen Rechtslehre von dynamischer und statischer Betrachtung des Rechts. Von Kelsen ausgehend übernahmen wiederum Josef Kunz und Alfred Verdross das Antonym für die Unterscheidung zwischen statischem und dynamischem Völkerrecht. 161 Merkel verwendete das Antonym Statik/Dynamik erst nach 1925 zur Bezeichnung seiner Theorie. Die früheste Verwendung dieser Begrifflichkeit in einem ähnlichen Kontext geht auf Franz Weyer zurück. (Weyer, Zur Frage der Unabänderlichkeit von Rechtssätzen in: JBl 1916, S. 387–389.) Siehe zum Ursprung des Dynamikbegriffs Kelsens auch Andreas Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie. Entwicklung und gegenwärtige Bedeutung der Rechtstheorie um 1900, Diss München WS 2003/2004, Tübingen 2004, S. 197 ff. Hans Kelsen sprach soweit ersichtlich ab 1925 in seiner Allgemeinen Staatslehre (Kelsen, Allgemeine Staatslehre, insbesondere das gesamte dritte Buch, S. 226 ff.) und seiner Reinen Rechtslehre (Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 72 ff., S. 114 ff. für die Rechtsstatik und S. 196 ff. für die Rechtsdynamik) von dynamischer und statischer Betrachtung des Rechts. 162 Josef Laurenz Kunz, Statisches und dynamisches Völkerrecht in: Verdross (Hrsg.), Gesellschaft Staat und Recht. Untersuchungen zur reinen Rechtslehre, Festschrift für Hans Kelsen, Wien 1931, S. 220. Kunz meinte das Werk „Allgemeine Staatslehre“. 163 Einen Sonderfall in jeder Hinsicht bildet Franz Arthur Müllereisert, der in einer Vielzahl von Schriften zwischen 1913 bis 1956 seine Lehre von einer Wert-Dynamik entwickelte (Franz Arthur Müllereisert, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung, Leipzig 1914; ders., Die Rechtseinheit. Ein Beitrag zur Lehre vom subjektiven Recht, vom Rechtssubjekt und den juristischen Personen in: Der Gerichtssaal 84 (1916), S. 67–188; ders., Rechtswissenschaft und Kulturwissenschaft, Tübingen 1917; ders., Objektives und richtiges Recht in: ABR 43 (1919), S. 183–192; ders., Die Umwandlung von rechtlichen Verbindlichkeiten in Ehrenschulden und umgekehrt in: Gruchot 63 (1919), S. 448–456, S. 453; ders., Theorie von Schuld und Haftung in: ARWP 13 (1919/20), S. 9–27, S. 16; ders., Juristische Dynamik; ders., Die Dynamik des revolutionären Staatsrechts, des Völkerrechts und des Gewohnheitsrecht, München 1933; ders., Rechtsphilosophie. Theorie des Recht und der Rechtswissenschaft, Berlin 1934; ders., Juristische Grundbegriffe aus dem Vertrags-, Schuld-, Urheber- und Sachenrecht, Würzburg-Aumühle 1936; zuletzt die nach dem Krieg im Selbstverlag herausgegebenen Schriften: ders., Theorie des Rechts und der Rechtswissenschaft Bd. 1 Grundzüge einer anthropologischen Wert-Dynamik oder Wert-Energetik, Lindau 1953, Bd. 2 Der allgemeine Rechtswert. Das Naturrecht.
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gensatz zu der wirkungsmächtigen Wiener Schule kann Müllereisert jedoch kaum als ein Verbreiter und Popularisierer der Begriffe gesehen werden. In zivilrechtlichen Kontexten fand sich der Begriff der Dynamik vor 1918 nicht. Nach 1918 findet das Antonym immer weitere Verbreitung in der Wiener Schule. Auch Franz Arthur Müllereisert hörte nicht auf, an seiner WertDynamik-Theorie zu feilen. Es kommen jedoch noch weitere Autoren und Strömungen hinzu, die mithilfe der Differenz zwischen Statik und Dynamik rechtliche Phänomene zu erklären versuchten. Zu nennen sind zunächst die beiden Autoren Wilhelm Glungler164 und Karl Georg Wurzel165, Das objektive Recht, Lindau 1956, Bd. 3 Das subjektive Recht. Wert-Dynamik im Strafrecht und im Großraum, Lindau 1956). Am Anfang stand bei Müllereisert ein naturwissenschaftliches energetisches Konzept, das vor allem den Energieausgleich aller gesellschaftlichen Kräfte als Maßstab postulierte. Das Recht sollte die Kräftekollisionen ausgleichen oder vermeiden. Ostwald und die juristische Energetik werden hier zwar nicht genannt, die Nähe ist aber nicht zu leugnen. Obwohl Müllereisert den Begriff der Dynamik vor Spengler und in Einzelfällen in sehr ähnlicher Weise, wie die Autoren der dynamischen Rechtslehre verwendete, hatte er damit, wie auch insgesamt in seiner wissenschaftlichen Karriere, kaum Erfolg. Er habilitierte, wurde jedoch nur Dozent an der technischen Hochschule in Berlin. Sein Spätwerk musste er im Selbstverlag herausbringen. Es wäre hier unverhältnismäßig, das umfangreiche Werk Müllereiserts detaillierter darzustellen. Da er vor Spengler mit der Entwicklung seiner dynamischen Rechtslehre begonnen hatte und sich ausdrücklich von Spengler distanzierte, erscheint es plausibel, dass Müllereisert in keiner Weise von Spengler beeinflusst war. Damit erschöpft sich die Bedeutung von Müllereisert im Rahmen dieser Arbeit darin, dass er unabhängig von Spengler eine eigene dynamische Rechtslehre kreierte, die mangels Anhängerschaft gut von den anderen dynamischen Rechtslehren abgrenzbar bleibt. 164 Wilhelm Glungler, Rechtschoepfung und Rechtsgestaltung, Diss. München 1929, 3. Auflage, München 1930. Hier entwirft Glungler ein einfaches Grundschema: Alle Rechtsprobleme können statisch und dynamisch gedeutet werden. Seine Lösung für die Zukunft besteht aus der Aufhebung und Überwindung der beiden gegenteiligen Ansichten in einer „pragmatischen Deutung“ des Rechts. Glungler hatte mit seiner Dissertation so großen Erfolg, dass bald die zweite bis vierte Aufl. fällig war (zweite Aufl. 1930, dritte, neu bearbeitete Aufl. 1930, vierte Aufl. 1931). Der dritten Aufl. waren sechs äußerst positive Zeitungsrezensionen als Anhang beigefügt. Ohne Spengler explizit zu nennen, lehnte er doch deutlich, die von Spengler mit „Statik“ assoziierte „Körperlichkeit“ ab. Glungler schreibt, er wolle dem „Missverständnis“ entgehen, dass die dynamische oder die statische Auffassung sich „irgendwie um körperliche Dinge“ drehen müsse: „Es handelt sich weder für die statische noch für die dynamische Betrachtung um Körper; es kommt vielmehr auf die Zustände an […] in keinem Fall ist der Körper jedoch der unmittelbare Gegenstand der Erörterung.“ (Glungler, Rechtsschoepfung und Rechtsgestaltung, S. 45). 165 Karl Georg Wurzel, Die Sozialdynamik des Rechts. Die Lehre von den Eigenkräften des Rechtslebens als Verbindungsgebiet der auseinanderstrebenden Rechtstheorien, Wien 1924. Wurzel beruft sich nicht auf Spengler. Sein Buch war gegen Kelsens reine Rechtslehre gerichtet.
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die zwar aus heutiger Perspektive weitgehend unbekannt sind, damals jedoch eifrig rezensiert wurden. In der Rechtsphilosophie verwendete Gerhard Husserl das Antonym um sein Werk zu kategorisieren.166 Zudem verwendeten viele Staatsrechtler der „geisteswissenschaftlichen Richtung“ das Antonym um das Verhältnis von (statischem) Verfassungstext und (dynamischen) Politiker zu charakterisieren.167 Es ging diesen Staatsrechtlern darum, moderne Staatsgebilde als lebende Organismen aufzufassen, die sich ständig unvorhersehbar fortentwickeln. Nicht nur das abstrakte normative Gedankenkonstrukt namens Verfassung interessierte sie, sondern auch die empirische Lebenswirklichkeit der Politik, die auf die Verfassungslage einwirken konnte.168 Diese Strömung war so stark, dass sie auch 166
Gerhard Husserl, Negatives Sollen im Bürgerlichen Recht. Studien zur Theorie der Unterlassung, zur Theorie und Dogmengeschichte des Schuldverhältnisses, Breslau 1931, S. 8: „Dynamik des lebendigen Rechts“. Bei der später erfolgten Kategorisierung seiner Werke sagte Husserl, dass seine Arbeit über „Rechtssubjekt und Rechtsperson“ das Rechtssubjekt isoliert betrachte, also statisch sei, während die Untersuchung über das negative Sollen „von einer dynamischen Einstellung zum Rechtssubjekt, dessen rechtsregionales Verhalten nun den Erkenntnisgegendstand bildet“, ausgehe (Gerhard Husserl, Der Rechtsgegenstand, Rechtslogische Studien zu einer Theorie des Eigentums, Berlin 1933, S. III). 167 Die Tatsache, dass die „statischen“ im Sinne von „rein normativen“ Rechtstexten unter außerjuristischem Einfluss von Macht und Politik stehen, wurde als dynamisch bezeichnet. Heller stellt die Dynamik der sich dauernd verändernden Willenseinheit des Staates dem Sekuritätsbedürfnis der „denkwissenschaftlichen Begriffsbildung“ entgegen (Hermann Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart in: AöR 55 (1929), S. 321–354, S. 341 f.). Ähnlich führt Rudolf Smend, gestützt auf Maurice Hauriou aus, dass die Dynamik einer Gemeinschaft, nicht durch die statische Begriffsbildung der Rousseauschen naturrechtlichen Gesellschaftsvertragskonzeptionen abgebildet werden könne (Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Berlin 1928, S. 69, siehe auch S. 51 Fn. 1). Das beständige Werden des Staates führte ihn dazu, nicht das „statisch der seiende Substanzen“ zu behandeln, sondern „die Sinneinheit [des, L.M.K.] reellen geistigen Lebens“ (Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 18). Heinrich Triepel unterschied zwischen formalem Recht und politischer Dynamik (siehe Ulrich Gassner, Heinrich Triepel. Leben und Werk, Berlin 1999, S. 410 m.w.N.). Ulrich Scheuner bezeichnete bewusst die positivistische Lehre von Kelsen und Duguit als statisch und demgegenüber die neue Lehre, die außerrechtliche politische und metaphysische Aspekte beachtete als die dynamische (Ulrich Scheuner, Dynamik und Statik in der Staatsrechtslehre in: Revue Internationale de la théorie du droit 3 (1928/1929), S. 220– 245). In diesem Sinne fasst auch Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 445 ff. die „dynamische Verfassungsauslegung“ der geisteswissenschaftlichen Richtung im Methodenstreit auf. Siehe auch das entsprechende Kapitel bei Walz „Die dynamische Machttheorie“ (Gustav Adolf Walz, Vom Wesen des öffentlichen Rechts, Stuttgart 1928, S. 32 f.), dessen Perspektive aber auf die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht gerichtet ist. 168 Insbesondere die „Antipositivisten“ der geisteswissenschaftlichen Richtung (siehe zur Gruppenbildung der Weimarer Staatsrechtslehre Stolleis, Geschichte des öffentlichen
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in der rechtshistorischen Verfassungsgeschichtsschreibung Verwendung fand. So kündigte Heinrich Mitteis im Vorwort seines berühmten Werkes „Lehnrecht und Staatsgewalt“ an, er werde den Stoff nicht statisch, sondern dynamisch darstellen: „An Stelle der ‚statischen‘ Betrachtung der Staatseinrichtungen in der Ruhelage“ werde er „die ‚dynamische‘ Betrachtung ihres Zusammenspiels, ihres wirklichen Wertes für die staatliche Machtbehauptung“169 verwenden. Allgemeinhistoriker antworteten ihm, dass er das mittelalterliche Verfassungsleben hätte noch viel dynamischer interpretieren sollen.170 Insgesamt muss daher gesagt werden, dass sich das Antonym „Statik“ und „Dynamik“ in den zwanziger Jahren innerhalb der Jurisprudenz als Modebegriffe etablierte, nachdem es vorher schon in anderen Disziplinen verbreitet Verwendung fand. Dies ist ein wichtiger Hintergrund für die Untersuchung der Verwendung des Begriffs Dynamik nach Spengler. Es Rechts, Bd. III, S. 171 ff.) betonten häufig die dauernden Veränderungen im staatlichen Machtgefüge, da es ein Argument für ihre Position war: Wenn der Staat einer permanenten Wandlung unterlag, so muss der Jurist die Politik und das Leben bei der Interpretation der sich tendenziell nicht verändernden Rechtstexte beachten. Oder der Jurist ist umgekehrt angesichts der bedrohlich anwachsenden Gesetzesflut auf außerrechtliche Werte angewiesen, die der Vielzahl der sich ständig ändernden Rechtstexte aufgrund der sich ständig ändernden Mehrheiten im Parlament entgegengesetzt werden konnten. So wurde der Umstand der Dynamik auch ein Argument zur Eingrenzung der Macht des Parlaments (siehe zur Stoßrichtung der „Geisteswissenschaftlichen Richtung“ gegen den „Parlamentsabsolutismus“ Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts, Bd. III, S. 190 ff.). 169 Heinrich Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt, Weimar 1933, S. 8. 170 Für den Sprachgebrauch von Mitteis ist hier weiter interessant, dass wiederum reine Historiker, die in der Geschichte primär Mächte am Werk sahen, und für die normative Texte stets etwas Sekundäres waren, Mitteis kritisierten, weil er ihnen noch zu „statisch“ dachte (so Walter Kienast, Rez. Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt in: HZ 158 (1938), S. 3–51, S. 9. Weitere ähnlich lautende Stimmen wurden zusammengetragen von Bernhard Diestelkamp, Heinrich Mitteis „Lehnrecht und Staatsgewalt“ im Lichte moderner Forschung in: Peter Landau/Hermann Nehlsen/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Heinrich Mitteis nach hundert Jahren (1889–1989), München 1991, S. 11–21). Insbesondere Otto von Zwiedineck-Südenhorst fehlte es an „Dynamischen Fakten“ (Otto von ZwiedineckSüdenhorst, Rechtsbildung, Staatsgewalt und Wirtschaft. Historisch-soziolgische Überlegungen zu Mitteis’ Wertung des Lehnrechts in: Jahrbuch der Nationalökonomie und Statistik 143 (1936), S. 1–44, S. 10) bei Mitteis. Die gesamte Entwicklung des Lehnrechts und seine Wirksamkeit, sei „nur aus dem mehr oder minder freien Entschlüssen des Königs einerseits, aus dem mehr oder minder energischen Drängen und Drohen der Lehnsträger andererseits, also aus den Persönlichkeiten dynamisch zu erklären“ (S. 25). Er gelangt zu dem Ergebnis: „Nicht beim positiven Recht, sondern bei den Rechtsnützern oder Rechtsbrechern ist die Dynamik der Entwicklung, der Fortbildung des Rechts nach den Zweckmäßigkeitsinteressen des Mächtigeren zu suchen. […] daher ist auch keine allgemein gültige Aussage über die Funktion des Lehnrechts, daß es die Staatsgewalt gefördert oder daß es sie aufgelöst habe, gerechtfertigt.“ (S. 28).
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wird klar, dass nicht allein von „Dynamik“ und „Statik“ in einem juristischen Kontext auf einen Einfluss von Spengler geschlossen werden kann. 2. Konnotationen von Dynamik in der juristischen Spenglerrezeption a) Dynamik als Abstraktion vom Körper und Hinwendung zu Kraft und Wirkungen Es gab eine Reihe von Autoren, die den Begriff der Dynamik sehr ähnlich wie Spengler, also mit der Bedeutung von „Abstraktion“ und „Lösung vom Körper“ benutzten. So schrieb etwa Hans Fehr 1928: „Das deutsche Sachenrecht ist dynamisch eingestellt. Nicht auf Körper, sondern auf die in ihnen lebenden Kräfte kommt es an.“171 Ähnlich formulierte Franz Gerd Oppenheimer 1930: „Die Wirklichkeit ist also als ein einziges großes Kräftefeld zu betrachten und die Rechtsordnung“ müsse „die einzelnen Kraftlinien, die Dynamik der Wirklichkeit also, zum Mittelpunkt der Rechtsbetrachtung“172 machen. Die Autoren wollten mit Spenglers Dynamikbegriff an den Grundlagen der Rechtsordnung rütteln und erhofften sich durch den Kulturphilosophen einen völlig neuen Blick auf die Prinzipien des Rechts überhaupt. In den Mittelpunkt des Rechtsdenkens sollten die Kräfte und Energien gestellt werden, die den Körpern innewohnten. Diese Auffassung vertraten neben den bereits genannten Fehr und Oppenheimer etwa auch der Amtsgerichtsrat Alfred Müller,173 Rudolf Callmann,174 Manfred Bott-Bodenhausen175 und Alexander Elster176. Alle genannten Autoren bezogen sich in den zitierten Stellen ausdrücklich auf Oswald Spengler. In eine zumindest sehr ähnliche Richtung gingen stellenweise Paul Baender,177 Ernst Swoboda,178 Heinz Potthoff179 und der 171
Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 102. Oppenheimer, Der Gesetzesmissbrauch, S. 38. 173 Müller, Statisches und Dynamisches Recht, etwa auf S. 537: „Das abendländische Rechtsdenken sieht im Menschen nicht den Körper, sondern die wirkende Kraft“. 174 Callmann, Der unlautere Wettbewerb, S. 85. 175 Bott-Bodenhausen, Formatives und funktionales Recht in der gegenwärtigen Kulturkrisis. 176 Elster, Urheber- und Erfinderrecht als Beispiel dynamischer Rechtsaufassung, S. 117 f. 177 Baender, Statische und dynamische Rechtsbetrachtung. 178 Siehe zu Swoboda allgemein S. 45 f. Swoboda begrüßte Spenglers Hauptkritikpunkt am BGB, dem auf Körper beschränkten Sachbegriff in § 90 BGB. Gleichzeitig hielt Swoboda Spengler aber entgegen, dass das AGBG die enge Sachdefinition mit § 285 ABGB bereits „vor hundert Jahren gesprengt“ habe (Swoboda, Die philosophischen Grundlagen des österreichischen bürgerlichen Rechts und ihre Bedeutung für die Gegenwart, S. 353). 179 Potthoff, Faustisches Arbeitsrecht, S 489–506; ders., Weltanschauliche Grundlagen des Arbeitsrechtes, S. 450–460. 172
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Landgerichtsrat Curt du Chesne,180 die jedoch Spengler in größerem Umfang kritisieren als die zuvor genannten Autoren. So wies du Chesne darauf hin, dass es Spengler mit der Forderung nach einem dynamischen Rechtsdenken übertrieben habe. Neben einer vom Körper abstrahierenden Betrachtung bedürfe es auch im Abendland noch einer statischen körperlichen Betrachtung des Rechts. Das römische statische Verständnis sei bloß um das dynamische zu erweitern.181 Im Übrigen sei, so du Chesne, unser Recht bereits viel dynamischer als das einseitig statische antike Recht,182 was auch Swoboda zu betonen nicht müde wurde.183 Beispielhaft sei die Dynamikkonnotation anhand von Rudolf Callmann weiter erörtert. Dieser war sich sicher, dass erst durch Spengler das abstrakt-körperlose Rechtsgebiet des unlauteren Wettbewerbs richtig verstanden werden könne. Das Wettbewerbsrecht sah Callmann geradezu als den Gipfel des dynamischen Rechts an. Sein Gegenstand seien die Handlungen am Markt und damit die Energien, die bei den Adressaten der Handlung eine bestimmte Wirkung erzielen sollten. Insbesondere das Recht der Reklame sei „ein Recht, dem es geradezu obliegt, die Regel in der Dynamik der Handlung zu erforschen, die auf die Vorstellung anderer einzuwirken bestimmt sind.“184 Nachdem Callmann diese Entwicklung kurz an einigen Beispielen skizzierte, schloss er mit der Vermutung, dass „(d)ie Umstellung des Rechtssystems vom statischen auf den dynamischen Charakter […] noch so manche Änderung geltenden Rechts notwendig machen“185 werde. Der Praktiker Callmann publizierte diese Sätze in seinem Kommentar zum UWG, wenn gleich an einer abstrakten Erläuterung im Einleitungsteil ohne konkreten Normenbezug. Doch schrieb er auch deutlich, dass aufgrund der Generalklausel in § 1 UWG für den Rechtspraktiker Kenntnisse der gegenwärtigen Rechtsentwicklung unerlässlich seien. Durch den Fokus auf Energien und Wirkungen gelangten einige Autoren der dynamischen Rechtslehre auch zu einer neuartigen Begründung dessen, was man heute einerseits als Würde des Menschen und andererseits als Rechtsgleichheit bezeichnen würde. Besonders absurd erschien einigen 180
du Chesne, Dynamisches Eigentum, S. 447–468. Auf S. 457 ff. untersucht er auf Spenglers Linie die Forderung, „die Sachen als Zentren wirtschaftlicher Energien auszugestalten“. 181 du Chesne, Dynamisches Eigentum, S. 448. 182 du Chesne, Dynamisches Eigentum, S. 468. 183 So insbesondere der Tenor des Werkes Ernst Swoboda, Die Neugestaltung der Grundbegriffe unseres bürgerlichen Rechts, ihre Bedeutung für die Gegenwart und für das Privatrecht der Zukunft; eine Untersuchung auf philosophischer Grundlage in rechtsvergleichender Darstellung, zugleich eine Erwiderung auf Oswald Spenglers Kritik des modernen Privatrechts, Wien 1929. 184 Callmann, Der unlautere Wettbewerb, S. 88. 185 Callmann, Der unlautere Wettbewerb, S. 88.
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Autoren im Anschluss an Spengler, dass ein römischer Bürger seine Fähigkeit, Person zu sein, durch eine Strafe einbüßen konnte.186 Swoboda schrieb dagegen, dass alle Menschen, „wie Spengler sagt, Einheiten der Kraft und des Willens sind“.187 Sie seien schon allein deswegen Rechtssubjekt, weil sich in ihren Handlungen ihre Kraft und ihr Wille manifestieren. Gleichzeitig stützte er sich bei dieser Aussage auch auf Kant und sprach daher in diesem Zusammenhang auch von Menschenwürde.188 Ähnliches wurde von verschiedenen arbeitsrechtlichen Autoren vertreten.189 So stützte sich vor allem Heinz Potthoff auf Spengler, als er verkündete, dass er die menschliche Arbeitskraft als eine Energiequelle betrachten wolle. Es sei ein Fehler, dass das Ergebnis der Produktion – nämlich körperliche Gegenstände – durch eine Vielzahl von Normen geregelt sei, nicht aber die Arbeitskraft der Person an sich. Den Gegenstand des Arbeitsrechts sah er im produktiven menschlichen Handeln. Daher forderte er auch ein Vorrecht „der menschlichen Arbeitskraft vor allen anderen Kräften und Energien“190 Ähnliches schrieben auch der Arbeitsrechtler Wilhelm Silberschmidt191 und der auf vielen Gebieten publizierende Eugen Rosenstock.192 Die beiden Letztgenannten beriefen sich allerdings nicht auf Spengler, aber zumindest auf den spenglerrezipierenden Potthoff. Nicht nur das Recht des unlauteren Wettbewerbs und der Schutz der Person im Arbeitsrecht wurden neu durchdacht. Andere Autoren betrachteten durch die Brille der dynamischen Rechte die Urheberpersönlichkeitstheorien,193 das Wesen der Hypothek als „Wertrecht“194, die Rechtsnatur des Unternehmens195 oder die Stellung des Begriffs „Vermögen“ in der Rechtsordnung.196 Kritisiert wurde im Anschluss an Spengler vor allem § 90 BGB. Zunächst gilt es festzuhalten, dass eine sehr spenglernahe Verwendung vorliegt. So wie der Kulturphilosoph das faustische Denken zeichnete – 186 187
Siehe Spengler, UdA II, Kapitel 1, Abschnitt C 14, S. 69. Swoboda, Die Neugestaltung der Grundbegriffe unseres bürgerlichen Rechts,
S. 17. 188
Siehe zu Swobodas speziellem Kantianismus unten S. 141 ff. Freilich ohne eine Bezugnahme auf Kant und den Begriff der Menschenwürde. 190 Potthoff, Faustisches Arbeitsrecht, S. 498 f. 191 Siehe auch Wilhelm Silberschmidt, Das deutsche Arbeitsrecht, Band 1, München 1926, S. 8. 192 Eugen Rosenstock, Vom Industrierecht. Rechtssystematische Fragen. Festgabe der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Breslau zum 50jährigen Doktorjubiläum von X. Greteneer, Berlin 1926, S. 14 f. 193 So vor allem Elster, Das Urheberpersönlichkeitsrecht in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, S. 253–286. 194 So vor allem du Chesne. Siehe S. 52. 195 Siehe unten S. 156 f. 196 So etwa Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 105 f. 189
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nämlich abstrakt und von den Körpern losgelöst – so wurde bei den Juristen unter Berufung auf Spengler nun gedacht. Der Transfer der spenglerschen Konzeption in die juristischen Texte erfolgte in den meisten Fällen nicht über eine ausführliche Beschreibung der spenglerschen Kulturphilosophie, sondern schlicht über die Verwendung der Schlagworte Statik und Dynamik. aa) Günstige Rezeptionsbedingungen durch die Rechtsentwicklung Freilich war die Zeit auch günstig, um für ein abstrakteres Rechtsverständnis zu werben, da viele neue abstrakte Phänomene der Wirklichkeit rechtlich erfasst werden mussten. Dass die körperliche Sache nicht mehr als alleiniger rechtlicher Anknüpfungspunkt taugte, lag in der Natur der fortschreitenden Industrialisierung, der zunehmenden Warenverkehrsgesellschaft und der wirtschaftlichen Vernetzung. Insbesondere durch die Entwicklung des Gewerblichen Rechtsschutzes,197 des Urheberrechts198 und des Wettbewerbsrechts199 teilweise aber auch durch andere wirtschaftliche Entwicklungen, wie etwa dem zunehmenden Wertpapierhandel200 oder die 197
Vor allem sind hier die bereits größtenteils im 19 Jh. entstandenen Immaterialgüterrechte zu nennen. Im Weiteren ist zu nennen: das Markenschutzgesetz von 1874 (Elmar Wadle, Art. Warenmarken, HRG, Bd. 5, Sp. 1144–1149) das Gesetz zum Schutz der Warenbezeichnung von 1894 und das seit Beginn des 19 Jh. entwickelten Patentrecht, das sich im Patentgesetz des Reiches von 1877 manifestierte (vgl. Barbara Dölemeyer, Patentrecht und Musterschutz in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren Europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III.3, München 1986, S. 4067–4213; Elmar Wadle, Art. Patent in: HRG Bd. 3, Sp. 1533–1540). 198 Das Urheberrecht in Form von verschieden Gesetzen, beginnend mit dem Preußischen Gesetz zum Urheberschutz von 1837, das Gesetz zum Schutz von Werken der bildenden Künste von 1876, das Literatur-Urhebergesetz von 1901 und das KunstUrhebergesetz von 1907 (Ernst Windisch, Art. Urheberrecht in: HRG Bd. 3, Sp. 1533– 1540; Barbara Dölemeyer, Urheber- und Verlagsrecht in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren Europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III.3, München 1986, S. 3955–4066). Erst 1965 wurden die verschiedenen Urhebergesetze in einem Urhebergesetz vereinheitlicht. 199 Das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb von 1896 bzw. 1909 (Das „Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes“ von 1896 regelte fünf gesetzlich fixierte Tatbestände des unlauteren Wettbewerbs. Da diese leicht umgangen werden konnten und das Gesetz daher massiver Kritik unterlag, wurde 1909 ein neues UWG erlassen mit einer Generalklausel erlassen (siehe Henning von Stechow, Das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs vom 27. Mai 1896. Entstehung und Wirkung, Diss. Bayreuth 2001, Berlin 2002, S. 310 ff.; Elmar Wadle, Art. Wettbewerb/Wettbewerbsrecht in: HRG Bd. 5, Sp. 1322–1329)). 200 Daneben bestand schon seit langem ein unkörperlicher Handel an der Börse, der die körperliche Realwirtschaft überlagerte, welcher seit 1896 durch ein reichseinheitliches Börsengesetz geregelt war. (Einen kurzen Überblick über die lange Vorgeschichte partikularer Versuche der Börsenregulierung mit weiteren Nachweisen bietet Tilman
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Erkenntnis, dass bei einem Unternehmen vor allem auch die immateriellen Bestandteile wertbildend seien,201 nahmen die Normen zu, die sich entweder gar nicht mehr, oder nur noch sehr mittelbar auf körperliche Gegenstände bezogen. Dass man unkörperliche Gegenstände künftig immer ernster zu nehmen hatte, wurde vielen vermutlich langsam im Laufe des 19. Jh. klar. Ein überragend aufmerksamer Beobachter von sowohl rechtlichen als auch geistigen Entwicklungen, Rudolf v. Jhering, verwendete bereits 1854 die Begriffe Statik und Dynamik um diese Entwicklung zu charakterisieren,202 wurde jedoch mit dieser Aussage im 20. Jh. nicht rezipiert.203 VerBreitkreuz, Die Ordnung der Börse, Verwaltungsrechtliche Zentralfragen des Wertpapierbörsenwesens, Diss. Gießen 2000, Berlin 2000, S. 23–26). 201 Siehe nur den Titel der Dissertation von Alfed Hueck, Unkörperliche Geschäftswerte. Ein Beitrag zur Lehre vom Unternehmen, Diss. Münster 1913, Münster 1914; siehe den Meinungsstand ausführlicher auf S. 157 Fn. 593. 202 Der einzige berühmte Autor, der früher das Thema der Körperlichkeit vom römischen Recht und die Abstraktion davon im modernen Recht mit dem Begriff Dynamik belegt hatte, war Rudolf von Jhering. An einer nicht sonderlich prominenten Stelle im Geist des römischen Rechts findet sich folgende Feststellung: „Jedes frühe Recht, bzw. jedes Recht in einem frühen Entwicklungsstadium findet in der Öffentlichkeit statt und ist auf Sichtbarkeit ausgelegt. Es operiert daher mit allerlei körperlichen Symbolen und Gesten“ (Rudolf von Jehring, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. II, 8. Aufl., Darmstadt 1954, § 22, S. 8 ff.). Fast prophetisch klingen die 1854 publizierten Worte Jherings hierzu aus der Perspektive der dynamischen Rechtslehre des 20. Jh.: „Man könnte sagen, daß das Recht heutzutage seine Einwirkungen auf dynamischem Weg ausübt, in seiner Jugend aber auf mechanischem, d.h. durch sichtbare Vorrichtungen und Operationen. Wie die Wärme oder Electrizität die Körper, so durchdringt heutzutage das Recht die Wirklichkeit. […] wie wenig hat es [das heutige Rechtsgeschäft, L.M.K.] einen festen, scharf abgegrenzten sinnlich fassbaren Körper“ (S. 8). Es ging Jhering hier generell um den Unterschied zwischen der Öffentlichkeit und Plastizität als allgemeinem Charakteristika des alten römischen Rechts. Konkrete Rechtsinstitute dienten nur als Beispiele. 203 Dies mag freilich auch daran gelegen haben, dass Jhering im seinem „Geist des römischen Rechts“ etwas behauptete, das Spenglers Ansatz und dem Rechtsdenken der Zeit diametral entgegenlief: Die Universalität allen Rechts, die weder an der Grenze von Nationalstaaten halt mache, noch dem germanischen Recht irgendeine Sonderrolle zuwies. Sein „Augenmerk“, so schrieb er, „ist nicht auf das römische, sondern das Recht, erforscht und veranschaulicht am römischen“ (Rudolf von Jehring, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. I, 4. Aufl., Leipzig 1878, S. IX) gerichtet. Seine Aussage war ausdrücklich: „Der physiognomische [also hier: plastisch-körperliche, L.M.K.] Ausdruck des älteren römischen Rechts […], ist der Ausdruck der Jugend des Rechts und wiederholt sich bei allen Rechten auf derselben Altersstufe.“ (Bd. II, S. 9). Die bisherige Geschichte des Rechts spreche für eine universelle Entwicklung, die nicht an der Grenze von Nationalstaaten halt mache. Die Ablehnung der Beschränkung auf den Nationalstaat war gegen Savignys historische Schule und die national gedachten Volksgeistlehren seiner Zeit gerichtet. Die Frage der Rezeption betrachtete er ausdrücklich nicht ideologisch. „Die Frage von der Reception fremder Rechtseinrichtungen ist nicht eine Frage der Nationalität, sondern eine einfache Frage der
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mutlich wirkten auch die Debatten um die rechtliche Behandlung der Elektrizität und insbesondere die Diskussion um das Urteil zum Stromdiebstahl204 vom 01.05.1899 in diese Richtung.205 Gleichzeitig galt ab dem 1.1.1900 § 90 BGB und damit der enge auf körperliche Gegenstände begrenzte Sachbegriff. Je nach Landrecht war vorher noch von einem weiteren Sachbegriff ausgegangen worden.206 Es bot sich damit ein günstiger Anknüpfungspunkt für eine Spenglerrezeption. Über abstrakte, energetische, substanzlose Beziehungen im Rechtsleben wurde aufgrund von Spenglers Untergang des Abendlandes neu nachgedacht. Fraglich ist, ob die Juristen dabei auch auf vorangegangene Autoren zurückgriffen, oder ob sie diese Gedanken selber als ein eigenständiges Produkt der 1920iger Jahre und damit von Spengler und einem neuen juristischen Denken betrachteten. bb) Anknüpfung an frühere juristische „Substanzkritik“? Namhafte Autoren kritisierten im Rahmen der Einführung des BGB die Definition der Sache in § 90 BGB. Gierke wollte 1895 abstrakt jeden „ideell begrenzten Ausschnitt aus der zur rechtlichen Beherrschung geeigneten Beziehung der äußeren Güterwelt“207 als unkörperliche Sache rechtlich anerkennen.208 1901 veröffentlichte Josef Kohler einen Aufsatz mit Zweckmäßigkeit, des Bedürfnisses. Niemand wird von der Ferne holen, was er daheim ebenso gut oder besser hat, aber nur ein Narr wird die Chinarinde aus dem Grunde zurückweisen, weil sie nicht auf seinem Krautacker gewachsen ist.“ (Bd. I, S. 8 f.). Obwohl Jhering also terminologisch mit „dynamisch“ und „körperlich“ die Begrifflichkeiten der späteren dynamischen Rechtslehre vorwegnahm, ging er von vollkommen anderen Voraussetzungen aus. Die Autoren der dynamischen Rechtslehre verlangten, wie andere in der Zeit auch, einen unbedingten Gegensatz zwischen römischem und germanischem Recht. Die germanischen Rechte sollen auch in ihrer Frühzeit erstens sozialer und zweitens damals schon unkörperlich-dynamisch auf Wirkungen und Funktionen gerichtet gewesen sein. Deshalb war drittens die Rezeption etwas Abzulehnendes. Insofern stand Jherings Ansatz im Untersuchungszeitraum unter keinem guten Stern. 204 RGSt 32, S. 165. 205 Siehe hierzu die kompakte Darstellung von Miloš Vec, Der Stromklau vor dem Reichsgericht in: Fälle aus der Rechtsgeschichte, München 2008, S. 284–306 m.w.N. 206 So gab es etwa im ALR einen weiten Sachbegriff. Das Reichgericht beschäftigte sich in den ersten 25 Jahren seines Bestehens zu einem Drittel mit Rechtsfällen, die nach ALR zu lösen waren (siehe hierzu Otto Fischer, Das Reichsgericht und das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten in: RGPrax, Bd. 2, S. 110–131). 207 Otto von Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 270. 208 Nach Erscheinen des BGB erläuterte Gierke, dass trotz § 90 BGB „neben dem gesetzestechnischen Begriff ‚unkörperliche Sache‘ […] der wissenschaftliche Begriff der ‚unkörperlichen Sache‘“ (Otto von Gierke, Deutsches Privatrecht Bd. 2, Leipzig 1905, S. 3, Fn. 1) unentbehrlich blieb. Zudem müsse § 90 BGB zur Not weit ausgelegt werden (ebda.).
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dem Titel „Substanzrecht und Wertrecht“,209 in welchem er eine grundsätzliche sachenrechtliche Unterscheidung neu einzuführen gedachte. Er teilte das Sachenrecht in Substanzrechte und Wertrechte ein. Der Begriff wurde von Kohler in verschiedenen Schriften weiter ausgebaut210 und zunächst breit diskutiert.211 Paul Sokolowski versuchte 1907 in seiner monumentalen Abhandlung über „Sachbegriff und Körper“212 die „Substanzbegriffe“ aufzugeben und sie durch Funktions-, Wert, oder Relationsbegriffe zu ersetzen. Ebenfalls 1907 war für Julius Binder klar, dass die Philosophie es „längst als ihre Aufgabe erkannt“ habe, „Dingbegriffe in Relationsbegriffe umzusetzen“.213 Die Juristen sollten es den Philosophen in dieser Frage gleich tun. Sehr ähnlich sah dies wenige Jahre später Binders Doktorand Löwenstein.214 209
Josef Kohler, Substanzrecht und Wertrecht in: AcP 91 (1901), S. 155–208. Terminologisch ähnlich klingt die rechtshistorische Unterscheidung zwischen Substanz- und Nutzungspfand an einem Grundstück. Siehe hierzu im Untersuchungszeitraum etwa Hans Planitz, Das deutsche Grundpfandrecht, Weimar 1936. Diese Begriffe wollen aber nicht das Pfandrecht rechtstheoretisch neu durchdenken, sondern historische Pfandrechtskonzeptionen ordnen. Bei einem Nutzungspfandrecht war der Gläubiger bis zur Ablösung des Pfandes zur Nutzziehung berechtigt. Durch ein Substanzpfandrecht erwarb der Gläubiger bei Nichtzahlung das Eigentum am Grundstück oder später ein entsprechendes Verkaufsrecht. Beide Kategorien wären wohl ein Wertrecht nach Kohlers Differenzierung. 210 Siehe etwa Josef Kohler, Einführung in die Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Leipzig 1908, S. 58 ff.; Franz von Holtzendorff und Josef Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, Bd. 1, Berlin 1915, S. 45 und S. 260; Josef Kohler, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, 2. Bd. 2. Teil, Sachenrecht, Berlin 1919, S. 257 ff. und S. 366 ff. 211 Siehe etwa Fritz Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. IV, Philosophie des Vermögens, Aalen 1907, S. 74 ff., mit Nachweisen auf acht weitere Diskussionsbeiträge verschiedener Autoren. 212 Paul Sokolowski, Die Philosophie im Privatrecht, Bd. 1 Sachbegriff und Körper in der klassischen Jurisprudenz und der modernen Gesetzgebung, Aalen 1907, Bd. 2, Der Besitz im klassischen Recht und dem deutschen bürgerlichen Gesetzbuch, Aalen 1907; siehe zur Kritik an § 90 BGB insgesamt unten S. 166 f. 213 Julius Binder, Das Problem der juristischen Persönlichkeit, Leipzig 1907, S. 51 f. Für Binder sind Juristen insbesondere noch bei Kollektiveinheiten den Dingbegriffen verhaftet, obwohl gerade hier die Vielzahl der Beziehungen im Fordergrund stehen sollte. Kritisiert wird hier vor allem Gierke, dessen Theorie „die Personenverbände als einen kollektiven Dingbegriff auffasst, um ihn in Analogie zu dem individuellen Dingbegriff der natürlichen Person zu bringen“. Freilich betont Binder auch, dass Kollektive stets als Einheit gedacht werden können. Dabei müsse man sich aber im Klaren darüber sein, das dies eine Vereinfachung ist und nicht etwa „eine Analyse juristischer Begriffe, sondern das Gegenteil davon.“ Vgl. hierzu auch Theodor Kistiakowski, Gesellschaft und Einzelwesen. Eine methodologische Studie, Berlin 1899, S. 88 ff. 214 Alfred Löwenstein, Der Rechtsbegriff als Relationsbegriff, Diss. Erlangen 1915, München 1915, S. 52, S. 64. Ganz spenglerisch geht Löwenstein von einem Einfluss der allgemeinen Kultur auf die Rechtswissenschaft aus (S. 1). Das gegenwärtige kulturelle
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Wie sich bei Binder andeutete muss diese juristische Debatte auch vor dem Hintergrund parallel existierender philosophischer Strömungen gesehen werden, die ebenfalls generell für die Hinwendung zu unkörperlichen Phänomenen plädierten. Allen voran war hier aus dem Untersuchungszeitraum Wilhelm Ostwalds Energetik, Ernst Cassirer mit seinem Werk „Substanz und Funktionsbegriff“215 und das Werk „Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie“216 des Philosophen Siegfried Marks zu nennen.217 Auch wenn sich Cassirers Untersuchung nur auf die Begriffsbildung der exakten Wissenschaften bezog,218 so wurde er teilweise auch durch Juristen rezipiert. Die massivste ideengeschichtliche Überschneidung mit Spenglers dynamischer Rechtslehre ergibt sich zwischen dem Chemiker und Philosophen Wilhelm Ostwald, der bereits als ein möglicher Ideengeber für den juristischen Teil der spenglerschen Kulturphilosophie vorgestellt wurde.219 Auch Cassierer sympathisierte mit der philosophischen Energetik.220 Neben dem oben bereits erwähnten „Stromdiebstahl“Aufsatz in der DJZ publizierte Ostwald weitere Artikel in juristischen Fachzeitschriften.221 Weiterhin widmete Ostwald in seinem nach Vorlesungen gegliederten Werk „Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft“ von 1909 die gesamte zehnte Vorlesung dem Thema „Recht und Denken habe sich, so Löwenstein, von Aristoteles und seiner Substanzkategorie gelöst und neben „Dingbegriffen“ nun auch „Relationsbegriffe als die beiden typischen Hauptformen logischer Betrachtungsweise“ akzeptiert (S. 18). Dies führt unter anderem zu der Warnung in subjektiven Rechten kein Ding, sondern eine Relation zu sehen (S. 87). Aufgrund des Erscheinungsjahres der Arbeit kommt ein Spenglereinfluss nicht in Betracht. 215 Ernst Cassirer, Substanz und Funktionsbegriff, Berlin 1910, 2. Aufl. 1923. 216 Siegrifed Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, Tübingen 1925. 217 Siehe darüber hinaus auch etwa auch Christoph Sigwart, Logik 2. Band, Frankfurt 1878; S. 155 ff.; Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Freiburg im Breisgau und Leipzig 1902, S. 75 ff. 218 So ausdrücklich im Vorwort, Cassirer, Substanz und Funktionsbegriff, S. V f. 219 Siehe oben S. 39 ff. 220 Cassirer sprach im Angesicht des naturwissenschaftlichen Fortschritts von einem erkenntnistheoretischen Vorzug der Energetik gegenüber der herkömmlichen Erklärungen. Atom und die Materie, welche für die früheren Wissenschaften verlässliche objektive Typen waren, „gehen dennoch bei schärferer Zergliederung der Daten und Bedingungen unserer Erkenntnis in bloßen Abstraktionen auf.“ Sie seien lediglich „Begriffsmarken, die wir unseren Eindrücken anheften“. Demgegenüber erfassen wir mit der Energie, so Cassirer, „das Wirkliche, weil das Wirkende selbst.“ Hier trete kein „Symbol mehr zwischen uns und die physikalischen Dinge“ (zitiert nach Wilhelm Ostwald, Chemische Energie, 2. Aufl., Leipzig 1893, S. 5). 221 Siehe etwa noch Wilhelm Ostwald, Die energetischen Elemente des Rechtsbegriffes in: Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre 5 (1909), S. 173–190.
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Strafe“.222 Ferner war er Mitglied im Verein für Rechtsphilosophie.223 Er formulierte in Anlehnung an Kant sogar einen als Rechtsgesetz gedachten energetischen Imperativ: „Vergeude keine Energie, verwerte sie.“224 Weitere Autoren führten Ostwalds juristische Gedanken weiter fort. So etwa der Naturwissenschaftler Emil Budde225, der frühe Resozialisierungstheoretiker Alfred Bozi226 und der Jurist Erich Warschauer227. Damit steht jedenfalls fest, dass das Problem des „Substanzrechts“ und des „Wertrechts“ – so die wohl wirkungsmächtigsten Schlagworte von Kohler – vor 1918 und insbesondere in den ersten 10 Jahren seit der Geltung des BGB diskutiert wurden. Nun stellt sich die Frage, ob die von Spengler beeinflussten Autoren möglicherweise insgesamt eher an diese Diskussion anknüpften. Bei allen bisher genannten Autoren der dynamischen Rechtslehre spielten die genannten Philosophen und Rechtsphilosophen jedoch keine Rolle. Sie wurden nicht zitiert und es konnte nirgends erkannt werden, dass ihre spezifischen Ideen inkorporiert wurden. Eher ließ sich das Gegenteil beobachten: Curt du Chesne betont in den 20ern bei der Erörterung von Spenglers Rechtsdynamik mehrfach, dass „er“ die Hypothek als ein Wertrecht bezeichnete. Auf Kohler oder einen anderen der zahlreichen Diskutanten aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jh. verwies du Chesne dabei nicht.228 Hedemann, der 1924 feststellte, dass sich der Begriff des Wertrechts noch nicht durchgesetzt habe, suchte ebenfalls keinen Anschluss an die ältere Literatur, bezeichnet aber später gewisse eigene sachenrechtliche Vorstellungen von ihm selber als „dynamisch“ im Sinne 222
Wilhelm Ostwald, Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft, Leipzig 1909, S. 137 ff. 223 Ostwald, Lebenslinien. Eine Selbstbiographie, S. 318. 224 Ebda., S. 312; siehe vor allem auch S. 322, wo Ostwald selber über die Geschichte seines energetischen Imperativs räsoniert. 1911 veröffentlichte er zwei Aufsätze über den energetischen Imperativ. 1912 folgten nach eigenen Angaben rund 50 weitere kleinere Aufsätze, die vornehmlich in der Tagespresse erschienen. 225 Emil Budde, Energie und Recht. Eine physikalisch-juristische Studie, Berlin 1902. 226 Alfred Bozi, Recht und Naturwissenschaft in: Annalen der Naturphilosophie 1 (1902), S. 414–437. Siehe zu seinen strafrechtlichen und kriminologischen Bemühungen Désirée Schauz, Strafen als moralische Besserung. Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge, Diss. Köln 2005, München 2008, S. 366 ff. 227 Warschauer betont vor allem einen Aspekt stärker als die anderen Energetiker: Die Energie- bzw. Rechtseffizienz. Bei der Erschaffung von Gesetzen sollen Kosten-Nutzen Abwägungen stattfinden, in Form von einer energetischen Bilanz. Ein Gesetz darf dem Volk nicht mehr Energie entziehen als es wiederum an energetischen Vorteilen schafft (Erich Warschauer, Versuch einer Rechtsenergetik in: ARWP 10 (1916/17), S. 352–366, 365 f.). Der Gedanke des Energieausgleiches geht bei Warschauer jedoch nicht so weit eine energetisch vorteilhafte Straftat – etwa den Diebstahl eines Gegenstandes, welchen der Dieb effizienter einsetzt als der Bestohlene – zu rechtfertigen (ebda., S. 363 ff.). 228 Siehe ausführlich oben S. 52 Fn. 100.
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von Spengler.229 Spengler wurde also von den Autoren der dynamischen Rechtlehre zur Zentralperson gemacht, nicht die vorangegangenen akademischen Denker. Ab 1922 entstand eine neue, weitestgehend eigenständige, sich häufig auf Spengler stützende Kommunikationspopulation zum Thema der Unkörperlichkeit. Die früheren Debatten um Kohler und Binder wurden im Wesentlichen nur durch Gerhard Husserl230 und Erik Wolf231 fortgeführt, die ihrerseits wiederum kaum Anschluss an die Spenglerianer suchten. In der von Paul Oertmann und Richard Honig besorgten 6. Aufl. von Kohlers „Einführung“ von 1929, wurde der Abschnitt über Substanz und Wertrechte fast unverändert übernommen.232 Eine Angleichung an die sich neu entwickelnde Debatte erfolgte nicht. Die Abgrenzung erfolgt also nicht nur über die Stichworte „Dynamik“ und „Statik“, die in der früheren Debatte nicht auftauchten, sondern auch über zwei weitestgehend voneinander unabhängige Zitationszirkel, die sich gegenseitig nicht wahrnahmen.233 Es kann daher für die vorgestellte Dy229
Siehe oben S. 49 f. Gerhard Husserl berücksichtige in seiner Untersuchung über den Rechtsgegenstand von 1933 in großem Umfang die ab 1900 bestehenden Diskussionen zwischen Sohm, Kohler und Sokolowski über die römische Unterscheidung zwischen res corporalis und res incorporalis (Husserl, Der Rechtsgegenstand, S. 21, vor allem S. 176 ff.) und die Überlegungen bezüglich des Werteigentums (etwa S. 22, S. 28). Husserl führte den Sieg des körperlichen Sachbegriffs auf Savignys Kantlektüre zurück (Husserl, Der Rechtsgegenstand, S. 183; so auch HKK/Rüfner, §§ 90–103 Rn. 6). In seltenen Fällen sprach er von dynamischer Einstellung (Husserl, Der Rechtsgegenstand, S. 188) bzw. Betrachtungsweise (S. 181) des Eigentums und meint damit eine Perspektive, welche die Befugnisse des Eigentümers und seine willensgesteuerten Ausübungsmöglichkeiten in den Blick nimmt. Die Autoren einer dynamischen Rechtslehre nach Spengler scheint er nicht gekannt zu haben. Zumindest wurden sie nicht zitiert. 231 Wolf kam 1929 zu dem Schluss, dass die „Lehre von den Sachen als „körperliche Gegenstände“ nur einen „sehr geringen Wahrheitsgehalt“ enthalte. In Wirklichkeit komme es nicht auf die „bedeutungsfremde Existenz von Materie, sondern die sinnvolle Existenz von Kulturgütern“ an. Ob die Kulturgüter „als körperliche oder unkörperliche Gegenstände erscheinen ist eine Frage von sekundärer Bedeutung.“ (Erik Wolf, Der Sachbegriff im Strafrecht in: RGPrax V, S. 44–71, S. 56). Die stark auf das Strafrecht konzentrierte Studie beachtete jedoch keine weitere Literatur zu diesem Thema, und wurde ihrerseits auch nicht von den Autoren der dynamischen Rechtslehre beachtet. 232 Paul Oertmann, Richard Honig, Josef Kohlers Einführung in die Rechtswissenschaft, 6. Aufl. Leipzig 1929, S. 67 ff. 233 Nur zwei nach 1922 erschienene Monographien, die sich auf Spengler stützten und Dynamik i.S.v. Abstraktion vom Körperlichen benutzten, bezogen neben Spengler auch die Philosophen Ernst Cassirer und Wilhelm Ostwald ein und setzten sich zudem mit den entsprechenden Rechtsphilosophen auseinander. Im geringsten Maße tat dies Manfred Bott-Bodenhausen 1926 in „Formatives und funktionales Recht in der gegenwärtigen Kulturkrisis“. Paul Baender betitelt seine Dissertation 1929 mit „Statische und dynamische Rechtsbetrachtung“. Er kombinierte verschiedenste Dynamikkonnotationen und 230
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namikkonnotation von einem deutlichen Spenglereinfluss gesprochen werden. b) Dynamik als Bewegung, als flexibles, lebendiges Recht Eine weitere Reihe von Autoren verwendete den Begriff der Dynamik, um das Problem der Anpassung von rechtlichen Regeln an das sich ständig fortentwickelnde „Leben“ zu thematisieren. Der Gegensatz von Statik und Dynamik wurde hier mit dem Gegensatz von „unbeweglich“ und „beweglich“ gleichgesetzt. Die Rechtsordnung müsse, so die Forderung, ein gewisses Maß an Dynamik im Sinne von Flexibilität aufweisen. „Der dynamische Rechtsatz“, so Hans Fehr, müsse „elastischer, biegsamer sein. Er muß die Fähigkeit haben, das sich dauernd verändernde Leben in sich aufzunehmen, ohne sofort zu veralten.“234 Insgesamt forderten die Autoren unter Berufung auf Spengler dem Leben gegenüber dem Recht die Priorität einzuräumen. Sehr konsequent formulierte dies Andreas Popp in seiner Dissertation. Das Recht werde nicht nur durch den Gesetzgeber, sondern auch durch das Wirtschaftsleben kreiert. Dass „der Staat nicht ausschließliche Rechtsquelle ist“, sondern dass vielmehr „in Anerkennung der Lehre von der dynamischen Natur des Rechts und in Abkehr von der römischrechtlichen, der statischen Rechtsauffassung, das was die zwangsläufige und naturnotwendige Entwicklung des Wirtschaftsprozesses vom Gesetze ausgehend als Recht aus- und weiterbildet“, ebenfalls „als Recht anzuerkennen ist“.235 Hierzu zitierte er neben einem Reichsgerichtsurteil vor allem Spengler, der allerdings im Gesamtwerk von Popp insgesamt eher eine untergeordnete Rolle spielte. Es ging hier offen um die Begründung einer außerparlamentarischen Rechtsquelle. Das Leben trat bei Popp als gleichberechtigter Normerzeuger neben das Gesetzesrecht, wobei allerdings der Ausgangspunkt der Entwicklung das Gesetz sein sollte. Drastischer noch schrieb wiederum Fehr, dass die dynamische Rechtslehre zur Not „um des Lebens willen […] auf Gesetze“236 verzichte. Wie man sich dies genauer vorzustellen habe, erörterte Fehr nicht. Nebulös blieben bei ihm, wie auch bei allen anderen Autoren einer dynamischen Rechtslehre, das Verhältnis von flexiblem, sich dauernd dem Leben anpassendem Recht und dem Konzept der Rechtssicherheit durch feste Regeln. Einige Autoren, die sich mit Spengler für ein dynamischeres Recht einsetzten, betonten nämlich zugleich die Wichtigkeit einer juristischen Statik. Gemeint war damit zumeist, eine stabile, unveränderbare Regelung, die das Recht verlässlich zitierte weitere Autoren der Dynamischen Rechtslehre nach Spengler. Auch bei ihm steht am Ende die Forderung, dass die Rechtspraxis dynamischer gestaltet werden müsse. 234 Fehr, Das kommende Recht, S. 5. 235 Popp, Das aktienrechtliche Unternehmen, S. 11. 236 Fehr, Das kommende Recht, S. 6.
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machen sollte. So schrieb Ernst Swoboda, dass eine rein dynamische Rechtsordnung undenkbar sei: „Dynamik und Statik bilden die beiden Quellen, die für den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis und damit für den Fortschritt der Kultur unentbehrlich sind.“237 Swoboda forderte ein gewisses Maß an Veränderungslosigkeit, um überhaupt begrifflich von Privatrecht sprechen zu können.238 Mehr oder weniger offen kritisierten die Autoren damit ihren Begriffsspender Spengler. Während der Kulturphilosoph für das Abendland eine rein dynamische Rechtsordnung forderte, stellten alle Juristen, die Dynamik als flexible Anknüpfung an das sich verändernde Leben auffassten, fest, dass Statik im Sinne von Rechtsicherheit stets gegen eine dem Leben adäquate neue Entscheidung abgewogen werden müsse. Dass Spengler das statische römische Recht wegen seiner Lebensnähe lobte, wurde ignoriert. Ähnlich sahen dies auch unter Berufung auf Spengler Alexander Elster239 und Gustav Klemens Schmelzeisen.240 Im Zuge der Konnotation von Dynamik als Bewegung war es auch konsequent, die Generalklauseln im Zivilrecht als besonders dynamisch zu feiern. Gerade „(w)eil Gesetz und Rechtsprechung“ noch „zu wenig dynamisch sind“, so Fehr, „ist die Anwendung der Generalklauseln eine so starke“.241 Der Ursprung von Treu und Glauben im römischen Recht störte die Autoren der Dynamischen Rechtslehre dabei nicht.242 Auch andere „Dynamiker“ wie etwa Alexander Elster betonten die Generalklauseln als Bestandteil der dynamischen Rechtslehre, während er Gesetze als um so statischer bezeichnete, je detaillierter und genauer sie ausformuliert waren.243 Teilweise wurde auch unter ausdrücklichem Rückgriff auf Spenglers Terminologie von einer statischen und einer dynamischen Rechtsphilosophie gesprochen. So bezeichnete etwa Swoboda die klassischen Naturrechtslehren von Grotius, Wolff und Rousseau als statisch, da diese nach ihrem Selbstverständnis aus ihren Axiomen ein für alle Zeiten unveränderbares, also vom realen Leben unabhängiges, Recht deduzieren würden. 237
Swoboda, Das Privatrecht der Zukunft, S. 470. Swoboda, Das Privatrecht der Zukunft, S. 470 f. 239 Elster, Der dynamische Gedanke im gewerblichen Rechtschutz, S. 1364. Elster hält es für eine Übertreibung Spenglers, wenn er das römische Recht als nur statisch bezeichnet, da wohl auch „daß anscheinend Statische der primitiven Rechte trotz seiner Formenstarrheit, seiner Stipulationen u. dgl., auch nur Ausdruck dynamischer Größe, d. h. bewegender Kräfte ist.“ 240 Für Schmelzeisen ist „jedes Recht statisch und dynamisch zugleich“ (Schmelzeisen, Die Relativität des Besitzbegriffes, S. 43, Fn. 14). 241 Fehr, Das kommende Recht, S. 21. 242 Vgl. hierzu nur HKK/Duve, § 242. 243 Elster, Der „dynamische“ Gedanke im gewerblichen Rechtschutz, S. 1366 f. 238
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Kants formale Rechtsphilosophie wurde demgegenüber als dynamisch bezeichnet, da der kategorische Imperativ auch auf neue Lebenssituationen anwendbar sei.244 Inhaltlich sehr ähnlich, aber frei von Spenglers terminologischem Einfluss, hatte zudem Hans Kelsen – unabhängig von der Dynamik-Statik-Einteilung seiner Staatsrechtslehrbücher – dynamisches und statisches Naturrecht unterschieden.245 Auch Wilhelm Glungler nahm diese Einteilung unter den Kategorien statisch-dynamisch vor, vermutlich ohne Einfluss von Swoboda, Spengler und Kelsen.246 244
Swoboda, Das Privatrecht der Zukunft, S. 474 ff. Siehe Hans Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Berlin 1928. Nachdem Kelsen hier seine Theorie der Grundnorm skizziert, folgt unter anderem ein Abschnitt über die Frage inwiefern Naturrecht und positives Recht ein statisches oder dynamisches Rechtsgebiet darstellen. Die Einteilung erfolgt über die Art und Weise wie die beiden Rechtsysteme aus ihrer jeweiligen Grundnorm heraus abgeleitet werden. Ebenso wie Swoboda bezeichnet Kelsen das Naturrecht als ein statisches Recht, da sich hier alle Regeln ohne den willentlichen Akt eines Gesetzgebers aus der Grundnorm ergeben. Eine naturrechtliche Grundnorm enthält nach Kelsen bereits sämtlichen Rechtsregeln, die als richtig erkannt werden können. (Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 18). Im dynamischen System des positiven Rechts beschränkt sich die Grundnorm darauf, „einen bestimmten menschlichen Willen zur Setzung von Normen zu ermächtigen“. (Kelsen, Die philosophischen Grundlagen, S. 19). Kelsen veranschaulicht dies mit der positiven Norm, die besagt, dass Kindern ihren Eltern gehorchen müssen. Was die Eltern befehlen gilt nicht, weil es inhaltlich aus der Grundnorm ableitbar ist, sondern weil der Befehl nach den Regeln der Grundnorm richtig erzeugt wurde. Diese Unterscheidung wurde unter der genannten Kategorie schulenintern fortgeführt von Alfred Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, Freiburg 1971. Siehe aus jüngerer Zeit hierzu Rainer Lippold, Recht und Ordnung. Statik und Dynamik der Rechtsordnung, Wien 2000. 246 Der Gegensatz zwischen dynamischem und statischem Rechtsdenken ist auch Gegenstand von Wilhelm Glunglers rechtstheoretischer Dissertation über Entstehung und die Gestaltung von Recht (Glungler, Rechtschoepfung und Rechtsgestaltung). Hier entwirft Glungler ein einfaches Grundschema: Alle Rechtsprobleme können statisch und dynamisch gedeutet werden. Seine Lösung für die Zukunft besteht aus der Aufhebung und Überwindung der beiden gegenteiligen Ansichten in einer „pragmatischen Deutung“ des Rechts. Inhaltlich entwirft Glungler ein den naturwissenschaftlich orientierten Rechtsenergetikern ähnliches, aber viel facettenreicheres Bild von Dynamik und Statik als Rechtsprinzipien. Die statische Deutung des Rechts betrachtet das Recht im Gleichgewichtszustand (S. 37), führt zur rein dogmatischen Behandlung des positiven Rechts (S. 38), hat einen Ähnlichkeit zur Naturrechtstradition nach Grotius (S. 41), und ist daher dem Vorwurf ausgesetzt, den Richter zum begriffsjuristischen (S. 42) „Rechtsanwendungsautomaten“ (S. 47) zu machen. Die dynamische Deutung betrachtet das Recht in Bewegung, und daher auch die Geschichte des Rechts, wie Savignys historische Schule (S. 48 f.) und führt zu einer modernen Interessenjurisprudenz (S. 49 f.), die im Gegensatz zur statischen Auffassung ethische Elemente in die Rechtsordnung zu übertragen in der Lage ist (S. 52). Das wirft freilich die Frage auf: Wie viel Ostwald, wie viel Spengler und wie viel Fehr oder andere stecken in Glunglers Arbeit? Der Autor selber macht es einem nicht 245
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Gerade bei dem so populären Thema der Anpassung von Recht und Leben fanden sich auch Autoren, die Spengler zitieren, ihn aber nicht zu einer Zentralfigur und das dynamische Rechtsdenken nicht zu einem eigenständigen Thema machten. Die Übergänge waren fließend. So behandelte etwa Oskar Netter die Frage nach dem Verhältnis von Leben und Recht. Dieses Problem beschäftige „die besten Köpfe“.247 Dazu zählte Netter dann auch Spengler, den er allerdings anders als Kant, Bergson, Nietzsche, Dilthey und Simmel nicht im Text, sondern nur in der entsprechenden Fußnote neben einer Vielzahl von Juristen zitiert.248 Wie bereits erwähnt, verwendeten Teile der Staatsrechtswissenschaft den Begriff Dynamik, um das Wechselspiel zwischen den politischen Mächten und der Verfassung zu kennzeichnen. Aber nur ein einziger, in seiner Zunft vollkommen unbedeutender Staatsrechtler, berief sich hierzu auf Spengler.249 leicht dies herauszufinden. Nicht nur, dass er seine geistigen Väter nicht in einem Einleitungstext offen legt. Darüber hinaus wurde seine Arbeit auch ohne ein Literaturverzeichnis publiziert und verfügt über keine Fußnoten. Allenfalls im Text wurde auf wenige Autoren verwiesen. Sehr nebulös heißt es im Nachwort „ich fühle mich mit denen verbunden, die Bausteine zu dem Werk zusammengetragen haben.“ Sein Buch solle aber zum „Nachdenken“ und nicht zum „Nachschlagen“ anregen und bietet dem Leser daher nicht „Stoff“, sondern „Geist“. Weiter heißt es: „Mein Buch verzichtet auf den Prunk der Gelehrsamkeit. Denn es will nicht fremde Gedanken deuten sondern eigene darstellen.“ (alle Zitate S. 79). Damit wird es freilich noch schwerer als sonst, Einflüsse nachzuweisen. Freilich fallen bei der Definition der dynamischen und statischen Rechtsbetrachtung sofort Überschneidungspunkte mit der dynamischen Rechtslehre nach Spengler, aber auch mit fast allen anderen Dynamikbegriffen auf. Wenn man die übrigen Dynamikdebatten kennt, dann entdeckt man bei Glungler aber jedenfalls eine Abgrenzung zu Spengler, bzw. den spenglernahen Juristen. Glungler schreibt, er wolle dem „Missverständnis“ entgehen, dass die dynamische oder die statische Auffassung sich „irgendwie um körperliche Dinge“ drehen müsse: „Es handelt sich weder für die statische noch für die dynamische Betrachtung um Körper; es kommt vielmehr auf die Zustände an […] in keinem Fall ist der Körper jedoch der unmittelbare Gegenstand der Erörterung“ (S. 45). Damit lehnt Glungler die spenglernahe Konnotation der Dynamik als Ablösung vom Körperlichen ab. 247 Oskar Netter, Probleme des Lebenden Aktienrechts in: ZfH 6 (1931), S. 1–4, S. 37–41, S. 59–66, S. 1. 248 Netter, Probleme des lebenden Aktienrechts, S. 1 f. Genau genommen findet sich die Angabe des teilweise wörtlichen Spenglerzitates innerhalb des Zitates eines anderen Juristen. 249 Eduard Hoffmann versah 1924 einen Aufsatz mit folgendem Untertitel: „Eine rechtsvergleichende Betrachtung unter Gesichtspunkten politischer Dynamik“ (Hoffmann, Die Stellung des Staatshauptes zur Legislative und Exekutive im Deutschen Reich und seinen Ländern. Eine rechtsvergleichende Betrachtung unter Gesichtspunkten politischer Dynamik, S. 257 – 303). Hierzu führte er einleitend aus, dass der Begriff der politischen Dynamik eine Verfassungsbetrachtung bezeichnet, die nicht von den geschriebenen Regeln, sondern von den „Machtmöglichkeiten“, also von den „ungeschriebenen Regeln, nach denen sie [die Verfassungen, L.M.K.] verwendet werden,“ (ebda., S. 258 f.)
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Es gilt festzuhalten, dass es um etwas ganz anderes ging, als um die Abstraktion vom körperlichen Denken. Die Juristen – teilweise die gleichen Autoren – verwendeten das gleiche Schlagwort (auch) um ganz andere Sachverhalte, nämlich die Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit des Rechts zu fordern. Diese Konnotation wurde offenbar häufiger auch außerhalb eines Spenglereinflusses verwendet, sonst hätte nicht Swoboda, Kelsen und Glungler in so ähnlicher Weise statisches und dynamisches Naturrecht definiert. Trotzdem beriefen sich eine Reihe von Juristen insbesondere oder jedenfalls zusätzlich auch auf Spengler, um das Problem eines flexiblen, immer dem Leben angepassten Rechts zu erörtern. Um den Spenglereinfluss auf diese Begriffsverwendung genauer bestimmen zu können, ist daher zu prüfen, inwiefern auch bei Spengler der Begriff Dynamik die Konnotation „Bewegung“ und „Anpassung“ annehmen konnte und inwieweit „Statik“ für „Unbeweglichkeit“ stand. aa) Abgleich mit der Verwendung der Begriffe bei Spengler Ob Spengler mit „Statik“ Unbeweglichkeit charakterisieren wollte, kann gut an dem folgenden Zitat untersucht werden, das in voller Länge bereits weiter oben analysiert wurde.250 In seinen hier wesentlichen Zügen lautet es: „Das antike Recht ist ein Recht der Körper. [...] Da das antike Leben in Gestalt, wie es sich dem antiken kritischen Wachsein darstellt, durchaus euklidische Züge besitzt, so entsteht ein Bild von Körpern, von Lageverhältnissen zwischen ihnen und von wechselseitigen Einwirkungen durch Stoß und Gegenstoß wie bei den Atomen Demokrits. Es ist eine juristische Statik.“251 Die Subjekte und Objekte des öffentlichen Lebens seien als Körper gedacht gewesen. Damit wollte Spengler vermutlich nicht die Unbeweglichkeit des öffentlichen römischen Lebens ausdrücken, sondern im Gegenteil die spezifische Art der Bewegungen des antiken Lebens darstellen. Er sprach von „wechselseitigen Einwirkungen durch Stoß und Gegenstoß“.
ausgeht. Um diese Darstellung prinzipiell zu erläutern und zu rechtfertigen, zitiert Hoffmann aus Spenglers „Preußentum und Sozialismus“. Spengler argumentiert an der entsprechenden Stelle, dass die konkrete Regierungsform, die der historische Zufall in die Verfassungstexte diktiere, immer durch den „Instinkt einer unverbrauchten Rasse“ umgangen werde. Die „eigentliche Regierungsform“ ergebe sich nicht aus dem Wortlaut der Verfassung, sondern aus den „ungeschriebenen und unbewussten Regeln, nach denen sie verwendet werden“ (Spengler, Preußentum und Sozialismus, S. 56). Spengler verwendet an dieser Stelle nicht den Begriff der Dynamik, weil er hier ein überkulturelles Phänomen sieht, das zu allen Zeiten bei allen Kulturseelen stattfand. Im Untergang finden sich noch weitergehende Ausführungen hierzu (siehe unten Kapitel Politik, S. 224). 250 Siehe S. 38 f. 251 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 15, S. 78.
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Dem entsprach auch seine Darstellung des römischen Rechts, insbesondere sein Lob des Praetors. Durch die zu Beginn des Amtsjahres aufgestellten Edikte und die Rechtsprechung im Einzelfall sei es dem Praetor immer möglich gewesen, flexibel auf wirtschaftliche und soziale Veränderungen zu reagieren, schrieb Spengler.252 Die Lebensnähe des Praetors wurde von ihm auch in seiner politischen Schrift „Neubau des deutschen Reichs“ hervorgehoben.253 Dabei wurde der Praetor als Rechtsschöpfer von dem Kulturphilosophen auch deshalb idealisiert, weil er typischerweise Grundbesitzer, Offizier, Verwaltungs- und Finanzexperte war. Der Praetor war also, im Gegensatz zum modernen Richter, wie ihn sich Spengler vorstellte, jemand der im Leben stand und deswegen im Einzelfall eine lebensnahe Entscheidung treffen konnte.254 Spengler verwendete die Begriffe „Statik“ und „Dynamik“ also nicht im Sinne von „Unangepasstheit“ und „Anpassung“, sonst hätte Spengler nicht sagen können, dass die Praetoren lebensnahes und statisches Recht gleichzeitig gesprochen hätten. Das Leben des Praetors, „wie es sich dem antiken kritischen Wachsein darstellt“255 war eben, aufgrund der apollinischen Kulturseele ein körperbezogenes und damit statisches Leben. Deswegen war für die Antike ein lebens- und wirtschaftsnahes Recht zwingend auch ein statisches Recht.256 Das hat nicht wenige Zeitgenossen Spenglers überfordert. Für das abendländische Recht forderte Spengler, dass es an das dynamische Leben angepasst werden solle. Dabei bezeichnete er aber nicht den Vorgang der Anpassung, sondern das Ziel derselben als dynamisch. Es war bei Spengler nicht das Privileg der abendländischen Rechtsordnung, flexibel zu sein. Im Gegenteil! In jedem Rechtssystem, in dem der „Kampf zwischen Buch und Leben“257 zugunsten des Lebens ausgehe, verfüge das Recht über ausreichende Flexibilität um neu auftauchende Fragen des Wirtschaftslebens zu klären. Dynamisches Recht im spenglerschen Sinne war ein Recht, das der abendländischen Kulturseele entsprach. Das Recht 252
Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 14, S. 71 f. Oswald Spengler, Neubau des Deutschen Reiches, München 1924, zitiert nach dem Abdruck in: Spengler, Politische Schriften, München 1932, S. 239 ff. 254 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 94. 255 Dem Eingangszitat aus diesem Unterabschnitt entnommen, Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 15, S. 78. 256 Spengler beschreibt die antike Wirtschaft wie folgt: „Die antike Wirtschaftswelt gliedert sich nach Stoff und Form. Ein Stoff in der Form der Münze ist Träger der wirtschaftlichen Bewegung und drängt die Bedarfsgrößen von gleichem Wertquantum an den Ort ihrer Verwendung. Unsere Wirtschaftswelt gliedert sich nach Kraft und Masse. Ein Kraftfeld von Geldspannungen liegt im Raume und erteilt jedem Objekt, unter absehen von dessen besonderer Art, einen positiven oder negativen Wirkungswert, der durch einen Bucheintrag dargestellt wird.“ (Spengler, UdA II, Kapitel V, Abschnitt A 4, S. 616 f.). 257 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 93. 253
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solle sich nicht irgendeinem Leben, sondern dem faustisch abstrakten abendländischen Leben annähern. Deswegen wurde an das Recht die Forderung gestellt, dynamischer zu werden. Es solle die Energien und Wirkungen, das funktionale und dynamische Denken, das laut Spengler unser Leben bestimme, besser abbilden, als das antike, auf Körper bezogene Recht. Es muss aber auch betont werden, dass – unabhängig von den Begriffen Statik und Dynamik – bei Spengler das Leben als höchstes Erkenntnismittel und die Hinwendung zum Leben allgemein eine zentrale Rolle spielte. Er wendete sich auch in Fragen des Rechts deutlich gegen die „Ideologen des römischen Rechts, welche das Corpus Juris wie ein Heiligtum gegen die Wirklichkeit verteidigen.“258 Deutsches Recht solle, so Spengler, der Lebenswirklichkeit angepasst werden. „Das Privatrecht“ solle „den Geist des jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Daseins“ abbilden.259 Die wichtigste Aufgabe der Rechtswissenschaft sei ein „rechtstheoretisches Durchdenken der Grundwerte unseres wirklichen Lebens“.260 Eine Aufgabe, die nach Spengler noch vollständig bevorstand.261 Dies konnte den ohnehin populären Spengler für manchen Juristen zu einem Mitstreiter machen. Mit der Forderung nach Lebensnähe war bisweilen auch die Ablehnung von zu strengen Methoden und Systemdenken gefordert.262 Auch dies brachte Spengler griffig auf den Punkt: „Der Wille zum System ist der Wille, Lebendiges zu töten“,263 ein Satz, der auch von Juristen zitiert wurde.264 Mit dieser Forderung traf er – ganz unabhängig von den Begriffen Statik und Dynamik – den Nerv der Zeit. bb) Die Forderung nach lebensnahem Recht in der Weimarer Republik Vermutlich handelt es sich bei der Forderung nach lebensnahem Recht und ebensolcher Rechtsanwendung um ein Dauerthema, seit es Juristen gibt, dass mal mehr und mal weniger im Vordergrund stand und steht.265 Allge258
Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 18, S. 90. Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 94. 260 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 95. 261 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 95: „Wir kennen diese Werte noch gar nicht“. 262 Siehe Joachim Rückert, Vom „Freirecht“ zur freien „Wertungsjurisprudenz“ – eine Geschichte voller Legenden in: SZ GA 125 (2008), S. 199–255, S. 210. 263 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt A 3, S. 16. 264 So etwa Hans Fehr, Recht und Wirklichkeit. Einblick in Werden und Vergehen der Rechtsformen, Potsdam 1928, S. 170; Ernst Fuchs, Gesunder Menschenverstand, NeuWiener Begriffsnetz und französische „neue Schule“ in: Die Justiz 4 (1928/29), S. 129– 163, S. 103. 265 Siehe Sibylle Hofer, Haarspalten, Wortklauben, Silbenstechen? – 100 Jahre Lehrbücher zum BGB: eine Lebensbilanz in: JuS 1999, S. 111–117, S. 116 f., die nachweist, 259
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meine Appelle, wie die von Zitelmann anlässlich der Kodifikation des BGB getroffene Aussage, dass „niemals [...] eine juristische Frage gelöst werden“ dürfe, „ohne daß man die Lösung auf ihre Brauchbarkeit für das wirkliche Leben prüft“,266 lassen sich nicht nur im ausgehenden Kaiserreich nachweisen. In der ersten Hälfte des 20. Jhs., insbesondere ab 1914 bzw. 1918, war die Forderung nach mehr Lebensnähe des Rechts jedoch deutlich stärker als der Ruf nach Objektivität und Rationalismus. Dem Leben, dem Rechtsgefühl und den Wertungen im Recht wurden in dieser Zeit eine so starke Bedeutung zugemessen, wie in kaum einer anderen. Deswegen wurde in dieser Zeit auch der Kampf gegen das Gespenst der Begriffsjurisprudenz267 – das diffuse Feindbild aller Kämpfer für das lebensnahe Recht – besonders heftig geführt. Dabei soll nicht plump das Schema vom positivistischen und damit völlig lebensfremden 19. Jh. kolportiert werden, welches durch ein das wirkliche Leben berücksichtigenden 20. Jh. erlöst wurde. Dass die Verbindung von Leben und Recht auch im 19. Jh. ein ernst genommenes Thema war, hat Haferkamp mehrfach nachgewiesen.268 Was hier gezeigt werden soll, ist, dass zu Spenglers Wirkungszeit, die Anpassung an das Leben – also das was unter dem Stichwort der Dynamik nach Spengler gefordert wurde dass bezüglich des BGB von 1996 bis heute eine Kontinuität in der Forderung nach lebensnaher Auslegung besteht; siehe auch beginnend mit Jhering Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl., Heidelberg 1968, S. 85 ff. 266 Ernst Zitelmann, Die Gefahren des Bürgerlichen Gesetzbuchs für die Rechtswissenschaft, Rede zur Feier des 27. Januar 1896, gehalten in der Aula der Universität zu Bonn, Bonn 1896, S. 19. 267 Begriffsjurisprudenz hatte sich, von Jhering ausgehend, als diffuser Kampfbegriff entwickelt, der nicht nur gegen Lebensfremde, sondern auch gegen „erkenntnistheoretische und logische Naivität, Wertungsverschleierung [...] und mangelnde Berücksichtigung überpositiven Rechts“ gerichtet wurde (siehe Hans-Peter Haferkamp, Art. Begriffsjurisprudenz in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1 Stuttgart 2005, S. 1150–1152; siehe auch ders., Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, Frankfurt am Main, 2004, S. 26 ff., S. 79 ff.; mehr als Methode und weniger als Kampfbegriff ist Begriffsjurisprudenz dargestellt bei Jan Schröder, Art., Begriffsjurisprudenz in: HRG, 2. Aufl., Berlin 2008, S. 499–502). Spengler selber verwendete „Begriffsjurisprudenz“ nicht in seinen Werken. 268 Hans-Peter Haferkamp, Der Jurist, das Recht und das Leben in: Verein zur Förderung der Rechtswissenschaften (Hrsg.), Fakultätsspiegel der Universität zu Köln Sommersemester 2005, S. 83–98; ders., ,Die so genannte Begriffsjurisprudenz im 19. Jahrhundert – „reines“ Recht? in: Otto Depenheuer (Hrsg.), Reinheit des Rechts. Kategorisches Prinzip oder regulative Idee? Wiesbaden 2010, S. 79–99; ders., ‘Needs’ – Pandectists between norm and reality in: Jean-Louis Halperin, Michael Stolleis u. Yasutomo Morigiwa (Hrsg.), Interpretation of Law in the Age of Enlightenment. From the Rule of the King to the Rule of Law, Heidelberg 2011, S. 107–121.
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– bei Juristen eine immer größere, stellenweise geradezu metaphysische Rolle spielte.269 Wieacker sprach für die gesamte Zeit von der „Entdeckung der Wirklichkeit“ durch die Juristen.270 Sei es in Gestalt von lebensnahen Richtern271, sei es in Form der Bewegungen der Freirechtsschule272, welche forderte, die Lücken im Recht durch freies, lebendes bzw. soziales Recht in schöpferischer Tätigkeit zu schließen.273 Oder sei es die Interessenjurisprudenz274, die forderte, durch ein „Primat der Lebensforschung und Lebensbewertung“275 die Interessenkollisionen im konkreten Rechtsfall her269
Siehe generell zur Verbindung von Recht und Leben in dieser Zeit: Für die Handhabung des BGB: Hofer, Haarspalten, Wortklauben, Silbenstechen?, S. 115 die freilich insgesamt herausarbeitet, dass in der Forderung nach Lebensnähe eine größere zeitliche Konstante besteht; für die Weimarer Zeit vor allem Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 34: „Schöpfte der Richter die ihm eingeräumte Freiheit nicht aus, so wurde er bald als begriffsjuristisch und lebensfremd gescholten; er beachte zu wenig die wirtschaftlichen Erscheinungen, lautete der oft erhobene Vorwurf.“ Für die Zeit des Nationalsozialismus siehe: Karl Kroeschell, Die nationalsozialistische Eigentumslehre. Vorgeschichte und Nachwirkungen in: Dieter Simon/Michael Stolleis (Hrsg.) Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, Tübingen 1989, S. 43–61; Joachim Rückert, Der Rechtsbegriff der Deutschen Rechtsgeschichte in der NS-Zeit: der Sieg des „Lebens“ und des konkreten Ordnungsdenkens, seine Vorgeschichte und Nachwirkungen in: Joachim Rückert/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, Tübingen 1995; Kaiser, Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, insbesondere S. 109 ff. Mit der nötigen Vorsicht bezüglich der auf Aufstieg und Fall des Positivismus ausgerichteten Geschichtsschreibung sind hierzu lesenswert Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 562 ff.; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. Berlin, 1991, S. 63, der hier freilich sehr auf Eugen Ehrlich (und dessen „Fehler“) fixiert ist. 270 Siehe allgemein: Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 562 ff. 271 Siehe hierzu Gerd Linnemann, Klassenjustiz und Weltfremdheit, Deutsche Justizkritik 1890–1914, Diss. Kiel 1989, Kiel 1989, insbesondere S. 134 ff. mit 15 zeitgenössischen Aufsätzen alleine aus der Deutschen Richterzeitung über die Lebensfremdheitsdebatte bei Richtern. 272 Joachim Rückert, Art. Freirechtsbewegung in: HRG 2. Aufl., Band I, Berlin 2008, Sp. 1772–1777; ders., Vom „Freirecht“ zur freien „Wertungsjurisprudenz“ – eine Geschichte voller Legenden in: SZGerm 125 (2008), S. 199–255; Luigi Lombardi Vallauri, Geschichte des Freirechts, Frankfurt a. M. 1971. 273 Rückert, Art. Freirechtsbewegung, Sp. 1773. 274 Leider ist kein aktueller Handbuchartikel verfügbar. Siehe zu den Wurzeln der Interessenjurisprudenz Johann Edelmann, Die Entwicklung der Interessenjurisprudenz, Bad Homburg vor der Höhe/Berlin 1967; zentriert auf Phillip Heck ist Wilfried Kallfass, Die Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz. Darstellung und Würdigung, Frankfurt am Main 1972. Eine jüngere Bearbeitung liegt vor von Jens Peterson, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, Tübingen 2001, dem es jedoch eher um die heutige Dogmatik als um die historische Verortung der Interessenjurisprudenz geht. 275 Phillip Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1932, S. 17.
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auszukristallisieren, um eine Entscheidung zu ermöglichen: In vielen Fällen galt das wirkliche Leben den Juristen zunehmend als wichtiger Maßstab bei ihren Tätigkeiten. Vielleicht steht symbolisch dafür die Forderung des Freirechtlers und Rechtssoziologen Eugen Ehrlich nach Einrichtung von Seminaren für lebendes Recht zur Weiterbildung von Praktikern an jeder juristischen Fakultät.276 Die Rechtssoziologie, die in dieser Zeit entstand,277 trat aber nicht einheitlich als Lobbyist der Lebenstatsachen auf,278 wohl aber die sich mit ihr überschneidende Disziplin der Rechtstatsachenforschung.279 In der Staatsrechtswissenschaft etablierte sich die so genannte geisteswissenschaftliche Richtung, die man mit Herman Heller auch als eine Hinwendung zu einer „Wirklichkeitswissenschaft“ bezeichnen könnte.280 Die zunehmende Beachtung der Realität als Einflussfaktor auf die 276
Was jedoch abgelehnt wurde (Verh. des 31. Dt. Juristentages III (1913), S. 819, S. 821); siehe hierzu Manfred Rehbinder, Eugen Ehrlichs Seminar für lebendes Recht. Eine Einrichtung für die Weiterbildung von Rechtspraktikern in: Проблеми філософії права, 2005, S. 135–139 (http://www.nbuv.gov.ua/portal/soc_gum/Pfp/2005_3/135%20 Rehbinder.pdf, abgerufen am 27. März 2010). Siehe allgemein zu Ehrlich jetzt Marc Hertogh (Hrsg.), Living Law. Reconsidering Eugen Ehrlich, Oxford 2009; grundlegend: Manfred Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 2. Aufl. Berlin 1986; wichtig für das Konzept des lebenden Rechts bei Ehrlich ist, dass das Recht „weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst“ wurzelt (so Ehrlich in der Vorrede seiner Grundlegung der Soziologie des Rechts, München 1913). 277 Siehe zu den Anfängen der deutschen Rechtssoziologie Paul Trappe, Rechtssoziologie in: Hist. WB. Philos. 8, Sp. 327–331: Danach hatte sich vor Ehrlich, Kantorowicz und Weber zu Beginn des 20. Jhs. auch Post 1884 bereits auf Grundlage seiner ethnologischen Rechtsforschungen mit seinem „Aufbau einer allgemeinen Rechtswissenschaft auf soziologischer Grundlage“ befasst. 278 Prägnant hat dies Uwe Wesel formuliert: Während Eugen Ehrlichs „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ von 1913 „als Widerspruch gegen die pandektistische Begriffsjurisprudenz, die alle gesellschaftlichen Probleme ausgeklammert hatte“ geschrieben wurde, wollte Max Webers Rechtssoziologie aus „Wirtschaft und Gesellschaft“ von 1921/1922 das Gegenteil: Seine Rechtssoziologie […] ist eine soziologische Rechtfertigung der „Rationalität“ dieser Pandektenwissenschaft und ihrer großen Bedeutung für die kapitalistische Wirtschaft, die auf Kalkulierbarkeit im Recht angewiesen ist.“ (Uwe Wesel, Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart, 3. Aufl., München 2006, Rn. 293, S. 488). So warnt Weber auch eindringlich vor den Gefahren des neuerdings im Recht existierenden „Wertirrationalismus“ im Recht, wie etwa der Freirechtsschule. (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Lizenzausgabe des Melzer Verlages für Zweitausendeins, Frankfurt am Main, 2005, Kapitel VII, § 8, S. 650). 279 Siehe hierzu das Kapitel Rechtssoziologie als Rechtstatsachenforschung und juristische Hilfsdisziplin in Hans Ryffl, Rechtssoziologie. Eine systematische Orientierung, Neuwied 1974, S. 39 ff. Die ersten Programmschriften der Rechtstatsachenforschung fallen demnach in Spenglers Zeit (Arthur Nussbaum, Die Rechtstatsachenforschung – Ihre Bedeutung für Wissenschaft und Unterricht, Tübingen 1914 und ders., Ziele der Rechtstatsachenforschung in: LZ, 14 (1920), Sp. 873–78, Sp. 912–16). 280 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 153 ff.
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Normativität hatte ihre Entsprechung auf der Ebene der Rechtsphilosophie: Die Neukantianer281, welche den Schluss von dem empirischen Sein der Lebenswirklichkeit auf ein Sollen als naturalistischen Fehlschluss282 bezeichneten, und ihre Rechtsphilosophien daher möglichst apriorisch konstruierten,283 befanden sich auf dem Rückzug, um einem Neuhegelianismus Platz zu machen, der die Lebenswirklichkeit deutlicher beachtete.284 Hier 281
So insbesondere die Marburger Schule des Neukantianismus (Hermann Cohen, Paul Nartop, Walter Schücking, Rudolf Stammler); Im südwestdeutschen Neukantianismus (Wilhelm Windelbrand, Heinrich Rickert, Emil Lask, Gustav Radbruch), der versuchte, Wert und Wirklichkeit zu verbinden, spielte der naturalistische Fehlschluss keine so negative Rolle. 282 Siehe allgemein hierzu Thomas Zoglauer, Normenkonflikte – zur Logik und Rationalität ethischen Argumentierens, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 45 ff. 283 So etwa Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. 5 ff.; Gustav Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Leipzig 1914, S. 30 ff.; Felix Somló, Juristische Grundlehre, Leipzig 1917, S. 22 (obgleich Somló trotz seiner strengen Unterscheidung zwischen Sein und Sollen, mit seiner Konstruktion des relativen a priori den Rechtsbegriff der Juristen als einen Erfahrungsbegriff deutete; siehe hierzu Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, S. 179). Allgemein: Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, S. 198 ff. Jüngst Friederike Wapler, Werte und das Recht. Individualistische und kollektivistische Deutungen des Wertbegriffs im Neukantianismus, Diss. Göttingen 2007, Baden-Baden 2008, S. 42 für den südwestdeutschen Neukantianismus. 284 Ein sprechendes Zitat für den hier angesprochenen Vorgang findet sich bei Julius Binder, Kantianismus und Hegelianismus in der Rechtsphilosophie in: ARSP 20 (1926/27), S. 251–279, S. 277: Die Philosophie, so Binder, müsse dem Leben dienen, wenn sie überhaupt Philosophie sein will. „Deshalb vor allem habe ich ja den Formalismus in der Rechtsphilosophie bekämpft, den die Neukantianer betreiben und der freilich, indem er darauf ausgeht, aus der Wirklichkeit des Rechts tote Formeln herauszupräparieren, den Zusammenhang des Rechts mit der Ethik, und damit mit der Praxis und dem Leben zerreißt, und die Sehnsüchte unserer Zeit, das Verlangen nach gültigen Inhalten, nicht stillen kann. Dagegen glaube ich sagen zu dürfen, daß die hier entwickelte Auffassung, die Hegel zuerst in voller Klarheit verkündet hat […] imstande ist“ die aktuellen Probleme zu lösen; Binder ist hier eine paradigmatische Figur, da er selber in den 20er Jahren von neukantianischen Anschauungen zu Neuhegelianischen wechselte (siehe hierzu Eckart Jakob, Grundzüge der Rechtsphilosophie Julius Binders, Diss. Göttingen 1995, Baden-Baden 1996, S. 34 ff.; Ralf Dreier, Julius Binder (1870–1939). Ein Rechtsphilosoph zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, Göttingen 1987, S. 435–455). Die Wende zum Neuhegelianismus schildern Axel-Johannes Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsund Staatstheorie (1911–1934), Diss. 2008 Frankfurt am Main, Tübingen 2010, S. 24 ff. und Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, S. 273 ff. Aus der Binnenperspektive ihrer Zeit berichten folgende Autoren über die Wende zum Hegelianismus: Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, Tübingen 1921; Carl August Emge, Vernunft und Wirklichkeit bei Hegel, Riga 1926; Allgemeines zum Neuhegelianismus Kleiner, Art. Neuhegelianismus in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, 1984, Basel; Heinrich Levy, Die Hegel-Renaissance in der deutschen Philosophie. Mit besonderer Berücksichtigung des Neukantianismus, Berlin 1927; Aufschlussreich ist
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soll freilich nicht die Identität von Neuhegelianismus, Freirechtsschule, Rechtssoziologie, Interessenjurisprudenz und den Lebensdebatten unter den Richtern behauptet werden. Teilweise waren die genannten Strömungen und Bewegungen in sich selbst so uneinheitlich, dass man eher nicht von einer Schule sprechen sollte.285 Selbstverständlich ist auch, dass die Berufung auf das Leben jedes Mal zu ganz anderen, subjektiv geprägten, Ergebnissen führte.286 Und selbstverständlich war nicht jeder Anhänger von Lebensnähe automatisch ein Anhänger Spenglers.287 Relevant ist hier nur der kleinste gemeinsame Nenner, der in der Hinwendung zu den Tatsachen des Lebens und zu einer Forderung nach lebensnahem Recht zu sehen ist.
auch die Bestandsaufnahme von Neukantianern und Neuhegelianern bei Frits Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 2. Bd. Die Kulturstufen der Rechtsund Wirtschaftsphilosophie, München 1905, S. 410 ff. 285 So besonders deutlich für die Freirechtsschule Rückert, Vom „Freirecht“ zur freien „Wertungsjurisprudenz“, S. 205 ff.; siehe auch Jan Schröder, Zur Geschichte der juristischen Methodenlehre zwischen 1850 und 1933 in: RG 13 (2008), S. 160–175, S. 168, der darauf hinweist, dass die Unentbehrlichkeit der richterlichen Rechtschöpfung ohnehin als solche im 20. Jh. allgemein anerkannt war, was es schwierig mache „die Freirechtler von den Nichtfreirechtlern überhaupt noch zu unterscheiden“. 286 Hofer, Haarspalten, Wortklauben, Silbenstechen?, S. 115. 287 Es muss hier jedoch noch einmal betont werden, dass die hier genannten geistigen Strömungen bewusst nur nach ihrer Einstellung zur Wichtigkeit der „Lebenstatsachen“ dargestellt wurden. Daraus kann nicht geschlossen werden, dass jeder Rechtssoziologe, Interessenjurist, Freirechtler, Neuhegelianer oder jeder, der lebensnahe Richter forderte, zugleich ein glühender Verehrer Spenglers werden musste. Das zeigte sich bereits an den wenigen Hauptvertretern der genannten Strömungen, die sich in kurzen Passagen mit Spengler beschäftigen. So lehnte der Hegelianer Erich Kaufmann Spengler deutlich ab, ohne sich lange mit ihm zu beschäftigen. In seiner berühmte Streitschrift „Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie“ gibt es einen kurzen Hinweis auf Spengler „So wurde der Neukantianismus ohne es selbst zu ahnen, das Gegenteil dessen, was er wollte: der unmittelbare Wegbereiter jener an sich selbst verzweifelnden Spengler-Stimmung, der jüngsten Erkrankung unserer, einer Metaphysik des Geistes beraubten Volksseele“ (Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, S. 100). Nach Kaufmann hatte der Geist und Leben verachtende Neukantianismus Schuld an der kulturpessimistischen Stimmung, die sich in Spengler verkörpert habe. Für Kaufmann war Spengler insgesamt ein mittelbares Symptom des Neukantianismus. Der Interessenjurisprudenzler Phillipp Heck hielt es für unsinnig, Spenglers Begriffe in der Rechtsordnung anzuwenden, es sei denn, man könne sie als Interessenbegriffe interpretieren (Phillip Heck, Die Auslegung des § 817, S. 2 auf alle Bereicherungsansprüche in: AcP 124 (1922), S. 1–68, S. 68). Während der Freirechtler Fuchs stellenweise mit Spengler sympathisierte (Ernst Fuchs, Von scholastischer „Jurisprudenz“ zu erfahrungswissenschaftlicher Rechtskunst in: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur, 15 (1923/24), S. 98–114, S. 106), lehnte der Freirechtler Hermann Jsay jede juristische Beschäftigung mit Spengler ab (siehe hierzu unten S. 121).
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Das Thema Lebensnähe war also en vogue. Da Spengler sich selber auch deutlich für eine stärkere Angleichung des Rechts an das Leben aussprach, war es für Juristen plausibel, sich auf Spengler als einen potenten Mitstreiter zu berufen. Die Forderung nach lebensnahem Recht war freilich älter als Spengler, aber gerade dadurch fällt auf, dass Spengler hier auch als Schlagwortlieferant fungierte. Zwar enthielt sein Antonym „Statik“ – „Dynamik“ nicht die entsprechende Bedeutung. Da jedoch der Begriff „Dynamik“ allgemein populär war und grundsätzlich auch häufig die Bedeutung „flexibel“, „anpassungsfähig“, „beweglich“ oder bei der Lebensphilosophie auch „Lebensnähe“ annehmen konnte, erschien er einigen Autoren als ein geeignetes Schlagwort, um für ein lebensnahes Recht zu kämpfen. Auffällig ist dabei, dass vor 1918 bereits deutlich für lebensnahes Recht, aber noch kaum mit dem Leitbegriff „Dynamik“ gefochten wurde. Es muss also an Spengler gelegen haben, dass „Dynamik“ ein juristisches Schlagwort für lebensnahes, flexibleres Recht wurde. c) Dynamik als gemeinschaftlich orientiertes, dynamisches Recht Jedenfalls im Ergebnis lief der Verweis auf Spengler stets auf sozialeres, gemeinwohlorientierteres Recht hinaus. Einen deutlich auf den Kulturphilosophen beruhenden Ansatz vertrat hier der katholische Rechtsphilosoph Emil Erich Hölscher.288 Eine dynamische und damit ethische Rechtslehre liege vor, wenn das Leben und die Weltanschauung der jeweiligen Gemeinschaft im Recht berücksichtigt werden und die Gemeinschaft einen höheren Stellenwert habe als das Individuum. In seinem Aufsatz „Statisches und Dynamisches Recht“ verkündete er: Eine „(g)erechte, also auf dynamischem Rechtsdenken aufgebaute Gemeinschaftsregelung“ setze eine Weltanschauung voraus „die die Gemeinschaft als höheren und das Individuum als niederen Wert anerkennt.289 Hölscher gründete diese Vorstellung auf Spengler und setzte soziales Rechtsdenken mit dynamischem Rechtsdenken gleich. In dem Kapitel „Statisches und Dynamisches Rechtsdenken“ seines Buches „Vom römischen zum christlichen Naturrecht“ vertiefte er diese Ideen weiter.290 Die Beziehung zu den anderen Dynamikkonnotationen war bei Hölscher weniger ausgeprägt. Ob sein dynamisches Recht lebensnah oder abstrakt war, war ihm nicht so wichtig, wie der Bezug zur Gemeinschaft.
288
Siehe zum Spenglerbezug auch Petrig, Emil Erich Hölscher (1880–1935) und Karl Otto Petraschek (1876–1950), S. 113 ff.; Hölscher nennt Spengler ausdrücklich in Hölscher, Statisches und dynamisches Recht, S. 391. 289 Hölscher, Statisches und dynamisches Recht, S. 391 f. 290 Emil Erich Hölscher, Vom Römischen zum Christlichen Naturrecht, Augsburg 1931, S. 31 ff.
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Für andere Autoren war alles Körperlich-Statische zwangsweise mit dem Liberalen und das Funktional-Abstrakt-Dynamische zwangsweise mit dem Kollektiv-Sozialen verbunden. So schrieb Franz Jenny291, dass für das statische römische Recht lediglich das „Verhältnis von Person zur Sache“ von Interesse sei, und nicht wie im dynamischen germanischen Recht „die Beziehung von Person und Sache zur Umwelt“. Die neue Sichtweise der Dynamik lief hier nicht auf eine Abstraktion, sondern auf die Einbeziehung der Gesellschaft hinaus. Für Jenny ergab sich daraus als Konsequenz für das römische Eigentum die freie Herrschaftsmacht, die schließlich zum Individualismus geführt habe.292 Das germanische Eigentum sei dem gegenüber von Anfang an organisch in seine Umwelt eingebunden und „auf die Familie, die Nachbarn, den Verband und die Allgemeinheit bezogen“293 gewesen. Jenny berief sich auf Spengler, merkte jedoch zugleich auch an, dass es auf die „soziale Funktion“ des Eigentums ankomme und nicht auf den „schillernden und eher verwirrenden als klärenden dynamischen Eigentumsbegriff“.294 Ähnlich verstand auch Oppenheimer Spenglers Idee vom statischen Recht bei den Römern. Nach der statischen Auffassung „sei das Recht ein Recht von einzelnen isolierten Rechtsinstituten, ein Recht von ‚Körpern‘ wie Spengler es nennt“.295 Bei dieser Rechtsauffassung stehe „(d)as Ich“296 im Mittelpunkt. In der neueren sozialen dynamischen Rechtbetrachtung trete an die Stelle des Ichs die „Beziehung des Ichs zum Du“.297 So konnte Oppenheimer die Ablösung vom Körperlichen und die Hinwendung zu einem kollektiven Rechtsdenken in einem Gedanken zusammenfassen. Auch Fehr zog eine ähnliche Verbindung zwischen Unkörperlichkeit und sozialem Rechtsdenken. Er schrieb: „Der statische Begriff siege. Nach der Aufnahme des römischen Rechts erscheint das Eigentum immer deutlicher als körperhafte Größe. Sein Inhalt wurde grundsätzlich für schrankenlos erklärt. Jede Einengung galt ihm als wesensfremd“.298 Dabei klang eine Kausalität zwischen Körperhaftigkeit und Schrankenlosigkeit deutlich an: Weil das Eigentum körperhaft war, kannte es keine Schranken. Fehr zeichnete nun nach, dass durch den Krieg dieses Bild ins Wanken geraten sei, wobei er keinen Hehl daraus machte, dass er die neue Entwicklung zu einem sozialeren Eigentumsverständnis begrüßt: „Die dynamische Lehre hat durchaus Recht: es kommt nicht auf die Substanz, sondern auf die Funk291
Jenny, Wandlung des Eigentumsbegriffes, S. 23 ff. Jenny, Wandlung des Eigentumsbegriffes, S. 43. 293 Jenny, Wandlung des Eigentumsbegriffes, S. 45. 294 Jenny, Wandlung des Eigentumsbegriffes, S. 46. 295 Oppenheimer, Der Gesetzesmissbrauch, S. 37. 296 Oppenheimer, Der Gesetzesmissbrauch, S. 37. 297 Oppenheimer, Der Gesetzesmissbrauch, S. 37. 298 Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 100. 292
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tion an. Funktionell aber ist dieses Eigentum heute verstaatlicht.“299 Fehr empfand die Verwebung zwischen privatrechtlichem und staatlichem Eigentum bereits als so stark, dass eine Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht in Deutschland nicht mehr sinnvoll erschien.300 Gerne wurde auch auf Art. 153 Abs. 3 WRV hingewiesen. Dieser legte fest: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste“. Krüger, der über den Eigentumsbegriff der WRV promovierte, schrieb, dass uns diese Norm die „Dynamik des Eigentums“ zeige, da Art 153 Abs. 3 WRV „einem Uebermaß der Ausnutzungsmöglichkeiten“ entgegentrete.301 Ähnlich sah dies auch Hans Fehr.302 Hedemann pflichtete bei, dass Art. 153 Abs. 3 WRV ein „Exponent der jüngsten Entwicklung“303 sei, ohne in diesem Zusammenhang jedoch auf die dynamische Rechtslehre hinzuweisen. Der Arbeitsrechtler Heinz Potthoff schließlich führte Spengler und dessen dynamisches Rechtsdenken vor allem an, um für ein sozialeres Individual- und Kollektivarbeitsrecht zu argumentieren.304 aa) Abgleich mit der Begriffsverwendung von Spengler Hier kann noch deutlicher als bei der Frage des lebensnahen Rechts gesagt werden, dass Spengler grundsätzlich mit den Begriffen „Dynamik“ und „Statik“ in keiner Weise für oder gegen ein liberales oder soziales Recht argumentieren wollte. Zugleich war Spengler aber auch eindeutig einer der deutlichsten Verfechter eines konservativen sozialistischen Ideals. Wie dies zusammenpasst, soll im Folgenden erläutert werden. Im „Untergang des Abendlandes“ stellte Spengler fest, dass jede Kultur in ihrer 1000jährigen Entwicklung parallele Stationen durchlaufe, um dann schließlich in die Phase der Zivilisation überzugehen, die wiederum in parallel verlaufende Entwicklungsabschnitte eingeteilt werden könne. Die Zivilisationsphase einer jeden Kultur habe aber ihren eigenen Charakter. Während die Zivilisation der Antike durch den Stoizismus geprägt gewesen sei, werde die Zivilisation des Abendlandes durch den Sozialismus geprägt. Das Abendland befand sich laut Spengler in seiner Gegenwart in dem Übergang von der letzten Kulturphase in die erste Zivilisationsphase 299
Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 113. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 94. 301 Alle Zitate von Krüger, Der Eigentumsbegriff nach der Reichsverfassung vom 11. August 1919, S. 36. 302 Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 113. 303 Justus Wilhelm Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX. Jahrhundert, 2. Teil, 1. Hälfte, Berlin 1930, S. 248. 304 Siehe Potthoff, Faustisches Arbeitsrecht; ders., Weltanschauliche Grundlagen des Arbeitsrechtes. 300
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und somit zu einem Übergang zum Sozialismus.305 Nach Spengler erfolgte demnach kulturmorphologisch notwendig der Übergang in ein sozialistisches Zeitalter. In der hektisch zusammengeschriebenen306 politischen Schrift „Preußentum und Sozialismus“ von 1919 war der preußische Sozialismus dem englischen Liberalismus und dem französischen Hedonismus gegenübergestellt.307 Das Sinnbild für die englische Auffassung vom Eigentum war bei Spengler der Begriff des Kapitals, so wie er negativ im Marxismus gebraucht werde. Es ging dem von Spengler gezeichneten Engländer also um die produktive Kraft im privaten Eigentum, die wirtschaftlich genutzt wird, um weiteres privates Eigentum anzuhäufen. Der englische Individualismus bzw. Liberalismus, der nach Spengler dem englischen Wesen immanent sei, kehrte damit in der Auffassung vom Eigentum als private „Beute“308 wieder. Der von Spengler gezeichnete soziale Preuße sehe das Eigentum hingegen als einen „Auftrag der Allgemeinheit“, als ein „anvertrautes Gut, für dessen Verwaltung der Eigentümer dem Staat Rechenschaft schuldig ist“.309 Das Eigentum nach preußisch-sozialem Verständnis sei daher mit einer Vielzahl von Rechten und Pflichten verbunden.310 Hier zeigte sich deutlich, dass Spengler die kollektivistische Idee in den Dienst einer starken staatlichen Gemeinschaft stellte. Er distanzierte sich daher von Marx, nach dessen reiner Lehre nach der Diktatur des Proletariats der Staat ganz 305
Siehe UdA, Bd. I, Tafeln, S. 70 ff.: Unter dem Punkt 14. „Das Ende: Ausbreitung einer letzten Weltstimmung“ definiert Spengler den Zivilisationszustand von vier Kulturen. Die indische Kultur erlebt die Zivilisation im Buddhismus ab 500 v. Chr. Die Antike geht über in den Stoizismus ab 200 v. Chr. Die magisch-islamische Kultur geht über in den „praktischen Fatalismus“, so Spengler, und zwar etwa 1000 n. Chr., während sich im Abendland seit Ende des 19. Jhs. der „ethische Sozialismus“ verbreitet. Vgl. dazu auch das Kapitel Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus (UdA, Bd. I, Kapitel V, Abschnitt II 1–18, S. 437 ff.). 306 Vgl. die Briefe von Spengler aus dieser Zeit, insbesondere den Brief an Hans Klöres vom 27.11.1919, in dem Spengler schreibt: „Ich habe soeben meine politische Schrift fertiggemacht, unter dem übelsten Nervendruck, da jedes Blatt sofort in die Druckerei kam. Ich bin nicht zum Journalisten geboren und habe infolgedessen in vier Wochen 500 Seiten Reinschrift in folio und wieder gestrichen, um 100 Druckseiten in lesbarem Deutsch zustande zu bringen.“ (Spengler, Briefe, S. 146 f.). 307 Man bemerke den Bruch zu seinen Ausführungen im Untergang des Abendlandes, wo Spengler einen gesamten, einheitlichen Sozialismus für das ganze Abendland, also auch England und Frankreich vorgesehen hatte. Als er dies schrieb, machte er sich noch Hoffnungen auf einen Sieg des Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg. Diese Hoffnung war freilich 1919, als er Preußentum und Sozialismus abfasste, bitter enttäuscht. Aus dieser Enttäuschung heraus konnten nun auch andere abendländische Nationen als Gegenbild Deutschlands fungieren. 308 Spengler, Preußentum und Sozialismus, S. 92. 309 Spengler, Preußentum und Sozialismus, S. 92 f. 310 Spengler, Preußentum und Sozialismus, S. 95 f.
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überflüssig werde. Spengler wollte „den deutschen Sozialismus von Marx [ ]befreien“311. Er verlangte zudem, dass in Preußen, und damit in Deutschland, der Arbeiter zum „Wirtschaftsbeamten“ und der Unternehmer ein „Verwaltungsbeamter“ werden solle.312 Der Staat solle jedoch dem einzelnen Unternehmer nicht im Sinne eines zu erfüllenden Plans vorschreiben, wie ein Unternehmen zu führen sei. Vielmehr soll dem Unternehmer ein weiter Handlungsspielraum zugebilligt werden. Um zu verdeutlichen, in welcher Beziehung der Unternehmer zum Staat stehen solle, griff Spengler auf das Bild eines mittelalterlichen Lehennehmers zurück. Das Eigentum nach preußisch-sozialem Verständnis sei aufgrund des lehenähnlichen Verhältnisses mit einer Vielzahl von Rechten und Pflichten Verbunden. Dadurch soll der wirtschaftliche Wille ein gewisses Maß an Freiheit haben, welche den Handlungsspielraum eines planwirtschaftlich gesteuerten Akteurs weit übersteigt.313 Damit ist Spenglers Konzeption vom Sozialismus im Groben zusammengefasst. Es muss festgehalten werden, dass er sich in den über 100 Seiten „Preußentum und Sozialismus“ und in etlichen weiteren Kapiteln im „Untergang des Abendlandes“ mit sehr vielen Detailaspekten des Sozialismus beschäftigte. Es muss aber gleichzeitig darauf hingewiesen werden, dass sämtliche Juristen, die sich unter Hinweis auf Spengler für ein sozialeres Rechtsdenken einsetzten, keine einzige dieser Passagen zitierten. Darüber hinaus muss festgehalten werden, dass Spengler nur an ganz wenigen Stellen im „Untergang des Abendlandes“ und an keiner einzigen Stelle in „Preußentum und Sozialismus“ den Begriff Dynamik in Verbindung mit Kollektivismus gebracht hat. In seiner dreißigseitigen Rechtsgeschichte wiederum ist kein Wort von gemeinwohlorientiertem Rechtsdenken und einem kollektiven Verwaltungswirtschaftsrecht zu lesen. Die hier untersuchten, größtenteils zivilrechtlichen Juristen zitierten allenfalls Stellen aus Spenglers kurzer Rechtsgeschichte. In den meisten Fällen wurde nur der eine schlagwortgebende Satz zitiert, nachdem die Aufgabe des Abendlandes in einer rechtlichen Dynamik bestand. Dass alles führt zu dem Schluss, dass die Juristen nicht über das Vehikel des Begriffs „Dynamik“ kollektivistische Ideen von Spengler übernommen hatten. Allenfalls bestand im Hintergrund eine diffuse Allgemeinbildung darüber, dass Spengler für den Sozialismus, aber gegen Marx sei. Das kollektivistische 311
Spengler, Preußentum und Sozialismus, S. 4. Spengler, Preußentum und Sozialismus, S. 95. Siehe die ähnliche Vorstellung von einem Germanenverband als freie Republik mit den Fürsten als gewählte Beamte bei Georg Waitz (Hinweis bei Kroeschel, Germanisches Recht als Forschungsproblem in: Kroeschel (Hrsg.), Festschrift für Hans Thieme, Sigmaringen, S. 4, insbesondere mit Hinweis auf Heinrich Mitteis). 313 Spengler, Preußentum und Sozialismus, S. 95 f. 312
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Programm, welches die Juristen mit dem schillernden Etikett der Dynamik versahen, und die Abneigung gegen den Liberalismus, der nun plötzlich statisch wurde, kam nicht von Spengler. Er ist vielmehr im allgemeinen Zeitgeist des juristischen und allgemeinen Denkens, der aus zwei für die Spenglerrezeption bedeutsamen, miteinander verwobenen Elementen bestand, zum einen die allgemeine Forderung nach einem sozialeren Rechtsdenken und zum anderen die Ablehnung des römischen Rechts als zu liberalistisch. bb) Die Forderung nach einem gemeinwohlorientierten Recht im Spiegel der Zeit Auch ohne dem älteren Bild vom streng liberalen 19. Jh. Vorschub zu leisten, kann festgestellt werden, dass im Verlauf des späten 19. Jhs. und in der ersten Hälfte des 20. Jhs. die Forderung nach „sozialeren“ Lösungen immer stärker wurden.314 Freilich wurde der Gegensatz zwischen liberalem und sozialem Recht schon früher diskutiert315 und freilich trat auch in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. dieses Thema immer wieder in den Mittelpunkt.316 Jedenfalls empfanden Spenglers Zeitgenossen ihr Denken aber als besonders gemeinschaftsbezogen im Gegensatz zu einer liberalen früheren Zeit. Insbesondere die Publikation des ersten BGB-Entwurfes 1888 löste eine große Debatte über die sozialen Aufgaben des Rechts aus.317 In der Rechtsprechung äußerte sich dies unter anderem in der zunehmenden Ein-
314
Nicht zuletzt durch den „Gründerkrach“ von 1873 bzw. die darauf folgende große Depression, in der deutsche Aktiengesellschaften schlagartig fast die Hälfte ihres Wertes von 1872 verloren, war der wirtschaftliche Liberalismus auf dem Rückzug. Gleichzeitig führte der politische Druck von den mehr und mehr organisierten Arbeitern, die ein enormes soziales Elend zu ertragen hatten, zur Einführung der ersten Sozialversicherungen (1883 Krankenversicherung, 1884 Unfallversicherung, 1889 Alters- und Invalidenversicherung). Siehe dazu auch Dieter Ziegler, Das Zeitalter der Industrialisierung in: Michael North (Hrsg.), Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, 2. Aufl., München 2005, S. 20 ff.; siehe auch Rolf Walter, Wirtschaftsgeschichte, Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart, 4. Aufl., Köln 2003, S. 128 ff.; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1 München 1990, S. 335 ff.; aus rechtshistorischer Perspektive: Joachim Rückert, „Frei und Sozial“ als Rechtsprinzip, Baden-Baden 2006, S. 25 ff.; Stolleis, Gemeinwohlformeln, S. 12 ff. 315 Siehe Klaus Luig, „Römische und germanische Rechtsanschauung, individualistische und soziale Ordnung“ in: Joachim Rückert/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, Tübingen 1995, S. 95–137. 316 Siehe Rückert, „Frei und Sozial“ als Rechtsprinzip, S. 6 ff. 317 Siehe hierzu Tilman Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Tübingen 2001, S. 25 ff., 50 ff.; Joachim Rückert, Das BGB und seine Prinzipien in: HKK Bd. 1, vor § 1, S. 96 ff. m.w.N.; ders., „Frei und Sozial“ als Rechtsprinzip, S. 25 f.
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schränkung der Vertragsfreiheit, etwa im Rahmen der AGB-Kontrolle.318 Das vielen zu wenig sozial konzipierte BGB wurde von Wieacker als eine Spätgeburt des Liberalismus bezeichnet.319 Im Ersten Weltkrieg trat unter dem Gewand der Gemeinschaft der Wunsch hervor, das menschliche und industrielle Wehrpotenzial möglichst wirksam dem Staat zur Verfügung zu stellen.320 Dies führte dazu, den Krieg als Motor der Sozialpolitik zu betrachten.321 Für das rechtliche Denken spielte das interventionalistische Kriegsverwaltungsrecht in seinen bis dato nie dagewesenen Ausmaßen eine wichtige Rolle.322 Aufgrund der vielen kriegsbedingten Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen war der Niedergang des liberalen Eigentums in der Kriegszeit täglich „spürbar“.323 Die Demobilmachung zur Überführung der Kriegswirtschaft in eine Friedenswirtschaft, insbesondere zur Integration von Millionen von Kriegsheimkehrern wurde durch „eine Art
318
Siehe hierzu insgesamt Sibylle Hofer, Begriff der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und richterliche Inhaltskontrolle in HKK Bd. II/2, §§ 305–310, S. 1413 ff. 319 Siehe hierzu Joachim Rückert, Das Bürgerliche Gesetzbuch – ein Gesetzbuch ohne Chance? In JZ 2003, S. 749–760, der darauf hinweist, dass dieses Bild der Spätgeburt selber kontextualisiert betrachtet werden muss, da die „Liberalismusattacken“ (S. 750) aus der Zeit vor und nach 1933 stammen. Das aus heutiger Perspektive neu beurteilt werden muss, wie sozial oder liberal das BGB ist und war, ändert aber jedenfalls nichts an der Tatsache, dass man im Untersuchungszeitraum ein soziales Gemeinschaftsrecht anstrebte und das BGB ganz überwiegend für zu wenig sozial gehalten wurde. 320 Die Strategie der „Materialschlacht“, die im Ersten Weltkrieg zum Tragen kam, war durchaus neu. Im Gegensatz zum Krieg von 1870/71 wurde der Wirtschaftsablauf 1914 völlig auf die Produktion von kriegswichtigen Gütern und die Sicherung der Volksernährung umgestellt. Privater Konsum wurde rigoros beschränkt. Die Beschneidung der wirtschaftlichen Freiheiten war enorm, die Unternehmen wurden in hohem Maße vom Staat gesteuert. Siehe hierzu Walter, Wirtschaftsgeschichte. Köln 2003, S. 132 ff. 321 So etwa Eckart Reidegeld, Staatliche Sozialpolitik in Deutschland, Bd. I, Von den Ursprüngen bis zum Untergang des Kaiserreiches 1918, 2. Aufl., Wiesbaden 2006, Kapitel 6: „Der erste Weltkrieg als Entwicklungsbedingung staatlicher Sozialpolitik“, S. 281– 342; Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, S. 207 ff.; Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 44, betont allerdings, dass nach dem Krieg die gemeinwirtschaftlichen Zwecke wieder durch sozialpolitische Idee verdrängt worden seien. 322 Heinrich Dörner, Erster Weltkrieg und Privatrecht, Rechtstheorie 17 (1986), S. 385 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 65–72; ders., Die Entstehung des Interventionsstaates und das öffentliche Rechts in ZNR 1989, S. 129–147, S. 143 ff.; Keiser, Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, S. 39. Die Stimmung dieser Zeit dürfte Justus Wilhelm Hedemann, Der Krieg als Lehrmeister auf dem Gebiet des Rechts in: Vorträge der Gehe-Stiftung zu Dresden, Band VIII, Heft 4, Leipzig und Dresden 1917, S. 53–24, gut wiedergeben; so auch Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 43 f. 323 Vgl. die Beispiele bei Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 68.
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behördliche Wirtschaftsdiktatur“324 erledigt. Nach dem Krieg wurden wirtschaftspolitisch unter dem Stichwort „Gemeinwirtschaft“ neue soziale Wirtschaftsmodelle debattiert.325 In diesem Kontext wurde auch vorgeschlagen, Elemente des Demobilmachungsrechts dauerhaft zur Steuerung der Wirtschaft beizubehalten.326 Der soziale Zeitgeist fand sich auch im juristischen Denken der Weimarer Republik,327 und noch wesentlich radikaler in rechtlichen Konzeptionen des Nationalsozialismus wieder.328
324
Knut Wolfgang Nörr, Das Unternehmen in der Wirtschafts- und Rechtsordnung 1880 bis 1930. Ein Beitrag zur Morphologie der organisierten Wirtschaft, in Helmut Coing u.a. (Hrsg.), Staat und Unternehmen aus der Sicht des Rechts, Tübingen 1994, S. 15–34, S. 23. 325 Matthias Schmoeckel, Geschichte des Wirtschaftsrechts, Tübingen 2008, S. 451 ff. Publizistisch wirkungsmächtig war hier vor allem Walter Rathenau (Walter Rathenau, Vom Aktienwesen. Eine geschäftliche Betrachtung, Berlin 1917; ders., Probleme der Friedenswirtschaft, Berlin 1917; ders., Neue Wirtschaft, Berlin 1918; ders., Deutsche Rohstoffversorgung, Berlin 1918; ders., Aufbau der Gemeinwirtschaft in: Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums, Jena 1919; siehe zu Ratenau nun Christian Schölzel, Walter Rathenau. Eine Biographie, Paderborn 2006 und Wolfgang Brenner, Walther Rathenau. Deutscher und Jude, München 2005.). Seine Schriften aus dieser Zeit bildeten die Grundlage für die aktienrechtliche Figur des „Unternehmens an sich“ (siehe hierzu Riechers, Das „Unternehmen an sich“, S. 7 ff. und Frank Laux, Die Lehre vom Unternehmen an sich. Walter Rathenau und die Aktienrechtliche Diskussion in der Weimarer Republik, Diss. Bielefeld 1997, Berlin 1998, S. 61 ff.). Laut Riechers bestand auch ein Einfluss von Spengler auf einige juristische Autoren des Unternehmens an sich (Riechers, Das „Unternehmen an sich“, S. 52 f. und 65 f.). 326 Nörr, Das Unternehmen in der Wirtschafts- und Rechtsordnung 1880 bis 1930, S. 23. 327 Vgl. die Reden von Justus Wilhelm Hedemann, Das Bürgerliche Recht und die neue Zeit, Jena 1919. Siehe hierzu auch Jan Schröder, Kollektivistische Theorien und Privatrecht in der Weimarer Republik am Beispiel der Vertragsfreiheit in: Nörr/Schefold/ Tenbruck (Hrsg.) Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik. Zur Entwicklung von Nationalökonomie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft im 20. Jh., Stuttgart 1994, S. 335–359; zum sozialen Denken der Freirechtler der Weimarer Zeit Rückert, Vom „Freirecht“ zur freien „Wertungsjurisprudenz“, S. 216 ff., insbes. S. 219. 328 Siehe nur Keiser, Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, insbesondere S. 37 ff. und S. 211 ff.; Stolleis, Gemeinwohlformeln; Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 5. Aufl., Heidelberg 1997, hier etwa S. 329 ff. (Abhängigkeit der Rechtsfähigkeit von der Stellung als Glied in einer konkreten Gemeinschaft), S. 339 ff. (Bekämpfung des subjektiven Rechts), S. 351 (Pflichtenbindung des Eigentums); Rüdiger Hütte, Der Gemeinschaftsgedanken in den Erbrechtsreformen des Dritten Reiches, Diss. Bielefeld 1987, Frankfurt am Main, 1988; zur Projektion von sozialen Vorstellungen in die Rechtsgeschichte Andrea Nunweiler, Das Bild der deutschen Rechtsvergangenheit und seine Aktualisierung im „Dritten Reich“, Diss. Hannover 1994, Baden-Baden 1996, S. 312 f., S. 329.
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Schröder hat bereits darauf hingewiesen, dass Spengler insgesamt wichtig für dieses Denken war.329 Auch die neu geschaffene Weimarer Reichsverfassung enthielt deutlich soziale Wertungen.330 Obwohl die Grundeinstellung der Zeit bereits generell ein sozialgebundenes, mit Pflichten gegenüber der Gemeinschaft versehenes Eigentumsverständnis bevorzugte, so waren Stimmen, die Art. 153 Abs. 3 WRV eine rechtliche Bedeutung zugemessen haben, während der Weimarer Zeit noch nicht so verbreitet.331 Zwar wurde Art. 153 Abs. 2 WRV, der Enteignungen regelte, intensiv diskutiert,332 Abs. 3 war in den Augen der meisten Wissenschaftler aber wohl nur „eine Richtschnur, von welcher der Gesetzgeber […] sich leiten lassen soll“.333 Trotzdem maß das Reichsgericht § 903 BGB bereits früh am Maßstab des Art. 153 Abs. 3 WRV und zog diese Verfassungsnorm in einer Entscheidung heran, um den Grundsatz von Treu und Glauben zu konkretisieren.334 An dem Kommentar dieses Urteils in der Juristischen Wochenschrift erkennt man aber gut, dass viele Juristen noch nicht davon ausgingen, dass es legitim sei, 329
Schröder, Kollektivistische Theorien und Privatrecht in der Weimarer Republik, S. 351. 330 Vor allem Art. 153 Abs. 3 WRV: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das gemeine Beste“. Kroeschell bezweifelt allerdings, dass diese Verfassungsvorschrift eine Umwertung der zivilrechtlichen Eigentumsordnung bewirkt hat (Kroeschell, Die nationalsozialistische Eigentumslehre, S. 48 f.); siehe auch Jan Schröder, Zum Gesetzespositivismus in der Rechtsprechung des Reichsgerichts in: Gerald Kohl, Christian Neschwara, Thomas Simon (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive, Wien 2008, S. 603–614, S. 610 ff. Schröder weist darauf hin, dass es in der Weimarer Republik noch höchst umstritten war, ob ein Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit hin überprüft werden könne. 331 Siehe etwa Kroeschell, Die Nationalsozialistische Eigentumslehre, S. 49, der darauf hinweist, dass nur Fehr und Hedemann in Weimarer Zeit behauptet hätten, „die Weimarer Reichsverfassung“ habe „eine Umwandlung der Eigentumsordnung bewirkt.“ Siehe zu der verwandten Frage der Vertragsfreiheit (Art. 152 WRV) Schröder, Kollektivistische Theorien und Privatrecht in der Weimarer Republik, S. 603. Auch Schröder kommt zu dem Ergebnis, dass die verfassungsrechtliche Verankerung der Vertragsfreiheit kaum in der Lehre diskutiert wurde (S. 620). Allerdings weist Schröder an anderer Stelle darauf hin, dass das Reichsgericht bereits sehr früh ein richterliches Prüfungsrecht anerkannte. In der Praxis des Gerichts ging das Verfassungsrecht dem einfachen Recht vor. So verwarf das Reichsgericht etwa 1929 ein Gesetz wegen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Schröder, Zum Gesetzespositivismus in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, S. 612 f.). 332 Siehe hierzu nur Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 8. Aufl., 1928, Art. 153 Nr. 6–10, S. 398–404 mit viele Nachweisen aus der Rechtssprechung; so auch Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 10. 333 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 153, Nr. 11, S. 404; Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 9. 334 RG JW 1926, 980 f.; Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 10, Fn. 42.
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unter Berufung auf die Verfassung und Treu und Glauben, „den Vertrag oder das Gesetz durch Auffassung eines sozialen Ideals […] zu korrigieren.“335 Das war für die Zeit vor 1933 wohl die herrschende Ansicht.336 Ein bedeutender Schritt auf dem Weg § 242 BGB zu einem Umwertungsinstrument im Sinne einer Gemeinwohlorientierung und Pflichtenbindung zu machen, war Oppenheimers Dissertation über den Gesetzesmissbrauch, der neben der dogmatisch bald erfolgreichen Theorie der Innenschranken des Rechts von Gierkes auch die dynamische Rechtslehre nach Spengler ins Feld führte.337 Art. 153 Abs. 3 WRV sah Oppenheimer dabei allerdings nicht als relevant an. cc) Gängiges Bild des römischen Rechts als Projektionsfläche des Statikbegriffs Das römische Recht hatte in der Weimarer Republik einen äußerst schlechten Ruf. Es war aus germanistischer Sicht schon seit 1850 üblich das römische Recht als liberalistisch und damit antisozial zu bezeichnen, ohne dass dies häufig ausführlich anhand von Originalzitaten aus den Digesten belegt worden wäre.338 Die Antithese vom sozialen germanischen und materialistisch-liberalen römischen Recht fand in Gierke einen wirkungsmächtigen Protagonisten. In seiner berühmten Rede „Die soziale Aufgabe des Privatrechts“ von 1889 setzte er sie als selbstverständlich voraus.339 Auch nach Inkrafttreten des BGB gab es viele Stimmen, welche die Rezeption generell verurteilten.340 Die kommenden Generationen behandelten den Gegensatz vom sozialen germanischen und materialistisch-liberalen römischen Recht faktisch als Naturkonstante, die besonders ab 1933 im Rahmen von
335
Erich Molitor, Anmerkungen zu RG U. v. 15, Jan. 1926 300/25 VI. in JW 55 (1926), S. 980 f., dieses Zitat entnahm Molitor Siber-Planck, BGB, S. 41 zu § 242. 336 Siehe HKK/Haferkamp, § 242, Rn. 67 ff. 337 HKK/Haferkamp, § 242, Rn.70 m.w.N. 338 Siehe zur Geschichte des Liberalismusvorwurfes gegenüber dem römischen Recht Luig, „Römische und germanische Rechtsanschauung, individualistische und soziale Ordnung“, S. 95–137. 339 Otto von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts in: Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Hrsg. Erik Wolf, Frankfurt/Main 1950, S. 478– 511, S. 503. 340 So etwa der Freirechtler Ernst Fuchs, Juristischer Kulturkampf, Karlsruhe 1912, S. 89 ff., insbesondere S. 96, der Germanist Brunner, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 7. Aufl., München 1921, S. 265 („ein nationales Unglück war jenes engherzige Ignorieren des deutschen Rechtes, jenes geistlose und rein äußerliche Aufpfropfen römischer Rechtssätze auf einheimische Verhältnisse, die Unkenntnis des Gegensatzes zwischen diesem und dem römischen Rechte, welche taub machten gegen die Wahrheit, dass kein Volk mit der Seele eines anderen zu denken vermag“).
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nationalsozialistischem Rechtsdenken Hochkonjunktur hatte.341 Ein besonders populäres Beispiel war das NSDAP-Parteiprogramm von 1920, welches in Programmpunkt 19 verlangte, dass „das der materialistischen Weltordnung dienende römische Recht durch ein deutsches GemeinRecht“342 ersetzt werden solle. Zudem wurde das Schimpfwort der Begriffsjurisprudenz – welches auch immer für ein liberales, konstruiertes und lebensfremdes Recht stand – dabei von Anfang mit römischem Recht identifiziert.343 Insbesondere auf diese Mühlen der Ablehnung des liberalen römischen Rechts goss Spengler Wasser, wenn er sich gegen die „Ideologen des römischen Rechts“ wendete, „welche das Corpus Juris wie ein Heiligtum gegen die Wirklichkeit verteidigen.“344 Er schrieb ausdrücklich: „Das Wort Eigentum ist in unserem Denken mit der antiken statischen Definition behaftet und fälscht deshalb in allen Anwendungen den dynamischen Charakter unserer Lebensführung.“345 Nur muss dabei wiederum beachtet werden, dass Spengler in seiner 30-seitigen Geschichte des Rechts nirgendwo schrieb, dass das römische Recht liberal gewesen sei. Auch sonst findet sich diese Aussage nirgends. Er konstruierte das römische Recht und das abendländische Recht zwar als gegenteilige Ansätze – das eine substanzhaft statisch, das andere abstrakt dynamisch – aber er selber reicherte die beiden Gegenpole nicht mit dem aus seiner zeitgenössischen Literatur vorherrschenden Differenz zwischen sozial-germanischem Recht und liberalistisch-römischem Recht an. Diese Aufgabe übernahmen seine juristischen Rezipienten für ihn.
341
Stolleis, Gemeinwohlformeln, S. 12–23. Alfred Rosenberg, Wesen, Grundsätze und Ziele der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, München 1923, S. 36. Siehe hierzu Peter Landau, Römisches Recht und deutsches Gemeinrecht. Zur rechtspolitischen Zielsetzung im nationalistischen Parteiprogramm in: Michael Stolleis/Dieter Simon (Hrsg.) Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Disziplin, Tübingen 1989, S. 11–24. 343 So galt der Pandektist Puchta teilweise bis in jüngste Zeit als die Ikone der Begriffsjurisprudenz (siehe Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die Begriffsjurisprudenz, S. 5 ff.). Repräsentativ ist wohl auch der Streit um die Begriffsjurisprudenz in der DJZ 1909. Hier greift Fuchs verschiedene Pandektisten als Begriffsjuristen an (siehe hierzu ebenfalls, Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die Begriffsjurisprudenz, S. 79 ff.). Der „Erfinder“ der „Begriffsjurisprudenz“, Rudolf von Jhering, der von sich angab, als junger Mann selber der Begriffsjurisprudenz verfallen gewesen zu sein, war ebenfalls Romanist (Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die Begriffsjurisprudenz, S. 26 ff.). 344 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 18, S. 90. 345 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 96. 342
III. Dynamikkonnotationen in der Spenglerrezeption der Weimarer Zeit
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dd) Ergebnis Bei den Juristen, die Spengler zitierten, um für ein soziales Rechtdenken zu argumentieren, wurde der Begriff Dynamik von Spengler hauptsächlich als Schlagwort übernommen. Es ging den Juristen nicht darum, die konkreten spenglerschen Sozialismuskonzepte in rechtliche Debatten einzuführen. Sie nahmen das populäre Schlagwort und verbanden es neu mit der allgemein starken Gemeinwohlströmung und der damit verwobenen Ablehnung des römischen Rechts. Sie gehörten zu den Ersten, die Art 153 Abs. 3 WRV auf das Zivilrecht anwenden wollten (vor allem Fehr und Hedemann) und sie hatten mit Oppermann einen Autor in den eigenen Reihen, der in seiner für die soziale „Umwertung“ des Zivilrechts bedeutsamen Dissertation auf Spengler und die Dynamik verwies. Obwohl Spenglers Konzepte hier kaum übernommen wurden, hatten seine Schlagwortbegriffe offenbar die Wirkung, die – ohnehin vorhandene – Ablehnung des römischen Rechts und die Hinwendung zu etwas Gemeinwohlorientiertem noch zu steigern. d) Dynamik als Funktion Ein letztes, in diesem Kontext besonders häufig aufgetretenes Schlüsselwort muss noch untersucht werden: Funktionalität bzw. funktionales Recht. Wieder einmal drückte Hans Fehr dies paradigmatisch für die auf Spengler fußenden Dynamiker aus: „Die dynamische Lehre hat durchaus Recht: Es kommt nicht auf die Substanz, sondern auf die Funktion an.“346 Auch Swoboda nannte das dynamische Rechtsdenken oft in einem Atemzug mit der „funktionalen Auffassung vom Recht“347. Manfred Bott-Bodenhausen schrieb etwas nebulös, dass nach der substantiellen Anschauung Eigentum „ist“, aber nach der funktionellen Auffassung Eigentum „gilt“.348 Weiter erläuterte er: „Im Funktionalismus handelt es sich um Rechtsgeltung einer Rechtsbeziehung als Funktion einer Rechtsenergie“.349 Diesen Satz hielt Callmann wiederum für eine solche Offenbarung, dass er ihn wörtlich in seinem UWG-Kommentar übernahm.350 Hedemann wusste 1935 – freilich bereits unter nationalsozialistischen Vorzeichen – zu berichten, dass „(s)ehr häufig […] ungefähr gleichbedeutend mit dem Dynamischen, an die ‚Funktion‘ oder das ‚Funktionieren‘ des Rechts appel-
346
Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 112 f. Swoboda, Das Privatrecht der Zukunft, S. 132 ff. 348 Bott-Bodenhausen, Formatives und funktionales Recht in der gegenwärtigen Kulturkrisis, S. 85. 349 Bott-Bodenhausen, Formatives und funktionales Recht in der gegenwärtigen Kulturkrisis, S. 83. 350 Callmann, Der unlautere Wettbewerb, S. 88. 347
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
liert“351 werde. Franz Jenny merkte an, dass es auf die „soziale Funktion“ des Eigentums ankomme und nicht auf den „schillernden und eher verwirrenden als klärenden dynamischen Eigentumsbegriff“.352 Allen genannten Autoren war gemein, dass sie sich an den angegebenen Stellen auf Oswald Spengler beriefen. Der Kulturphilosoph bezeichnete auch das funktionale Denken als eine Eigenart der abendländischen Kulturseele. Der von der Naturwissenschaft kommende Spengler drückte mit dem Begriff „Funktion“ zunächst das Zahlenverständnis des Abendlandes aus. Im Gegensatz zur antiken Zahl als messbarer Größe, die sich an den körperlichen Gegebenheiten der Natur orientiert habe,353 sei aus dem abendländischen Weltgefühl „die Idee einer Zahl, die aus dem leidenschaftlichen faustischen Hang zum Unendlichen geboren“354 worden. Der faustische Mensch, der alles Sichtbare „beinahe als eine Wirklichkeit zweiten Ranges empfunden“355 habe, suchte und fand ein neues Symbol für seine Zahl, so Spengler: „Sein Symbol ist der entscheidende, in keiner anderen Kultur angedeutete Begriff der Funktion.“356 Dies wendete Spengler auch im Recht an. Eine Verdichtung seiner Rechtsgeschichte fand sich auch in dem Satz: „Das antike Recht war ein Recht von Körpern, unser Recht ist das von Funktionen.“357 Der Aufruf, eine juristische Dynamik zu schaffen, war also schon bei Spengler verknüpft mit der Vorstellung, das abendländische Recht sei ein Recht von Funktionen. Deswegen sagte Spengler auch, dass das Abendland nach den „funktionalen Begriffen der Arbeitskraft, des Erfinder- und Unternehmergeistes, der geistigen, körperlichen, künstlerischen, organisatorischen Energien“,358 leben würde und daher ein adäquates Recht benötige, das nicht mehr von dem antiken Begriff der körperlichen Sache ausgehe. Auch in dem Begriff „Funktion“ bzw. „funktional“ fanden sich demnach die Prinzipien der abendländischen faustischen Kulturseele.359 Der antike Gegenbegriff zu „funktional“ lautete „körperlich“. Die Juristen zogen daraus verschiedene Konsequenzen. Dabei können zwei Rezeptionsgruppen unterschieden werden. 351
Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX. Jahrhunderts, 2. Teil, 2. Bd., S. 346. 352 Jenny, Wandlung des Eigentumsbegriffes, S. 46. 353 Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt 5, S. 86 ff. 354 Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt 9, S. 102. 355 Ebda. 356 Ebda. 357 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 97 f. 358 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 96. 359 Auch hier findet sich wieder eine Parallele zur Darstellung des abendländischen und antiken Zahlenverständnisses bei Spengler: Abendländer betrachten „die Zahl als Funktion“, antike Menschen betrachten „die Zahl als Proportion“ (siehe Koktanek, Spengler, S. 156).
III. Dynamikkonnotationen in der Spenglerrezeption der Weimarer Zeit
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Die Einen verwendeten „Funktion“ vor allem im Sinne der sozialen Funktion des Eigentums, so etwa bei Jenny360, Fehr361 und Hedemann.362 Die Anderen betonten mit „Funktion“ vor allem die Loslösung von Substanz und konzentrierten sich inhaltlich häufig auf ein immaterialgüterrechtliches Thema, so etwa Callmann363, Elster364 und du Chesne.365 Freilich gab es auch Autoren, die den Begriff der „Funktion“ bereits vor den Spenglerianern zentral verwendeten. In Frankreich wurde nicht zuletzt durch Léon Duguit unter dem Stichwort „fonction sociale“ eine am Gesellschaftszweck ausgerichtete Interpretationsmethode vertreten.366 Gewisse Spuren von Léon Duguit lassen sich auch bei Fehr nachweisen.367 „Funzione sociale“ war auch in der italienischen Rechtswissenschaft ein ab 1880 deutlich fassbares Konzept, das im faschistischen Rechtsdenken 360
Jenny betonte vor allem die „soziale Funktion“ (Jenny, Wandlung des Eigentumsbegriffes, S. 46) des Eigentums. 361 Hans Fehr erläuterte, dass das Privateigentum gem. § 903 BGB nach dessen römisch liberaler Formulierung, frei dem Bürger zur Verfügung stehe, während nach dem Weltkrieg klar geworden sei, dass es sich „funktionell“ (Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 113) heute um verstaatlichtes und damit kollektiviertes Eigentum handele. 362 Hedemann, Funktionelle Wertung des Eigentums. 363 Callmann, Der unlautere Wettbewerb, S. 88. 364 In diese Richtung ging etwa Alexander Elster, wenn er schrieb, dass es „nicht auf die mehr oder weniger feststehenden Termini (Begriffe), also nicht auf die Statik, sondern auf ihre dynamische Funktion in der rechtlichen, vertraglichen, lebendigen Umgebung ankommt.“ (Elster, Was heißt und bedeutet Übertragung des Urheberrechts oder des Erfinderrechts?, S. 321). 365 Curt du Chesne meditierte mithilfe von Spenglers Begriffen über die Funktion des Geldes. Er kahm zu dem Schluss, dass die Funktion des Geldes nicht in der körperlichen Sache stecke, sondern in dem Potential, dass sich mit seiner Hilfe realisieren lasse (du Chesne, Die Entwicklungslinie des dynamischen Rechts, S. 105). 366 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 578; siehe auch Keiser, Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, S. 162 ff. 367 1928 erschien Duguit bei Fehr dabei noch überwiegend positiv. Duguits Lehre „führt den Zweckgedanken zu höchster Höhe hinauf. Bei allen Rechtseinrichtungen und Rechtsaufgaben steht der Zweck im Vordergrund: ‚le but d´utilité collective.‘“ (Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 50 f.). Eine Verknüpfung mit dem dynamischen Rechtsdenken Spenglers erkennt Fehr hier noch nicht. 1933 erfolgte eine deutliche Umwertung: „Wie stark die dynamische Idee übertrieben werden kann, zeigt u.a. der französische Jurist Léon Duguit. In seinen Transformations générales du droit privé depuis le Code Napoléon (Paris 1920), sagte er z.B., dass das „Privateigentum nur noch im Sinne einer gesellschaftlichen Funktion zu begreifen“ sei. „Ihm haben weltanschauliche Momente den gesunden juristischen Sinn zerstört.“ (Zitiert nach Fehr, Das kommende Recht, S. 12). Genauere Ausführungen fanden sich bei Fehr nicht, so dass über die Gründe des Stimmungsumschwungs nur spekuliert werden kann. Dass Fehr plötzlich 1933 von einer franzosenfeindlichen Stimmung ergriffen wurde, ist eher unplausibel. Er fühlte sich ja auch nicht sofort nach 1933 dem Nationalsozialismus verpflichtet (siehe unten S. 108 ff.). Jedenfalls war Duguit damit ein am Rande existierendes Thema bei den Juristen der dynamischen Rechtslehre.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
äußerst wirkungsmächtig werden sollte, wenn es auch aufgrund des Widerstandes der Rechtswissenschaft nicht kodifiziert wurde.368 Im deutschsprachigen Raum waren „soziale Funktion“ oder allgemein „funktionales Rechtsdenken“ vor dem Ersten Weltkrieg zunächst nicht so populäre Stichworte. Der Begriff wurde aber bereits von Karl Renner, dem späteren Bundespräsidenten Österreichs, prominent in seinem meistzitierten Buch369 „Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion“370 von 1904 verwendet. Da Renners Werk auf marxistischen Theorien fußte,371 war es vermutlich bei dem Großteil der konservativen Gemeinschaftsdenkender der Weimarer Zeit wenig anschlussfähig, fand sich aber in einem Fall auch ausdrücklich verknüpft mit den Gedanken Spenglers, Fehrs und Hedemanns.372 Renners durch sozialistische Theorie befruchtete Rechtssoziologie verfolgte den „Entwicklungsprozess“ des Rechts „zum Sozialen hin“ und beschrieb ihn „in seinen Phasen“.373 Zu erwähnen ist sonst noch Ernst Stampes374 von den Aufgaben der Rechtsinstitute her gedachter funktionsbegrifflicher Ansatz und die auch von Juristen beachtete Schrift375 „Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie“376 des Philosophen Siegfried Marks. Im Fall der sozialen Funktion wurde durch Spengler ein ohnehin vorhandenes Schlagwort, das in juristischen Kontexten noch nicht sonderlich populär war, enorm verstärkt. Eine Aussage des Kulturphilosophen wurde 368
Siehe ausführlich und mit weiteren Nachweisen Keiser, Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, S. 145 ff. 369 So Jacques Hannak, Karl Renner und seine Zeit. Versuch einer Biographie, Wien 1965, S. 462. 370 Neu herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Otto Kahn-Freund Karl Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion. Ein Beitrag zur Kritik des bürgerlichen Rechts, Stuttgart 1965. 371 Siehe Otto Kahn-Freund, Einführung in Karl Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion. Ein Beitrag zur Kritik des bürgerlichen Rechts, Stuttgart 1965, S. 1. 372 Siehe Fritz Krüger, Der Eigentumsbegriff nach der Reichsverfassung vom 11. August 1919, S. 32–41, insbesondere die Aussage: „Nun aber schiebt sich mehr und mehr eine Betrachtungsweise vor, die das Eigentum als eine lebendige, ewig im Fluß befindliche Macht, als eine Funktion“ ansehe, wird von Krüger zunächst den „beiden Oesterreichern Anton Menger und Karl Renner zugeschrieben“ (S. 36). 373 Hannak, Karl Renner und seine Zeit, S. 462. 374 Ernst Stampe, Die Freirechtschule. Gründe und Grenzen ihrer Berechtigung. Vorträge gehalten vor Richtern und Staatsanwälten des Kammergerichtbezirks, Berlin 1911, S. 34 ff. 375 Ernst von Beling, Rez. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie in: KritV 58 (1929), S. 162–183; Julius Kraft Rez. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie in: JW 55 (1926), S. 1303. 376 Siegfried Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, Tübingen 1925.
III. Dynamikkonnotationen in der Spenglerrezeption der Weimarer Zeit
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über den Begriff nicht transportiert. Der Kulturphilosoph wirkte hier eher als ein Popularisierer des Begriffs. Trotzdem wurde er von einigen Juristen wie ein Prophet des funktionalen Rechtsdenkens behandelt. Das „funktionale Recht“ bzw. das „dynamisch funktionale Recht“ war in der Folgezeit häufig eine Vermischung aus Abstraktion, Gemeinwohl und Zwecken im Recht. Der Lesehorizont und die Frage, welcher Autorität und welcher Theorie und welchem Umstand man mehr oder weniger Bedeutung beimaß, variierten von Autor zu Autor. Eine Gemeinsamkeit lag immer in den Begriffen, nicht immer in den Konzepten. Wer neben Leon Duguit gerne noch Ernst Cassirers „Substanz und Funktionsbegriff“ legte, assoziierte mit dem Funktionsbegriff, wiederum eher spenglernah, eine Ablösung vom Körperlichen. e) Zusammenfassung und Analyse – Spengler als „Medium des Zeitgeistes“ Der Kerngedanke der dynamischen Rechtslehre war, dass es auf die Wirkungen und Funktionalitäten im Rechtsleben ankomme, nicht auf die positiven „begriffsjuristisch“ bearbeiteten Rechtssätze. Im Ergebnis wollten die Autoren damit auf ein lebensnäheres und gemeinwohlorientiertes Recht hinaus. Die dynamische Rechtslehre ist so betrachtet ein umfassendes Programm, das rechtspolitische Forderungen formulierte („Gemeinwohlorientierung“), Forderungen an die Rechtsmethode stellte („lebensnahes Recht“), eine rechtstheoretische Richtung vorgab („abstraktes Rechtsdenken“) und wissenschaftliche Vorarbeit für die künftige Jurisprudenz leistete indem sie passende Lösungen für eine abstrakt-funktionelle Wirtschaft dogmatisch durchdachte („Elektrizität als Problem des Sachenrechts“; „Das Unternehmen als unkörperlicher Wertgegenstand“; „Immaterialgüterrecht als unkörperliches Recht“). Je konkreter die Forderung wurde, die ein Autor aus diesen Grundsätzen ableitete, umso weiter entfernte er sich in der Regel von den anderen Autoren. Eine wirkliche Übereinstimmung aller 23 untersuchten Autoren ist allenfalls auf Ebene der Grundsätze festzustellen und auch dort nur sporadisch. Nur die wenigsten Autoren verwendeten übereinstimmend die gleichen Dynamikkonzepte. Es handelte sich bei den Begriffen „Dynamik“ und „Funktion“ um sehr schillernde Modebegriffe, die bei den spenglerzitierenden Juristen vielfach eine Bedeutung annahmen, die eher dem juristischen Zeitgeist als der spenglerschen Philosophie geschuldet waren. Durchweg stellten die Autoren dar, dass die dynamisch-funktionelle Umwandlung bereits begonnen habe, dass sie aber andererseits noch weiter voranschreiten müsse. Es wurde aber innerhalb der dynamischen Rechtslehre kaum überlegt, ob dies der Gesetzgeber oder der Richter zu unter-
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
nehmen habe.377 Eher wurde gegen das BGB als gegen aktuelle, nach 1919 erlassene Vorschriften argumentiert. Es gab zudem keinen bestimmten Adressaten, den die dynamische Rechtslehre im Fokus hatte. Jeder, der am Recht arbeitete, war gleichermaßen mitberufen, es zu dynamisieren und funktionell am Gemeinwohl auszurichten. Der Tenor verwies auf einen in der Zukunft zu erreichenden funktionell-dynamischen Umwertungsstatus der gesamten Rechtsordnung. Der Tonfall war fordernd. Es ging bei den Juristen nicht wie bei Spengler um eine Entwicklung, die 100 Jahre dauern durfte, sondern um eine Angelegenheit, die baldmöglichst erledigt sein sollte. Von Spengler übernommen wurde dabei vor allem die vorher von Juristen der 20iger Jahre wenig diskutierte Forderung, das moderne Recht müsse sich von den Substanzen lösen, um die modernen abstrakten Phänomene adäquat regeln zu können. Diese Grundaussage verband Spengler mit der Forderung von dynamischem Recht und teilweise verwendeten die Juristen den Begriff Dynamik mit exakt derselben Bedeutung. Für die anderen Konnotationen der juristischen Rezeption des spielerischen Dynamikbegriffs – also Gemeinwohl, Anpassung an das Leben, Funktionalität des Rechts – müssen zwei Ergebnisse festgehalten werden: Zum einen enthielt das spenglersche Oeuvre an verschiedenen Stellen die gleichen Forderungen, zum anderen verband der Kulturphilosoph diese Forderungen aber nicht mit den Begriffen Dynamik und Statik. Die hier untersuchten Zivilrechtler wiederum zitierten aus dem spenglerschen Gesamtwerk fast ausschließlich die 30-seitige Geschichte des Rechts. Spengler gab hier vor allem Schlagworte vor, ohne dass ein inhaltlicher Konzepttransfer stattgefunden hätte. Dies funktionierte vor allem deshalb, weil die Forderungen Hauptströmungen der juristischen Ideengeschichte der Weimarer Republik darstellen. Dass Spengler selbst viel Wert auf die Verhaftung mit seinem Zeitgeist legte, ist in der Spenglerforschung seit langem bekannt.378 Deswegen sagte auch Robert Musil „Wenn man Spengler angreift, greift man 377
Beide Akteure (Gesetzgeber und Richterstand) standen für die dynamische Rechtslehre nicht als herausgestellte Heilbringer dar. Sie betonte viel weniger als die Freirechtschule (Rückert, Art. Freirecht, Sp. 1773) und die berühmte Eingabe des Richtervereins (abgedruckt in JW 53 (1924), S. 90) die Rolle des Richters und spielte sich zugleich nicht als Bestandteil einer Naturrechtsrenaissance auf, um den Gesetzgeber mit richtigem Recht in die Schranken zu weisen. So hat etwa Kaufmann mit einem Bekenntnis zum vorrationalistischen aristotelisch-christlichen Naturrecht den Gleichheitsgrundsatz deutlich gegen den Gesetzgeber gewendet (siehe Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts Bd. 3, S. 190 f. m.w.N.). 378 Zuletzt hat Boterman deutlich darauf hingewiesen, dass historischer Relativismus ein Bestandteil von Spenglers Philosophie war, und dass er deshalb „so viele zeitgenössische Ideen wie möglich in seine Gedankenwelt aufnahm und die Zeitgebundenheit seiner Philosophie ständig betonte“ (Boterman, Spengler, S. 82).
IV. Dynamik und Statik in der Zeit des Nationalsozialismus
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die Zeit an, der er entspringt und gefällt, denn seine Fehler sind ihre.“379 Spengler war einerseits gewissermaßen ein „Medium des Zeitgeistes“ und hat andererseits mit seiner „juristischen Dynamik“ ein hochgradig erfolgreiches Schlagwort geschaffen. Die Juristen hinterlegten dieses Schlagwort letztlich mit allen zeitgeistgerechten Aussagen.
IV. Dynamik und Statik in der Zeit des Nationalsozialismus IV. Dynamik und Statik in der Zeit des Nationalsozialismus
Die Juristen, die die Begriffe Dynamik und Statik nach Spengler verwendeten, standen ab dem Sommer 1933 vor dem Problem, dass Spengler offiziell zur „persona non grata“ erklärt wurde. Auf den Schriftsteller Spengler reagierten regimetreue Autoren vor allem mit ausführlichen monographischen Erwiderungen.380 Dies erwies sich insbesondere für diejenigen unter ihnen als Komplikation, die prinzipiell bereit waren, die nationalsozialistische Rechtserneuerung für die eigene Karrierezwecke mitzubegleiten. Gerade in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus boten die Umwälzungen gleichzeitig auch neue Möglichkeiten für kooperationswillige Autoren. In einer Situation, in der viele alte Lehrbücher und Meinungen von heute auf morgen für ungültig erklärt wurden, fand so etwas wie ein schriftstellerischer „Run auf Oklahoma“ statt.381 Prinzipiell waren die Dynamikkonnotationen der Anpassung an das Leben und der Forderung nach Gemeinwohl hochgradig geeignet, um in den Dienst der Rechtsumwertung gestellt zu werden. In dieser Situation stellten sich insbesondere für die Juristen, die sich bereits zuvor auf Spengler berufen hatten, gewichtige Fragen: Sollte man sich weiter offen zu Spengler als Urvater des dynamischen Tiefblicks bekennen? Sollte man überhaupt noch mit Spenglers Terminologie weiterarbeiten? Sollte man die älteren Schriften Spenglers gar bewusst verteidigen? Wie die Juristen auf diese Fragen antworteten, soll im Folgenden untersucht werden. Zunächst wird untersucht, ob es eine Kritik der Juristen an Spengler im Bezug auf seine Begriffe gab.382 Im Anschluss erfolgt eine Darstellung der Begriffsverwendungen nach 1933. Zu379
Robert Musil, Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind, in: Adolf Frisé (Hrsg.) Robert Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays, und Reden, Hamburg 1995, S. 651–667, S. 656. 380 Siehe die Nachweise oben in Fn. 18 (Kapitel B) auf S. 23. 381 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 343; Rüters, Entartetes Recht, S. 19 und S. 21. 382 An dieser Stelle der Arbeit ist die juristische Spenglerkritik nur in Bezug auf die Begriffsverwendung zu untersuchen. Bezüglich der Kritik an Spengler durch die romanistischen Rechtshistoriker siehe unten S. 183 ff. In der Staatsrechtlehre wurde Spenglers staatsrechtliche Vorstellungen nach 1933 kaum noch diskutiert, aber auch nicht scharf abgelehnt.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
letzt werden diese neuen Begriffsverwendungen vor dem Kontext der nationalsozialistischen Rechtsumwertung betrachtet. 1. Reaktion der Juristen auf Spenglers Bruch mit den Nationalsozialisten Es rechnete kein Jurist, der vorher die Begriffe Statik und Dynamik verwendet hatte, scharf mit Spengler ab, wie Göbbels dies noch im Sommer 1933 angeordnet hatte.383 Allenfalls Autoren, die sich vorher nicht mit Spengler beschäftigt hatten, äußerten sich nun kritisch gegenüber der Verwendung des spenglerschen Antonyms. Spengler wurde vorgeworfen, dass der Begriff Dynamik das Rassenkonzept nicht beinhalte.384 Betrachtet man aber die Werke derjenigen Juristen, die während der NS-Zeit mehrere Schriften zum dynamischen Recht verfasst haben, so lässt sich zeigen, dass Nennungen und Zitate des Kulturphilosophen sukzessive abnahmen.. So stellte Hans Fehr 1933 Spengler noch deutlich an den Anfang des dynamischen Rechtsdenkens.385 In den folgenden drei Publikationen wurde Spengler nicht mehr genannt.386 Ähnlich verhielt es sich bei Swoboda der bis 1935 mit Spengler und dem Dynamischen teilweise gegen nationalsozialistische Rechtsdeutungen argumentierte,387 und dann ab 1936 innerhalb des Nationalsozialismus seine Karriere weiter vorantrieb und schlicht aufhörte, Spengler zu zitieren.388 Nur ein Autor der zunächst ein Befürworter des dynamischen Rechtsdenkens war, teilte seinen Mitdiskutanten ausdrücklich mit, dass er in Zukunft keine Anleihen mehr bei Spengler machen werden: Gustav Klemens Schmelzeisen. Er berief sich seit 1932389 auf Spengler und verwendete seine Begriffe zunächst auch noch nach der Machtergreifung390 um sich dann 383
Siehe oben S. 22 f. So wies der unbekannte Verfasser hinter den Initialen F.D. darauf hin, dass sich der Nationalsozialismus nicht „als Fortsetzung […] einer preußischen Dynamik begreifen“ lasse, da „Rasse“ ein zeitloses Konzept sei, das durch Spenglers Kulturphilosophie nicht erfasst werden könne. „Deswegen ist es ein grobes Missverständnis, wenn man dem Grundsatz ‚Recht ist, was dem Volk nützt‘ in dynamischem Sinne verstehen wollte.“ F.D., Rasse und dynamische Weltauffassung in: Mitteilungsblatt des BNSDJ und des Reichsamts der NSDAP (Beilage zu Heft 13/14 zu DR vom 15. Juli 1935), S. 57. 385 Fehr, Das kommende Recht, S. 4 f. 386 In den nächsten Jahren schlossen sich zwei Festschriftenbeiträge an: 1934 Fehr, Das dynamische Element im künftigen schweizerischen Handelsrecht; 1937 Fehr, Die Fortschritte des dynamischen Rechts; 1940 folgte ein letzter Aufsatz über dynamische Gesetzgebung: Hans Fehr, Die Dynamik des Gesetzes in: ZSR 59 (1940), S. 53–64 ff. Spengler wurde in keinem dieser Aufsätze genannt. 387 Siehe oben, S. 46. 388 Siehe oben, S. 48. 389 Schmelzeisen, Die Relativität des Besitzbegriffs, S. 38–60 und S. 129–168. 390 Schmelzeisen, Vom deutschen Recht und seiner Wirklichkeit, S. 5. 384
IV. Dynamik und Statik in der Zeit des Nationalsozialismus
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jedoch auf dem Weg zu einer „Verdeutschung der Gelehrtensprache“391 von „Dynamik“ und „Statik“ zu verabschieden.392 1936 wendete er sich ausdrücklich in einer Rezension einer dynamischen Bekenntnisschrift von Swoboda393 gegen die Verwendung von Spenglers Antonym.394 Zwar hätten Spenglers Begriff einen gewichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Begriffsjurisprudenz vor 1933 gehabt.395 Aber aufgrund des Sieges des nationalsozialistischen Rechtsdenkens seien die Begriffe nun überflüssig geworden. Diese ausdrückliche Ablehnung Spenglers war bei den „Dynamikern“ singulär. Es handelte sich auch insgesamt eher um eine Rechtfertigung für vergangene – eigene – Begriffsverwendungen, als um eine scharfe Verurteilung der gegenwärtigen Schriften Spenglers. Schmelzeisens Abschied von Spengler schloss mit den Worten: „Deshalb braucht 391
Schmelzeisen, Vom deutschen Recht und seiner Wirklichkeit, S. 18. Fn. 4. So insbesondere in Gustav Klemens Schmelzeisen, Die Überwindung der Starrheit im neuzeitlichen Rechtsdenken, Berlin 1933, S. 7; ders., Das Treuepfand, Stuttgart 1936, S. 1 ff.: Die positivistische begriffsjuristische Rechtslehre, so wie Schmelzeisen sie zeichnete, verwendete jetzt nicht mehr „statische“, sondern „starre“ unwandelbare Begriffe, denen Schmelzeisen zunehmend auch Carl Schmitts konkretes Ordnungsdenken entgegensetzte (Schmelzeisen, Die Überwindung der Starrheit im neuzeitlichen Rechtsdenken, S. 7; ders., Das Treuepfand, S. 1 ff.). Die Schrift „Die Überwindung der Starrheit im neuzeitlichen Rechtsdenken“ war paradigmatisch für den begrifflichen Wandel von Statik zu Starrheit. Die Philipp Heck gewidmete Publikation verzichtete auf jede Spenglerreferenz. Auch Fehr und Bott-Bodenhausen wurden nicht mehr mit den Textstellen zitiert, in denen sie das dynamische Rechtsdenken erläutern. Freilich konnte der Ahnungsvolle hinter der „starren“ und „körperhaften“ Begriffsjurisprudenz immer noch Spengler erkennen, aber dem Eingeweihten, der Schmelzeisens vorangegangene Schrift „Die Relativität des Besitzbegriffes“ aufmerksam gelesen hatte, musste auch die Absage an die spenglersche Terminologie deutlich werden: Schmelzeisen hatte Spengler, Fehr und Bott-Bodenhausen vorher als „Dynamiker“ wahrgenommen und präsentiert. Spengler verschwindet nun aber völlig und Fehr und Bott-Bodenhausen werden plötzlich zu anderen Aussagen zitiert. Dem entspricht auch, dass Schmelzeisen jetzt zu seinem früheren AcP-Aufsatz ausdrücklich erläutert, dass er ihn auf die Hecksche Lehre aufgebaut habe (Schmelzeisen, Die Überwindung der Starrheit im neuzeitlichen Rechtsdenken, S. 11). Darin war unausgesprochen die Aussage enthalten, dass er seine Gedanken nicht auf die dynamische Rechtslehre aufgebaut hat. 393 Schmelzeisen, Rez. Swoboda, Die Neugestaltung des bürgerlichen Rechts, S. 367– 360. 394 Schmelzeisen, Rez. Swoboda, Die Neugestaltung des bürgerlichen Rechts, S. 357 f. 395 „Was uns, die wir in früherer Zeit in der scharfen Gegeneinanderstellung von Statik und Dynamik ein ebenso fruchtbares wie notwendiges Kampfmittel gesehen haben, heute übrig geblieben ist, dass ist die alte und doch immer wieder junge Weisheit vom ‚goldenen Mittelweg‘, das ist die Einsicht, daß alles Recht statisch und dynamisch zugleich ist […]. Aber die einseitige Statik der bisherigen Rechtswissenschaft hätte durch die Verbreitung dieser Weisheit nicht geschlagen werden können. Dazu bedurfte es eines schneidigeren Mittels, der Einseitigkeit der Dynamik“ (Schmelzeisen, Rez. Swoboda, Die Neugestaltung des bürgerlichen Rechts, S. 358). 392
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
sich die dynamische Rechtslehre heute nicht zu schämen, wenn ihre Zeit vergangen ist.“396 Eine regimetreue deutliche Ablehnung von Spengler war dies nicht. Trotzdem war es die deutlichste Kritik an Spenglers Begriffen, die ein ehemaliger Dynamiker äußerte. Es kann festgehalten werden, dass die Ablehnung Spenglers zaghaft, stillschweigend oder gar nicht erfolgte. Um dies zu verstehen, muss man bedenken, dass der Kulturphilosoph schlichtweg ein sehr einflussreicher und wirkungsmächtiger Autor war, der insbesondere von den Gegnern der Weimarer Republik gerne gelesen wurde.397 Auch viele Nationalsozialisten hatten Spengler Schriften bis 1933 mit Begeisterung gelesen. Einen Einblick in die ambivalente Stimmung junger Juristen über Spengler vermittelt ein Brief Helmuth James Graf von Moltkes, den Folker Schmerbach in seiner Dissertation über das Referendarlager „Hannes Kerrl“ heranzog, um darzustellen, wie eine Gruppe Referendare „allzu plumper Indoktrination die Stirn geboten“398 hatten. In dem Ausbildungslager in Jüterbog, in welchem preußische Referendare ab Sommer 1933 weltanschaulich erzogen wurden,399 hatte der vortragende Assessor Timmermann die Auszubildenden mit unterschiedlichen Aussagen gegen sich aufgebracht. Moltke schilderte die Situation wie folgt: „Nach diesem glänzenden Anfangserfolg gingen wir auch bei dem Vortrag über die Juden zum Angriff über und attackierten die Behauptung, Spengler habe in seinem Buch ‚Jahre der Entscheidung‘ die Rolle der Juden geflissentlich übersehen, damit er eine grosse Auflage erziele. Der älteste von uns, der im Kriege eine Batterie geführt hatte, also über allen Zweifeln erhaben war, stand daraufhin auf und erklärte, für ihn stünde Spengler viel zu hoch, als dass er durch eine solche Bemerkung des Assessor Timmermann berührt werden könne – großer Applaus – und wenn Spengler die Judenfrage für geschichtlich bedeutungslos halte, dann sei das für ihn massgeblicher, als wenn der Assessor Timmermann das Gegenteil behaupte. Großer Applaus.“400
Während offizielle Stellen versuchten Spengler zu ignorieren oder zu bekämpfen, war es aufgrund von Spenglers Ruhm durchaus noch möglich, ihn auch im offiziellen Rahmen gegen nationalsozialistische Angriffe zu verteidigen und dabei „großen Applaus“ zu ernten. 396
Schmelzeisen, Rez. Swoboda, Die Neugestaltung des bürgerlichen Rechts, S. 358. Daher gab es auch Zustimmung zu den „Jahren der Entscheidung“ zu verzeichnen. Siehe Koktanek, Spengler, S. 446 f.; zum generellen Problem der Konflikte von konservativen Intellektuellen mit dem nationalsozialistischen Systems siehe Boterman, Spengler, S. 398 ff. 398 Folker Schmerbach, Das „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ für Referendare in Jüterbog 1933–1939, Diss. Berlin 2007, Tübingen 2008, S. 115. 399 Schmerbach, Das „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ für Referendare in Jüterbog 1933–1939, S. 112 ff. 400 Zitiert nach Schmerbach, Das „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ für Referendare in Jüterbog 1933–1939, S. 116. 397
IV. Dynamik und Statik in der Zeit des Nationalsozialismus
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2. Juristische Verwendungen der Begriffe Statik und Dynamik nach 1933 Das dynamische Recht nach Spengler wurde schon bald nach der Machtergreifung von einigen Juristen in engen Zusammenhang zum Nationalsozialismus gestellt. Es fällt daher leicht, sprechende Zitate zu finden. So verkündete Schmelzeisen bei einem am 4. und 10. Mai 1933 vor dem Bund Nationalsozialistischer Juristen in Düsseldorf und Gladbach-Reydt gehaltenen Vortrag,401 dass er im Rahmen seiner an Schönfeld orientierten juristischen Dialektik die Gegensätze zwischen „Verstand und Seele, Erkennen und Empfinden, Wissen und Glaube, zwischen Gesetz und Glaube, Diesseits und Jenseits […] im Einklang mit verschiedenen Vertretern der neuen Wissenschaft gern unter dem Sinnbild ‚Statik-Dynamik‘“402 präsentiere. Auch in seinem Text „Das deutsche Recht“ von 1933 verwendete Schmelzeisen die Begriffe, was einen Rezensenten zu der Bemerkung veranlasste, dass das „Modewort“ Dynamik „inzwischen auch in die nationalsozialistische Rechtslehre Eingang gefunden“403 habe. Schmelzeisens „Die Überwindung der Starrheit im neuzeitlichen Rechtsdenken“ von 1933 wurde von Hans Fehr als der Versuch beschrieben, „die dynamische Auffassung und den nationalsozialistischen Geist zu verknüpfen.“404 Fehr selber erwähnte 1933 in seiner Schrift „Das kommende Recht“405 den Begriff der Gleichschaltung im Zusammenhang mit der dynamischen Rechtslehre. Er 401
Gustaf Klemens Schmelzeisen, Vom deutschen Recht und seiner Wirklichkeit, Düsseldorf 1933, S. 5. 402 Schmelzeisen, Vom deutschen Recht und seiner Wirklichkeit, S. 18. 403 Hans Reichel, Rez. Swoboda, Das Privatrecht der Zukunft in: DJZ 38 (1933), Sp. 1509. 404 Fehr, Das kommende Recht, S. 7. 405 Anders als dies der Kontext des Jahres 1933 vermuten ließe, war mit dem „kommenden Recht“ nicht unbedingt nur das nationalsozialistische Recht gemeint, sondern in erster Linie das Recht auf seiner nächsten – nämlich dynamischen – Modernitätsstufe. Der nationalsozialistische Geist war für Fehr 1933 noch eine Möglichkeit der fruchtbaren Anwendung des dynamischen Denkens unter vielen anderen. Weitere deutliche Verweise auf den Nationalsozialismus – neben Schmelzeisen und dem Beispiel der Gleichschaltung – sucht man vergebens. Von den zehn Thesen am Ende des Büchleins waren lediglich zwei, die im Kontext des Jahres der Machtergreifung für die Zeitgenossen eindeutig pro nationalsozialistisch waren (Nr. 9 lautet „Das Volk versteht das dynamische Recht besser. Das dynamische Recht ist mehr Volksrecht. Das statische Recht ist mehr Juristenrecht.“ Nr. 10: „Ein Volksstaat hat die Pflicht, seinen Bürgern ein dynamisches Recht zu schenken“ (Fehr, Das kommende Recht, S. 27). Mehr NS-Geist war weiter nicht zu finden. Oswald Spengler wurde hier noch wie zuvor als Urvater des dynamischen Rechtsdenkens genannt. Fehr lehnte die Machtergreifung 1933 also weder ausdrücklich ab, noch begrüßte er sie ausdrücklich. Die Schrift war der dynamischen Rechtslehre gewidmet, nicht dem Nationalsozialismus. Fehr zählte auf vielen Seiten die Errungenschaften und die Protagonisten der Lehre auf. Von einem schriftstellerischen Rausch, von einer Beseelung durch den Nationalsozialismus, von einer karrierefördernden Schrift, die an die neuen Machthaber gerichtet war, kann keine Rede sein.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
lobte, dass es sowohl ein staatsrechtlicher als auch ein politischer Begriff sei.406 Fehr meinte damit, dass durch die Inkorporation des Politischen und damit der Weltanschauung der Rechtssatz „elastischer und biegsamer“ werde, mit dem Ziel, das „sich dauernd verändernde Leben in sich aufzunehmen“407. 1937 stellte Fehr noch deutlicher dar, dass sich das dynamische Rechtsdenken – im Gegensatz zur Interessenjurisprudenz – bewusst an der „Weltanschauung“408 orientiere. Hermann Eichler409 betonte insbesondere die Loslösung vom „körperlich sachlichen Substrat“ und die Durchdringung des Eigentums durch „lebendige Vergeistigung“.410 Auch in der Zeitschrift und dem Jahrbuch der Akademie für deutsches Recht fanden sich Aufsätze, die das dynamische Rechtsdenken im Kontext des Nationalsozialismus anwendeten.411 Lüben Dikoff412 stellte noch 1943 Spenglers Antonym in das Zentrum einer rechtlichen Erörterung.413 Er zitierte dabei nicht mehr Spengler, so wie die meisten der genannten Autoren. Ihnen allen war jedoch gemein, dass sie zumindest stellenweise die Differenz zwischen statischem und dynamischem Rechtsdenken als Schlüssel zum Verständnis des nationalsozialistischen Rechtsdenkens beschworen. Zudem zitierten sie häufig Fehr und andere „Dynamiker“. Auch in Dissertationen wurde allenthalben auf Fehr verwiesen, wenn dem Doktorvater das dynamische Rechtsdenken erläutert werden sollte.414 Fehr war offenbar wie 406
Fehr, Das kommende Recht, S. 5. Fehr, Das kommende Recht, S. 5. 408 Fehr, Die Fortschritte des dynamischen Rechts, S. 36. 409 Eichler, Wandlung des Eigentumsbegriffes, S. 66. 410 Ebda. 411 Baumecker, Ethik, Dynamik und Technik des Erbhofgesetzes als Vorbild für die neue Rechtsgestaltung; Volkmar, Das dynamische Element bei der Neubildung des deutschen Rechts, S. 474; Haushofer, Recht und Dynamik im Fortleben der Völker, S. 418– 420. 412 Auch die Schreibweise „Dikow“ findet sich (siehe das Titelblatt seines Werkes Lüben Dikoff, Die Neugestaltung des Deutschen Bürgerlichen Rechts, München und Leipzig 1937). 413 Dikoff, Statisches oder dynamisches Recht?, S. 125. 414 Teilweise wurde dabei zumindest noch auf andere Autoren der dynamischen Rechtslehre verwiesen. So referenzierte Helmut Hause in seiner Dissertation bzgl. der dynamische Rechtsauffassung des sowjetrussischen Rechtssystems auf die dynamische bzw. funktionale Rechtslehre nach Bott-Bodenhausen und Fehr (Helmut Hause, Das Privateigentum in Sowjetrussland nach dem Zivilkodex der R.S.F.S.R., Diss. Halle 1934, Würzburg 1934, S. 62, Fn. 42 macht deutlich, dass Hause die Begriffe synonym verwendete). In diesen Gedanken erblickte Hause „Wege zum Verständnis der sowjetrussischen Rechtsanschauung“ (S. 62), die er vor allem auf die starke Verbindung des Einzelnen mit der Volkswirtschaft übertrug (S. 64). In einer bei Fehr entstandenen Dissertation wurde ebenfalls das Unternehmen als dynamischer und funktionaler Vermögensbegriff beschrieben (Gerhard Kuttner, Der Schutz des Unternehmens nach dem deutschen und französischen Privatrecht, Diss. Bern 1936, Würzburg 1936, S. 72). 407
IV. Dynamik und Statik in der Zeit des Nationalsozialismus
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schon vor 1933 der stärkste Vermittler der dynamischen Rechtslehre nach Spengler, nur dass die Erwähnung des Kulturphilosophen nun in vielen Fällen unterblieb. Bezieht man weitere Textstellen anderer Autoren ein, die sich eher beiläufig auf das Begriffspaar beriefen und keinen weiteren „Dynamiker“ zitierten, so lassen sich eine Vielzahl weitere Verwendung der Begriffe nachweisen.415 Als eine Fundgrube für Dynamikverwendungen erwies sich insbesondere Thorsten Kaisers Werk über nationalsozialistisches und faschistisches Eigentumsdenken.416 Sogar im Staudinger war zu lesen, dass 415
Noch häufiger fanden sich nach 1933 die Stichworte „Statik“ und „Dynamik“, ohne dass ein Autor der dynamischen Rechtslehre zitiert wurde. So etwa: „Sofern § 404 BGB mit der heute allgemein anerkannten dynamischen Rechtsbetrachtung unvereinbar ist, kann er nicht mehr rechtens sein.“ (Wilhelm Herschel, Rechtsmissbrauch und Rechtsnachfolge in: ZdAfDR 7 (1940), S. 76–78, S. 77); „Die Vor- und Nachteile liegen teils in der Statik, teils in der Dynamik des Behördenwesens.“ (Hans Peters, Die Sonderbehörde in der deutschen Verwaltung in: ZdAfDR 7 (1940), S. 39–42, S. 39); „Dieses Merkmal ist überhaupt keine Eigenschaft, also etwas Statisches, sondern eine Funktion, also etwas Dynamisches.“ (Rechtsanwalt und Notar Heinrich Richter, Der deutsche Sachverständige in: Der Sachverständige 4 (1934), S. 1–3, S. 1); „Und da kommen wir auf den längst bekannten Gegensatz, der statischen Anschauung entspricht die Begriffsjurisprudenz, der dynamischen die soziologische, auf das Wirken und Wollen der Rechtssätze abgestellte. Statisch gedacht sind die Rechtsbegriffe fest abgrenzbare wirkliche Gegebenheiten […], denen das Leben unterworfen werden muss, dynamisch gedacht dienen die Rechtsbegriffe nur dazu, im Leben gegebene Spannungsverhältnisse und Interessenlagen zu kennzeichnen, sie haben nur funktionelle Bedeutung.“ (Hans Ullrich, Die Akademie für deutsches Recht als Wegbegleiter nationalsozialistischer Rechtserneuerung auf dem Gebiet der Versicherungen in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 36 (1936), S. 103–121, S. 106); „Der Statik des Positivismus stellt sie [die moderne politische Strafrechtswissenschaft L.M.K.] eine dynamische Betrachtungsweise des Rechts entgegen.“ (Friedrich Schaffstein, Politische Strafrechtswissenschaft, Hamburg 1934, S. 14); fündig wird man auch in Dissertationen aus der Zeit des Nationalsozialismus: „Nach Überwindung der individualistischen Rechtsbetrachtung und formaler Begriffsjurisprudenz“ bestünden „keinerlei Schwierigkeiten, Rechtsgestaltungen konstruktiv anzuerkennen, die durch die Rechtswirklichkeit geboten, ausschließlich durch den wirtschaftlichen Zweckgedanken gerechtfertigt und gemäß der jetzt zum Siege gelangten dynamischen oder funktionellen Rechtsauffassung zu begreifen sind.“ (Ingeborg Schnorr, Die Aktiengesellschaft ohne Mitglieder, Diss. Halle-Wittenberg 1934, S. 63 f.); „Ebenso erscheint in der Rechtsprechung die Tendenz, die Zweckidee stärker zu betonen als die Sachidee, oder, wie der Gegensatz schon formuliert wurde, von einer statischen zu einer dynamischen Auffassung zu gelangen. Auf den neuerdings nicht nur im Steuerrecht umstrittenen Eigentumsbegriff angewendet: den römischrechtlichen Eigentumsbegriff zugunsten des deutschrechtlichen Begriffs Gewere zu verlassen, der außer dem körperlichen ‚Haben‘ auch die soziale Funktion berücksichtige.“ (Jacques Louis Ruedin, Der Begriff des Eigentums im schweizerischen Steuerrecht. Zivilrechtliche Begriffe des Steuerrechts und wirtschaftliche Betrachtungsweise, Diss. Zürich 1934, Aarau 1935, S. 154). 416 Thorsten Kaiser sprach in seiner Dissertation mehrfach von einem „funktional“ verstandenen Eigentumsbegriff und von der Dynamik als Kategorie des Eigentums
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
die Eigenschaft des Eigentums nur „als lebendige Kraft, als Funktion“417 zu verstehen seien. Nimmt man all dies zusammen, so muss man Hedemann ernst nehmen, der 1935 den Unterschied zwischen statischem und dynamischem Rechtsdenken als einen von fünf Gegensätzen beschrieb, mit deren Hilfe man die „engere (fachwissenschaftliche) Charakteristik des erstrebten ‚neuen‘ Rechts“418 gewinnen könne. Die Begriffe Statik-Dynamik avancierten, so betrachtet, zu Schlüsselbegriffen des nationalsozialistischen Rechtsdenkens. 3. Zwischenanalyse der Begriffsverwendungen Zunächst ist eine gewisse Kontinuität festzuhalten. Auch nach 1933 finden sich noch sämtliche vorher benannten Dynamikkonnotationen. Je nach Autor blieb es bei den prinzipiell unverfänglichen Topoi der Dynamikverwendungen der Weimarer Republik (Abstraktion, Gemeinwohl, Anpassung
(S. 189 ff.). Bemerkenswert war dabei, dass im faschistischen Italien die Dynamik des Eigentums ebenfalls ein weitverbreitetes und im Sprachgebrauch des Faschismus verwurzeltes Schlagwort war (S. 189). Für Deutschland kam Kaiser klar zu dem Ergebnis, dass ein auf Oswald Spengler fußendes, und „soweit dies möglich war, juristisch präzisiert(es)“ (S. 190). Antonym Statik/Dynamik „im Eigentumsdenken der NS-Zeit verwendet wurde.“ (S. 190). Weitere Zitate aus dem Quellenmaterial Kaisers weisen darauf hin, dass auch den Zeitgenossen bewusst war, dass Italiener wie Deutsche das Antonym Statik/Dynamik und den Begriff funktionell häufig verwendeten. Aus dem Dunstkreis einer Arbeitsgemeinschaft für die deutsch-italienischen Rechtsbeziehungen, die auch eine Sektion für Eigentumsrecht einrichtete(S. 25 ff.), stammt etwa das Zitat Otto Thieracks, nach dem sowohl Deutsche als auch Italiener „keine statischen, sondern dynamische Begriffe“ bevorzugten, „deren Inhalt in funktioneller Abhängigkeit von den Wirkmächten des Lebens selbst“ stünden (Otto Thierack, Recht und Richter in den autoritären Staaten, Bericht über die zweite Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft für die deutsch-italienischen Rechtsbziehungen in Wien, in: ZAkDR 6 (1939), S. 219–224, S. 220). In diesen Kontext gehörte auch ein Report Heinrich Lehmanns, dem deutschen Berichterstatter der Sektion für Eigentum (Heinrich Lehmann, Zur gesetzgeberischen Begriffsbestimmung des Eigentums, in ZAkDR 6 (1938), S. 696–697). Er erläuterte, er habe in seinem Referat betont, dass „man in Deutschland die Starrheit des Eigentumsbegriffs zugunsten einer dynamischen Rechtsauffassung preisgegeben und die Notwenigkeit erkannt“ habe, „die Rechtstellung des Eigentümers elastischer zu gestalten, so daß die Rechte und Pflichten je nach dem verschiedenen sozialen Zweck und Wert der Güter verschieden bestimmt werden könnten“ (S. 697). Lehmann berichtete weiter, dass unter Bezugnahme auf sein Referat Prof. Costamagna aus Rom „die Notwendigkeit anerkannt“ habe, „die soziale und dynamische Funktion in der Definition des Eigentums angemessen zu berücksichtigen“ (ebda.). 417 Staudinger, Bd. 3, 7. Aufl., Stuttgart, Berlin, Leipzig 1939 § 903 Rn. 1, S. 69. 418 Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX. Jahrhundert, 2. Teil, 2. Hälfte, S. 345 f.
IV. Dynamik und Statik in der Zeit des Nationalsozialismus
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an das Leben, Funktionalität).419 Viele Autoren reicherten den Dynamikbegriff nun aber auch mit spezifisch nationalsozialistischen Bedeutungen an. Das dynamische Recht war nun auch prinzipiell weltanschaulich im Gegensatz zum statischen – neutralen – Recht. Die Anpassung an das Leben und die Forderung nach Gemeinwohlorientierung waren für den Nationalsozialismus hochgradig anschlussfähige Dynamikkonnotationen. Beide Begriffsverwendungen wurden eng mit der nationalsozialistischen Ideologie verwoben. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass der offizielle Skandal um Spenglers „Jahre der Entscheidung“ viele Juristen einerseits daran zu hindern schien, sich weiter auf Spengler zu berufen, aber andererseits nicht verhinderte, dass sie Spenglers Begriffe vor den nationalsozialistischen Karren spannten, wird der Schlagwortcharakter der Begriffsverwendung und die Abkopplung von Spengler noch deutlicher. Insgesamt nahmen die Juristen ihren Stichwortgeber von 1933 bis zu dessen frühem Tod 1936 nicht mehr als eine lebende Autorität war, auf dessen Mund alle in der Hoffnung blickten, er gäbe neue Offenbarungen über das dynamische Recht Preis. Vergleicht man, welche Bedeutung das Gesamtwerk von Kant für die Kantianer oder das Gesamtwerk von Hegel für die Hegelianer hatte, so wird klar, wie wenig „Spengler“ noch in den Begriffen Dynamik und Statik steckte. Das Spektrum der von Hegelianern wie etwa Larenz zitierten Hegelstellen war viel breiter als die wenigen Spenglerzitate, auf welche sich die Dynamiker nach 1933 noch stützten. Es waren die letzten gewohnheitsmäßigen Spenglerzitate aus der 30-seitigen Rechtsgeschichte des Kulturphilosophen, die in die Zeit nach 1933 herübergerettet wurden. Eine fortdauernde Spenglerlektüre lässt sich anhand der Schriften der Dynamiker nach 1933 nicht mehr beobachten. 4. „Dynamik“ und „Funktionalität“ als Stichworte nationalsozialistischen Rechtsumwertung Für das nationalsozialistische Zivilrecht war es zwingend notwendig, eine bedeutende Anzahl an älteren Normen umzuwerten,420 da in vielen Bereichen des Privatrechts das Gesetz des Kaiserreichs, bzw. der Weimarer Zeit, übernommen wurde.421 Nach Rüthers musste die „Hauptarbeit der Rechtserneuerung von der Wissenschaft und der entsprechend anzuleitenden Justiz geleistet werden.“422 Die Generalklauseln spielten dabei eine besondere 419
Eine solche Ausnahme findet sich etwa bei Elster, Gebrauchsdiebstahl von Geistesgut, S. 442–457. 420 Stolleis, Gemeinwohlformeln, S. 297; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 99. 421 Bernd Rüthers, Entartetes Recht, Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 2. Auflage München 1989, S. 18. 422 Rüthers, Entartetes Recht, S. 22.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
Rolle.423 In dieser Situation kam eine Lehre wie gerufen, welche schon länger predigte, das Recht müsse sich dem ständig wandelnden Leben immer dynamisch anpassen,. Die Autoren der dynamischen Rechtslehre sahen dies ähnlich und boten sich von daher zum Teil der Rechtserneuerung an. Dies muss im Kontext eines regelrechten Methodenstreits nach 1933 gesehen werden.424 Führende Köpfe der nationalsozialistischen Rechtswissenschaft diskutierten, ob die Umdeutung besser durch die Interessenjurisprudenz, durch die objektive Methode, durch das konkrete Ordnungsdenken oder den konkret allgemeinen Begriff vonstatten gehen solle.425 In die große Linie des Theoriestreites426 trat die dynamische Rechtslehre nicht ein. Bedenkt man aber, dass Fehr sich an der Bekämpfung der Interessenjurisprudenz beteiligte, indem er Heck ganz im Sinne des Nationalsozialismus vorwarf, dass seine Lehre frei von weltanschaulichen Prämissen sei,427 wird deutlich, dass sich die Dynamiker in den Methodenstreit nach 1933 einmischen wollten. Um als eine ernsthafte Konkurrenzlehre wahrgenommen zu werden, fehlten ihr jedoch zwei Voraussetzungen: einen namhaften Leitwissenschaftler und einen gewissen theoretischen Unterbau. Zwar waren Fehr und Swoboda keine unbeschriebenen Blätter, aber sie erreichten niemals den Rang von Carl Schmitt, Karl Larenz oder Phillip Heck. Die „Dynamiker“ gelangten niemals in den Kreis der „Kronjuristen des Dritten Reiches“. Sie waren keine Mitglieder der Kieler Schule und gaben nicht die entscheidenden Zeitschriften heraus. Zugleich hatten sie den Bezug zu dem Theoriegeber Spengler vollkommen abgeschnitten. Während eine Vielzahl von Juristen verschiedene Schriften von Schmitt, Larenz und Heck zitierten, lassen sich die juristischen Spenglerzitate ab 1933 an einer Hand abzählen. Und selbst diese wenigen Spenglerzitate betrafen aus dem gesamten Lebenswerk des Kulturphilosophen nur noch 423
Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 224 ff.; siehe insbesondere HKK/Haferkamp § 242 Rn. 71 ff. m.w.N. 424 Rüthers, Entartetes Recht, S. 33 ff. 425 Rüthers, Entartetes Recht, S. 33 ff. 426 Es handelte sich in der Tat in weiten Teilen um einen akademischen Streit. In der Gerichtspraxis waren vielfach einfache Leitsätze zur Beachtung des nationalsozialistischen Geistes wirkungsmächtiger. (Rüthers, Entartetes Recht, S. 52.) Zudem ist die hohe Anzahl der „normalen“ also eher ideologiefreien Entscheidungen etwa im täglichen Miet-, Verkehrs-, und Kaufrecht zu bedenken (siehe hierzu auch Rainer Schröder, „… aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben!“. Die Urteile des OLG Celle aus dem Dritten Reich, Baden-Baden 1988, S. 243 ff.). Für die Perspektive dieser Arbeit, die nur durch Spenglers Terminologie und die Autoren der dynamischen Rechtslehre geprägt wird, genügt es gerade aufgrund der geringen Beeinflussung der Praxis durch die Theorie, auf der theoretischen Ebene zu bleiben. Die dynamische Rechtslehre muss bei einem sinnvollen Vergleich neben die NS-Rechtstheorie gestellt werden, nicht neben die Praxis. 427 Fehr, Die Fortschritte des dynamischen Rechts, S. 36.
V. Bilder der dynamischen Rechtslehre
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den einen zentralen Satz aus der 30-seitigen Rechtsgeschichte. Das dynamische Rechtsdenken wurde daher von der Allgemeinheit der Juristen niemals als eine Theorie gleichen Ranges neben das konkrete Ordnungsdenken, den konkret allgemeinen Begriff, die Interessenjurisprudenz oder später die Wertungsjurisprudenz gestellt. Trotzdem darf den Begriffen Spenglers in den Mündern der Juristen ab 1933 nicht jede Wirkungsmacht abgesprochen werden, ganz im Gegenteil. Die hohe Anzahl der Begriffsverwendungen und die Durchdringung des Begriffs Dynamik mit nationalsozialistischem Inhalt sprechen eher dafür, dass das Dynamische ein von vielen anerkanntes Argument zur Rechtsumwertung darstellte. Die weite Verbreitung der Begriffe Statik und Dynamik im Nationalsozialismus ging fraglos auch auf Spengler zurück. Dass das „dynamisch-funktionelle Rechtsdenken“ zugleich immer deutlicher mit dem Nationalsozialismus assoziiert wurde, zeigt sich auch daran, dass die Begriffe, obwohl sie nicht zum Kern der NS-Ideologie gehörten, nach 1945 in ihrer Massivität von der Bildfläche verschwanden. Zu stark war diese Rechtslehre mit der nationalsozialistischen Weltanschauung verknüpft worden und zu stark wurde während 1933 und 1945 unter den Stichworten dynamisch-funktionell alles an dem Gemeinwohl einer arischen Volksgemeinschaft gemessen.
V. Bilder der dynamischen Rechtslehre V. Bilder der dynamischen Rechtslehre
Angesichts der Tatsache, dass das Dynamische kaum als ein eng definiertes Konzept verstanden wurde, sondern als eine Grundanschauung, die je nach Autor verschiedene Inhalte annehmen konnte, stellt sich die Frage, inwieweit diejenigen Autoren, die Spenglers Antonym verwendeten, davon ausgingen, einer einheitlichen Lehre anzugehören. Es drängt sich das Bild eines von verschiedenen Haltern gepflegten Chamäleons auf, das sich an die jeweils unterschiedliche wissenschaftliche Umgebung des Herrchens anpasste. Um im Bild zu bleiben, lautet die Frage also: Gingen die vielen verschiedenen Halter des Chamäleons davon aus, ein immer gleich aussehendes, „einheitliches“ Tier zu pflegen? Um dies zu beantworten, sind hier Selbst- und Fremdbeschreibungen des dynamischen Rechts nach Spengler zu untersuchen.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
1. Selbstdarstellung der dynamischen Rechtslehre Hans Fehr unternahm es 1933428 in einer knapp 30-seitigen Schrift, „die dynamischen Kräfte“ zu „verfolgen, die wir heute schon in der Wissenschaft, im Gesetz und in der Rechtsprechung wahrnehmen können.“429 Zunächst erläuterte er, dass in historischer Reihenfolge zuerst Oswald Spengler, dann Manfred Bott-Bodenhausen und dann 1928 er selber mit dem Werk „Recht und Wirklichkeit“ einen dynamischen Rechtsbegriff vertreten habe. Daneben zählte er eine Reihe weiterer Autoren auf, die er einer einheitlichen dynamischen Rechtslehre zurechnete: Gustav Klemens Schmelzeisen, Alfred Müller, Alexander Elster, Ernst Swoboda, Franz Beyerle und Heinrich Mitteis.430 Gewisse Übereinstimmungen bestünden auch mit Wilhelm Glungler und zudem überschneide sich die Interessenjurisprudenz von Phillip Heck „in zahlreichen Punkten“431 mit dem dynamischen Recht. Außerdem erwähnte Fehr die strafrechtliche soziologische Schule nach Liszt, die „vom dynamischen Satze“ ausgehe, „daß das Recht um der Menschen willen da ist.“432 Die Begriffe träten daher im Strafverfahren zurück, und der Mensch in den Vordergrund. Fehr attestierte also vielen Vorgängen im Rechtsleben, zur dynamischen Rechtslehre zu gehören. Zusätzlich rückte er Liszt und Heck in die Nähe des dynamischen Rechtsdenkens nach Spengler. Ein Abgrenzungsproblem zwischen verschiedenen Konnotationen existierte für ihn nicht. Das galt auch für den Dynamikbegriff des „Meisters“ Spengler. Vielmehr präsentierte Hans Fehr alle Autoren als gemeinsame Arbeiter an einem einheitlichen Weinberg. Die unterschiedlichen Themen und Zielsetzungen der verschiedenen Wissenschaftler und Praktiker dienten Fehr im Gegenteil gerade dazu, die breite Aufstellung des dynamischen Rechtsdenkens vorzuführen. Dies zeigte sich auch an folgendem Zitat: „Es zeigt sich: der Kreis der ‚Dynamiker‘ ist ein sehr breiter. Er umfasst die Welt des Rechtsanwalts (Bott-Bodenhausen), des Richters (Schmelzeisen; Swoboda, der Universitätsprofessor und Oberlandesgerichtsrat ist), des Verlagsjuristen (Elster), des Kulturhistorikers (Spengler) und der Germanisten (Beyerle, Mitteis, Fehr).“433
An dieser gruppenbildenden Aufzählung ist mehreres interessant: Zum Ersten wurde Spengler gleichberechtigt neben die Juristen gestellt. Zuvor 428
Die Schrift ist trotz ihres Erscheinungsjahres nicht von nationalsozialistischem Charakter geprägt (siehe oben S. 111, Fn. 405) und kann daher bedenkenlos vor einer vertiefenden Erörterung der dynamischen Rechtslehre im Nationalsozialismus herangezogen werden. 429 Fehr, Das kommende Recht, S. 6. 430 Fehr, Das kommende Recht, S. 6 ff. 431 Fehr, Das kommende Recht, S. 12 ff. 432 Fehr, Das kommende Recht, S. 25 ff. 433 Fehr, Das kommende Recht, S. 11. Klammerzusätze im Original.
V. Bilder der dynamischen Rechtslehre
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im Text wurde er ja bereits als der Ursprung des juristischen dynamischen Denkens dargestellt. Zum Zweiten entstand keine Vermischung mit den Dynamikkonzepten anderen Juristen, die im vorangegangenen Kapitel genannt wurden (etwa der Wert-Dynamik Müllereiserts, der dynamischen Rechtsbetrachtung der Wiener Schule). Fehr grenzte seine „Dynamiker“ zwar nicht zu diesen anderen Schulen ab, ignorierte sie aber dafür erfolgreich. Lediglich Léon Duguit nannte er als einen Autor, der es mit der dynamischen Idee übertrieben habe.434 Bei Fehr wurde alles, was sich dem Leben zuwendete, dynamisch. Andere Strömungen, die als ähnlich empfunden wurden, wie hier bei Fehr die Interessenjurisprudenz und die soziologische Schule im Strafrecht, wurden ebenfalls für die dynamische Rechtslehre vereinnahmt. Gleiches galt für das gemeinschaftsorientierte Rechtsdenken. Fasst man dies alles zusammen, so ergibt sich, dass laut der Selbstbeschreibung von Hans Fehr die dynamische Rechtslehre die wichtigste juristische Strömung ihre Zeit war. Fehr bezeichnete die Gruppenmitglieder 1933 als „Dynamiker“435 und verwendete dabei noch selber Anführungszeichen. Erst 1937 sprach er auch von einer „dynamischen Rechtslehre“436 die für ihn nun offenbar so etabliert war, dass sie keiner Anführungszeichen mehr bedurfte. Die gewissermaßen kleineren Ausgaben dieser Selbstbeschreibung befanden sich ab etwa 1930 häufig in Fußnoten der Autoren, die irgendeinen Aspekt des dynamischen Rechtsdenkens in ihre Arbeit integrierten. Hierbei wurde klar, dass man sich gegenseitig in gewissen Umfang wahrnahm.437 434
Fehr, Das kommende Recht, S. 12. Fehr, Das kommende Recht, S. 11. 436 Fehr, Die Fortschritte des Dynamischen Rechts, S. 36. 437 So kennt etwa Oppenheimer 1930 neben Spengler noch Domke, zählt aber auch Nussbaums Rechtstatsachenforschung und Ostwalds Rechtsenergetik zu dem von Spengler so prägnant beschriebenen Phänomen der Rechtsdynamik (Oppenheimer, Der Gesetzesmissbrauch, S. 29, S. 37 ff.); Callmann nennt in beiden Auflagen seines UWG Kommentars vorwiegend Spengler, Bott-Bodenhausen und Fehr als dynamische Rechtsdenker (Callmann, Der unlautere Wettbewerb, S. 87 f.); Schmelzeisens Selbstbeschreibung der dynamischen Rechtslehre umfasst Spengler, Fehr, Bott-Bodenhausen und Alfred Müller (Schmelzeisen, Die Relativität des Besitzbegriffs, S. 43 f., Fn. 14); auch Hedemann kennt 1935 neben Spengler Schmelzeisen und Hans Fehr als Dynamiker. Franz Arthur Müllereisert habe zwar, so Hedemann, bereits vor Spengler den Anfang des dynamischen Rechtsprinzips beschrieben, aber erst Spengler habe den Gegensatz zwischen statischem und dynamischem Denken deutlich herausgestellt (Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts, 2. Teil 2. Hb., S. 346, Fn. 20); 1938 verkündet Hermann Eichler in seiner Schrift über die „Wandlung des Eigentumsbegriffes“ das „aus der umfangreichen Literatur zur dynamischen Eigentumsausgestaltung […] nur einige Schriften zitiert werden“ können (Eichler, Wandlung des Eigentumsbegriffes in der deutschen Rechtsauffassung und Gesetzgebung, S. 66, Fn. 3). Eichler, der sich nicht selber auf Spengler beruft, zitiert die Spengler zitierenden Juristen Elster, Fehr, Swoboda, Hedemann, Schmelzeisen und du Chesne. Der Begriff der Dynamik wurde 1938 aber wohl bereits sehr allgemein mit sozi435
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
Neben den festen Größen der dynamischen Rechtslehre (vor allem Fehr und Swoboda) wurde der wechselnde Mitgliederbestand aus den Reihen derjenigen rekrutiert, die nur ein oder zwei Aufsätze beisteuerten.438 Ähnlich wie Fehr gemeindeten auch andere „Dynamiker“ zeitgenössisch breit diskutierte Methodenströmungen in die dynamische Rechtslehre ein, insbesondere die Interessenjurisprudenz. So sah Hedemann etwa die Interessenjurisprudenz und die Rechtssoziologie als „Vorboten einer dynamischen Behandlung des Rechtsstoffes“.439 Lüben Dikoff zählte 1943 auch Wieacker und Larenz zu den Dynamikern.440 Schmelzeisen kombinierte die Interessenjurisprudenz mit dem dynamischen Rechtsdenken.441 So entstand zumindest der Eindruck zweier kompatibler, sich ergänzender Lehren. Die dynamische Rechtslehre war in ihrer Selbstwahrnehmung die wichtigste juristische Strömung ihrer Zeit, und wurde ihrer Selbstdarstellung nach von vielen Autoren mitgetragen. Viele gaben an, dass Spengler einer der maßgeblichen Verbreiter der Idee gewesen sei. Man erkannte zwar, dass es inhaltlich um verschieden Themen ging, aber hielt sich für eine so überragend wichtige Grundlagenbewegung, dass die verschiedenen Kontexte hinter dem Grundbegriff der Dynamik verblassten. Die Dynamiker unterschieden – wenn auch nicht ausdrücklich – zwischen Begriff und Konzept, alem Rechtsdenken gleichgesetzt, so dass auch Oppikofer, Gierke, Binder, Maikowski und sogar Kant als Autoren der dynamischen Eigentumsausgestaltung genannt wurden (ebda.). 438 So werden etwa du Chesne oder Domke von Fehr 1933 nicht genannt. Einige der von Fehr genannten Autoren tauchen bei den anderen wiederum nicht in den Fußnoten auf. Freilich betont Fehr selber, dass er nur Beispiele für „Dynamiker“ nennt. Er weist damit implizit den Anspruch an Vollständigkeit zurück. Auch darin kann man freilich ein Charakteristikum der Selbstwahrnehmung der dynamischen Rechtslehre ablesen. Es geht kaum darum jemanden auszuschließen oder miteinzubeziehen. Vermutlich muss dies alles eher so gedeutet werden, dass man dazu gehörte, sobald man sich auf Spengler berief, und den Begriff „Dynamik“ auf ein rechtliches Konzept anwendete. Ob man von einer Autorität anerkannt wurde, etwa indem Fehr oder Swoboda einem die Ehre erwiesen genannt zu werden, war vermutlich nicht wichtig. Dies hing mit der irrationalen Diskussionskultur der dynamischen Rechtslehre zusammen, die später noch genauer beschrieben wird (S. 133 ff.). 439 Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts, 2. Teil 2. Hb., S. 346, Fn. 20. 440 „Bei dem dynamischen Rechtsgedanken wird die Sache vielmehr stets im Hinblick auf die ihr zugedachte Rolle im Leben der Gemeinschaft aufgefasst (Volkmar). Das Eigentumsrecht wird nicht mehr als ein begrenztes Verfügungsrecht über einen bestimmten Gegenstand definiert, sondern funktionell verstanden (Wieacker, Würdinger)“ […] „Wenn man richtigerweise annehme, dass die Volksgemeinschaft nicht […] ihr von außen auferlegte Normen lebt, sondern daß Recht eine erlebte Form des Lebens der Nation ist (Larenz)“, dann erscheint uns „(b)ei dieser Denkmethode […] das Recht immer dynamisch“ (Dikoff, Statisches oder dynamisches Recht?, S. 128). 441 Das Zusammenspiel kam in der Bezeichnung einer „teleologisch-dynamischen Rechtsbetrachtung“ schlagwortartig zum Ausdruck, Schmelzeisen, Die Relativität des Besitzbegriffs, S. 45.
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denn sie inkorporierten andere Strömungen, die ein ähnliches (lebensnahes, gemeinwohlorientiertes oder abstraktes) Konzept vertraten, und zwar unabhängig davon, ob die anderen Strömungen den Begriff der Dynamik verwendeten. Zwar war den zivilrechtlichen Spenglerianern der Begriff der Dynamik überragend wichtig, doch in einigen sehr seltenen Fällen finden sich Zitate, in denen die Dynamiker klar dafür aussprachen, dass die dahinterstehenden Konzepte noch wichtiger als der Begriff selber wären. So schrieb Fehr „Auch ist im letzten Jahrzehnt mit den Begriffen Statik und Dynamik, statisches und dynamisches Recht, so stark jongliert worden, dass nur dauernde Hinweise auf die Wirklichkeit des Rechts- und Wirtschaftslebens dem ganzen Fleisch und Blut verleihen können.“442 Insgesamt stellten sich die „Dynamiker“ selbstbewusst dar und hielten sich für das Zugpferd, der das Leben beachtenden sozialen Bewegung im Recht. Daher konnten sie auch Gierke, Binder, Wieacker, Larenz, Kant, Ostwald, die Interessenjurisprudenz, die Rechtssoziologie, die Rechtstatsachenforschung und die soziale Schule im Strafrecht, nicht nur zu ihren Mitstreitern, sondern ebenfalls zu eigentlichen Dynamikern machen. 2. Fremddarstellung in der Kritik der dynamischen Rechtslehre Ein Bild der Verwendung der Begriffe Dynamik und Statik nach Spengler durch die Juristen müsste auch dort entstanden sein, wo die Übernahme des Antonyms des Kulturphilosophen kritisiert wurde. Als bedeutendster Kritiker muss Herman Jsay443 gelten, dessen Vorstellung von der Einheitlichkeit der Dynamikverwendungen im Folgenden zu rekonstruieren ist. a) Hermann Jsay Jsay rief die Jurisprudenz geradezu dazu auf, spenglersche Gedanken abzulehnen. Als er 1927 den ersten dynamischen Spenglerismus zu entdecken geglaubt hatte, formulierte er sein Programm für die Zukunft: „Diese Art rechtsphilosophischen Schrifttums muß daher überall, wo es angetroffen wird, ebenso entschieden abgelehnt werden.“444 Dieser Aufgabe ging Jsay in den folgenden Jahren tatsächlich gewissenhaft nach. Gegenstand seiner Kritik war ausdrücklich nicht Spengler,445 sondern die juristischen Spenglerianer. Diese identifizierte er vor allem an der 442
Fehr, Das kommende Recht, S. 26. Siehe allgemein zu Hermann Jsay Günter Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung. Hermann Jsay (1873–1938), Berlin 1975. 444 „Spengler hat seine geistreichen Antithesen auf Grund flüchtig angelesener Notizen aufgestellt. Es wäre ungerecht, daraus dem Nichtjuristen einen Vorwurf zu machen. Das Buch Spenglers konnte nur ein Nichtfachmann […] schreiben, und gerade hierin liegt seine Bedeutung.“ Jsay, Rez. Rosenstock, Vom Industrierecht, S. 629. 445 Jsay, Rez. Rosenstock, Vom Industrierecht, S. 623. 443
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
Verwendung des Begriffes Dynamik. Da aber, wie bereits dargestellt, der Begriff Dynamik auch unter Juristen in den 1920iger Jahren zum Modewort avancierte, richtete Jsay seine Kritik auch versehentlich gegen Autoren, die den Begriff nur sehr selten verwendeten und sich dabei nicht auf Spengler beriefen. Vernichtend rezensierte er etwa Rosenstocks Werk „Vom Industrierecht“, weil darin zweimal auf Spengler verwiesen wurde. Jsay interpretierte und erklärte Rosenstocks Schrift vollständig aus der Perspektive des auf Spengler fußenden dynamischen Rechtsdenkens, um ihm dann vorzuwerfen, dass das dynamische Rechtdenken keinen Fortschritt ermögliche.446 Am Ende stellte Jsay erleichtert fest: „Eines jedenfalls dürfte die Schrift von Rosenstock bewiesen haben, nämlich, daß die von Spengler den deutschen Juristen gestellte Aufgabe lediglich auf einer unklar gedachten geistreichen Antithese beruht, die für die Rechtswissenschaft ebenso unbrauchbar ist, wie für die Rechtsanwendung.“447 Der Angegriffene entgegnete darauf, dass er Spengler nicht folge und schon gar nicht als Schüler Spenglers gelten könne. Generell habe er die Thesen Spenglers nach Erscheinen des ersten Bandes abgelehnt.448 Die Zitierung von Spengler, die Jsay im Übrigen nicht rügte, sei „in höflicher Anerkennung einzelner Bemerkungen Spenglers erfolgt“. Dies erschien Rosenstock aus seiner „ritterschaftlichen Gegnerschaft“ gegenüber Spengler als angemessen.449 In der Tat zitierte Rosenstock Spengler nur zweimal, in beiden Fällen ohne einen Zusammenhang zum Dynamikbegriff. Im Übrigen verwies Rosenstock darauf, dass sich jüngst auch Goldschmidt auf Spengler berufen habe.450 Auf die Verwendung der Begriffe Statik und Dynamik ging Rosenstock gar nicht ein. Das Antonym diente in seinem Werk auch weniger als Ankerpunkt der Theoriebildung, sondern eher als sprachliche Auflockerung. Jsay fühlte sich durch die Rechtfertigung Rosenstocks jedenfalls seinerseits wiederum zu einem Diskussionsbeitrag veranlasst. Zum Spenglerismusvorwurf führte er weiter aus, dass bei Rosenstock „die Anlehnung an Spengler gerade an solchen Stellen hervortritt, an denen Spengler nicht zitiert ist, nämlich überall da, wo Rosenstock an der ‚statischen‘ Behandlung im bisherigen Recht eine ‚dynamische‘ Behandlung fordert.“451 Jsay 446
Jsay, Rez. Rosenstock, Vom Industrierecht, S. 626 ff. Jsay, Rez. Rosenstock, Vom Industrierecht, S. 628. 448 Eugen Rosenstock, Idealistisches und namentliches Denken in: ARWP 21 (1927/28), S. 420–422, S. 420. Siehe zur vorangegangenen Kritik Eugen Rosenstock, Der Selbstmord Europas in: Hochland 16 (1919), S. 529–553. 449 Rosenstock, Idealistisches und namentliches Denken, S. 420. 450 Gemeint ist wohl das Eingangszitat im Werk „Der Prozess als Rechtslage“. Ein konzeptueller Spenglereinfluss lässt sich hier allerdings nicht belegen. Siehe hierzu unten Fn. 491. 451 Hermann Jsay, Erwiderung in ARSP 21 (1927/28), S. 423–424, S. 424. 447
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machte den Spenglervorwurf also anhand der Begriffe fest. Dass der Begriff der Dynamik in „Vom Industrierecht“ eine völlig untergeordnete Rolle spielte, hinderte Jsay nicht, Rosenstock anhand des Indizes der Begriffsverwendung des Spenglerismus zu überführen. Eine ähnliche Spenglerdebatte lieferte sich Jsay mit Ludwig Bendix im Berliner Arbeitsblatt.452 Bendix hatte Spengler nicht zitiert und nur einmal 452
Ludwig Bendix veröffentlichte in der Märzausgabe des Berliner Anwaltsblattes von 1928 einen Artikel mit dem er unter anderem in der Diskussion um § 11 ArbGG Stellung bezog (Ludwig Bendix, Kritische Betrachtungen zum arbeitsgerichtlichen Verfahren in: BAB Heft 3 1928, S. 10–15). Der letzte Satz der Ausführungen von Bendix enthielt den Passus: „das Recht und seine Anwendung [sei] nicht eine statische feste Ordnung, sondern eine dynamische Auseinandersetzung widerstrebender Kräfte und entgegengesetzter Interessen und Weltanschauungen“ (S. 14 f.). Aus allen sonstigen Werken von Bendix ließ sich erkennen, dass Spengler keine Bedeutung für ihn hatte (siehe vor allem: Ludwig Bendix, Das Problem der Rechtssicherheit. Zur Einführung des Relativismus in die Rechtsanwendungslehre, Berlin 1914; ders., Die irrationalen Kräfte der zivilrechtlichen Urteilstätigkeit auf Grund des 110. Bandes der Entscheidungen des Reichsgerichtes in Zivilsachen, Breslau 1927; ders., Die irrationalen Kräfte der strafrichterlichen Urteilsfähigkeit. Dargestellt auf Grund des 56. Bandes der Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Berlin 1928). Im Streit mit Jsay gab er sogar an, den zweiten Band des spenglerschen Hauptwerkes nicht gelesen zu haben (Bendix, Die Rechtsanwendung: Statisch-rational oder Dynamisch-irrational?, S. 9). Jsay antwortete jedoch einen Monat später im Berliner Anwaltsblatt auf Bendix’ Aufsatz, oder genauer gesagt, auf Bendix letzten Satz. In seiner nicht ganz unpolemischen Erwiderung bemängelte Jsay, dass die Begriffe Statik und Dynamik im Rechtssinne unklar blieben. Bendix hingegen hätte die Begriffe Statik und Dynamik als Jurist durchdenken und erläutern müssen, wenn er sie in einer Fachzeitschrift verwende. Dies sei ihm nicht gelungen (Hermann Jsay, Zur Frage des Ausschlusses der Anwälte von den Arbeitsgerichten 1. Instanz in: BAB Heft 4 1928, S. 8–11, S. 11). Bendix zögerte nach eigenen Angaben mit einer Antwort auf Jsays Replik. Als Begründung gab er an, dass Jsay sich mit seinen „logisch anscheinend zwingenden Darlegungen … auf einer anderen Ebene, als ich zu denken und argumentieren gewohnt bin“ (Bendix, Die Rechtsanwendung: Statisch-rational oder Dynamisch-irrational?, S. 6) befinde. Bendix trat im Folgenden mitnichten als Verteidiger Spenglers auf. Er verwies auch nicht zur Verteidigung auf andere Autoren der dynamischen Rechtslehre. Wohl aber hielt er an den Begriffen Statik und Dynamik fest, die ihm schlicht geeignet erschienen, um den Gegensatz zwischen Dogmatik und Leben und zwischen Rationalität und Irrationalität auf den Punkt zu bringen. Dabei machte es ihm keine Schwierigkeiten zuzugeben, dass das Antonym sich nicht auf dogmatische Begriffe bezog. Für Bendix bestand der Fehler von Jsay bereits darin, nach Rechtsbegriffen zu suchen: „Ja, lieber Herr Kollege Jsay, es stecken gar keine Rechtsbegriffe dahinter. Warum denn auch?“ (Bendix, Die Rechtsanwendung: Statisch-rational oder Dynamisch-irrational?, S. 8). Jsay ließ es sich nicht nehmen auch hierauf eine „Quadruplik“ zu verfassen (Hermann Jsay, Nochmals zur Frage des Ausschlusses der Anwälte vor den Arbeitsgerichten 1. Instanz in: BAB Heft 12 1928, S. 11–14). Diese löste sich inhaltlich nun vollständig vom Thema Spenglerismus und dynamischem Rechtsdenken. Was übrig blieb, war ein persönlicher Disput zwischen Jsay und Bendix, der noch einen kleinen Bezug zur ursprüngli-
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den Begriff Dynamik verwendet. In Jsays vielbeachteten453 Buch „Rechtsnorm und Entscheidung“ von 1929 führte der Freirechtler in einer längeren Fußnote neben Rosenstock und Bendix, die er weiterhin als Spenglerianer aufführte, jetzt auch Goldschmidt, Müller und Fehr als fehlgeleitete Dynamiker auf.454 In der gleichen Fußnote in „Rechtsnorm und Entscheidung“ bemängelte Jsay weiter, dass Kelsen mit den Begriffen Statik und Dynamik den Unterschied zwischen Naturrecht und positivem Recht darstellen wolle. Auch Kelsen rückte er damit in die Nähe der „Dynamiker“, wenngleich Jsay ihm nicht ausdrücklich Spenglerismus vorwarf. Ebenfalls 1929 nahm Jsay Swobodas Spenglerverwendung ins Visier.455 Auch in der GRUR entbrannte 1930/31 ein Streit über die Sinnhaftigkeit der Verwendung der Begriffe Statik und Dynamik in der Rechtswissenschaft,456 an dem Jsay teilnahm. Er kritisierte hier vor allem die Dynamikverwendung von Rudolf Callmann und Alexander Elster.457 Nimmt man all diese Texte Jsays zusammen, so lässt sich ablesen, welches Bild er von der Verwendung des Begriffs Dynamik nach Spengler hatte. Wichtig im vorliegenden Zusammenhang ist dabei vor allem, dass Jsay offenbar den Eindruck hatte, eine breite Bewegung vor sich zu haben. Neben den Spenglerianern Fehr, Müller, Elster und Callmann kritisiert er chen arbeitsgerichtlichen Frage aufweist, aber keinen weiteren Beitrag zum Thema der vorliegenden Arbeit leistete. 453 Roßmanith fand ganze 20 Rezensionen (Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, S. 94 ff., S. 139 f.). Beachtlich ist auch, dass die Rezension von Wieruszowski in der Juristischen Wochenschrift, in welcher kurze Rezensionen üblich sind, drei volle Seiten in Anspruch nehmen durfte (Genossenschaftspräsident und Prof. Alfred Wieruszowski, Rez. Jsay, Rechtsnorm und Entscheidung in: JW 59 (1930) S. 44–47). Teilweise sind Aufsätze in dieser Zeitschrift kürzer geraten als die Besprechung von Jsay Werk. 454 Hermann Jsay, Rechtsnorm und Entscheidung, Berlin 1929, S. 253 f., Fn. 7. 455 Hermann Jsay, Rez. Swoboda, Die Neugestaltung der Grundbegriffe unseres bürgerlichen Rechts, ihre Bedeutung für die Gegenwart und für das Privatrecht der Zukunft in: JW 58 (1929), S. 1734–1735, S. 1735. 456 Jsay antwortet hier direkt auf Beiträge von Rudolf Callmann und Alexander Elster. Letzterer hatte in dieser Zeit vieles über das dynamische Recht nach Spengler und Fehr verfasst (siehe oben S. 54 f.). Es geht hier zum ersten Mal um zentrale Personen der dynamischen Rechtslehre, die auch in der Selbstbeschreibung bei Hans Fehr und anderen eine Rolle spielen. Im Übrigen mischte hier auch noch Wilhelm Glungler mit, der kurz zuvor das Antonym Statik/Dynamik prominent in seiner Dissertation vertreten hatte. Er stellte in seinem Beitrag klar, ohne auf die anderen Dynamik-Aufsätze einzugehen, dass es auf die Überwindung von Statik und Dynamik in einer pragmatischen Rechtsauffassung ankomme (Glungler, Die Ueberwindung des „Statischen“ und „Dynamischen“, S. 739–747; siehe hierzu auch Wilhelm Glungler, Rechtsschöpfung und Rechtsgestaltung, 4. Aufl. mit ausführlichem Geleitwort, München 1931, S. 20 ff.). 457 Jsay, Die Verwendung der Begriffe des „Statischen“ und „Dynamischen“ in der Rechtswissenschaft, S. 108.
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auch die Dynamikverwendungen von Rosenstock, Bendix und Goldschmidt, die ihrerseits jedoch bei der Wahl ihrer Terminologie nicht an Spengler gedacht hatten. Auch Hans Kelsens dynamisches Naturrecht rückte Jsay in die Nähe der „Spenglerianer“. Dadurch entstand das Bild einer insgesamt breiten, von zahlreichen Autoren betriebenen Bewegung. Konstitutiv für die Mitgliedschaft in dieser Bewegung war aus Sicht von Jsay die Verwendung des Antonyms in einem nicht ausdrücklich sozialwissenschaftlichen, auf Comte zurückgehenden Sinn.458 Wohlgemerkt fungierte jede andere Verwendung des Begriffs „Dynamik“ für den Freirechtler als eine unwiderlegliche Vermutung für einen Spenglereinfluss. Auch so etwas wie die „eidesstattliche Versicherung“ kein Dynamiker nach Spengler zu sein nützte den Angegriffenen nichts, wie im Fall von Rosenstock und Bendix gezeigt werden konnte. Das bedeutet, das Jsay davon ausging, dass Spengler einen derart wirkungsmächtigen und prägenden Einfluss auf die Modebegriffe hatte, dass die Juristen, ohne es bewusst zu merken, Spenglers Gedankengut durch die bloße Verwendung der Begriffe weiter zu verbreiteten. b) Andere Kritiker Ein solches Bild hatten auch die weiteren Kritiker der Verwendung der Begriffe Statik und Dynamik nach Spenglers vor sich. So bemerkte etwa Max Rümelin, dass „(d)as Wort ‚dynamisch‘ […] neuerdings Modeschlagwort unter den mit mehr oder weniger Glück philosophierenden Juristen geworden“459 sei. Franz Arthur Müllereisert sprach etwa von „juristischen Verehrern“460 und von „unzähligen Epigonen“461 Spenglers. Die „juristischen Autoren“ hätten sich „von dem spenglerschen Schlagwort gefangen nehmen“462 lassen. Dazu muss man allerdings wissen, dass Müllereisert seiner eigenen Theorie ab 1913463 den Namen „Wert-Dynamik“ gegeben hatte und sich darüber beklagte, dass Spengler Schlagworte die Wahrneh-
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Einer solchen Verwendung stand Jsay wohlwollend gegenüber, Jsay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 253 ff. 459 Max Rümelin, Rez. Wurzel, Die Sozialdynamik des Rechts, in: AcP 29 (1928), S. 353–362, S. 359. 460 Da Spengler die Lehre der Wert-Dynamik „übersah und weil ihre elementare Wichtigkeit ihm völlig entgangen war, mussten seine juristischen Verehrer in die Irre gehen.“ (Müllereisert, Juristische Grundbegriffe, S. V). 461 Müllereisert stellte nämlich weiter fest, „daß keiner der unzähligen Epigonen aus dem spenglerschen Gedanken etwas brauchbares zu liefern im Stande gewesen ist.“ (Müllereisert, Juristische Grundbegriffe, S. IV). 462 Müllereisert, Juristische Grundbegriffe, S. IV. 463 Franz Arthur Müllereisert entwickelte in in einer Vielzahl von Schriften zwischen 1913 bis 1956 seine Lehre von einer Wert-Dynamik. Siehe hierzu oben S. 64, Fn. 163.
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mung seiner Theorie verhindert hätten.464 Müllereisert war davon überzeugt, dass „(d)ie juristische Theorie der letzten zwanzig Jahre […] wohl kaum von einer Idee so angeregt worden“ sei, „wie von dem Gedanken einer rechtlichen Dynamik.“465 Er lehnte also den spenglerschen Gedankeninhalt ab, weil er der Ansicht war, dass unzählige Juristen den Begriff „Dynamik“ untrennbar mit Spengler verbunden hatten. Gleichzeitig propagierte er selber ein dynamisches Rechtsdenken. Bei dieser Gemengelage ist es wenig verwunderlich, dass Phillip Heck seine Vorwürfe gegen das dynamische Rechtsdenken gleichermaßen gegen Spengler und Müllereisert wendete.466 Der Mode- und Schlagwortcharakter des Begriffs Dynamik scheint allseits bekannt gewesen zu sein. Eine Abgrenzung zwischen verschiedenen Dynamikonnotationen erfolgte nur, wenn es den Autoren darum ging, ihre eigene Begriffsverwendung von Spengler zu distanzieren. Dies war jedenfalls der vorwiegende Antrieb Müllereiserts. Der Wiener Josef Kunz wollte „zwei Anwendungen“ des Dynamikbegriffes voneinander unterscheiden nämlich „bei Spengler und in der ‚Wiener Schule‘“467. Damit befreite Kunz den Dynamikbegriff der Wiener Schule auch sogleich von jedem Spenglerverdacht. Auch der große Kritiker Hermann Jsay verwendete selber die Begriffe Statik und Dynamik, so wie sie fußend auf Comte in der Sozialwissenschaft gebraucht wurden.468 Ein Hauptbeweggrund war also auch für Jsay eine Abgrenzung seiner eigenen Lehren zu Spengler und den „Dynamikern“.469 Rümelin warnte den Leser von Wurzels Buch „Die Sozialdynamik des Rechts“ in einer Rezension vor der unpräzisen Verwendung der 464
„So ausschließlich die von mir als jungem Rechtspraktikanten und Assessor gefundene und publizierte rechtliche Dynamik von der gesamten Zunft einmütig ignoriert wurde, so bereitwillig ließen sich nunmehr die juristischen Autoren von dem spenglerschen Schlagwort gefangen nehmen.“ (Müllereisert, Juristische Grundbegriffe, S. IV). 465 Müllereisert, Juristische Grundbegriffe aus dem Vertrags-, Schuld-, Urheber-, und Sachenrecht, S. I. 466 Heck, Die dynamische Methode Müllereiserts und die praktische Rechtswissenschaft. 467 Kunz, Statisches und dynamisches Völkerrecht, S. 217. 468 Als das Wort „statische Betrachtung“ zum ersten Mal in „Rechtsnorm und Entscheidung“ fiel, folgte in der nächsten Fußnote sogleich die Spenglerkritik und der Hinweis auf die „gute“ = „soziologische“ Verwendung des Begriffes: Jsay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 253 f., Fn. 7. 469 Jsay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 253 ff.; beachtlich ist in diesem Zusammenhang, dass Smoschewer in seiner Rezension von „Rechtsnorm und Entscheidung“ die strenge Gesetzesanwendung, also Jsays Darstellung der praktischen Vernunft im Recht als starr und die Verwendung der intuitiven Rechtsgefühlmethode als beweglich bezeichnet (Fitz, Smoschewer, Zu Hermann Jsays „Rechtsnorm und Entscheidung“ in: GRUR 34 (1929), S. 1265–1279). Möglicherweise spielte hier ein Zeitgenosse mit den Begriffen ein intellektuelles Spiel, indem er durch „starr“ und „beweglich“ andeute, dass Jsay ebenso gut die Begriffe statisch und dynamisch als Bezeichnung hätte verwenden können.
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Begriffe Statik und Dynamik, wie sie infolge von Spenglers Untergang des Abendlandes unter Juristen üblich geworden sei.470 Diese vielen Warnungen vor der spenglerschen Begriffsverwendung enthalten zwei Implikationen, die hier bedeutsam sind: Zum einen lohnt es sich nur, vor etwas zu warnen und sich von etwas abzugrenzen, von dem man glaubt, dass es eine ausreichend große Bedrohung darstellt. Die Dynamikverwendung nach Spengler wurde also als ausreichend wirkungsmächtig erachtet, so dass eine Warnung notwendig erschien. Zum anderen warnten die Kritiker vor den juristischen Verwendungen von Spenglers Antonym, ohne wiederum inhaltlich zu differenzieren, welche Dynamikkonnotation besonders gefährlich oder unfruchtbar sei, und was welcher Autor genau ausdrücken wollte, als er sich auf Spengler berief. Da die Kritiker davon ausgingen, dass man mit den spenglerisierten Begriffen gar nichts Sinnvolles ausdrücken könne, lag es auch nicht nahe, dass sie verschiedene Begriffsverwendungen unterschieden. Dadurch entstand aber jedenfalls wiederum das Bild eines einheitlichen und konsistenten Phänomens. 3. Äußerungen in Rezensionen zu Schriften der dynamischen Rechtslehre Den Kritikern der dynamischen Rechtlehre nach Spengler konnte zumindest auch ein Eigeninteresse unterstellt werden. Um ihr Ziel zu erreichen, mussten sie darstellen und selber glauben, dass die vielen Juristen Spengler folgten. Ihre Kritik wäre sonst sinnlos gewesen. Es darf vermutet werden, dass man einen anderen – möglicherweise weniger von Eigeninteressen geprägten – Blick auf die Begriffsverwendung nach Spengler erhält, wenn man die Rezensionen zu juristischen Büchern auf die Darstellung des dynamischen Rechtsdenkens hin untersucht. In den meisten Rezensionen der durch Swoboda ab 1929 publizierten Werke471 fanden sich Hinweise auf den Ursprung des Dynamikbegriffes 470
Rümelin, Rez. Wurzel, Die Sozialdynamik des Rechts, S. 359. Siehe etwa Ohne Namen, Rez. Swoboda, Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants in: Gruchot 69 (1928), S. 142; Staatsanwalt Danzer Rez. Swoboda, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants in: LZ 21 (1927), Sp. 69; Johan David Sauerländer, Rez. Swoboda, Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants in: JW 55 (1926), S. 2520; Salomon (Vorname unbekannt), Rez. Swoboda, Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants in: ARWP 20 (1926/1927), S. 318–319; Robert Neurer, Rez. Swoboda, Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants in AcP 127 (1927), S. 118– 121; den Bezug zu einer größeren dynamischen Rechtslehre und zu Spengler sahen die Rezensenten 1926 freilich noch nicht. Zwar gehört Swobodas „Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants“ in eine Reihe zu seinen späteren Schriften, da er Zeiler und Kant bereits stark in den Vordergrund rückte, jedoch wurde Spengler hier nur einmal erwähnt, und das Antonym Statik/Dynamik kaum verwendet. 471
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
bei Spengler,472 wobei teilweise auch erkannt wurde, dass sich das dynamische Denken durch Swobodas Schriften wie ein roter Faden ziehe,473 eine Einbeziehung in den Kontext anderer Werke einer dynamischen Rechtslehre fand in den Rezensionen aber kaum statt. Nur einmal war zu lesen, dass Swobodas Zentralbegriff der Dynamik ein „Modewort“ sei, welches auch von Schmelzeisen und neuerdings von der nationalsozialistischen Rechtslehre übernommen worden sei.474 Fehrs Schriften zur dynamischen Rechtslehre wurden insgesamt seltener rezensiert, als diejenigen Swobodas. Sein viel beachtetes Werk „Recht und Wirklichkeit“ überstrahlte dabei seine übrigen Publikationen bei Weitem. Dass dieses Manifest der dynamischen Rechtslehre nicht in den Kontext weiterer „Dynamiker“ gestellt wurde,475 lag zu einem großen Teil daran, dass das Buch als Ausgangspunkt zur Verbreitung der von Spengler inspirierten juristischen Lehre angesehen werden muss.476 Erst danach verbreitete sich die Kunde von der Existenz einer dynamischen Rechtlehre in weite Kreise. Die Rezensionen zu Fehr und Swoboda sind also wenig ergiebig. Für viele andere Werke wurden kaum Rezensionen gefunden.477 Die einzige Rezension zu „Formatives und funktionales Recht“ fasste ohne die Nennung der weiteren Gelehrten, auf die sich Bott-Bodenhausen stützte, den Text folgendermaßen zusammen: „Im Ganzen handelt es sich wohl um den Ersatz der statischen durch die dynamische Rechtsauffassung, wie er bereits mehrfach empfohlen wurde (Spengler).“478 Hier wurde die Komplexität der Gedanken Bott-Bodenhausens auf den populären Spengler und sein Schlagwort komprimiert.
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So bei Ministerialrat Johan David Sauerländer, Rez. Swoboda, Die Neugestaltung der Grundbegriffe unseres Bürgerlichen Rechts, ihre Bedeutung für die Gegenwart und für das Privatrecht der Zukunft in: LZ 26 (1932), Sp. 979. 473 So Schmelzeisen, Rez. Swoboda, Die Neugestaltung des bürgerlichen Rechts, Brünn 1935, S. 357; Wohlhaupter, Rez. Swoboda, Die Neugestaltung des bürgerlichen Rechts, S. 317–321. 474 Reichel, Rez. Swoboda, Das Privatrecht der Zukunft, Sp. 1509. 475 Keinen Bezug zu anderen „Dynamikern“ findet sich bei Reichsminister a.D. Schiffer, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, Sp. 513; Radbruch, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 785; Ernst Fuchs, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit in: JW 57 (1928), S. 785; His, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 373 f.; Hans Wolff, Rez. Fehr Recht und Wirklichkeit in: ARWP 22 (1928/1929), S. 180–182. 476 Siehe oben S. 41 ff. 477 Obwohl zahlreiche angesehene Zeitschriften durchgesehen wurden, fanden sich für Baenders und Hills Dissertation keine Besprechungen. Sie wurden also offenbar kaum beachtet. 478 Sauerländer, Rez. Bott-Bodenhausen, Formatives und funktionales Recht in der gegenwärtigen Kulturkrisis, Sp. 152.
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Wie sah es bei den übrigen Autoren aus, die in teilweise umfangreichen Werken nur kleine Passagen dem dynamischen Rechtsdenken widmeten? Hier wäre es geradezu ein Beweis für die Verbreitung der spenglerschen Begriffe, wenn ein Rezensent die entsprechenden Passagen überhaupt für erwähnenswert gehalten hätte. In einigen Rezensionen wurde die Verwendung der Begriffe Statik und Dynamik gar nicht angesprochen.479 Anders war dies bei dem vielfach gerühmten in zwei Auflagen erschienenen Kommentar zum Wettbewerbsrecht von Rudolf Callmann.480 Dass hier das dynamische Rechtsdenken vorangebracht wird,481 fiel zunächst Alexander Elster auf, der selber in den entsprechenden Jahren stark von Fehr und Spengler beeinflusst war.482 Immerhin entdeckte aber auch Eugen Ulmer in einer Rezension der ersten Auflage die kurze Textstelle. Er führte hierzu aus, dass Callmann „wie mancher andere, den Spuren Oswald Spenglers“483 folge. In einer Rezension in der GRUR wurde das dynamische Denken bei Callmann unter Be479
Negativ fiel die Untersuchung für Hedemanns letzten Band der „Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jh.“ aus: Keine Hinweise auf Spengler und die dynamische Rechtslehre bei Arthur Schmidt, Rez. Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im neunzehnten Jahrhundert, 2/II in: AcP 142 (1936), S. 233–240; Rechtsanwalt Plum, Rez. Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im neunzehnten Jahrhundert, 2/II in: JW 64 (1935), S. 1917 f.; Gleiches galt für das Werk „Vom römischen zum christlichen Naturrecht“ des Kirchenrechtlers Emil Erich Hölscher. Zwar räumte er in seinem Buch der dynamischen Rechtslehre immerhin ein ganzes Kapitel ein, wurde aber ebenfalls in Rezensionen nicht als „Dynamiker“ wahrgenommen (siehe nur Bon, Rez. Hölscher, Vom römischen zum christlichen Naturrecht in: LZ 26 (1932), S. 703). 480 Rezensionen ohne Hinweis auf Spengler und die dynamische Rechtslehre: Eugen Ulmer, Rez. Callmann, Der unlautere Wettbewerb, 2. Aufl. 1932 in: AcP 139 (1934), S. 366–370; Kammergerichtsrat Jacobi, Rez. Callmann, Der unlautere Wettbewerb, 1. Aufl. 1929 in: DJZ 36 (1931), Sp. 176; Ludwig Wertheimer, Rez. Callmann, Der unlautere Wettbewerb, 1. Aufl. 1929 in: LZ 23 (1929), Sp. 1430 f.; ders., Rez. Callmann, Der unlautere Wettbewerb, 2. Aufl. 1932 in: LZ 27 (1933), Sp. 340 f.; Rez. Callmann, Der unlautere Wettbewerb, 2. Aufl. 1932, in: ZSR 52 (1933); Hans Kirchberger, Rez. Callmann, Der unlautere Wettbewerb, 1. Aufl. 1929 in: JW 58 (1929), S. 2581 f.; Martin Wassermann, Rez. Callmann, Der unlautere Wettbewerb, 1. Aufl. 1929 in: JW 58 (1929), S. 2582; Hans Kirchberger, Rez. Callmann, Der unlautere Wettbewerb, 2. Aufl. 1932 in: JW 62 (1933), S. 213 f. 481 Callmann hatte hier das dynamische Rechtsdenken als neuere Rechtsentwicklung beschrieben, die insbesondere im Wettbewerbsrecht fruchtbar angewendet werden könne. Da es sich bei dem UWG seit 1909 hauptsächlich um eine Generalklausel, also – um mit Hedemann zu sprechen – um ein Stück offen gelassener Gesetzgebung handelte, müsse man besondere sensibel die neuesten rechtstheoretischen Bewegungen beachten, und dazu gehöre auch das Umdenken vom statischen zum dynamischen Recht, so die Logik Callmanns. 482 Siehe oben S. 54 f. 483 Eugen Ulmer, Rez. Callmann, Der unlautere Wettbewerb, 1. Aufl. 1929 in Gruchot 71 (1930), S. 660–662, S. 661.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
rufung auf Jsay abgelehnt,484 was zu einem Streit über das dynamische Rechtsdenken führte, der über mehrere Aufsätze ausgetragen wurde. Es lohnt sich, weiter einen Blick auf Rezensionen zu solchen Werken zu werfen, die zwar das Antonym Statik-Dynamik in den Mittelpunkt ihrer Erörterungen stellten, aber nicht die geringste Spenglerreferenz aufweisen. Dies war etwa bei Wilhelm Glunglers „Rechtsschöpfung und Rechtsgestaltung“ der Fall, für den zwar der Antagonismus aus statischer und dynamischer Auffassung zentral war, der aber weder Spengler noch sonst einen juristischen „Dynamiker“ zitierte. Dementsprechend häufig wurde Glunglers Werk als ein alleinstehendes Phänomen rezensiert.485 Dass aber nicht alle Zeitgenossen das Werk so isoliert betrachteten, deutete ein Rezensent an, wenn er von dem „heute so häufig behandelten Begriffspaar“ Statik und Dynamik sprach.486 Ein anderer Rezensent schrieb ausdrücklich, dass Glungler „im Anschluss an Alfred Müller, Radbruch, Fehr und Sauer […] die dynamische und statische Auffassung“ des Rechts unterscheide.487 Das Bild, das dabei entstand, wies zwar nicht eindeutig auf den Ursprung der Begriffe bei Spengler hin, suggerierte aber, dass eine gemeinsame einheitliche Verwendung des Dynamikbegriffes vorliege. Dabei überraschte vor allem der Name Gustav Radbruch. Dieser hatte ab der 5. Auflage seiner „Einführung in die Rechtswissenschaft“ das Antonym Statik/Dynamik verwendet, um den Unterschied zwischen einer Eigentumsvorstellung in einer auf Tauschwirtschaft basierenden und einem finanzkapitalistischen Wirtschaftssystem abzugrenzen.488 Radbruch selber rezensierte Fehrs 484
Eduard Reimer, Rezension Callmann, Der unlautere Wettbewerb in: GRUR 1929, S. 1228–1230. 485 So etwa Landgerichtsrat Auble, Rez. Glungler Rechtsschöpfung und Rechtgestaltung LZ 24 (1930), S. 75; Eduard His, Rez. Glungler, Rechtsschöpfung und Rechtsgestaltung in: ZSR 49 (1930), S. 126–127; siehe auch die ab der 3. Aufl. in Glunglers Werk abgedruckten Rezensionen. In der 4. Aufl. befinden sich im Anhang Auszüge aus ganzen 99 Rezensionen, die unter Ausschöpfung von regionalen und ausländischen Zeitungen vom Beckverlag zusammengetragen wurden. 486 Landgerichtsrat Darmstädter, Rez. Glungler, Rechtsschöpfung und Rechtsgestaltung in: JW 59 (1930), S. 1292. 487 Carl Koehne, Rez. Glungler, Rechtschoepfung und Rechtsgestaltung, München 1930 in: ARWP 23 (1929/30), S. 360–361, S. 361. 488 Gustav Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 5. und 6. Aufl. 1925, S. 79 f.; diese Unterscheidung fand sich auch in Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Stuttgart 1956, S. 243. Die Grundaussage in dem kurzen prinzipiellen Abschnitt über den Unterschied zwischen dinglichen und obligatorischen Rechten blieb über alle Auflagen gleich. Es ging Radbruch nämlich vordergründig um eine Analyse und Abgrenzung von dinglichen und obligatorischen Rechten, und hintergründig um eine Kapitalismuskritik. In den frühen Auflagen wurde das Wesen des Kapitalismus bereits mit Bildern von Ruhe und Bewegung beschrieben: „Nur in der Bewegung findet das Kapital seine Ruhe“, ohne jedoch „jemals im Sachenrechte dauernd Ruhe zu finden“ (Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 2. Aufl. Leipzig 1913, S. 54 f.). Die Be-
V. Bilder der dynamischen Rechtslehre
131
„Recht und Wirklichkeit“ und bemerkte dabei, dass der bei Fehr auf Spengler fußende Übergang, von einer statischen zu einer dynamischen Rechtsordnung „wohl im wesentlichen den Übergang von einer von Sachenrecht beherrschten zu einer von Forderungsrecht beherrschten (Kredit-)Wirtschaft.“489 bezeichne. Es erschien daher so, als bestünde eine besondere Nähe, ja letztlich kaum ein Unterschied zwischen Fehrs bzw. Spenglers und Radbruchs Dynamikbegriff. Das wurde von der dynamischen Rechtslehre dankbar aufgenommen, war Radbruch doch eine Autorität. So verteidigte sich Callmann gegen Jsay, indem er darauf verwies, dass auch Radbruch den Begriff der Dynamik verwendet habe.490 Ertragreich dürfte es auch noch sein, Rezensionen zu Goldschmidts „Der Prozess als Rechtslage“ unter die Lupe zu legen. Der Prozessrechtler verwendete Spenglers Begriffe und stellte seinem Vorwort ein Zitat des Kulturphilosophen voran. 491 Die meisten Rezensenten erkannten zwar, griffe Statik und Dynamik wurden dazu allerdings nicht verwendet. Dies änderte sich ab der fünften und sechsten durchgearbeiteten Aufl. von 1925. Hier war an gleicher Stelle zu lesen: „Sachenrecht und Forderungsrecht sind für die Rechtswelt dasselbe wie Stoff und Kraft für die natürliche Welt – jenes das ruhende, dieses das bewegende Element, und je nach der Vorherrschaft des einen oder des anderen kann man statische und dynamische Formen des Rechtslebens unterscheiden.“ (Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 5. und 6. Aufl. 1925, S. 79 f.). Während Radbruch das mittelalterliche und neuzeitliche Rechtsleben als statisch bezeichnet, skizziert er das moderne Rechtsleben als dynamisch (S. 80). Da kein Wechsel in der inhaltlichen Aussage stattfand, war die Verwendung des Antonyms vermutlich der Mode der Begriffe geschuldet. Das ist ein Indiz dafür, dass Spenglers Buch insgesamt die Bereitschaft der Juristen erhöhte, die Begriffe zu verwenden, beweist aber nicht, dass Radbruch beim Abfassen dieser Zeilen den Kulturphilosophen „vor Augen“ hatte. 489 Radbruch, Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 785. 490 Callmann, Der unlautere Wettbewerb, 2. Aufl., S. 88. 491 James Goldschmidt stellte seinem bekannten Werk, „Der Prozess als Rechtslage – Eine Kritik des prozessualen Denkens“ bereits im Vorwort ein Zitat von Spengler voran. Es handelte sich um die bereits mehrfach genannten schlagwortgebenden Zeilen Spenglers: „Die Römer schufen eine juristische Statik, unsere Aufgabe ist eine juristische Dynamik.“ (James Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage. Eine Kritik des Prozessualen Denkens, 1. Aufl. Berlin 1925, S. V). Daher gibt Nörr an, dass Goldschmidt irgendwie von Spengler beeinflusst gewesen sei (Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, S. 35 und S. 230 f.). Bei näherer Betrachtung ergibt sich jedoch, dass hinter der Verwendung der Begriffe Dynamik und Statik hier kein Ideentransfer von Spengler zu Goldschmidt zu verzeichnen ist. Zunächst ist festzuhalten, dass in dem auf das Zitat folgenden Vorwort, Goldschmidt seine eigentlichen geistigen Väter benannte, ohne jedoch zu Oswald Spengler ein Wort zu verlieren. Goldschmidt folgte Spengler auch insofern nicht, als er der Untersuchung römisch-rechtlicher Prozessrechtsgrundlagen einen breiten Raum zur Verfügung stellte und dabei von einer durchgehenden Entwicklung des Prozessrechts ausging, also gerade von der Kontinuitätsthese, die Spengler durch die Darstellung des römischen Rechts zu widerlegen suchte. Wie Otto Lenel in einer Rezension treffend bemerkte, hatte Goldschmidt zudem seine Arbeit an dem Buch während des ersten Weltkrieges
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
dass Goldschmidt eine statisch-materiellrechtliche und eine dynamischprozessuale Betrachtungsweise unterscheide, sahen dies aber nicht in einem größeren Kontext mit Spengler oder einer dynamischen Rechtsleh-
begonnen. Die Grundgedanken hierzu hatte er laut Vorwort bereits früher entwickelt (Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage, S. V), also zu einer Zeit, als der Untergang des Abendlandes noch nicht publiziert war. Goldschmidt musste demnach die spenglerschen Begriffe nachträglich seinen Thesen hinzugefügt haben (so auch Wengerl, Rez. Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage, S. 440). Da sich der genaue Stand der Ausarbeitung des Goldschmidtschen Werkes zum Erscheinungsdatum des zweiten Bandes des Untergangs jedoch nicht mehr rekonstruieren lässt, bleibt auch hier das konkrete Maß an terminologischer Beeinflussung im Dunkeln. Denkbar ist jedenfalls, dass Goldschmidt in der Zeit der ersten Spenglereuphorie nach dem ersten Weltkrieg das Spenglerzitat und die Begriffe der Statik und Dynamik hinzugefügt hat. Möglich ist aber auch, dass bereits in einem früheren Stadium der Schrift das prozessuale Denken als dynamisch bezeichnet und dass gerade deshalb das Mottozitat von Spengler hinzugefügt wurde. Im Text findet sich an entschiedener Stelle das spenglersche Wortpaar: In einer Überschrift unterschied Goldschmidt die „Materiellrechtliche (statische) und prozessuale (dynamische) Rechtsbetrachtungsweise“ und bezeichnete hierbei „die prozessuale (dynamische) Rechtsbetrachtungsweise als Methode der Prozessrechtswissenschaft.“ (Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage, S. 227). Dahinter steckte folgende Überlegung: Betrachtete man sämtliche rechtliche Beziehungen von einem prozessualen Standpunkt aus, erscheint der Richter als eine übergeordnete Macht, die sich möglicherweise in Bezug auf das materielle Recht irren kann oder eigene Ansichten über die Auslegung des Rechts oder die Bewertung der Beweise hat und somit eine gewisse Unsicherheit verursacht. Das materielle Recht erscheint aus der Perspektive von Goldschmidts Richterbild eher als Urteilsmaßstab, denn als zwingender Imperativ. „Gerade diese Unsicherheit passt aufs beste zu dem Wesen der sich vom Standpunkt der dynamischen Rechtsbetrachtungsweise aus ergebenden rechtlichen Beziehungen“, stellt Goldschmidt fest (Dieses und alle folgenden Zitate von S. 251 f.). Weiter erläuterte er, dass alle möglichen rechtlichen Folgen, die das statische materielle Recht anordnet, unter der Bedingung von Prozesshandlungen stehen. Goldschmidt spricht bei dieser Betrachtung des materiellen Rechts oftmals von „Rechtsverheißungen“, oder abstrakter von einer „Aussicht auf etwas.“ Goldschmidt ging es hier zunächst um eine theoretische Beschreibung dessen, was vor Gericht geschieht. Es ging ihm nicht um die Durchsetzung des Lebens, der abendländisch wirtschaftlichen Energien, einem irgendwie gemeinwohlorientierten Recht und nur in einem entfernten Sinn um die Abstraktion vom Körperlichen und die Hinwendung zu den Wirkungen (im Prozess). Von den Ideen Spenglers findet sich also in Goldschmidts Werk nur eine kaum wahrnehmbare Spur. Die Unsicherheit bei der Rechtsdurchsetzung wird in der Folge von Goldschmidt auch durch Hans Tägert als dynamisch bezeichnet (Hans Tägert, Beiträge zur Theorie des Feststellungsvertrages, Breslau 1934, S. 7 f.). Ansonsten wurde Goldschmidts Theorie durch keinen Autor der Dynamischen Rechtslehre bemerkt. Andererseits wurde Goldschmidt auch kaum als Dynamiker wahrgenommen. Die entsprechenden Rezensionen (siehe Fn. 492) zu seinem breit diskutierten Buch enthalten keinen Hinweis auf eine dynamische Rechtslehre nach Spengler. Er wird daher im Folgenden nicht als ein Autor der dynamischen Rechtslehre nach Spengler behandelt.
VI. Dynamikverwendungen zwischen „Rationalität“ und „Irrationalität“
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re,492 und das obwohl Goldschmidt seinem Werk ein Mottozitat von Spengler über dynamisches Recht voranstellte. Wilhelm Sauer erkannte hinter dem Dynamikbegriff bei Goldschmidt eine klare Verbindung zu Sander und Kelsen.493 Nur Leopold Wenger ging kurz auf die Verbindung zwischen Spengler und Goldschmidt ein.494 Sein Ergebnis war, dass sich Spengler nicht auf Goldschmidts Theorie ausgewirkt haben konnte, da diese bereits vor Erscheinen des 2. Bandes des „Untergangs“ entwickelt wurde. Die Zeitgenossen, die genauer hinsahen, gingen also eher nicht davon aus, dass Goldschmidt inhaltlich von Spengler beeinflusst war. Bei der Betrachtung der Rezensionen entstand ein weniger eindeutiges Bild der Begriffsverwendung. Übereinstimmend mit dem Ergebnis der Untersuchung des Selbstbildes und der Vorstellung der Kritiker kann jedoch festgehalten werden: Erstens war es allgemein bekannt, dass es sich um populäre Modebegriffe handelte, wobei man häufig – aber nicht zwingend – davon ausging, dass Spengler ein wirkungsmächtiger Verbreiter der Begriffe in juristischem Kontext war. Zweitens wurde nicht über den Inhalt der Dynamikbegriffe diskutiert. Die Begriffsverwendung wurde als ein einheitliches Phänomen dargestellt. Drittens wurden auch Autoren, die sich gar nicht oder nur sehr am Rande auf Spengler stützten, bei zentraler Verwendung der Begriffe „Statik“ und „Dynamik“ mit Spengler in Verbindung gebracht. Aus der Sicht der Zeitgenossen lag daher ein wesentlich einheitlicheres Bild vor, als es nach der nachträglichen Analyse der Dynamikkonnotationen zu vermuten war.
VI. Dynamikverwendungen zwischen „Rationalität“ und „Irrationalität“ VI. Dynamikverwendungen zwischen „Rationalität“ und „Irrationalität“
Aufgrund der vorangegangenen Untersuchungen kann festgehalten werden, dass der Begriff Dynamik ein populäres Modestichwort war und dass es mehrere „dynamische Rechtslehren“ gab, die in der nachträglichen Analyse leicht auseinandergehalten werden können (etwa die der Wiener Schule, Müllereiserts Wert-Dynamik, Eugen Ehrlichs lebendes (dynamisches) Recht 492
Leo Rosenberg, Rez. Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage in: DJZ 31 (1926), Sp. 93 f.; Wilhelm Sauer, Kritik des prozessualen Denkens in: ARSP 19 (1925/1926), S. 268–293; Max Rümelin, Rez. Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage in: AcP 126 (1926), S. 111–125. 493 Sauer, Kritik des prozessualen Denkens, S. 280. 494 Leopold Wenger, Rez. Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage. Eine Kritik des prozessualen Denkens in: ZRG RA, 46 (1926), S. 438–458, S. 440.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
oder eben die dynamische Rechtslehre nach Spengler). Zugleich wurde deutlich gemacht, dass die juristischen Zeitgenossen Spenglers kaum zwischen den verschiedenen Lehren differenzierten. Es handelt sich dabei um ein erklärungsbedürftiges Phänomen.495 Nur ein Text aus dem gesamten Untersuchungszeitraum wurde gefunden, der erkennbar von dem Wunsch getrieben war, Klarheit über das Schlagwort der Dynamik in juristischen Kontexten zu schaffen. Es handelt sich um ein dreizehnseitiges Kapitel in der 1932 erschienen Dissertation des vollkommen unbekannten Fritz Feibel. Als dritten Hauptteil präsentierte er eine Abhandlung über die „dynamische Betrachtungsweise im Allgemeinen“496. Feibel stellte dar, wie, von Spengler ausgehend, das Antonym von Juristen, wie Müller, Rosenstock, Bott-Bodenhausen, Callmann, Oppikofer, Elster und Fehr aufgenommen wurde. Analytisch arbeitete Feibel sodann heraus, dass Radbruch, Kelsen und Glungler jeweils von unterschiedlichen Dynamikbegriffen ausgingen. So wurde ein realistisches Bild einer dynamischen Rechtslehre nach Spengler gezeichnet, welches von spenglerfremden Dynamikbegriffen gereinigt wurde. Feibel erwog auch verschiedene Inhalte des Dynamikbegriffs von Spengler und schloss sich schließlich einer Begriffsverwendung an, wie er sie bei Alexander Elster fand.497 Feibel wurde in keinem Fall von einem anderen Dynamiker zitiert oder erwähnt. Die juristischen Spenglerianer wollten keine klare abgrenzbare Definition.498 Um zu verstehen, warum dies so war, muss zunächst ein Blick auf die erkenntnistheoretischen Ausgangspunkte von Spengler und den Dynamikern geworfen werden.
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Freilich gibt es zu jeder Zeit und in vielen Kontexten Schlagworte, die häufiger gebraucht als erklärt werden. Doch sobald die juristische Analyse eines Begriffes beginnt, ist mit klärenden Definitionen zu rechnen. So wird etwa heute häufig werbewirksam und schlagwortartig von Public-Private-Partnerships gesprochen, ohne den Begriff genauer zu erläutern. Zahlreiche juristische Abhandlungen über das Thema beginnen jedoch mit einer Erläuterung des Begriffs, mit Warnung vor Ungenauigkeiten in der Begriffsverwendung und mit einer genauen Definition verschiedener rechtliche Konstruktionen, die sich hinter dem Begriff verbergen. 496 Fritz F. Feibel, Die Namensgleichheit im Wettbewerb, Diss. Frankfurt am Main 1932, Neu-Isenburg 1932, S. 50 ff. und S. 62 ff. 497 Feibel, Die Namensgleichheit im Wettbewerb, S. 62. 498 Es war schon sehr selten, dass die Dynamiker selber bemerkten, dass ihr Modebegriff einer starken semantischen Verwässerung ausgesetzt war. Der deutlichste Hinweis darauf findet sich bei Fehr 1933: „Auch ist im letzten Jahrzehnt mit den Begriffen Statik und Dynamik, statisches und dynamisches Recht, so stark jongliert worden, dass nur dauernde Hinweise auf die Wirklichkeit des Rechts- und Wirtschaftslebens dem ganzen Fleisch und Blut verleihen können.“ (Fehr, Das kommende Recht, S. 26).
VI. Dynamikverwendungen zwischen „Rationalität“ und „Irrationalität“
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1. Wissenschaftliche Grundeinstellung von Spengler und den Juristen des dynamischen Rechtsdenkens a) Spengler und die Lebensphilosophie Gegenstand der Untersuchung im „Untergang des Abendlandes“ waren Hochkulturen und deren dem Schicksal unterworfene Geschichte. Spengler stellte sich die Hochkulturen als metaphysisch existente, dem Schicksal unterworfenen Entitäten vor. Die 1000 Jahre Lebenszeit, der Übergang von der Kultur zur Zivilisation und der exakt gleiche Ablauf bestimmter Epochen waren bei Spengler streng mit dem Schicksalsbegriff verknüpft. Er führte aus, dass bezüglich der Schicksalsnotwendigkeit alle logischen Erkenntnismöglichkeiten der Naturwissenschaft versagen müssen. Der richtige Zugang zu historischen Phänomenen erfolge durch Nachfühlen, Anschauen und Vergleichen, was Spengler als „exakte sinnliche Phantasie i.S. Goethes“ bezeichnete.499 Daher gehörte es auch zu Spenglers Methodenprogramm, dass die „grundlegenden Bestimmungen zum großen Teil nicht mehr im Bereich der Mitteilbarkeit durch Begriff, Definition und Beweis liegen“, sie sollten vielmehr „ihrer tiefsten Bedeutung nach gefühlt, erlebt, erschaut werden“500. Grundlegende Begriffe sollten also gar nicht definiert, sondern erschaut, gefühlt und erlebt werden. An einer späteren Stelle hieß es, es dürfe, „nie übersehen werden, daß Begriffe das nie zu Begreifende nicht darstellen, daß vielmehr die Wortklänge nur ein Bedeutungsgefühl davon erwecken können.“501 Mit dieser antirationalistischen Grundeinstellung entsprach Spengler einer breiten philosophischen Strömung seiner Zeit, der Lebensphilosophie. Die Lebensphilosophie502 wurde ab 1880 – dem Geburtsjahr Spenglers – zunehmend populär.503 Sie wurde als die „herrschende Ideologie der gan499
Spengler, UdA I, Kapitel II, Abschnitt I 1, S. 132. Mit exakter sinnlicher Phantasie als intuitiver Methode des Philosophierens hatte Spengler bereits 1904 in seiner Dissertation die Methode Heraklits bezeichnet (Spengler, Heraklid, S. 1). 500 Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt I 3, S. 76. 501 Spengler, UdA I, Kapitel III, Abschnitt I 4, S. 229. 502 Mit Lebensphilosophie ist hier die Strömung von 1880 bis 1930 gemeint, die das Leben in den Mittelpunkt sämtlicher Betrachtungen stellt. Diese Denker sind abzugrenzen von denen der Umbruchzeit zwischen dem 18. und dem 19Jh., bei denen der Begriff des Lebens eine ähnlich starke Rolle spielte. Siehe hierzu Georg Pflug, Art. Lebensphilosophie in Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, Basel 1980, Sp. 135–140, Sp. 135; häufig wird auch eine große (ununterbrochene) Line von Arthur Schopenhauer und Friedrich Schlegel bis zu den späteren Lebensphilosophen gezeichnet, wobei die Zeit von Henri Bergson und Wilhelm Dilthey stets als die Hochphase der Lebensphilosophie bezeichnet wird (so etwa Robert Josef Kozljanič, Lebensphilosophie, Stuttgart 2004). 503 Leben wurde zum Zentralbegriff der Philosophie dieser Zeit (vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 172). Siehe zur Popularität des Lebensbegriffs auch Tho-
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
zen imperialistischen Periode in Deutschland“504 bezeichnet. Zuerst von Friedrich Nietzsche und dann von Henri Bergson und Wilhelm Dilthey ausgehend, setzte die Lebensphilosophie als kulturelle Bewegung das Leben als absoluten Wert gegen eine als intellektualistische, materialistische, positivistische und damit lebensfeindlich empfundene Welt.505 Das war von Anfang an antirationalistisch gemeint. Der Mensch wurde nicht mehr nur noch als Vernunftwesen506 gesehen, sondern auch als irrational und unterbewusst angetriebenes Lebewesen. Das Gefühlte wurde jetzt als echmas Mann, der auf Georg Simmel verweist, Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 3. Aufl. Frankfurt am Main 2004, S. 102: „Der Lebensbegriff, dieser deutscheste, goethischste und im höchsten, religiösen Sinn konservative Begriff, ist es, den Nietzsche mit neuem Gefühl durchdrungen, mit einer neuen Schönheit, Kraft und heiligen Unschuld umkleidet, zum obersten Rang erhoben, zur geistigen Herrschaft geführt hat. Behauptet Georg Simmel nicht zu Recht, seit Nietzsche sei ‚das Leben‘ zum Schlüsselbegriff aller modernen Weltanschauungen geworden?“ Noch deutlicher ist Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 56: „Alle als organisch oder konservativ sich ausgebenden Weltanschauungen der Weimarer Zeit arbeiten mit dem Begriff des Lebens.“; Safranski, Romantik, eine deutsche Affäre, S. 303: „‚Leben‘ wurde zu einem Zentralbegriff wie vormals ‚Sein‘, ‚Natur‘ ‚Gott‘ oder ‚Ich‘“; siehe auch schon Spenglers Zeitgenossen Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens, S. III, im Vorwort seines Werkes: „Ich glaube, dass die am meisten verbreiteten, ernst zu nehmenden philosophischen Bestrebungen unserer Tage sich am besten unter den Begriff einer Philosophie des Lebens bringen lassen.“ 504 Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Georg Lukács Werke Band 9, 2. Aufl., Neuwied am Rhein, 1964, S. 351. Freilich ist Lukács in dieser Hinsicht nicht unumstritten. Siehe nur den Artikel im historischen Wörterbuch der Philosophie, in dem ihm vorgeworfen wird, den Irrationalismus-Begriff, der eng mit der Lebensphilosophie zusammenhängt, pauschal und polemisch und zu deutlich aus Sicht eines Marxisten verwendet zu haben (Sylvia Rücker, Art. Irrational, das Irrationale, Irrationalismus in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 4, Basel 1976, Sp. 583–588, Sp. 588). 505 Die Lebensphilosophie war insoweit eine Reaktion auf eine Epoche, in welcher die Naturwissenschaften das Leitbild aller Wissenschaftlichkeit prägten. Für das juristische Denken jener Zeit ist wohl Julius von Kirchmann ein repräsentatives Beispiel, der 1847 in einem Vortrag vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin die Jurisprudenz als unwissenschaftlich darstellte. Ein Kernproblem sah Kirchmann darin, dass die Jurisprudenz ohne Wertungen nicht auskomme, die letztlich nach Gefühl getroffen würden. „… beinahe überall im Recht hat das Gefühl sich schon für eine Antwort entschieden, ehe noch die wissenschaftliche Untersuchung begonnen hat.“ Mithilfe des Gefühls könne aber kein Zugang zu einer objektiven Wahrheit geschaffen werden: „Das Gefühl ist nie und nirgends ein Kriterium der Wahrheit; es ist das Produkt der Erziehung, der Gewohnheit, der Beschäftigung, des Temperamentes, also des Zufalls.“ (Zitate aus Julius Hermann von Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Darmstadt 1848, S. 19). 506 Der überwiegende Teil der Lebensphilosophen leugnete nicht, dass der Mensch, sobald er sich seiner bewusst wird und z. B. Lebensphilosophie betreibt, auch immer ein denkender Mensch ist. Die Funktion des Denkens war jedoch sekundär (vgl. hierzu Bollnow, Die Lebensphilosophie, Berlin 1958, S. 54 ff.).
VI. Dynamikverwendungen zwischen „Rationalität“ und „Irrationalität“
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ter, genauer, mithin als wahrer und richtiger angesehen, als das Ergebnis eines komplizierten und langwierigen Denkvorgangs.507 Die Intuition wurde zum Ausgangspunkt erkenntnistheoretischer Überlegungen gemacht. Nur durch Intuition seien absolute Erkenntnisse möglich, während alle durch Analyse getroffenen Schlussfolgerungen relativ seien.508 Insgesamt rückte die menschliche Psyche in den Fokus des Interesses und das Denken trat hinter das Leben und Erleben zurück.509 Vor diesem Hintergrund ist Spenglers Methode der Begriffsbildung zu sehen. Spengler wurde ebenfalls häufig als ein Vertreter der Lebensphilosophie bezeichnet.510 Bei manchen galt er als Idealtyp der geschichtsphilosophischen Lebensphilosophie,511 bei manchen als deutlichster Vertreter der Lebensphilosophie der Kriegs- und Nachkriegszeit.512 Teilweise wurde jedoch auch davor gewarnt, die Verwandtschaft zu sehr zu betonen, da
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Dilthey sagte hierzu „In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis zugrunde zu legen.“ (Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Stuttgart, 1961, S. XVIII.). 508 Henri Bergson, Einführung in die Metaphysik in: Bergson, Materie und Gedächtnis und andere Schriften, Frankfurt am Main 1964, S. 9. 509 Siehe hierzu insgesamt Bollnow, Die Lebensphilosophie, insbesondere S. 47 ff. Rickert, Die Philosophie des Lebens. S. 3 ff.; Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 46 ff. 510 So auch schon Spenglers Zeitgenosse August Messer, Oswald Spengler als Philosoph, Stuttgart 1922, S. 185–194; Rickert, Die Philosophie des Lebens, S. 18 und S. 32, und der Jurist Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen. Ein Beitrag zur Theorie des positiven Rechts auf Grundlage dogmenhistorischer Untersuchungen, Leipzig und Wien 1929, S. 177 Fn. 177; vgl. auch Felken, Spengler, S. 48 ff. Zumindest von einer Verwandtschaft spricht Bollnow, Die Lebensphilosophie, S. 112. Sontheimer bezeichnete Spengler teilweise klar als Lebensphilosophen, warnte aber auch vor den dramatischen Folgen der Lebensphilosophie in ihrer spenglerischen „vulgären“ Prägung (Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 47 und S. 57 f.). 511 Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 186. 512 Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, 1964, S. 403 ff. Lukács sah in Spengler freilich einen deutlichen Beleg für den beständigen Niveauabfall der Lebensphilosophie. Das deutlich niedere Niveau machte Lukács an Spenglers „Degradation der Wissenschaftlichkeit“ (S. 403) fest. Spengler betrat die Felder vieler Disziplinen, die bisher vom Irrationalismus verschont blieben. So deutlich wie er, so betonte Lukács, hatte vorher niemand behauptet, sämtliche Wissenschaften und mithin die letzten Menschheitsfragen intuitiv beantworten zu können. Dies beziehe Spengler selbst auf die Naturwissenschaften, indem er hier den Erkenntnisfortschritt historisiere und den Befindlichkeiten der jeweiligen Kulturseele unterwerfe (S. 406). Dies müsse unweigerlich zu einem gewissen Dilettantismus führen (S. 403).
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
kein direkter Einfluss feststellbar sei.513 Zudem verwende Spengler auch eine besonders vulgäre Form der Lebensphilosophie, die besonders radikal und irrationalistisch daherkam, und deswegen von der akademischen Lebensphilosophie nach Bergson und Dilthey getrennt betrachtet werden müsse.514 Auch Klaus Marxen führte Spengler als einen Popularisier der Lebensphilosophie auf,515 um die Denkweise des antiliberalen Strafrechts zu untersuchen. Konnte es aber sein, dass die spenglerbegeisterten Juristen ebenso radikal irrational argumentierten, wie der Kulturphilosoph selbst? b) Die Juristen Es liegt nahe, weiter zu untersuchen, inwiefern dieses Denken Spenglers den Autoren der dynamischen Rechtslehre entsprach. Dazu werden zunächst die Hauptwerke der wesentlichen Akteure Swoboda und Fehr auf deutliche Aussagen zu Methodenfragen untersucht516 und mit einzelnen Zitaten anderer Dynamiker abgeglichen. aa) Romantisch irrationaler Hans Fehr Hans Fehr begann sein für die dynamische Rechtslehre zentrales Werk „Recht und Wirklichkeit“ mit einem Hinweis auf den mit ihm befreundeten517 expressionistischen Maler Emil Nolde. „Wie Nolde Leben malt, so versuche ich Leben zu schreiben“518 verkündete Fehr im Vorwort. Das lebendige Recht wollte Fehr eben nicht formal analytisch darstellen, sondern irgendwie so textlich zu Papier bringen, wie der Expressionist die Wirklichkeit malte. Das bedeutet auch, dass Fehr eine Abkehr vom Realismus in der Malerei, bzw. vom Rationalismus in der Rechtswissenschaft befürwortete. In seiner Autobiographie schrieb er hierzu: „Allzeit war die Muse der Kunst eine schützende Göttin, die mir half, die einseitige Verstandestätigkeit des Juristen zu überwinden.“519 Der Wunsch, dem puren juristi513
Naeher, Spengler, S. 92. Auch Naeher will nicht abstreiten, dass Spengler dem lebensphilosophischen Zeitgeist entsprach. Er betont jedoch, dass Spengler seine Ideen nicht direkt aus den Werken anderer großer Lebensphilosophen entwickelt hat. 514 Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 46. 515 Marxen, Der Kampf gegen das Liberale Strafrecht, 51 ff. 516 Sie stehen dabei für eine Vielzahl kleinerer Autoren, die sich niemals monographisch zur dynamischen Rechtslehre geäußert haben. In den vielen einzelnen Aufsätzen ließen sich häufig nur mittelbare Aussagen über Erkenntnis- und Methodenfragen finden. 517 Siehe Hans Fehr, Die Wissenschaft. Universitäten. Professoren in: Roland Freisler, Georg Anton Löning, Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Festschrift Justus Wilhelm Hedemann, Jena 1938, S. 63–73, S. 69. 518 Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 7. 519 Fehr, Mein wissenschaftliches Lebenswerk, S. 14.
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schen Rationalismus etwas entgegenzusetzen, wurde hier überdeutlich. Fehr malte selber auch häufig und hatte seinen Kunstsachverstand 1923 für das Werk „Das Recht im Bilde“520 verwendet. Überhaupt sprach auch seine sonstige schriftstellerische Tätigkeit für seinen irrationalen Zugang zur Welt. Sein Werk „Die Dichtung im Recht“ sollte nicht auf eine Analyse der deutschen Rechtsprache hinauslaufen, sondern das „künstlerisch-dichterische Moment“521 in den Vordergrund stellen. Sein „Schweizerischer und deutscher Volksgeist in der Rechtsentwicklung“522 knüpft im Titel an die romantischen Volksgeistkonzepte an.523 Damit ist klar, dass Fehr die Wirklichkeit als etwas organisch Wachsendes wahrnahm, welches nicht durch Vernunft alleine zergliedert und analysiert werden konnte. Hier traf er sich sehr eng mit Spengler, der eine regelrechte „Systemverachtung“ propagierte. Fehr knüpfte in dieser Frage ausdrücklich an Spengler an: In „Recht und Wirklichkeit“ schrieb er: „So paradox es Manchem klingen mag, ich komme nicht um die Wahrheit herum: Die Jurisprudenz kann dem lebendigen Recht nicht nur zum Segen, sondern auch zum Fluche gereichen. Denn der Wille zum System ist der Wille, Lebendiges zu töten (Spengler).“ In einer Rezension hieß es daher, Fehr stelle „eine zu intellektualistisch gewordene Jurisprudenz“524 wieder auf den Boden der Wirklichkeit. Fehrs Kampf gegen die das Leben tötende Systematik ging so weit, dass er 1933 verkündete, die dynamische Rechtslehre möge besser auf Gesetze bzw. Rechtsbegriffe verzichten, da diese stets eine Fixierung einer Regelung bedeuten.525 Wer so dachte, für den war eine Definition stets etwas Schädliches, das nicht kompatibel mit dem Leben war. Fehr führte hierzu weiter aus: „Im Gebiete des Rechts bedeutet Statik: Die Rechtsbegriffe sind selbständige Rechtskörper (Eigentum, Vertrag, juristische Person, Staat, Strafe usw.). […] Ganz anders die Dynamik. Sie geht vom Leben aus.“526 Die Statik behandele die Rechtsbegriffe also als selbständig, das bedeutete als metaphysisch existente Wesenheiten. Dahinter stand die Vorstellung der verachteten Begriffsjurisprudenz. Nur wer begriffsjuristisch mit Recht umgehe, benötige strenge Definitionen. Wer vom Leben ausgehen wolle, dem stehe die Definition im Wege. Mit den Begriffen der dynamischen Rechtslehre könnte dies, sicher nicht allzu sehr überspitzt, in der Feststellung formuliert werden: Definieren ist statisch! 520
Hans Fehr, Das Recht im Bilde, Erlenbach-Zürich, München, Leipzig 1923. Hans Fehr, Die Dichtung im Recht, Bern 1936, S. 7. 522 Hans Fehr, Schweizerischer und deutscher Volksgeist in der Rechtsentwicklung, Frauenfeld und Leipzig, 1926. 523 Zur Rezeption des Volksgeistkonzepts und der Quellenmethode der Brüder Grimm durch Hans Fehr, siehe demnächst die Dissertation von Karin Raude. 524 Schiffer Rez. Fehr, Recht und Wirklichkeit in DJZ 34 (1929), Sp. 513. 525 Fehr, Das kommende Recht, S. 6. 526 Fehr, Das kommende Recht, S. 5. 521
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Bezüglich des Verzichtes auf Gesetze und Begriffe hielt Fehr Amerika und England für Vorreiter der dynamischen Rechtslehre, da hier die Jurisprudenz regelrecht „gesetzesfeindlich“527 sei. Die Praxis sei von der „case method“ und also nicht von der Systematik beherrscht.528 Den modernen deutschen Gesetzgeber lobte Fehr bisweilen, da dieser immer weniger Definitionen verwendet habe.529 Ausdrücklich mit Spengler wendet sich Fehr gegen rationales Recht. Das ererbte, tradierte Recht, schrieb Spengler, welches aus der Erfahrung stamme, sei durch „Gefühle und Triebe“530 und nicht durch „die Vernunft“531 geboren. Alles Recht was „durch Nachdenken gewonnen“532 werde, erscheine demgegenüber suspekt. Diese Aussage Spenglers ließ Fehr unkommentiert als zutreffende Offenbarung dastehen und übertrug sie auf das germanische bzw. deutsche Recht. Jedenfalls wird insgesamt Hans Fehrs geistige Nähe zu Spengler deutlich. Daher war es für den Berner auch konsequent, seinen zentralen Begriff „Dynamik“ nicht scharf zu definieren. Bedenkt man nun, wie wichtig Fehr für die dynamische Rechtslehre war, so kann angenommen werden, dass eine gewisse Anzahl ihrer Autoren bezüglich der Begriffsdefinition und dem irrationalen Wirklichkeitszugang ähnlich dachten wie der Berner Rechtshistoriker. Es ist hier allerdings wichtig für das gesamte Kommunikationssystem des dynamischen Rechtsdenkens nicht Fehr alleine stehen zu lassen. Er war sicher mit seinen Werken über Märchen, seinem metaphysischen Bezug zur Malerei und zum Leben ein extremer Autor, der nicht eins zu eins als Repräsentant für die Masse sämtlicher juristischer Autoren der Weimarer Republik stehen kann, auch wenn sein Denken in der Tendenz das Denken Vieler abbildete. Deshalb ist es hier wichtig, Ernst Swoboda, den zweiten dynamischen Vielschreiber, gewissermaßen als Gegenpol zu präsentieren.
527
Fehr, Das kommende Recht, S. 6. Fehr, Das kommende Recht, S. 6. 529 Als Beispiel wählte er hierzu § 903 BGB. Diese Norm sage, was ein Eigentümer tun kann, nicht aber was Eigentum ist. Die Abstinenz einer Legaldefinition bezeichnete Fehr als dynamisch. Freilich musste Fehr in einem Nachsatz hinzufügen, dass § 903 BGB inhaltlich gesehen eine veraltete statische Regelung darstelle (Fehr, Das kommende Recht, S. 13 f.). 530 Hans Fehr, Der Staat im zweiten Band von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ in: Schweizerische Monatshefte für Politik und Kultur, S. 388–395, S. 393. 531 Ebda., S. 393. 532 Ebda., S. 393. 528
VI. Dynamikverwendungen zwischen „Rationalität“ und „Irrationalität“
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bb) Kantianischer Ernst Swoboda als Gegenmodell? Eine, wenn nicht die wichtigste, denkerische Leitfigur von Swoboda war Immanuel Kant, also eine Ikone des Rationalismus. In Kants Werk fand man das Musterbeispiel eines logischen, von einem messerscharfen Verstande erdachten Systems, das an vielen Stellen mit genauesten Definitionen arbeitete. Sein „sapere aude“ appellierte an den Verstand und war somit das Gegenteil von Fehrs und Spenglers Forderungen, das Leben zu erfühlen. Andererseits verwies Swoboda auch auf Spengler und war Autor der dynamischen Rechtslehre. Wie passt das zusammen? Jedenfalls fanden sich auch bei Swoboda kaum systematische Definitionen und erst recht keine Diskussionsversuche, um den Begriff der Dynamik genauer zu klären. Im Gegensatz zu einigen Schulen des Neukantianismus wollte Swoboda nicht Kants Kritiken, sondern seine Rechtslehre weiterdenken. Es ging Swoboda gar nicht um die Gegensätze aus Wert und Wirklichkeit bzw. Sein und Sollen. Sein Zugriff war in erster Linie ein rechtshistorischer. Um die gedanklichen Ursprünge des ABGB zu erforschen, las Swoboda intensiv die Rechtslehre in Kants Metaphysik der Sitten, weil er voraussetzte, der Vater des ABGB, Franz von Zeiler, habe dies bei der Abfassung der Kodifikation ebenfalls getan.533 Für Swoboda waren Kants Aussagen zu konkreten Rechtsinstituten interessant, nicht die dahinter stehende Vernunftkritik. In der Metaphysik der Sitten fand Swoboda einen Kant, der mit einem dem Leben zugewandten Zeitgeist kompatibel war. Daher konnte der Grazer feststellen, dass die ohnehin schon bei Kant angelegten soziologischen Aspekte durch Franz von Zeiler detailliert herausgearbeitet worden waren.534 Kant habe gewollt, dass seine „nur im Rohbau vollendete“ Rechtslehre weiter ausgebaut werde. Ihre Ergebnisse bedürfen „der Prüfung [...] an den Erscheinungen des Lebens“535. Das Leben, also das Sein, wurde bei Swobodas Kant zum Prüfstein für die Richtigkeit von Erkenntnissen. Ausdrücklich betonte Swoboda: „Die Erfahrung ist nach Kant die einzige Quelle der Erkenntnis.“536 Kants Unterscheidung zwischen 533
Ernst Swoboda betrachtete das Zivilrecht unter rechtshistorischer und philosophischer Perspektive. Dabei nahmen zeitlebens Franz von Zeiler, der Vater des ABGB und Immanuel Kant eine Schlüsselstellung ein. Seine beiden Helden bildeten ein Team, seit Landberg herausgearbeitet hatte, dass von Zeiler bei der Arbeit am ABGB durch Kant beeinflusst war. So Swoboda, Das allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants, S. 11 f.; Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt., 1. Hb. München und Leipzig 1898, S. 524 ff. 534 Swoboda, Die Neugestaltung der Grundbegriffe unseres bürgerlichen Rechts, S. 12. 535 Swoboda, Die Neugestaltung der Grundbegriffe unseres bürgerlichen Rechts, S. 13. 536 Swoboda, Das Privatrecht der Zukunft, S. 11.
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Verstandes- und Vernunftbegriffen, die Kategorienlehre, die grundsätzliche Anordnung jedes Begriffs in Raum und Zeit oder die transzendentale Deduktion, die von den Neukantianern teilweise als neue Anknüpfungspunkte verwendet wurden, interessierten Swoboda nicht. Ein so verstandener Kant war nicht mehr das Gegenteil von Lebensphilosophie und Neuhegelianismus, sondern stand vielmehr in deren Nähe. Kants Freiheitsgedanke wurde von Swoboda nicht als eine Idee, als ein reiner Vernunftbegriff, sondern als „soziologische(r) Freiheitsgedanke“537 aufgefasst. Das Soziologische meinte dabei schlicht die Beachtung des Lebens, des Seins, der Wirklichkeit. An einen soziologischen Werturteilsstreit dachte Swoboda dabei nicht. Wert und Wirklichkeit waren für seinen Kantianismus keine Gegensätze. Der Grazer erreichte damit nicht das extrem irrationale Denken von Hans Fehr. Die Erfahrung und das Leben waren bei ihm Erkenntnisquellen. Er leitete allerdings nur in seltenen Fällen sein Ergebnis mithilfe der Intuition oder seines Gefühls aus dem Leben ab. Für einen Kantianer war er sehr irrational, für einen Lebensphilosophen sehr rational. Swoboda bildete daher gewissermaßen einen relativ rationalen Pol innerhalb der dynamischen Rechtslehre. Er bezog auch bei Weitem mehr Autoren ein. Er suchte eher das wissenschaftliche Gespräch mit den Autoritäten seiner Zeit, anstatt „nur“ aus der „Wirklichkeit“ seine Erkenntnisse zu schöpfen. cc) Andere Stimmen Zur Abrundung der zu Fehr und Swoboda gewonnenen Ergebnisse sei noch kurz ein Blick in erkenntnistheoretische Offenbarungen anderer Autoren der dynamischen Rechtslehre geworfen. Eine überragend deutliche Aussage fand sich noch bei Hölscher: „Gerechte, also auf dynamischem Rechtsdenken aufgebaute Gemeinschaftsregelung, d.h. ethisches Recht, ist nur möglich auf Grund einer Weltanschauung, die die Gemeinschaft als höheren, das Individuum und Kollektivum als niederen Wert anerkennt. Aber diese Bewertung darf nicht rational sein (Liberalismus, Demokratie, Sozialismus); sonst ermangelt sie der metaphysischen Lebenswirklichkeit.“538 Der Wert der Gemeinschaft durfte also nach den Vorstellungen von Hölscher nicht rational und analytisch erfolgen, wie dies in den Fällen von Liberalismus, Demokratie und Sozialismus der Fall gewesen sei. Wenn der Wert der Gemeinschaft nicht durch die metaphysische Lebenswirklichkeit erkannt wurde, hatte er für Hölscher offenbar keinen Belang. Das dynamische Recht wurde in diesem Zitat unmittelbar verknüpft mit einer dezidiert 537
Ernst Swoboda, Die Wiedergeburt unseres Rechtsdenkens in AcP n.F. 20 (1935), S. 296–319, S. 299. 538 Hölscher, Statisches und dynamisches Recht, S. 391 f.
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antirationalen Erkenntnistheorie, welche auf die „metaphysische Lebenswirklichkeit“ setzte. Interessante Hinweise auf deutliche Irrationalismen finden sich auch bei Hedemanns Beschreibung des germanisch-deutschen Rechts in seinem Sachenrechtslehrbuch. Zu den „Kennzeichen des bodenständigen deutschen Rechts“539 gehöre „das Zurücktreten des logischen Moments zugunsten eines bunteren, bilderreichen, vielgestaltigen Rechts“540. So sei auch ein germanisch empfundenes Besitzrecht von einem romanistisch durchdachten zu unterscheiden,541 ein Bild, welches auch Swoboda übernahm, um die Besitzkonzeption des BGB zu charakterisieren.542 Anders als Fehr sah Hedemann allerdings das Fehlen scharfer Grundbegriffe auch als Schwäche des deutschen Rechts an.543 Auch wenn er insgesamt dem irrationalen Denktypus zuzurechnen ist, so ist zu beachten, dass er bei Weitem nicht so radikal vorging, wie Spengler oder Fehr.544 Als besonders rational zeigten sich die Vertreter des speglerschen Dynamikbegriffs in ihren Dissertationen. Auch bei ihnen las man zwar viel von der Wichtigkeit des Lebens für das Rechtsdenken, und freilich wurde überall die Begriffsjurisprudenz abgelehnt, aber keiner der (überwiegend) jungen Prüflinge traute sich das Leben und das Erfühlen der Wahrheit gegen die wissenschaftlichen Grundsätze von Logik und Rationalität in Stellung zu bringen. Wie bereits eingangs erwähnt wurde das dynamische Rechtsdenken nirgendwo so rational analysiert wie in der Doktorarbeit von Fritz Feibel. Selbst eine Dissertation, die bei Hans Fehr geschrieben wurde und das Dynamische teilweise betonte, arbeitete vollkommen mit einer rationalen dogmatischen Analyse und verzichtete ganz auf romantische Anspielungen auf den metaphysischen Gehalt des Lebens.545 b) Ergebnis Einige Juristen folgten offenbar Spenglers lebensphilosophischer Irrationalität. Dass die Verwender von Spenglers Begriffen diese nicht ausdrücklich definierten, erscheint vor dem Hintergrund der Lebensphilosophie plausibel. Das Definieren wurde in der radikalen Lebensphilosophie Spenglers der Sphäre der Vernunft zugeordnet. Aus dieser Sichtweise wurde die ana539
Justus Wilhelm Hedemann, Einführung in die Rechtswissenschaft 2. Aufl. Berlin und Leipzig 1927, S. 151. 540 Hedemann, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 152. 541 Hedemann, Sachenrecht, S. 438. 542 Siehe Ernst Swoboda, Der Besitz im neuen tschechoslowakischen Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches in: DR 3 (1938), S. 19–39, S. 20. 543 Hedemann, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 152. 544 Vgl. hierzu Wegerich, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit, S. 104 ff. 545 Kurt Kohl, Aktiengesellschaft und Unternehmen.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
lytische Beschreibung eines Begriffs als ein Hindernis für wahre, tiefgreifende Erkenntnis empfunden. Dadurch wird auch besser erklärbar, warum die Juristen keine exzessive Spenglerexegese betrieben. Im Prinzip zitierten große Teile der dynamischen Rechtslehre nur den zweiten Band vom „Untergang“, und hier auch nur das kurze Kapitel über die Geschichte des Rechts, und auch davon wiederum in fast allen Fällen nur den 19. Abschnitt. Lediglich sechseinhalb Seiten aus dem fast zwölfhundert Seiten starken Hauptwerk erregten die Aufmerksamkeit der Juristen der dynamischen Rechtslehre. Die vielen weiteren Verweise auf Sozialismus und Eigentum im „Untergang des Abendlandes“, die juristischen Themen in „Preußentum und Sozialismus“ und „Neubau des deutschen Reiches“ und in der etwas versteckten Rede „Wirtschaft und Eigentum“, in denen Spengler viel detaillierter, aber mitunter auch (man möchte sagen „noch“) dilettantischere Aussagen über das abendländische Recht machte, wurden von den Juristen der dynamischen Rechtslehre nicht exegetisch analysiert und als Grundlage ihrer Werke verwendet. Wenn der Leser aber derselben Ansicht wie Spengler war und daher durch Fühlen und Empfinden die Richtigkeit der Thesen nachvollziehen wollte, so war eine systematische Exegese von vornherein ein vollkommen untaugliches Mittel, um mit Spengler zu arbeiten. Die hermeneutische Tätigkeit war durch ein Nachfühlen vollständig abgeschlossen. Es darf deshalb aus der Tatsache, dass nur so wenig Seiten von Spengler zitiert wurden, nicht zwingend geschlossen werden, dass auch nur so wenig gelesen wurde, bzw. um es in der Sprache der Lebensphilosophen zu sagen, so wenig nachempfunden wurde. 2. Analyse der Dynamikverwendungen vor dem Hintergrund von zwei Idealtypen des Weimarer Denkens Die Definitionsunlust der Zeit, verbunden mit dem irrationalem Denken, welches das Leben irgendwie als „Metaphysikum“ begriff, ist der bisherigen rechtshistorischen Forschung freilich nicht verborgen geblieben. Rückert stellte dies für die Weimarer Richter546, Klaus Marxen für die Gegner des liberalen Strafrechts547 und Oliver Lepsius für die Weimarer Staats546
Bei der Untersuchung der Weimarer Richter kahm Rückert zu dem Ergebnis, dass sie„eher irrational, aber doch nicht rein naturalistisch“ (Rückert, Richtertum als Organ des Rechtsgeistes, S. 298) dachten. Da die Richter frei mit offenen Wertkategorien wie Leben und praktischen Bedürfnissen argumentieren, sprach Rückert von einer Richtung, die man „relativ irrational“ (S. 299) nennen könnte. 547 Die niemals ausdrücklich niedergeschriebene Erkenntnistheorie der Gegner des liberalen Strafrechts sei sehr nebulös „von einer irrationalen, ganzheitlichen, wesenhaften Methode, von einer ‚emotionale-wertfühlenden Erkenntniseinstellung‘“ ausgegangen (Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, S. 73; Marxen zitiert hier Hans Wel-
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rechtslehre548 fest.549 Auch für die Zeit des Nationalsozialismus wurde desgleichen bereits beobachtet.550 zel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, Mannheim 1935, S. 75). Die verschiedenen Entwürfe einer Strafrechtsreform seien von ihren Gegnern als „individualistisch, liberalistisch und rationalistisch“ beschimpft worden (S. 80 ff.) Dabei sei der konkrete Inhalt der Begriffe häufig unklar geblieben (S. 28 ff.). Als grundsätzliche Voraussetzung für diese Formen des Denkens benannte Marxen den „irrationalen Zeitgeist“ (S. 47 ff.), den er vor allem in der Lebensphilosophie und der Phänomenologie vorfand. Als bedeutenden populären Lebensphilosophen nannte er dabei ausdrücklich Oswald Spengler (S. 52 ff.). 548 Lepsius untersuchte hauptsächlich in der staatsrechtlichen Literatur das „Vorverständnis gegenüber juristischem Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisverfahren“ (Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, S. 7) in der Weimarer Republik und die entsprechenden Kontinuitäten in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch Lepsius sprach die Irrationalität der Begriffsbildung deutlich an (S. 229 ff.) und gelangte zu dem Ergebnis, dass sich in der Weimarer Republik im Zuge eines neuen metaphysischen Wirklichkeitsverständnisses „ein exaktes Verfahren der Begriffsbildung […] zugunsten eines psychischen Erlebnisaktes“ (S. 238) etabliert habe. 549 Für die Zeit des Nationalsozialismus ist ebenfalls klar, dass unter der Berufung auf das Leben ein noch gesteigerteres irrationalistisches Denken betrieben wurde. So sprach jüngst Keiser, wenngleich in ausdrücklich vereinfachter Zuspitzung, von einem „romantischen-irrationalen, auf die Volksgemeinschaft fixierten Rechtsdenken des Nationalsozialismus.“ (Keiser, Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, S. 228). Ähnliches beschreibt auch Pahlow in seiner Arbeit über die juristische Staatsprüfung während der NS-Zeit (Louis Pahlow, „Ich verübele dem Verfasser weniger einzelne juristische Fehler als das Versagen des Rechtsgefühls“. Juristische Staatsprüfungen im Dritten Reich (1934–1945) in: Von den Leges Barbaorum bis zum Ius Barbarum des Nationalsozialismus. Festschrift für Hermann Nehlsen zum 70. Geburtstag, Köln 2008, S. 399–420). Nunweiler kam in ihrer Analyse der germanistischen Rechtshistoriographie des Nationalsozialismus unter anderem zu dem Ergebnis, dass in der Bewertung der deutschen Rechtsvergangenheit einheitlich emotionale und irrationale Elemente als gut angesehen wurden, während alles Rationale, Verstand und Vernunft negativ bewertet wurden (Nunweiler, Das Bild der deutschen Rechtsvergangenheit und seine Aktualisierung im „Dritten Reich“, S. 329). 550 Rückert definierte solche Idealtypen für Weimar vor allem mit Blick auf die Gesetzesauslegung und kam zu dem Schluss, dass der rationale Typ den Einfluss von Wertungsgesichtspunkten, wie Interesse, Zweck, Rechtsgefühl, Rechtsempfinden, Volksgeist oder Leben ablehnte. Zusammenfassend sagte er: “Positiva und Negativa verbinden sich zu einer rationalen und wertmäßig liberalen, das heißt personal-freiheitlichen, rechtsund verfassungsstaatlichen Haltung.“ (Rückert, Richtertum als Organ des Rechtsgeistes, S. 278). Bei dem gegenüberliegenden Denktyp fanden sich all diese Bewertungen in umgekehrter Form wieder. Im Sinne einer gemeinschaftsorientierten Einstellung, welche die Interessen des Einzelnen den Interessen der Gemeinschaft unterordnete, wurde die Gewaltenteilung nicht mehr so ernst genommen. Betont wurde dabei „das rational wenig fassbare Gefühlsmoment und das Zweckmoment oder die Rechtsidee oder das (objektive) Recht oder die Gerechtigkeit gegenüber dem Buchstaben des Gesetzes“ (S. 279). Technische Genauigkeit und formale Präzision wurde als Begriffsjurisprudenz und lebensfremder Formalismus abgelehnt. Rückert zitierte beispielhaft Ernst Fuchs, um zu zeigen, dass
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Vermutlich wurde schon immer mehr oder weniger mit dem Rechtsgefühl argumentiert,551 aber es fällt auf, dass zu Spenglers Zeiten das Problem des Rechtsgefühls als abstraktes Thema sehr häufig auftauchte.552 Rechtssicherheit durch streng rationale Rechtsanwendung bald „als ‚Rechtssicherheitswahn‘ (E. Fuchs), als rationalistischer Irrwahn bezeichnet“ (S. 278) wurde. Rückert fasste zusammen: „Dies fügt sich zu einer […] transpersonalen Haltung, sei sie dann konkret mehr kollektivistisch, sozialistisch, konservativ oder christlich-sozial gemeinschaftsorientiert oder auch völkisch-rassisch“ (S. 278). 551 Als Prototypen aus dem 19. Jh. mögen vielleicht Rudolf von Jhering und sein Rechtsgefühl auf der einen Seite und Julius von Kirchmann auf der streng rationalen Seite gelten. Rudolf von Jhering begründete demgegenüber 1861 in seinem berühmten Aufsatz über die culpa in contrahendo sein neues Rechtsinstitut mit den Worten: „Wer fühlt nicht, daß es hier einer Schadensersatzklage bedarf?“ Kurz vorher schrieb Jhering dass man „jede Regung des gesunden Rechtsgefühls in sich unterdrückt haben“ musste, wenn man der Lösung nach römischem Recht folgen wollte. (Rudolf von Jehring, Culpa in Contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfektion gelangten Verträgen in: JherJB. Bd. 4 (1861), S. 1–112, S. 4 f.; siehe hierzu auch Kai Kindereit, Wer fühlt nicht, daß es hier einer Schadensersatzklage bedarf – Rudolf von Jhering und die culpa in contrahendo in: Hoeren (Hrsg.), Zivilrechtliche Entdecker, München 2001, S. 107–121). Kirchmann sprach 1847 über die Unwissenschaftlichkeit der Gefühlsjurisprudenz (siehe oben Fn. 505 S. 136). 552 Siehe ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit und Repräsentativität: Der Rechtsphilosoph Fritz Berolsheimer warnte unter dem Eindruck des Neukantianismus vor den Gefahren einer Gefühlsjurisprudenz (Fritz Berolzheimer, Die Gefahren einer Gefühlsjurisprudenz in der Gegenwart. Rechtsgrundsätze für freie Rechtsfindung, Berlin-Leipzig 1911). Der Freirechtskritiker Theodor Loewenfeld erklärte in der Staudinger Einleitung von 1912: „Die Freirechtlerei entnimmt ihre richterlichen Schöpfungsakte direkt dem Gefühl.“ (Theodor Loewenfeld, Einleitung in: Staudinger, Bd. 1, München 1912, S. 26); Rudolf Müller-Erzbach, Gefühl oder Vernunft als Rechtsquelle? Zur Aufklärung über die Interessenjurisprudenz in: ZHR 73 (1913), S. 429–457. Für Max Weber wurde die Entwicklung vom Irrationalen zum Rationalen zu einer Leitdifferenz seiner Rechtssoziologie (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 495). Ludwig Bendix versuchte dem Reichsgericht nachzuweisen, dass es seine gefühlsmäßig-weltanschaulich getroffenen Entscheidungen durch dogmatische Begründungen nur zu kaschieren versuchte (Bendix, Die irrationalen Kräfte der zivilrichterlichen Urteilstätigkeit; ders., Die irrationalen Kräfte der strafrichterlichen Urteilsfähigkeit); Wilhelm Glungler, Rechtswelt und Lebensgrundgefühl, München und Leipzig 1931, dazu stark ablehnend Walter Schönfeld, Rez. Glungler, Rechtswelt und Lebensgefühl in: ACP 18 n.F. (1934), S. 91–94; siehe auch Wenzel Goldbaum, Das Rechtsgefühl als Entscheidungsgrund in: GRUR 1929, S. 298 ff.; Jsay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 85–120, 2. Kapitel: „Das Rechtsgefühl“; Fritz Sander, Das Rechtserlebnis in IZfTdR 1 (1926/27), S. 100–119; Erich Schwinge, Irrationalismus und Ganzheitsbetrachtung in der deutschen Rechtswissenschaft, Bonn 1938; Erik Wolf, Der Methodenstreit in der Strafrechtslehre und seine Überwindung. Bemerkungen zu Erich Schwinge „Irrationalismus und Ganzheitsbetrachtung in der deutschen Rechtswissenschaft“ in: DR 4 (1939), S. 168–181; siehe auch Geiler, Die Konkretisierung des Rechtsgebots der guten Sitten im modernen Wirtschaftsrecht in: Karl Geiler (Hrsg.) Beiträge zum Modernen Recht, S. 65–84, der neben der Entindividualisierung „vor allem auch die Entrationalisierung unseres Rechts“ (S. 65) beobachtete.
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Teilweise wurde der Irrationalismus dabei auch in Zusammenhang mit dem aufstrebenden Fach der Psychologie betrachtet.553 Freilich war die Zeit ab 1918 nicht vollständig vom Irrationalismus durchdrungen. Wenn es sich dabei auch um eine herrschende Anschauung handelte, so muss doch festgehalten werden, dass es in dieser Zeit auch Autoren gab, die versuchten, ihr Lebenswerk auf strengen Rationalismus aufzubauen. So etwa Max Weber, Hans Kelsen und Gustav Radbruch. Man kann stark vereinfachend zwei idealtypische Grundeinstellungen des Denkens definieren, die eher rationale und die eher irrationale Methode, welche sich zumindest in der Weimarer Zeit offen gegenüberstanden. Die Definition dieser Idealtypen wird bei der weiteren Analyse ein hilfreiches Werkzeug sein, um die Denkweise der Dynamiker noch deutlicher sichtbar zu machen. Den Ausgangspunkt der beiden Idealtypen soll hier der Gegensatz zwischen Rationalismus und Irrationalismus sein, wobei der irrationale Denktyp zugleich das Leben und das Gemeinwohl betonte, während der rationale ein Befürworter von Formalismus und Liberalität war. Rückert definierte in sehr ähnlicher Weise den (rationalen) personalen Denktyp und unterschied ihn vom (irrationalen) transpersonalen Denktyp für Weimar.554 Den Idealtypen lassen sich weitere geistige Strömungen zuordnen, die hier von Belang sind. So stand der rationale Denktyp für die „Ideen von 1789“, also die Bejahung der Vernunft, die Forderung nach Volkssouveränität und Demokratie, für die Gewaltenteilung und damit verbunden, eine Jurisprudenz, die sich streng an den Wortlaut des Gesetzestextes zu halten hat, um das System der „checks and balances“ nicht zu umgehen und selber durch die Hintertür zum Gesetzgeber zu werden. Daher war für diesen Denktyp auch die formale Behandlung des Rechts die „Zwillingsschwester der Freiheit“555.
553
Erwin Riezler, Das Rechtsgefühl, rechtspsychologische Betrachtungen, München 1921 (besonders interessant dürften Riezlers Ausführungen sein, weil auch nach 1945 noch zwei neue jeweils von ihm umgearbeitete Ausgaben seines Buches erschienen; Friedrich Kübel, Das Rechtsgefühl, Berlin 1913; Ludwig Kuhlenbeck, Zur Psychologie des Rechtsgefühls in: ARWP I (1907/08), S. 16–25; Okko Behrends (Hrsg.), v. Jhering, Ueber die Entstehung des Rechtsgefühls, Göttingen 1986, S. 209 ff., S. 212 f.; siehe insgesamt zum Verhältnis von Psychologie und Jurisprudenz noch vor Spenglers Zeiten: Mathias Schmoeckel (Hrsg.), Psychologie als Argument in der juristischen Literatur des Kaiserreiches, Baden-Baden 2009. 554 Rückert, Richtertum als Organ des Rechtsgeistes, S. 278 f. 555 Max Weber, Rez. Phillip Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des deutschen Reiches in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 17 (1902), S. 723– 734, S. 725.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
Für den irrationalen Denktyp waren demgegenüber die „Ideen von 1914“556 ausschlaggebend, also der „philosophische Beitrag zum Ersten Weltkrieg“, wie Hermann Lübbe dies ausdrückte.557 Es handelte sich um eine Parole, gleichsam ein Schlagwort, das bald in der intellektuellen Welt umherging.558 Inhaltlich definierten sich die Ideen von 1914 durch eine Gegenüberstellung zu den Ideen von 1789.559 In der Französischen Revolution sah man den Ursprung allen Übels, insbesondere schrieb man ihr die „Misstände“ des Individualismus, Kapitalismus und Materialismus zu.560 Das Ideal des liberalen demokratischen Rechtsstaats wurde zugunsten einer effizienten Gemeinschaft zurückgewiesen.561 Mit der Ablehnung der Werte von 1789 ging auch die Ablehnung der Vernunft als Allheilmittel einher. Man beschwor dagegen das „Augusterlebnis“, und damit ein Ereignis, welches nur emotional begriffen werden kann.562 Auch die „Konservative Revolution“ – ein Begriff, der seit Armin Mohlers gleichnamiger Dissertation von 1949, eine hohe Konjunktur erlangte,563 stand für den irrationalen Denktyp. Es handelte sich um eine Strömung, die am Ende des 19. Jh. in Abgrenzung zu den bestehenden politischen Gruppierungen entstand, jedoch nicht als institutionalisierte Partei, sondern als intellektuelle Bewegung. Auch wenn es aufgrund der Vielzahl 556
Siehe Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Basel 1963, S. 171 ff. Jüngst hierzu umfassend und erstmals vergleichend aus britischer und deutscher Perspektive Peter Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Diss. Münster 2002, Paderborn 2004. 557 Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, S. 171. 558 Siehe zur imensen Verbreitung Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S. 74 ff.; Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, S. 171 f., insbesondere Fn. 1. 559 Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S. 81 ff. 560 Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S. 81 ff. 561 Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S. 185 ff. 562 Zur Bedeutung des Augusterlebnisses für die Ideen von 1914, Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S. 67 ff. 563 Mohler, Konservative Revolution, 4. Aufl. Darmstadt 1994. 2005 wurde das Buch in einer Überarbeitung von Weißmann herausgebracht. Siehe daneben grundsätzlich: Victor Klemperer, Konservative Bewegungen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1962; Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, insbesondere S. 118 ff.; Joachim Petzold, Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, Köln 1978; Synnöve Clason, Schlagworte der „Konservativen Revolution“. Studien zum polemischen Wortgebrauch des radikalen Konservatismus in Deutschland zwischen 1871 und 1933, Stockholm 1981; Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1933; Rolf Peter Stieferle, Die Konservative Revolution, Fünf biographische Skizzen, Frankfurt am Main 1995. Jüngst: Walter Schmitz/Clemens Vollnhals (Hrsg.), Völkische Bewegung, Konservative Revolution, Nationalsozialismus. Aspekte einer politisierenden Kultur, Dresden 2005; Sebastian Maas, Die andere deutsche Revolution. Edgar Julius Jung und die metaphysischen Grundlagen der konservativen Revolution, Kiel 2009.
VI. Dynamikverwendungen zwischen „Rationalität“ und „Irrationalität“
149
der Autoren kaum auf den Punkt zu bringen ist, wofür diese Bewegung stand,564 so kann eindeutig gesagt werden, dass sie sich gegen den Liberalismus wandte.565 Zudem gehörte die Betonung des Irrationalen und Gefühlsmäßigen zu den zentralen Themen der Konservativen Revolution.566
564
Vor allem Stefan Breuer zeigte, dass neben dem gemeinsamen Feind des Liberalismus letztlich keine von einer Mehrheit der konservativen Revolutionären geteilte konstruktive Idee für die Zukunft vorhanden war. Zudem besteht kaum Zweifel daran, dass die Konservative Revolution weder konservativ war noch die Bezeichnung Revolution verdient. Als Ergebnis seiner Studie schlug Breuer vor, den Begriff abzuschaffen (Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, S. 181), was jedoch überwiegend nicht vorgenommen wurde. Häufig wird der Begriff weiterverwendet, ohne auf die Kritik Breuers einzugehen. Gegen Breuer wendete sich vehement der Historiker Weißmann, der nun Mohlers Handbuch weiter herausgibt (Karlheinz Weißmann, Gab es eine Konservative Revolution? Zur Auseinandersetzung um das neue Buch von Stefan Breuer in: Criticón 138 (1993), S. 173–176) Es bleibt einzuräumen, dass es sich um eine eher diffuse Schublade handelt, um Denker des frühen 20. Jh. zu verorten. Ähnlich wie die Ordnungsbegriffe „Positivismus“ und „Antipositivismus“ taugt der Begriff „Konservative Revolution“ als eine erste Annäherung an einen Autor, zwingt aber im konkreten Einzelfall immer zum genaueren Hinsehen um zu erläutern, was das konservativ Revolutionäre bei einem bestimmten Autor denn nun ausmacht. Hier geht es aber nicht um konkrete Autoren sondern um die Zeit der Weimarer Republik. Der Begriff bleibt weiterhin nützlich um eine Denkrichtung in einer Epoche zu beschreiben, auch wenn die sehr vielen erfassten Autoren im Einzelfall viele Differenzen hatten und im Generellen häufig dem Zeitgeist entsprachen. 565 Die Konservative Revolution umfasste eine große inhomogene Gruppe, die ihre Gemeinsamkeit teilweise nur in den gemeinsamen Gegnern fand. Der Gegner, das war vor allem der Liberalismus, der nach Freiheit und Schutz des Individuums, nach Privateigentum und wirtschaftlichen Freiheiten strebte (Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, S. 49 ff.). Freilich teilte man diesen Gegner mit mehr oder weniger gemäßigten Sozialdemokraten und Sozialisten, von denen sich die Konservative Revolution ebenfalls abzugrenzen versuchte. Eine weitere Gemeinsamkeit bestand in dem Bewusstsein, sich in einem geistigen Interregnum zu befinden: Eine alte geistige Ordnung wurde abgelöst, eine neue wird irgendwann kommen, ist aber noch nicht da. Über die Betonung dieses Gefühls erfolgte eine Abgrenzung gegenüber alten konservativen Kreisen, welche die Konservative Revolution überwinden wollten (Mohler, Konservative Revolution, S. 86 f.). Über diese beiden Abgrenzungen zum Liberalismus und zum Kommunismus und des Grundgefühls des geistigen Interregnums hinaus, lassen sich laut Breuer kaum allumfassende Gemeinsamkeiten der Konservativen Revolution finden. In der Literatur werden zur weiteren Kategorisierung häufig Untergruppen gebildet, um weitere Gemeinsamkeiten innerhalb der einzelnen Gruppen herausarbeiten zu können (Mohler unterscheidet zwischen den Völkischen, den Jungkonservativen, den Nationalrevolutionären, den Bündischen und der Landvolkbewegung. Mohler, Konservative Revolution, S. 67). 566 So etwa Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 119 ff.; Stieferle, Die Konservative Revolution, S. 12 ff.; Clason, Schlagworte der „Konservativen Revolution“, S. 25 ff.; für Edgar Julius Jung, einem der „wichtigsten Vertreter der so genannten Jungkonservativen“ (Maass, Die andere deutsche Revolution, S. 15), konnte der Gleichheitsgedanke deshalb nur im „Seelischen und Gefühlsmäßigen“
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
Auch die „fin de siècle“-Bewegung, die sich seit dem Ende des 19. Jhs. gegen den Fortschrittsoptimismus und die Dekadenz des liberalen Bürgertums wendete, war von einem antirationalistischen Zug getragen.567 Dies ist hier erwähnenswert, weil die juristischen Autoren, die Spenglers irrationalem Denktypus zuzuordnen sind, in diesem geistigen Klima aufgewachsen waren. Diese (größtenteils) außerjuristischen Strömungen korrespondierten mit weiten Teilen des juristischen Zeitgeistes, der den Liberalismus ablehnte, Gemeinwohlorientierung forderte und sich am Leben orientieren wollte.568 Wenn die „Dynamiker“ Dynamik sagten, dann klang jedes Mal in unterschiedlichen Intensitäten Irrationalismus, Gemeinwohlbetonung und Metaphysierung des „Lebens“ an. Zugleich erhielt der Begriff „Statik“ eine Tönung, in der jedes Mal die Kritik an den Werten der Aufklärung mitschwang. Statik war immer auch Vernunft, lebensfremde Konstruktion, Formalismus, Liberalismus, Demokratie und Gewaltenteilung. Die Autoren wollten diesen zwingenden Inhalt ihrer Begriffe aber nicht analytisch offen legen, sondern ihn ganz spenglerisch „fühlen“. Da in den genannten geistigen Strömungen die „Lebensnähe“, die „Gemeinwohlorientierung“ und der Antirationalismus immer zusammenhängend gedacht wurden, verwunderte es vermutlich keinen Zeitgenossen, dass der Begriff Dynamik mal den Inhalt „Gemeinwohl“ und mal den Inhalt „Lebensnähe“ annehmen konnte. Dadurch wird im Übrigen noch einmal deutlicher, dass Spenglers Einfluss bei der Konnotation der „Abstraktheit“ und „Loslösung vom Körper“ am wirkungsmächtigsten gewesen ist. Da sich diese Topoi in den bedeutenden geistigen Strömungen der Zeit nicht wiederfinden, müssen sie von Spengler stammen. Für die anderen Begriffsbedeutungen war Spengler vor allem als Popularisierer und Schlagwortlieferant bedeutsam. Die Einteilung in Denktypen hilft auch die Frage zu klären, warum auch die Kritik von Jsay und anderen keine wirkliche Debatte über verschiedene Begriffsverwendungen herausforderten. Eine Kommunikation zwischen den verschiedenen Denktypen war nämlich zwischen ihren radikalen Vertretern kaum möglich. Dies kann paradigmatisch an der Kritik des Neukantianers Rudolf Stammler gezeigt werden. Dieser warf dem lebensphilosophischen Spengler schlicht dessen Irrationalismus vor.569 Wie bereits (Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, 2. Aufl. Berlin 1930, S. 48) ergründet werden. 567 Jens Malte Fischer, Fin de Siècle, Kommentar zu einer Epoche, München 1978, S. 28 ff., S. 50 ff. 568 Siehe oben für „Gemeinwohl“ S. 95 ff., für Leben S. 84 ff. 569 Rudolf Stammler, Die materialistische Geschichtsauffassung. Darstellung Kritik Lösung, Gütersloh 1921, S. 84. Hier führte Stammler ein paar aus seiner neukantianischen Denkweise besonders schwer nachvollziehbare Argumentationen Spenglers vor. So sei eine im Untergang des Abendlandes „beliebte Auskunft, dass solche grundlegenden
VI. Dynamikverwendungen zwischen „Rationalität“ und „Irrationalität“
151
mehrfach betont, erläuterte Spengler, dass die „grundlegenden Bestimmungen zum großen Teil nicht mehr im Bereich der Mitteilbarkeit durch Begriff, Definition und Beweis liegen“, sie sollten vielmehr „ihrer tiefsten Bedeutung nach gefühlt, erlebt, erschaut werden“570. Was konnte ein Kantianer darauf antworten? Stammler schrieb, es sei eine „beliebte Auskunft, dass solche grundlegenden Bestimmungen ‚zum großen Teile‘ (?) nicht mehr im Bereich ‚der Mittelbarkeit‘ lägen, dass sie ‚gefühlt, erlebt, erschaut‘ werden müssten“. Es handele sich dabei, so Stammler, um „eine der wissenschaftlichen Klärung ausweichenden Wendung,“ die an sich keinen sachlichen Wert habe. Mehr konnte ein strenger Anhänger des rationalen Denktypus dazu nicht sagen, wohingegen Spengler nur hätte antworten können, dass er fühlt, dass er recht hat und dass die kommende Generation dies auch so sehen werde. Vor diesem Hintergrund ist auch Callmanns folgende Äußerung zu verstehen: „Es kann hier nicht untersucht werden, ob Jsays Einwendungen vom Standpunkt der Logik gerechtfertigt sind. Die von ihm beanstandeten Begriffe haben sich aber eingebürgert; sie lösen ganz bestimmte klare Vorstellungen über das Wesen der Rechtswirkungen aus.“571 Das eine „ganz bestimmte klare Vorstellung“ ausgelöst wird, muss dem rationalen Denktypus erklärt werden, aber der Irrationale ist sich sicher, dass man dies nicht erklären kann, sondern nachfühlen muss. Dies erkannte etwa auch Elster im Streit mit Jsay, als er schrieb: „Auf H. Jsay’s Ausführungen […] gedenke ich nicht einzugehen, weil es sich hier um juristische Anschauungsfragen handelt, in denen eine Verständigung bei so verschiedenartiger Grundeinstellung nicht möglich ist. […] Auf eine Polemik mit ‚was heisst das?‘ oder ‚Unklarheit, wohin man sich wenden mag‘ ist eine sachliche Antwort schwer möglich, wenn man sieht, daß der andere zu folgen überhaupt keine Neigung hat.“572 Diese Kommunikationsbarriere zwischen den Denktypen verhinderte eine sachliche Debatte. Sie ist für das Verständnis der Spenglerrezeption in der Weimarer Republik elementar. Der Typus des reinen, gefühlsgesteuerten, offen irrationalen Juristen konnte aber freilich nicht als Hauptgruppe eines Rechtssystems erwartet werden. Am deutlichsten konnten sich die Ideologen, Theoretiker und Bestimmungen ‚zum großen Teile‘ (?) nicht mehr im Bereich ‚der Mittelbarkeit‘ lägen, dass sie ‚gefühlt, erlebt, erschaut‘ werden müssten“. Weiter finde sich die Aussage, dass „ein Werden nur erlebt, mit tiefem wortlosem (NB) Verstehen gefühlt“ werden könne. Es handele sich dabei laut Stammler, um „eine der wissenschaftlichen Klärung ausweichenden Wendung,“ die an sich keinen sachlichen Wert habe. Stammler lehnte Spenglers vulgär-lebensphilosophischen Antirationalismus entschieden ab. 570 Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt 1, S. 71. 571 Callmann, Der unlautere Wettbewerb, S. 88 f. Fn. 11. 572 Elster, Zum „Dynamischen“, S. 238.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
Rechtsphilosophen den Irrationalismus leisten, da ihre Texte kaum direkt (vor Gericht) angewendet wurden. Blickt man in die Kommentarliteratur dieser Zeit, wird sehr schnell deutlich, dass nicht jedes Auslegungsproblem durch metaphysisches Fühlen einer richtigen Lösung zugeführt wurde, sondern ein sachlich rationales Argumentieren unter Heranziehung von Gerichtsurteilen an der Tagesordnung war. Die Überprüfung vieler Kommentare und Lehrbücher konnte hier freilich in der Breite nicht geleistet werden. Bei den Kommentierungen zu § 90 BGB und den entsprechenden Lehrbucheinträgen zeigte sich diese Tendenz aber überdeutlich.573 Dennoch fand Rückert auch Urteile, die sich dem irrational-sozialen Typus zurechnen ließen. Freilich argumentierten die Richter nicht regelmäßig frei nach ihrem Gefühl gegen das positive Recht. Nur bei Gesetzesund Vertragsversagen spielte das Leben die wichtigste Rolle. Rückert kam zu dem Schluss, dass die von ihm analysierten Richtertexte „mit ihren Krisenformeln zum antiliberalen, objektivistischen, transpersonalen Typ“574 gehören. Typischerweise wurde hier mit Lebensnähe oder dem gesunden Rechtsgefühl argumentiert, insbesondere bei der Anwendung von Generalklauseln.575 Obwohl das Leben und die Tatsachen und damit ein gewisser Irrationalismus auf dem Vormarsch waren, hatte die Dogmatik des BGB vermutlich eine Bremswirkung, die verhinderte, dass häufig mit Gefühlen und offenen Wertungen argumentiert wurde, wenn ein normativer Anknüpfungspunkt vorhanden war.576 Fehlte dieser, so vermittelten die Richter den Eindruck, Recht selber zu schöpfen, dies aber anhand des Lebens und damit anhand eines objektiven Kriteriums zu tun.577 Die Generalklauseln eigneten sich aus Sicht lebensphilosophisch denkender Juristen besonders gut als Einfallstor, da das Reichsgericht schon früh die Formel von dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verkündete.578 Das Gefühl in dieser Formel spielte sicherlich für einige Juristen der damaligen Zeit eine bisher noch nicht vor dem Hintergrund der Lebensphilosophie durchdachte Hauptrolle.
573
Siehe S. 167 f. Rückert, Richtertum als Organ des Rechtsgeistes, S. 305. 575 Rückert, Richtertum als Organ des Rechtsgeistes, S. 282 ff. 576 Ähnlich auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. III, S. 172, der einerseits vermutete, dass die Staatsrechtler Mitte der zwanziger Jahre möglicherweise mehrheitlich freier mit Wertungen operierten und die Werturteile aus den Gesetzen herauslasen, andererseits aber feststellte, dass die „Ordnungsstrukturen des geltenden Rechts und die traditionell erlernte Methodik“ dem entgegenwirkten. 577 Rückert, Richtertum als Organ des Rechtsgeistes, S. 300 ff. 578 HKK/Haferkamp, § 138, Rn. 1. 574
VI. Dynamikverwendungen zwischen „Rationalität“ und „Irrationalität“
153
3. Zusammenfassung Ausgangspunkt dieses Unterkapitels war die Feststellung, dass die dynamische Rechtslehre kein Interesse an einer Diskussion über ihre Grundbegriffe hatte. Die Definitionen ihres Grundbegriffs ließen die Juristen lieber im Vagen. In ein System aus logischen Ableitungen wollten die „Dynamiker“ die Dynamik nicht einbetten. Insgesamt konnte bei einigen Autoren, allen voran Hans Fehr, sogar eine deutliche Abneigung gegen Rationalität konstatiert werden. Auch Swobodas Kantianismus entpuppte sich bei näherer Betrachtung als eine Denkweise, die am wirklichen Leben so sehr orientiert war, dass der Unterschied zwischen Wert und Wirklichkeit keine Rolle spielte. Swobodas Kant konnte vom Sein auf Sollen schließen, oder zumindest das Sollen am Sein überprüfen. Swoboda war damit nicht so lebensschwärmerisch und romantisch wie Hans Fehr, aber auch weit entfernt von vielen nüchtern-rationalen Neukantianern seiner Zeit. Beide bildeten die Pole der mehr oder weniger starken Irrationalität der Autoren der dynamischen Rechtslehre. Diese Grundanschauung der Wissenschaftler der Weimarer Zeit kann man nur verstehen, wenn man sieht, dass eine Reihe von geistigen Strömungen der Zeit die „verkopfte Zivilisation“ kritisierten und intuitive Erkenntnismöglichkeiten als „state of the art“ der Epistemologie verkündeten. Allen voran ist hier die Lebensphilosophie bzw. die vulgäre Lebensphilosophie zu nennen, zu der auch Spengler zu rechnen ist. Der Antirationalismus und die damit verbundene Überzeugung, dass eine trennscharfe Definition à la Max Weber etwas Grundfalsches sei, wenn man das Leben verstehen wolle, speisten sich noch aus mehreren anderen Quellen, die sich aber alle nicht sauber von der Lebensphilosophie unterscheiden lassen. Man muss diese regelrechte Verachtung des Definierens, die teilweise zu einer Verachtung der Begriffe überhaupt führte, ernster nehmen, als dies bisher getan wurde. Das gilt auch für den zeitgenössisch typischerweise stark geführten Kampf gegen das „Phantom“ Begriffsjurisprudenz und die Forderung nach lebensnahem Recht, die beide verknüpft sind mit einem ernst zu nehmenden Antiintellektualismus. Inwieweit Spengler die Lebensphilosophie in die Jurisprudenz getragen hat, lässt sich nicht beziffern. Auch zu dieser Frage muss konstatiert werden, dass die Juristen nicht diejenigen Textstellen von Spengler, in denen dieser seine lebensphilosophische Methode darlegte, zitierten. Es war wohl eher so, dass Spengler bei denjenigen, die bereits eher zum irrationalen Denktypus tendierten, besonders anschlussfähig war.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
VII. Einfluss der „Dynamiker“ auf dogmatische Diskurse VII. Einfluss der „Dynamiker“ auf dogmatische Diskurse
Die Texte, in den die Autoren die Begriffe Statik und Dynamik verwendeten und sich auf Spengler beriefen, bezogen sich teilweise auf sehr konkrete dogmatische Fragen. Es soll in diesem Unterkapitel untersucht werden, ob diejenigen Juristen, die mit Spenglers Begriffen das Recht weiterdachten, von ihren Fachgenossen innerhalb von dogmatischen Spezialdebatten gehört wurden. Als Gegenstand der Betrachtung wird aus der Fülle der von den Dynamikern angesprochenen Rechtsfragen579 das weite Feld des Unternehmensbegriffes,580 konzentriert auf die Frage der Übertragbarkeit eines Unternehmens,581 gewählt. Der davon zu unterscheidende Problem579
Erwähnt seien nur die durch die Meinungsführer Fehr und Swoboda häufig angesprochenen Fragen. So interessierte etwa Fehr das Wesen des Kredites, das deutsche Schuldrecht und hier insbesondere das Wesen der Erfolgshaftung, das Wesen der deutschen Klage im Gegensatz zu dem römischen Klagesystem und die Gewere als Grundlage des deutschen Eigentumsrechts (Gewere (S. 100 ff.) vornehmliche Themen von Ernst Swoboda waren der Personenbegriff (Swoboda, Die Neugestaltung des Bürgerlichen Rechts, S. 46 ff.) das Verhältnis von deliktischer Schuld- und Erfolgshaftung (S. 119 ff.) und Sach- und Eigentumsbegriff (S. 62 ff.). Seltenere Themen waren Auftrag und Vollmacht, (S. 111 ff.) die Gesamtsachen, zu denen er auch das Unternehmen am Rechtsobjekt zählte (S. 86 ff.) und die Abgrenzung zwischen Miete und Pacht anhand der Pflichten der Parteien (S. 104 ff.). Bei all diesen Themen, die Swoboda tendenziell ausführlicher behandelte als andere „Dynamiker“, bildete der Vergleich zwischen österreichischem (laut Swoboda tendenziell bereits dynamischerem) und deutschem (tendenziell statischerem) Recht eine zusätzliche Perspektive. 580 Siehe hierzu allgemein, Gerhard Dilcher, Rudi Lauda, Das Unternehmen als Gegenstand und Anknüpfungspunkt rechtlicher Regelungen in Deutschland 1860–1920 in: Norbert Horn/Jürgen Kocka (Hrsg.), Recht und Entwicklung der Großunternehmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 1979, S. 535–576. Die hier untersuchte Frage der Rechtsobjekteigenschaft des Unternehmen als Ganzes wird allerdings nur sehr kurz behandelt; der Beitrag von Nörr, Das Unternehmen in der Wirtschafts- und Rechtsordnung 1880 bis 1930, beschäftigt sich ausdrücklich nicht mit der Übertragung des Unternehmens und mit der Zwangsvollstreckung in dasselbe, sondern hauptsächlich mit den wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Dimensionen des Unternehmens (siehe S. 21). 581 Neben dem hier für die dynamische Rechtslehre diskutierten Problem des Unternehmens als einheitliches Rechtsobjekt, wurden folgende Fragen diskutiert: 1.) Ob man das Unternehmen statt den Kaufmann als Anknüpfungspunkt für das Handelsrecht betrachten will. Dies wurde, seit Wilhelm Endemann Mitte des 19. Jh. mit dem Vorschlag hervorgetreten war, immer wieder von namhaften Juristen vertreten (Wilhelm Endemann, Das Deutsche Handelsrecht. Systematisch dargestellt. Erste Abteilung, Heidelberg 1865, S. 74). Zu Beginn des 20. Jh. wurde diese Frage bereites in vielen Lehrbüchern diskutiert (Vgl. Hedemann, Das bürgerliche Recht und die neue Zeit, S. 17 m.w.N. in Fn. 26). 2.) Die Frage nach dem Unternehmen als Anknüpfungspunkt für wirtschaftspolitische und sozialpolitische Aktivitäten, etwa auf dem Gebiet des kollektiven Arbeitsrechts. Siehe hierzu Nörr, Das Unternehmen in der Wirtschafts- und Rechtsordnung 1880 bis
VII. Einfluss der „Dynamiker“ auf dogmatische Diskurse
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komplex der Lehre vom „Unternehmen an sich“,582 wird dabei ebenfalls ausgeklammert, um die Untersuchung nicht ausufern zu lassen. Gleiches gilt für die Debatten um „das Vermögen“, welche die Dynamiker ebenfalls als einheitliches Rechtsobjekt konstruierten und „unu actu“ übertragen wollten.583 Als Spenglers erster Band des „Untergangs“ erschien, wurde der Unternehmensbegriff bereits äußerst breit diskutiert.584 Hedemann hatte 1919 – also bevor er Spengler gelesen hatte – bei einem Vortrag den Rechtsbegriff „Unternehmen“ als „eine völlig neue Rechtsfigur“ bezeichnet, als „eine neue Rechengröße, so recht aus dem Zeitgeist geboren und vielleicht dazu bestimmt, der dominierende Begriff bei dem Neubau der Privatrechtsordnung zu werden.“585 Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, wie der 1930, S. 21 ff.; Detlev Jost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe des Arbeitsrecht, München 1988. 3.) Schließlich war die Definition des Unternehmens als Anknüpfungspunkt im Bilanz- und Steuerrecht eine grundsätzlich eigene Frage. 582 Unter dem Begriff „Unternehmen an sich“ wurde in den 20er Jahren die Idee diskutiert, dass eine Aktiengesellschaft ein eigenes Interesse haben könnte, das sie zur Not auch gegen ihre Aktionäre zu verteidigen in der Lage sein sollte. Diese Vorstellung wurde von Walter Rathenau 1917 dem Konzept nach entwickelt (Rathenau, Vom Aktienwesen. Eine geschäftliche Betrachtung) und von Fritz Haussmann 1927 mit dem Begriff „Unternehmen an sich“ (Fritz Haussmann, Die Aktiengesellschaft als „Unternehmen an sich“ in: JW 1927, S. 2953–2956) versehen. Siehe zu dieser Rechtsfigur detailiert Riechers, Das „Unternehmen an sich“; Frank Laux, Die Lehre vom Unternehmen an sich. 583 Hier ist vonseiten der dynamischen Rechtslehre vor allem Elster mit einem Handbuchartikel zu nennen (Alexander Elster, Art. Vermögen und Vermögensrecht in: HdR Bd. 6, Berlin und Leipzig 1929, S. 452–456, S. 452). Siehe daneben entsprechende Ausführungen bei Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 105, und Swoboda. Auch die Debatte über den Rechtscharakter des Vermögens wurde außerhalb der Dynamiker breit diskutiert (siehe etwa: Gottlieb August Meumann, Prolegomena zu einem System des Vermögensrechts, 1. Abt., Breslau 1903; Rudolf Sohm, Vermögensrecht, Gegenstand, Verfügung, ABR 28 (1906), S. 173–206; Binder, Vermögensrecht und Gegenstand in AcP 34 (1910), S. 209; Kohler, Das Vermögen als eine sachenrechtliche Einheit in: ABR 22 (1903), S. 1–22; Dissertationen: Heinrich Brauweiler, Der Vermögensbegriff im Privat- und Strafrecht, Diss. Erlangen 1910, Berlin-Steglitz 1910; Johannes Thiessen, Person und Vermögen, Diss. Jena 1910, Borna 1910; Oskar Nothmann, Der Begriff des Vermögens im Bürgerlichen Recht, Diss. Greifswald 1914; Leo Schick, Über die Mehrdeutigkeit des juristischen Vermögensbegriffes, Diss. Heidelberg 1917, Bonn 1917). 584 Nahezu jedes Lehrbuch und jeder Kommentar zum Handelsrecht machte Ausführungen zum Begriff des Unternehmens. Siehe die ausführlichen Literaturverweise bei Callmann, Der unlautere Wettbewerb, S. 31 Fn. 4, nach denen zu urteilen die Diskussion etwa ab 1907 durch vermehrtes Erscheinen von Monografien deutlich hervortrat; siehe auch das Literaturverzeichnis bei Julius von Gierke, Handelsrecht und Schiffahrtsrecht, 4. Aufl., Berlin 1933, S. 64, welches sich jedoch auf die wichtige Literatur beschränkt. 585 Hedemann, Das bürgerliche Recht und die neue Zeit, Jena 1919, S. 17; zu beachten ist allerdings, dass Hedemann hier vor allem Bezug auf die handelsrechtliche Diskussion nahm.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
„dominierende Begriff“ Unternehmen mit dem dominierenden Begriff der Dynamik kombiniert wurde. In einem zweiten Schritt wird nach den Spuren der Dynamiker in der übrigen Literatur gesucht. 1. Der dynamische Unternehmensbegriff in der dogmatischen Umgebung des BGB Um die Besonderheit der Position der Dynamiker zu verstehen, muss man sie vor dem Hintergrund der Auffassung der Rechtsprechung sehen, die sich in dieser Frage gesetzestreu an das BGB hielt. Grundsätzlich zweifelte niemand daran, dass in tatsächlicher Hinsicht die Besonderheit des Unternehmens in dem Zusammenschluss von Sachen, Rechten, Personen und immateriellen Bestandteilen lag. Durch die Addition der materiellen Elemente auf der einen Seite und den rechtlich kaum separat erfassbaren Kategorien wie etwa Goodwill, Organisation, Kundenstamm, Lieferbeziehungen, Know How, der gute Ruf, soziale Beziehungen zu Arbeitnehmern auf der anderen Seite, entstand ein Wert, der über die Addition der Einzelwerte weit hinausging. Deshalb bestand ein grundsätzliches Interesse, ein Unternehmen als ein einheitliches Rechtsobjekt zu übertragen, zu verpfänden und als einheitlichen Gegenstand der Zwangsvollstreckung zu betrachten. Nach Ansicht der Dynamiker stand der rechtlichen Erfassung der realwirtschaftlichen Unternehmen vor allem § 90 BGB entgegen, da Lieferbeziehungen, Know-how, der gute Ruf usw. keine körperlichen Gegenstände sind. Die vielen Einzelunternehmen konnten laut Reichsgericht nicht einheitlich übertragen werden.586 Klarer war die Rechtlage nur, wenn eine juristische Person als Träger des Unternehmens fungierte, weil die verschiedenen Elemente des Unternehmens dann zumindest einem einheitlichen juristischen Objekt zugeordnet wurden. Hier konnten zumindest Unternehmensanteile veräußert und verpfändet werden. Die Vertreter der dynamischen Rechtslehre wollten dies schlechthin für alle Unternehmen ermöglichen. Insbesondere Fehr,587 Bott-Bodenhausen,588 Swoboda,589 und Domke590 beantworteten die Frage einhellig dahin gehend, dass man die unbedingte Akzeptanz des Unternehmens als Rechtsobjekt forderte. Allen voran führte Fehr aus: 586
RGZ 68, S. 51. Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 106. 588 Bott-Bodenhausen, Formatives und funktionales Recht in der gegenwärtigen Kulturkrisis, S. 106. 589 Swoboda, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants, S. 62 ff.; ders., Die Neugestaltung des Bürgerlichen Rechts, Brünn/Prag/Leipzig/Wien, 1935, S. 94. 590 Domke, Rez. Oppikofer Das Unternehmensrecht, S. 1549, der hier auch Fehr zitiert. 587
VII. Einfluss der „Dynamiker“ auf dogmatische Diskurse
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„Im Übrigen aber nehmen die Gerichte heute noch eine zögernde Haltung ein. Sie verlangen bei Übertragungen von Vermögensorganisationen im Allgemeinen die Übertragung der einzelnen Bestandteile nach ihren besonderen Formen, also etwa die Auflassung von Grundstücken, die Übergabe der Waren, die Abtretung von Forderungen. […] Wollen wir mit der Verbindung von Wirtschaftsleben und Rechtsleben wirklich Ernst machen, so müssen wir Gebilde wie das Unternehmen als übertragbare und verpfändbare rechtliche Einheiten anerkennen.“ 591
Swoboda ergänzte: In der „einheitlichen Auffassung des Unternehmens […] zeigt sich besonders plastisch, daß unser Eigentumsbegriff dynamisch geworden ist und den rein statischen Charakter des antiken Eigentumsbegriffes überwunden hat, den Spengler bekämpft und der unserer modernen Lebensführung nicht mehr genügt.“592
Die Dynamiker begründeten ihre Ansicht mit der überlegen Einsicht Spenglers. Der Kulturphilosoph habe wie kein Zweiter erkannt, dass § 90 BGB ein fataler Irrtum für das Abendland war, ein Festhalten an antiken Begrifflichkeiten. Weil das Wirtschaftsleben ein Bedürfnis danach habe, ein Unternehmen effektiv zu verpfänden und dafür einen adäquaten Kredit zu erhalten, müsse sich eine lebensnahe Rechtsauslegung über § 90 BGB hinwegsetzen. Die Argumentation basierte also auf den Aspekten der Lebensnähe und der Abstraktion vom Körperlichen. Das praktische Bedürfnis war aber nicht Ausgangspunkt der Argumentation. Am Anfang stand die Frage nach dem Wesen des Unternehmens. Dieses wurde aus dem Begriff Dynamik hergeleitet, welcher wiederum das juristische Destillat der spenglerischen Vorstellung des Wesens der abendländischen Kultur darstellte. Gegenüber der allgemeinen Diskussion lag damit ein eigenständiger dogmatischer Ansatz vor, der so in der übrigen Diskussion nicht vorkam.593 591
Fehr, Art. Unternehmen, S. 249. Swoboda, Die Neugestaltung der Grundbegriffe unseres Bürgerlichen Rechts, S. 113. 593 In der allgemeinen Diskussion wurden verschiedenste Ansätze zur dogmatischen Erfassung des Unternehmens vertreten. Einen guten Überblick bietet von Gierke, Handelsrecht, 7. Aufl., Berlin 1955, S. 73 ff.; ebenfalls hilfreich Reinhold Gruss, Unternehmer und Unternehmen. Ein Beitrag zur Theorie der Rechtsperson, insbesondere ihrer „Entpersönlichung“, Diss. Tübingen 1933, Göppingen 1933, S. 20 .ff und Wilhelm Michaelis, Das Recht am Unternehmen, Diss. Leipzig, Zeulenroda 1937, S. 26 ff. Noch im 19. Jh. wurde teilweise vorgeschlagen, jedes Unternehmen als juristische Person zu behandeln (so vorwiegend Wilhelm Endemann, Das deutsche Handelsrecht, 3. Aufl., Heidelberg 1876; teilweise folgte auch das preußische Obertribunal dieser Ansicht (Gruchot, Bd. 11, S. 258)), was sich jedoch rasch als unhaltbar herausstellte (Helmuth Reiche, Das Recht am Unternehmen, Diss. Greifswald 1920, S. 28; Michaelis, Das Recht am Unternehmen, S. 26 ff.). Weiter wurde überlegt, ob aufgrund der persönlichen Organisationsleistung des Unternehmers ein Persönlichkeitsrecht am Unternehmen adäquat wäre (Josef Kohler, Der unlautere Wettbewerb, Berlin und Leipzig 1914, S. 22), ein Vorschlag, der freilich bei der Übertragung eines Unternehmens Schwierigkeiten bereitete. 592
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
Ähnlichkeiten bestanden allerdings zu dem Energetiker Rosenstock, der hier teilweise sehr ähnlich argumentierte.594 Da sich die Dynamiker als eine neue, aufstrebende Rechtslehre verstanden, die zur Erklärung des modernen Rechts unerlässlich sei, lag es nahe, dass sie versuchten, aktiv in die Diskussion um den Unternehmensbegriff einzugreifen. Ein Anlass dazu bot sich ab 1927 durch die Veröffentlichung von Hans Oppikofers595 Habilitation zu diesem Thema.596 Hans Fehr führte in einer längeren Rezension zunächst aus, dass der heutige „Begriff des Unternehmens [...] völlig im Dunkeln“597 liege und weder von Rechtsprechung noch von Wissenschaft bisher klar erfasst sei. Dies erklärte Fehr damit, dass die Jurisprudenz noch zu stark an der statischen, körperhaften Auffassung festhalte, wie er bereits in seinem Werk „Recht und Wirklichkeit“ erläutert habe.598 Das Unternehmen begreife nur, wer dynamisch, also von Körpern losgelöst, abstrakt, funktional denke. An Oppikofers Werk, das Fehr im Wesentlichen lobte,599 Häufig wurde auch vertreten, es handele sich bei Unternehmen um ein Sondervermögen, bestehend aus Sachen, Rechten und immateriellen Bestandteilen. Die rechtliche Konsequentz der Kategorisierung als Sondervermögen war wiederum offen (von Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 2, S. 59; ders., Handelsrecht, 3. Aufl., S. 68. Andere Auffassung in der 7. Aufl.; Alexander Elster, Art. Sondervermögen und Sachinbegriff in: HdR, Bd. V, Berlin und Leipzig 1928, S. 524–528; dagegen Hans Oppikofer, Das Unternehmensrecht, Tübingen 1927, S. 85 f.). Darüber hinaus wurde mit unterschiedlichen Facetten vertreten, das Unternehmen sei zentral ein Immaterialgut (so Oskar Pisko, Das Unternehmen als Gegenstand des Rechtsverkehrs, Wien 1907, S. 71; Julius Binder, Die Rechtsstellung der Erben nach dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, Leipzig 1901, S. 32). 594 Siehe Rosenstock, Vom Industrierecht, S. 17 ff., zum Begriff des Betriebes. 595 Siehe zu ihm allgemein die kurze Vita auf der Homepage des Kölner Instituts für Luftfahrtrecht, dessen Direktor Oppikofer war (http://www.uni-koeln.de/jur-fak/instluft/ geschichte/01_02.pdf, abgerufen am 30.10.2010). 596 Oppikofer, Das Unternehmensrecht. Oppikofer zeichnete die historische Entwicklung des Unternehmensbegriffs vor allem anhand der Frage der Zubehöreigenschaft und gab einen Ausblick auf das neue Unternehmensrecht. Er bezeichnete das Unternehmen sehr ähnlich wie die Dynamiker als „die Vereinigung von Gütern und Kräften“ (S. 3). Eines seiner Ergebnisse war, dass das mittelalterliche deutsche Recht das Unternehmen als Ganzes leichter erfassen konnte als das römische Recht (S. 30 ff., 47 ff.). Weder die dynamische Rechtslehre noch die Begründung des modernen Rechts durch eine energetische Grundlegung wurden dabei von Oppikofer erwähnt. In einem kurzen Absatz deutet Oppikofer lediglich darauf hin, dass Ernst Swoboda neulich nachgewiesen habe, wie einfach sich bei ausländischen Rechtsordnungen mit weitem Sachbegriff das Unternehmen auch mit seinen immateriellen Bestandteilen als einheitliche Sache subsumieren lasse (Oppikofer, Das Unternehmensrecht, S. 137). Dabei übernahm Oppikofer aber nicht den Begriff der Dynamik. 597 Fehr, Der Eigentumsbegriff und das Unternehmen, S. 1. 598 Fehr, Der Eigentumsbegriff und das Unternehmen, S. 1 f. 599 Fehr hob insbesondere positiv hervor, dass Oppikofer herausgearbeitet hatte, dass die römischen Unternehmensformen, insbesondere der Fundus des Bauern, nicht als Ganzes übertragen werden konnten, dass dies aber mit mittelalterlichen Agrarunternehmen
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hatte er auszusetzen, dass dem Verfasser nicht klar geworden sei, „dass sein Thema letzten Endes von der grossen Frage beherrscht wird: wann und wie fechten dynamisches und statisches Recht einen Kampf miteinander aus?“600 Die Rezension Fehrs löste sich im Folgenden vom Werk Oppikofers und wurde zu einer flammenden Rede für das dynamische Recht.601 Zeitgleich rezensierte Martin Domke Oppikofers Werk in der Juristischen Wochenschrift. Domke war 1922 mit einer Monographie zum Thema hervorgetreten, die allerdings noch keine Hinweise auf eine dynamische Rechtslehre erkennen ließ.602 Einleitend sprach Domke nun 1928 in seiner Rezension von einer Umbildung des rechtswissenschaftlichen Denkens hin zu einer funktionaleren Betrachtung, die „Fehr zutreffend in ‚Recht und Wirklichkeit‘ […] als die von der statischen zur dynamischen kennzeichnet“.603 Freilich gab es auch Rezensionen zu Oppikofer, die über die dynamische Rechtslehre kein Wort verloren.604 Jedenfalls wurde aber sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland 1928 in führenden Zeitschriften ein neuer Lösungsansatz zu den Problemen des Unternehmens als Rechtsobjekt präsentiert: die dynamische Rechtslehre. Angesichts dieses vehementen Auftritts in der Diskussion um das Rechtsobjekt „Unternehmen“ stellt sich die Frage, ob der Beitrag der spenglernahen Autoren von den übrigen Diskutanten akzeptiert und in die Debatte inkorporiert wurde. 2. Fehrs Beitrag im Handwörterbuch der Rechtswissenschaften Als eine erste Auswirkung wurde Hans Fehr die Ehre zuteil, 1929 in dem letzten Band des von Fritz Stier-Somló und Alexander Elster herausgegebenen „Handwörterbuch der Rechtswissenschaften“ den Artikel zum Begriff „Unternehmen“ verfassen zu dürfen.605 Einiges spricht dafür, dass sehr wohl möglich gewesen sei (Fehr, Der Eigentumsbegriff und das Unternehmen, S. 3 ff.). 600 Fehr, Der Eigentumsbegriff und das Unternehmen, S. 3. 601 Insbesondere betonte Fehr dabei die Rechtsprechung und die einzelnen Elemente des dynamischen Unternehmensbegriffes (Fehr, Der Eigentumsbegriff und das Unternehmen, S. 5 f.). Zuletzt wiederholte er seine Ausführungen zur lehnsrechtlichen Gewere und beschwor noch einmal einen germanischen dynamischen Eigentumsbegriff (S. 6 f.). 602 Martin Domke, Die Veräußerung von Handelsgeschäften. Ein rechtsvergleichender Beitrag zur Lehre vom kaufmännischen Unternehmen, Marburg 1922. 603 Domke, Rez. Oppikofer, Das Unternehmensrecht, S. 1549. 604 Herbert Meyer, Rez. Oppikofer, Das Unternehmensrecht in: ZRG GA, 48 (1928), S. 540–557; R. Ruth, Rez. Oppikofer, Das Unternehmensrecht in: AcP 129 N.F. 9 (1928), S. 106–111; Fritz Haussmann, Rez. Oppikofer, Unternehmensrecht in: ARWP 22 (1928/29), S. 345–348. 605 Fehr, Art. Unternehmen, S. 247–249.
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Fehr extra für diesen Artikel aufgrund seiner Einstellung zur dynamischen Rechtslehre ausgewählt wurde. Es handelte sich um den einzigen von ihm bearbeiteten Artikel in dem gesamten Projekt. Außer der soeben dargestellten Rezension zu Oppikofer hatte Fehr in diesem Bereich noch nicht publiziert, auch wenn er bereits sporadisch mit Veröffentlichungen zum Wirtschaftsrecht in Erscheinung trat.606 Insbesondere für den Unternehmensbegriff hatten sich bereits einige Autoren hervorgetan: Neben der bereits angesprochenen Habilitation von Oppikofer hatten bereits davor Martin Domke,607 Rudolf Jsay,608 Oskar Pisko,609 Kamillo von Ohmeyer610 und Alfred Huek611 monographisch hierzu publiziert. Auch in Festschriften612, Lehrbüchern613 und Dissertationen614 wurde die Frage ausgiebig diskutiert.615 Hans Fehrs Ausführungen zum Unternehmen traten von ihrem Um606
Etwa Hans Fehr, Die Einigungsämter in Sachen des unlauteren Wettbewerbs in: ZHR 73 (1913), S. 147–178. Für seine handelsrechtliche Kompetenz spricht auch, dass er zwischen 1937 und 1944 zum Mitherausgeber der wichtigen „Zeitschrift für das Gesamte Handelsrecht und Konkursrecht“ wurde. 607 Domke, Die Veräußerung von Handelsgeschäften. Ein rechtsvergleichender Beitrag zur Lehre vom kaufmännischen Unternehmen; ders., Der Übergang von Handelsgeschäften in der neueren russischen und polnischen Gesetzgebung in: ZHR 86 (1923), S. 98– 112. 608 Rudolf Jsay, Das Recht am Unternehmen, Berlin 1910. 609 Pisko, Das Unternehmen als Gegenstand des Rechtsverkehrs, Wien 1907; ders., Das kaufmännische Unternehmen in: Victor Ehrenberg (Hrsg.) Handbuch des gesamten Handelsrechts, 2. Bd., Leipzig 1918, S. 195–250. 610 Kamillo von Ohmeyer, Das Unternehmen als Rechtsobjekt, Wien 1906. 611 Alfred Huek, Unkörperliche Geschäftswerte. Ein Beitrag zur Lehre vom Unternehmen, Diss. Münster 1913, Münster 1914. 612 Erwin Jakobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe in: Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Dr. Victor Ehrenberg, Berlin 1926, S. 1–40 (hauptsächlich aufs Arbeitsrecht ausgerichtet); Schönfeld, Rechtsperson und Rechtsgut im Lichte des Reichsgerichts, S. 263 f. 613 Die Diskussion lief vor allem in Lehrbüchern zum Handelsrecht, siehe etwa Julius von Gierke, Handelsrecht und Schiffahrtsrecht, 2. Aufl., Berlin und Leipzig 1926, S. 64 ff.; Müller-Erzbach, Deutsches Handelsrecht, Tübingen 1928, S. 71 ff.; Karl Wieland, Handelsrecht 1. Bd., München und Leipzig 1921, S. 249–296; keine Hinweise auf die Diskussion finden sich bei Konrad Cosack, Handelsrecht, 8. Aufl., Stuttgart 1920. 614 Den historischen Erscheinungsverlauf folgend: Friedrich Grave, Das kaufmännische Unternehmen, Diss. Kiel 1905; Hueck, Unkörperliche Geschäftswerte; Reiche, Das Recht am Unternehmen; Johann Depéne, Kann ein Unternehmen Objekt eines Rechts sein? Diss. Greifswald 1920; Karl Zülch, Das kaufmännische Unternehmen, Diss. Göttingen 1923; Gustav Johannig, Der Begriff der Unternehmung, Diss. Göttingen 1925; Georg Meyer, Das kaufmännische Unternehmen als selbstständiges schutzfähiges Rechtsgut in seinen wichtigsten rechtsgeschäftlichen Beziehungen, Diss. Köln 1928. 615 Freilich gab es auch Diskussionsbeiträge in weiteren Bereichen, etwa in spezieller Literatur zum Aktien-, Bilanz-, oder Arbeitsrecht oder zum gewerblichen Rechtschutz, für die, aufgrund der Gefahr der fruchtlosen Ausuferung, hier keine vollständige Einbeziehung angestrebt wurde.
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fang her deutlich hinter die Publikationen vieler anderer Fachleute zurück. Das einzige Alleinstellungsmerkmal Fehrs war die Betonung einer neuen auf Spengler fußenden dynamischen Rechtslehre. Zudem muss bedacht werden, dass der Herausgeber Alexander Elster, anders als bei der Abfassung der vorangegangenen Bände des Handwörterbuchs, jetzt 1929 glühender Anhänger der dynamischen Rechtslehre nach Fehr und Spengler geworden war.616 Elster zitierte in diesem Band in seinen eigenen Artikeln auch mehrfach Fehr und einmal sogar Spengler.617 Es liegt daher sehr nahe, dass Elster Fehr aufgrund seiner Verwendung der Begriffe Spenglers ausgewählt hat. Fehr fasste in seinem Artikel seine Ansichten zum dynamischen Unternehmensbegriff zusammen, ohne dass er inhaltlich etwas Nennenswertes hinzufügte. Er verwies allerdings in viel größerem Umfang als in seinen sonstigen Arbeiten zu diesem Thema auf die Rechtsprechung und einschlägige Literatur. 3. Kein Gehör beim Reichsgericht und den Diskussionsführern in der Literatur Das Reichsgericht hielt sich an die Vorgaben des BGB und verneinte die Übertragbarkeit eines Unternehmens in einem Akt aufgrund von § 90 BGB. 616
In den bis 1928 publizierten Artikeln von Elster fanden sich keinerlei Hinweise auf Fehr und Spengler oder eine dynamische Rechtsbetrachtung. Besonders deutlich wurde dies bei der Behandlung der Rechtsnatur des Unternehmens. Diese Frage behandelte Elster in zwei Artikeln: Alexander Elster, Art. Geschäftsübernahme in HdR, Bd. 2, Berlin und Leipzig 1927, Sp. 812–820; ders., Art. Sondervermögen und Sachinbegriff, S. 524–528. Hier beklagte Elster die strenge Rechtsprechung des Reichsgericht, welche das Unternehmen nicht als ein einheitliches Rechtsobjekt anerkannte. Er identifiziert das im BGB fortlebende römische Recht als Hauptschuldigen an diesem Problem. Insbesondere rechtliche Gesamtheiten, wie sie sich in der modernen Wirtschaft zeigen, seien dem römischen Recht fremd gewesen (Elster, Art. Geschäftsübernahmen, S. 813). Die spezifischen Argumentationsmuster der dynamischen Rechtslehre fehlen aber noch. Er weist nicht auf die energetischen, abstrakten, dynamischen oder funktionalen Eigenarten der modernen Wirtschaft hin. Er macht das römische Recht für die Misere haftbar, aber nicht das von Spengler behauptete körperverhaftete Rechtsdenken. 617 In den Artikeln zu Vermögen, Vermögensrecht und Urheberrecht verwies Elster auf Fehr und teilweise auf Spengler und argumentierte facettenreich mit Statik und Dynamik (Alexander Elster, Art. Vermögen und Vermögensrecht in: HdR Bd. 6, Berlin und Leipzig 1929, S. 452–456; ders., Art. Urheberrecht, HdR Bd. 6, Berlin und Leipzig 1929, S. 316–321). Alle Fragen, die sich bei dem Begriff des Vermögens stellten, beantwortete Elster mit dem Unterschied zwischen Statik und Dynamik. In dem vierseitigen Artikel verwendete Elster das Stichwort Dynamik bzw. das Adjektiv dynamisch 22 mal. Mit Hilfe des Begriffspaares erläuterte er auch prinzipiell den Wettbewerb und einzelne Grundprobleme des UWG (Alexander Elster, Art. Wettbewerb, HdR Bd. 6, Berlin und Leipzig 1929, S. 887–905).
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1919 deute es aber zumindest an, dass dieses am Gesetz hergeleitete Ergebnis durch extensive Auslegung korrigiert werden könnte, „wenn eine überwiegende Anschauung sich Bahn gebrochen hätte, die auf einen solchen Weg drängte“.618 Die Richter des Reichsgerichts wiesen also deutlich darauf hin, dass sie bereit wären, sich über die klare Gesetzeskonstruktion hinwegzusetzen, aber nur unter der Bedingung, dass dies der herrschenden Meinung entspräche. Die überwiegenden Stimmen der Literatur lagen jedoch in dieser Frage auf einer Linie mit dem Reichsgericht. Trotz sehr verschiedener Ansätze kamen die überwiegenden Autoren zu dem Ergebnis, dass ein Unternehmen nicht als einheitliches Rechtsobjekt übertragen werden könne.619 Nur sehr vereinzelt wurde für ein Recht am Unternehmen als Ganzem plädiert.620 Um wenigstens ein einheitliches Pfandrecht am Unternehmen zu verwirklichen, wurde vorgeschlagen, nach französischem Vorbild ein Register für Unternehmen einzurichten.621 Dies wurde im Reichstag jedoch abgelehnt.622 Folgerichtig ergab sich auch keine Rechtsprechungsänderung beim Reichsgericht.623 Spengler und die Dynamiker vertreten also im Ergebnis das Gegenteil der herrschenden Meinung. Potentiell hätte diese Situation dazu führen können, dass die herrschend Lehre sich intensiv mit den Argumenten der Dynamiker auseinandersetzte. Dies aber geschah kaum. Wenn überhaupt jemand genannt wurde, dann Fehr. Generell lässt sich dabei feststellen, dass das „Dynamische“ als Argument zumeist nur von weniger tonangebenden Rechtswissenschaftlern624 oder Doktoranden625 angeführt wurde. 618
RGZ 95, 238. Josef Kohler, Der unlautere Wettbewerb, 1914, S. 22; Oppikofer, Das Unternehmensrecht, S. 4; von Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 2, S. 59; von Gierke, Handelsrecht, 3. Aufl., S. 68, andere Auffassung in 7. Aufl.; Elster, Art. Sondervermögen und Sachinbegriff, S. 524–528; so Pisko, Das Unternehmen als Gegenstand des Rechtsverkehrs, S. 71; Binder, Die Rechtsstellung der Erben, S. 32. 620 Müller-Erzbach, Handelsrecht, S. 72. Siehe auch ders., Die Erhaltung des Unternehmens in: ZHR 61 (1908), S. 357–413. 621 So vor allem Oppikofer, Das Unternehmen, S. 147. 622 Ebda., S. 147 m.w.N. 623 Diese Linie hat der BGH teilweise bis heute fortgeführt (zur Verpfändung BGH NJW 1968, 393; Siehe hierzu auch Staudinger-Wiegand, § 1273 Rn. 7). Das Reichsgericht konkretisierte lediglich den Umfang des Unternehmens weiter (RGZ 102, 127; 110, 422). 624 Karl Haff stellte dar, das Fehr Oppikofers Fehler erkannt habe, und mit einem neuen dynamischen Sachenrecht ein Fundament für den Begriff des Unternehmens legen wolle. Fehr steht am Ende des kurzen Absatzes als strahlender Sieger neben Oppikofer, Müller-Erzbach, Jsay und Wolf (Karl Haff, Die juristische Personen des bürgerlichen und Handelsrechts in ihrer Umbildung in: RGPrax, 2. Bd., Berlin und Leipzig 1929, S. 178– 190, S. 185). Eugen Locher publizierte 1931 eine kurze didaktische Zusammenfassung des Handelsrechts in der von Rudolf Stammler herausgegebenen Lehrbuchreihe. Da hier auf Fußnoten weitgehend verzichtet wurde, kann Locher nicht eindeutig der dynamischen 619
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Dies muss vor allem vor dem großen Ausmaß der Gesamtdebatte betrachtet werden, die sich an der hohen Anzahl der Dissertationen zu diesem Thema ablesen lässt.626 In die maßgeblichen Lehrbücher zum Handelsrecht schaffte es die dynamische Rechtslehre zumeist nur, weil Oppikofers Habilitation als maßgeblich empfunden wurde und der Vollständigkeit halber sämtliche ihrer Rezensionen aufgelistet wurden. Daher wurde zumindest die Rezension von Fehr als Bestandteil der relevanten Literatur zum Begriff „Unterneh-
Rechtslehre nach Spengler zugeordnet werden. Jedenfalls spricht er mehrfach von der dynamischen Organisationseinheit, welche die einzelnen Bestandteile jedes Unternehmens zusammenfasst und ihm erst einen richtigen Wert verleihe (Eugen Locher, Handels-, Wechsel- und Seerecht, Berlin 1931, S. 1024). Ein Jahr zuvor schrieb ein Doktorand Lochers in einer Arbeit zu „Unternehmen an sich“ und zitierte sowohl Hans Fehr als auch Oswald Spengler darin kurz (Popp, Das aktienrechtliche Unternehmen, S. 11; siehe auch das Mottozitat von Hans Fehr auf S. V). Dies könnte einen Hinweis darauf geben, dass im Umfeld von Locher Spengler und Fehr grundsätzlich eine gewisse Rolle spielten, ist aber freilich kein schlagender Beweis. In anderen Werken von Locher finden sich keine weiteren Referenzen auf die dynamische Rechtslehre. 625 Weiter wurde Fehr von fleißigen Doktoranden in dem Bemühen um absolute Vollständigkeit aufgenommen. Dies wirkte sich dann aber nie auf die eigentliche Argumentation aus. Entweder wurde Fehr und mit ihm Locher in dem großen Streit um den Rechtscharakter des Unternehmens aufgelistet und sodann verworfen (so Karl-Wilhelm Jans, Das Recht am Unternehmen und die Wirtschaftsordnung, Diss. Köln 1935, Düsseldorf 1936. S. 17). Oder Fehr wurde vereinzelt in umfangreichen Fußnoten in einem Atemzug mit einer großen Anzahl anderer Autoren genannt (so Gruss, Unternehmer und Unternehmen, S. 48). Eine bedeutendere Stellung nahmen Fehr und die dynamische Rechtslehre freilich in den Dissertationen ein, die von ihm selbst betreut wurden. So begann sein Doktorand Kuttner seine Arbeit über den Schutz des Unternehmens nach deutschem und französischem Privatrecht mit den Worten: „Wir können diese Arbeit einen Beitrag zur Lehre von der Dynamik des Vermögensrechtes nennen.“ (Kuttner, Der Schutz des Unternehmens nach deutschem und französischem Privatrecht, S. 1). Viel zurückhaltender bewertete später allerdings Fehrs Doktorand Kurt Kohli in seiner Arbeit über Aktiengesellschaft und Unternehmen die dynamische Rechtslehre. Von Fehr zitierte Kohli nur die Rezension zu Oppikofer. Spengler taucht nicht auf. Stattdessen zog Kohli Autoritäten der Nationalökonomie heran, wie Max Weber, Werner Sombart und Walter Rathenau (Kurt Kohli, Aktiengesellschaft und Unternehmen, Diss. Bern 1933, Bern 1936, S. 49). 626 Man beachte alleine die Anzahl der Dissertationen nach 1928: Hans Breitbach, Gesamthand und Unternehmen in ihren entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhängen, Diss. Frankfurt am Main 1929, Frankfurt am Main 1930; Erich Schmidt, Das Unternehmen als Sicherungs- und Befriedigungsmittel, Diss. Bonn 1929, Berlin 1929; Barbara Elisabeth Meyer, Das subjektive Recht am Unternehmen, Diss. Erlangen 1932, Erlangen 1933; Kohli, Aktiengesellschaft und Unternehmen; Gruss, Unternehmer und Unternehmen, ein Beitrag zur Theorie der Rechtsperson; Jans, Das Recht am Unternehmen und die Wirtschaftsordnung; Michaelis, Das Recht am Unternehmen; Helmut Born, Die Begriffe „Betrieb“ und „Unternehmen“ in der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Reichsarbeitsgerichts, Diss. Leipzig, Dresden 1938.
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men“ angesehen.627 Eine inhaltliche Auseinandersetzung fand aber auch hier nicht statt. Auch in den bedeutenden Aufsätzen628 und der Antrittsvorlesung Fechners629 zu dieser Frage ist keine Spenglerrezeption zu verzeichnen. In den Kommentaren zum BGB wurde die Frage, ob ein Nießbrauch,630 die Übertragbarkeit oder die Verpfändung eines Unternehmens möglich sei, zumeist mit einem Satz verneint. Daher fand sich an der entsprechenden Stelle keine Nennung der dynamischen Rechtslehrer, im „Soergel“, dem „Bürgerlichen Gesetzbuch mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts“631 und „Loewenwarters Lehrkommentar zum BGB“632. Mehr als ein Satz über die Rechtsnatur des Unternehmens fand sich in den Kommentierungen von § 90 BGB,633 aber auch hier wurde allenfalls Hans Fehr mit seiner Rezension zu Oppikofer nur einmal kurz neben Anderen zitiert.634 Damit muss festgehalten werden, dass in einer umfangreich geführten dogmatischen Debatte die dynamische Rechtslehre allenfalls wahrgenommen, aber nicht ernstgenommen wurde. 627
So Julius von Gierke in späteren Auflagen (etwa Gierke, Handelsrecht, 7. Aufl. 1955, S. 71) und Viktor Hoeninger in: Dürringer-Hachenburg HGB, 3. Aufl., Mannheim/ Berlin/Leipzig 1930, § 25 S. 319, in beiden Fällen wird Fehr nicht inhaltlich dargestellt und nicht mit Argumenten der dynamischen Rechtslehre diskutiert. 628 Aus der Zeitschrift für Handelsrecht: Karl August Eckhardt, Betrieb und Unternehmer. Ein Beitrag zur juristischen Terminologie in: ZHR 94 (1929), S. 1–30 (hauptsächlich zum Arbeitsrecht); Hermann Krause, Kaufmannsrecht und Unternehmerrecht in: ZHR 105 (1938), S. 69–132. 629 Erich, Fechner, Das wirtschaftliche Unternehmen in der Rechtswissenschaft, Bonn 1942. In seiner Antrittsvorlesung diskutiert Fechner umfassend den Begriff des Unternehmens. Seine Perspektive ist hauptsächlich auf die Eigeninteressen und die Treuebindungen einer Aktiengesellschaft gerichtet, aber er bezieht auch viele Autoren ein, die das Unternehmen als Rechtsbegriff in einem anderen Kontext diskutierten. 630 Kein Nießbrauch am Unternehmen: Soergel, 5. Aufl., 2. Buch, Stuttgart 1931, § 1085 Rn. 2; ebenso 7. Aufl., 3. Buch, Stuttgart-Berlin-Leipzig 1939 § 1085 Rn. 2. 631 Louis Busch Schliewen, Das Bürgerliche Gesetzbuch mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts, 8. Aufl., Berlin und Leipzig 1934, § 1085 Rn. 3, § 1273 Rn. 1; ebenso in der 9. Aufl., Berlin 1939, § 1085 Rn. 3, § 1273 Rn. 1. § 854 Rn. 2. 632 Victor Loewenwarter, Lehrkommentar zum BGB, 4. Bd., Sachenrecht, 2. Aufl. Berlin 1925, § 1085. 633 Paul Oertmann, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch und seinen Nebengesetzen, 1. Bd., 3. Aufl., Berlin 1927, Vorbem. 2 a und 5; Landgerichtsrat Gerald, in: Soergel. Bürgerliches Gesetzbuch nebst Einführungsgesetzen, 5. Aufl., Stuttgart, Leipzig, Berlin 1931, § 90 Rn. 2; Reichsgerichtsrat Busch in: BGB RGK, 6. Aufl., Berlin und Leipzig 1928, § 90 Rn. 1. 634 Erwin Riezler, Staudinger, 10. Aufl., 1. Bd., Berlin und Leipzig 1936, Vorbem. Sachen, Rn 18.
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4. Analyse der Gesprächsbarrieren zwischen Spenglerianern und den Meinungsführern der übrigen Diskussion Fragt man nun weiter, woran dieses Ignorieren der Dynamiker liegen könnte, so ergeben sich mehrere Analyseansätze. Ein – relativ trivialer – Punkt sei vorweggenommen. Spengler und seine Begriffe wurden ignoriert, weil die Juristen, die mit ihnen argumentierten, das Gegenteil der herrschenden Meinung und Rechtsprechung vertraten. Das dies auch anders sein konnte, zeigte sich bei der Debatte um das „aktienrechtliche Unternehmen an sich“. Arnd Riecher diagnostizierte hier einen gewissen Spenglereinfluss bei den Befürwortern dieser Rechtsfigur.635 Sie entwickelte sich zur herrschenden Meinung und wurde von der Rechtsprechung anerkannt.636 In dieser Konstellation zeigten die eher dogmatisch orientierten Juristen des „Unternehmens an sich“ eine gewisse Bereitschaft, Fehr und Spengler heranzuziehen.637 Dabei erlangt das Antonym Statik/Dynamik jedoch niemals eine so wichtige Bedeutung, dass sie selber im Sinne dieser Arbeit als Autoren der dynamischen Rechtslehre bezeichnet werden könnten. Fehr und Spengler wurden keine tragenden Säulen ihrer Argu635
Riecher bezieht in seine Untersuchung auch Spengler, Bott-Bodenhausen und Fehr ein. Zum einen sei das dynamische Rechtsdenken nach Spengler beteiligt gewesen an der Inhaltswandlung des Eigentums (Riechers, Das „Unternehmen an sich“, S. 52 f.). Insbesondere Fehr hatte das soziale Eigentumsdenken im Zusammenhang mit der dynamischen Rechtslehre bereits ausdrücklich auf die Verhältnisse in einer Aktiengesellschaft angewendet: „In der Generalversammlung sind Mehrheitsbeschlüsse unwirksam“ so Fehr, „soweit sie offensichtlich dem Wohl der Gesellschaft entgegenstehen“ (Fehr, Das kommende Recht, S. 21; ähnlich auch Fehr, Das dynamische Element im künftigen schweizerischen Handelsrecht, S. 73). Häufiger als bei anderen Themen fand Fehr damit Beachtung bei Gesellschaftsrechtlern, so etwa bei Netter, Probleme des lebenden Aktienrechts, S. 1; Karl Geiler, Die wirtschaftliche Methode im Gesellschaftsrecht, Gruchots Beiträge 68 (1927), S. 593–619; Franz Leitz, Publizität der Aktiengesellschaft, Diss. Frankfurt am Main 1929, Bretten 1930, S. 55; Herbert Landsberger, Der Rechtsgedanke des „Unternehmen an sich“ und das neue Aktienrecht in: ZHB 1932, S. 79–89, S. 81 Fn. 27; insgesamt zeigten die Autoren des „Unternehmens an sich“ also eine gewisse Bereitschaft Fehr und Spengler heranzuziehen. Obwohl sie letzlich nicht als die ausschlaggebenden Säulen der Argumentation bezeichnet werden können, basierte die dogmatische Herleitung zumindest auch auf den Schriften der Dynamiker. Spenglers Begriffe waren hier als zusätzliche rhetorische Munition herzlich willkommen. 636 Nachdem die Rechtsprechung in Anbetracht des „Wohles der Gesellschaft“ das Mehrheitsprinzip eingeschränkt und Verwaltungsaktien toleriert hatte (siehe insgesamt Riechers, Das “Unternehmen an sich“. Die Entwicklung eines Begriffes in der Aktienrechtsdiskussion des 20. Jh., S. 110 m.w.N.; bei Verwaltungsaktien handelte es sich um Aktien, die unmittelbar oder mittelbar unter der Kontrolle der Verwaltung standen (Riechers, Das „Unternehmen an sich“, S. 46 f.)), erfolgte nach 1927 in der „Hamburg-Süd“Entscheidung die höchstrichterliche Anerkennung eines verabsolutierten selbstständigen „Unternehmens an sich“ (Riechers, Das „Unternehmen an sich“, S. 111). 637 Siehe die Verweise in Fn. 635.
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mentation, waren aber immerhin als zusätzliche rhetorische Munition herzlich willkommen. Dass dies bei der Diskussion um die Rechtsnatur des Unternehmens anders war, hat freilich noch tiefergehende Gründe. a) § 90 BGB als Ausgangspunkt der dynamischen Argumentation Das lag auch daran, dass viele Debatten um den breit diskutierten Unternehmensbegriff nicht von § 90 BGB ausgingen. Da sämtliche Rechtsbereiche um die richtige Theorie des Unternehmens mitdiskutierten und dabei freilich ihre bilanz- und steuerrechtliche, arbeits- und sozialrechtliche, gesellschaftsrechtliche, handelsrechtliche und wettbewerbsrechtliche Perspektive einnahmen, spielte § 90 BGB in den meisten Argumentationen eine unbedeutende Nebenrolle oder wurde überhaupt nicht erwähnt.638 Nur sehr wenige der durchgesehenen Werke begannen ihre Argumentation mit § 90 BGB.639 Generell wurde § 90 BGB – im Gegensatz zur Jahrhundertwende640 – in 638
In der Tat spielte § 90 BGB für das aktienrechtliche Unternehmen an sich, für den Schutz des Unternehmens durch das UWG, oder die richtige Bilanzierung der immateriellen Güter keine Rolle. Dass sich ein Unternehmen grundsätzlich auch aus immateriellen Bestandteilen zusammensetzte, wurde, wie bereits oben dargelegt, von kaum jemandem bestritten. § 90 BGB stand nur einer einheitlichen Übertragung, der Zwangsvollstreckung, der konkursrechtlichen Anfechtung und Pfand- und Nießbrauchbestellungen im Wege und spielte für alle anderen Fragen keine Rolle. 639 Deutlich auf § 90 BGB abstellend etwa Rudolf Friedrich, Art. Sache, in: RHZH, S. 62 und 64 ff.; Haff, Die juristische Personen des bürgerlichen und Handelsrechts in ihrer Umbildung, S. 185; Meyer, Das subjektive Recht am Unternehmen; ab 1948 stellte Julius von Gierke diese Erkenntnis an den Beginn seiner Argumentation zum Unternehmen: Julius von Gierke, Das Handelsunternehmen in ZHR 111 (1948), S. 1–17, S. 1; ders., Handelsrecht, 7. Aufl., 1955, S. 73 f. In der 3. Aufl. von 1929 war die Argumentation noch nicht darauf ausgelegt. 640 Laut Rüfner in: HKK §§ 90–103, Rn. 7 war vor 1900 eine deutliche Kritik von Erik Fuchs (Erik Fuchs, Das Wesen der Dinglichkeit. Ein Beitrag zur allgemeinen Rechtslehre und zur Kritik des Entwurfes eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Berlin 1889, S. 6 ff.) und Gierke am engen Sachbegriff zu erwähnen. Gierke wollte 1895 abstrakt jeden „ideell begrenzten Ausschnitt aus der zur rechtlichen Beherrschung geeigneten Beziehung der äußeren Güterwelt“ (von Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 270) als unkörperliche Sache rechtlich anerkennen. Nach Erscheinen des BGB erläuterte Gierke, dass trotz § 90 BGB „neben dem gesetzestechnischen Begriff ‚unkörperliche Sache‘ […] der wissenschaftliche Begriff der ‚unkörperlichen Sache‘“ (von Gierke, Deutsches Privatrecht Bd. 2, Leipzig 1905, S. 3, Fn. 1) unentbehrlich blieb. Zudem müsse § 90 BGB zur Not weit ausgelegt werden (ebda.). Von Rüfner kaum beachtet wurde der deutlichste Kritiker von § 90 BGB außerhalb der dynamischen Rechtslehre: Paul Sokolowski. 1907 publizierte Sokolowski sein bereits 1902 vollendetes, zweibändiges Werk „Sachbegriff und Körper in der klassischen Jurisprudenz und der modernen Gesetzgebung“ (S. VIII). Hier wurde, eingebettet in eine umfassende
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den 1920igern und 30igern kaum noch hinterfragt. Erik Wolf urteilte 1929, dass „die Sachdefinition des § 90 BGB durchgängig als unbestrittene, ja kaum je bezweifelte Rechtserkenntnis erscheint.“641 Nach 1900 war eine grundsätzliche Kritik an § 90 BGB auch in Lehrbüchern642 und Kommentaren643 zum BGB kaum vorhanden. Die „Probleme“, die anhand von § 90 BGB diskutiert wurden, waren im Wesentlichen die Frage, ob ein Leichnam, ein Unternehmen oder elektrische Energie eine Sache sei.644 Solche Diskussionen führten aber nie so weit, dass sie den Sinn oder die Herkunft von § 90 BGB hinterfragten. Man wagte überwiegend in Bezug auf § 90 BGB keinen Ausbruchsversuch aus der von Wüstendörfer so bezeichneten „Gefängniszelle des neuen Gesetzbuches“.645 Obwohl die Richter teilweise in anderen Fällen mutige und weite Auslegungen im BGB vornahmen,646 historische und philosophische Analyse der Rechtsentwicklung, § 90 BGB scharf und scharfsinnig angegriffen. Sokolowski urteilte: „Dieser Vorschrift liegt eine missverständliche Rezeption römischer Quellen zu Grunde, sie hat im klassischen Recht in solcher Fassung nie gegolten, widerspricht der modernen Verkehrsanschauung oder Praxis und dem Geist des Bürgerlichen Gesetzbuches selbst. Es ist zu hoffen, daß § 90 BGB zu denjenigen Artikeln des deutschen Civilrechts gehören möge, die weder im Leben noch in der Fortentwicklung des Rechts selbst irgendwelchen Einfluß erlangen und in völliger Isoliertheit verbleiben.“ (S. 392). Neben ihm sind nur noch die Autoren der Rechtsenergetik zu nennen, die § 90 BGB teilweise scharf kritisierten, die ihrerseits aber kaum rezipiert wurden (Budde, Energie und Recht, S. 81 ff.). 641 Wolf, Der Sachbegriff im Strafrecht, S. 56. 642 Keine Kritik bei Ernst Landsberg, Das Recht des Bürgerlichen Gesetzbuches. Ein dogmatisches Lehrbuch, Berlin 1904, S. 128 ff.; Josef Kohler, Lehrbuch des Bürgerlichen Recht, 1. Bd., Berlin 1906, S. 454 f.; Heinrich Dernburg, Das Sachenrecht des Deutschen Reiches und Preußens, 3. Aufl., Halle an der Saale, 1904, S. 1 ff.; Friedrich Endemann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts. 8. und 9. Aufl., 2. Bd., Berlin 1905, S. 14 ff.; Eduart Goldmann, Leo Lilienthal, Das Bürgerliche Gesetzbuch systematisch dargestellt, 1. Bd., 2. Aufl., Berlin 1903, S. 115 ff. Sogar positiv gegenüber den Unklarheiten im gemeinen Recht wird der Sachbegriff des BGB hervorgehoben von Arthur Engelmann, Das Bürgerliche Recht Deutschlands mit Einschluss des Handelsrechts historisch und dogmatisch dargestellt, 2. Aufl., Berlin 1900, S. 80. 643 Keine Kritik von § 90 wurde bei der Kommentierung dieser Vorschrift gefunden bei: Erwin Riezler, in: Staudingers Kommentar zum BGB, 1. Aufl., 1. Bd., München 1903; Paul Oertmann, Kommentar zum BGB und seinen Nebengesetzen, 1. Bd., 2. Aufl., Berlin 1908. 644 HKK/Rüfner §§ 90–103, Rn. 16 und Rn. 19. 645 Hans Wüstendörfer, Die deutsche Rechtswissenschaft am Wendepunkt in: AcP 110 (1913), S. 219–380, S. 224. Siehe insgesamt zu den Warnungen vor der Enge des BGB HKK/Zimmermann, vor § 1, Rn. 16. 646 HKK/Zimmermann, vor § 1, Rn. 17 gibt einen Überblick über Reichsgerichtsrechtsprechung, die teilweise mit der Anerkennung einer culpa in contrahendo, der gemeinrechtlichen Tradition der exceptio doli und der clausula rebus sic stantibus, gegen die Konzeption des BGB-Gesetzgebers verstieß. Zu ergänzen wäre hier etwa noch die Rechtsprechung zum eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
sahen sie sich bei § 90 BGB nicht dazu veranlasst. Die einzige Gruppe von Autoren, die § 90 BGB noch hinterfragten, waren die Protagonisten der jungen Disziplin der Rechtsvergleichung.647 In diesem Meinungsklima hatten es die Dynamiker schwer, Gehör zu finden. Ihr Ansatzpunkt bestand daraus, auf den Fehler des statischen Sachbegriffes hinzuweisen. § 90 BGB stellten sie als einen antiken Anachronismus dar. Auf dieser Basis gelangten sie zur Übertragbarkeit des Unternehmers. Damit versuchten sie gewissermaßen gegen eine „Naturkonstante“ der deutschen dogmatischen Rechtswissenschaft anzurennen, was sich letztlich als unfruchtbar herausstellte. Noch ein weiterer Aspekt spricht dafür, dass die Auslegung oder rechtspolitische Kritik an § 90 BGB der Dynamiker von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Wie gezeigt, müssen die Autoren der dynamischen Rechtslehre dem irrationalen Denktypus zugeordnet werden. Der Typus des reinen, gefühlsgesteuerten, offen irrationalen Juristen konnte aber freilich nicht als Hauptgruppe eines Rechtssystems erwartet werden. Rückert kam zu dem Ergebnis, dass nur bei Gesetzes- und Vertragsversagen offen mit dem Leben argumentiert wurde.648 Obwohl das Leben und die Tatsachen und damit ein gewisser Irrationalismus auf dem Vormarsch waren, hatte die Dogmatik des BGB vermutlich eine Bremswirkung, die verhinderte, dass häufig mit Gefühlen und offenen Wertungen argumentiert wurde, wenn ein normativer Anknüpfungspunkt vorhanden war,649 insbesondere wenn dieser als eindeutig empfunden wurde. § 90 BGB wurde, wie gezeigt, als eindeutig empfunden und nicht hinterfragt. Es war keine gesetzliche Lücke vorhanden und es war wohl auch keine als hinreichend ernst empfundene Krise mit dem Unternehmensbegriff verbunden. Auch dies machte es von vorneherein unwahrscheinlich, dass die Dynamiker mit ihrem Unternehmensbegriff in die herrschende Meinung vordrangen. 647
In dem „Rechtsvergleichenden Handwörterbuch für das Zivil- und Handelsrecht des In- und Auslandes“ fand sich in dem Artikel „Sache“ ein entsprechender Hinweis: Die „Enge des modernen deutschen Sachbegriffes im Vergleich zu der älteren deutschen Anschauung ist oft betont und zum Anlaß des Tadels genommen worden: als atomistisch und kulturfeindlich tadelt ihn Gierke, als materialistisch Swoboda, als statisch, undynamisch Spengler.“ (Friedrich, Art. Sache, S. 62). Damit nannte Friedrich Spengler und Swoboda in einem Atemzug mit Gierke als die wichtigsten Kritiker des engen Sachbegriffes. Wer den Blick auf die Nachbarrechtsordnungen und die früheren deutschen Kodifikationen richtete, der erkannte, dass § 90 BGB nicht zwingend die einzige taugliche Lösung vorgab (HKK/Rüfner, §§ 90–103, Rn. 5). 648 Rückert, Richtertum als Organ des Rechtsgeistes, S. 300 ff. 649 Ähnlich auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. III, S. 172, der einerseits vermutete, dass die Staatsrechtler Mitte der zwanziger Jahre möglicherweise mehrheitlich freier mit Wertungen operierten und die Werturteile aus den Gesetzen herauslasen, andererseits aber feststellte, dass die „Ordnungsstrukturen des geltenden Rechts und die traditionell erlernte Methodik“ dem entgegen wirkten.
VII. Einfluss der „Dynamiker“ auf dogmatische Diskurse
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b) Philosophie und Kultur contra positives Recht, Rechtsprechung und Nationalökonomie – zwei unterschiedliche Leitkonzepte Betrachtet man die Texte der Dynamiker und vergleicht sie mit den übrigen Schriften zum Thema „Unternehmen“ so fällt auf, dass es sich gewissermaßen auf einer formalen Ebene um verschieden Literaturgattungen handelte. Bei Bott-Bodenhausen, Fehr und Swoboda spielten Reichsgerichtsurteile eine kleine Nebenrolle. Bott-Bodenhausen zitierte kein einziges. Fehr nannte das Reichsgericht nur in seinem Artikel im Handwörterbuch der Rechtswissenschaften. Zudem zitierten die Dynamiker nicht die ansonsten anerkannten Autoritäten zur Rechtsnatur des Unternehmens. Stattdessen wurden neben Spengler noch weitere philosophischen Autoren herangezogen, um die eigenen Thesen zu begründen. Schon formal grenzten sich diese Theoretiker damit von der praktischen Rechtswissenschaft ab, indem sie sich weigerten, die bedeutenden Ansichten über die Rechtsnatur des Unternehmens unter Anerkennung ihrer jeweiligen Urheber zu reflektieren. Es ergibt sich somit das Bild einer einheitlichen Debatte unter einer Vielzahl an Dogmatikern, die miteinander ins Gespräch kamen und einer danebenstehenden dynamischen Rechtslehre, die letztlich wenig Berührungspunkte zu der eigentlichen Debatte hatte. Statt der großen Philosophen zitierten die Dogmatiker im Übrigen durchweg Nationalökonomen. Hoch im Kurs standen Walther Rathenau mit seiner Schrift zur Aktiengesellschaft und mit anderen Werken zur Gemeinwirtschaft, Werner Sombart vor allem mit seinem Lebenswerk über den modernen Kapitalismus und Richard Passow mit seiner Schrift „Betrieb Unternehmen Konzern“. Schließlich wurde gerne auf Schumpeters Artikel zum Unternehmen im Handwörterbuch der Staatswissenschaften,650 gewissermaßen das Gegenstück zu Fehrs Artikel zum Unternehmen, Bezug genommen. Hier zeigte sich in Ansätzen, dass für die Wirtschaftsrechtler die Wirtschaftswissenschaften eher zur Leitdisziplin avancierten, während die Philosophie dieses Amt für die dogmatischen Juristen nicht mehr innehatte. Auch dies war eine erschwerende Bedingung für die Rezeption der Begriffe Statik und Dynamik nach Spengler in der dogmatischen Rechtswissenschaft.
650
Josef Schumpeter, Art. Unternehmer in: HdS, 8. Bd., 4. Aufl., Jena 1928.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
5. Zusammenfassung In der großen Debatte über die Rechtsnatur des Unternehmens und die Frage, ob es als einheitliches Rechtsobjekt zu behandeln sei, wurden die Spenglerianer am Rande wahrgenommen, aber vom dogmatischen Establishment in den einschlägigen Lehrbüchern und Aufsätzen nicht ernsthaft diskutiert. Die Rezeption der durch vorwiegend theoretisch-philosophisch orientierten Juristen vermittelten Begriffe und Konzepte Spenglers stand von vorneherein unter ungünstigen Bedingungen. Zunächst war mitausschlaggebend, dass das Ergebnis der Dynamiker von dem Ergebnis der herrschenden Meinung abwich. Zudem gingen sie bei der Konstruktion des Wesens des Unternehmers von ihrer Kritik an § 90 BGB aus, einer Norm die nahezu in der gesamten Rechtswissenschaft einhellig kritiklos hingenommen wurde und als unumstößliche „Rechtserkenntnis“ galt. Auch wenn die Praktiker grundsätzlich bei Gesetzesversagen und in Krisensituationen bereit waren, auf das irrationale Leben und die praktischen Bedürfnisse zurückzugreifen, konnten die Spenglerianer mit ihrer Beschwörung des dynamischen abendländischen Lebens die übrige Jurisprudenz nicht davon überzeugen, den einseitigen § 90 BGB zu Fall zu bringen. An dieser Stelle wirkte in gewissem Maße wieder die Kommunikationsbarriere zwischen einem rationalen und einem irrationalen Denktyp, denn die Dogmatiker erwiesen sich als Rationalisten, wenn sie einer als eindeutig empfunden Norm gegenüberstanden. Dies zeigt sich auch daran, dass bei der Rechtsfigur des aktienrechtlichen „Unternehmens an sich“ die Argumentation nicht von § 90 BGB ausging. Hier befanden sich die Dynamiker, die herrschende Rechtslehre und die Rechtsprechung auf einer Linie. Daher wurde hier durch die führenden Autoren die Dynamik nach Spengler als ein zusätzliches Argument erwähnt. Die Kommunikationsbarriere, die sich vor allem in Bezug auf § 90 BGB und die Rechtsnatur des Unternehmens zeigte, wurde verstärkt, weil zwei unterschiedliche Textgattungen vorlagen. Während die Dynamiker weder andere juristische Autoren noch die Rechtsprechung zitierten, und sich stattdessen zusätzlich auf Philosophen beriefen, zitierten sich die übrigen Teilnehmer der Diskussion gegenseitig und führten zusätzlich Autoren der Nationalökonomie ins Feld.
VIII. Abschließende Betrachtung der „dynamischen Rechtslehre“ VIII. Abschließende Betrachtung der „dynamischen Rechtslere“
Es wurde festgestellt, dass nach 1922 überaus häufig von dynamischem Recht, einer dynamischen Rechtsbetrachtung oder einer dynamischen Rechtslehre gesprochen wurde, häufig aber nicht zwingend mit Bezug auf Spengler (C. III). Diejenigen, die sich auf Spengler beriefen, verwendeten
VIII. Abschließende Betrachtung der „dynamischen Rechtslere“
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den Begriff „Dynamik“, um ganz unterschiedliche Sachverhalte auszudrücken. Mit „Dynamik“ und „Funktion“ wurde für eine Abstraktion vom Körperlichen und eine Hinwendung zu Kraft und Wirkungen plädiert (C. III. 2. a), zugleich einem flexiblen, an das Leben angepassten und anpassbarem Recht die Lanze gebrochen (C. III. 2. b) und ein gemeinschaftsorientiertes soziales Rechtdenken gefordert (C. III. 2. c). Wenn auch die Schlagworte in den allermeisten Fällen auf Spengler zurückgingen, so muss insgesamt festgestellt werden, dass die Juristen die Thesen des Kulturphilosophen nur in geringem Umfang inhaltlich übernahmen. In den von Juristen zitierten Passagen sprach sich Spengler nicht für soziales Rechtdenken aus. Weiter plädierte der Kulturphilosoph zwar eindringlich für Lebensnähe, verwendete dafür aber eben nicht den Begriff der Dynamik (C. III. 2. b) aa). Nur in den Fällen, in denen die Juristen sich für eine abstraktere auf Wirkungen gerichtete Rechtsbetrachtung aussprachen, verwendeten sie den Begriff „Dynamik“ so wie Spengler ihn in seiner Rechtsgeschichte und im übrigen „Untergang des Abendlandes“ verwendet hatte. Für die anderen Dynamikkonnotationen vermischten die Juristen Zeitgeistthemen mit dem Schlagwort des Kulturphilosophen (D. III. 2. e). Spengler war also zuallererst als Schlagwortlieferant wirkungsmächtig. Die großen Autoren der dynamischen Rechtslehre – Hans Fehr und Ernst Swoboda – legten es 1933 (noch) nicht darauf an, ihre Lehren für eine steile Karriere im Nationalsozialismus herzugeben (C. II. 1., 2). Obwohl sie für eine Umwertung der Rechtsordnung wie geschaffen schien, spielte die dynamische Rechtslehre keine bedeutende Rolle, wie etwa das konkrete Ordnungsdenken, der konkret allgemeine Begriff, die Interessenjurisprudenz und die Wertungsjurisprudenz. Das lag freilich auch an einem von Spengler im Sommer 1933 publizierten äußerst NS-kritischen Werk (B. I). Die Anzahl der Autoren, die sich ausdrücklich auf Spenglers Denken beriefen und dieses für eine nationalsozialistische Rechtsumwertung fruchtbar machen wollten, blieb gering, wenn sie sich auch prominent in der Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht meldeten. Hans Fehr, Ernst Swoboda und andere gingen im Laufe der Zeit immer weiter dazu über, das dynamische Rechtsdenken zunehmend von dem ursprünglichen Ideengeber Oswald Spengler abzukoppeln. Die entsprechenden Dynamiktermini fanden sich aber noch in vielen Publikationen. Man verzichtete lediglich darauf, sich auf den Kulturphilosophen zu berufen (C. IV. 3). Dies macht überdeutlich, was vor 1933 auch schon Wahrheit war, was aber kein Autor durchblicken ließ: Die Juristen der dynamischen Rechtslehre zitierten immer nur sehr wenige Seiten aus dem Untergang des Abendlandes. Spenglers spätere Schriften wurden einhellig ignoriert. Obwohl noch bis 1936 lebendig und schriftstellerisch aktiv, wurde Spengler wie eine längst verstorbene Autorität betrachtet.
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C. Juristische Verwendung des Begriffs „Dynamik“
Darüber darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass in der Zeit des Nationalsozialismus die Begriffe „Dynamik“ und „Funktionalität“ in juristischen Kontexten besonders hohe Konjunktur hatten. Insbesondere fand sich auch die Begriffsdopplung „dynamisch-funktionell“. Dies ging auch auf den Einfluss der dynamischen Rechtslehre zurück (C. IV. 4). Da die Zentralbegriffe „Dynamik“ und „Funktion“ häufig sehr unterschiedlich gebraucht wurden, lag es nahe, zu überprüfen, ob die Zeitgenossen aus ihrem Horizont von der Existenz einer konsistenten „dynamischen Rechtslehre“ bzw. eines „dynamischen Rechtsdenkens“ ausgingen. Die Protagonisten der dynamischen Rechtslehre zitierten sich zustimmend gegenseitig und gingen davon aus, dass viele moderne Gedanken in der Rechtswissenschaft letztlich Bestandteile ihrer, nämlich der dynamischen Lehre seien (C. V. 1). Dem standen eine geringe Anzahl neutrale Darstellungen der dynamischen Rechtslehre nach Spengler und eine höhere Anzahl Dynamikkritiker gegenüber, die sich speziell auf die von Spengler ausgehende juristische Dynamik bezogen. Hier wurden, insbesondere von Hermann Jsay, häufig Autoren aufgrund ihrer Spenglerismen angegriffen, die sich in keiner Weise auf Spengler stützten (C. V. 2. a). Jedenfalls zeigte sich auch bei der Analyse der Kritiker deutlich, dass der Begriff Dynamik innerhalb juristischer Diskurse häufig mit Spengler assoziiert wurde C. V. 2. b). In Rezensionen zu Monographien der dynamischen Rechtslehre konnte ein noch breiteres Spektrum entdeckt werden. Teilweise wussten Rezensenten offenbar nicht, dass auch andere juristische Autoren den Begriff Dynamik in das Zentrum ihres Rechtsdenkens setzten. Teilweise erkannten die Rezensenten, dass sie über ein Puzzlestück eines größeren auf Spengler beruhenden Gedankengangs urteilten. Teilweise vermittelten die Rezensionen aber auch den Eindruck, die Zeitgenossen hätten ungehemmt sämtliche juristischen Autoren, die den Begriff Dynamik verwendeten, nebeneinanderstellen wollen (C. V. 3). Die Mehrzahl der Juristen, die den Begriff verwendete, ging wie selbstverständlich von einem festen Konzept aus. Deshalb suchte man bei ihnen auch vergeblich nach trennscharfen Definitionen oder den ersten Schritten zu einer Diskussion über den Inhalt des Antonyms. Dies wurde zum Ausgangspunkt genommen, um in einem separaten Kapitel der Frage nach den erkenntnistheoretischen Prämissen der dynamischen Rechtslehre nachzugehen (C. VI). Die für Weimar schon häufiger aufgefallene Begriffsdiffusion, bei gleichzeitiger Sakralisierung des Lebens, wird hier mit einem ernst zu nehmenden und von den Zeitgenossen ernst genommenen Irrationalismus erklärt, der freilich bei den jeweiligen Autoren unterschiedlich radikal ausgeprägt war. In seiner drastischsten Form führte dieser Irrationalismus die Autoren zu der Überzeugung, dass die Definition, das analytische Strukturieren und das Bilden eines Systems
VIII. Abschließende Betrachtung der „dynamischen Rechtslere“
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sämtliche richtigen Erkenntnisswege zur Wirklichkeit verschütteten (siehe die Zusammenfassung C. VI. 3). Damit deutet sich aber auch an, dass die dynamische Rechtslehre, die mit dem irrationalen Denktyp verbunden war, nicht für alle Weimarer Juristen stehen konnte. Ein großer Teil dogmatisch arbeitender Juristen sah sich nie dazu veranlasst, den Kulturphilosophien in ihre Welt aus positivem Recht, Rechtsprechung und Kommentar- und Lehrbuchliteratur aufzunehmen. Diesem eher rationalen juristischen Denktypus blieb Spengler immer fremd. Dies zeigte sich überdeutlich an der Untersuchung des Einflusses der Dynamiker auf den dogmatischen Diskurs über die Übertragbarkeit eines Unternehmens (D. VII).
D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
Im Folgenden ist die Reaktion der zeitgenössischen Rechtshistoriker auf Spengler zu untersuchen. Bedenkt man, dass der „Untergang des Abendlandes“ vorwiegend historischen Stoff behandelt und nur gelegentlich „Empfehlungen“ für die Gegenwart enthält, und bedenkt man zusätzlich, wie breit dennoch die Zustimmung zu Spenglers Thesen bei den Zivilrechtlern war, so ist eine umfangreiche Rezeption bei den Rechtshistorikern zu vermuten. Grundlage der folgenden Teiluntersuchung muss eine Darstellung der rechtshistorischen Aussagen von Spengler sein. In dem folgenden Kapiteln wird die Perspektive zwischen der antiken und der abendländischen Rechtsgeschichte getrennt. Die sehr unterschiedliche Darstellungsweise bei Spengler und die sehr unterschiedliche Rezeption bei Romanisten und Germanisten rechtfertigt eine solche Aufspaltung. Dabei wird zunächst Spenglers Version der römischen Rechtsgeschichte und ihre Rezeption dargestellt. Sodann wird Spenglers Interpretation des germanischen Rechts vorgestellt und untersucht, ob sich Spuren dieser Darstellung in der rechtshistorischen Literatur finden lassen. Ein Thema, das sich bei der ersten Überlegung anbot, blieb mangels juristischer Spenglerrezeption ausgespart: Spenglers Einfluss auf die Verfassungsgeschichtsschreibung. Spengler bettete seine vor allem im zweiten Band des Untergangs getroffenen Äußerungen in die durch die Brille seiner Kulturphilosophie wahrgenommene Verfassungsgeschichte der acht Hochkulturen ein. Dies hätte grundsätzlich die Verfassungsrechtshistoriographie zu Äußerungen herausfordern können. Eine juristische Spenglerrezeption unterblieb aber in diesem Bereich, soweit ersichtlich.1 1
Allenfalls könnte man Heinrich Mitteis mit seinem Werk Lehnsrecht und Staatsgewalt nennen. Nach hier vertretener Ansicht war Heinrich Mitteis allerdings nicht durch Spengler beeinflusst, auch wenn Hans Fehr dies anders gesehen hat. Dafür spricht zwar, dass er von dem Unterschied einer auf die politischen Wirkungen des Rechts abzielenden, dynamischen Betrachtung von einer „rechtspositivistischen“ statischen Betrachtung ausgeht. Dies kann aber ebenso gut mit dem sprachlichen Kontext der „geisteswissenschaftlichen Richtung“ der Staatsrechtswissenschaften erklärt werden, wie weiter unten noch ausführlicher dargestellt werden wird (siehe hierzu unten S. 255 ff.). Zu erwähnen
I. Die Rechtsgeschichte im „Untergang des Abendlandes“
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I. Die Rechtsgeschichte im „Untergang des Abendlandes“ I. Die Rechtsgeschichte im „Untergang des Abendlandes“
Spengler wendete sich gegen eine lineare Betrachtung der Geschichte, wie sie in der Einteilung von Antike-Mittelalter-Neuzeit zum Ausdruck komme.2 Vielmehr nahm er eine „vollkommene historische Diskontinuität“3 an. Eine von steter Fortentwicklung ausgehende Sichtweise verschleiere, so Spengler, dass das Ende einer Kultur einen tiefen Bruch in der Weltgeschichte darstelle. Die bisherige „kausale“ Geschichtsschreibung behandele die Geschichte wissenschaftlich so, als sei sie ein reiner Naturgegenstand. Daher gelange die Geschichtsschreibung zwangsweise und folgerichtig zu der Darstellung einer gradlinigen Gesamtentwicklung, nach der sich die Menschheit immer weiter fortentwickele. Erst durch die „Methoden des Nachfühlens“4 werde offenkundig, so Spengler, dass jede Kultur ein in sich abgeschlossenes Ereignis der Historie sei. Insbesondere legte Spengler dar, dass Wissenschaft und Kunst sich nicht über die Jahrtausende konstant fortentwickelten, sondern immer neu umgedacht werden mussten. Ein stetes Voranschreiten innerhalb einer Disziplin sei, so Spengler nur innerhalb einer Kultur möglich. Nur oberflächlich betrachtet komme es dazu, dass eine Kultur etwas zustande bringe und eine weitere Kultur dieses fortentwickele, wie es beispielsweise in der Mathematik und in der Philosophie anscheinend der Fall sei. In Wahrheit müsse sich bei der Übernahme eines Produktes einer fremden Kultur ein aufwendiger Umdeutungsprozess vollziehen, an dessen Ende das Produkt der neuen Kulturseele angepasst sei und der alten Kulturseele fremd erscheinen würde.5 Daher konnte es auch für Spengler keine ewigen Wahrsind nur die im Kontext des „Streit um Spengler“ stehenden Aufsätze von Hans Fehr (Fehr, Der Staat im zweiten Band von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, S. 388–395) und Adalbert Wahl (Adalbert Wahl, Oswald Spengler und die Verfassungsgeschichte in: Preußische Jahrbücher, 192 (1923), S. 138–150). Letzterer wurde durch Juristen nicht wahrgenommen. Fehrs Fokus lag 1922 aber kaum auf der historischen Dimension, weshalb er thematisch besser in den Kontext der Diskussion der Staatsrechtslehrer passt. Ebenfalls keinen Spenglereinfluss entdeckte Ewald Grothe in seiner Habilitation, wenn man von dem sich auf zeitgenössisch aktuelles Verfassungsrecht beziehenden Disput zwischen Koellreutter und Hinze absieht (Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970, München 2005, S. 154). 2 Vor allem Spengler, UdA, S. 21 ff. So auch Koktanek, Spengler S. 154. 3 So ausgedrückt durch Gilbert Merlio, Urgefühl Angst in: Spengler, Ich beneide jeden der lebt, Die Aufzeichnungen „Eis heauton“ aus dem Nachlass, Düsseldorf 2007, S. 92. 4 Spengler, UdA I Einleitung, S. 54 und S. 69. 5 Spengler, UdA II Kapitel I, Abschnitt C 12, S. 62 ff., generell für die Mathematik Bd. I, Kapitel I, Abschnitt I 8, S. 101 f. Siehe hierzu jüngst Alfred Toht, Oswald Spenglers organische Mathematik in: Mathematical Semiotics (http://www.mathematical-semi otics.com/pdf/Spengler,%20Org.%20Math.pdf, Abgerufen am 15.1.2009).
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
heiten geben, sondern nur jeweils eine Wahrheit in jeder Kultur.6 Für die Philosophie brachte Spengler diesen Gedanken fast schon polemisch auf den Punkt: „Wir pflegen Dinge wie die Bilderchentheorie Demokrits, die sehr körperhafte Ideenwelt Platons, die zweiundfünfzig Kugelschalen der Welt des Aristoteles als unwesentliche Irrtümer zu übergehen. Das heißt die Meinung der Toten besser kennen wollen als sie selbst. Es sind wesentliche Wahrheiten – nur nicht für uns. [...] Man sei doch ehrlich und nehme die alten Denker beim Wort: nicht ein Satz Heraklits, Demokrits, Platos ist für uns wahr, wenn wir ihn nicht erst zurechtmachen.“ 7
Die Notwendigkeit des Umdeutens von wissenschaftlichen Grundlagen, die fremden Kulturen entnommen wurden, machte Spengler am Beispiel der Mathematik besonders deutlich.8 Für Spengler war es elementar, dass die abendländischen Mathematiker die antiken Grundlagen eher „vernich-
6
Spengler, UdA I, Einleitung, S. 57. Spengler, UdA II Kapitel I, Abschnitt C 12, S. 65 f. 8 Dem arabischen und dem abendländischen Geist war von Anfang an die antike Form der Mathematik aufgezwungen, einfach deshalb, weil sie nach Ende der antiken Kultur nicht verloren ging. Inhaltlich passte die antike Mathematik jedoch nicht zu den neuen Kulturen. Im Kern verlief Spenglers Argumentation für die Mathematik wie folgt: Die an körperlichen Vorstellungen ausgerichtete Seele der Antike brachte eine Mathematik hervor, die nur von ganzen, positiven Zahlen ausging. Berechnet wurden damit nur reale Dinge, welche in der Natur als Körper betrachtet werden konnten. Die Mathematik war in der Antike „die Lehre von den Größen-, Maß- und Gestaltverhältnissen leibhafter Körper“ (Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt I 5, 88). Wenn ein antiker Mathematiker von einem Dreieck sprach, so meinte er die Grenzfläche eines Körpers. Der abendländische Mathematiker übernahm das Konzept des Dreiecks. Für ihn konnte ein Dreieck aber auch ein System von drei sich schneidenden Vektoren in einem dreidimensionalen Koordinatensystem sein, was dem antiken Denken absurd erscheinen müsste. Schon ein Rechnen mit negativen Zahlen war der antiken Mathematik völlig fremd, da hierzu keine körperlichen Entsprechungen in der Natur existierten. Bereits eine einfache Rechnung wie –2 × –3 = +6 wäre einem antiken Mathematiker nach Spengler als nicht wahr erschienen. Um sich eine solche Aufgabe wie –2 × –3 = +6 überhaupt auszudenken, müsse einem Mathematiker das Unendlichkeitsstreben und das abstrakte Denken der abendländischen Kulturseele zur Verfügung stehen. Die abendländische Mathematik begann nach Spengler erst mit Descartes groß zu werden, der 1637 seine „Geometrie“ veröffentlichte. Das Werk enthielt eine völlig neue Zahlenidee, die auf der Ablösung vom optisch Wahrnehmbaren beruhte (Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt I 8, S. 101 f.). Erst dadurch wurde es möglich mit Unendlichkeiten zu rechnen. Nur aufgrund einer neuen Zahlenidee, die nicht mehr an Körper geknüpft war, kann es für das abendländische Verständnis zwischen den Zahlen 1 und 3 unendlich viele geben. Der antike Geist kann den Zwischenraum mit nur exakt einer Zahl füllen. Die von Pythagoras um 540 v. Chr. begründetet antike Mathematik wurde von Euklid im 3. Jh. v. Chr. vervollkommnet. Das bedeutet nach Spengler auch, dass niemals ein antiker Denker auf –2 × –3 = +6 gekommen wäre, gleichgültig wie lange das Imperium Romanum noch bestanden hätte. 7
I. Die Rechtsgeschichte im „Untergang des Abendlandes“
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ten“9 als verbessern, um eine Mathematik zu schaffen, die der abendländischen Seele entsprach. Spengler hielt die Rechtsgeschichte ebenfalls für ein markantes Beispiel, weil hier nach seiner Auffassung ebenfalls antike Grundlagen soweit umgedacht werden müssten, dass von ihnen am Ende nichts Antikes mehr übrig bleiben könne. Um dies zu beweisen, schrieb Spengler in den zweiten Teil seines Hauptwerkes eine 30-seitige Geschichte des römischen Rechts. Sie bildete den Hauptteil des Abschnitts über die Beziehungen zwischen den Kulturen, also den Ort im Hauptwerk, an welchem die totale historische Diskontinuität breit ausgeführt wurde. Die Erwägungen zum Recht dienten hier also nicht wie in „Preußentum und Sozialismus“ zur Erläuterung aktueller politischer Ereignisse, sondern waren ein Baustein der Geschichtsphilosophie. Einleitend formulierte Spengler worauf es ihm bei der Darstellung der Rechtsgeschichte ankomme: „Als das stärkste Beispiel eines Systems, das scheinbar in seinen Grundzügen unverändert durch zwei Jahrtausende gewandert ist, während es in Wirklichkeit in drei Kulturen drei vollständige Entwicklungen von jedes Mal ganz anderer Bedeutung durchgemacht hat, gebe ich hier die Geschichte des römischen Rechts.“10
Die war ihm derart wichtig, dass er seine Version der Rechtsgeschichte auch separat in den Preußischen Jahrbüchern publizierte.11 Wie bereits dargestellt erkannte Spengler auch im antiken Recht die apollinische Kulturseele mit ihrem ahistorischen und körperbezogenen Element wieder.12 Diese Ausführungen enthielten jedoch weit weniger Sprengkraft wie die zeitliche Einordnung des römischen Rechts innerhalb der antiken Kultur und Zivilisation. Aus dieser Perspektive schuf Spengler eine originelle Neubetrachtung des römischen Rechts. Diese widersprach in mehreren wichtigen Punkten fundamental den herrschenden Ansichten der Romanistik, ja geradezu den „Naturkonstanten des Faches“. Um das „Neue“ an Spenglers Aussagen genauer identifizieren zu können, lohnt es sich kurz die hier relevanten, um 1918 gängigen, Ansichten der Wissenschaftler vom römischen Recht darzulegen. 1. Die zeitgenössisch gängigen Ansichten über den Entwicklungsverlauf des römischen Rechts Nach völlig unbestrittener Auffassung der Rechtshistoriker wurde die Phase etwa ab dem 1. Jh. n. Chr. bis zum Ende der Herrschaft der Severer (235 9
Spengler, UdA, Bd. I, Kapitel I, Abschnitt I 4, S. 83. Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 12, S. 68. 11 Oswald Spengler, Das römische Recht in antiker, morgen- und abendländischer Gestalt in: Preußische Jahrbücher 1922, S. 257–282. 12 Siehe oben S. 26. 10
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
n. Chr.) als die Zeit des klassischen römischen Rechts bezeichnet.13 Hier lag die Blüte der römischen Rechtswissenschaft. Die Qualität der antiken Jurisprudenz, auch das entsprach der ganz h. M., begann jedoch in der Folgezeit steil zu sinken.14 Den Abschluss der antiken Rechtsentwicklung sah man zwischen 528–534 n. Chr. in der Kompilation des klassischen Rechts unter Justinian im Corpus Iuris Civilis, welches später die Grundlage des gemeinen römischen Rechts in Deutschland wurde und in seiner jeweils aktuellen Form bis zum 1.1.1900 in Geltung blieb.15 Gerade zur Zeit Spenglers stellte das klassische römische Recht, so wie es im Corpus Iuris überliefert worden war, die Kernmaterie der Romanistik dar.16 Die historischen Autoren der juristischen Texte, die Jahrhunderte später im Corpus Iuris verarbeitet wurden galten der Romanistik zu Zeiten Spenglers als Klassiker, denen überindividuelle Fähigkeiten zugemessen wurden.17 Diese wurde teilweise geradezu verehrt, wie man bereits bei den wenigen von Spengler zitierten Autoren erkennt. Für Leopold Wenger wurde in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit „Der Höhepunkt der
13
So etwa zeitgenössisch Rudolf Sohm, Institutionen. Geschichte und System des römischen Privatrechts, 14. Aufl., Leipzig 1911, S. 114. 14 Sohm, Institutionen, S. 119. 15 Insoweit die völlig unbestrittene Ansicht bis heute; siehe nur Zimmermann, Römisches Recht, S. 1310, S. 1312 f. 16 Die frühere Zeit der römischen Republik war im viel geringeren Maße ein Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen. Man begann sich gerade erst als eine Wissenschaft zu begreifen, die nun von aktuellen Geltungszwängen befreit und deswegen in historischer Perspektive weniger auf das Corpus Iuris und die Klassik beschränkt war. Siehe Reinhard Zimmermann, Roman Law, Contemporary Law, European Law, New York 2001, S. 44 ff. (wobei nicht nur das Inkrafttreten des BGB, sondern auch die neuen Funde von historischen Rechtstexten eine große Rolle spielte, S. 46); siehe hierzu Paul Koschaker, Die Krise des römischen Rechts und die romanistische Rechtswissenschaft, München-Berlin, 1938, S. 42 ff., der sich darüber ereifert, dass durch die historischen Forschungen von Wenger, Mitteis und ihrer Nachfolger das Corpus Iuris im Laufe der Zeit an Autorität eingebüßt habe. 17 Die häufig zu findende Bezeichnung geht auf eine Textstelle Savignys zurück. Savigny bezeichnete die römischen Juristen als „fungible Personen“ (Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Wissenschaft, Heidelberg 1814, S. 157: „man könnte […] sagen, daß damals die einzelnen Juristen fungible Personen waren.“ Vgl. auch S. 29: „Selbst wenn wir ihre Schriften vollständig vor uns hätten, würden wir darin weit weniger Individualität finden, als in irgend einer anderen Literatur, sie alle arbeiten gewissermaßen an einem und demselben großen Werke“.) Diese Sakralisierung der Klassiker, die durch die von Savigny geprägte historische Schule im 19. Jh. tradiert wurde, fiel auch zu Beginn des 20. Jh. auf fruchtbaren Boden, da sie der Vorstellung, welche sich die Freirechtsschule vom Richterideal machte, entsprach (siehe hierzu Oko Behrends, Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hrsg.) Recht und Justiz im „Dritten Reich“, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1989, S. 34–79).
I. Die Rechtsgeschichte im „Untergang des Abendlandes“
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Entwicklung“18 des römischen Rechts erreicht. Bei der Begründung dieser Aussage geriet Wenger ins Schwärmen: „Das geheimnisvolle Etwas, dass das Recht der Römer zum klassischen Weltrecht gemacht hat, ist die ihnen verliehene Gabe unbewusster Schöpfung des Rechts. Für jede Neuerscheinung des werdenden und wachsenden Verkehrs finden sie den passenden Rechtssatz. Sie sind nicht theoretische Dogmatiker gewesen, sondern geniale Praktiker […]. Ohne Schwanken und Zaudern finden sie das neue richtige Maß […]. Sie kehren zweckbewusst überall vernünftige Überlegungen und Billigkeit hervor. So erheben sich ihre Satzungen über die Schranken von Zeit und Ort der unmittelbaren Geltung; Sie scheinen richtiges Recht zu verwirklichen, oder – wie man früher sagte – Satzungen des Naturrechts zu sein.“19
Hier zeigte sich eine Art Vergötterung der klassischen Juristen, die nahezu „richtiges“ Recht zu sprechen schienen.20 Sie hatten eine Gabe, sie waren Schöpfer, sie fanden das richtige Maß. 21 Wenn auch Äußerungen in dieser Deutlichkeit eher selten waren, so war es allgemein üblich, die klassischen Juristen als Ideal darzustellen. 2. Spenglers Neudeutung der Geschichte des „klassischen“ römischen Rechts Durch die Brille seiner Kulturphilosophie kam Spengler 1922 zu dem Ergebnis, dass die rechtshistorische Forschung bezüglich des „klassischen römischen Rechts“ einem gewaltigen Irrtum erlegen sei. Erstens sei die Blütezeit der römischen Rechtswissenschaft zeitlich zwischen 200 v. Chr. und der Geburt Jesu – also wesentlich früher als allgemein angenommen – zu verorten.22 Zweitens sei mit der beginnenden Kaiserzeit die Antike bereits deutlich durch den Übergang in die Zivilisation geprägt. Und drittens sei das Erwachen der orientalisch arabisch-magischen Kulturseele zu konstatieren, die ab der Kaiserzeit die Rechtsentwicklung prägte. Daraus folgerte der Kulturphilosoph, dass diejenigen Autoren, die von den Romanis18
Leopold Wenger, Recht der Griechen und Römer in: Hinneberg (Hrsg.) Die Kulturen der Gegenwart, Teil II Abteilung VII, Leipzig und Berlin 1914, S. 154–302, S. 170. 19 Wenger, Recht der Griechen und Römer, S. 170 f. 20 Siehe auch Sohm, Institutionen, S. 120 „… sie [die klassische römische Jurisprudenz L.M.K.] hatte ein unmittelbares Gefühl von den Folgesätzen des Eigentumsbegriffs, des Schuldbegriffs, dessen Sicherheit sie in keinem Augenblick verließ. Vor allem hatte sie eine geniale Kraft, die Anforderungen der bona fides im Verkehr zu entdecken und auf den Einzelfall zur Anwendung zu bringen [...] geleitet durch ein nie versagendes Gemeingefühl“. 21 Aus Sicht der Romanisten bestand der Reiz in dieser Vorstellung auch darin, dass sich hier römische Juristen in vollkommenem Einklang mit der sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit der römischen Welt befanden. Siehe hierzu Behrends, Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken, S. 48 f. 22 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 15, S. 77.
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ten als die Klassiker des römischen Rechts angesehen wurden, nicht römisch, sondern magisch-arabisch geprägt gewesen seien, und dass sie ihr Recht nicht an dem römischen Leben, sondern an der arabisch-magischen Geisteshaltung ausgerichtet hätten.23 Bei der Definition der arabischen Kultur entfernte sich Spengler am weitesten von kulturhistorischen Konventionen. Er stellte provokant fest, dass alle monotheistischen Offenbarungsreligionen der arabischen bzw. magischen Kultur zugeordnet werden müssten. Daher zählten bei Spengler nicht nur der Islam, sondern auch das Christentum und das Judentum zu einer einheitlichen arabischen Kultur.24 In all diesen Religionen und den zugehörigen Staatsgebilden sah Spengler eine einheitliche, als „magisch“ bezeichnete Kulturseele am Werk. Ab der Geburt Christi habe man den Aufstieg der magischen Seele beobachten können. Sie umfasste zunächst das Judentum und die Urchristen und seit Mohammed, der als das magische Äquivalent zum abendländischen englischen Puritanismus vorgestellt wurde,25 auch den Islam. Ab etwa 1000 n. Chr. sei die arabische Hochkultur in den Zustand der Zivilisation übergegangen. Die magische Seele habe ihre Gemeinschaft nicht als eine Einheit von Körpern verstanden, die sich an einem Ort befanden, sondern das verbindende Element sei der Glaube gewesen, etwas Abstraktes, das alle territorialen Grenzen sprenge.26 Deswegen, so Spengler, konnte die Antike auch nicht die Vorstellung einer juristischen Person entwickeln, während der magischen Kulturseele diese Idee praktisch mit in ihre denkerische Wiege gelegt wurde.27 In Spenglers Worten: „Die erste Schöpfung des arabischen Rechts war der Begriff der nichtkörperlichen Person. Um diese für das neue Weltgefühl so bezeichnende Größe ganz zu würdigen, die im echt antiken Recht fehlt und bei den ‚klassischen‘ Juristen, die sämtlich Aramäer waren, plötzlich da ist, muß man den wahren Umfang des arabischen Rechts kennen.“ 28
Das im 6. Jh. kompilierte Corpus Iuris Civilis fiel daher nach der Rechnung des Kulturphilosophen nicht mehr in die Zeit der Antike, sondern in die Zeit der magischen Kultur. Spengler bezeichnet es daher als „bizarr“29, dass die eigentliche Periode des früharabischen Rechts von Romanisten die Zeit des klassischen römischen Rechts genannt werde. Die „Aramäer“ –
23
Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 16, S. 78 ff. Spengler, UdA II, Kapitel III, Abschnitt B 12, S. 862 ff.; siehe hierzu auch Koktanek, Spengler, S. 157. 25 Spengler, UdA II, Kapitel III, Abschnitt C 19, S. 373 ff. 26 Spengler, UdA II, Kapitel III, Abschnitt B 8, S. 283 ff. 27 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 16, S. 78. 28 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 16, S. 78. 29 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 15, S. 77. 24
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wie Spengler häufiger betont30 – Ulpian, Paulus und Papinian, schrieben die vermeintlich römischen Rechtstexte zwischen 160 und 220 n. Chr. und damit zeitgleich mit der Entstehung der Mischna und der Abfassung wesentlicher Teile des Alten und des Neuen Testaments. Eine Zeit, die von Spengler als „die Hochscholastik der arabischen Frühzeit“31 bezeichnet wurde. Er führt hierzu weiter aus: „Die Digesten und Kommentare dieser Juristen stehen zum erstarrten antiken Gesetzesstoff in genau demselben Verhältnis wie die Mischna zur Tora des Moses und viel später die Hadith zum Koran; sie sind ‚Halacha‘, neues Gewohnheitsrecht, welches in der Form einer Interpretation der autoritativ überlieferten Gesetzesmasse erfasst wurde.“ 32
Dieser Vergleich war für Spengler ein Beleg, dass hinter den Digesten und der Mischna eine einheitliche Kulturseele am Werk gewesen sein müsse. Nach seiner Ansicht eignete sich die neu erwachende arabische Kulturseele mithilfe der interpretierenden Juristen ein für sie zunächst fremdes Recht an und wandelte es dabei in eigenes Recht um. Dabei blieben zwar oberflächlich die alten Texte in Teilen erhalten, aber in Wahrheit, so Spengler, wurde inhaltlich mehr antikes Recht zerstört und hinweginterpretiert als übernommen. Hier wird deutlich, wie Spengler die Geschichte des römischen Rechts als Beleg seiner These der vollkommenen historischen Diskontinuität verwendete: Die antike Kultur konnte inhaltlich ihr Recht nicht an die arabische weitergeben und diese wiederum konnte ihr Recht nicht an das Abendland vererben. Nur oberflächlich wurden fast 2000 Jahre lang die gleichen lateinischen und griechischen Texte verwendet. Auch die herrschende Meinung in der Rechtswissenschaft erkannte freilich an, dass sich das römische Recht häufig gewandelt hatte. Hier ging man aber von einer kontinuierlichen Entwicklung aus. Spengler sah am Ende jeder Kultur einen vollkommenen Bruch. Dies sei an zwei weiteren Beispielen erläutert: Erstens handelte es sich bei jenen, welche den Klassikern nach herrschender romanistischer Ansicht nach etwa 220 n. Chr. folgten, eher um minderwertige Epigonen, die nicht mehr versuchten, neues Recht zu schaffen, sondern nur noch Bemühungen zeigten, das bestehende Recht zu ord30
Insgesamt wird dies an drei Stellen deutlich. Auf S. 79 f. (Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 16) wird Caracalla (der kein Jurist war, aber wohl wegen seines berühmten Ediktes von Spengler genannt wurde) ohne weitere Erklärung als Aramäer vorgestellt. Auf S. 78 (Kapitel I, Abschnitt C 15) schreibt Spengler, dass es sich bei den klassischen Juristen sämtlich um Aramäer handelte und auf S. 82 (Kapitel I, Abschnitt C 16) werden von den klassischen Juristen explizit Papinian, Ulpian und Paulus erwähnt und abermals als Aramäer bezeichnet. Es gibt eine weitere Stelle in einem späteren Kapitel, wo noch einmal erwähnt wird, dass Ulpian ein Phöniker aus Tyrus war, diesmal mit dem Verweis auf die entsprechende Digestenstelle 50, 15 (Kapitel II, Abschnitt C 18, S. 212). 31 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 16, S. 83. 32 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 16, S. 83.
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
nen.33 Dies zeige sich besonders, wie man häufig nachlesen konnte,34 am Zitiergesetz von 426. Hierdurch wurden die vor Gericht zitierbaren Autoren auf einen engen Kreis von fünf klassischen Juristen eingeschränkt. Nach Spengler müsse dieses Gesetz nicht als epigonenhaft gelten, wenn man es in den richtigen kulturellen Kontext setzte. Das Zitiergesetz sei nur als magisches Gesetz richtig zu verstehen.35 Es habe „unter völliger Verkennung seiner geistigen Grundlagen die allgemeine Verachtung der Rechtsforscher gefunden“36, wie Spengler betonte. Das kanonische Zitieren der Juristentexte nach Art der Bibelzitate war aber für den Kulturphilosophen ein Zeichen, dass die religiös geprägte magisch-arabische Kulturseele Besitz von den formal römischen Texten ergriffen hatte. Spenglers Vorwurf an die Rechtsgeschichte war überdeutlich: „Unseren Romanisten ist es ein Zeichnen des tiefsten Verfalls im Rechtswesen: Von der arabischen Welt aus betrachtet ist es das Gegenteil: ein Beweis dafür, dass es diesen
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So deutlich Hans Kreller, Römische Rechtsgeschichte. Eine Einführung in die Volksrechte der Hellenen und Römer und in das römische Kunstrecht, Tübingen 1936, S. 56 ff., hier wird schon die Überschrift über diese Zeit „Epigonen“ genannt. 34 Sohm, Institutionen, S. 138. Das Zitiergesetz „kam zugleich dem praktischen Bedürfnis entgegen, welches durch die Unfähigkeit der Richter zu selbstständigem juristischen Denken [...] gegeben war.“; Ludwig Kuhlenbeck sah in dem Zitiergesetz des Valentian keine Vollendung, sondern „das traurigste Zeugnis geistiger Ohnmacht und Unfreiheit“, welches „die Geschichte gelehrter Arterienverkalkung aufzuweisen hat“ (Ludwig Kuhlenbeck, Die Entwicklungsgeschichte des Römischen Rechts, 1. Band: Institutionen I., Rechtsgeschichte, S. 348). 35 Spenglers Argumentation hierzu lautet wie folgt: Um den Unterschied im Rechtsdenken zu verdeutlichen, vergleicht Spengler den römischen Praetor mit dem arabischen Kadi. Der Erstgenannte schafft das Recht aufgrund seiner hohen Stellung und seiner praktischen Erfahrung im Leben. Der Letztgenannte schafft kein Recht, sondern er spricht das von Gott erzeugte Recht aus. Der Kadi stützt seine Entscheidungen „auf den Geist, der irgendwie in ihm wirksam wird und aus ihm spricht.“ (Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 17, S. 85). Der Orientale, so Spengler, verlange „weder den praktischen Zweck des Gesetzes […], noch die logischen Gründe des Urteils.“ (Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 17, S. 85). Er unterwirft sich den letztlich von Gott stammenden Rechtstexten, in denenin jedem einzelnen Buchstaben, für ihn eine göttliche Offenbarung steckt. Bei einer Mehrzahl von Texten ergebe sich die Wahrheit aus dem Analogon zum antiken consensus, nämlich aus dem islamischen idjma. Da der Geist Gottes in der Gemeinde ist, kann diese nicht irren, wenn ein consensus/idjma erzielt ist (Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C, 17, S. 86). Das wendete Spengler nun wieder auf spätrömische Rechtsvorstellungen an. Das Zitiergesetz Valentians III entsprach genau dieser magischen Vorstellung und war eben deshalb völlig unantik. Das Gesetz begrenzt die vor Gericht zitierbaren Autoren auf nur fünf anerkannte Autoritäten. Im Falle der Meinungsverschiedenheit sollte die Mehrheit entscheiden, bei Gleichstand war Papinians Ansicht zu folgen. 36 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 17, S. 86.
II. Romanistische Kritik an Spengler
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Menschen endlich gelungen ist, eine fremde, ihnen aufgedrängte Literatur sich in der einzigen Form anzueignen, die für ihr Weltgefühl in Betracht kam.“37
Zweitens sei kurz angerissen, wie unterschiedlich Spengler und die herrschende Romanistik die Interpolationen, also die Textveränderungen bei der Kompilation des Corpus Iuris Civilis bewerteten.38 Für die Romanistik waren etwa zwischen 1870 und 1930 die Interpolationen eine epigonenhafte Verschlechterung der authentischen Texte der Klassiker.39 So schrieb Leopold Wenger, durch die Interpolation sei „viel Wasser in den Wein gelaufen“.40 Spengler machte den Rechtshistorikern seiner Zeit auch daraus einen Vorwurf. Nach seiner Kulturphilosophie interpretierte er die Interpolationen als eine weitere Möglichkeit der Aneignung bzw. Umdeutung der ehemals antiken Rechtstexte, die für die Aneignung und Schöpfung des Rechts durch die arabisch-magische Seele nötig war.41 Die Veränderung der Texte erschien bei ihm nicht als eine epigonale Verschandelung der Klassiker, sondern als eine kulturmorphologisch notwendige Anpassung.
II. Romanistische Kritik an Spengler II. Romanistische Kritik an Spengler
Nach all dem wäre ein Sturm der Entrüstung von Seiten der Romanisten zu erwarten gewesen. Als Beitrag zum „Streit um Spengler“ hätten sie das schiefe Bild der magisch-arabischen Klassiker zurechtrücken können. Es muss noch einmal betont werden, dass sich zahlreiche Althistoriker, Ägyptologen, Archäologen, Philosophiehistoriker, Musikwissenschaftler usw. mit dem „literarischen Star von 1919“ beschäftigten. Es war in der intellektuellen Welt der frühen 20iger Jahre en vogue sich mit Spengler Thesen zu befassen und zu ihm Stellung zu beziehen. 1. Überblick Die Romanisten traten nicht mit eigenen „Spenglertexten“ hervor. Kein rechtshistorischer Text der 20iger oder 30iger Jahre hatte die Hauptintention, die Wissenschaft vom römischen Recht – welche zu dieser Zeit auch die Wissenschaft vom Corpus Iuris genannt werden könnte – gegen die 37
Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 16, S. 84. Einführend zu Interpolationen Reinhard Zimmermann, Art. Corpus Iuris Civilis in: Jürgen Basedow/Klaus Hopt/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Handbuch des Europäischen Privatrechts Bd. 1, Tübingen 2009, S. 268–290, S. 288. 39 Zeitgenössisch: Sohm, Institutionen, S. 119; siehe ansonsten hierzu Zimmermann, aaO, S. 288. 40 So Wenger, Recht der Griechen und Römer, S. 178 ff. 41 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 16, S. 84 und 17, S. 87 f. 38
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
Vorwürfe Spenglers zu verteidigen und gegenüber der Allgemeinheit die „richtigen“ Ansichten über die Geschichte des römischen Rechts in Stellung zu bringen. Möglicherweise geschah dies häufiger in ungedruckten Vorträgen, ein Indiz hierfür ist ein Vortrags Emil Seckels über, den Schubert erst 2006 publizierte.42 Zumindest einige Romanisten äußerten sich dennoch in schriftlicher Form zu Spengler, wenngleich zumeist in sehr kurzen Anmerkungen. So kritisierte etwa Otto Lenel in der Rezension von Goldschmidts berühmten „Der Prozess als Rechtslage“, dass Spenglers Schlagworte vom rezensierten Autor übernommen wurden. Lenel nahm dies Goldschmidt nicht sonderlich übel, nutzte aber die Gelegenheit um „nur nebenbei“43, wie er schrieb, Spenglers Schlagworte auf dreizehn Zeilen abzuurteilen. Lenels Adressaten waren hier die Leser der romanistischen Abteilung der Savigny Zeitschrift, also eine Gruppe, welche den Widerspruch zwischen den spenglerschen Thesen und der communis opinio bereits genau kannte. Er konnte sich daher darauf beschränken, Fragen zu Spengler im Raum stehen zu lassen, wie etwa: „Hat nicht das römische Recht neben der Statik des Sachenrechts die viel großartigere Dynamik des Obligationenrechts ausgebildet? Ist es nicht gerade in dieser Leistung für uns brauchbar, ja anscheinend überzeitlich unvergänglich geblieben?“44 Lenel hielt es offenbar nicht für nötig, Spenglers Thesen genauer zu analysieren und dagegen zu argumentieren. Ähnlich verhielt sich Hans Kreller, der in seiner „Römischen Rechtsgeschichte“ mit wenigen Zeilen Spenglers These, nach der es in der Kaiserzeit bereits keine römische Jurisprudenz mehr gegeben habe, für unbegründet erklärte.45 Kurz vorher plausibilisierte Kreller – ohne Zitation von Spengler – warum ein östlicher Einschlag in bestimmten klassischen Schriften zu finden sei. Die Praktikergeneration gegen Ende des 2. Jh. habe bei ihrer Bearbeitung von Rechtsfragen viel mehr Fälle aus dem noch nicht romanisierten Osten entscheiden müssen.46 Aus dem nahen textlichen Zusammenhang ergibt sich, dass dieses Argument gegen Spengler gerichtet war, der den östlichen Einfluss im Corpus Iuris als ein Zeichen der magi42
Schubert, Die Vorträge Emil Seckels in der Berliner Mittwochs-Gesellschaft, S. 373 f. Seckels Vortrag „Die Morphologie der römischen Rechtsgeschichte im 2. Band von Oswald Spengler’s Untergang des Abendlandes“. 43 Wenger, Rez. Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage, S. 440. 44 Ebda. 45 Kreller, Römische Rechtsgeschichte, S. 54: „Wie weit die maßgebenden Juristen persönlich ihrer Abstammung nach östlichen Völkern zuzurechnen sind, lässt sich aus zufällig auf uns gekommenen biographischen Notizen jedenfalls weder für die letzten Hochklassiker noch für die Nachklassiker (insbesondere Ulpian) mit der Sicherheit entscheiden, die zur Begründung der Annahme erforderlich wäre, man habe es in dieser Epoche schon nicht mehr mit „römischer“ Jurisprudenz zu tun.“ 46 Ebda.
II. Romanistische Kritik an Spengler
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schen Kulturseele wertete. Im Verhältnis zu der Kürze der spenglerbezogenen Zeilen bei Kreller erscheint es als ein Aufbauschen des Themas, dass der Rezensent Otto Eger den Verfasser dafür lobte, Spenglers Ansicht entgegengetreten zu sein.47 Von fünf kurzen Absätzen der Rezensionen besteht einer aus der nahezu wörtlichen Wiedergabe von Krellers Spenglerkritik. Diese Rezension ist der einzige Spengler ablehnende Text eines Romanisten in einer nicht hauptsächlich von Romanisten gelesenen Zeitschrift. Es war zum einen symptomatisch, Spengler kurz abzuweisen, ohne auf seine Thesen näher einzugehen. Zum anderen hielt man Spenglers Fehler nicht für ein außerhalb des inneren Kreises der Romanistik mitteilenswertes Phänomen. Stereotyp für diese kurze und abweisende Spenglerbehandlung gegenüber Fachgenossen stand Gerhard von Beseler,48 der 1929 lapidar schrieb: „Spengler sagt die römische Jurisprudenz sei statisch, die Moderne dynamisch. Spengler does not know what he is talking about.“49 Mehr musste nach Ansicht vieler Romanisten wohl zu Spengler nicht gesagt werden. Ein wenig mehr Mühe machte sich San Nicoló. Anlässlich eines Vortrages über griechisch-orientalische Einflüsse im byzantinischen Recht ging er inhaltlich genauer als Lenel auf Spenglers Thesen ein.50 Deutlich sprach San Nicoló aus, dass es die Aufgabe der Orientalisten unter den Rechtshistorikern sei, Spenglers falsche Darstellungen vehement zurückzuweisen. Er kritisierte, dass Spengler den Unterschied zwischen der Kasuistik des Talmud und der ars boni et aequi des römischen Rechts nicht erkannt habe. Zwar räumte San Nicoló ein, dass Spenglers Kapitel über die Rechtsgeschichte unter universellen Gesichtspunkten bemerkenswert sei, aber die Inhalte seien ohne Zuhilfenahme der Quellen gewissermaßen apriorisch konstruiert.51 Bemerkenswert ist, dass San Nicoló in einer Fußnote darauf hinwies, dass ein unbedachter Spenglerleser womöglich glauben könne, dass die Romanisten mit dem Kulturphilosophen auf einer Linie lägen. Immerhin habe Spengler mit zufälligen Literaturangaben den Eindruck 47
Otto Eger, Rez. Kreller. Römische Rechtsgeschichte. Eine Einführung in die Volksrechte der Hellenen und Römer und in das römische Kunstrecht, Tübingen 1936 in: Historische Zeitschrift, 160 (1939), S. 561 f. 48 Siehe zu ihm Rudolf Meyer-Pritzl, Gerhard von Beseler (1878–1947) – Kämpfer für das Römische Recht im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und während der NS-Zeit in: Detlev Tamm, Helle Vogt (Hrsg.), Nationalismus und Rechtsgeschichte im Ostseeraum nach 1800, Koppenhagen 2010, S. 136–156. 49 Gerhard von Beseler, Juristische Miniaturen, Leipzig 1929, S. 5. Inhaltlich kritisiert Beseler dann noch unter Verweis auf seinen Kollegen, den Mathematiker Otto Toeplitz, Spenglers Mathematikverständnis. 50 Mariano San Nicoló, Il problema degli influssi greco-orientali nel diritto bizantino in: Atti del Congresso Internazionale di Diritto Romano 1 (1933), S. 256–280. 51 San Nicoló, Il problema degli influssi greco-orientali, S. 276.
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
erweckt, es bestehe eine Verbindung zwischen rechtshistorischer Forschung und seinen Thesen.52 San Nicoló appellierte damit an die Romanisten und besonders die Orientalisten unter ihnen, gegen Spenglers Behauptungen ins Feld zu ziehen. In diesem Kontext äußerte sich auch Fritz Schulz zu Spengler. Er legte in seinem Standardwerk „Prinzipien des Römischen Rechts“ dar, dass die spenglerschen Behauptungen von orientalischem Einfluss auf die Klassiker von den Quellen nicht sicher bewiesen werden können,53 wenngleich auch die herrschende Romanistik der Ansicht war, dass der „Osten“ einen Einfluss auf das römische Recht hatte. So räumte Schulz zwar ein, dass der Osten um 300 n. Chr. wachsenden Einfluss gewinnt, insbesondere auf dem Gebiet der Religion. „Das Recht aber“, so fährt Schulz fort, „die ureigenste Schöpfung des römischen Geistes, leistet Widerstand: Von einer östlichen Beeinflussung des römischen Rechts ist unter den Severern noch nichts zu spüren.“54 Im Weiteren stellt Schulz dar, dass die spenglerschen Behauptungen von den Quellen nicht sicher bewiesen werden können. Jedenfalls sei bei Ulpian weder in seiner Methode, noch in seinen Lehren etwas Östliches zu finden.55 Aufgegriffen wurde San Nicolós Kritik von Paul Koschaker56, der sich zunächst in einer Rezension einer Schrift des rumänischen Romanisten Valentin Georgescu über Spengler äußerte.57 Georgescu schrieb über die unterschiedlichen Ursachen der Krisen des römischen Rechts in Russland und in Deutschland. Während in der Sowjetrepublik der Kampf gegen den Kapitalismus zur Krise des als liberal geltenden römischen Rechts führe, habe in Deutschland hauptsächlich Oswald Spengler durch seine kulturphilosophisch begründete Ablehnung des römischen Rechts die Krise verursacht, diagnostizierte der Rumäne.58 Georgescu schrieb damit Spenglers Schriften eine unglaublich hohe Wirkungsmacht zu und ignorierte sämtliche andere Faktoren, die zur Krise des römischen Rechts in Deutschland führten. Koschaker widersprach Georgescu mit kurzen Worten unter Ver52
San Nicoló, Il problema degli influssi greco-orientali, S. 276, Fn. 1. Fritz Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts, München und Leipzig 1934, S. 91. 54 Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts, S. 90. 55 Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts, S. 91. 56 Koschaker, Rez. Georgescu; ders., Probleme der heutigen romanistischen Rechtswissenschaft in DRW 5 (1940), S. 115. Siehe hierzu Giaro, Aktualisierung Europas, S. 162. 57 Koschaker, Rez. Georgescu. Vielleicht etwas übertrieben Giaro, Aktualisierung Europas, S. 42, der Koschaker sagen lässt: „Ich […] zerstöre Spenglers Verjudungstheorem, ohne seine Schriften zu kennen“. 58 Da der Verfasser dieser Arbeit selbst des Rumänischen nicht mächtig ist, wurde das schwer zu beschaffende Original von Georgescu nicht eingesehen. Siehe die Zusammenfassung des Werkes bei Koschaker, Rez. Georgescu, S. 425. 53
II. Romanistische Kritik an Spengler
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weis auf das nationalsozialistische Parteiprogramm, welches die Abschaffung des römischen Rechts schon vor Spengler forderte.59 Im Weiteren folgten einige kurze Ausführungen über die Unrichtigkeit der spenglerschen Aussagen. Auch diese Rezension erschien in der romanistischen Abteilung der Savignyzeitschrift. Koschaker konnte sich demnach sicher sein, dass die Leser von selbst bereits die Unrichtigkeiten im Untergang des Abendlands erkannt hatten.60 Gleichwohl war Koschaker ebenso wie San Nicoló von der Notwendigkeit überzeugt, Spengler deutlich und öffentlich zu widersprechen. „Eine Theorie, die in Deutschland bis vor kurzem einen gewissen Aktionsradius besessen zu haben scheint“ sei, so Koschaker, „als das zu kennzeichnen, was sie ist, nämlich dilettantisch“.61 Koschaker und Schulz wendeten sich vor allem gegen die Vorstellung, das römische Recht sei jüdisch. Dies wird im nächsten Abschnitt detaillierter besprochen. Zunächst gilt es festzuhalten, dass sich nicht ein einziger Romanist, in einer an die Öffentlichkeit gerichteten Schrift, detailliert mit Spengler Thesen auseinandersetzte. Man erläuterte sich gegenseitig die Notwendigkeit, Spengler zu widersprechen, hielt sich aber dann doch immer wieder zurück. Beides sind erklärungsbedürftige Phänomene, die es zu untersuchen gilt: 1. Warum gingen die Romanisten davon aus, die Öffentlichkeit würde Spenglers abenteuerliche Version der römischen Rechtsgeschichte glauben; 2. Warum nahm dennoch kein Romanist am „Streit um Spengler“ teil? 2. Warum waren Romanisten der Ansicht, Spenglers (abenteuerliche) Thesen zum römischen Recht könnten für plausibel gehalten werden? Zumindest der Fußnotenapparat Spenglers offenbarte dessen Bemühen, seinen Lesern mitzuteilen, dass er die gröbsten Grundzüge der rechtsgeschichtlichen Forschung nachvollzogen hatte. Für Spenglers Verhältnisse verfügt das Kapitel über die Geschichte des römischen Rechts, gemessen an den übrigen Kapiteln im „Untergang des Abendlandes“, über eine durchaus stattlichen Fußnotenanzahl.62 Häufiger zitierte der Autodidakt 59
Koschaker, Rez. Georgescu, S. 425. „(S)o wäre es doch überflüssig, vor dem Leserkreis dieser Zeitschrift auszuführen, daß die Annahme, im 2. Jahrhundert sei ein aus dem Orient stammender Römer notwendig ein Semit gewesen, unzutreffend ist.“ (Koschaker, Rez. Georgescu, S. 426). 61 Koschaker, Rez. Georgescu, S. 426. 62 Die Betonung liegt hier auf „für seine Verhältnisse“. In der Originalausgabe finden sich auf 30 Seiten 33 Literaturverweise, also knapp über ein Zitat pro Seite. Dabei sind bereits die Fußnoten abgezogen, in denen Spengler entweder auf sein eigenes Werk verweist oder Nebenerläuterungen ohne weitere Literaturverweise machte. Verfährt man in gleicher Weise mit den anderen Kapiteln des Zweiten Bandes so erhält man folgende Werte: Im zweiten Kapitel sind auf 125 Seiten 47 Zitate (also 0,37 pro Seite). Im dritten Kapitel finden sich auf 173 Seiten 135 Fn. (also 0,78 pro Seite). Im vierten Kapitel sind 60
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
hier vor allem Rudolf Sohms63 Institutionenlehrbuch, einen Beitrag von Leopold Wenger64 mit dem Titel „Das Recht der Griechen und Römer“ in dem Lexikon „Die Kultur der Gegenwart“65, Robert von Mayrs66 „Lehrbuch der Römischen Rechtsgeschichte“67, Ludwig Mitteis68 Werk „Reichsauf 181 Seiten 96 Verweise untergebracht (also 0,53 Pro Seite). Das letzte Kapitel hat 48 Seiten und 17 Zitate (also 0,35). Man erkennt, dass das Kapitel über die Geschichte des römischen Rechts mit über 1,0 Fußnoten pro Seite klar herausragte. Noch viel weniger Fußnoten besaß der erste Band: Zum Vergleich: In den ersten Auflagen des ersten Bandes von 1918 gibt es in Fußnoten insgesamt nur vier Literaturverweise (zweimal Goethe und zweimal Darwin). Freilich sind teilweise im Fließtext Autoren mit ihren Büchern genannt, doch nur äußerst selten unter Angabe einer exakten Fundstelle (angegeben ist beispielsweise eine Stelle bei Livius, zwei Briefe von Hebbel und ein Zitat von Schopenhauer). In der überarbeiteten Fassung, also ab der 33.– 47. Aufl., sind immerhin 56 Literaturverweise zu finden, etwa 0,1 pro Seite. Es mag sein, dass Spengler als Reaktion auf den „Streit um Spengler“ nach der Veröffentlichung der 1. Aufl. des ersten Bandes vorsichtiger wurde und sich wegen der vielen Angriffe stärker absichern wollte. 63 Rudolf Sohm (1841–1917). Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte lagen in der Germanistik und in der Kirchenrechtsgeschichte. Auch als Berater zum zweiten Entwurf des BGB hat er sich einen Namen gemacht. Landau hält ihn für den geistig bedeutendsten Juristen des Kaiserreiches neben Jellinek und Gierke (Peter Landau, Sohm, Rudolf (1841–1917) in: Stolleis (Hrsg.), Juristen. Ein Biographisches Lexikon, München 1995, S. 572. 64 Leopold Wenger (1874–1953) war ein bedeutender Rechtshistoriker und Schüler von Ludwig Mitteis. Er gründete in München 1909 das Institut für Papyrusforschung. 1935 floh er vor den Nazis an die Universität Wien, wo er jedoch nach der Annektion 1938 von allen Pflichten als Professor entbunden wurde. Ein wichtiger Grundgedanke in Wengers zahlreichen rechtshistorischen Arbeiten war die Vorstellung, dass es nicht ein römisches Recht gebe, sondern verschiedene rechtliche Ordnungen innerhalb des römischen Reiches. Pablo Fuenteseca, Leopold Wenger in: Rafael Domingo (Hrsg.), Juristas universales, Volumen III, Madrid-Barcelona 2004, S. 917–918. 65 Leopold Wenger, Das Recht der Griechen und Römer, S. 154–302. 66 Mayr-Harting, Robert Ritter von (1874–1948) in: Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 7 München 1998, S. 16. Studium der Rechtswissenschaften in Wien. 1896 Promotion, 1901 Habilitation für bürgerliches und römisches Recht in Wien. Als führender Politiker der Deutschen Christlichen Volkspartei in der Tschechoslowakei wurde er 1926–1929 Justizminister. 67 Von der siebenbändigen, für Studenten geschriebenen, kleinen Rechtsgeschichte verwendete Spengler Band II–IV (Robert von Mayr, Römische Rechtsgeschichte, II. Buch, Die Zeit des Amts- und Verkehrsrechtes, 1. Hälfte Öffentliches Recht, Berlin und Leipzig 1912, 2. Hälfte Privatrecht 1 Personen und Sachen, Berlin und Leipzig 1913, 2. Hälfte Privatrecht 2 Schuldverhältnisse und Erbschaft; ders., III. Buch, Die Zeit des Reichs- und Volksrecht, Berlin und Leipzig 1913; ders., IV. Buch, Die Zeit der Orientalisierung des römischen Rechtes, Berlin und Leipzig 1913). 68 Ludwig Mitteis (1859–1921) berühmter Romanist und Papyrologe, ab 1901 Mitherausgeber der romanistischen Abteilung der Savigny Zeitschrift für Rechtsgeschichte. In seinem Werk „Reichsrecht und Volksrecht“ vertrat er die These, dass es ein römisches Vulgarrecht gegeben habe, also ein Recht römischen Ursprungs, dass durch missver-
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recht und Volksrecht“,69 eine Detailanalyse römischen Vulgarrechts in den östlichen Provinzen sowie Otto Lenels70 Werk „Das edictum perpetuum“.71 Der Kundige musste hier, so San Nicoló, schnell die zufällige Auswahl der Literatur erkennen.72 Für den Nichtromanisten konnte hier jedoch der Eindruck entstehen, dass Spengler relativ weit in das Thema eingedrungen sei. Außer Robert von Mayr, den Spengler vermutlich als Tatsachenmensch oder aber aufgrund der Kürze seines Lehrbuches schätzte, gehörten die zitierten Autoren zur Spitze des rechtshistorischen Establishments. Otto Lenel, Ludwig Mitteis und Leopold Wenger waren als anerkannte Romanisten Mitherausgeber der romanistischen Abteilung der Savignyzeitschrift für Rechtsgeschichte. Rudolf Sohm hatte das bis heute erfolgreichste Lehrbuch zum römischen Recht geschrieben.73 ständliche Auslegung in den Provinzen, infolge von praktischen Bedürfnissen und provinzialistischer Rechtsanschauung von seinem Ursprung abgewichen ist. Spengler nutze dies als Beleg für einen magischen Einfluss auf das römische Recht. Siehe generell zu Mitteis, Álvaro d’Ors, Ludwig Mitteis in: Rafael Domingo (Hrsg.), Juristas Universales, Bd. 3, Madrid-Barcelona 2004, S. 715–719. 69 Ludwig Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreiches, Leipzig 1891. 70 Otto Lenel (1849–1935) deutscher Rechtshistoriker, lehrte zwischen 1876 und 1907 in Strassburg und zwischen 1907 und 1923 in Freiburg. Siehe allgemein zu Lenel Okko Behrends, Otto Lenel in: Rafael Domingo (Hrsg.), Juristas universales, Bd. 3, MadridBarcelona 2004, S. 574–576; Bund, Lenel, Otto in: NDB Band 14, Berlin 1985, S. 204 f.; sehr ausführlich Okko Behrends, Das Werk Otto Lenels und die Kontinuität der romanistischen Fragestellungen. Zugleich ein Beitrag zur grundsätzlichen Überwindung der Interpolationistischen Methode in: Martin Avenarius/Rudolf Meyer-Pritzl/Cosima Möller (Hrsg.), Institut und Prinzip, Bd. 1, Göttingen 2004, S. 281 ff., S. 267–310. 71 Lenels Forschungen zum Edictum Perpetuum gelten als eines von zwei Hauptwerken. Es ging Lenel hier unter anderem darum sich von der historischen Schule abzugrenzen. Er opponierte gegen eine Wiedergeburt des klassischen römischen Rechts als normative Rechtsquelle. Für den insoweit als Positivisten zu bezeichnenden Lenel war im Übrigen nicht der Volksgeist, sondern der Staat der Gesetzgeber (siehe Behrends, Otto Lenel, S. 575). Neben dem eigentlichen Buch publizierte Lenel immer wieder Aufsätze zum Edictum Perpetuum in der ZRG GA, so etwa Otto Lenel, zum Edictum perpetuum in ZRG GA Bd. 37 (1916), S. 104–128. 72 San Nicoló, Il problema degli influssi greco-orientali, S. 256–280, S. 276, Fn. 1. 73 So Landau, Sohm, S. 588. Es erscheint plausibel, wenn es auch bloße Spekulation bleibt, dass Spengler Sohms Werk als Einstieg zum römischen Recht verwendete. Es könnte sein, dass ihm das Buch als gute Einführung von einem Zeitgenossen empfohlen wurde. Er zitierte stets die 11. Aufl. von 1911 und zwar auch noch im Neubau des Deutschen Reiches 1924. Das spricht dafür, dass sich Spengler Sohms Lehrbuch selber kaufte und nicht wie sonst üblich aus der Münchener Staatsbibliothek ausgeliehen hatte. Freilich hatte Spengler die Einarbeitung in das römische Recht nicht sonderlich intensiv betrieben. In die Vielzahl der von Sohm verarbeiteten Sekundärliteratur las er sich nicht ein. Verschiedene Ansichten zu umstrittenen Themen interessierten ihn ebenfalls nicht. Primärquellen zu dogmatischen Fragestellungen wurden überhaupt nicht zitiert.
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
Der Kulturphilosoph verband auch geschickt die Zitate der Autoritäten mit seinen eigenen Thesen. So schrieb er: „Die deutsche Rechtswissenschaft von heute stellt in sehr bedeutendem Maße ein Erbe der Scholastik des Mittelalters dar.¹) Ein rechtstheoretisches Durchdenken der Grundwerte unseres wirklichen Lebens hat nicht angefangen. Wir kennen diese Werte noch gar nicht.“74
Die „¹)“ verwies auf Rudolf Sohm.75 Spengler umrahmte aber alle drei Sätze mit Anführungszeichen. Dadurch entstand der Eindruck, die spenglersche Bewertung über die fehlende rechtstheoretische Erfassung der Grundwerte des wirklichen Lebens würde von Sohm genau so vertreten. Bei Sohm fand sich aber nur der erste Satz „Die deutsche Rechtswissenschaft von heute stellt in sehr bedeutendem Maße ein Erbe der Scholastik des Mittelalters dar“76. Wenn man nicht genau hinsah, musste dies so wirken, als bestünde eine vollständige Übereinstimmung zwischen Spengler und Sohm in dieser Frage.77 Die Kritik an der Rechtswissenschaft, nach der diese die Grundwerte des gegenwärtigen Lebens noch nicht durchdacht habe, ist in dieser Schärfe aber allein Spengler zuzuschreiben.78 Auch ein wörtliches Zitat von Otto Lenel79 las sich im Kontext bei Spengler, als bestätigen die jüngsten Erkenntnisse der Romanistik Spenglers Kulturphilosophie. Wenn San Nicoló besonders die Orientalisten unter den Romanisten zum Widerspruch gegen Spengler aufrief und die Befürchtung äußerte, durch Spenglers zufällige Zitate sei der Eindruck der Übereinstimmung zwischen dem Kulturphilosophen und den Wissenschaftlern entstanden, so bezog er sich vermutlich vor allem auf einen Verweis des Kulturphilosophen auf Ludwig Mitteis. Spengler konstruierte das römische Recht der Kaiserzeit als ein magisch-arabisches Produkt. Um dies zu untermauern,
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Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 95. Sohm, Institutionen, S. 170. 76 Sohm, Institutionen, S. 170. 77 Wie zum Beweis der täuschenden Setzung der Anführungszeichen hat dann auch der Albatros Verlag aus Düsseldorf bei seiner Neuherausgabe von Spenglers Hauptwerk die Fußnote ganz an das Ende der Aussage gestellt, so dass der Eindruck eines wörtlichen Zitats von Sohm nun vollständig besteht (Spengler, Untergang des Abendlandes, Düsseldorf 2007, S. 652). 78 Siehe Spenglers entsprechendes Urteil über die Rechtswissenschaft, dargestellt oben auf S. 29 ff. 79 Lenel wird von Spengler zitiert mit der Aussage: „Nach alldem ist klar, dass uns die Römer ganz und gar nicht Vorbilder der wissenschaftlichen Methode sein können.“ (Otto Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts in: Enzyklopädie der Rechtswissenschaften Bd. I, 7., der Neubearbeitung 2. Aufl., München 1915, S. 357; Spengler, UdA S. 633). 75
II. Romanistische Kritik an Spengler
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verwies er auf Ludwig Mitteis, der in seinem Buch „Reichsrecht und Volksrecht“ „auf den orientalistischen Zug der Gesetzgebung Konstantins aufmerksam gemacht“80 habe. In der Tat galt und gilt Mitteis mit dem von Spengler zitierten Werk als ein, wenn nicht der Begründer der romanistischen Orientalistik. Koschaker schrieb später über ihn, Mitteis habe, „als erster seiner Zeit, in unerhörter Weise den orthodoxen romanistischen Quellenkreis durchbrechend, die Rechte des Ostens, das griechische Recht, das Recht Ägyptens, wie es sich in den Papyrusurkunden spiegelt, und sonstige orientalische Rechte herangezogen“81 Bedenkt man, dass Mitteis gerade mit dem von Spengler zitierten Werk die Erforschung eines „orientalischen“ Einflusses auf das spätrömische Recht begann, so erscheint zumindest dieses Zitat weniger zufällig. Spengler war offensichtlich gut darin, neue Strömungen auch aus wissenschaftlichen Bereichen zu erkennen, die ihm prinzipiell fremd waren. Freilich meinte Mitteis orientalischer Einfluss etwas ganz anderes als die Bestätigung von Spenglers Vorstellung einer magischen Kulturseele, die vom römischen Recht Besitz ergriffen habe.82 Man muss daher festhalten, dass Spenglers einnehmendes Zitierverhalten von einem Fachmann sofort zu durchschauen war, von einem Laien aber möglicherweise für „de lege artis“ gehalten wurde. Auch Juristen, die nach Inkrafttreten des BGB studiert hatten, werden sich über das römische Recht nicht mehr angeeignet haben, als in Sohms Institutionenlehrbuch zu lesen war. Auch wenn sie sich damit vermutlich weitaus tiefer mit den Digesten auseinandergesetzt haben als Spengler – der von Sohm nur die ersten 120 Seiten wahrgenommen hatte –, konnten die jungen pragmatischen Juristen nach erfolgreichem Absolvieren der Vorlesung im römischen Recht den Stoff für immer ad acta legen. Diese Generation stand nun vor einem Spenglertext, der neben dem allen bekannten Sohm zusätzlich noch weitere Autoritäten des Faches zitierte. Bedenkt man zusätzlich, dass nach 1918 die Karteikarten als Lernmittel immer populärer wurden,83 und dass auch gänzlich unwissenschaftliche Skripte, wie
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Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 16, S. 82. Koschaker, Die Krise des römischen Rechts, S. 42. 82 Spengler bezieht sich hier auf Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht, S. 12 f. Mitteis weist hier methodisch darauf hin, dass man Volksrecht auch erkennen könne, wenn kaiserliche Edikte gegen volksrechtliche Vorstellungen einschritten, oder wenn sie volksrechtlichen Gehalt in kaiserliches Recht aufnehmen. Besonders auffällig sei dies an der konstantinschen Gesetzgebung, die einen stark orientalischen Zug trage. Mit „orientalisch“ meinte Mitteis freilich eher hellenistisch-byzantinistisch. Spengler genügte das Wort orientalisch um eine Assoziation zu seiner magisch-arabischen Kulturseele zu entfalten. 83 Siehe Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 132 zu Karteikarten und Repetitorien zum preußischem Verwaltungsrecht. 81
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
„Schäfers Grundrisse des Rechts“84 von Studenten verwendet wurden, so wird plausibel, dass es manch einem nicht rechtshistorisch ausgerichteten jungen Juristen so vorgekommen sein mag, als ob sich Spengler tiefer in das römische Recht hinabbegeben habe, als er selber. Nicht umsonst schrieb Ernst Fuchs 1912 „Vom römischen Rechtsquark nudeln unsere Studenten genauso viel – wiederum ganz mit Recht – als sie im Examen davon brauchten.“85 Hinzu kam – was bereits ausgeführt wurde –, dass das römische Recht einen schlechten Ruf hatte und mit Liberalismus und Lebensfremde assoziiert wurde.86 Spengler wurde so unfreiwillig aus heutiger Sicht zu einem Beispiel dafür, wie wichtig solide rechtshistorische Kenntnisse gewesen wären, um eine dilettantische – aber dem Zeitgeist entsprechende – Argumentation mit der Geschichte zu durchschauen. 3. Gründe für die „Streit-um Spengler“-Abstinenz der Romanisten Insgesamt sprach also viel dafür, dass selbst eine junge Juristengeneration Spenglers Ausführungen für bare Münze nehmen würde. Die Befürchtung der Romanisten, man könne Spengler Glauben schenken war berechtigt. Doch auch, wenn sich mit Koschaker, Schulz und Wenger hochkarätige Romanisten zu Spengler äußerten, so wurde der Kulturphilosoph niemals zu einem wirklichen Thema des Faches. Die Abrechnungen mit Spengler erfolgten nebenher, blieben klein und setzten sich nicht detailliert mit Spenglers Thesen auseinander. Die weit überwiegende Zahl der Romanisten sah es wohl nicht als lohnenswert an, sich mit Spengler zu beschäftigen. Nur vereinzelt empfand man es als gefährlich, dem wirkungsmächtigen Spengler nicht von rechtshistorischer Seite zu widersprechen. Nach Erscheinen des zweiten Bandes gab es Zeitschriften, die jeweils eine gesamte Ausgabe Spengler widmeten und verschiedene Spezialisten als Kritiker zu Wort kommen ließen.87 Romanisten befanden sich nicht unter ihnen. Fragt man nach den Gründen hierfür, muss zum einen beachtet werden, dass sich das Klima im „Streit um Spengler“ möglicherweise nach Erscheinen des zweiten Bandes gewandelt hatte, und dass das römische 84
Siehe insbesondere das Skript über römisches Recht, welches für 1928 angekündigt war und 1933 in 14.– 16. Aufl. erschien. Siehe zur Unwissenschaftlichkeit der Reihe und ihrer Funktion zur raschen Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 346; siehe zu der Reihe sehr ausführlich Philipp Mützel, Schaeffers Grundrisse überdauern die Zeiten in: FHI (http:// fhi.rg.mpg.de/debatte/pdf-files/0202muetzel.pdf). 85 Fuchs, Juristischer Kulturkampf, S. 98. 86 Siehe hierzu oben S. 99 f. 87 Ein Heft der Zürcher Zeitschrift Wissen und Leben 17 (1923) und die Preußischen Jahrbücher 192 (1923).
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Recht im Gegensatz zu ägyptologischen, kunsthistorischen oder musikwissenschaftlichen Details stets einen immanent politischen Charakter hatte. Die relativ späten Äußerungen sind zudem eher in den Kontext der Krise des römischen Rechts als dem Streit um Spengler zuzuordnen. a) Hintergrund des Streits um Spengler Grundsätzlich entspricht es wohl eher der üblichen Verhaltensweise nicht ausführlich gegen außerakademische Schriftsteller zu argumentieren, die zudem öffentlich als fachliche Dilettanten gehandelt werden, sondern sie totzuschweigen, oder allenfalls in kurzen Sätzen abzulehnen. So geschah es Houston Stewart Chamberlain mit seinem Kapitel über römisches Recht in den „Grundlagen des 19. Jh.“88 So konnte es selbst Außenseitern innerhalb der Romanistik ergehen, wie dem darwinistisch-rassisch denkenden Ludwig Kuhlenbeck89 und seiner Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts.90 Warum sollte so nicht auch mit Spengler verfahren worden sein? Man könnte Manfred Schröter Recht geben und mit ihm annehmen, dass der Untergang des Abendlandes gar keinen wissenschaftlichen Gehalt habe und dass sich Wissenschaftler deshalb eigentlich fachlich nicht für das Werk interessieren konnten.91 Was dagegen spricht, ist die Dimension des Streits um Spengler. Es war eben auch für Ägyptologen, Philosophie-, Kunst- und Allgemeinhistoriker usw. usus, populäre Dilettanten zu ignorieren. Dennoch ließ sich eine Vielzahl von Kritikern aus dem akademischen Bereich dazu herab, mit Spengler auf ihrem Fachgebiet zu diskutieren. Der Kulturphilosoph war gewissermaßen zu groß für die übliche Variante des Totschweigens. Außerdem bestand auch eine gewisse Einigkeit im Unterhaltungswert und intellektuellen Reiz von Spenglers Thesen. Bei ihm drehte sich die übliche Verhaltensweise für einige Fachwissenschaftler um: 88
Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, 1. Auflage, München 1899, S. 121 ff. Das Kapitel über römisches Recht wurde von Wissenschaftlern kaum beachtet; kurz ablehnend nur Ludwig Mitteis, Römisches Recht in: Eduard Norden /Alfred Giesecke-Teubner (Hrsg.), Vom Altertum zur Gegenwart. Die Hauptzusammenhänge in den Hauptepochen und auf den Hauptgebieten, 2. Auflage Leipzig-Berlin 1921, S. 111–120, S. 111. 89 Siehe zu Kuhlenbeck generell Julia Szermerédy, Ludwig Kuhlenbeck – Ein Vertreter sozialdarwinistischen und rassentheoretischen Rechtsdenkens um 1900, Diss. Zürich 2003, Zürich 2003. 90 Außer den kurzen Rezensionen Lenels gab es so gut wie keine Auseinandersetzungen mit der „Entwicklungsgeschichte“ von Kuhlenbeck. Siehe hierzu Otto Lenel, Rez. Kuhlenbeck, Die Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, Bd. 1, München 1910 in: DJZ (Literaturbeilage) 1911, Sp. 546; ders., Rez. Kuhlenbeck, Die Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, Bd. 2, München 1913 in: DJZ (Literaturbeilage) 1914, Sp. 514. 91 Siehe zu Schröter oben S. 3 ff.
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
Gerne sagte man zu, einen Beitrag über den Dilettanten Spengler zu schreiben. Was sprach also aus Sicht der Romanistik dagegen, sich nach 1922 zu Spengler zu äußern? Sicher ist, dass nach 1922 der Streit allgemein abflaute.92 Zwei Hauptgründe können dafür benannt werden: Zum einen hatte sich Manfred Schröter in seiner viel beachteten Schrift „Der Streit um Spengler, Kritik seiner Kritiker“ gegen die Autoren ausgesprochen, die Spengler viele kleine Fehler nachwiesen, ohne auf einer höheren Ebene die Geschichtsphilosophie Spenglers im Blick zu haben.93 Danach muss sich jede Kritik einzelner, isoliert betrachteter Fragen vorwerfen lassen, den großen Wurf Spenglers letztlich nicht verstanden zu haben. Es wurde im Zuge dessen außerhalb der Fachwissenschaften zunehmend als besserwisserisch empfunden, auf Detailfehler Spenglers hinzuweisen.94 In der Weltbühne war hierzu zu lesen: „Die große Zahl der Nichtspezialisten will nicht über die Unterschiede der fünften und sechsten Dynastie unterrichtet werden, sondern verlangt, die großen kultur- und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge zu erfahren. Solange die gediegene Geschichtsforschung nicht dazu in der Lage ist, darüber Auskunft zu geben, wird sich das Publikum, und nicht das schlechteste, an die fragwürdigen [...] Außenseiter halten müssen.“95 Theodor Heuss notierte hierzu in seinem Tagebuch: „Die Faszination seines Untergang des Abendlandes [...] war überaus stark; [...] Die abwägende Spezialkritik der historischen Fachleute kam demgegenüber nicht auf.“96 Dies wurde teilweise auch von Gelehrten so gesehen: Der Althistoriker Victor Ehrenberg sagte über Eduard Meyer in dessen Nekrolog, dass dieser die „kleinliche Besserwisserei auch bedeutender Fachgelehrter gegenüber Spengler trotz aller Einzelkritik nicht mitgemacht habe.“97 Einzelkritik ohne Würdigung des Gesamtentwurfes empfand man zunehmend als kleinkariert. Ein weiterer Aspekt, der auf den Streit um Spengler nach 1922 dämpfend wirkte, war, dass die meisten inhaltlichen Punkte Spenglers bereits im ersten Band von 1918 ausgesprochen waren. Der zweite Band wurde nur von Wenigen als dem ersten Band ebenbürtig erachtet. Es fehle an grund92
So Schröter, Metaphysik des Untergangs, S. 10 f.; ihm folgend, Koktanek, Spengler, S. 254; siehe auch Lisson, Zur Aktualität Spenglers, S. 4. 93 Schröter, Der Streit um Spengler, vergleicht auf S. 34 f. Nietzsches Geburt der Tragödie ein Stück weit mit Spenglers Untergang. Bei beiden komme es weniger darauf an zu lernen, wie es damals wirklich war, sondern darauf, dass große Denker in der Antike für uns heute etwas Bedeutungsvolles sehen. 94 So Felken, Spengler, S. 115. 95 Richard Levinson in: „Weltbühne“ 16.VI. 21, zitiert nach Schröter, Der Streit um Spengler, S. 29 f. 96 Theodor Heuss, Erinnerungen 1905–1933, Frankfurt am Main 1963, S. 237. 97 Ehrenberg, Eduard Meyer, S. 509.
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sätzlich neuen Ideen.98 Koktanek urteilte, dass „es nicht einen einzigen wesentlichen Begriff“ gebe, „der im zweiten Band eine Rolle spielt, welcher nicht im ersten [...] schon angesprochen wäre.“99 Vermutlich fühlte sich die Mehrzahl von Spenglers Kritikern nicht von Neuem herausgefordert, weshalb ein zweiter großer Streit gar nicht erst ausbrach. Auch das Kapitel über die Geschichte des römischen Rechts fügte keine neuen Facetten zur Geschichtsphilosophie Spenglers hinzu, sondern lediglich die Brüche zwischen den Kulturen, also ein bereits aus dem ersten Band bekanntes Prinzip, besonders prägnant erläutert. Das „Streit-um-Spengler“Klima war also 1922 lange nicht so turbulent wie in den Jahren zwischen 1918 und 1920. b) Politischer Charakter der Aussagen über römisches Recht Eine Aussage über den Charakter des historischen römischen Rechts war in ganz anderer Weise mit der Gegenwart verknüpft, als die meisten anderen historischen Forschungsfragen. Immerhin war das römische Recht des Corpus Iuris Civilis in der Gestalt des gemeinen Rechts noch das gesamte 19. Jh. anwendbar gewesen. Seine Regelungen bildeten vielfach die Basis für die Normen des BGB und lebten somit weiter. Dieser Umstand wurde verstärkt durch die verklärte Polarisierung zwischen einem sozialen germanischen und einem liberalen und lebensfremden römischen Recht, ein Bild, dass sowohl von politischer als auch von wissenschaftlicher Seite verbreitet wurde.100 Ein Romanist musste damit rechnen, dass viele andere Juristen eher Spengler Recht gegeben hätten, weil dieser immerhin die Fortgeltung des liberalistischen römischen Rechts ablehnte. Das Feindbild des liberalen römischen Rechts wurde seit ca. 1850 aufgebaut, ohne daß eine stetig anwachsende Gegenwehr der Romanisten zu verzeichnen gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund konnte nicht erwartet werden, dass die Romanisten „plötzlich“ angesichts Spenglers zur öffentlichen Verteidigung ihres Faches übergehen würden. c) Die Verschärfung der Krise des römischen Rechts als Auslöser für Spenglerkritik? Zeitlich lagen die meisten Äußerungen von Romanisten abseits des eigentlichen Streits um Spengler – der vor allem zwischen 1919 und 1924 ausge-
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Koktanek, Spengler, S. 254 f. Koktanek, Spengler, S. 255. 100 Siehe oben S. 99 f. 99
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
tragen wurde101 – San Nicoló (1933), Fritz Schulz (1934), Hans Kreller (1936), Valentin Georgescu (1937), Paul Koschaker (1938) und Otto Eger (1939). Es fällt auf, dass einige von ihnen Spengler erst anlässlich der Bekämpfung der „Krise des römischen Rechts“102 in den 1930iger Jahren als Dilettanten entlarvten. Die meisten der wenigen Stimmen, die sich zu Spengler äußerten, waren in der Position eines Verteidigers des Faches oder Analysten der Krise. Im Prinzip befand sich das Fach zwar bereits nach Einführung des BGB in einem andauernden Selbstfindungsprozess, eine deutliche Verschärfung trat jedoch mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ein, welche sich die Abschaffung des römischen Rechts auf ihre Fahnen geschrieben hatten.103 Erst als der Druck auf das Fach existenzbedrohend wurde, begann man jeden einzelnen Angriff auf die Romanistik zu analysieren und zu kritisieren. In diesem Zuge geriet auch Spengler in ihr Fadenkreuz. Er war auch deshalb nach 1933 – als längst nicht mehr alles offen gesagt und geschrieben werden durfte – ein insoweit geeigneter Gegner, als dass er im Sommer 1934 durch das Regime zur persona non grata erklärt wurde.104 Da viele aus der nationalsozialistischen Elite Spengler trotzdem weiter als einen wichtigen Wegbereiter verehrten, setzte die Kritik der Romanisten an einer zumindest potentiell wirkungsvollen Stelle an. 4. Spengler und das Bild vom jüdischen-römischen Recht Das römische Recht wurde in der ersten Hälfte des 20. Jh. vielfach gescholten. Eines der letzten „originellen“ Adjektive, die der langen Reihe der „Beschimpfungen“ und Charakterisierungen hinzugefügt wurden, lautet: „jüdisch“. Paul Koschaker war aus der Perspektive der verschärften Krise des römischen Rechts nach 1933 sicher, dass Oswald Spengler für die Entstehung dieser Zuschreibung verantwortlich war. Dies soll im Folgenden näher untersucht werden. a) Koschakers Verdacht Paul Koschaker bemühte sich in einem mutigen Aufsatz, die romanische Rechtswissenschaft von dem Verdikt zu befreien, sie sei semitisch. Ausgangspunkt war dabei eine Kritik an Schönbauer, der in Koschakers erster 101
Nur der damals nicht publizierte Vortrag von Seckel kann sich zeitlich als ein Beitrag zum Streit um Spengler verstehen (siehe Schubert, Die Vorträge Emil Seckels in der Berliner Mittwochs-Gesellschaft, S. 373 f.). 102 Zimmermann, Roman Law, Contemporary Law, European Law, S. 44 ff. 103 Siehe zur Lage der Romanistik während des Nationalsozialismus Simon, Die deutsche Wissenschaft vom römischen Recht nach 1933, S. 164 ff.; siehe auch zeitgenössisch, Koschaker, Die Krise des römischen Rechts. 104 Siehe hierzu oben S. 22 f.
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Festschrift einige Gedanken über die durch den Jubilar prognostizierte Krise des römischen Rechts veröffentlichte.105 Schönbauer selber stellte hier die These auf, dass sich das römische Recht unter anderem deshalb in der Krise befinde, weil es als jüdisch-orientalisch angesehen werde.106 Für die Entstehung dieses Bildes war nach Schönbauer unter anderem die Tatsache ausschlaggebend, dass sehr viele bedeutende Romanisten Juden waren und seien.107 Dies habe bei Rednern und Schriftstellern des Dritten Reiches zu der falschen Annahme geführt, das Corpus Iuris stehe unter jüdisch-orientalischem Einfluss. Dies führte, so Schönbauer weiter, zu dem Bedürfnis, das vermeintlich volksfremde römische Recht abschaffen zu wollen.108 Koschaker entgegnete in einem Aufsatz Folgendes: 1. Sei er davon überzeugt, dass weniger als 1 % der Juristen davon wüssten, dass er Rechtsstudien über den alten Orient veröffentlicht habe. Auch seine Studenten habe er mit solchen Fragen nur ganz am Rande beschäftigt.109 2. Da es in Deutschland in allen Rechtsgebieten viele Juden gab, und gerade in Österreich viele jüdische Zivilrechtler, sei es unplausibel, so Koschaker, die jüdischen Romanisten als den Ursprung einer Vorstellung von einem jüdisch-römischen Recht zu erkennen.110 Insgesamt könne Schönbauers Theorie demnach nicht erklären, wie das römische Recht das Etikett des Semitischen erhalten habe. Zum Teil läge der Ursprung dieser Attributierung tatsächlich in der Konjunktur des Schlagworts der Orientalisierung in der Romanistik zu Beginn des 20. Jh. Daneben erwähnt Koschaker aber ausdrücklich Oswald Spengler: „Man wird verstehen, daß es [Das Schlagwort der Orientalisierung, L.M.K.] bei einem Laien – und das war auf diesem Gebiete Oswald Spengler – leicht zur Semitisierung des römischen Rechts vergröbert wurde. Nun gibt es aber kein geschichtsphilosophisches Werk der letzten 20. Jahre, das, begünstigt durch Ermüdungserscheinungen nach dem verlorenen Weltkrieg, gerade wegen seiner pessimistischen Grundhaltung auf die deut105
Ernst Schönbauer, Zur „Krise des römischen Rechts“ in: Festschrift Paul Koschaker, II. Band, Weimar 1939, S. 385 ff.; Schönbauer machte keinen Hehl daraus, dass er Koschaker einer Festschrift nicht für würdig erachtete. Er hielt die Aufforderung, sich an der Festschrift zu beteiligen, für eine Interpolation. Er schrieb, dass Koschaker in seiner Jugendlichkeit nichts von einem würdigen Herren hätte, dem eine Festschrift gebühren würde, und begnügte sich daher mit einer „Gewissensforschung“ über bisherige Leistungen des Faches, insbesondere aber über die jüngste Schrift des Jubilars (Koschaker, Die Krise des römischen Rechts und die romanistische Rechtswissenschaft). 106 Schönbauer, Zur „Krise des römischen Rechts“, S. 388. 107 Ebda., S. 388. 108 Zudem erläuterte Schönbauer, dass das Bild eines östlich-orientalischen Rechts auch auf die völlig übertriebene Interpolationenforschung zurückzuführen sei, die das arisch-abendländische im rezipierten Recht hinweginterpretiert habe, ebda., S. 391. 109 Koschaker, Probleme der heutigen romanistischen Rechtswissenschaft, S. 114. 110 Koschaker, Probleme der heutigen romanistischen Rechtswissenschaft, S. 115.
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sche Intelligenz einen größeren Einfluss hatte als O. Spenglers ‚Untergang des Abendlandes‘, und in der Tat sollen seine hohen Qualitäten vorbehaltlos anerkannt werden. Man wird es daher begreifen, daß in weiterer Vergröberung und unter dem Einflusse antisemitischer Strömungen aus der Semitisierung schließlich die Verjudung des römischen Rechts wurde.“ 111
Auch nach 1945 hielt Koschaker an dieser Ansicht fest.112 b) Die Entwicklung des Bildes vom jüdisch-orientalischen römischen Recht vor Spengler Nach Koschaker war Spengler also für einen Durchbruch der Vorstellung, das römische Recht sei jüdisch, entscheidend. Um zu beurteilen, wie stark Spenglers Einfluss hier wirklich gewesen ist, muss ein Blick in die Zeit vor 1922, vor dem Erscheinen des zweiten Bandes des „Untergangs“ gerichtet werden. Es ist zu beobachten, dass das römische Recht immer häufiger als orientalisch bezeichnet wurde. Dieter Simon hat die Hintergründe dieser Entwicklung skizziert. Ursächlich waren nach seiner Ansicht auf der einen Seite seriöse Forschungen der Romanisten, vor allem die ab den 1880er Jahren an Fahrt aufnehmende Interpolationenforschung und die durch Ludwig Mitteis’ „Reichsrecht und Volksrecht“ in Gang gesetzte Bewegung der Vulgarrechtsforschung.113 Auf der anderen Seite seien populäre Ideologen und Gelehrte wie Chamberlain und Spengler zu berücksichtigen. Daraus ergab sich die Vorstellung einer im römischen Kaiserreich ständig fortschreitenden „Orientalisierung“ des Rechts, welche durch die Byzantiner Justinian und Tribonian und ihre Interpolationen für die Zukunft festgesetzt wurde. Simon bemerkt dazu, dass „orientalisch“ aus der rückblickenden Perspektive von 1933 „unterschwellig schon fast jüdisch – jedenfalls aber ‚nichtarisch‘“114 bedeutete. Simon bemerkte auch schon, dass „Houston Stewart Chamberlain und Oswald Spengler […] die in solchen Forschungen enthaltenen Ideen aufgegriffen, trivialisiert und für Nationalsozialisten und Konsorten leicht faßlich aufbereitet“115 hatten. Es geht nun im Folgenden darum, noch präziser herauszuarbeiten, an welcher Stelle Spenglers Vorstellungen ansetzten konnten. Dazu sind zunächst noch weitere Aussagen aus den 20iger Jahren zur Frage des jüdischen römischen Rechts zu sammeln. Der markante Endpunkt dieser Entwicklung war wohl Helmut Nicolais „Rassengesetzliche Rechtslehre“, in der er das römische Recht 1932 klar als jüdisch bezeich111
Koschaker, Probleme der heutigen romanistischen Rechtswissenschaft, S. 115. Koschaker, Europa und das römische Recht, S. 157. 113 Simon, Die deutsche Wissenschaft vom römischen Recht nach 1933, S. 168 f. 114 Simon, Die deutsche Wissenschaft vom römischen Recht nach 1933, S. 168. 115 Simon, Die deutsche Wissenschaft vom römischen Recht nach 1933, S. 167. 112
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nete.116 Doch auch deutlich vorher fand sich bereits bei Arnold Wagemann117 die Vorstellung, das Schlechte im römischen Recht sei auf einen „jüdisch-orientalischen“ Einfluss zurückführen.118 Dass diese Gleichsetzung von „Corpus Iuris Civilis“ und „jüdisch“ sich in den 20igern noch nicht auf breiter Front durchgesetzt hatte, zeigt ein Blick in das Werk „Vom Wesen und Werden des deutschen Rechts“ von Walter Merk. Dieser argumentierte einerseits seit 1920 auf rassischer Grundlage119 und hielt das germanische Recht dem römischen für prinzipiell überlegen,120 beschimpfte aber andererseits das römische Recht vor 1933 nicht als jüdisch.121 Sein vorläufiger Vorwurf gegen das römische Recht klang 1925 noch so: Das römische Recht sei „das stark orientalisierte Recht einer entarteten europäisch-asiatischen Mischbevölkerung, ein Recht rücksichtsloser großkapitalistischer Ausbeutung des Nebenmenschen.“ 122
Das römische Recht wurde gemeinhin abgelehnt, weil es individualistisch, kapitalistisch und ausbeuterisch sei, aber eben noch nicht, weil es mit dem Prädikat jüdisch in Verbindung gebracht wurde. Freilich wurden in den Trivialkonzepten der Zeit der jüdischen Rasse fest die Eigenschaften des ausbeuterischen Großkapitalisten zugeschrieben.123 Insofern lag die Gleichung „jüdisches Recht gleich individualistisch gleich römisches Recht“ gewissermaßen ohnehin in der Luft. Der Schluss wurde trotzdem in den 20igern noch kaum ausdrücklich nachvollzogen. Explizit sprach nur
116
Helmut Nicolai, Die rassengesetzliche Rechtslehre, München 1932, S. 6 ff.; ders., Rasse und Recht, Berlin 1933, S. 10 f., 39 f. Siehe hierzu auch Mathias Schmoeckel, Helmut Nicolai. Ein Anfang nationalsozialistischen Rechtsdenkens in: Verein Junger RechtshistorikerInnen Zürich (Hrsg.), Rechtsgeschichte(n)? Histoire(s) du droit? Storia/ Storie del diritto? Legal Histori(es)?, Frankfurt am Main 2000, S. 325–350. 117 Wagemann war Amtsgerichtsrat in Bochum, der nach Forschungen von Landau die Schnittstelle zwischen den akademischen Germanisten und den nationalsozialistischen Ideologen war, welche am NSDAP-Parteiprogramm von 1920 arbeiteten (Landau, Römisches Recht und deutsches Gemeinrecht, S. 20). 118 Siehe hierzu Landau, Römisches Recht und deutsches Gemeinrecht, S. 20; Arnold Wagemann, Deutsche Rechtsvergangenheit als Wegweiser in eine deutsche Zukunft, Jena 1922, S. 112; ders., Vom Rechte, das mit uns geboren ist. Ein Weckruf für das deutsche Volk, Hamburg 1920. 119 Siehe hierzu ausführlich Kahlenberg, Leben und Werk des Rechtshistorikers Walther Merk, S. 243 ff. 120 Kahlenberg, Leben und Werk des Rechtshistorikers Walther Merk, S. 245; Walter Merk, Vom Werden und Wesen des deutschen Rechts, Langensalza 1925, S. 17 ff. 121 Vgl. Kahlenberg, Leben und Werk des Rechtshistorikers Walther Merk, S. 248 ff. 122 Merk, Vom Werden und Wesen des deutschen Rechts, S. 31. 123 Siehe nur etwa die Charakterisierung der Juden bei dem wirkungsmächtigen ideologischen Vordenker, Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jh., S. 323 ff.
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
Chamberlain in Bezug auf das spätrömische Recht schon zu Beginn des 20. Jh. von einem jüdisch-orientalischen Einfluss. 124 Die 20iger Jahre sind also die entscheidende Schwelle, in denen das römische Recht jüdisch wurde. Ein maßgebliches Dokument für diese Frage ist das NSDAP-Parteiprogramm. Landau fasst zusammen, dass die Autoren des Parteiprogramms davon ausgingen, „(d)as römische Recht sei in einer von Juden überfluteten Gesellschaft entstanden und deshalb von vornherein ‚undeutscher Rechtsboden‘“125. In dem deutschnationalistischen Parteiprogramm, einem Vorläufer zum Programm der NSDAP, heißt es dazu in einem Abdruck von 1933: „Die tief eingerissene Habsucht, Unredlichkeit, Unmoral, die sich im Handel und Wandel breit macht, die Verjudung unseres Volkes ist auf das römische Recht zurückzuführen, ebenso das Auswachsen unserer Wirtschaft zu einer ausgesprochenen Interessenwirtschaft, die der Welt letzten Endes unter Führung der jüdischen Rasse den Krieg und das Elend der letzten Jahre gebracht hat.“126
Bemerkenswert ist allerdings, dass in einem anderen, weniger „parteilichen“ Abdruck dieses deutschnationalen Programms, statt „Juden“ überall „Orientalen“ vermerkt wurde.127 Hatte Rudolf von Sebottendorf bei der Herausgabe seiner Urkunden aus der Frühzeit des Nationalsozialismus hier aus der Perspektive von 1933 eine „Verbesserung“ vorgenommen, also „Orientalen“ durch „Juden“ ersetzt? Auffällig ist jedenfalls, dass in dem offiziell 1920 verabschiedeten NSDAP-Parteiprogramm, die Abschaffung des römischen Rechts nur deshalb gefordert wurde, weil es der materialistischen Weltordnung diene, nicht weil es jüdisch sei. In der ab 1923 durch Alfred Rosenberg herausgegebenen kommentierten Ausgabe des Parteiprogramms findet sich ebenfalls kein Hinweis darauf, dass das römische Recht jüdisch sei.128 Allenfalls eine Formulierung, nach der das römische Recht Produkt des „syrisch-römischen“129 Zersetzungsprozesses sei, weist ganz grob in diese Richtung. Spenglers Werk erschien damit zu einem Zeitpunkt, in dem das römische Recht bisweilen als negativ-orientalisch, aber noch nicht obligatorisch als jüdisch bezeichnet wurde. Das Bild vom jüdischen römischen Recht
124
Landau, Römisches Recht und deutsches Gemeinrecht, S. 22. Landau, Römisches Recht und deutsches Gemeinrecht, S. 16. 126 Abgedruckt bei Rudolf von Sebottendorf, Bevor Hitler kam. Urkundliches aus der Frühzeit des Nationalsozialismus, Bremen 1982, S. 175. 127 Dies fiel auch bereits Landau auf (Landau, Römisches Recht und deutsches Gemeinrecht, S. 15). 128 Rosenberg, Wesen und Grundzüge des Nationalsozialistischen Parteiprogramms, S. 35. 129 Rosenberg, Wesen und Grundzüge des Nationalsozialistischen Parteiprogramms, S. 35. 125
II. Romanistische Kritik an Spengler
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entstand also mit den entsprechenden Implikationen erst im frühen 20. Jh. Welche Puzzleteile konnte Spengler dem Bild hinzufügen? c) Spenglers Beitrag zum Bild vom jüdischen römischen Recht Spenglers Kulturphilosophie bot einen neuen Ansatzpunkt, von dem aus der „jüdisch-orientalische“ Einfluss zu erklären war. Grundsätzlich kommen drei Teilideen in Betracht, die es bei Spengler besonders plausibel erscheinen ließen, dass das römische Recht jüdisch sei. Zum Ersten die Datierung des Endes der römischen Kultur mit dem Ende der Republik. Zum Zweiten die häufig geäußerte Vorstellung, die „klassischen“ Juristen seien Aramäer. Und zum Dritten die Konstruktion einer arabisch-magischen Kulturseele. Vermutlich war der erste Punkt – die Festsetzung des Verfallsdatums der antiken Kultur auf das Ende der Republik – am wenigsten bedeutsam. Es wurden zu Zeiten Spenglers viele Verfallsdaten angeboten130 und auch 130
Der Untergang Roms ist ein klassisches Krisenbeispiel, welches häufig zum Verständnis jeweils zeitgenössischer Krisen herangezogen wurde. Alexander Demandt hat nachgezeichnet, wie häufig der Untergang Roms Gegenstand von Erörterungen war, und wie sich die Perspektiven und Aussagen änderten, je nach dem aus welcher Epoche der Betrachter stammte und welche Krise er für wichtig erachtete. Er kommt zu dem Ergebnis, dass „kaum ein anderes Ereignis der Weltgeschichte […] so viele, so erlauchte Geister beschäftigt und derartig unterschiedliche Beurteilung gefunden“ hat (Demandt, Der Fall Roms, S. 494). Demandt machte deutlich, dass zu Spenglers Zeiten praktisch jede Epoche der römischen Geschichte als Startpunkt des Untergangs vertreten wurde. Historiker aller Couleur hatten von der römischen Frühzeit bis 476 n. Chr. eine Vielzahl von Daten genannt, die jeweils den Beginn des Untergangs markieren sollten. Wählt man aus Demandts Untersuchung nur diejenigen Autoren aus, die zu Lebzeiten Spenglers publiziert haben, so ergibt sich folgendes Bild: Wilamowitz (1897, S. 7) legte den Beginn des Verfalls auf die Zeit um 300 n. Chr., also in die diokletianische Herrschaft. So auch Rostovtzeff (1925, S. 29 und S. 210) der als „Keim des Verfalls“ die von Diokletian eingeführte „orientalische Zwingherrschaft“ ansah. Bei Rohrbach (1914, S. 139) begann der Verfall 235 mit dem Aufstieg der Soldatenkaiser. Für Nilsson (1927, S. 476) befand sich der Beginn des Untergangs in der Regierungszeit des Marc Aurel (161–180 n. Chr.). Eduard Meyer (DLZ 1924, S. 1779) sah den Verfallsbeginn am Ende des 1. Jh. n. Chr. Für Max Weber (1896/1968, I2) lag der Wendepunkt 9. n. Chr. in der Varusschlacht. (Theodor) Mommsen (Römische Geschichte III, S. 477) konstatierte, dass mit Caesar das römische Wesen innerlich starb und vertrocknete. Ähnlich erblickte Westermann (1915/70, S. 131 ff.) in Caesars Regierungszeit den Übergang zum Tod des römischen Reiches, wobei sich bereits vorher, in der Politik der Gracchen und ihrer Gegner eine Trendwende abzeichnete. Alfred Weber (1935/63, S. 176) sah in der Schlacht bei Pydna 168 v. Chr. den Verfallsbeginn. Ruhland (1903/41, S. 342) schließlich sah den Prozess des Untergangs seit der sogenannten servianischen Verfassung. (Demandt, Der Fall Roms, S. 198 ff.). Betrachtet man die Antike als Ganzes und sucht nach dem Beginn ihres Verfalls, so ergaben sich freilich noch frühere, auch zu Spenglers Lebzeiten vertretene Auffassungen: Hammacher (1914, S. 351) ließ die Antike Kultur mit Platon unter-
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
unter Juristen war die Ansicht bereits verbreitet, es handele sich beim Corpus Iuris Civilis um das gescheiterte Endprodukt einer an sich lange sehr gut verlaufenen Entwicklung. Besonders drastisch drückten dies etwa Kuhlenbeck und Fuchs aus, die in dieser heftigen Form freilich nicht als Repräsentanten der etablierten Romanistik gelten konnten: Bei Kuhlenbeck begann der Verfall nach Ulpian.131 Ausdrücklich gegen Sohm schrieb er, dass im Zitiergesetz des Valentinian keine Vollendung, sondern „das traurigste Zeugnis geistiger Ohnmacht und Unfreiheit“ zu sehen war, „das die Geschichte gelehrter Arterienverkalkung aufzuweisen hat.“132 Fuchs schrieb: „Wir haben das getötete, misshandelte, in die Schmetterlingssammlung des corpus juris eingesperrte römische Recht übernommen.“133 Die ehemals lebendigen Rechtsfälle wurden „fossil“, so Fuchs, da man ihnen „Fleisch und Blut“ abstreifte sie „mit möglichst kurzem Tatsachengerippe in ein corpus iuris“134 einklebte. Hedemann formulierte 1935 weniger aufgeregt, dass inzwischen der Unterschied zwischen dem „reinen, älteren, gesunden“ Römerrecht und dem „späten byzantinischen Verfallsrecht in den Vordergrund der Aussprache gerückt“ sei.135 Zu der groben Feststellung, dass das Corpus Iuris nicht mehr originär klassisch römisch sei, konnte Spengler wenig hinzufügen. Wie stand es mit dem zweiten Baustein Spenglers, der Behauptung, die klassischen Juristen seien allesamt Aramäer gewesen? 136 Aufgrund der Sprachverwandtschaft zwischen dem Hebräischen und dem Aramäischen, der geographischen Nähe, und der Einigkeit im Monotheismus konnte „aramäisch“ in der populären rassistischen Denkweise der Zeit schon fast mit „jüdisch“ gleichgesetzt werden. Schließlich handelte es sich bei beiden Völkern um Semiten.
gehen, Seeck (1898, S. 103) und Krauß (1903, S. 203) begriffen den Peloponnesischen Krieg ab 432 v. Chr. als den Verfallsbeginn. Walter F. Otto (1923, S. 47) schließlich verlegte den Untergang bald nach Homer. Demandt beendete die Aufzählung mit den Worten: „So nähern wir uns der Vertreibung aus dem Paradiese. Gibt es noch ein Ereignis, das bisher noch nicht für den Beginn der Dekadenz in Anspruch genommen worden ist, so wird es vermutlich nicht mehr lange dauern, bis es geschieht.“ (Demandt, Der Fall Roms, S. 202 f.). 131 Kuhlenbeck, Die Entwicklungsgeschichte des Römischen Rechts, S. 311; siehe zu Kuhlenbeck generell: Julia Szemerédy, Ludwig Kuhlenbeck – Ein Vertreter sozialdarwinistischen und rassentheoretischen Rechtsdenkens um 1900, Diss. Zürich 2003, Zürich 2003. 132 Kuhlenbeck, Die Entwicklungsgeschichte des Römischen Rechts, 1. Bd., S. 348. 133 Fuchs, Juristischer Kulturkampf, S. 96. 134 Ebda., S. 96. 135 Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX. Jahrhundert, 2. Teil, 2. Halbband, Berlin 1935, S. 347. 136 Siehe hierzu Fn. 30, S. 181.
II. Romanistische Kritik an Spengler
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Zumindest bei Chamberlain137 wurden die Autoren des klassischen römischen Rechts auch bereits vorher schon ausgiebig und lautstark als Semiten und Orientalen denunziert.138 Spenglers Aussagen bot den juristischen Rassenideologen zusätzlichen Stoff, aber nicht viel Neues im Vergleich zu Chamberlain. Neu war an Spengler allein die Perspektive, die seine Kulturphilosophie eröffnete. Das römische Reich ging nach Spenglers Philosophie kulturmorphologisch notwendig unter, nicht aufgrund einer Rassenvermischung, wie bei Chamberlain und Kuhlenbeck. Die dann neu erwachende magische Kulturseele deckte nicht nur geographisch den „orientalischen“ Raum ab, sondern umfasste alle großen Offenbarungsreligionen, also insbesondere auch das Judentum. Spengler schilderte dies ohne rassistische Hintergründe und stellte die „Umwertung“ des römischen zum magisch-arabischen Recht als ein wiederum kulturmorphologisch notwendiges Ereignis dar. Die Zusammenführung von „jüdischem Charakter“ mit der „orientalischen Welt“ und der Inkorporation von alten römischen Rechtsregeln in eine neue Kulturseele konnten auf diese Weise deutlicher zusammenhängend gedacht werden, als dies vorher der Fall war. Die kulturmorphologische Notwendigkeit in dieser Entwicklung muss betont werden, um den Unterschied zu Chamberlain möglichst scharf zu zeichnen. Die Entwicklungen, die Spengler schilderte, verstand er als zwingend und unumkehrbar. Die antike Kultur müsse nach 1000 Jahren in den Zustand der Zivilisation übergehen und die magische Kulturseele, also auch die Juden und Christen seien gezwungen gewesen den erstarrten Rechtsstoff ihrer Kultur anzupassen.
137
Siehe zu Chamberlain neuerdings die sprachwissenschaftliche Arbeit Anja Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlain – Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung, Berlin 2008. Biographisches zu Chamberlain findet sich bei Geoffrey G. Field, Evangelist of Race: The Germanic Vision of Houston Stewart Chamberlain, New York, 1981. 138 Der Rassenideologe ging davon aus, dass die römischen Prinzipaten – anders als die griechischen Tyrannen – versuchten ihre Herrschaft als die „Blüte, die Vollendung der ganzen [staats-]rechtlichen Entwicklung Roms“ (Chamberlain, Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 1. Bd., S. 153) zu betrachten. Chamberlain sieht hier den Einfluss „orientalischer Rechtslehrer“ (ebda.). Chamberlain betonte insgesamt den griechischorientalischen bzw. semitischen Einfluss auf das Corpus Iuris Civilis. Ohne genauere Präzisierungen schimpft er, dass die „asiatische [...] Prinzipienreiterei der sogenannten ‚klassischen Juristen‘“ (S. 160) Ulpian veranlasst habe, einen gänzlich unrömischen Begriff des Naturrechtes einzuführen. Überhaupt sei die klassische Jurisprudenz „fast ausschließlich von Griechen (mehr oder weniger semitischer Abstammung) begründet und durchgeführt“ (S. 173 f.) worden. Über Gajus schreibt Chamberlain nur einen Satz, aus dem hervorgeht, dass die Juden ihn als Landsmann ansehen, und dass die „Geschichtswerke berichten, er sei ‚nicht tief, aber sehr beliebt‘ gewesen“ (S. 161).
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
Freilich lässt sich nicht abschließend beurteilen, wie stark der Einfluss Chamberlains und Spenglers war. Klar ist, dass die Idee eines „verjudeten“ römischen Rechts auf ihren Gedankengebäuden ruhen konnte. Bemerkenswert ist allerdings, dass sowohl San Nicoló und Koschaker als auch Schulz ihre Aufgabe darin sahen, Spengler zu widersprechen. Die kruderen und intellektuell weniger reizvollen Gedanken Chamberlains wurden noch seltener aufgegriffen als diejenigen Spenglers. Die maßgeblichen Romanisten haben vor allem in Spengler den Ursprung vom Bilde des jüdischen römischen Rechts gesehen, oder dies zumindest offiziell so geäußert. Dahinter könnte freilich auch der „offizielle“ Rangunterschied zwischen Spengler und Chamberlain stehen. Während man dem ab 1933 bekämpften Spengler gefahrlos widersprechen durfte,139 wurde Chamberlain durch die Nationalsozialisten stark verehrt.
III. Die Germanisten und das „faustische“ Recht III. Die Germanisten und das „faustische“ Recht
Bei den Romanisten fand sich also kaum eine Spenglerrezeption. Nach alldem ist zu erwarten, dass die Germanisten reiflich Bestätigung und zahlreiche Anregungen in Spengler finden konnten. Dies gilt es im Folgenden zu überprüfen. Dabei ist wiederum von der Darstellung Spenglers auszugehen. 1. Spenglers Version der germanischen Rechtsgeschichte Das Wesen der abendländischen Kulturseele nach Spengler wurde bereits erörtert.140 Ihre faustische abstrakte und zur Unendlichkeit strebende Mentalität erkannt Spengler auch in der germanischen Rechtsgeschichte. Die Spuren der faustischen Kulturseele fand Spengler aber – anders als bei der Darstellung der antiken Seele im römischen Recht – nicht in konkreten germanischen Rechtsinstituten. Was Spengler stattdessen erzählte, war die Geschichte der Verdrängung des abendländischen Rechtsdenkens durch die Wiederentdeckung der Pandekten um 1050 n. Chr. Spengler sprach davon, dass das Corpus Iuris ein fertiges Gedankengebäude bereitgestellt habe, welches von Beginn an die abendländische Seele hinderte, eigene Rechtsbegriffe auszubilden.141 Rechtssammlungen, die der abendländischen Kultur eher entsprachen, wie der Sachsenspiegel von 1230 und der Schwabenspiegel von 1274, seien durch das rezipierte römische Recht verdrängt worden. Das BGB und die 139
Siehe oben S. 22 f. Siehe oben S. 27 f. 141 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 93 f. 140
III. Die Germanisten und das „faustische“ Recht
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gesamte Arbeit des 19. Jh. seien zwar nach Spengler ein Schritt in die richtige Richtung, aber es „hat uns nur von dem Buch Justinians befreit, nicht von dessen Begriffen.“142 Spengler definierte es als eine Aufgabe der Zukunft, die rechtlichen Grundwerte des abendländischen Lebens erstmals zu erfassen.143 Spengler hob innerhalb der abendländischen Rechtsordnung mitunter das normannische bzw. englische Recht hervor. Von fremden Rechten wenig beeinflusst, habe es sich seinen „rein germanischen Geist“144 erhalten. Blackstones Kommentar des englischen Rechts von 1765 wurde von Spengler als „der einzig rein germanische Kodex an der Schwelle der abendländischen Zivilisation“145 angesehen. Eine unterschiedliche Betrachtung der englischen und deutschen Grundvorstellung vom Wesen des Eigentums wurde im zweiten Band des Untergangs lediglich angedeutet, und das obwohl Spenglers Schrift „Preußentum und Sozialismus“, die viel detaillierter auf eben diesen Vergleich einging – und im Übrigen ebenfalls reißenden Absatz fand146 –, bereits über 2 Jahre zuvor publiziert worden war. Insbesondere die Charakterisierung des deutschen Verständnisses vom Eigentum als etwas sozial Gebundenem, was dem Wohle aller diente,147 tauchte im zweiten Band des Untergangs nicht mehr auf.
142
Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 95. Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 19, S. 96. 144 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 18, S. 89. 145 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 18, S. 92. 146 Felken, Spengler, S. 95 ff. 147 Nach Spenglers Ausführungen in „Preußentum und Sozialismus“ ist die germanisch-deutsche Vorstellung vom Eigentum eine sozialistische, aber nicht marxistische. Spengler bemühte als Beispiel ein mittelalterliches Lehensverhältnis in dem der Lehensnehmer einerseits durch Treuepflichten gebunden ist, aber andererseits eine relativ große Freiheit in der Bewirtschaftung seines Lehens hat. Das deutsche soziale Verständnis vom Eigentum grenzte Spengler von der englischen liberalen Vorstellung ab, die Eigentum als private Beute ansieht. Spengler argumentierte hier auch mit einer sozialen deutschen oder preußischen Seele, die der liberalen englischen Seele gegenübergestellt werde. (Spengler, Preußentum und Sozialismus, S. 32 ff., gesamter 10. Abschnitt, 17. Abschnitt, insbesondere zur Abgrenzung zu Marx S. 71 ff.). Siehe hierzu auch Koktanek, Spengler, S. 234 f. und Clemens Vollnhals, Praeceptor Germaniae. Spenglers politische Publizistik in: Alexander Demandt/John Farrenkopf (Hrsg.), Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, Köln 1994, S. 177. Beachtlicht ist, dass Spengler in der 1924 veröffentlichten Schrift „Neubau des deutschen Reiches“ wieder sehr viel detaillierter auf die Unterschiede zwischen deutscher und englischer Seele und dem entsprechenden Recht eingeht (Spengler, Neubau, S. 239 ff.). Spengler hat also bewusst auf die detaillierte Darstellung der Differenzen des englischen und deutschen Rechts im „Untergang des Abendlandes“ verzichtet. Dies kann wohl damit erklärt werden, dass Spengler im „Untergang des Abendlandes“ generell 143
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
Bei der Abfassung der „Rechtsgeschichte des Abendlandes“ wie sie Spengler nannte, ging der Kulturphilosoph vermutlich grundlegend anders vor, als bei der antiken und arabischen Rechtsgeschichte. Spengler wollte hier von Anfang an darauf hinaus, dass das römische Recht die abendländische Rechtsentwicklung empfindlich gestört habe, und dass in seiner Gegenwart die richtige Blüte des abendländischen Rechts erst in der Zukunft zu entstehen beginnen könne. Die Darstellung des germanischen Rechts folgte alleine dieser Zielsetzung. Der Kulturphilosoph beschrieb also keine konkreten „faustischen“ Rechtsinstitute, etwa aus dem Sachsenspiegel. Er suchte nicht, wie Gierke, das germanische Wesen im Genossenschaftsrecht. Dies würde Spenglers Grundlinie zu sehr widersprochen haben. Ein der Kulturseele genügendes Recht durfte es nach seiner Rechnung noch nicht gegeben haben. Nach Spenglers zeitlicher Konzeption für das Abendland befand sich seine Gegenwart erst in seiner Phase, die „gleichzeitig“ zur klassischen148 antiken Rechtswissenschaft zwischen 200 v. Chr. und dem Ende der Republik lag. Die Jurisprudenz war in Spenglers Kulturmorphologie zusammen mit der Nationalökonomie149 stets die letzte Wissenschaft, die in einer Kultur zu Hochformen ausgebildet werde.150 Während etwa die abendländische Mathematik bei Spengler positiv beurteilt wurde, weil sie kulturmorphologisch notwendig mit Descartes um 1630 die abstrakte typisch abendländische Zahlenvorstellung entwickelte,151 war es für Spengler folgerichtig, die bisherigen abendländischen Rechtswissenschaftler für unverständige Dilettanten zu halten, die jedoch an ihrem Dilettantismus nicht schuld waren, insoweit sie kultmorphologisch notwendig ihre eigentliche Aufgabe bisher nicht begreifen konnten. Die Blüte der abendländischen Rechtswissenschaft konnte nach Spenglers Konzeption gerade erst entstehen. Da für Spengler das Ergebnis der Darstellung von vorneherein feststand, hatte er offenbar auch keine Standardwerke über deutsches bzw. germanisches Recht zur Rate gezogen. Was Spengler über die deutsche Rechtsentwicklung wissen wollte, konnte er sich bei Lenel, Wenger und Sohm nebenher anlesen. Es ging ihm nämlich weniger um das eigentliche sog. germanische Recht, als vielmehr um die Tatsache, dass es durch die Rezeption des römischen Rechts verdrängt wurde. Dem Kanon der zitierten
davon abgesehen hat die Kulturseelen weiter zu unterteilen. Hier gibt es eben nur die abendländische Seele und nicht die deutsche oder die englische. 148 Die für Spengler klassische Zeit, also von 200 v. Chr. bis zur Geburt Jesu. 149 Spengler, UdA II, Kapitel V, Abschnitt A 1, S. 589. 150 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 13, S. 71. Und zwar treten beide Disziplinen in einer Zeit auf, in der „Kunst und Philosophie unwiderruflich Vergangenheit geworden sind“ (Spengler, UdA II, Kapitel V, Abschnitt A 1, S. 589). 151 Siehe zur Gleichzeitigkeit oben S. 25.
III. Die Germanisten und das „faustische“ Recht
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Autoritäten der Romanistik stand kein Germanist gegenüber. Einzig Rudolf Sohm wäre zu nennen, freilich mit seinem Institutionenlehrbuch. Damit dürfte jedenfalls deutlich geworden sein, dass sich Spengler weder an der politischen Stimmung der Zeit (germanisch = sozial) oder an der Darstellung der germanischen Rechtsgeschichte eines spezifischen Rechtshistorikers orientierte. Seine Version der germanischen Rechtsgeschichte oder besser gesagt, seine Begründung dafür, warum man bisher noch keine germanische Rechtsgeschichte hat schreiben können, muss damit zumindest als ein eigenständiges Gedankenprodukt Spenglers bewertet werden. Fraglich ist damit allerdings, ob er damit für die germanistische Rechtshistoriographie anschlussfähig war. 2. „Spenglerisierte“ Spuren in der Rechtsgeschichtsschreibung über germanisches bzw. mittelalterliches Recht Betrachtet man Spenglers Ausführungen scheint ein Einfluss auf die Rechtsgeschichte extrem unwahrscheinlich. Dennoch fanden sich Juristen, die der Geschichte des germanischen Rechts „spenglerisierte“ Details hinzufügten. Hervorzuheben ist dabei insbesondere ein Aufsatz des Amtsgerichtsrats Alfred Müller, veröffentlichte im Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. Hier analysierte er das historische römische und germanische Recht genauer unter der Perspektive von Statik und Dynamik nach Spengler. Über den Kulturphilosophen hinausgehend beleuchtete Müller jeweils kurz das Recht der antiken Personenverbände,152 das römische Pfandrecht,153 das Obligationenrecht,154 das Erbrecht155 und die Konzeption des römischen Staates156 unter „statischen Gesichtspunkten“. Er ging dabei von der durch Spengler definierten, statischen, antiken Kulturseele aus. Sodann begann eine pathetische Einleitung in das germanische Recht: „Das ‚Ursymbol‘ des abendländischen Menschen ist, wie Spengler sagt, nicht der Körper, sondern die Kraft. Das Recht ist für die abendländische Kultur eine im Gemeinschaftsleben wirkende Kraft. Das kommt schon in dem Worte ‚Recht‘ selbst zum Ausdruck. Recht ist das Gerichtete, im subjektiven Sinne das Richtung gebende. […] Als Kraft hat das Recht ‚Wirkungen‘. Sie bestehen in subjektiven Rechten und Pflichten.“ 157
Die „Kraft“ als Ausgangspunkt des deutschen Rechts führe also zu subjektiven Rechten und Pflichten als Wirkungen. Was bedeutete das bei Müller 152
Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 530. Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 534. 154 Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 534 f. 155 Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 535. 156 Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 536. 157 Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 536 f. 153
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
konkret? Spengler beantwortete diese Frage nur für die Zukunft. Müller aber projizierte Spenglers Konzept des Faustischen in historische Beispiele: „Schon das altgermanische Recht, das den abstrakten Begriff der Rechtsfähigkeit noch nicht kennt, bestimmt deren Maß nach der im konkreten Falle vorhandenen Fähigkeit, dieses oder jenes zu wirken. Im vollen Sinne rechtsfähig ist der ‚Heermann‘, der heerfähige, der eine Hand (munt) hat, die das Schwert zu führen vermag […] Während aber die römische manus die Hand ist, die etwas ergreift und hält und so die Lage zweier Körper zueinander bestimmt, ist die abendländische munt die schwertführende, schützende, verteidigende Hand, das Symbol einer wirkenden Kraft.“ 158
Hier wurde sehr deutlich anhand von Spenglers Deutungsschema gearbeitet. Auf den ersten Blick erschienen manus und munt gleichen Ursprungs. Aber Müller erkannte mit Spengler, dass es der germanischen munt auf die Kraft ankomme, während die römische manus körperliche Dinge bewegt. Diese Grundeinteilung wurde dann wiederum mit dem alten Schema römisch-liberal(istisch)/germanisch-sozial verbunden: „Die munt gewährt nicht nur Rechte, sondern legt auch Pflichten auf. Nirgends wird daher im abendländischen Recht der Knecht als Sache angesehen.“ 159
Weil der Knecht nicht als Sache angesehen wurde, wozu der römisch-statisch-liberale Gedanke zwingend führe, habe der Herr auch Pflichten ihm gegenüber. Gerade aufgrund der Verpflichtung gegenüber dem Untergebenden, dürfe dieser nicht als Sache angesehen werde. Die Rechtsfähigkeit behalte man, so Müller, nach germanischem Recht, solange man die Aufgaben auszuführen imstande ist, die dem jeweiligen gesellschaftlichen Stand entsprechen: „Im Siechtum kann keine gültige Verfügung über das Vermögen getroffen werden. Es wird vorher eine Kraftprobe verlangt: der Ritterbürtige muß gewappnet das Roß besteigen, der Bauer eine Furche pflügen, die Frau einen Kirchgang tun. […] Die Rechtsfähigkeit endet, wenn die Fähigkeit zu wirken aufhört.“ 160
All dies referierte Alfred Müller, Amtsgerichtsrat aus Ölsnitz im Vogtland, ohne sich auf die bestehende germanistische Forschung oder auch nur einen konkreten germanischen Rechtstext zu beziehen. Sein alleiniges Leitbild war Spengler, mit dem er die germanische Rechtsvergangenheit, um des zukünftigen Rechts willen, besser verstehen lernen wollte. Er ging dabei weit über den Kulturphilosophen hinaus, indem er ein konkretes Rechtsinstitut des germanischen Rechts mit Hilfe von Spenglers Philosophie neu erklärte. Ähnlich verfuhr Müller noch mit weiteren Fragen des
158
Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 537. Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 537. 160 Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 538. 159
III. Die Germanisten und das „faustische“ Recht
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alten deutschen Rechts, wie dem genossenschaftlichen Denken,161 der juristischen Person,162 dem offenen Sachbegriff,163 der Gewere.164 Auch Hans Fehr beschrieb die deutsche Rechtsvergangenheit nach seiner Spenglerlektüre unter faustisch-dynamischen Vorzeichen. Sein Schwerpunkt lag aber auf dem dynamischen Recht der Zukunft. Er beschrieb nur wenige Rechtsinstitute der Vergangenheit, die er spenglerisch interpretierte. Wie schon Müller hielt auch er die Gewere für ein wichtiges Beispiel: „Die Gewere ist ein dynamischer Begriff, der sich mit Hilfe der römischen Denkweise nicht einfangen lässt. Die Gewere ist eine Funktion. Sie ist eine Wirkung einer bestimmten Rechtslage“165 schrieb Hans Fehr 1928. Was er damit meinte, machte er an einem Beispiel aus dem Lehnsrecht des Sachsenspiegels deutlich: Der Sachsenspiegel enthalte die Regel, dass die Gewere an einem Grundstück derjenige habe, „der das Gut in ‚Nutz und Gelde‘ habe und den Zins daraus ziehe.“166 Auf die Verwendung des Gutes werde abgestellt und damit auf eine Wirkung und eine Funktion. Nicht auf 161
Ebenso, wie mit der Rechtsfähigkeit, verfuhr Müller auch bei der Durchdringung des genossenschaftlichen Denkens der Germanen (Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 538 ff.). Hierbei verliefen seine Begründungsmuster aber viel näher an den herkömmlichen Bildern des germanischen Rechts. 162 Nur in einem Punkt hörte man Spengler deutlich aus den Zeilen heraus: Die juristische Person, so Müller, als selbstständiger Anknüpfungspunkt für Rechte und Pflichten, habe sich sehr früh im germanischen Recht entwickelt, weil „das auf die Dauer gerichtete Denken des abendländischen Menschen“ dies verlangt habe. „Der Mensch stirbt, die juristische Person überdauert ihn.“ (S. 540) Zudem überlegte Müller, dass eine der ersten Problemfelder der abendländischen Rechtswissenschaft die juristische Person war: „Man fragte dabei nicht, wie kann sie Person sein, da sie unkörperlich ist, sondern man fragte, wie kann sie Person sein, da sie keinen Willen hat wie der Mensch.“ […] „Wille sagt Spengler, ein in seiner Tiefe seiner Bedeutung nur zu erfühlendes Urwort der faustischen Kultur, bringt das Richtungsgefühl im Gegensatz zum Raumgefühl zum Ausdruck.“ (Ebda.). 163 Weiterhin argumentierte Müller, dass der ursprünglich germanische, offene Sachbegriff, durch die Rezeption des römischen Rechts unterdrückt worden sei, weshalb nach germanischen Recht ganze Güter, wie Rittergüter, Bauernhöfe oder Schmieden auch „mit ihrem Zubehör ein einheitliches Gut bildeten“ (Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 542). 164 Als Objekte der Gewere seien ganz unrömisch körperliche, wie unkörperliche Dinge in Betracht gekommen: „So gibt es Gewere an Zins und Zehnten, Amt und Vogtei, Patronat und Renten“ (Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 546). Insgesamt sind die Ausführungen Müllers über das germanische Eigentum aber so allgemein und ohne Anknüpfung an die Geschichte gehalten, dass man stets den Eindruck hat, es werde über die aktuellen Verhältnisse gesprochen. Gleiches gilt für Müllers allgemeine Erwägungen über das Recht der Schuldverhältnisse. 165 Fehr, Recht und Wirklichkeit. Einblick in Werden und Vergehen der Rechtsdogmen, S. 101. 166 Fehr, Recht und Wirklichkeit. Einblick in Werden und Vergehen der Rechtsdogmen, S. 101.
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
die abstrakte rechtliche Bindung komme es an, etwa auf die Verleihung eines Titels, sondern auf die zweckbestimmt tatsächliche Verwendung der konkreten Sache. Die Gewere an dem Gut erlösche nach dem Sachsenspiegel, wenn es nicht genutzt und unterhalten wurde.167 Fehr erklärte die Gewere im Sachsenspiegel also ausdrücklich mit Spenglers Kulturtheorie. Am intensivsten wendete ein junger Student namens Wilhelm NoltingHauff168 Spenglers Theorien auf die Rechtsgeschichte an. Er erlangt dadurch eine hohe Bedeutung für die vorliegende Arbeit.169 Nolting-Hauff beschäftigte sich wohl eine nicht unerhebliche Zeit seines Studiums mit dem Abfassen einer Doktorarbeit über „Die prinzipiellen Gestaltungsgegensätze des antiken und germanischen Verkehrsrechts im Lichte der Spengler’schen Kulturmorphologie“170. Noch vor seiner juristischen Staatsprüfung, die er am 24. Juni 1924 abschloss,171 unterschrieb er am 6. April 1924172 sein 234 Seiten starkes Manuskript.173 Nolting-Hauff steht damit im gewissen Maße für eine Juristengeneration, die bei Erscheinen von Spenglers zweitem Band – und möglicherweise auch durch ihn – ihre „intellektuelle Pubertät“ erlebten. Nolting-Hauff suggerierte zu Beginn und am Ende seiner Arbeit, er nähme eine neutrale Position ein, von der aus er überprüfen wolle, ob die spenglerschen Thesen vom statischen antiken Recht und vom dynamischen
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In die gleiche Richtung gehen Fehrs Ausführungen zum Eigentum in Sowjetrussland. Hier sieht er auch in der Rechtswirklichkeit einen vollkommenen Bruch mit dem römischen Eigentum, da der Besitz hier stärker geschützt ist als das Eigentum. Derjenige, welcher die Produktionsmittel tatsächlich nutzt, gehe dem Eigentümer vor. Weiterhin gehe in Streitfällen das Eigentum an einem Haus an denjenigen, der sich in letzter Zeit um das Haus tatsächlich gekümmert hat (Fehr, Recht und Wirklichkeit. Einblick in Werden und Vergehen der Rechtsdogmen, S. 125 ff.). 168 Nolting Hauf wurde in der Nachkriegszeit als Finanzsenator Bremens bekannt. Siehe zu dieser Zeit umfangreich Wittheit zu Bremen (Hrsg.), Wilhelm Nolting-Hauff – Senator für die Finanzen der Freien Hansestadt Bremen 1945–1962, Bremen 1972. 169 Klarstellend sei angemerkt, dass dies in keiner Weise die Bedeutung NoltingHauffs in der Rechtswissenschaft widerspiegelt. Sein Werk wurde weder damals noch heute in nennenswertem Umfang wahrgenommen. 170 Zwar verleitet der Teil seiner Arbeit zu der Annahme es gehe auch intensiv um das römische Recht, jedoch ist Nolting-Hauffs Perspektive insgesamt eher auf das Abendland, das BGB und das „Wesen“ des germanischen Rechts gerichtet. Deswegen wurde seine Arbeit nicht in dem Kapitel über römisches Recht angesprochen. 171 Dies lässt sich dem Lebenslauf entnehmen, welcher der veröffentlichten, vierseitigen Zusammenfassung beigefügt ist. 172 Wilhelm Nolting-Hauff, Die prinzipiellen Gestaltungsgegensätze des antiken und germanischen Verkehrsrechts im Lichte der Spengler’schen Kulturmorphologie, Diss. Kiel 1924, S. V, S. 234. 173 Die für damalige Verhältnisse sehr umfangreiche Arbeit wurde also offenbar während des Studiums en passant erstellt.
III. Die Germanisten und das „faustische“ Recht
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abendländischen Recht haltbar seien.174 Tatsächlich setzte er sich von Anfang an die spenglersche Brille auf und erkannte dessen kulturphilosophische Thesen in der Rechtsgeschichte wieder. Ansätze einer ernsthaften Kritik an Spengler zeigten sich nicht.175 Insbesondere akzeptierte NoltingHauff auch Spenglers Vorgabe über das kulturelle Ende des römischen Rechts ab der Kaiserzeit und bemühte sich diese Interpretation mit der damals gängigen Ansicht über das klassische römische Recht zu vereinen176 – immerhin war sein Doktorvater der Romanist Richard Maschke.177 Gerade insbesondere für die Interpretation der Einteilung in res corporalis und res incorporalis178 bei Gajus betrieb Nolting Hauf einigen Aufwand.179 Faszi174
Nolting-Hauff, Die prinzipiellen Gestaltungsgegensätze des antiken und germanischen Verkehrsrechts im Lichte der Spengler’schen Kulturmorphologie, S. 2. 175 Nur an vereinzelten Stellen war Nolting-Hauff nicht mit Spengler einverstanden, was er dann jeweils kurz in Fußnoten erklärte. 176 Leicht fiel es ihm dabei noch – mit der herrschenden Meinung der Romanisten – in der Interpolation den Beweis dafür zu sehen, dass das römische Recht des 5. und 6. Jh., insbesondere das Corpus Iuris, kein originär antikes mehr gewesen sei. Von da aus tastete er sich weiter zurück. Mit Mitteis, von dem er eine Stelle übernahm, die auch Spengler wörtlich zitierte, konnte er, noch auf romanistischem Boden, behaupten, dass schon in der vordiokletianischen Epoche „unter Beibehaltung der antiken Rechtsformen das Recht im Osten doch überall ein anderes geworden ist.“ (Nolting-Hauff, Die prinzipiellen Gestaltungsgegensätze des antiken und germanischen Verkehrsrechts im Lichte der Spengler’schen Kulturmorphologie, S. 6; Originalzitat bei Ludwig Mitteis, Römisches Privatrecht bis auf die Zeit Diokletians, Band I., Leipzig 1908, S. I). Nolting-Hauff ging dann aber noch einen Schritt weiter und verkündete, dass „(z)wischen Savius Julianus und Papinian […]in der römischen Rechtsgeschichte die große kulturhistorische Wende fühlbar“ (S. 6) gewesen sei. Vor allem in Salvus Julianus (ca. 105 bis 170 n. Chr.) und damit relativ früh, sah er das Ende der Klassik. Mit Spengler erkannte er in Papinian bereits einen Orientalen (S. 7 f.). Diese, für einen Rechtshistoriker frühe Datierung der Zivilisationsepoche des römischen Rechts, benötigte Nolting-Hauff für seine weitere Argumentation. Spengler, der das edictum perpetuum für „(d)as Ende der antiken Rechtschöpfung überhaupt“ (Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 15, S. 76) betrachtete, hielt gleichzeitig die „Institutionen des Gajus (um 161)“ für das letzte „uns sichtbare Denkmal des antiken Rechts“ (Spengler, S. 78). 177 Eine kurze Biographie findet sich in Richard Maschke, Die Willenslehre im griechischen Recht, Berlin 1926, S. IV f. 178 Klarstellend sei angemerkt, dass Nolting-Hauff damit nicht die Kategorien der Argumentationslehre vor Augen hatte, sondern eine rein juristische Differenzierung. 179 Spengler hatte die Institutionen des Gajus vermutlich nicht selber betrachtet. Sonst wäre ihm sofort deutlich aufgefallen, was seiner Deutung des statischen antiken körperverhafteten Rechts fundamental widersprochen hätte: Gajus Einteilung der Sachen in res corporalis und res incorporalis. Die Vorstellung, dass die Römer unkörperliche Dinge als Rechtsobjekte betrachteten, widersprach Spenglers Darstellungen fundamental. Spengler selber hätte den Widerspruch leicht ausräumen können, indem er schlicht erklärt hätte, dass die Institutionen des Gajus bereits zu weit in der Zivilisationsepoche entstanden waren, um noch wesenhaftes antikes Recht darzustellen. Doch Spengler waren die res incorporalis offenbar nicht aufgefallen oder er wollte sie ignorieren. Obwohl der Wider-
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
nierend ist die Mühe und Detailtiefe, die ein junger Jurist aufwendete, um Spenglers Ausführungen plausibel zu machen. Insbesondere argumentierte Nolting-Hauff dabei mit der Stoa und ihrer Bedeutung für die antike Jurisprudenz.180 spruch für einen im antiken Recht gebildeten Juristen auf der Hand liegen musste, machte sich nur einer vertiefte Gedanken hierzu: Wilhelm Nolting-Hauff: „Gajus und die Institutionen Justinians zählen als Beispiele unkörperliche Sachen auf: Die Erbschaft, den Nießbrauch, die Forderungsrechte und die Realservituten, – das sind sehr heterogene Elemente, auch die Definition der res incorporalis als ‚quae in iure consistunt‘ macht als solche schon einen ganz unrömischen Eindruck, und wenn wir bedenken, daß noch Cicero die Vorstellung einer res corporalis als ein Unding abgelehnt hat, so ist es immerhin nicht unmöglich, daß die betreffende Stelle bei Gajus später interpoliert worden ist. Jedenfalls ist dieser neue Begriff der res incorporalis als eine Verfallserscheinung zu werten, denn ein großer Teil der Größe des römischen Rechts beruhte auf der Identifizierung von Rechtsobjekten und körperlichen Sachen und der aus ihr sich ergebenden Konsequenzen, wie die strenge Scheidung von actiones in rem und in personam etc.“ (S. 31 f.). Nolting-Hauff begründete hier nicht näher warum die Definition ganz unrömisch sei. In der Tat verwendete auch Cicero und andere die Unterscheidung in Sachen, die gesehen und berührt werden können und solche, die nur dem Verstand zugänglich sind (Wojciech Dajczak, Der Ursprung der Wendung res incorporalis im römischen Recht in: Revue internationale des droits de l’antique 50 (2003), S. 97–118, S. 99). Tatsächlich besteht wohl heute Einigkeit darüber, dass der Terminus res corporalis als juristische Definition erst in den Institutionen des Gajus auftauchte (S. 97, m.w.N.). Uneinigkeit besteht bis heute über den Sinn der Unterscheidung zwischen res corporalis und res incorporalis bei Gajus (Dajczak, S. 97, m.w.N. in Fn. 5). Unzutreffend ist jedenfalls Nolting-Hauffs Behauptung, dass Cicero die Vorstellung von res corporalis ausdrücklich als ein Unding ablehnte. Er zitierte zwar eine Passage aus der Topik, hatte dieselbe aber wohl nicht besonders intensiv studiert. Eine entsprechende Aussage Ciceros war dort schlichtweg nicht zu finden. In der von Nolting-Hauff zitierten Stelle geht es Cicero um Definitionen und Argumentationen. Credo des Abschnittes ist, dass Dinge, die nicht gesehen und berührt werden können, definiert werden müssen, wenn mit ihnen und über sie argumentiert wird. Nolting-Hauff erläuterte weiter für jedes genannte Beispiel der res incorporalis, also Erbschaft, Nießbrauch, Forderungsrechte und Realservituten, wie unsinnig die Kategorie „incorporalis“ aus echter antiker Perspektive jeweils sei (S. 33 ff.). Ohne die Berufung auf weitere Autoren (außer Sokolovski) behauptete Nolting-Hauff etwa kurz, dass die Realservituten zu Zeiten Ciceros und Senecas noch als körperliche Sachen behandelt worden seien, was auch der Auffassung der stoischen Philosophie entsprochen habe (S. 32). Die könne auch durch Spenglers Hinweis auf die Parallelität zwischen euklidischen Mathematik und antiker Jurisprudenz belegt werden (S. 32, Fn. 21). 180 Die stoische Philosophie und deren Anwendung auf römisches Rechtsdenken etwa, hatte Spengler nicht in seine Rechtsgeschichte eingearbeitet. Für den Kulturphilosophen war der Stoizismus die Form der Zivilisation der Antike, so wie der Sozialismus die Form der Zivilisation für das Abendland war. Nolting-Hauff hatte sich vermutlich vor allem bei der Lektüre von Sokolowskis zweibändigem „Sachbegriff und Körper in der klassischen Jurisprudenz und der modernen Gesetzgebung“ einen anderen Begriff von der Stoa gemacht. Sokolowski beachtete bereits relativ früh die griechische Philosophie als einen wichtigen Hintergrund zum römischen Rechtsdenken. Bei Sokolowski konnte Nolting-Hauff nachlesen, dass der Stoiker alles Seiende überhaupt für etwas Körperliches
III. Die Germanisten und das „faustische“ Recht
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Insgesamt widmete sich Nolting-Hauff in seiner Dissertation vielen dogmatischen Fragen der abendländischen und antiken Rechtsordnung. Am längsten verweilte er bei den Sachen.181 Daneben wurden weitere Einzelthemen durch Spenglers Schema gepresst.182 Um eine Vergleichsmöglichkeit mit den anderen Autoren zu ermöglichen, sei hier vor allem noch erwähnt, was Nolting-Hauff zu Gewere schrieb, einem dezidierten Lieblingsthema der spenglerisierten Rechtsgeschichtsschreibung: „Gewere ist ursprünglich die äußerlich irgendwie erscheinende Willensmacht über ein der rechtlichen Herrschaft fähiges Objekt. Die Gewere war daher in ihrer Entstehung und in ihrem weiteren Dasein nicht durch das plastische Verhältnis des unmittelbaren Habens bedingt, wie der römische Besitz. Das zeigt sich schon beim originären Eigentumserwerb des germanischen Rechts sehr deutlich bei der Gewere des Jägers an dem verfolgten Wild, während der römische Besitz erst durch Einfangen, bzw. Erlegung des Tieres begründet wird. [...] Die Gewere ist nicht wie der römische Besitz Voraussetzung, sondern Wirkung, äußere Erscheinung, ‚Kleid‘ einer auf das betreffende Objekt gerichteten Willensmacht.“183
Wie alle anderen spenglerbegeisterten Autoren wies Nolting-Hauff auf die Willensmacht im germanischen Recht hin und wie alle anderen Autoren vorher fand er hierzu ein weiteres, bei Spengler nicht auftauchendes Beispiel. Der germanische Jäger habe bereits Gewere am verfolgten Wild gehabt, bevor er die Sachherrschaft über dessen Kadaver erlangte. Darin habe sich ein dynamischer, faustisch-abstrakter Charakter des Rechts gezeigt. Dieses Urbild germanischen Rechtsdenkens war so griffig, dass es Nolting-Hauff nicht durch konkrete Quellenangaben oder durch Beigabe eines historischen Kontextes der Relativierung preisgeben wollte.
hielt: „Etwas Körperliches sind dem Stoiker auch die aristotelischen Begriffe, körperlich ist die Stimme, das Tun und Handeln“ (Sokolowski, Sachbegriff und Körper in der klassischen Jurisprudenz und der modernen Gesetzgebung, Bd. 1, S. 43). Sokolowski kam zu dem Ergebnis, „daß im stoischen System niemals von einem Gegensatz von res corporalis oder incorporales die Rede sein konnte. Man unterschied nur das Körperliche als Seiendes vom nichts.“ (S. 44). Nolting-Hauff fand also bei Sokolowski, der ein damals noch wenig anerkannter Pionier auf diesem Gebiet war, Argumente um die Institutionen des Gajus als unantik hinwegzuinterpretieren. Da Sokolowski dererlei freilich niemals behauptete, musste Nolting-Hauff hochgradig selektiv vorgehen und sich „seinen“ Sokolowski zurechtschneiden. 181 Denen der dreißigseitige § 4 „Sache als Körper und Zweckeinheit“ und § 5 „Das Apprehensions- und das Funktionsprinzip“ gewidmet sind. 182 § 6 Das Substantial- und das Produktionsprinzip; § 7 Das Publizitätsproblem; § 8 Das Kausaproblem; § 9 Das Gemeinschaftsproblem; § 10 Kausalität; § 11 Unmöglichkeit; § 12 Verschuldens- und Verantwortlichkeitsprinzip; § 13 Das Stellvertretungsproblem; § 14 die Rechtsform. 183 Nolting-Hauff, Die prinzipiellen Gestaltungsgegensätze des antiken und germanischen Verkehrsrechts im Lichte der Spengler’schen Kulturmorphologie, S. 99.
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Obwohl der Fluchtpunkt seiner Ausführungen im modernen Recht lag, ging Nolting-Hauff immer wieder auf die frühen Formen des germanischen Besitzrechts zurück. So stellte er sich dem Unterschied zwischen leiblicher und ideeller Gewere,184 die Übertragung der Gewere durch Übertragung von Symbolen.185 Insgesamt gelangte Nolting-Hauff nach rund 230 Seiten unter dem Hinweis, dass nur „Grundsätzliches zur Sprache gekommen“186 sei und auch dieses „unmöglich lückenlos zur Darstellung gelangen“ konnte, zu dem Schluss, dass das antike und das abendländische Recht sehr wohl auf diese Weise dargestellt werden können, dass sich ihr Unterschied „mittels der Spengler’schen Deutung auf einen einzigen Grundgegensatz zurückführen“187 lasse. Weiter schrieb Nolting-Hauff: „Der gesuchte Grundgegensatz beruht in dem Aufbau des antiken Rechtsystems auf den Gegebenheiten der Person und der Sache als beseeltem und unbeseeltem Körper und der Gegründetheit der germanischen Rechtswelt auf die Tatsachen der Person und der Sache als Willens- und Zweckeinheit.“188 Damit kann insgesamt festgehalten werden, dass Müller, Fehr und Nolting-Hauf Spenglers Kulturphilosophie auf das germanische Recht anwendeten und davon überzeugt waren, einen neuen Schlüssel zu vertiefter Erkenntnis über das alte deutsche Recht in den Händen zu halten. Es gab aber auch einen Autor, der Spenglers Geschichte des mittelalterlichen deutschen Rechts sehr kritisch hinterfragte, Arthur von Fumetti, der von seiner Ausbildung her zumindest auch Jurist war und später kurzzeitig das Amt des sächsischen Justizministers bekleidete.189 Fumetti veröffent184
Nolting-Hauff löste den Widerspruch zwischen leiblicher Gewere und dem dynamisch-abendländischen Rechtsdenken, indem er die ideelle Gewere als das modernere, wesensmäßig abendländischere Rechtsinstitut erkannte. Spenglerisch-nebulös formulierte er mit einem naturwissenschaftlich entlehnten Bild der Energetik: „Durch den Übergang der Willensmacht infolge […] eines Dispositionspapieres etc. entsteht zwischen dem Erwerber und der erworbenen Sache bereits ein allerdings noch im Unsinnlichen gebundenes Gewaltverhältnis, das sich zu der leiblichen Gewere, die tatsächliche Ausübung der Willensmacht ist, wie potentielle zur kinetischen Energie verhält.“ (S. 105). 185 Als besonders germanisch erkannte Nolting-Hauff im Folgenden auch die Übertragung der Gewere an Sachen, durch die Übergabe von Symbolen, von der mittelalterlichen Schlüsselübergabe bis hin zum Übertragung des Eigentums durch Urkunden, „sodaß z.B. eine lagernde, bzw. eine schwimmende Ware mittels Übergabe des Lagerscheins übereignet werden kann.“ (S. 101). 186 Nolting-Hauff, Die prinzipiellen Gestaltungsgegensätze des antiken und germanischen Verkehrsrechts im Lichte der Spengler’schen Kulturmorphologie, S. 232. 187 Ebda. 188 Ebda. 189 Sein Wirken durch rechtsthistorische Schriften tritt stark zurück hinter seinem rechtspolitischen Engagement für die Aufwertung, welches ihm zwischen 1927–1929 den Posten des sächsischen Justizministers einbrachte (siehe Fumetti, Arthur Francis Hans Felix von in: DBE, 3. Bd. 1996, S. 539). Seine breiten Interessen – er studierte Rechts-
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lichte 1923 im Archiv für Kulturgeschichte einen Aufsatz mit dem Titel: „Grundlinien der Deutschen Rechtsentwicklung in Hinblick auf eine Morphologie der ‚faustischen‘ Kultur“190. Anders als bei vielen anderen war v. Fumettis Blick intensiver auf den Zusammenhang zwischen der Rechtsgeschichte und Spenglers Gesamtwerk, gleichzeitig aber auch auf akademische Rechtsgeschichte im Verhältnis zu den übrigen akademischen Disziplinen gerichtet. Im Zentrum stand dabei das mittelalterliche deutsche Recht. Doch auch v. Fumetti wurde wiederum seinerseits in der akademischen Welt nicht mit seinem Aufsatz wahrgenommen. Das lag auch daran, dass er für seine Zeit ungewöhnlich kritisch mit den historischen Quellen umging. So betonte er, dass alle Aussagen in gängigen Lehrbüchern über frühgermanische Rechte ihrerseits auf Hypothesen und Vermutungen beruhen.191 Das Bild, das man sich vom germanischen Recht mache, sei „kein rein aus den Quellen gewonnenes, sondern in sie hineingelegt, orientiert an dem was wir glauben für diese Kulturstufe annehmen zu dürfen.“192 Gegen die Annahme eines spezifisch germanischen „Geistes“ oder einer abendländischen „Seele“ in den Volksrechten führte von Fumetti die Ergebnisse der Rechtsethnologie und der Psychologie ins Feld.193 Von Fumettis Argumentation war gegen die damals häufig und insbesondere von Spengler vertretene These gerichtet, nach der das spezifische germanische Recht einem spezifischen germanischen (bzw. bei Spengler abendländischen) Geist entspreche. Insbesondere die Forschungen von Albert Hermann Post führten Fumetti eher zu der Annahme, dass auf einer geringen Kulturstufe universelle rechtliche Gemeinsamkeiten bei verschiedenen Völkern existieren. Seine weitergehende Kritik hielt nicht nur Spengler eine weniger nationalistisch-germanophile Version der Rechtsgeschichte entgegen. Vielmehr nahm v. Fumetti Spengler zum Anlass, um der germanistischen For-
wissenschaft, Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie – wurden in einem weiteren Tätigkeitsfeld wohl besser repräsentiert: Bis zu seiner Zeit als Justizminister war von Fumetti Dozent am Institut für Kultur- und Universalgeschichte in Leipzig. Das thematisch Spengler sehr nahestehende Institut hatte den Kulturphilosophen 1921 zu einem Vortrag eingeladen (Koktanek, Spengler, S. 354 f.). 1933 wurde sogar erwogen Spengler als Leiter des Instituts zu berufen, was dieser aber ablehnte (Koktanek, Spengler, S. 451 f.). 190 Arthur von Fumetti, Grundlinien der deutschen Rechtsentwicklung in Hinblick auf eine Morphologie der „faustischen“ Kultur in: Archiv für Kulturgeschichte 15 (1923), S. 243–282. 191 Ebda., S. 249 ff. 192 Ebda., S. 251. 193 Ebda., S. 252. Zur Psychologie weist von Fumetti auf Simmel und Freud hin, zur Rechtsethnologie vor allem auf Post.
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
schung ihre Probleme aufzuzeigen. Deswegen wurde auch er – ebenso wie Spengler – allenfalls en passant abgelehnt.194 3. Einfluss auf weitere Autoren? Ein Blick in die Lehrbücher zur deutschen Rechtsgeschichte Während Spengler selber kaum Anknüpfungspunkte bereitstellte, die für einen Abgleich mit rechtshistorischen Schriften von Germanisten tauglich waren, lieferten Nolting-Hauff, Müller, Fehr und der kritische v. Fumetti eine Reihe von deutlich spenglerischen Interpretationen von konkreten Rechtsinstituten der germanistischen Vergangenheit. Dabei wurde vor allem die Gewere und zwei Mal sehr ausführlich das germanische Konzept der Rechtsfähigkeit bzw. die munt unter den Vorzeichen der abendländischen Kulturseele neu durchdacht. Es bot sich daher an, nach den entsprechenden Termini „munt“ und „gewere“ weitere rechtshistorische Literatur der Zeit abzuklopfen. In keinem der untersuchten rechtshistorischen Standardwerke der Zeit fanden sich die entsprechenden Themen so, wie sie von Nolting-Hauff, Müller und Fehr dargestellt wurden.195 Zwar konnte man dort des Öfteren, insbesondere wenn den entsprechenden Werken ein Kapitel über das Wesen des germanischen Rechts vorangestellt war, Mannigfaltiges über die soziale Gebundenheit bei gleichzeitiger persönlicher, durch Verantwortung ausgefüllter Freiheit lesen. Ebenso präsent war die Verbindung von „öffentlichem“ und „privatem“ Recht, die Bedeutung der Treue und der besonderen Volksnähe des Rechts. Dies kann jedoch nicht als ein zwingender Hinweis auf Spengler gewertet werden. Es waren Zeitgeist194
Hans Erich Feine, Von der weltgeschichtlichen Bedeutung des germanischen Rechts. Rede gehalten am 18. Januar 1926 in der Aula der Universität Rostock, Rostock 1926, S. 24, Endnote 1. 195 So findet sich kein Verweis in (aufgelistet nach Datum des Erscheinens) Claudius Freiherr von Schwerin, Der Geist des alten germanischen Rechts in: Hermann Nollaus (Hrsg.), Germanische Wiedererstehung. Ein Werk über die germanischen Grundlagen unserer Gesittung, Heidelberg 1926, S. 205–291; Heinrich Brunner, Claudius Freiherr von Schwerin, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 8. Aufl. München und Leipzig 1930; Rudolf Hübner, Grundzüge des deutschen Privatrechts, 5. Aufl. Leipzig 1930; Hans Planitz, Grundzüge des deutschen Privatrechts mit einem Quellenbuch, 2. Aufl. Berlin 1931; Richard Schröder, Eberhard Freiherr von Künßberg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 7. Aufl. Berlin und Leipzig 1932; Fritz Markull, Der deutsche und der römische Rechtsgedanke, Hamburg 1935; Johann von Leers, Deutsche Rechtsgeschichte und deutsches Rechtsdenken, Berlin, Leipzig, Wien 1939; Claudius Freiherr von Schwerin, Germanische Rechtsgeschichte. Ein Grundriss, 2. Aufl. Berlin 1944; Hans Planitz, Germanische Rechtsgeschichte, 3. Aufl. Berlin 1944. Merk, Vom Werden und Wesen des deutschen Rechts, enthält zwar sporadische Hinweise auf Spengler, die sich jedoch immer auf die aktuelle politische Lage und die WRV beziehen (etwa S. 52). In dem Kapitel über die „Eigenart des älteren deutschen Rechts“ ist nichts dergleichen zu finden.
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themen, die von den modernen Autoren in die alten Quellen hineingetragen wurden.196 Eindeutigere Hinweise auf den Kulturphilosophen waren jeweils nicht zu finden.197 Freilich wurde teilweise betont, teilweise vorsichtig angedeutet, dass die Rechtsfähigkeit nicht an ein festes Alter, sondern nach „individueller Entwicklung“198 beurteilt wurde. In diesen Fällen betonten die Rechtshistoriker aber nicht so sehr wie etwa Müller, dass es darauf ankomme „dieses oder jenes zu wirken“199. Die Spenglerianer hoben das Dynamische, die Kraft, das Funktionelle viel stärker als Prinzip hervor als dies die anderen Autoren taten. Gleiches galt für die Darstellung der Gewere. Auch hier wurde teilweise wie bei Fehr mit demselben Sachsenspiegelzitat betont, dass es darauf ankomme, ein Grundstück „in Nutz und Geld“200 zu haben, also tatsächlich die Nutzungen daraus zu ziehen. Fehr betonte aber deutlicher als alle anderen, dass „(d)ie Gewere ein dynamischer Begriff“ sei, „eine Funktion […] die Wirkung einer bestimmten Rechtslage. […] Auf die Wirkung wird alles abgestellt“.201 Wer ein Gut nicht bewirtschaftete, wer keine Wirkungen durch das Gut erzielte, der habe auch den Rechtstitel der Gewere nicht innegehabt. Fehr meinte, durch Spenglers Ideen, tiefer und deutlicher in das Wesen des germanischen Rechts vorgedrungen zu sein. Insgesamt wurde Spengler also von den Germanisten eher ignoriert. Auch gelegentlich auftauchende Spenglerzitate in Einleitungen,202 die eher als rhetorisch reizvoller Sinnspruch, denn als ernsthaftes Deutungsschema auftraten, wurden nicht gutgeheißen.203 In einer Fußnote von Hans Erich Feine fand sich Spengler neben Walter Merk, um zu belegen, dass das „germanische Recht […] an Fruchtbarkeit und Bedeutung dem römischen
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Sehr ausführlich hat dies für die Zeit des Nationalsozialismus, und – wenn auch verkürzt, aber dennoch nicht weniger plausibel – für die Weimarer Republik dargelegt: Nunweiler, Das Bild der deutschen Rechtsvergangenheit und seine Aktualisierung im „Dritten Reich“, S. 325 ff., insbesondere S. 328 ff. und 343 ff. 197 Solche Kapitel finden sich etwa bei Merk, Vom Werden und Wesen des deutschen Rechts, S. 55–95; Markull, Der deutsche und der römische Rechtsgedanke, S. 8–50; teilweise haben ganze Bücher nur diesen Inhalt, so Wilhelm Fuchs, Deutsches Recht. Recht und Gerechtigkeit in zwei Jahrtausenden deutscher Rechtsgeschichte, Leipzig 1934. 198 Hübner, Grundzüge des Deutschen Privatrechts, S. 64. 199 Müller, Statisches und dynamisches Recht, S. 537. 200 Schröder, von Künßberg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, S. 783. 201 Fehr, Recht und Wirklichkeit, S. 101. 202 So etwa bei Hans Wilfert, Phillip von Leyden, Stuttgart 1925, S. 10. 203 Rudolf Hübner, Rez. Wilfert, Phillip von Leyden in: ZRG GA 45 (1925), S. 527– 528, S. 528: „(D)en zwar großartig klingenden, aber doch recht inhaltslosen Ausspruch Spenglers […]: ‚Nicht das Geschaffene wirkt ein, sondern das Schaffende nimmt auf‘, erscheint wenigstens dem Ref. höchst überflüssig.“
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Recht mehr als gleichgestellt“204 gewesen sei. Weitere Erläuterungen zu Spengler finden sich hier nicht. Warum wurden Nolting-Hauff, Müller und Fehr ignoriert? NoltingHauff – der Autor der mit seiner umfangreichen Dissertation das größte Anknüpfungspotential für weitere Erörterungen bot – wurde wohl vorwiegend deshalb nicht rezipiert, weil seine Doktorarbeit niemals publiziert wurde.205 Verbreitung fand nur eine vierseitige Zusammenfassung, die heute noch in vielen Bibliotheken zu finden ist. Diese enthielt aber freilich kaum interessante Details. Das einzige existierende Exemplar von NoltingHauffs Arbeit – etwaige in Kiel vorhandene Exemplare sind wahrscheinlich dem 2. Weltkrieg zum Opfer gefallen – befindet sich heute in der Staatsbibliothek Berlin.206 Es handelt sich vermutlich um das eingereichte Originalmanuskript, erkennbar an vielen handschriftlichen Korrekturen.207 Noch nicht einmal der Doktorvater, der wenig bekannte Romanist Richard Maschke208, kam dazu, die Arbeit zu verwenden, bevor er 1926 verstarb.209 Insgesamt muss auch betont werden, dass neben Fehr – der in rechtshistorischer Perspektive die wenigsten Zeilen beisteuerte – kein bekannter Gelehrter unter denjenigen zu finden war, die Spenglers Kulturphilosophie für das germanische Recht weiterdachten. Im Übrigen kann nur über die Gründe für das Desinteresse spekuliert werden. Neben den gängigen Motiven (Spengler galt als Dilettant, wenn auch als „großer“, der zudem nach 1933 in Ungnade fiel) wird es eine Rol204
Feine, Von der weltgeschichtlichen Bedeutung des germanischen Rechts, S. 4. Der erst 1913 eingeführte Druckzwang für Dissertationen wurde schon im Ersten Weltkrieg in Zuge der Papierknappheit wieder eingeschränkt und trat erst 1925 wieder in Kraft (vgl. Klaus Schnieders, Druckzwang für Dissertationen und Dissertationentausch, Köln 1972, S. 15 ff.). 206 Auch die Nachfahren versicherten, dass sich kein Exemplar der Arbeit und entsprechende Briefe oder Notizen aus dieser Zeit mehr im Familienbesitz befinden. 207 Neben der Korrektur von Tippfehlern wurden teilweise auch Worte eingefügt, Sätze gestrichen (etwa auf S. 74) oder zusätzliche Fußnoten handschriftlich eingefügt (etwa S. 67 Fn. 35a). 208 Eine kurze Biographie findet sich in Maschke, Die Willenslehre im griechischen Recht, S. IV f. 209 Siehe Notiz in Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Internationalen Wissenschaft, 47 (1926), S. 578. In der einzigen Monographie, die er nach Nolting-Hauffs Abgabe fertigstellte, und die dann 1926 postum publiziert wurde, berief er sich nicht auf Nolting-Hauffs Arbeit, obwohl ein thematischer Bezug durchaus auf der Hand lag: Maschke, Die Willenslehre im griechischen Recht, Berlin 1926, befasst sich jedoch hauptsächlich mit dem Willen als grundlegendem Tatbestandsmerkmal des Strafrechts der Griechen. Erst auf den letzten 50 Seiten, die laut Herausgeber von ihm nicht mehr vollständig bearbeitet wurden, geht er auf zivilrechtliche Fragen von Willensmängeln bei Rechtsgeschäften und den Willensklauseln in Solons Testamentsgesetz ein. Die Zentralfrage von Nolting-Hauff, die Besitzbegründung und Übertragung von Sachen, wird dabei von Maschke nicht berührt. 205
IV. Spenglers Gesprächsversuch mit der Rechtsgeschichte
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le gespielt haben, dass die neuen Interpretationsversuche schlichtweg wenig plausibel, und kaum anhand konkreter Quellen begründet waren. Spenglers dynamisch-abstraktes Wirkungsdenken passte zum einen in eine wirtschaftlich moderne Zeit und zum anderen ließ es sich in besonderem Maße gegen die „unsoziale“ „römische“, „individualistische“ „Begriffsjurisprudenz“ verwenden. Die soziale Frage verlangte, dass die konkrete Wirkung der Rechtsnormen in den Fokus geriet, die moderne Wirtschaft verlangte nach Gesetzen, die unkörperliche Phänomene wie geistiges Eigentum, unlauteren Wettbewerb und Goodwill zu regeln imstande war. Für die rechtlichen Fragen der Zukunft hatte Spenglers dynamische Rechtslehre daher eine hohe Plausibilität. Warum aber sollten die alten germanischen Rechte, die man ohnehin seit Langem als besonders sozial usw. empfand, nun auch noch abstrakt und auf Wirkungen gerichtet, also faustisch im spenglerschen Sinne gewesen sein? Warum sollte gar das römische Recht eine geringere Abstraktionsstufe aufweisen als das germanische Recht? Warum soll der Römer bei dem rechtlichen Konzept „manus“ nicht die Wirkung dieses Rechtsinstituts vor Augen gehabt haben? Umso konkreter die Fragen wurden, denen man aus Spenglers Perspektive versuchte nachzugehen, desto unplausibler wurden die Antworten. Viele Besonderheiten einzelner Rechtsinstitute waren mit der Kultmorphologie nicht erklärbar. Heuristisch war Spengler daher für Germanisten wenig weiterführend.
IV. Spenglers Gesprächsversuch mit der Rechtsgeschichte IV. Spenglers Gesprächsversuch mit der Rechtsgeschichte
Ein bemerkenswertes Dokument, das viel über Spenglers Ansicht zu Juristen und Rechtshistorikern aussagte, wurde 1937 nach Spenglers Tod in dem Sammelband „Reden und Aufsätze“ veröffentlicht. Gemeint ist ein zweiseitiger „Entwurf zu einem juristischen Preisausschreiben“.210 Hildegard Kornhardt erinnerte sich im Vorwort des Bandes, wie es zu dem Preisausschreiben kam: „Der Gedanke des juristischen Preisausschreibens ist mutmaßlich von Spengler selbst ausgegangen und an führende Industrielle, von da aus an Spitzenverbände und Industrie und Handel herangetragen worden. Diese hielten es zu jener Zeit – 1927 – nicht für günstig, die Forderung nach einer Gesamtreform des Rechts gerade von der Wirtschaft ausgehen zu lassen. Es bestand die Gefahr, dass der Gedanke von den damals maßgeblichen politischen Kreisen begierig aufgegriffen, aber in einem ganz anderen Sinn durchgeführt werden würde, als Urheber und Befürworter des Planes gewollt hätten. Es wurde dann
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Oswald Spengler, Entwurf zu einem juristischen Preisausschreiben in: Oswald Spengler, Reden und Aufsätze, München 1937, S. 129–130.
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D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
vorgeschlagen, ein wissenschaftliches Institut mit der Ausarbeitung zu betrauen, und schließlich zerschlug sich die Sache überhaupt.“ 211
Spengler wandte sich also zunächst an die Wirtschaft und in zweiter Line an die Rechtswissenschaft, um seine Vision zu erfüllen. Diese skizzierte er im „juristischen Preisausschreiben“. Er legte dar, dass das deutsche Recht in den kommenden Jahrzehnten grundlegend umgeformt werden müsse. Der Kulturphilosoph meinte jedoch, dass die hierzu nötigen Einsichten in die wirkliche Geschichte des Rechts fehlten, denn „(e)rst aus [der] Form, in welcher sich die geschichtlichen Mächte äußern, ergibt sich der Sinn des jeweiligen geltenden Rechts.“212 Spengler forderte daher etwas aus heutiger Perspektive hochgradig Modernes – eine vergleichende internationale Rechtsgeschichte, die „dem einzelnen Deutschen die Möglichkeit gibt, über sein eigenes Recht hinaus zu sehen, wie andere Völker angesichts derselben Grundlage doch zu ganz anderen Rechten gekommen sind, sein Recht mit diesem Rechten zu vergleichen und dadurch einen freieren Blick über die Aufgaben der nächsten Zeit auf diesem Gebiet zu gewinnen.“213
Für Spengler zeigte sich eine ungeheure Hochachtung der Wissenschaft, die aber aus seiner Kulturphilosophie heraus verständlich war. Zwar riet er der Jugend zum Studium von praktischen Fächern, da er prophezeite, dass das Abendland in Kunst, Literatur, Philosophie und Musik keine schöpferische Leistung mehr hervorbringen werde. Jedoch hielt er es noch für möglich und sogar für nötig, dass die Rechtswissenschaft endlich ihre Blüte erleben solle. Spengler wollte mit seinem Preisausschreiben dazu beitragen. Bei der Abfassung ging er offenbar davon aus, dass sein Plan in die Tat umgesetzt werde. Er endete mit den Worten: „Der Umfang dieser vergleichenden Rechtsgeschichte soll nicht unter 500 und nicht über 1500 Seiten betragen. Die Darstellung soll streng wissenschaftlich sein, unter Vermeidung gelehrten Ballastes und unter Bevorzugung deutscher Ausdrücke, soweit darunter die Verständlichkeit nicht leidet.“214
Spengler hat also das Fach Rechtsgeschichte sehr ernst genommen. Er stand in jenen Jahren in engen Kontakt mit bedeutenden Industriellen215 und war möglicherweise in der Lage erhebliche Mittel für ein rechtsgeschichtliches Projekt zu organisieren. Es ist nicht bekannt in welchem Umfang Spengler tatsächlich Kontakt zu Rechtshistorikern aufnahm, um diese 211
Hildegard Kornhardt Vorwort in: Oswald Spengler, Reden und Aufsätze, München 1937, S. VIII. 212 Spengler, Entwurf zu einem juristischen Preisausschreiben, S. 129. 213 Spengler, Entwurf zu einem juristischen Preisausschreiben, S. 129 f. 214 Spengler, Entwurf zu einem juristischen Preisausschreiben, S. 130. 215 Etwa den großindustriellen Paul Resuch und Hugo Stinnes (siehe Koktanek, Spengler, S. 281 ff.).
V. Zusammenfassung
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zur Teilnahme an seinem Preisausschreiben zu bewegen. Da keine entsprechenden Briefe erhalten sind, ist auch denkbar, dass er letztlich niemanden ansprach. Es passt jedenfalls in das in diesem Kapitel gezeichnete Bild, dass keine Resonanz eines Rechtshistorikers auf das Preisausschreiben publiziert wurde. Die meisten waren wenig spenglerbegeistert und hielten wohl weder von Spenglers 30-seitiger Rechtsgeschichte noch von seiner gesamten Kulturphilosophie besonders viel. Da wäre es erstaunlich gewesen, wenn jemand in finanzieller Abhängigkeit von Spengler zu arbeiten bereit gewesen wäre. Man kann aber noch eine weitere Information erhalten, wenn man eine andere Perspektive wählt. Es gab ja einige wenige rechtshistorisch arbeitende Juristen, welche Spenglers Rechtsgeschichte weiterdachten. Diese wären sicherlich gerne bereit gewesen, an dem Preisausschreiben teilzunehmen. Etwa der junge Nolting-Hauff. Er hätte gar seine Doktorarbeit als Grundstock verwenden können. Möglicherweise wäre Alfred Müller bereit gewesen, Spenglers Pläne umzusetzen. Sicherlich aber wäre Hans Fehr der geeignetste Kandidat. Er schrieb 1927 an seinem 1928 veröffentlichen „Recht und Wirklichkeit – Einblick in Werden und Vergehen der Rechtsdogmen“216, in welchem er Spenglers Rechtsgeschichte darstellte und fortentwickelte. Weitere spenglerbegeisterte Juristen, wie Ernst Swoboda und Otto Koellreutter und vermutlich auch Hedemann waren zwar keine Rechtshistoriker, hätten Spengler aber die entsprechenden Kontakte vermitteln können. Dies zeigt, dass Spengler doch offenbar zu wenig an seiner eigenen Rezeptionsgeschichte interessiert war, um die entsprechenden Autoren zu kennen.
V. Zusammenfassung V. Zusammenfassung
Insgesamt war Spengler für die Rechtshistoriographie in viel geringerem Umfang ein Thema als für die Zivilrechtler. Auch in der Hochphase des Streits um Spengler, in der Vertreter nahezu aller Fachrichtungen sich mit den Thesen des Kulturphilosophen auseinandersetzten schwiegen die Romanisten zum „Untergang des Abendlandes“. Sie erkannten zwar, dass der populäre Spengler Ansichten verbreitete, die bedeutenden Erkenntnissen des Faches diametral entgegen standen und sie hatten auch Recht damit, dass Spengler für die Entstehung der Vorstellung, das römische Recht sei jüdisch, eine Rolle spielte. Aber sie erhoben ihre Stimme gegen den Kulturphilosophen erst, als die Bedrohung ihres Faches in der Zeit des Nationalsozialismus immer ernster wurde. 216
Siehe hierzu umfassend S. 41 f.
222
D. Die Reaktion der Rechtshistoriographie auf Spengler
Spenglers germanische Rechtsgeschichte unterschied sich deutlich von seiner Version der römischen Rechtsgeschichte, da er davon ausging, dass die Antike ihre Hochzeit des rechtlichen Denkens in den Jahrhunderten vor der Kaiserzeit erlebte. Das Abendland befand sich aber, so Spengler, gerade erst am Beginn dieser Phase. Also könne sich die abendländische Kulturseele noch nicht im abendländischen Recht niedergeschlagen haben. Dennoch fanden sich Autoren, die Spenglers Konzept der faustischen Seele als Anaylse- und Interpretationswerkzeug für das germanische- und das mittelalterliche Recht verwendeten. Insbesondere die „Gewere“ und die „Munt“ wurden dabei mit Spengler neu erklärt. Abgesehen von Fehr wurden diese Ideen jedoch von wissenschaftlichen Außenseitern vorangetrieben. Es entstand niemals eine innergermanistische Debatte über die Fruchtbarkeit von Spenglers Vorstellungen für die Erforschung der deutschen Rechtsgeschichte. Auch Spenglers Gesprächsangebot an die Rechtsgeschichte, welches er in Form eins „Juristischen Preisausschreibens“ machte, wurde nicht ernst und vermutlich auch kaum wahrgenommen. Nur am Rande sei bemerkt, dass Spenglers Nichte – Hildegard Kornhardt217 –, die auch lange bei ihrem Onkel wohnte218 und später dessen Nachlass verwaltete,219 mit einer Reihe namhafter Rechtshistoriker korrespondierte. Über ihre eigenen rechts-
217
Wolfgang Kunkel, Hildegard Kornhardt in: ZRG RA 76 (1959), S. 684–685; siehe auch Cornelia Wegener, … wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Institut für Altertumskunde, 1921–1962, Wien, Köln, Weimar 1996, insbesondere S. 168. 218 Spenglers Schwester gab im Sommer 1925 ihren Wohnsitz in Blankenburg auf und zog mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter zu Spengler nach München (Koktanek, Spengler, S. 342). Bis zu dem Beginn ihres Studiums der Philologie in Göttingen, welches sie 1935 mit einer Promotion beendete, befand sich Spenglers Nichte also stets in unmittelbarer Nähe des Geschichtsphilosophen. 219 Koktanek, Vorwort in: Spengler, Briefe 1913–1936, S. 9 über die Abschriften, die Mutter und Tochter zusammen von vielen Briefen für das Archiv anfertigten; die Nichte besorgte auch die Auswahl und Bearbeitung der Werke für den Sammelband „Reden und Aufsätze“, für welchen sie das Vorwort schrieb (siehe Hildegard Kornhardt, Nachwort in: Spengler, Gedanken, München 1941, S. 384. Vgl. auch dies., Vorwort in Spengler, Reden und Aufsätze, München 1937). Auch für die Auswahl von Spenglers Fragmenten, die 1941 unter dem Titel „Gedanken“ im Beck Verlag erschienen, war die Nichte verantwortlich (Spengler, Gedanken, München 1941). Hildegard Kornhardt arbeitete nach 1945 wieder am „Thesaurus“, wenn auch aus Briefen ihres Doktorvaters Kurt Latte hervorging, dass sie sich noch zu sehr mit dem Nachlass Spenglers beschäftigte, um weitere akademische Projekte voranzutreiben (siehe Hans Gärtner, „Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten!“ – Unpublizierte Briefe Kurt Lattes aus den Jahren 1943–1946 in: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 5 (2002), S. 185–219, S. 217).
V. Zusammenfassung
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historischen Forschungen beriet sie sich mit Franz Wieacker220, Max Kaser221, Fritz Pringsheim222, Wolfgang Kunkel223 und Leopold Wenger224. Um Spenglers Ideen ging es weder in ihren Briefen noch in ihren Aufsätzen. Obwohl Kornhardt Expertin in der Kulturphilosophie Spenglers war und seinen prophetischen Erfolg für das Ergebnis seiner methodischen Sorgfältigkeit hielt,225 färbte ihr Onkel doch nicht auf den Inhalt ihrer wissenschaftlichen Arbeiten ab.
220
Ein Brief von Kornhardt an Wieacker (vom 24.06.1953; Ana 533 Sch 131) und drei Briefe von Wieacker an Kornhardt aus den Jahren 52–54 (Ana 533 Sch 134) sind im Spenglerarchiv erhalten. 221 Zehn Briefe von Kornhardt an Kaser sind erhalten. Sie stammen aus einem Zeitraum vom Mai 1952 bis zum April 1953 (A 533 Sch 130 Kornhardt an Max Kaser). Von Kaser an Kornhardt sind nur drei Briefe aus den Jahren 1954 und 1955 erhalten (Ana 533 Sch 132, Kaser an Kornhardt). Die Briefe lassen vermuten, dass weitere geschrieben wurden. 222 Direkter Briefverkehr war nicht auffindbar. Aus den Briefen mit den anderen Rechtshistorikern geht jedoch hervor, dass Kornhardt auch an Pringsheim Manuskripte schickte und diese mit ihm diskutierte. 223 Ana 533 Sch 130 Wolfgang Kunkel Brief 2 (14.12.1952). 224 Noch in den 30er Jahren erfolgte ein kurzer Briefwechsel mit Leopold Wenger, an dessen Seminar Kornhardt als Studentin teilnahm (siehe Ana 533, Sch 134 Wenger Leopold an Kornhardt 11.11.1936). Wenger lobte Kornhardts Dissertation über den Begriff Exemplum, welche auch kurz in der Savignyzeitschrift angezeigt wurde (Hans Kreller, Rez. Kornhardt, Exemplum, eine bedeutungsgeschichtliche Studie in: ZRG RA 57 (1937), S. 532). Ein Kapitel der Promotion beschäftigte sich mit „exempla im römischen Staatsrecht“ (Hildegard Kornhardt, Exemplum eine bedeutungsgeschichtliche Studie, Diss. Göttingen 1935, Borna und Leipzig 1936, S. 65 ff.). Deutliche Anleihen von Spengler enthielten diese Passagen allerdings nicht. 225 Hildegard Kornhardt, Goethe und Spengler in: ARSP 38 (1949/50), S. 589–596. Den Aufsatz „beendete sie mit dem Hinweis darauf, dass die jüngsten geschichtlichen Ereignisse Spenglers Ruf als Propheten gestärkt hätten. Sie fährt fort: „Zu Unrecht, insofern es sich hier nicht um Intuition, sondern um methodisch gewonnene Ergebnisse jahrelanger Arbeit handelte“.
E. Spengler in der Staatsrechtslehre E. Spengler in der Staatsrechtslehre „Überall lag das bittere Gefühl des Betrogenseins in der Luft des Neubeginns. Der Krieg war vorüber, doch dem Staat mißlang seine Demobilisierung. Der Weimarer Frieden wurde zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.“ (Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 2. Bd. Frankfurt am Main 1983, S. 741).
Die Relevanz der staatsrechtlichen Spenglerrezeption lässt sich aus einigen Beiträgen der Jahrestagung der deutschen Staatsrechtlehrer aus dem Jahr 2000 in Leipzig erahnen, die sich unter anderem mit der deutschen Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigte. Insbesondere Christian Starck plädierte eindringlich dafür, „die große Bedeutung, die das Werk von Spengler gehabt hat, insbesondere ‚Preußentum und Sozialismus‘“1 bei der Suche nach protonationalsozialistischen Elementen in der Weimarer Staatsrechtslehre zu beachten. Anknüpfend an Starck betonte Häberle, dass die Staatsrechtslehrer nicht ohne das geistige Klima ihrer Zeit zu verstehen seien: „Namen wie Spengler, Ernst Jünger oder George bleiben relevant, als Hinweis auf den Irrationalismus jener Jahre.“2 Insbesondere dem Hinweis auf den aus heutiger Sicht schwer verständlichen Antirationalismus der damaligen Epoche pflichtete auch der vortragende Horst Dreier bei, der ebenfalls auf Spengler hinwies.3 Vor diesem Hintergrund erscheint es besonders lohnenswert zu sein, die Spenglerrezeption auf Ebene der staatsrechtlichen Grundlagendebatten daraufhin zu untersuchen, ob eine bewusste Rezeption der Irrationalismen Spenglers zu verzeichnen ist. Der Frage nach Antirationalismus in der der Weimarer Staatsrechtlehre ging bisher vor allem Oliver Lepsius nach. Sein Ergebnis lautete, dass sich aufgrund einer umfangreichen Rezeption verschiedener das Leben und die Tatsachen in den Mittelpunkt stellender Philosophien,4 bereits vor 1933 die so genannte „gegensatzaufhebende Be-
1
VVDStRl 60, S. 106. VVDStRl 60, S. 121. 3 VVDStRl 60, S. 143. 4 Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, S. 254 ff. 2
I. Überblick über die Spenglerrezeption in den Staatsrechtswissenschaften
225
griffsbildung“5 etablierte. Diese wiederum sei maßgeblich für die nationalsozialistische Staatsrechtslehre gewesen.6 Letztere Frage soll hier ausgeklammert werden. Vor dem Hintergrund des bereits bekannten Einflusses der Weimarer Irrationalismen auf die Staatswissenschaft kann es sich hier erlaubt werden, einen sehr viel kleineren Ausschnitt dieses breiten geistesgeschichtlichen Phänomens zu beleuchten. So soll in den folgenden Kapiteln nur untersucht werden, wie die Staatsrechtlehre zu Aspekten der vulgären Lebensphilosophie Spenglers und der darauf aufbauenden Staatstheorie aus dem Untergang des Abendlandes standen. Dabei wird vor allem die grundsätzliche erkenntnistheoretische Frage zwischen Rationalismus und Irrationalismus analysiert.
I. Überblick über die Spenglerrezeption in den Staatsrechtswissenschaften I. Überblick über die Spenglerrezeption in den Staatsrechtswissenschaften
Zunächst soll jedoch Klarheit darüber geschaffen werden, wie umfangreich die bewusste Beschäftigung mit Spengler innerhalb der Staatsrechtslehre stattfand. Auch bei der Beantwortung dieser Frage darf einerseits der Einfluss Spenglers nicht unterschätzt werden.7 Andererseits sind wiederum ohne weitere Hilfsmittel wie Briefe oder Tagebücher mit Spenglerbezug nur die zeitgenössischen Beiträge der Staatsrechtlehrer untersuchbar und im Rahmen dieser Arbeit operationalisierbar. Nur die ausdrücklichen Spenglernennungen werden zum Gegenstand der Untersuchung gemacht.8 Dies ist hier in aller Ausdrücklichkeit zu erwähnen, weil die Zeitgenossen Spenglers bei ihren Kollegen manch einen Spenglerismus vermuteten, wo – aus heutiger Sicht – vermutlich gar keiner existierte. So glaubte Koellreutter bei Smend eine „ganz deutliche Ver-
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Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, etwa. S. 218, erläutert, dass in Weimar eine Vielzahl an Autoren versuchte, die Gesamtheit der Dinge besser in Begriffe zu fassen, indem sie die kantische Unterscheidung zwischen Sein und Sollen bereits auf der Ebene grundlegender Vokabeln aufgaben. Sie schufen Begriffe, welche Normativität und Faktizität gleichermaßen erfassen sollten, so Lepsius. 6 Prominentester Fürsprecher Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. 7 Siehe hierzu und zu den generellen Vorbehalten bzgl. der Einflussforschung oben S. 12 f. 8 Nur in diesen Fällen kann sicher davon ausgegangen werden, dass der jeweilige Staatrechtler bewusst Spenglers Thesen diskutieren wollte. Da Spenglers Aussagen – wie in fast allen Fällen – auch in Fragen der konkreten staatsrechtlichen Probleme im Ergebnis stark mit dem Zeitgeist korrespondieren, wäre die Suche sonst uferlos. Es müsste letztlich jede antidemokratische Äußerung oder jede Nennung eines spenglerschen Schlagwortes auf einen Einfluss Spenglers untersucht werden.
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
wendung spenglerscher Gedankengänge“9 zu erkennen, die ihm viel zu weit gingen. Die „Spenglerische Gegenüberstellung des ahistorischen, statischen antiken Menschen und des eminent historischen dynamischen „faustischen“ modernen Menschen […] schimmert bei diesen Darlegungen Smends unverkennbar durch“10, so Koellreutter. Er glaubte hier aufgedeckt zu haben, dass Smend die gesamte Kulturphilosophie Spenglers für rezeptionswürdig hielt. Ob Smend bei Abfassung des entsprechenden Textes Spengler im Hinterkopf hatte, kann nicht sicher belegt werden, ist aber eher unwahrscheinlich. Smend sprach hier von der dynamisch-dialektischen Integration in parlamentarischen öffentlichen Debatten und demokratischen Wahlen.11 Der maßgebende Integrationsfaktor in allen anderen Staatsformen sei statisch.12 Die antike Staatsformlehre habe reine Formen der Verfassung enthalten, welche niemals die Aufgabe hatten, die „Gemeinschaft immer von Neuem zu integrieren“13, ganz im Gegensatz zu den modernen soziologischen Typen der Staatsformen, welche vom staatlichen Integrationsvorgang ausgehen. In diesem Sinne sei der „Wertgehalt des sich als urgeschichtlich empfindenden antiken Staats […] wahrhaft statisch“14. Die Kombination der Attribute „statisch“ und „ungeschichtlich“ mag beim ersten Herangehen als spenglerisch anmuten. Jedenfalls gab es aber in der Staatsrechtlehre dieser Zeit eine breitere Bewegung, die das sich entwickelnde politische Verfassungsleben über den unwandelbaren Text der Verfassung stellen wollte und hierfür die Begriffe Statik und Dynamik verwendete.15 Koellreutter erlag offenbar, wie viele seiner Zeitgenossen16 dem einfachen Schluss von der Verwendung des Begriffes „Dynamik“ auf Spengler. Schon wenige Jahre nach dem zweiten Band des „Untergangs“, in welchem Spengler auch seine Staatstheorie entwarf, gab es die ersten juristischen Publikationen hierzu. Von Fehr gab es noch 1922 einen Aufsatz mit dem Titel „Der Staat im zweiten Band von Oswald Spenglers ‚Untergang des Abendlandes‘“17, Josef Laurenz Kunz schrieb eine Rezension 9
Ebda., S. 25, Fn. 1. Ebda., S. 25, Fn. 1. 11 Rudolf Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform in: Juristische Fakultät der Universität Berlin (Hrsg.), Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl, Tübingen 1923, S. 1–25, S. 22. 12 Ebda., S. 23. 13 Ebda., S. 25. 14 Ebda., S. 25. 15 Siehe oben S. 66, Fn. 167. 16 Siehe oben S.121 ff. 17 Fehr rückte den Begriff der Dynamik 1922 noch nicht in den Fokus seiner rechtstheoretischen Erwägungen, obwohl er das Werk Spenglers kurz nach seinem Erscheinen 10
I. Überblick über die Spenglerrezeption in den Staatsrechtswissenschaften
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über die Rechtsphilosophie Spenglers.18 Vor allem aber ist ein Vortrag Otto Koellreutters zu nennen, durch welchen Spengler in der Staatsrechtslehre Verbreitung fand. Die meisten Staatsrechtlehrer machten Spengler nicht zu einem Kernthema ihrer Arbeiten. Gleichwohl finden sich bei vielen Staatsrechtlern vereinzelte Spenglerreferenzen zu ganz unterschiedlichen Fragestellungen. Zwei Staatsrechtswissenschaftler haben sich wesentlich umfangreicher mit Spengler beschäftigt: Otto Koellreutter und Karl Otto Petraschek. Im Folgenden soll daher zunächst ein Überblick über die Verwendung der spenglerschen Kulturphilosophie gegeben werden. Dabei geht es zunächst nur darum, den Umfang der Spenglerrezeption darzustellen. In diesem Zusammenhang soll auch die Vielschichtigkeit der Spenglerbeschäftigung von Hermann Heller aufgezeigt werden, der den Kulturphilosophen einerseits nie zu einem seiner Kernthemen machte, aber andererseits an vielen Einzelstellen auf Spengler einging.
gelesen haben muss. Er publizierte nach 1922 einen Aufsatz über den Staat im zweiten Band von Spenglers Hauptwerk (Fehr, Der Staat im zweiten Band von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“, S. 388–395). Hier beschäftigte sich Fehr intensiv mit der spenglerschen Kulturphilosophie an sich, erläuterte die Relativität des Denkens in jeder Kultur, die Bedeutung des Urgefühles der Angst und den Übergang von der Kultur zur Zivilisation (S. 389 ff.). Auf das Kapitel über die Entwicklung der Rechtsgeschichte ging er nicht ein. Der Besprechungsaufsatz reiht sich gewissermaßen in die „Streit-umSpengler-Literatur“ ein. Fehr kommt hier letztlich zu dem Schluss, dass Spenglers Buch ungeheuer anregend sei und eine große Leistung darstelle, der man jedoch auch eine Reihe von fachlichen Fehlern anlasten müsse (S. 393 ff.). In Fehrs Autobiographie gewinnt man allerdings den Eindruck, dass er während der Arbeit an „Recht und Wirklichkeit“ Spengler noch einmal neu gelesen haben muss. So wird der Kulturphilosoph in der Autobiographie erstmals im zeitlichen Kontext der Arbeit an „Recht und Wirklichkeit“ erwähnt. Fehr schreibt über seine große Spenglerbegeisterung dieser Zeit und gibt in einem kurzen Überblick seine Publikationstätigkeit zur dynamischen Rechtslehre an, welche zu zwei Monographien, drei Festschriftbeiträgen, drei Aufsätzen und einem Handbuchartikel führte. Der Aufsatz von 1922 wird in der Autobiographie dagegen nicht mit einem Wort erwähnt. 18 Josef Laurenz Kunz, Die Rechtsphilosophie Oswald Spenglers in: ZöR 4 (1924), S. 640–644. Siehe zu Spengler bei Kunz unten Fn. 89, S. 238. Nur am Rande sei hierzu bemerkt, dass Spengler einmal brieflich gefragt wurde, ob er diese Publikation von Kunz kenne (Spengler, Briefe, S. 482). Der Kulturphilosoph, der sich generell nicht um die Kritik seiner Philosophie kümmerte, ging mit keinem Wort darauf ein (Spengler, Briefe, S. 524). Eine Rückkopplung an Spengler bestand demnach. Seine einmal in die Arena geworfenen Thesen wurden von dem Kulturphilosophen nicht weiter schriftstellerisch betreut und verteidigt.
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
1. Spenglerreferenzen bei Otto Koellreutter Mit Otto Koellreutter,19 der aus derselben Generation stammte wie Spengler,20 nahm sich ein bedeutender Staatsrechtlehrer der ersten Hälfte des 20. Jhs. des Kulturphilosophen an.21 Er hatte sich vor seinem Spenglervortrag um einen persönlichen Kontakt mit dem Kulturphilosophen bemüht, der jedoch über wenige kurze Briefe nicht hinausging.22 Als er 1924 den Vortrag über Spenglers Staatsrechtlehre in der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft in Jena vortrug,23 befand er sich noch in der Frühphase seines Schaffens.24 Die Publikation des Vortrages wurde von Koellreutters Bio19
Siehe grundsätzlich zu Koellreutter die Biographie von Schmidt, Otto Koellreutter 1883–1972. 20 Als ein Grund für eine gewisse Geistesverwandtschaft von Spengler und Koellreutter können bereits vorweg die beiden Geburtsjahre der Denker angegeben werden: Spengler wurde 1880, Koellreutter 1883 geboren (siehe zu den Lebensdaten Koellreutters Schmidt, S. 1–16, S. 69–76 und S. 134–140). 21 Stolleis spricht davon, dass sich Koellreutter in Jena zu „einer Führungsfigur des öffentlichen Rechts entwickelte.“ (Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 173); Koellreutter machte zudem im Nationalsozialismus Karriere und galt zeitweise als Antipode Carl Schmitts (Schmidt, Otto Koellreutter 1883–1972, S. 76 ff.). 22 Der erste Kontakt zwischen beiden Denkern ist im Nachlass Spenglers erhalten: Koellreutter bat per Brief um ein Treffen mit Spengler und erfragte dessen Telefonnummer (Brief von Koellreutter an Spengler vom 25.03.1922 (Ana 533 Sch 74)). Der weitere Verlauf der persönlichen Beziehung lässt sich kaum rekonstruieren und wurde bisher weder in der Spenglerforschung noch durch die Koellreutterbiographie auch nur erwähnt. Eine Antwort Spenglers ist nicht erhalten. In einem weiteren Brief Koellreutters an Spengler von 1926 sprach der Staatsrechtslehrer von „der Hoffnung, doch auch noch einmal ihre persönliche Bekanntschaft machen zu dürfen“ (Brief von Koellreutter an Spengler vom 03.08.1926 (Ana 533 Sch 74)). Das zeugt nicht von einem besonders intensiven Kontakt. Ein stärkerer Austausch fand wohl zwischen Koellreutter und Spenglers Nichte Hildegard Kornhardt statt, die längere Zeit in Jena verbrachte. Noch über Spenglers Tod hinaus hielt man brieflichen Kontakt und besprach neue Spengler-Bücher (siehe den erhaltenen Brief von Koellreutter an Kornhardt vom 25.04.1944 (Ana 533 Sch 132)). Da sich aber aus den Briefen nichts konkretes Inhaltliches für Koellreutters Denken über Spengler ergibt, vielmehr nur ein generelles Interesse an Spengler belegt werden kann, muss man sich auch hier in der Hauptsache mit den gedruckten Quellen begnügen. 23 Otto Koellreutter, Die Staatslehre Oswald Spenglers. Eine Darstellung und eine kritische Würdigung, S. 4. Zur staatswissenschaftlichen Gesellschaft in Jena siehe die kurz vor ihrem Abschluss stehende Dissertation „Die staatswissenschaftliche Gesellschaft Jena. Studie zur politischen Ideengeschichte und zum Ursprung der Politikwissenschaft im deutschen Kaiserreich“ von Sebastian Lasch. 24 Koellreutter hatte sich zwar bereits 1912 habilitiert und war ab 1913 Privatdozent in Freiburg gewesen, diente aber während der gesamten Zeit des ersten Weltkriegs als Offizier in einem Artillerieregiment, so dass seine Publikationstätigkeit bis 1919 eher begrenzt blieb (Schmidt, Otto Koellreutter 1883–1972, S. 5 ff.). Nach dem Krieg war er
I. Überblick über die Spenglerrezeption in den Staatsrechtswissenschaften
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graph als dessen erste größere Schrift aus der Jenaer Zeit bezeichnet.25 Inhaltlich war der Vortrag zweigeteilt und stellte zum einen auf breitem Raum Spenglers Thesen dar und lieferte zum anderen in einem zweiten Teil eine kritische Analyse derselben. Damit lieferte er der Staatsrechtslehre eine prägnante Kurzfassung von Spenglers politischer Publizistik, die über die bisherigen Darstellungen weit hinausging. Koellreutter übernahm damit für die Öffentlichrechtler eine ähnliche Rolle, wie Hans Fehr für die dynamische Rechtslehre. Als Symbol für die Verbreitung von Koellreutters Vortrag kann man sich vergegenwärtigen, dass ihn, neben vielen anderen26, sowohl Carl Schmitt27 als auch Hans Kelsen28 zitierten. Das Koellreutter mit seinem Vortrag eine Debatte eröffnete, zeigte sich auch an der bissigen Rezension des Historikers Otto Hinze,29 welcher der Weimarer Staatsrechtler nahestand.30 Wie intensiv Koellreutter damit in der Zunft als Weiterdenker und Anwender Spenglers galt, zeigt sich auch daran, dass der von Spengler schwer beeindruckte Student Friedrich Hielscher31 „den Studienort wechselte und nach Jena“ zog, „um dort bei Otto Koellreutter [über Spenglers nach sehr kurzen Stationen in Freiburg und Halle seit 1921 ordentlicher Professor an der Universität Jena, (S. 10 f.), wo mit Hedemann und Fehr ebenfalls grundsätzlich spenglerbegeisterte Rechtswissenschaftler zugegen waren. 25 Schmidt, Otto Koellreutter 1883–1972, S. 23. 26 Siehe hierzu auch Seg-Yun Song, Politische Parteien und Verbände in der Verfassungsrechtslehre der Weimarer Republik, Diss. Bielefeld 1993, Berlin 1996. Nach der Arbeit haben Koellreutters Ansichten ein gewisses Gewicht (S. 181 ff.), wobei die Spenglerreferenzen wiederum nicht beachtet werden (siehe nur S. 183). 27 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 8. Aufl. Berlin, 1996, S. 29. 28 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 417. 29 Otto Hinze, Rez. Spengler, Verschiedenes und Koellreutter, Die Staatslehre Oswald Spenglers in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 79 (1925), S. 541–547. 30 Sein Schwerpunkt als Historiker war die Verfassungsgeschichte und setzte sich auch gegenwartsbezogen mit Kelsens Staatslehre auseinander (siehe Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970, S. 153 f.). 31 Der 1902 geborene Friedrich Hielscher ist bisher vor allem als politischer Autor der Konservativen Revolution und als Gründer einer heidnischen Religion bekannt (siehe Ina Schmidt, Der Herr des Feuers. Friedrich Hielscher und sein Kreis zwischen Heidentum, neuem Nationalismus und Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Diss. 2002, Köln 2004, S. 20; Mohler/Weißmann, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918– 1932. Ein Handbuch, S. 505). Er schrieb in vielen unterschiedlichen politischen Blättern und war Schriftleiter der Zeitschrift „Vormarsch“. Zudem bestand ein umfangreicher Briefwechsel zwischen Hielscher und Jünger, der 2005 publiziert wurde (Ina Schmidt, Stefan Breuer (Hrsg.), Ernst Jünger, Friedrich Hielscher Briefwechsel, Stuttgart 2005). Im Fokus stand bei der Betrachtung Hielschers bisher jedoch kaum, dass er bei Otto Koellreutter rechtstheoretisch promovierte und sich in seiner Arbeit ganz maßgeblich auf Spengler stützte.
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
Staatstheorie, L.M.K.] zu promovieren,“32 Koellreutter betreute Hielscher und vermittelte ihm auch ein persönliches Treffen mit Spengler.33 1925 publizierte Koellreutter Aufsätze über die Parteienlehre Spenglers34 und das Verhältnis des Kulturphilosophen zu Max Webers Staatstheorie.35 Spengler avancierte dabei für Koellreutter „zum großen Gegner der nachrevolutionären formalen Demokratie.“36 Da sich die Staatslehre
32
Ina Schmidt, Stefan Breuer (Hrsg.), Ernst Jünger, Friedrich Hielscher Briefwechsel, S. 489. Er wollte sich in seiner Dissertation neben Hegel und Nietzsche maßgeblich an Spengler orientieren (Schmidt, Der Herr des Feuers, S. 16). 33 Siehe Koellreutters Brief vom 3. August 1926 (Ana 533 Sch 74) Ein zusätzliches Empfehlungsschreiben von August Winning, auf das die Hielscherforschung hinweist (Schmidt, Der Herr des Feuers, S. 16) erleichterte sicherlich ebenfalls die Kontaktaufnahme zu Spengler. Es kam ein Treffen mit dem Kulturphilosophen zustande. Dabei drehte sich das Gespräch nicht nur um die Metaphysik des Seelentums (Schmidt, Der Herr des Feuers, S. 17). Spengler erkannte in Hielscher einen erstklassigen Tatsachenmenschen und redete ihm daraufhin eine akademische Karriere aus: „Übrigens tröstet mich ihre Art zu fragen. Ein Akademiker werden Sie nicht werden. Für den Professor sind sie verdorben. Sie bringen den dazu nötigen Mangel an Geist nicht auf. Und hüten Sie sich vor diesem Geschlechte. Es ist erschreckend unbedarft und darum nachtragend und hinterhältig. Versuchen Sie nie die Dozentenlaufbahn. Sie wissen nicht, was ein Kollege ist. Ich habe Sie gewarnt.“ (Friedrich Hielscher, Fünfzig Jahre unter Deutschen, Hamburg 1954, S. 79; siehe hierzu auch Schmidt, Der Herr des Feuers, S. 17). Hatte diese Warnung eine Wirkung auf Hielscher? Seine Dissertation wurde mit summa cum laude beurteilt (Schmidt, Der Herr des Feuers, S. 18, Fn. 22) und zumindest in Fragen des Nationalismus stand er Koellreutter auch politisch nahe. Hielscher wäre also grundsätzlich ein potentieller Kandidat für eine Habilitation bei Koellreutter gewesen. Für die Gesamtentscheidung, seinen Publikationsdrang lieber in politischen Zeitschriften auszuleben, wird Spenglers „Warnung“ eine gewisse Rolle gespielt haben. Hielscher Dissertation enthielt ein eigenes Spenglerkapitel (Friedrich Hielscher, Die Selbstherrlichkeit. Versuch einer Darstellung des deutschen Rechtsgrundbegriffes, Diss. Jena 1926, Berlin 1930). 34 Otto Koellreutter, Die Parteienlehre Oswald Spenglers in: Deutschlands Erneuerung 1925, S. 301. 35 Otto Koellreutter, Die Staatspolitischen Anschauungen Max Webers und Oswald Spenglers in: Zeitschrift für Politik 14 (1925), S. 481–500. Einerseits ist Koellreutter davon überzeugt, dass beide Denker die wichtigsten staatspolitischen Anschauungen „weitgehend übereinstimmend herausgehoben und betont haben“ (S. 483 f.). Bei Beiden bestehe eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der politischen Theorie, (ebda., S. 482), beide beurteilen Bismarcks Regierungszeit positiv, kritisieren aber, dass er keine führenden Köpfe der nächsten Generation herangezogen habe (ebda., S. 483 f.). Beide halten eine Volksherrschaft für unmöglich und betonen die „überlegene politische Manövrierfähigkeit kleiner führender Gruppen“ (ebda., S. 485 f.). Aber, so Koellreutter, trotz der Übereinstimmung im Ergebnis, sei „die Wertung dieser Tatsachen durch Beide ist eine ganz verschiedene“ (ebda., S. 493). 36 Koellreutter, Die Staatspolitischen Anschauungen Max Webers und Oswald Spenglers, S. 481.
I. Überblick über die Spenglerrezeption in den Staatsrechtswissenschaften
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bereits ausgiebig mit Max Weber beschäftigt habe, sei es nun an der Zeit, Spengler angemessen zu würdigen.37 So intensiv wie in den Jahren 1924 und 1925 beschäftigte sich Koellreutter später nicht wieder mit Spengler. Der Kulturphilosoph blieb aber dennoch ein steter Begleiter seiner Schriften, insbesondere bei der Kritik der Parteien. Die wichtigsten Schriften von Koellreutter hierzu entstanden unmittelbar nach seiner intensiven Spenglerphase.38 Hier glichen Koellreutters Aussagen in hohem Maße dem allgemeinen parteienfeindlichen Schrifttum.39 Wenngleich Koellreutter niemals „Spenglerjünger“ wurde, muss doch aufgrund der thematischen und zeitlichen Nähe seiner Parteienkritik zu seiner Beschäftigung mit Spengler vermutet werden, dass Koellreutter wesentliche Fragen anhand der Thesen des Kulturphilosophen entwickelte. Koellreutter war aufgrund seiner vorangegangenen Nähe zu Spengler nach dem Eklat im Sommer 193340 zu einer Stellungnahme gezwungen. 1934 rezensierte er deshalb zwei nationalsozialistische Propagandaschriften gegen Spengler.41 Auf diesen sechs Seiten widmete sich Koellreutter aber kaum den zwei Schriften, sondern im Wesentlichen Spengler selbst. Sein Ton war dem Kulturphilosophen und seinen schriftstellerischen Leistungen gegenüber respektvoll. Spengler müsse als „einer der größten und einflussreichsten Denker unserer Zeit betrachtet“42 werden und gerade deshalb sei die Diskussion um den Kulturphilosophen einer „der Brennpunkte des Ringes um die geistigen Grundlagen des Nationalsozialismus.“43 37
Ebda., S. 493 f. Die intensive Spenglerphase Koellreutters dauerte von 1924 bis 1925. Seine maßgeblichen Werke zur Parteienkritik entstanden ummittelbar danach: „Die politischen Parteien im modernen Staate“ (1926), „Der Deutsche Staat als Bundesstaat und als Parteienstaat“ (1927) und „Der Sinn der Reichtagswahlen vom 14.09.1930 und die Aufgaben der deutschen Staatslehre“ (1930). 39 Schmidt, Otto Koellreutter 1883–1972, S. 29; Koellreutterbiograph Schmidt sieht drei Hauptkritikpunkte Koellreutters: 1. Das Problem, der Führung innerhalb der Parteien und damit der Führerauswahl für den ganzen Staat (Schmidt, Otto Koellreutter 1883– 1972, S. 31 ff.) – ein Problem welches Koellreutter nicht zuletzt anhand des Begriffes Cäsarismus diskutiert (siehe etwa auch Otto Koellreutter, Die Politischen Partien im modernen Staate, Breslau 1926, S. 54) 2. Der negative Einfluss der Parteien auf die Beamtenschaft (Schmidt, S. 33 ff.) und 3. die Ungeeignetheit der deutschen Parteien und des Weimarer Parlamentarismus im Gegensatz zum englischen, organisch gewachsenen System (Schmidt, S. 36 f.). Das alles waren auch Kernkritikpunkte von Spengler. 40 Siehe dazu oben S. 22 f. 41 Otto Koellreutter, Rez. von Leers, Spenglers weltpolitisches System und der Nationalsozialismus und Muhs, Spengler und der wirtschaftliche Untergang Europas in: AöR 64 (1934), S. 256–262. 42 Ebda., S. 256. 43 Ebda., S. 256. 38
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
Koellreutter macht deutlich, was Spengler zu verdanken sei, und dass er selbst dies bereits vor zehn Jahren erkannt habe. Dann erläuterte Koellreutter aber sehr schnell, dass Spengler „leider in seiner neuesten Schrift der Verkünder einer bloß bürgerlichen, heute überwundenen Geistigkeit geworden“44 sei. Spengler erkenne weder die Bedeutung der Rasse noch die Bedeutung Hitlers. Zudem verachte Spengler die Masse45 und könne deshalb in der organischen Gemeinschaftsbildung im völkischen Staat nach nationalsozialistischer Auffassung keine Rolle mehr spielen.46 Soweit die offiziell geäußerte Version Koellreutters. In einem bisher unpublizierten Brief an Spenglers Nichte Hildegard Kornhardt geht hervor, dass Koellreutter sogar „Jahre der Entscheidung“ – der entschiedensten NS-Kritik Spenglers – positiv gegenüberstand.47 Auch nach 1945 bis zu seinem Tod im Jahre 1972 war Spengler für Koellreutter noch ein relevanter zitierenswerter Autor.48 44
Ebda., S. 258. Seine deutliche Absage an Spengler nach 1933 verband Koellreutter im Übrigen mit einem Seitenhieb auf seinen „Rivalen“ Carl Schmitt. In Spenglers Vorstellung von einer „Gewaltherrschaft des raubtiermäßigen Herrenmenschen über die verachtete Masse“ erkannte Koellreutter denselben Gedanken wie in dem „Freund-Feindgegensatz, in dem auch Carl Schmitt das eigentliche Wesen des Politischen sehen will.“ 45 46 Ebda., S. 259. 47 „Darf ich sie darauf hinweisen, dass eine ‚Deutsche Philosophie der Gegenwart‘ von Gerhard Lehmann (Verlag Alfred Kröner, Stuttgart 1943) erschienen ist, in der auf S. 333 ff. auch Oswald Spengler behandelt ist. Unter anderem findet sich dort der schöne Satz: ‚Damals im Jahre 1933, ließ er ein Buch erscheinen ‚Jahre der Entscheidung‘, das mehr als ein Buch des Oberlehrers a.D., als des Politikers Spengler war‘!. Ich habe das Buch für mein Institut anschaffen lassen und Sie können es jederzeit bei uns einmal einsehen und die Ausführungen des Verf. über ihren Onkel nachlesen.“ (Brief von Otto Koellreutter an Hildegard Kornhardt vom 15.04.1944, Ana 533, Sch 132). 48 Auch nach 1945 war Spengler für Koellreutter noch ein relevanter, zitierenswerter politischer Autor. Nachdem sein Entnazifizierungsverfahren für ihn letztlich glimpflich ablief, war er in der 50igern emeritierter Professor und übte wieder eine rege Publikationstätigkeit aus (Schmidt, Otto Koellreutter 1883–1972, S. 137 f.). Da er dabei weiterhin auf Distanz zur Demokratie blieb, weiterhin den Parteienstaat bekämpfte und den Einfluss der europafremden USA auf das deutsche GG kritisierte (ebda., S. 140 f.), lag es auch nahe, Spengler weiterhin als Referenz zu verwenden. Dies sei kurz an Koellreutters „Staatslehre im Umriss“ von 1955 dargelegt. Insbesondere auf prägnante Formulierungen Spenglers wollte Koellreutter nicht verzichten. So begann er das Kapitel über die Verfassung mit dem Hinweis, dass nach Spengler die Verfassung die Funktion habe, „Ein Volk politisch in Verfassung“ (Otto Koellreutter, Staatslehre im Umriss, Göttingen 1955, S. 63) zu bringen. Das englische Gemeinwesen des 19. Jh., welches aus sich selbstverwaltendem Landadel bestand, charakterisierte Koellreutter mit Spenglers Worten: „In England ersetzte die Insel den Staat. Ein Land ohne Staat war nur unter dieser Bedingung möglich“ (Otto Koellreutter, Staatslehre im Umriss, Göttingen 1955, S. 63). Teilweise verwies Koellreutter auch insbesondere auf seine „Staatslehre Oswald Spenglers“ von 1924 (Koellreutter, Staatslehre im Umriss, S. 31 f., S. 95). An ein paar wenigen Stellen 45
I. Überblick über die Spenglerrezeption in den Staatsrechtswissenschaften
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2. Spenglerreferenzen bei Karl-Otto Petraschek Karl-Otto Petraschek49 erlangte zwar in den damaligen Diskursen nie eine mit Koellreutter vergleichbare Bedeutung, hatte aber ein ebenso intensives und zugleich eigentümliches Interesse an Spengler. Petrascheks Karriereweg führte ihn zunächst nicht an die Universität.50 Aufgrund der 1929 fertiggestellten Studie „Rechtsphilosophie des Pessimismus“ entschied sich die rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität München unter dem Dekan Rudolf Müller-Erzbach, Petraschek „im Hinblick auf dessen außergewöhnliche Forschungsenergie“51 insbesondere für seine „Rechtsphilosophie des Pessimismus“ die venia legendi für Rechtsphilosophie zu verleihen. Neben Schopenhauer und Nietzsche war Spengler eine der wichtigsten Referenzautoritäten für Petrascheks Werk. Ausschlaggebend für den Titel „Rechtsphilosophie des Pessimismus“ und die grundsätzliche Einteilung des Werkes in optimistische und pessimistische Philosophie dürfte Spengler gewesen sein.52 Petraschek interessierte sich für grundsätzliche philosophische Fragen. Er setzte Spengler kaum in Bezug zu Staatsrechtswissenschaftlern,53 son-
nannte Koellreutter nun auch Toynbee mit Spengler in einem Atemzug (Koellreutter, Staatslehre im Umriss, S. 31, S. 292). 49 Siehe allgemein Petrig, Emil Erich Hölscher (1880–1935) und Karl Otto Petraschek (1876–1950) im Zusammenhang des katholischen Rechtsdenkens, S. 139–223. 50 Petraschek wurde 1876 in Österreich geboren und studierte in Wien Rechtswissenschaften, wo er 1902 über die rechtliche Natur des Bergwerkeigentums promovierte. Was folgte, war nicht gerade eine idealtypische akademische Karriere: Bis 1912 arbeitete er im Justizdienst, zog dann aber nach München und studierte erneut, diesmal an der philosophischen Fakultät. Nach dem Krieg widmete er sich Arbeiten auf unterschiedlichem wissenschaftlichem Gebiet. Die Relativitätstheorie interessierte ihn ebenso wie die Logik (Petrig, Emil Erich Hölscher (1880–1935) und Karl Otto Petraschek (1876–1950)). 51 Ebda., S. 140. 52 Petraschek versuchte in seinem Werk die überkommenden Ordnungsbegriffe der Philosophischen Schulen über Bord zu werfe, in dem er von der grundsätzlichen Zweiteilung aller Philosophien ausging: Die Optimistische und die Pessimistische Philosophie. Als großer Optimist wurde Hegel präsentiert, da dieser die Vernunft höher einstufte als etwaige subjektive Evidenzgefühle. (Karl Otto Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus. Ein Beitrag zur Prinzipienlehre des Rechts und zur Kritik des Sozialismus, München 1929, S. 5). Die Reihe der Pessimisten bestand bei Petraschek aus Schopenhauer, Spengler, Hartmann und teilweise auch Marx und Engels. Da keiner dieser Philosophen außer Spengler zentral mit dem Begriff „Pessimismus“ etikettiert wurde, ist es hochwahrscheinlich, dass Petraschek seinen zentralen Ordnungsbegriff von Spengler hatte. 53 Nur Koellreutters Spenglervortrag (Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, S. 93, Fn. 29a), die Rechtsphilosophie Wilhelm Sauers, den er als Optimisten und also Spenglergegner darstellte (S. 368 ff.) und Gustav Waltz’ „Die Staatsideen des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes“, in welchem der
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
dern vornehmlich zu zeitgenössisch diskutierten Philosophen, wie Nietzsche, Marx, Schopenhauer, Hegel und Hartmann. Vor diesem Hintergrund setze er sich mit Spenglers Auffassung vom Machtcharakter des Rechts54, dem „Volk in Verfassung“55, Spenglers Verneinung eines ewig gültigen Naturrechts56 und den Spannungen zwischen Politik und Wirtschaft57 auseinander. Im Alter von 53 Jahren nahm der Gelehrte in München – dem ständigen Wohnort Spenglers58 – die Lehrtätigkeit auf. Auch in seinen Vorlesungen ging er breit auf Spengler ein und bot sogar ganze Veranstaltungen nur zu Spenglers Staatslehre an, die zunehmend Erfolg hatten.59 Brisant muss es zugegangen sein, als Petraschek die „Übung zu O. Spengler“ nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein letztes Mal im Sommersemester 1934 anbot,60 als überall ausgiebig über Spenglers „Jahre der Entscheidung“ diskutiert wurde. Zu dieser Zeit war auch Otto Koellreutter in München, der am 18.09.1935 als Dekan Petrascheks Ernennung zum ordentlichen Professor beantragte,61 was andere Dozenten und die NS-Studentenschaft jedoch verhinderten.62 Es darf vermutet werden, dass das Spenglerinteresse beider Staatsrechtler im Hintergrund dieses Vorgangs eine Rolle gespielt hat.
Autor „(b)egeisterte Worte für Spengler“ (S. 93, Fn. 29a) fand, wurden von Petraschek relativ kurz erwähnt. 54 Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, S. 205 f. 55 Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, S. 208. 56 Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, S. 206 ff. 57 Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, S. 208 f. 58 Ob sie sich begegnet sind, lässt sich leider nicht mehr feststellen. 59 Seine allerersten Veranstaltungen trugen die Titel: „Abendländischer Staatsgedanke“ und „Übungen zu Oswald Spenglers Staatslehre“ (Petrig, Emil Erich Hölscher (1880–1935) und Karl Otto Petraschek (1876–1950), S. 141). So interessant dies im Rahmen dieser Arbeit erscheinen mag, so uninteressant erschien dies wohl den damaligen Münchener Studenten. Zu dem Neuling im Lehrplan und seinen exotischen Themen fühlten sich gerade einmal zwei Studenten hingezogen, welche „Abendländischer Staatsgedanke“ belegten. Zu den „Übungen zu Spenglers Staatslehre“ erschien niemand (ebda., S. 141). Als Petraschek bekannter wurde, änderte sich dies: Zur „Übung zu O. Spengler“ kamen im Wintersemester 1931/32 immerhin zehn Hörer zusammen. Die ein Semester später abgehaltene Übung zu Kants Rechtslehre hatte wiederum keine Hörer. Die Studenten übten sich offenbar bei Petraschek lieber in Spengler als in Kant. 60 Ebda., S. 141. 61 Petrig, Emil Erich Hölscher (1880–1935) und Karl Otto Petraschek (1876–1950), S. 140, Fn. 3. 62 Ebda., S. 140, Fn. 3. Hauptkritikpunkt an Petraschek war dabei nicht sein Spenglerismus, sondern seine katholische Weltanschauung.
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3. Spenglerreferenzen bei Hermann Heller Herman Heller war und ist deshalb eine interessante Figur, weil er sich dem groben Einteilungsmuster der Weimarer Staatsrechtler entzog. Er war dezidierter Demokrat, und zwar, wie Stolleis betont, „neben Kelsen der einzige Sozialdemokrat“63, aber eben auch ein erbitterter Gegner von Hans Kelsen.64 Korb ordnet ihn „als Neuhegelianer neben Kaufmann und als Dezisionist neben Schmitt“65 ein. Die Zuordnung zu einem Lager wird auch dadurch erschwert, dass er grundsätzlich dazu neigte, aus verschiedenen theoretischen Positionen diejenigen Teile auszuschneiden, die für das gerade behandelte Problem ad hoc zur gewünschten Lösung führten. Sein „eklektische(s) Verfahren ist ihm mehrfach zum Vorwurf gemacht worden“66, resümiert Korb. Da verwundert es nicht, dass sich Heller in sehr unterschiedlichen Kontexten Spenglers bediente. Vor allem aber lässt sich an Hellers Spenglerreferenzen zeigen, wie bekannt und allgegenwärtig Spengler in politischen Diskussionen der Weimarer Republik war und wie viel Metawissen über ihn Heller für mitteilenswert hielt. So wusste Heller, der sich im Kontext seiner Forschungen über Demokratie und Diktatur auch viel mit dem Faschismus beschäftigt hatte, dass „Mussolini sich neuerdings als Spengler-Übersetzer betätigt“67 und dass ein „bevölkerungspolitischer Artikel des Duce unter dem charakteristischen Titel ‚Die Zahl als Macht‘ […] sich auf Ansichten des Kreises um Oswald Spengler bezieht“68. Die gegenseitige Rezeption von Spengler und Mussolini, die in allen Details und Hintergründen erst Michael Thöndl rekonstruierte,69 war Heller offenbar geläufig. Außerdem hatte er als wacher Zeitgenosse bereits erkannt, dass Thomas Mann in seinem Zauberberg Hans Castorp mit einem intellektuellen Irrationalisten konfrontierte, der „Spengler“, bzw. „Sorel“ nachgebildet war.70 Es handelte sich dabei freilich eher um Aperçus als um Leitlinien der Forschung, aber man kann daran erkennen, dass Heller Spengler als ein vielschichtiges Phänomen wahrnahm.
63
Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3, S. 183. Ebda., S. 183. 65 Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatstheorie (1911–1934), S. 239. Zum Hegelianismus siehe S. 38 ff. Zu seinem Dezisionismus S. 152 ff. 66 Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatstheorie (1911–1934), S. 41. 67 Hermann Heller, Europa und der Faschismus, 2. Aufl., Berlin 1931, S. 44. 68 Ebda., S. 141. 69 Thöndl, Der „Neue Cäsar“ und sein Prophet, die wechselseitige Rezeption von Benito Mussolini und Oswald Spengler, 351–394. 70 Heller, Europa und der Faschismus, S. 36. 64
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
Heller beschäftigte sich niemals mit dem gesamten Gedankengebäude Spenglers, selektierte jedoch einzelne gegenwartsbezogene Positionen aus dessen Lehren um sie als zusätzliche Argumente anzuführen. Es störte ihn dabei offenbar nicht, dass Spengler deutlicher Antidemokrat war. So stützte sich Heller, als darum ging, gegen Kelsens rein normatives Staatsverständnis die Bedeutung der empirischen Lebenswirklichkeit hervorzuheben, auch auf Spengler.71 Andererseits verwendete er Spengler in dem Aufsatz „Rechtstaat oder Diktatur“ von 192972, in dem Heller eindeutig für den Rechtstaat optierte, als Negativbeispiel.73 In einer anderen Schrift aus demselben Jahr fand Heller nun auch wieder Positives an Spenglers Staatsrechtslehre.74 So lobte er Spengler und die Lebensphilosophie, dass sie die rein rational konstruierte Demokratietheorie überwunden habe.75 Deswegen konnte auch der überzeugte Demokrat Heller Spengler attestieren, Probleme der allgemeinen Staatslehre „(a)usgezeichnet formuliert“76 zu haben. Einen ganz anderen Aspekt betonte Heller in seiner postum erschienenen Staatslehre von 1934. Als er die folgenden Zeilen verfasste, waren die Nationalsozialisten bereits an der Macht und er, der eindeutige Verteidiger der Demokratie, im Exil. Jetzt betonte Heller, dass Spengler „(e)ine geistvolle Kritik an den Rassentheorien […] geübt“77 habe. Zusammenfassend kann man zunächst festhalten, dass der für Heller typische Eklektizismus sich auch bei seiner Spenglerverwendung zeigte. Es wurde insgesamt aber auch deutlich, dass Heller Spengler für eine wichtige geistige Figur hielt.
71
Siehe Heller, Die Krisis der Staatslehre, S. 315. Hermann Heller, Rechtstaat oder Diktatur in: Christoph Müller (Hrsg.), Hermann Heller, Gesammelte Schriften, Bd. II, 2. Aufl. Tübingen 1992, S. 443–462. 73 Heller, Rechtstaat oder Diktatur, 456. 74 Heller, Europa und der Faschismus, S. 33 f. 75 Hermann Heller, Europa und der Faschismus, Berlin 1931, S. 34; als ein wesentlicher Mitarbeiter an der Bekämpfung des noch zu rationalistischen Zeitgeistes schätze Heller Spengler außerordentlich. Im Folgenden machte Heller aber auch sehr deutlich, dass sich Spenglers Lehre in der Negierung rationaler Gesetzesbindung zugunsten einer vollkommen inhaltslosen Macht erschöpfe. 76 Hermann Heller, Die Krise der Staatslehre in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 55 (1926), S. 289–316, S. 315. 77 Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 255. Dabei bezog sich Heller auf den Untergang des Abendlandes und nicht zugleich auch auf Spenglers „Jahre der Entscheidung“, die eine viel deutlichere Kritik der nationalsozialistischen Rassenideologie aufwies. Spenglers letztes politisches Werk konnte Heller nicht mehr vor seinem frühen Tod im spanischen Exil verarbeiten. 72
I. Überblick über die Spenglerrezeption in den Staatsrechtswissenschaften
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4. Zusammenfassung und weiterer Gang der Untersuchung Spenglers Staatsrechtlehre wurde von mehreren Juristen zusammengefasst, in einem Fall in Form eines später publizierten Vortrages. Zudem wurden Vorlesungen über das Staatsrecht bei Spengler angeboten. In Einzelaufsätzen wurde insbesondere Spenglers Parteienkritik untersucht und seine politische Lehren mit jenen Max Webers vergleichen. An den Spenglernennungen bei Hermann Heller wurde deutlich, dass auch Staatsrechtlern, die Spengler nicht zu einem Kernthema machten, die Einzelthemen des Kulturphilosophen diskutierten, und ein gewisses Metawissen über Spengler vorhanden war. So wusste Heller, dass Mussolini Spengler rezipierte, und dass Thomas Mann Figuren auftreten ließ, die Spengler nachgebildet waren. Mit einer ähnlichen Motivation hielt auch Edgar Tatarin-Tarnheyden die Frage für erhellend, warum „(k)ein Buch […] in Russland mehr gelesen“ werde, „als der spenglersche ‚Untergang des Abendlandes‘“.78 Auf Basis der kommunistischen Idee der Weltrevolution und den alten Idealen des Panslavismus passe es den Bolschewisten gut, „in diesem faulen dahinsterbenden Abendlande […] gar nicht so viel tun zu müssen“79, so Tarnheyden. Spengler wurde hier also indirekt zur Erklärung der gegenwärtigen politischen Lage in Russland mitgedacht. Aus Spenglers umfangreichen Oeuvre selektierten die Staatsrechtler unterschiedliche Themengebiete heraus. Es finden sich insgesamt viele Bezugnahmen in staatsrechtlichen Schriften auf einzelne, abgetrennte Aussagen Spenglers. So wurde etwa besonders häufig sein Konzept vom Cäsarismus80 durch Staatrechtlern übernommen.81 Aber auch an anderen Fragen, 78
Edgar Tatarin-Tarnheyden, Bolschewismus und Faschismus in ihrer staatsrechtlichen Bedeutung in: ZgStaatW 80 (1926), S. 1–37, S. 13. 79 Ebda. 80 „Caesarismus nenne ich die Regierungsart, welche trotz aller staatsrechtlicher Formulierungen in ihrem inneren Wesen wieder gänzlich formlos ist. Es ist gleichgültig, ob Augustus in Rom, Hog-ti in China, Amosis in Ägypten, Alp Arsaln in Bagdad ihre Stellungen mit altertümlichen Bezeichnungen umkleiden. Der Geist dieser alten Formen ist tot. Und deshalb sind alle Institutionen, sie mögen noch so peinlich aufrechterhalten werden, von nun an ohne Sinn und Gewicht. Bedeutung hat nur die ganz persönliche Gewalt, welche der Caesar oder an seiner Stelle irgend jemand durch seine Fähigkeiten ausübt.“ (Spengler, UdA II, Kapitel 4, Abschnitt II 15, S. 541). Einerseits handelt es sich um ein auch vor Spengler geläufiges Konzept (siehe Alfred Heuß, Der Caesarismus und sein antikes Urbild in: Hartmut Boockmann (Hrsg.), Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Karl Dietrich Erdmann, Neumünster 1980, S. 13–40) andererseits darf vermutet werden, dass bei zahlreichen Nennungen der Begriffe durch Staatsrechtler Spengler eine gewisse Rolle spielte. Siehe zur Verbreitung des Begriffs in den 1920igern Hermann Sacher, Cäsarismus in: Hermann Sacher (Hrsg.), Staatslexikon, 1. Bd. Freiburg im Breisgau 1926, Sp. 1195 f. 81 Den Begriff verwendeten mit ausdrücklichem Spenglerbezug Koellreutter, Die Staatslehre Oswald Spenglers, S. 24; ders., Die Politischen Parteien im modernen Staate,
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
die Spengler behandelte und die zugleich zeitgenössisch umfangreich diskutiert wurden, – etwa die historische Entwicklung des Staates,82 der Krieg als Ursprung aller Politik,83 Nationalismus und Volksvorstellung,84 konkrete Vorschläge für eine Reform der WRV,85 den „Steuerbolschewismus“86, die Parallelisierung des antiken „panem et circenses“ und die abendländischen Idee „Recht auf Arbeit“87 oder etwa Spenglers mehrfach geäußerte Forderung, politische Führer zu „züchten“88 – konnten die Staatsrechtler, die sich auf Spengler einließen, nicht vorbeigehen. In einem Fall argumentierte sogar ein Anhänger Kelsens mit Spenglers Kulturphilosophie für die reine Rechtslehre.89 Nicht zuletzt wurden einige der prägnanten FormulieBreslau 1926, S. 54; Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, S. 275 ff.; Tatarin-Tarnheyden, Bolschewismus und Faschismus in ihrer staatsrechtlichen Bedeutung, S. 34; Heller, Rechtstaat oder Diktatur, 456. Außerdem verwendete Carl Schmitt den Begriff als er den Unterschied zwischen Parlamentarismus und Demokratie erläuterte: „Das Parlament erscheine zwar demokratisch, weil es ein Ausschuss des Volkes sei, aber dies könne nicht das Wesentliche sein. Wenn aus praktischen und technischen Gründen statt des Volkes Vertrauensleute des Volkes entscheiden, kann ja auch im Namen desselben Volkes ein einziger Vertrauensmann entscheiden, und die Argumentation würde, ohne aufzuhören demokratisch zu sein, einen antiparlamentarischen Cäsarismus rechtfertigen.“ (Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 8. Aufl., Berlin 1996, S. 22). Zumindest aber hatte Schmitt bei der Lektüre von Spenglers „Preußentum und Sozialismus“ den Begriff „Cäsarismus“ und die damit verbundene Aussage Spenglers „Er ist unser Schicksal“ unterstrichen (Preußentum und Sozialismus – Exemplar Schmitt, S. 67). Siehe hierzu unten S. 262 f. 82 Spengler, UdA II, Kapitel 4, Abschnitt I 1, S. 403 ff. Etwa umfangreich dargestellt in Koellreutters Spenglervortrag (Koellreutter, Die Staatslehre Oswald Spenglers, S. 3 ff.). 83 Spengler, UdA II, Kapitel 4, Abschnitt C 16, S. 549 f.; Spengler, Preußentum und Sozialismus, S. 55. 84 Spengler, Neubau, S. 209 ff. 85 Spengler, Neubau, S. 209 ff. Siehe hierzu Hermann Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, Breslau 1926, S. 71, der hier gegen Spengler darauf hinwies, dass der Kulturphilosoph mit seinen Vorschlägen nicht die Demokratie umstürzen, sondern auf prinzipiell demokratisch-parlamentarischen Weg reformieren wolle. 86 Spengler, Neubau, S. 263. 87 Spengler, Neubau, S. 279. 88 Etwa Spengler, UdA II, Kapitel 4, Abschnitt B 13, S. 519 ff.; ders., Neubau, S. 227 ff. 89 Kunz interessierte sich bereits in einer sehr frühen Phase seiner wissenschaftlichen Karriere für Spengler. Gleichzeitig musste er jedoch auch darauf bedacht sein, es sich nicht mit seinen älteren Mentoren durch die vulgär-antiwissenschaftliche Lebensphilosophie Spenglers zu verderben. Kunz gehörte fest zum Wiener Kreis. Die sehr kurzen Spenglerhinweise in seiner Habilitation müssen vor diesem Hintergrund als mutiger Ausbruch gewertet werden (siehe hierzu Goller, Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie, S. 256). Dies erklärt auch die nüchterne Neutralität, die Kunz Spengler in seiner Rezension entgegenbrachte. Erst nach ein paar Jahren Abstand und aus gefestigter Po-
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rungen Spenglers häufig übernommen, etwa der gerne zitierte Satz: „In England ersetzte die Insel den Staat. Ein Land ohne Staat war nur unter dieser Bedingung möglich“90. Es würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die Rezeptionsgeschichte all jener Einzelfragen unter Einbeziehung der zeitgenössischen Debatten zu rekonstruieren, zumal die Darstellung der entsprechenden Aussagen Spenglers kaum einen Neuheitswert haben wird, da die „politische Publizistik“91 Spenglers seit jeher im Zentrum der Spenglerforschung
sition heraus argumentierte Kunz wieder mit Spengler für die Wiener Schule, und zwar nicht mit den konkreten politischen Aussagen, sondern gerade mit der Kulturphilosophie an sich. In seiner Abhandlung „Völkerrechtswissenschaft und reine Rechtslehre“ diente der Kulturphilosoph Kunz nicht als Experte des schwierigen Verhältnisses von Macht und Recht oder als Autorität der Geschichte der ungezähmten Kriege. Vielmehr taucht Spengler in der Einleitung auf, in der Kunz sich nach Art der reinen Rechtslehre Gedanken darüber macht, ob die Jurisprudenz als Wissenschaft überhaupt denkbar sei. Kunz erläutert dabei zunächst, dass die Entwicklung der Jurisprudenz im 19. Jh. nicht so weit vorangetrieben worden war wie die Entwicklung der Naturwissenschaft. Dies sei „unleugbar“ (Josef Laurenz Kunz, Völkerrechtswissenschaft und reine Rechtslehre, Leipzig und Wien 1923, S. 7). Im direkten Anschluss baut Kunz den Kulturphilosophen ein: „Oswald Spengler meint, daß die große Zeit der Naturwissenschaft vorüber sei, die große Zeit der Geisteswissenschaft und Jurisprudenz überhaupt erst komme, da sich die Jurisprudenz immer erst am Beginn des ‚Hellenismus‘ entwickelt habe.“ (Kunz, Völkerrechtswissenschaft und reine Rechtslehre, S. 7 f.). Wenig später gelangt Kunz zu der Feststellung, dass vor allem Kelsen und die Wiener Schule den Wissenschaftscharakter des Rechts retten konnten. Kunz gelingt also das Kunststück, den Zeitpunkt und das Auftreten der reinen Rechtslehre – nur für eingeweihte Spenglerianer erkennbar – als ein kulturmorphologisch notweniges Ereignis zu präsentieren. Obwohl der Kulturphilosoph inhaltlich das Gegenteil der Reinen Rechtslehre vertrat, nutzte Kunz Spenglers Kulturmorphologie als zusätzliches Argument, um die Wiener Schule als den Beginn der Wissenschaft vom Recht erscheinen zu lassen. Kunz, der zu diesem Zeitpunkt freilich bereits etablierter war, als in seiner Habilitationsphase, schaffte es, Spengler, den er aus irgendeinem Grund mochte, als Erklärung für die Richtigkeit der Wiener Schule zu verwenden. 90 Spengler, Preußentum und Sozialismus, S. 33; Koellreutter verwendete dieses Zitat sogar noch nach 1945 um das englischen Gemeinwesens zu erläutern (Koellreutter, Staatslehre im Umriss, S. 50); nach Hasso Hofmann hat auch Carl Schmitt die ähnliche, in der Nähe befindliche Passage, nach der in England „Die Insellage die Verfassung ersetzte“ (Carl Schmitt, Verfassungslehre, München 1928, S. 50), übernommen (Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 4. Aufl., Berlin 2002, S. 128, Fn. 203). England war als Land des frühen Parlamentarismus ein interessanter Untersuchungsgegenstand für die Weimarer Staatsrechtler. England war zugleich nach den Ideen von 1914 und Werner Sombarts „Händler und Helden“ (München und Leipzig 1915) Symbol für einen ungezügelten egoistischen Liberalismus. Spengler wurde wohl auch hier als kosmopolitischer Überblicker der Weltgeschichte geschätzt. 91 Vollnhals, Praeceptor Germaniae. Spenglers politische Publizistik.
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
liegt.92 Es wird daher im Folgenden hauptsächlich untersucht werden, inwiefern Spengler mit seiner lebensphilosophischen Grundeinstellung, mithin mit seinem Irrationalismus von den Staatsrechtlern aufgenommen wurde.
II. Spenglers „vulgäre“ Lebensphilosophie in der Staatsrechtslehre II. Spenglers „vulgäre“ Lebensphilosophie in der Staatsrechtslehre
Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit Spenglers Irrationalismus und seine daraus abgeleitete Demokratiekritik und die Gleichsetzung von Macht und Recht durch die Staatsrechtslehre rezipiert wurden. Zunächst werden dazu die spenglerschen Positionen dargestellt. Sodann wird vor dem Hintergrund des Methoden- und Richtungsstreites aufgezeigt wie differenziert Spenglers Aussagen in der Staatsrechtslehre aufgenommen wurden. 1. Spenglers Anschauungen a) Rationalismus als vorübergehende Epoche Trotz seines eigenen entgegenstehenden, vulgär lebensphilosophischen Ausgangspunktes93 reflektierte Spengler lange über „Rationalismus“. Er war einerseits der festen Überzeugung, dass eine Erkenntnis über das Leben und die Geschichte nicht durch Denktätigkeit gewonnen werden könne.94 Wohl aber gebe es andererseits in jeder Hochkultur ein Zeitalter des Rationalismus, in welchem der Glaube an den Verstand höchste Formen annehme und die großen philosophischen Systeme erdacht würden. Für 92
Überblicke etwa bei Conte, Spengler, S. 54 ff.; Felken, Spengler, S. 87 ff.; Botermann, Spengler S. 218 ff. und S. 291 ff.; Koktanek, Spengler, S. 166 ff., S. 215 ff. Siehe auch sehr spezifisch: Thöndl, Das Politikbild von Oswald Spengler (1880–1936) mit einer Ortsbestimmung seines politischen Urteils über Hitler und Mussolini in: Zeitschrift für Politik 40 (1993) S. 418–443; Sehr früh: Stutz, Oswald Spengler als politischer Denker; John Farrenkopf, Klio und Cäsar. Spenglers Philosophie der Weltgeschichte im Dienste der Staatskunst in: Alexander Demand, John Farrenkopf (Hrsg.), Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, Köln, Weimar, Wien, S. 1994, 45–73; Hermann Lübbe, Oswald Spenglers „Preußentum und Sozialismus“ und Ernst Jüngers „Arbeiter“ in: Alexander Demand, John Farrenkopf (Hrsg.), Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, Köln, Weimar, Wien, 1994, S. 171–197. 93 Siehe oben S. 135 ff. 94 Dies kommt hervorragend im folgenden Zitat zum Ausdruck: „Geschichte wissenschaftlich behandeln zu wollen ist im letzten Grunde immer etwas Widerspruchsvolles. Die echte Wissenschaft reicht so weit, als die Begriffe richtig und falsch Geltung haben […]. Der eigentlich geschichtliche Blick aber, der von hier erst ausgeht, gehört ins Reich der Bedeutungen, wo nicht richtig und falsch, sondern flach und tief die maßgebenden Worte sind.“ (Spengler, UdA I, Kapitel II, Abschnitt I, 2, S. 131).
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Spengler war es wichtig, dass ein quasireligiöses Phänomen vorlag: „Rationalismus bedeutet den Glauben allein an die Ergebnisse des kritischen Verstehens, also an den ‚Verstand‘“95, so Spengler. Er fuhr fort: „Nur für den Ungebildeten ist die alte Religion unentbehrlich, meint Aristoteles, und das ist durchaus die Meinung von Konfuzius und Gotamo Buddha, Lessing und Voltaire. Man kehrt zur Natur zurück, [...] aber es ist keine erlebte, sondern eine bewiesene, aus dem Verstand geborene und ihm allein zugängliche Natur.“96
In der Zeit des Vernunftglaubens werde nämlich, so Spengler, die in jeder Kultur jeweils herrschende Naturerkenntnis auf die Spitze getrieben. Damit gehe einher, was für nachfolgende Generationen vollkommen unverständlich sei: Es werde die Methode, mit der man die Natur beschrieb, durchdachte und analysierte, so Spengler, nun auch radikal auf die Geschichte, das Leben und die Politik angewandt. Die in dieser Zeit auf Basis eines vollkommen rationalen Menschenbildes entworfenen politischen Ideen, wie Demokratie, Freiheit und Gewaltenteilung, erscheinen aus Spenglers Perspektive nicht wie die noch heute gültigen Errungenschaften der Aufklärung, sondern vielmehr als notwendige Durchgangsstadien eines sich noch entwickelnden kulturellen Bewusstseins. Damit war Spengler ein – etwas verspäteter – Verfechter der Ideen von 1914.97 Auf die Epoche des Vernunftglaubens folge, so Spengler, in jeder Kultur eine Phase der „zweiten Religiosität“.98 Stück für Stück, würden dabei die alten Formen, die durch den Vernunftglauben ersetzt wurden, wieder zurückkehren: „Zuerst verliert sich der Rationalismus, dann kommen die Gestalten der Frühzeit zum Vorschein, zuletzt ist es die ganze Welt der primitiven Religion, die vor den großen Formen des Frühglaubens zurückgewichen war und nun in einem volkstümlichen Synkretismus, der auf dieser Stufe keiner Kultur fehlt, mächtig wieder hervordringt.“ 99
Bei Spengler war Rationalismus also eine geistige Phase, die in jeder Kultur auftrat und die, kulturmorphologisch notwendig, nach einer gewissen Zeit vorüberging. Assoziiert wurde der Rationalismus mit der Stadt und der Demokratie.100 Deswegen bestehe in der Zeit der Aufklärung ein Einfluss von Büchern und Theorien auf die Politik.101 Demokratie, Recht und Freiheit haben eine Zeitlang den Charakter sakral geweihter Schlagworte.102 „Allerdings beschränkt sich dieser Zauber auf die Bevölkerung der 95
Spengler, UdA II, Kapitel III, Abschnitt C 19, S. 375. Spengler, UdA II, Kapitel III, Abschnitt C 19, S. 376. 97 Siehe zu diesem Begriff oben. 98 Spengler, UdA II, Kapitel III, Abschnitt C 20, S. 382. 99 Spengler, UdA II, Kapitel III, Abschnitt C 20, S. 383. 100 Spengler, UdA II, Kapitel III, Abschnitt A 4, S. 114. 101 Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt B 11, S. 500. 102 Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt C 17, S. 568. 96
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großen Städte und das Zeitalter des Rationalismus“103, so Spengler deutlich. Zu diesen Erkenntnissen war Spengler auf Grundlage der einzigen von ihm anerkannten Erkenntnismethode gekommen: er schaute, fühlte und empfand. Er eignete sich Wissen über alle Hochkulturen an und ließ dann seine Intuition und Assoziationskraft frei walten. Dies führte ihn zu dem Ergebnis, dass sich am Ende in jeder Kultur das Gefühl verbreitete, dass die rational erdachten Verfassungsfiguren nun keinen Wert mehr besaßen. Rationalismus war für ihn ein Objekt, über das man Erkenntnisse haben kann, nicht eine Methode des Erkenntnisgewinns.104 b) Die Verbindung von Lebensphilosophie, Politik und Recht im „Untergang des Abendlandes“ Spenglers vulgäre Lebensphilosophie wirkte sich insbesondere auf seine Vorstellung von Politik im Allgemeinen und vom Idealpolitiker im Besonderen aus.105 Ein Politiker müsse seine Zeit nicht verstehen, sondern sie erfühlen, da die wahren Kräfte des Schicksals, welche in einer Kulturzeit den Staat lenken, nicht dem Verstand, sondern nur der Intuition zugänglich seien. Er müsse „ihre geheimen Mächte“ ahnen, sie in sich fühlen, da sie sich „mit Begriffen nicht umschreiben“106 ließen. Der lebensphilosophisch irrationale Ansatz Spenglers gipfelte in einer regelrechten Verachtung der politischen Theorie.107 Seiner Gegenwart teilte er mit: „(n)iemand sollte 103
Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt C 17, S. 568. Dem widerspricht auch nicht, dass Lantink in seiner Spengleranalyse mehrfach von der „politischen Rationalität“ (etwa Lantink, S. 318) spricht. Lantink versteht darunter nämlich nicht eine Herrschaft der Vernunft, sondern weist auf die realistischen und modernen Züge in Spengler Auffassung hin, die freilich gänzlich unromantisch sind. Er zitiert Spenglers „Politik ist das Gegenteil von Romantik, sehr prosaisch, nüchtern und hart“ (Spengler, Vorwort in: Politische Schriften, S. X). und weist dadurch auf das Spannungsverhältnis zu Sontheimers These vom politischen Irrationalismus in der Weimarer Republik hin. Freilich besteht das Spannungsverhältnis bei näherer Betrachtung kaum. Allenfalls kann man anmerken, dass Sontheimer wenig betont hat, dass die „irrationalen“ Autoren häufig auch modernistisch, technizistisch und realistisch waren. Lantink gelangt selbst zu dem Ergebnis, dass Spenglers „Rationalität“ eine „verzerrt romantische AntiRomantik Rhetorik“ (Lantink, S. 318) war. Romantisch war sie, weil sie antiintellektuell, gefühls- und lebensorientiert war. 105 Siehe hierzu auch Botermann, Spengler, S. 261 ff. 106 Alle Zitate von Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt C 16, S. 548 f. 107 Siehe Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt C 18, S. 567 f.: „Ob diese Lehren ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sind, ist für die Welt der politischen Geschichte [...] eine Frage ohne Sinn. Die ‚Widerlegung‘ etwa des Marxismus gehört in den Bereich akademischer Erörterungen oder öffentlichen Debatten, wo jeder recht hat und die anderen immer unrecht. Ob sie wirksam sind; seit wann und für wie lange der Glaube an die Wirklichkeit nach einem Gedankensystem verbessern zu können, überhaupt eine Macht ist, mit der die Poli104
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sich darüber täuschen, daß das Zeitalter der Theorie auch für uns zu Ende geht.“108 Daraus ergab sich für Spengler ein ganz eigentümlicher Verfassungsbegriff: „Die vom Lebensstrom eines Volkes abgezogene Form ist dessen Verfassung in Bezug auf das Ringen in und mit der Geschichte. Verstandesmäßig abziehen aber lässt sie sich nur zum kleinsten Teile. Keine wirkliche Verfassung, für sich betrachtet und als System zu Papier gebracht, ist vollständig. Das Ungeschriebene, Unbeschreibliche, Gewohnte, Gefühlte, Selbstverständliche überwiegt in dem Grade – was Theoretiker nie begreifen werden –, dass eine Staatsbeschreibung oder Verfassungsurkunde nicht einmal ein Schattenbild von dem geben, was der lebendigen Wirklichkeit eines Staates als wesentliche Form zugrunde liegt, so dass eine Daseinseinheit für die Geschichte verdorben wird, wenn man ihre Bewegung einer geschrieben Verfassung ernstlich unterwirft.“ 109
Spengler warnte hier regelrecht vor der Gefahr einer geschriebenen Verfassung. Der „Lebensstrom“ eines Volkes lasse sich nicht durch einen Text unterwerfen. Es bestand für die Leser von 1922 kein Zweifel, dass Spengler hier auch und vor allem eine Kritik der Weimarer Reichsverfassung vorlegte. c) Die Vielschichtigkeit der Kantkritik bei Spengler Spenglers Konstruktion von Adel und Priestertum als sich ausschließende Gegensätze darf hier nicht unerwähnt bleiben, weil sich dort eine sehr perfide Kantkritik verbirgt und die Kritik an dem historischen „Superrationalisten“ Kant die vornehmlichste Aufgabe jedes (vulgären) Lebensphilosophen war. Der Adel stehe für Zeit, Schicksal, Geschichte, Rasse und Geschlechtsleben. Der Priester stehe für Raum, heilige Kausalität, Natur, Sprache und Sinnleben. „Der Adel“ so Spengler weiter, „lebt in einer Welt von Tatsachen, der Priester in einer Welt von Wahrheiten; jener ist Kenner, dieser Erkenner, jener Täter, dieser Denker.“110 Der Adel sei „der eigentliche Stand, der Inbegriff von Blut und Rasse, ein Daseinsstrom in denkbar vollendeter Form […], ganz pflanzenhaft und triebhaft, tief im Stammlande wurzelnd, im Stammbaum sich fortpflanzend, züchtend und gezüchtet.“111 tik zu rechnen hat, darauf kommt es an.“ Dabei hatte nach Spenglers Konzeption die Staatstheorie durchaus in jeder Kultur ihre Zeit. (siehe Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt C 18, S 568 f.: „Als Platon Aristoteles und ihre Zeitgenossen die antiken Verfassungsarten definierten und mischten, um die weiseste und schönste zu erhalten, hörte alle Welt zu.“). In jeder Epoche gäbe es eine Phase des Rationalismus, in der die politische Theorie einen Sinn und einen Bezug zur politischen Realität habe (siehe hierzu die ausführliche Erörterung auf S. 240 ff.). 108 Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt C 18, S. 569. 109 Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt B 6, S. 446. 110 Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt A 2, S. 413. 111 Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt A 2, S. 413.
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Soweit der Adel regiere, sei das Privatleben großer Geschlechter mit der Weltgeschichte identisch.112 Der Adel korrespondiert also mit Spenglers Vorstellung eines Idealpolitikers. Der Priester verneine alles, was den Adel ausmache, deshalb könne der denkende, aber nicht lebende Priester, niemals ein guter Politiker sein. Während für den Adligen nur der Tod ohne Nachfahren ein echter Tod wäre, gelte „für den wahren Priester das media vita in morte sumus: Sein Erbe ist geistig und verwirft den Sinn des Weibes.“ Als ein Beispiel für dieses Priestertum nannte Spengler Kant und seine „unflätige Definition der Ehe“.113 Kant hatte in seiner Rechtslehre die Ehe als die „Geschlechtergemeinschaft (commercium sexuale)“ bezeichnet und als den „wechselseite(n) Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht“ definiert.114 Damit griff Spengler Kant auf einer Ebene als Rationalisten an, auf der er sonst eher selten angegriffen wurde. Spengler zeigte mit am Beispiel von der Definition der Ehe auf, wie meachnisch-lebensfremd, wie unromantisch praxisfern115 gleichsam „theoretisch-priesterlich“ Kants konkrete Ausführungen in der Rechtslehre waren. Für die Spenglerrezeption der Staatsrechtlehre, die in der Weimarer Republik überwiegend dem Neukantianismus den Rücken kehrte,116 ist es 112
Diese Phase der Politik wurde von Spengler deutlich als die glorreichste und beste dargestellt. Aus vielen seiner Zeilen ließ sich die Wehmut herauslesen, mit welcher er auf die vergangene Kulturzeit zurückblickte. Dies begründete seinen Ruf als Pessimist, da er zugleich auch davon überzeugt war, dass die Kulturzeit nicht wieder aufleben könne und er dazu aufrief, sich damit abzufinden. Teile dieser Ausführungen unterfüttert Spengler mit reichlichen Beispielen aus verschiedenen Kulturen. Dies sei an folgendem Beispiel gezeigt. Es ging um die These, dass der „rassenhafte“ Teil der Weltgeschichte Privatgeschichte sei: „Die Geschichte Athens im 5. Jahrhundert ist zum großen Teil die der Alkmöoniden, die Geschichte Roms die von einigen Geschlechtern von der Art der Faber und Claudier. Die Staatengeschichte des Barock ist im Umriß identisch mit den Wirkungen der habsburgischen und bourbonischen Familienpolitik, und ihre Krisen haben die Form von Heiraten und Erbfolgekriegen. Die Geschichte von Napoleons zweiter Ehe umfasst auch den Brand von Moskau und die Schlacht bei Leipzig“ (Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt A 2, S. 415). 113 Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt A 2, S. 416. 114 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten in: Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 6, Berlin 1914, S. 203– 439, S. 277, Zeilen 11–13. 115 Jedem der nun geneigt ist, Spengler zu entgegnen, dass Kant gerade die Praxis der überwiegenden Ehen gut getroffen, hätte wohl Spengler entgegnet, dass man bei richtigem Hineinfühlen zu dem Ergebnis kommen müsse, dass es um etwas ganz anderes geht, die Gewährung des wechselseitigen Gebrauchs der Geschlechtsorgane und des Geldes. 116 Siehe allgemein zur Verdrängung des Neukantianismus auch oben S. 88. Insbesondere von den jüngeren Staatsrechtlern, die ihre wissenschaftlichen Karrieren erst in der Weimarer Republik begannen, vertrat niemand mehr neukantianische Positionen. Hegel
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interessant, auf wie vielen Ebenen Spengler Kant angriff. Das Kants Philosophie eine gewisse Lebensfremdheit innewohnte war Allgemeinplatz.117 Sehr radikal hatte Spengler darüber hinaus Kants Vorstellung von überzeitlicher Vernunft und Verstand aus der Perspektive seiner Kulturphilosophie angegriffen.118 In jeder Kultur seien alle Erkenntnisse relativ, so Spengler gegen Kant. Die Einordnung Kants als Priester stellt einen Angriff auf einer weiteren Ebene dar. Damit gehört Kant der Kaste an, die Theorien produziert, die qua Kastenzugehörigkeit gewissermaßen a priori nicht im politischen Leben umgesetzt werden. Kant als Priester könne sich politisch nicht auswirken, erst recht nicht in der angebrochenen Zivilisationsphase von Spenglers Gegenwart. Es musste daher mit Spengler besonders absurd erscheinen, sich in der Weimarer Zeit in politischen Fragen noch auf Kant zu stützen. d) Rechtsbegriff Spenglers: Recht ist Macht Wenn das Recht aber letztlich dem theorielosen Lebensstrom, dem geheimen Takt allen Werdens entsprang, so musste sich daraus ein eigener, radikaler Rechtsbegriff ergeben. Noch ausdrücklicher betonte Spengler diesen, für ihn als Tatsache feststehenden Umstand, indem er das Recht vollkommen gleichsetzte mit Macht. So schrieb er schon in einem Kapitel über die Rechtsgeschichte: „Jedes Recht enthält in abgezogener Form das Weltbild seiner Urheber, und jedes geschichtliche Weltbild enthält eine politisch-wirtschaftliche Tendenz, die nicht von dem abhängt, was dieser oder jener sich theoretisch denkt, sondern von dem, was der Staat praktisch will, welcher die tatsächliche Macht und damit die Rechtsschöpfung in Händen hat.“119
In seinem Kapitel über den Staat fand sich ein kleiner Abschnitt unter der eindeutigen Überschrift „Recht und Macht“120. Hier hieß es: gab ihnen mehr Anregungen (Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 177; Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatstheorie (1911–1934), S. 12 ff.) und sie bedienten sich auch umfangreich bei weiteren Philosophen und politischen Schriftstellern ihrer Zeit. So betont etwa Klaus Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik. Untersuchungen zu Erich Kaufmann, Günther Holstein und Rudolf Smend, Diss. Freiburg 1894, Berlin 1987, S. 99 f. und S. 111, dass Kaufmann auch bei Dilthey Anleihen machte; Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, S. 187, betont, dass sich Hermann Heller in seiner Staatslehre bei Dilthey und Husserl für Anregungen bedankt; Gerhardt Leibholz bezog sich auf Husserl, Scheler und Litt (Lepsius, ebda., S. 178); Rudolf Smend berief sich vielfach auf Litt und Dilthey (Lepsius, ebda., S. 196). 117 Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt 1, S. 77. 118 Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt 3, S. 82. 119 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt C 15, S. 74. 120 Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt B 6, S. 449 ff.
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„In jedem Falle aber ist das Recht des Stärkeren auch das des Schwächeren. Recht haben ist ein Ausdruck von Macht.“ 121
Nun könnte man meinen, Spengler hätte damit alles Recht der Sphäre eines quasi biologischen Kampfes ums Dasein untergeordnet. Die Rechtsentwicklung wäre dann, wie die naturwissenschaftliche Evolution, ein Ergebnis von vielen Zufällen, hätte keinen Sinn, kein Ziel und keine Richtung. Spengler sah es aber auf Basis seiner Kulturphilosophie als eine „Schicksalsfrage“ an, „wer Recht setzt und für wen es gesetzt werde.“122 Er verknüpfte also die Machtfrage mit der Schicksalsfrage und erhob damit seine Idee über die bloße Evolution. In der Epoche des Rationalismus sei das Recht für kurze Zeit an die Vernunft gebunden, weil der Rationalitätsglaube das mächtigste Agens dieser Phase sei. Für spätere und frühere Kulturzeiten sehe das Schicksal jedoch etwas anderes vor. Mit zunehmender Zivilisation verblasse jedoch das Schicksal. Alle Kämpfe und damit auch alle Rechtssetzungen würden in einer kulturlosen Zeit zu einem „zoologische(n) Auf und Ab“.123 Sämtliche Ideen, „selbst der überzeugendste Schein einer Idee“,124 werde in der Zivilisation „nur die Maske für eine rein zoologische Machtfrage“.125 Niemand drückte dies, ohne es rassistisch im Sinne der Nationalsozialisten zu meinen, so drastisch aus wie Spengler: „Wenn zwischen zwei Negerstämmen des Sudan oder den Cheruskern und Chatten zur Zeit Caesars oder, was wesentlich dasselbe ist, unter zwei Ameisenvölkern eine Schlacht stattfindet, so ist das lediglich ein Schauspiel der lebendigen Natur.“ 126
Jedenfalls verwarf Spengler für die Zivilisationszeit vollkommen die Geltung irgendeiner Moral oder Sitte als konstruktives Element für Recht. Das bedeutet aber auch – und das ist wichtig für eine Zeit, in der sich einige Staatsrechtswissenschaftler neu an Hegel zu orientieren beginnen127 –, dass der Staat bei Spengler nicht mehr Träger eines sittlichen Prinzips sein konnte.128 121
Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt B 6, S. 450. Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt B 6, S. 449. 123 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt B 11, S. 58. 124 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt B 11, S. 59. 125 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt B 11, S. 59. 126 Spengler, UdA II, Kapitel I, Abschnitt B 11, S. 57. Diese Situation stehe auch dem Abendland bevor, wenn die Kultur vollständig erloschen sei, was in naher Zukunft bevorstehe. In seiner Gegenwart sah Spengler noch die letzten Mechanismen der Kultur, bzw. der beginnenden Zivilisation, wirken: Der Sozialismus als die spezifisch abendländische Zivilisationsform und der Cäsarismus als letztes politisches Schicksalsphänomen. 127 Siehe Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S 177; Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatstheorie (1911– 1934), S. 12 ff. 128 Dies betont auch Botermann, Spengler, S. 266. 122
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Was Spengler vor allem auch verwarf, war die Geltung eines ewigen überzeitlichen Naturrechts. Dieses könne schon deshalb nicht in Betracht kommen, weil das Denken der Menschen jeweils durch ihre Kulturseelen geprägt sei, was Spengler vor allem auch gegen Kant betonte. Das naturrechtliche Denken – welches nach Spenglers nur in der kulturellen Rationalitätsphase wirkungsmächtig sein konnte – assoziierte der Kulturphilosoph mit dem Priester, während die Gleichsetzung von Macht und Recht, dem Tatsachenmenschen des Adels, der keine Wahrheit kennt, sondern nur Erfolg, zugeordnet war. Auf dieser Basis konnte er verkünden, die Gleichsetzung von Macht und Recht sei: „(E)ine geschichtliche Tatsache, die jeder Augenblick bestätigt, aber sie wird im Reich der Wahrheit – das nicht von dieser Welt ist – nicht anerkannt. [...] Ein abstraktes Ideal von Gerechtigkeit geht durch die Köpfe und Schriften aller Menschen, deren Geist edel und stark und deren Blut schwach ist, durch alle Religionen, durch alle Philosophien, aber die Tatsachenwelt der Geschichte kennt nur den Erfolg, der das Recht des Stärkeren zum Recht aller macht.“129
2. Rezeption in der Staatsrechtslehre Verschafft man sich einen Überblick über die Textstellen, an denen sich Staatsrechtler auf Spengler beziehen, so wird schnell klar, die Nennung des Kulturphilosophen im Bezug auf Grundlagenfragen konnte jedes Mal etwas anderes bedeuten. So hielt etwa Gustav Adolf Walz Spenglers Methode des Fühlens für die überlegende Epistemologie und lehnte zugleich mit Spengler und Fichte die rationale Demokratie für einen zu überwindenden Zwischenschritt ab. Spengler erschien dabei als der bedeutendste lebende Lebensphilosoph.130 Hermann Heller gefiel Spenglers Kritik an einer zu rationalen Demokratie, er blieb selbst jedoch insgesamt Demokrat. Zur Erkenntnistheorie Spenglers verlor er kein Wort.131 Kelsen versuchte die Demokratiekritik Spenglers gerade durch Hinweis auf Spenglers unwissenschaftliche, erkenntnistheoretisch nicht abgesicherte Methode des Nachfühlens zu widerlegen.132 Koellreutter lehnte die Methode Spenglers eben129
Spengler, UdA II, Kapitel IV, Abschnitt B 6, S. 450. Siehe unten S. 248 ff. 131 Siehe unten S. 252 ff. 132 Dem kantischen Demokratievertreter Kelsen kam es freilich vor allem darauf an zu zeigen, dass Spengler seinen „gegen die Demokratie gerichteten – politischen Postulate(n)“ (Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 385) Nachdruck verleihen wollte, indem er sie camouflierend „im Gewande von Wesensurteilen“ (S. 385) präsentierte. Zudem wies Kelsen auf Widersprüche in Spenglers Aussagen hin (S. 385 f.). Dabei wurde der Zwiespalt zwischen dem Rationalismus Kelsens und dem antiintellektualistischen Spengler offenbar. Für Kelsen waren Spenglers Postulate nur scheinbar Wesensurteile. Auf wissenschaftlich sicherem Boden standen sie nicht. Für Spengler konnten wahre Wesensurteile nur vulgär lebensphilosophisch durch ein Nachfühlen begründet werden. Kelsen 130
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
falls als unwissenschaftlich ab, schätze den Kulturphilosophen jedoch als vorzüglichen Gegenwartsanalysten, der die Tatsachen des Politischen gegen die Theorie der Verfassung in Stellung brachte.133 In jedem Statement gab es einen Bezug zum Irrationalismus Spenglers, aber im Ergebnis liegen vier verschiedene Aussagen vor. Es können zwei Rezeptionswege unterschieden werden. Zum einen waren Staatsrechtler mit Spengler der Ansicht, dass Grundlage jeder tieferen Erkenntnis das Gefühl sein musste. Zum anderen waren Autoren mit Spengler der Ansicht, dass die Tatsachen über oder zumindest neben die Theorie des Staatsrechts und dessen Normenbestand gestellt werden müssen. Auch die Kritik an Spengler setzte differenziert an den beiden unterschiedlichen Polen an. Dies soll im Folgenden genauer gezeigt und erläutert werden. a) Die Methode des Nachfühlens Einige Staatsrechtler bezogen sich deutlich auf Spenglers Kulturphilosophie und seiner irrationalen Methode des Nachfühlens. Der Völkerrechtler, Staatsrechtsphilosoph und „Großraumtheoretiker“134 Gustav Adolf Walz135 interessierte sich wesentlich mehr für Spenglers Lebensphilosophie als für seine konkrete politische Publizistik. Insbesondere an seiner Habilitationsschrift „Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatphilosophie Fichtes“ lässt sich ein besonderes Spenglerinteresse ablesen.136
bemerkt dazu nur, dass Spengler versuche, „den offenkundigen Widerspruch zu überkleistern“ (S. 385 f.). 133 Siehe unten S. 251 ff. 134 Siehe Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 392. 135 Siehe zu Walz vor allem: Christoph Schmelz, Der Völkerrechtler Gustav Adolf Walz – Eine Wissenschaftskarriere im „Dritten Reich“, Berlin 2011; bei Walz handelte es sich um einen durch und durch politischen Staatsrechtler: In der Weimarer Republik machte er sich noch einen Namen als Völkerrechtler und Rechtsphilosoph, trat aber bereits 1931 in die NSDAP ein und fungierte in der Zeit des Nationalsozialismus als „Führer“ (diese Bezeichnung stammt von ihm selber: Gustav Adolf Walz, Der Rektor als Führer der Universität in: DR (1935), S. 5) der Universität Breslau. Siehe zu den groben Lebensdaten und vor allem seiner Betätigung während der NS-Zeit Thomas Ditt, „Stoßtruppfakultät Breslau“. Rechtswissenschaft im „Grenzland Schlesien“ 1933–1945, Diss. Frankfurt 2009, Tübingen 2011, S. 52 ff. 136 Gustav Adolf Walz, Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes. Zugleich ein Versuch zur Grundlegung einer allgemeinen Sozialmorphologie, Berlin Grunewald, 1928; siehe hierzu auch Theodor Haering, Rez. Walz, Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes in: Historische Zeitschrift, 141 (1930), S. 547–550. Zwar stand im Zentrum die Staatsidee Fichtes, die Walz in den Kontext der rationalistischen Staatsphilosophie, insbesondere Kants und Wilhelm von Humboldts und der romantischen Staatsphilosophie, insbesondere Mösers und Burkes einbettet. Walz selber orientierte sich in dieser Zeit
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Sein methodisches Vorgehen beschrieb Walz in dem Untertitel seiner Arbeit als „Sozialmorphologie“. Bereits dies ist eine Anspielung an den Untertitel zu Spenglers Hauptwerk „Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“. Walz thematisiert die „Einfühlungsmöglichkeit“137 in das „seelische Wirkungszentrum des fremden, historischen Menschen“138. Dabei sei stets das Zeiterlebnis des eigenen Ichs zu beachten, dass auch Zugang zu „überpersonalen idealen Wirkungseinheiten“ bzw. zu „geistigen Objektivationen“139 habe. Wilhelm Dilthey klingt hier deutlich an, wird aber – im Gegensatz zu Spengler140 – namentlich kaum genannt, obwohl es Walz deutlich um einen „intuitiven“ Zugang zu historischen Personen ging.141 Spengler war also für den jungen Walz gerade mit seinem lebensphilosophischen Hineinfühlen in Menschen, Epochen und Sachverhalte ein großes Vorbild. Mehrfach stellte Walz Fichte, Goethe, Schopenhauer und Hegel in eine Reihe, die er bei Spengler enden ließ. Sich in fremde Welten und Denker hineinversetzen, „(s)olches Aufgehen in den Gegenständen war allen großen Schauern eigen: Goethe, Schopenhauer, Hegel und Spengler“,142 so Walz. philosophisch vor allem an Hegel und war deutlich antipositivistisch gestimmt (Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. III, S. 262). 137 Walz, Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes, S. 110. 138 Ebda., S. 110. 139 Ebda., S. 111. 140 Walz betont die „Betätigung unserer ganzen seelischen Kräfte im Erleben, im Einleben und Nacherleben“ (Walz, Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes, S. 110) und führt fort, es handele sich um „ein Erfassen des sozialen Gebildes, der historischen Ganzheit von ihrem Zentrum aus, von hier aus blitzartig den ganzen Kreis in helles Licht tauchend. Das ist das Wesen jener immer wieder und neuerdings von Oswald Spengler so verherrlichten Intuition.“ (ebda., S. 112). 141 Für die Intuition wurde damals standardmäßig Henri Bergson zitiert, der den Begriff zu einer Säule seiner Philosophie machte. Walz, der Dilthey nicht nannte, ignorierte hier auch Bergson und wies nur auf Spengler hin. Dieser sagte in der Einleitung zu seinem Hauptwerk deutlich „Ein Werden kann nur erlebt, mit tiefem wortlosem Verstehen gefühlt werden. Hierauf beruht das, was man Menschenkenntnis nennt. Geschichte verstehen heißt Menschenkenner im höchsten Sinne sein.“ (Spengler, UdA I, Kapitel I, Abschnitt 1, S. 77). Ohne Weiteres hätte Walz diese Aussage auch in Diltheys Schleiermacherbiographie gefunden. Der junge Rechtsphilosoph orientierte sich aber lieber an Spengler, der Dilthey seinerseits ebenfalls kaum erwähnte. Es muss hier festgehalten werden, dass Spengler mit den Grundlagen seiner Kulturphilosophie für Walz wesentlich relevanter war, als mit seinen direkteren politischen Aussagen. Vor allem in einer dogmatisch unsicheren Zeit, in der nach Ansicht vieler eine „geisteswissenschaftliche Methode“ die Rettung der Wissenschaftlichkeit des Staatsrechts sein sollte, konnte Spengler also offenbar Teile der jüngeren Autoren beflügeln. 142 Walz, Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes, S. 112. Man beachte auch, dass Walz diese Linie bei Goethe beginnen ließ. Dies hätte er kaum bei anderen Rechtsphilosophen, schon gar nicht bei Kantianern ab-
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Auch das Gesamtergebnis von Walz entsprach dem spenglerschen Ergebnis. Walz verkündete, dass die „verstandesmäßige Demokratisierung“143 das Potential des Fichteschen Ideengehalts noch nicht erschöpft habe. Man müsse dafür eintreten, die auf dem rationalen aufklärerischen Menschenbild fußende Demokratie in ihrer jetzigen Form zu überwinden. Der „Staatsmachiavellismus“, wie Fichte ihn „in seinen besten Zeiten formuliert“ habe, sei berufen, „die neue Staatsgesinnung erst mitzubilden. […] Oswald Spengler hat als Schüler Hegels und Nietzsches das neue Staatsideal in eindringlichen Worten verkündet.“144 Auch wenn Walz in der Folgezeit, insbesondere ab 1933,145 Spengler nicht mehr so stark in den Vordergrund stellte, muss festgehalten werden, dass sich hier ein Staatsrechtler in seiner Habilitation auch maßgeblich an Spengler orientierte, und zwar sowohl in methodischer Hinsicht als auch in Fragen der politischen Anschauungen. Karl Otto Petraschek kritisierte zwar Spenglers vulgäre Lebensphilosophie, weil diese einen radikalen Relativismus zur Folge haben müsse,146 was insbesondere in Bezug auf Moralfragen nicht hinzunehmen sei.147 Spengler reduziere die gesamte menschliche Existenz radikal auf eine nackte sittenlose Machtfrage, so Petraschek.148 Gleichzeitig begrüßte Petraschreiben können. Spengler hingegen bekannte sich mehrfach offen zu Goethe als für ihn wichtigsten Inspirator: „Die Philosophie dieses Buches [Der Untergang des Abendlandes, L.M.K.] verdanke ich der Philosophie Goethes, der heute noch so gut wie unbekannten, und erst in viel geringerem Grade der Philosophie Nietzsches. Die Stellung Goethes in der westeuropäischen Metaphysik ist noch gar nicht verstanden worden. Man nennt ihn nicht einmal, wenn von Philosophie die Rede ist“ (Spengler, UdA I, Einleitung 16, S. 67, Fn. 1). Der zuvor von Walz als wichtiger Soziologe und Universalhistoriker besprochene Max Weber gehörte für Walz offenbar nicht in diese Reihe. Weber traute man zwar große analytische Kraft zu, aber nicht, sich einen intuitiven Zugang zu dem Leben einer Person zu verschaffen. 143 Walz, Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes, S. 659. 144 Ebda., S. 659 f. 145 So stark hat Walz Spengler später nie wieder in seine Thesen eingebunden. Seinem frühen NSDAP-Eintritt entsprechend machte er im Nationalsozialismus Karriere und ließ Spengler so weit er konnte hinter sich. Dass dies nicht immer ganz gelang, obwohl er den Kulturphilosophen nicht wieder zitierte, zeigte sich noch an den Rezensionen seiner Antrittsvorlesung. Siehe etwa Lutz Richter, Rez. Walz, Vom Wesen des Öffentlichen Rechts in: AöR 55 (1929), S. 126–129, S. 129; auf diese und weitere Rezensionen und auf die Tatsache, dass die Rezensenten Walz Text an Gierke und Spengler erinnert, hat hingewiesen Ditt, „Stoßtruppfakultät Breslau“. Rechtswissenschaft im „Grenzland Schlesien“ 1933–1945, S. 59. 146 Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, S. 95 ff. 147 Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, S. 100 ff. 148 Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, S. 108. Petraschek selbst ging von einem allgemeinverbindlichen, wenn auch nur abstrakt bestimmten Sittengesetz
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schek die spenglersche Lebensphilosophie, welche die „überragende Bedeutung der emotionalen Natur des Menschen“ und die „gefühlsmäßigen Grundlagen der Moral“149 offen gelegt habe. Petraschek stellte Spengler in die Nachfolge von Schopenhauer, den er sehr verehrte.150 Die üblichen Verdächtigen des Emotionalen, Bergson und Dilthey, tauchten hingegen nicht als Protagonisten auf.151 Abermals wurde Spengler damit als der bedeutendste lebende Lebensphilosoph dargestellt. Für Petraschek hält Spengler mit seinem Hinweis auf die emotionale Natur des Menschen den Schlüssel zu vielen Moralfragen in der Hand. In diesem Ausgangspunkt stimmte er Spengler zu. Als gläubiger Katholik konnte er Spengler freilich nicht in seiner Schlussfolgerung zustimmen, das Recht und die Moral seien außerhalb der Kulturzeiten nichts mehr als eine bloße Machtfrage. b) Die Beachtung der (irrationalen) Tatsachen Koellreutter begrüßte zwar Spenglers Demokratiekritik, hielt aber gleichzeitig Spenglers Lebens- und Kulturphilosophie für bedeutungslos. Das strenge Raster der jeweils 1000 Jahre gleichartig verlaufenden Hochkulturen wollte Koellreutter grundsätzlich nicht bewerten, denn es sei „metaphysischer Natur“152 und „intuitiv geschaut“153 und entziehe sich daher der wissenschaftlichen Beurteilung. Koellreutters Einstellung lässt sich am besten als ein wissenschaftlicher Pragmatismus beschreiben. Er kümmerte sich in der Hauptsache nicht darum, die Voraussetzungen seines Denkens zu ergründen. Er machte sich nicht so sehr wie andere zu einem Feldherren eines weiteren Stellvertreterkrieges zwischen Kant und Hegel. Die Lebensphilosophie, die Intuition, das Erfühlen von Wahrheiten und das Unterbewusste lehnte er als pragmatischer Wissenschaftler als schlichtweg unüberprüfbar ab. Wie wenig ihn diese Debatte überhaupt interessierte wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass er in einem Aufsatz Max Weber und Oswald Spengler gegenüberstellte. Viele hätten bei diesem Thema die unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Grundeinstelaus. Insbesondere in der Frage der Negation jeglichen Sittengesetzes sah Petraschek auch einen starken Einfluss von Nietzsche auf Spengler, den er ausführlich darlegte (Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, S. 106 ff.). 149 Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, S. 402. 150 Petrig, Emil Erich Hölscher (1880–1935) und Karl Otto Petraschek (1876–1950) im Zusammenhang des katholischen Rechtsdenkens, S. 147. 151 Große Bedeutung hatte für Petraschek hingegen Eduart von Hartmann, der sich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh. mit der „Metaphysik des Unbewussten“ (so ein Buchtitel: Eduart von Hartmann, Erläuterungen zur Metaphysik des Unbewussten, Berlin 1874, in der zweiten Aufl. (Berlin 1878) wechselte der Titel zu: Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus). 152 Koellreutter, Die Staatslehre Oswald Spenglers, S. 23. 153 Ebda., S. 23.
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lungen des „Superrationalisten“ Weber und des vulgären Lebensphilosophen Spengler verglichen. Koellreutter behandelte diese Frage mit keinem Wort. Koellreutter interessierte es aber sehr, dass Spengler die „Tatsachen“ und das „Leben“ betonte und gleichzeitig die Bedeutung des normativen Verfassungstextes herunterspielte. Dabei musste sich Koellreutter aber nicht zwingend der vulgärlebensphilosophische Methode des Nachfühlens bedienen. So ordnete er Spengler in die gegenwärtigen Diskussionen im Verfassungsrecht unter anderem ein, indem er ihn neben Rudolf Smend stellte, der eine „soziologisch begründete Verfassungstheorie“ vertrete.154 Koellreutter zeichnete ein vereinfachtes Schwarz-Weiß-Bild, auf dessen einen Seite all jene standen, welche grundsätzlich akzeptierten, dass Tatsachen eine Rolle spielten und dabei akzeptierten, dass das Empirische prinzipiell einen Einfluss auf die normative Ebene habe. Dazu rechnete sich Koellreutter auch sich selber und Spengler. Konstituierend für diese Seite war die Beachtung der Tatsachen. Da sich die Tatsachen aus dem empirischen Sein ergaben, nicht aus dem apriorischen Denken, wohnte diesem Denken zwingend ein gewisses Maß an Irrationalität inne. Nicht konstituierend war aber das irrationale Argumentieren an sich, die Beweisführung durch erfühlte Richtigkeiten. So konnte Koellreutter deutlich die Tatsachen akzeptieren, ohne irrationaler Lebensphilosoph werden zu müssen. Noch schwieriger zu verorten dürfte Hermann Heller sein. Ebenso wie Spengler sah er das Problem des Parlamentarismus in der Übertreibung seiner rationalen Wurzeln: „Die Krise des Parlamentarismus ist eine Krise der rationalistischen Mittel der Demokratie. Die parlamentarische Demokratie beruht auf dem Glauben an die rationale Natur des Menschen, der [...] seine politischen Streitigkeiten [...] durch öffentliches rationales Parlamentieren ausgleicht.“155 Er lobte in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Lebensphilosophie.156 Das bedeutete aber noch nicht, dass Heller selber seine Wissenschaft nicht mehr logisch-analytisch, sondern vornehmlich intuitiv betreiben wollte. Er wollte die Tatsachen der Politik nicht ignorieren und das bedeutete auch, das gewandelte Menschenbild zu beach154
Ebda., S. 44. Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart. 156 „Überblicken wir die Ergebnisse dieser Lebensphilosophie, so müssen wir ihr zunächst das gewaltige Verdienst zusprechen, im Zeitalter einer ertötenden Rationalistik und Mechanistik das lebendige Leben neu gewertet zu haben. Unzweifelhaft hat sie damit dem philosophischen Denken selbst, dass bis dahin nur noch eine, von beamteten Universitätsphilosophen mehr schlecht als Recht verwaltete Angelegenheit war, zu neuem Ansehen verholfen. [...] Wir verdanken es der Lebensphilosophie, daß wir die individuelle Gestaltfülle alles Wirklichen wieder sehen, daß wir uns gelöst fühlen von abstrakter Ver-Wertung und Vergesetzlichung des Leben durch einen gestaltlosen Rationalismus.“ (Heller, Europa und der Faschismus, S. 34). 155
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ten. Ähnlich argumentierte Heller in seiner gegen Kelsen gerichteten Schrift „Die Krisis der Staatslehre“157. Der Staat solle nach Heller keinesfalls rein normativ im Sinne Kelsens verstanden werden. Grundsätzlich biete die verstehende Soziologie im Sinne Max Webers eine geeignetere Perspektive. Der Staat stellt sich demnach als eine empirische Erlebniswirklichkeit dar. Dies prägnant auf den Punkt zu bringen, misslinge jedoch in den meisten Fällen, so Heller. Missverständliche Formulierungen vom Staat „als ‚Tatsache‘, als ‚Zustand‘, als ‚Volk‘“ seien daher im Umlauf. Dieses terminologische Dilemma habe Spengler nun gelöst. Heller schrieb hierzu: „Ausgezeichnet formulierte Oswald Spengler diesen Staatsgedanken: ‚Der Staat ist die Geschichte als stillstehend, Geschichte der Staat als fließend gedacht‘“158. Dieses Zitat wurde berühmt unter den Weimarer Staatsrechtslehren. Da Spengler die konkrete Verfassung abhängig machte von den konkreten Machtverhältnissen, erschien sie bei ihm auch als etwas Wandelbares. Die Verfassung stellte insofern so betrachtet eine Funktion der Geschichte dar. Etwas verändern oder etwas bewahren könne sie gegen die Geschichte nicht.159 Eine Festschreibung des Verfassungsrechts sei demnach immer nur eine Momentaufnahme. Die Wahrheit der Verfassung liegt in ihrer Verknüpfung mit der steten historischen Veränderung des tatsächlich gelebten Staates. Dies alles drückte Spengler in einem schlagwortartigen Satz aus, der Koellreutter so begeisterte, dass er die ganze Passage aus Spenglers „Untergang“ abschrieb: „Den Eindruck des Staates erhält man, wenn man von einem in bewegter Form dahinströmenden Dasein die Form für sich ins Auge fasst als etwas in zeitlosem Beharren Ausgedehntes, und von der Richtung, dem Schicksal ganz absieht. Der Staat ist die Geschichte als stillstehend, Geschichte der Staat als fließend gedacht. Der wirkliche Staat ist die Physiognomie einer geschichtlichen Daseinseinheit; nur der ausgedachte Staat der Theoretiker ist ein System“160.
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Siehe Heller, Die Krisis der Staatslehre, S. 289: „Durch die neueste Leistung auf diesem Gebiet aber, durch Kelsens Allgemeine Staatslehre, ist die Krise weniger anerkannt, geschweige denn eine Überwindung angebahnt, als für Sehende erst im vollen Umfang ihrer Gefährlichkeit offenbar geworden.“; vgl. auch Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatstheorie (1911–1934), der zeigt, dass Heller Kelsen für eine starke Gefahr für die Demokratie hielt. 158 Heller, Die Krisis der Staatslehre, S. 315. 159 Die betont auch Hebeisen, Recht und Staat als Objektivationen des Geistes in der Geschichte, S. 492 f. 160 Koellreutter, Die Staatslehre Oswald Spenglers, S. 7, bzw. Spengler, UdA II, S. 446.
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Auch Petraschek hielt den Satz für eine ausgezeichnete Formulierung.161 Kelsen wiederum bezeichnete Spenglers Formulierung aus seiner kantischen Perspektive heraus als vollkommen inhaltslos.162 Freilich war es für die juristische Perspektive riskant, zu sehr auf den Gang der Geschichte und zu sehr auf die Macht der Tatsachen zu schauen, und dabei den Blick für die normative Regelung der Verfassung aus den Augen zu verlieren. Wenn man nicht aufpasste und zudem noch Spengler zitierte, so vermittelte man leicht den Eindruck, für eine simple Gleichsetzung von Recht und Macht zu optieren. Ebenso verstand auch der Historiker Otto Hinze Koellreutters Spenglerschriften und kritisierte den Staatsrechtler stark dafür: „Es ist erstaunlich, daß gerade ein Jurist sich zum Anwalt dieser Staatstheorie gemacht hat. Bei den Juristen war es bisher im Allgemeinen üblich, die Bedeutung des Rechtsfaktors für das Staatsleben einseitig zu übertreiben. Ich habe bei jeder Gelegenheit gegen diese Einseitigkeit, die vor allem oder schlechthin im Staat ein Rechtsverhältnis sehen wollte, Verwahrung eingelegt zugunsten des Machtfaktors; aber gegenüber den Übertreibungen der spenglerschen Staatslehre, die von Koellreutter gebilligt wird, muß ich im entgegen gesetzten Sinne nachdrücklich protestieren.“ 163
Koellreutter begrenzte niemals ausdrücklich das Recht so stark wie Spengler auf eine bloße Funktion von Macht.164 Die Gleichsetzung von Recht und Macht konnten Juristen kaum hinnehmen, ohne ihr Fach aufzugeben, auch wenn sie Spengler grundsätzlich offen gegenüberstanden. So sagte Hermann Heller, der insbesondere Spenglers Kritik an der rationalen Demokratietheorie beipflichtete, dass mit Spenglers letztlich „zügellosen subjektivistischen Irrationalismus“165 nichts gewonnen sei, außer dass sich an Spengler „(d)ie rücksichtslosesten politischen Folgerungen eines normfreien Irrationalismus“166 studieren lassen, „dem Instinkt, Wille, Blut, nicht nur als mitbewegende, sondern als die allein entscheidenden Kräfte des Weltgeschehens gelten“.167 Heller sprach also eine deutliche Warnung vor der vulgären Lebensphilosophie aus, da sie in der gegenwärtigen geistes161
Heller, Die Krisis der Staatslehre, S. 315. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 4 und S. 375. 163 Ebda., S. 545. Auch hier zeigt sich im Übrigen wieder, dass ein Historiker davon ausgeht, die Tatsachen und Machtfragen seien insgesamt für die Analyse der Vergangenheit bedeutsamer als das Normative. Damit stimmt er mit den Historikern überein, die Heinrich Mitteis Buch „Lehnrecht und Staatsgewalt“ unter über diesem Gesichtspunkt rezensiert haben (siehe oben S. 67). 164 Insbesondere wäre sonst sein späterer Einsatz für den Begriff Rechtstaat während des Nationalsozialismus nicht erklärbar gewesen (siehe Otto Koellreutter, Der nationale Rechtsstaat. Zum Wandel der deutschen Staatsidee, Tübingen 1932). 165 Heller, Europa und der Faschismus, Berlin 1931, S. 34. 166 Heller, Europa und der Faschismus, Berlin 1931, S. 36. 167 Heller, Europa und der Faschismus, Berlin 1931, S. 36. 162
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geschichtlichen Lage insbesondere den radikalen Vertretern von „Blut und Boden“ den Weg ebne. Später legte Heller dar, dass die Theorie ungezügelter politischer Macht von Spengler populär gemacht und durch Carl Schmitt in eine für den deutschen Faschismus taugliche Theorie gegossen wurde. Heller deutete dabei an, dass ohne die Verbreitung, Popularisierung und Vulgarisierung des reinen Machtgedankens Schmitts Theorie zwar denkbar, aber in ihrer Wirkungsmacht nicht erklärbar gewesen wäre.168 c) Die „Tatsachen“ und das „Leben“ innerhalb des Methodenund Richtungsstreits als Kontext der Spenglerrezeption Zwei unterschiedliche Herangehensweisen wurden aufgezeigt. Ein paar Autoren verwendeten Spengler vor allem, um die Ergänzung der Vernunft durch das Gefühl und die Intuition in der Wissenschaft zu erlauben. Andere bezeichneten eben dieses Arbeiten mit dem Gefühl als Bedrohung für die Demokratie oder zumindest als gänzlich unwissenschaftlich. Gleichzeitig betonten sie, dass sie die empirische Tatsache des sich ständig fortentwickelnden Staates gerne genauer in ihre Wissenschaft einbeziehen wollen. Um dies zu erreichen stimmten sie Spengler im gewissen Umfang zu. Diese Grundüberzeugung wurde von vielen aus der jüngeren Generation der Staatsrechtler geteilt. Es wurde weiter oben bereits festgestellt, dass einige Staatsrechtlehrer für diese Beziehung zwischen Lebenswirklichkeit und Verfassung den Begriff Dynamik verwendeten, ohne sich jedoch dabei auf Spengler zu berufen.169 Ebenfalls wurde bereits festgestellt, dass Spengler allgemein anschlussfähig war, weil er zeitgeistgemäß die Tatsachen und das Leben betonte.170 Für die Staatrechtslehre muss hier jedoch noch eine weitere Dimension mitgedacht werden, um die Spenglerzitate vollumfänglich zu verstehen: der Methoden- und Richtungsstreit. Das Ende des Kaiserreiches und der damit verbundene Verlust des alten positiven staatsrechtlichen Normenbestandes verursachte vor dem Hintergrund der Niederlage im großen Krieg ein politisches und psychologischweltanschauliches Vakuum in der Staatsrechtlehre. An die Stelle des stabi168
Die Stelle lautet in der englischen Fassung (zunächst lag eine spanische vor) „The apotheosis of unrelieved political power, which corresponds to this disillusionment, is indicated in Sorel’s Réflexions sur la violence (Paris 1906–07), which was popularized in Germany by Oswald Spengler. In the second volume of his Decline of the West Spengler presents war as the primitive politics of all form of life: ‘The war, not of principles but of men, not of ideals, but of races over the exercise of power, is the first and last.’ Finally, Carl Schmitt formulated this theory for German fascism and singled out the conflict between friend and enemy.“ Hermann Heller, Political Science in: Christoph Müller (Hrsg.), Hermann Heller. Gesammelte Schriften, Bd. III. Staatslehre als politische Wissenschaft, 2. Auflage, Tübingen 1992, S. 45–76, S. 72. 169 Siehe oben S. 66 f. 170 Siehe oben S. 84.
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len wilhelminischen Reiches trat ein unberechenbares Weimarer System, welches insbesondere in den Jahren bis einschließlich 1923 von ständig wechselnden Mehrheiten im Parlament, einer galoppierenden Inflation, ständig drohenden bürgerkriegsähnlichen Zuständen, nicht demobilisierten Freikorps, politischen Morden, Putschversuchen und Gründungen regionaler Räterepubliken beherrscht war.171 Gleichzeitig gelangte eine neue Generation an die Lehrstühle des öffentlichen Rechts, die in neuen geistigen Grundlagen die Antworten auf die brennenden Fragen der Zeit suchten.172 In diesem Klima173 entstand der so genannte Methoden und Richtungsstreit,174 der, so Stolleis, „im Grunde eine Generaldiskussion um den Standort des Faches in einem politisch aufgewühlten Jahrzehnt“ war, welcher auch „die elementaren methodischen Voraussetzungen der eigenen Disziplin“175 betraf. Es wurde offen über Erkenntnistheorie, philosophische Einflüsse und politische Neuorientierungen debattiert. Auch, wenn die meisten Staatsrechtler sich nicht aktiv an dem Streit beteiligten,176 zeigte sich in ihm das metaphysische Dilemma einer ganzen Disziplin. Im Prinzip standen sich „Positivisten“ und „Antipositivisten“ gegenüber.177 Überspitzt 171
Siehe allgemein zur Weimarer Republik Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, 7. Aufl., Oldenburg u. München 2009; Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1998; Hans Mommsen, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar 1918–1933, Berlin 1998; Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik, Stuttgart 2008. 172 Siehe oben Fn. 116, S. 244. 173 Stolleis benennt als weitere Faktoren: „Die allgemeine Opposition gegen die aus idealistischem Begriffsrealismus und naturwissenschaftlichen Analogien gekreuzte ‚Konstruktionsjurisprudenz‘, die Entdeckung des Zwecks im Recht, die Freirechtsschule, die Interessenjurisprudenz und die aufsteigenden Sozialwissenschaften drängten auch die Öffentlichrechtler zur Neuorientierung.“ (Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 171). 174 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 153 ff., mit vielen weiteren Nachweisen auf S. 154 f., Fn. 6.; ders., Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre – ein abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte?, Stuttgart 2001; Wolfgang März, Der Richtungs- und Methodenstreit der Staatsrechtslehre, oder der staatsrechtliche Antipositivismus in: Nörr/Schefold/Tenbruck (Hrsg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, Stuttgart 1994, S. 75–136; bezeichnend für die Bedeutung dieses Streits und das damit verbundene Verständnispotentials ist, dass sich auch Nichtjuristen bei der Analyse der Zeit, des Methoden- und Richtungsstreites annehmen. So etwa in einem eigenen Kapitel Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 63 ff.; siehe jüngst die sehr präzise, aber nicht so sehr am Methoden- und Richtungsstreit, ausgerichtete Arbeit Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatstheorie (1911–1934). 175 Siehe Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S 155. 176 So Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 427; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3, S. 54. 177 Stolleis unterteilte die Akteure in drei Gruppen, die „Antipositivisten“, die „Positivisten“ und die „Wiener Schule“, welche im Prinzip auch zu den Positivisten zählt, aber
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formuliert vertraten die einen das Primat des Gesetzestextes und die anderen das Primat des Lebens. In einem berühmten Zitat, welches symbolisch die verhärteten Fronten und die Unvereinbarkeiten der Positionen zeigt, gestand Richard Thoma, dass die naturrechtlich-christlichen Begrifflichkeiten Erich Kaufmanns für ihn „sozusagen chinesisch“178 seien. Auch drastischere Worte fielen. Kaufmann hatte in der vorangegangenen Tagung verkündet: „Die bloß technische Rechtswissenschaft ist eine Hure, die für alle und zu allem zu haben ist.“179 Hier deutet sich eine Verständigungsbarriere an, die bereits bei der Erforschung der „Dynamiker“ aufgefallen war.180 In diesen Debatten ging es auch wesentlich um die Frage, inwieweit die rechtliche Welt des Sollens durch die tatsächliche Welt des Seins beeinflusst ist. Oliver Lepsius beschrieb umfangreich, wie die Mehrheit der jüngeren Staatsrechtlehrer in der Wirklichkeit eine neue Wahrheit sahen,181 welche über die Normativität hinausging. Ihre zentralen Begriffe vermischten daher die Elemente der Normativität mit jenen der Faktizität. Lepsius bezeichnete diesen Vorgang als die Bildung von Begriffen, welche die Gegensätze zwischen Sein und Sollen aufhoben.182 Gegner war dabei häufig Kelsens Wiener Schule.183 Auf Grundlage des philosophischen Vorbildes Kants184 konstruierte Kelsen eine „Reine
denkerisch eine Sonderstellung einnahm. Dabei betonte Stolleis, dass er den Begriff „Positivisten“ bewusst sehr offen verwendete, und dass die Wiener Schule deshalb eine Gruppe innerhalb des Positivismus bilden könne. Gleichzeit erläutert Stolleis, dass es auch österreichische Positivisten (und natürlich damit auch deutsche) gab, die zwar Positivisten, aber nicht Kelsenianer waren (Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 163 ff.). Haferkamp wies jüngst auf die Schwierigkeiten hin, die der Begriff „Positivismus“ als Ordnungskriterium mit sich bringt. Hans-Peter-Haferkamp, Positivismen als Ordnungsbegriffe einer Privatrechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts, in: Okko Behrends u. Eva Schumann (Hrsg.), Franz Wieacker – Historiker des modernen Privatrechts, Göttingen 2010, S. 181–211. 178 VVDStRl 4 (1928), S. 86. Er führte weiter aus: „Ich verstehe es einfach nicht und bin durchaus nicht der einzige in diesem Saale, der es nicht versteht. Ich spreche das aus, weil es doch ein sehr beunruhigendes Symptom der gegenwärtigen wissenschaftlichen Situation ist, dass selbst in einem so engen Kreise spezialisierter Fachgelehrter sich eine solche Kluft des Nichtverstehens der Problematik und der Terminologie der einen Gruppe durch die andere Gruppe auftut.“ (S. 86 f.) 179 VVDStRl 3 (1927), S. 22. 180 Siehe oben S. 150. 181 Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, S. 151, S. 375 ff. 182 Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, S. 146 ff., S. 218. 183 Auch hier wird stark verkürzt. Freilich gab es auch Gelehrte, die erst noch Anhänger Kelsens wurden oder diesem ab einem bestimmten Zeitpunkt den Rücken kehrten, wie Alfred Verdrorss 1923, der zu Naturrecht und Idealismus zurückkehrte (Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S 163). Siehe auch den um-
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Rechtslehre“185, die von jeder Form von Politik und gesellschaftlichen Einflüssen, Geschichte und Moral freigehalten werden sollte.186 Dies war gewissermaßen die rationale, theoretische oder normative Herangehensweise. Der kleinste gemeinsame Nenner der Spengler rezipierenden Staatsrechtler liegt darin, dieser Ansicht Kelsens und zugleich dem streng dogmatischen Positivismus und in philosophischer Hinsicht jeder Berufung auf Kant zu widersprechen. Die Lebensphilosophie spielte dabei jedenfalls immer eine Rolle, sei es als ein erkenntnistheoretisches Programm, welche das Nachfühlen über das Nachdenken setzte, oder sei es nur um das Verhältnis zwischen den lebendigen Tatsachen des Staatsrechts und dem Normenbestand in ein rechtes Verhältnis zu rücken. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass jeder Staatsrechtler, der das Leben betonte, gleichzeitig auch ein Sympathisant Spenglers sein musste. Erich Kaufmann gilt mit seiner Schrift „Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie“ von 1921 als ein früher Kämpfer für das Leben, für hegelianische Dialektik und mithin für Werturteile durch Rechtswissenschaftler.187 Er lehnte Spengler jedoch in der genannten Schrift kurz und scharf ab.188 Das mag auch daran gelegen haben, dass Kaufmann Hegel intensiver rezipierte als die meisten anderen. Nicht nur das Prinzip der Dialektik, sondern auch des Staats als Sittenträger hatte Kaufmann von Hegel übernommen.189 Spenglers Gleichsetzung von Recht und Macht und die damit fangreichen Forschungstand zu Autoren der Wiener Schule bei Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatstheorie (1911–1934), S. 9 Fn. 17. 184 Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatstheorie (1911–1934), S. 12 ff. 185 Diese hat Kelsen grundlegend niedergelegt in Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre und ders., Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, und in etlichen kleineren Schriften; siehe zu Kelsen in verschiedenen Perspektiven Stanley L. Paulson (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1925. 186 Die Rechtslehre hatte sich demnach nur mit Rechtsätzen zu befassen die ordnungsgemäß innerhalb des Rechtsystems zustande gekommen waren. Eine Bewertung des moralischen Gehalts der Normen war nicht vorgesehen. Ausgangspunkt der juristischen Arbeit war das philosophische Konstrukt der „Grundnorm“, von der aus man einen erkenntnistheoretisch festeren Boden zu betreten versuchte. Der Vorteil der Reinen Rechtslehre lag in ihrer Geschlossenheit und inneren Logik, die der Jurisprudenz einen wissenschaftlichen Gehalt verlieh, der in der Nähe der Naturwissenschaften angesiedelt werden konnte, jedenfalls wenn man die Grundnorm als Ausgangspunkt akzeptierte. Siehe hierzu Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, S. 167. 187 Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik. Untersuchungen zu Erich Kaufmann, Günther Holstein und Rudolf Smend, S. 160 ff. 188 Siehe oben S. 89, Fn. 287. 189 So Korb, Kelsens Kritiker, S. 32 ff.
III. Der junge Schmitt als Vergleichsfolie für Spenglers Lebensphilosophie
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einhergehende Ausschaltung jedes Sittenprinzips konnten bei Kaufmann nicht auf fruchtbaren Boden fallen. 3. Zusammenfassung Spenglers irrationale Grundlagen wurden durch die Staatsrechtler unterschiedlich aufgenommen. Einige diskutierten sie gar nicht.190 Andere betonten das Leben, lehnten aber Spengler ab (Kaufmann). Wieder andere standen den Lehren des Kulturphilosophen grundsätzlich positiv gegenüber. Dabei betonten einige die Bedeutung der gefühlsmäßigen Erkenntnis (Walz, Petraschek). Andere hielten diese für unwissenschaftlich (Koellreutter, Heller), lobten Spengler aber dafür, dass er die Lebenstatsachen höher einstufe als Verfassungstexte. Dies muss vor dem Kontext des Weimarer Methoden- und Richtungsstreites gelesen werden, in welchem „Positivisten“ und „Antipositivisten“ um die Grundlagen ihres Faches stritten. Nach einer holzschnittartigen Darstellung wollten jedenfalls alle Antipositivisten den Lebenstatsachen eine höhere Bedeutung beimessen. Spengler Ausdruck: „Der Staat ist die Geschichte als stillstehend, Geschichte der Staat als fließend gedacht“191 avancierte bei manch einem Antipositivisten zu einem gerne zitierten Slogan gegen den Positivismus (Heller, Petraschek, Koellreutter).
III. Der junge Carl Schmitt als Vergleichsfolie für Spenglers Lebensphilosophie III. Der junge Schmitt als Vergleichsfolie für Spenglers Lebensphilosophie
Zwar lässt sich leicht beweisen, dass Schmitt192 Spengler geläufig war,193 jedoch zitierte er den Kulturphilosophen nicht in seinen Arbeiten.194 Es
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So etwa Tatarin-Tarnheyden, Bolschewismus und Faschismus in ihrer staatsrechtlichen Bedeutung, S. 13. 191 Spengler, UdA II, S. 446. 192 Zu dem äußerst kontrovers diskutierten Schmitt und seinen frühen, also vor 1933 entwickelten Positionen siehe generell Hofmann, Legitimität gegen Legalität; Dirk Blasius, Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001; Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, 3. Aufl. Berlin 1995; Hartmuth Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, Berlin 1994; Reinhard Mehring, Pathetisches Denken, Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels: Katholische Grundstellung und antimarxistische Hegelstrategie, Diss. Freiburg 1988, Berlin 1989; Reinhard Mehring (Hrsg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003; Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988. Zur hier am Rande gestreiften politischen Theologie siehe Jürgen Brokoff/Jürgen Fohrmann (Hrsg.), Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jh., Paderborn/
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muss also besonders begründet werden, warum Carl Schmitt Gegenstand dieser Arbeit sein soll. Eine vergleichende Gegenüberstellung beider Denker verspricht aus mehreren Gründen gewinnbringend zu sein. So vertraten beide teilweise im Ergebnis sehr ähnliche Ansichten, weshalb sie beide gleichermaßen als überragende Autoren der Konservativen Revolution gelten.195 Die Ähnlichkeiten von bestimmten Positionen des Staatsrechtlers und des Kulturphilosophen wurden auch bereits durch die Zeitgenossen wahrgenommen.196 München/Wien/Zürich 2003; Michaela Rissing/Thilo Rissing, Politische Theologie. Schmitt – Derrida – Metz. Eine Einführung, München 2009. Biographisch in erster Linie Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie; Berlin 2009, daneben umfangreich für die Zeit des Nationalsozialismus Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“. 193 Was bei Spenglers enormer Popularität und Schmitts überragendem Lesehorizont eine triviale Erkenntnis ist. Für den katholischen Schmitt der 20er Jahre ist seine Ablehnung von Spenglers Pessimismus charakteristisch (so der einzige ausdrückliche Bezug aus dieser Zeit bei Carl Schmitt, Der bürgerliche Rechtsstaat, in: Günter Maschke (Hrsg.), Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus dem Jahren 1916–1969, Berlin 1995, S. 43–54, 45). Auch die Kulturkreislehre als Ganzes lehnte Schmitt ab, wenn er auch den Vergleich seiner gegenwärtigen Zeit mit dem Ende der römischen Republik durchaus treffend fand (siehe Carl Schmitt, Die geschichtlichen Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West. Bemerkungen zu Ernst Jüngers Schrift: „Der Gordische Knoten“ in: Günter Maschke (Hrsg.), Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus dem Jahren 1916–1969, Berlin 1995, S. 523–551, S. 536). Ab 1934, dem Beginn der Publikation von „A Study of History“ durch Arnold Toynbee, finden sich bei Schmitt hier und da inhaltsleere polemische Vergleiche zwischen Spengler und Toynbee. So notierte Schmitt 1948 in sein Tagebuch, dass einem gerade durch den Vergleich mit Toynbee „Spenglers Genialität [...] erst recht bewußt“ werde (Eberhard Freiherr von Medem (Hrsg.), Carl Schmitt Glossarium, Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, Berlin 1991, S. 126 (11.4.48)). Später notierte er weiter in diesem Sinne, Toynbee sei ein banaler Epigone Spenglers (ebda., S. 212 (20.12.48)). 194 Lediglich Koellreutters Spenglervortrag wird von Schmitt einmal genannt in Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 29. 195 Mohler/Weissmann, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, 6. Aufl., S. 255; siehe auch sehr viel differenzierter, aber im Ergebnis gleichlautend: Armin Mohler, Carl Schmitt und die „Konservative Revolution“ in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 129–151. In der dort ebenfalls abgedruckten Aussprache zu dem Referat von Mohler (S. 153–157) wurde vor allem kritisiert, dass Mohler einen großen Teil von Schmitts Katholizismus hinwegdiskutieren bzw. übergehen musste, um ihn passgenauer in die Konservative Revolution einzugliedern. 196 So wusste Hermann Heller 1934 für den Aufstieg der These, dass Recht aus Kampf und Macht entstehe, drei wichtige Namen: Sorel, Spengler und Schmitt. Spengler sei für die Popularisierung und Schmitt für die Theoretisierung des Gedankens wirkungsmächtig gewesen (Hermann Heller, Political Science in: Martin Draht (Hrsg.), Hermann Heller, Gesammelte Schriften, Bd. III 2. Aufl., Tübingen 1992, S. 45–75, S. 72). Otto Koellreut-
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Schmitt und Spengler schrieben in einem ähnlichen Alter,197 im gleichen zeithistorischen Kontext. Beide verwendeten äußerst geschickt, aber in ganz unterschiedlicher Art und Weise, die Geistesgeschichte für ihre Argumentation. Für Kurt Sontheimer sind beide Autoren besonders relevant für das antiparlamentarische Schrifttum der Weimarer Republik, wenn auch Carl Schmitt dabei die bedeutendere Position einnahm.198 Sowohl in der Spengler-199 als auch in der Schmittforschung200 dient der jeweils andere Großdenker allenthalben als Referenzgröße und sei es nur durch die Aussage, dass beide Autoren mit ihren Schriften den „Nerv der Zeit“201 trafen, wie Mehring betont. Am weitesten geht hier auf Seite der Schmittforscher Hasso Hofmann, der in verschiedenen Schriften Schmitts Hinweise auf Spenglers „Preußentum und Sozialismus“ erkennt, wenn auch „ohne ausdrückliche Erwähnung freilich“202. So betont Hofmann, dass Schmitt 1928, „Spenglers Aufruf von 1919, den deutschen Sozialismus von Marx ter stellte Spenglers Antiparlamentarismus unter anderem in den Kontext von Schmitts Parlamentarismuskritik (Koellreutter, Die Staatslehre Oswald Spenglers, S. 33, S. 36 f. Siehe hierzu auch Hebeisen, Recht und Staat als Objektivationen des Geistes in der Geschichte, S. 494, der Koellreutters Feststellung der Ähnlichkeit zwischen Schmitt und Spengler für teilweise richtig hält. Zudem spricht er davon, dass bei der Ausblendung des spenglerschen Weltbildes von seinem Werk ein reiner Dezisionismus übrig bleibt). 197 Der 1888 geborene Schmitt war nur 8 Jahre jünger als Spengler. 198 Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 147 ff., insbesondere S. 153 ff. zu Carl Schmitt, dessen Parlamentarismuskritik die „gescheiteste und wirksamste“ gewesen sei. 199 So dient Schmitt etwa bei Boterman als ein Vergleichmaßstab für politische Publizistik (Boterman, Spengler, S. 261); Samir Osmančević plante sogar ursprünglich seine Spenglerinterpretation „durch die thematische Einbeziehung von zwei anderen geschichtsphilosophisch wichtigen Akteuren der Weimarer Republik – nämlich Ernst Jünger und Carl Schmitt – zu erweitern“ (Osmančević, Spengler, S. 35), was er jedoch – einerseits leider, andererseits in unendlicher Weisheit – unterließ; einen Teilvergleich unternahm Lantink, Spengler, S. 319 ff., für den Aspekt der Romantik bei beiden Denkern. 200 So verwendet etwa Henning Ottmann bei seiner Interpretation Schmitts Kapitel über das „Zeitalter der Neutralisierungen und Politisierungen“ aus dem „Begriff des Politischen“ Spengler als wichtige zeitgenössische Referenz (Henning Ottmann, „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ (79–95). Carl Schmitts Theorie der Neuzeit in: Reinhard Mehring (Hrsg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, S. 156–169. 201 Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, S. 108 f. 202 Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 86. Hier sieht Hofmann Parallelen zwischen Spenglers „Preußentum und Sozialismus“ und Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, Hamburg 1934; an einer Stelle, an der Schmitt schrieb, dass in England „Die Insellage die Verfassung ersetzte“ (Schmitt, Verfassungslehre, S. 50), erkannte Hofmann, dass Schmitt hier Spengler zitierte, ohne den politisierenden Kulturphilosophen zu nennen (Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 128, Fn. 203).
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zu befreien“203 wiederholt habe. Dieser Einschätzung pflichtete auch Andreas Koenen bei.204 Auf der Seite der Spenglerforschung ist Francis Wilhelm Lantink zu erwähnen, der „die Romantik“ bei beiden Denkern gegenüberstellt.205 Das Interesse der Spenglerforschung an Schmitt und das Interesse der Schmittforschung an Spengler ist also durchaus vorhanden.206 Im Schmitt-Archiv existiert ein mit Unterstreichungen und mit (wenigen) Anmerkungen versehenes Exemplar von Spenglers „Preußentum und Sozialismus“ von 1919, welche Hofmanns These stützt. Die Rekonstruktion der Gesamtbibliothek Schmitts207, die generell ein gewisses Spenglerinteresse verrät,208 lieferte den entscheidenden Hinweis auf die Archivalie. Anmerkungen Schmitts und die Markierungen des spenglerschen Textes deuten darauf hin, dass der Staatsrechtler Spenglers Werk vor allem in Hinblick auf seine Arbeit über die Diktatur gelesen hat.209 Freilich lässt 203
Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 133. Koenen, Der Fall Carl Schmitt, S. 252. 205 Lantink, Oswald Spengler oder die „zweite Romantik“, S. 313 ff. 206 Siehe darüber hinaus auch mit einem Verweis auf Agostino Carrino, der ebenfalls Ähnlichkeiten zwischen Spengler und Schmitt Betont, Hebeisen, Recht und Staat als Objektivationen des Geistes in der Geschichte, S. 496. 207 Siehe http://www.carl-schmitt.de/download/biblio-cs.pdf. 208 Der Untergang des Abendlandes und andere primär philosophische Werke Spenglers waren nicht in der Bibliothek des Staatsrechtlers vorhanden. Dafür fanden sich sämtliche politischen Schriften des Kulturphilosophen, darunter ein mit Anmerkungen versehenes Exemplar von Spenglers „Preußentum und Sozialismus.“ (http://www.carl-schmitt. de/download/biblio-cs.pdf, abgerufen am 4.11.2013, S. 422). Auch spenglerspezifische Sekundärliteratur findet sich, etwa Manfreds Schröters „Der Streit um Spengler“, Koellreutters Spenglervortrag sowie der von v. Leers aus nationalsozialistischer Perspektive geschriebene Angriff auf Spengler von 1934. 209 So wurde der Begriff Diktatur mehrfach unterstrichen („Preußentum und Sozialismus – Exemplar Schmitt“, S. 8, 45, 56, 65, 66, 72 und 90). Hier ging es etwa um etwa die Marxistische „Diktatur des Proletariats“, oder die „zwangsläufige Diktatur des Gelds“, bzw. „Diktatur der Wirtschaft“, welche sich ergebe, wenn der liberale Parlamentarismus zum Zuge komme. Tatsächlich fand Schmitt noch wesentlich mehr Stellen in „Preußentum und Sozialismus“, die Aspekte der Diktatur aus Spenglers Perspektive beleuchteten. Insbesondere die Kernthese aus Preußentum und Sozialismus, nach der ein von Marx befreiter Sozialismus die Zukunft Deutschlands sei, verband der Kulturphilosoph mit einer Analyse der Diktatur des Proletariats. Marx Fehler sei es gewesen, von einer separaten Klasse und nicht von einer einheitlichen Kultur- oder Volkseele auszugehen. Gleich doppelt strich sich Schmitt Spenglers Zusammenfassung des marxistischen Dilemmas an: „Die Lehre von Marx und die Klassenselbstsucht haben es verschuldet, dass beide, die sozialistische Arbeiterschaft und das konservative Element, sich wechselseitig und damit den Sozialismus missverstanden haben.“ (Preußentum und Sozialismus – Exemplar Schmitt, S. 97). Zudem interessierte Schmitt offenbar Spenglers Einschätzung, dass nur ein „Fürst“ (Preußentum und Sozialismus – Exemplar Schmitt, S. 91) eine Regierung vor dem Händlertum schützen könne, welches ansonsten die Demokratie mit der „Käuflichkeit der Regierung durch den privaten Bürger“ gleichsetze. 204
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sich daraus nicht zwingend der Schluss ziehen, dass Schmitt bestimmte Inhalte übernommen hat. Der bearbeitete Zustand von Schmitts Exemplar und die thematische Nähe zu seinen eigenen Arbeiten sprechen aber jedenfalls dafür, dass die von Hasso Hofmann gefundenen weiteren Parallelen nicht zufällig entstanden sind. Ein Detailvergleich beider Schriftsteller ist bisher jedoch noch nicht unternommen worden. Bei dem jeweils umfangreichen Oeuvre droht ein solches Unternehmen leicht auszuufern, selbst wenn – wie hier – der Fokus des Interesses vor 1933 liegt.210 Vermutlich wurde häufiger schon ein solcher Vergleich angestrebt, dann aber doch unterlassen, weil es potentiell „ein den gesetzten Rahmen sprengendes und illusorisches Unterfangen“211 darstellt – wie es jüngst der Spenglerforscher Samir Osmančević ausdrückte. Ein grundsätzliches Problem für den Vergleich entsteht auch dadurch, dass Schmitt wohl schon „für die Zeitgenossen am schwierigsten zu verorten“ war „und […] es heute noch ist“,212 so Stolleis. Nach Hofmann hat „kein anderer deutscher Rechtsdenker […] so gegensätzliche Beurteilungen erfahren wie Carl Schmitt“213. Ein tiefgreifender, umfangreicher Vergleich wird daher auch nach der vorliegenden Arbeit ein Desiderat bleiben. Doch kann Carl Schmitt aufgrund seiner überragenden Bedeutung für die Weimarer Staatsrechtslehre auch nicht ignoriert werden. Er war ein wichtiger Pol der Staatsrechtslehre, der Stichworte vorgab und an dem sich Debatten ausrichteten und entzündeten. Es werden daher im Ergebnis übereinstimmende Positionen Schmitts und Spenglers bezüglich des prinzipiell kriegerischen Wesens des Politischen, des grundsätzlichen Macht-Charakters des Rechts und der „politischen Romantik“ skizziert werden.214 Es soll also zunächst nicht ver210
Hauptsächlich wurde Spengler von Staatsrechtlern vor 1933 wahrgenommen. Da Spengler im Nationalsozialismus in Ungnade fiel war es für einen karriereorientierten Autor kaum noch möglich, sich nach dem Sommer 1933 auf den Kulturphilosophen zu berufen (siehe oben S. 22). Daher kann der hier vorzunehmende Vergleich auch auf die Jahre bis zur Machtergreifung begrenzt werden. 211 Osmančević, Spengler, S. 35. 212 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. III, S. 178 m.w.N. 213 Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 1. 214 Übereinstimmungen in anderen Fragestellungen, die nicht unmittelbar mit dem Staatsrecht zusammenhängen, – etwa die bei beiden als „pessimistische“ bezeichnete Kulturkritik – bleiben dabei unberücksichtigt. (Spenglers Kulturkritik war Kernthese des „Untergangs“. Mit Beginn der Zivilisationsepoche der abendländischen Kultur sei es unmöglich, etwas kulturell der Seele entsprechendes hervorzubringen. Spengler empfahl jungen Menschen deswegen lieber die Wirtschaft, das Ingenieurwesen oder die Politik als Betätigungsfeld. Dies wurde verständlicherweise als pessimistisch bezeichnet, während Spengler sich gegen diese Bezeichnung wehrte (Oswald Spengler, Pessimismus?, Berlin 1922); Carl Schmitt wurde in der Zeit, in der Spengler den ersten Band seines Hauptwerks verfasste, durch Theodor Däubler ebenfalls zu einer deutlichen Kulturkritik seiner
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sucht werden, die Herleitungen und Gedankengänge zu vergleichen. Sodann wird die Parlamentarismuskritik beider Denker gegenübergestellt und dabei auch gewisse Aspekte der unterschiedlichen Denkweisen Schmitts und Spenglers beleuchtet. Alle hier zu untersuchenden Fragen befinden sich auch im Spannungsfeld zwischen Rationalismus und Irrationalismus. Dieser Gegensatz soll auch hier die Perspektive des Vergleichs bestimmen. Ziel ist es, die unterschiedlichen Denkweisen beider Olympier im Hinblick auf Rationalismus und Irrationalismus auf den Punkt zu bringen. 1. Übereinstimmungen in Spenglers und Schmitts Positionen Spenglers politisch relevante Thesen wurden bereits vorgestellt. Sehr radikal kam der Kulturphilosoph aufgrund seiner Lebensphilosophie zu der Erkenntnis, dass Recht nichts anderes sei als das Recht des Stärkeren, des Siegers, des Erfolgreichen. Die Tatsachen der politischen Wirklichkeit seien dabei der einzige Bewertungsmaßstab. Damit verwarf er die Geltung jeglichen überzeitlichen Naturrechts und jeglichen Sitten- und Moralbezug des Rechts. Im Ergebnis lief Schmitts Dezisionismus215 auf eine ähnliche Aussage hinaus.216 Nach seiner berühmten Formulierung von 1922 sei Souverän, „wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“217 Hierdurch offenbare sich generell das Wesen des Staates.218 Mit Hobbes, den Schmitt als dezisionistischen Denker vorstellte, verkündete er „autoritas non veritas facit legem“,219 wobei Schmitt ebenso wie Hobbes nicht nur auf nackte Gewalt, sondern auch auf das ordnungsstiftende Moment abstellte.220 Schmitt setzte also nicht vollkommen anarchisch-radikal jede Gewalt mit Recht gleich.221 Gegenwart inspiriert (Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, S. 50 ff.)). 215 Siehe hierzu Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, S. 55 ff.; Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, S. 18 ff.; Mehring, Carl Schmitt, Aufstieg und Fall. Eine Biographie, S. 125 ff. 216 Wenngleich Mehring darauf hinweist, dass Schmitt unter Berufung auf Kierkegaard andeute, dass es jenseits des Staates auch ein Gottesrecht gebe (Mehring, Carl Schmitt, Aufstieg und Fall. Eine Biographie, S. 126). 217 Carl Schmitt, Politische Theologie, 8. Aufl. Berlin 2004, S. 11. 218 Schmitt, Politische Theologie, S. 19. 219 Schmitt, Politische Theologie, S. 39 f. 220 Schmitt, Politische Theologie, S. 19; siehe hierzu auch Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, S. 56, mit umfangreicher Diskussion einer entgegenstehenden Auffassung Peter Schneiders zu dieser Frage. 221 Vgl. Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, S. 126. Schmitt lehne, so Mehring, die Unterscheidung zwischen Recht und Macht auch nicht ab, „(a)ber
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Letztlich wurzele das Recht aber in einer politischen Entscheidung und nicht in einer Rechtsidee222 oder in der apriorischen Übernorm Kelsens. Die Parallelen gehen noch weiter: Spengler beschrieb den Krieg als das Grundverhältnis der Völker untereinander und überhaupt als das Agens der Geschichte.223 Im Untergang des Abendlandes schrieb er in dem Kapitel über den Staat: „Ein Volk ist wirklich nur im Bezug auf andere Völker. Aber das natürliche, rassehafte Verhältnis zwischen ihnen ist eben deshalb der Krieg. Das ist eine Tatsache, die durch Wahrheiten nicht verändert wird. Der Krieg ist die Urpolitik alles Lebendigen und zwar bis zu dem Grade, daß Kampf und Leben in der Tiefe eins sind und mit dem Kämpfenwollen auch das Seinwollen erlischt.“ 224
In Preußentum und Sozialismus hieß es: „Weltgeschichte ist Staatengeschichte. Staatengeschichte ist die Geschichte von Kriegen.“225
Auch Carl Schmitt definierte im Verlauf 226 des Werkes „Der Begriff des Politischen“227 das Wesen des Politischen als ein Kampf zwischen Freund er weigert sich, die Rechtsfrage mit dem staatlichen Gesetz zu identifizieren und einen rechtlosen Ausnahmezustand anzuerkennen.“ 222 Damit ist freilich auch das Verhältnis der „Politische Theologie“ zu Schmitts Frühwerk aufgegriffen, da er in seiner 1914 publizierten Habilitation mit einer Rechtsidee arbeitet, die in Zeiten der Mittelbarkeit durch den Staat zu vermitteln sei. Diese Frage braucht für die vorliegende Arbeit jedoch nicht behandelt zu werden. Siehe hierzu die Linienziehung von Hofmann anhand der Frage der Legitimität (Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 11ff, mit vielen weiteren Nachweisen in den Seiten davor), die Kritik daran von Mehring, Carl Schmitt zur Einführung, S. 28 f. und dessen eigene Linienziehung durch Schmitts Werk: Mehring, Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels: Katholische Grundstellung und antimarxistische Hegelstrategie. 223 Vgl. Boterman, Spengler, S. 263 f. 224 Spengler, UdA II, Kapitel 4, Abschnitt C 16, S. 549 f. 225 Spengler, Preußentum und Sozialismus, S. 55. 226 Der berühmte erste Satz des Werkes „Der Begriff des Staates setzte den Begriff des Politischen voraus“ hat keine leicht greifbare Entsprechung im Denken Spenglers. Schmitt ging es hier um das Verhältnis von Staat und Politik. Er deutete an, dass – anders als etwa in Jellineks Staatslehre angenommen – es etwas Politisches gäbe, das unabhängig vom Staat gedacht werden müsse (siehe hierzu sehr detailliert Christoph Schönberger, „Staatlich und Politisch“ (20–26). Der Begriff des Staates in Carl Schmitts Begriff des Politischen in: Reinhard Mehring (Hrsg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, S. 21–44). Spengler hielt den Staat zwar für eine zentrale Instanz in der Geschichte, thematisierte aber nicht das Verhältnis von Politik und Staat in abstracto. 227 Zuerst erschien Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, 58 (1927), S. 1–33. Sodann die erweiterte Buchform ders., Der Begriff des Politischen, Berlin 1932; siehe zu weiteren Veröffentlichungen Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, S. 207.
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und Feind,228 eine Konzeption, die weit über die Rechtswissenschaft hinaus diskutiert wurde.229 Feind in diesem Sinne sei nicht der private Konkurrent oder jemand, den man persönlich ablehne, sondern nur der öffentliche Feind als eine „wenigstens eventuell, d.h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen“.230 Weiter hieß es bei Schmitt: “Der Krieg folgte aus der Feindschaft, denn diese ist die seinsmäßige Negierung eines anderen Seins.“231 Zwar sei der Krieg nicht „Ziel und Zweck oder gar Inhalt der Politik“,232 aber jederzeit als Möglichkeit bis zur „physischen Tötung von Menschen“233 mitzudenken. Der Krieg wurde so bei Schmitt zu einer Grundkategorie des Politischen. Diese Ausführungen bezogen sich gerade in der ersten Fassung noch weitestgehend auf die Beziehungen zwischen Staaten.234 Gerade in dieser Version konnte man Schmitts Ausführungen sehr leicht in die deutliche Nähe von Spenglers Publizistik rücken, welche vielfach den Krieg als das ursprüngliche Verhältnis zwischen den Völkern beschrieben hatte. Dies betont auch bereits Hasso Hofmann.235 Freilich gab es nicht wenige, die Ähnliches vertraten, aber Schmitt und Spengler formulierten prägnanter als die meisten und wurden weitaus häufiger gelesen. Zudem betonten beide den öffentlichen Charakter dieser Urpolitik des Krieges. Es ging beiden nicht um die prinzipiell kriegerische Natur des einzelnen Menschen, sondern um das Grundverhältnis zwischen konkurrierenden Gruppen, Völker und Staaten, und also der Politik. Ganz markant war auch bei beiden Denkern die Verachtung der „romantischen Politiker“, die Lantink hervorgehoben hat.236 Obwohl Spenglers 228
Detailliert und mit Blick auf die gegenwärtige Politik gerichtet siehe hierzu Bernd Ladwig, „Die Unterscheidung von Freund und Feind als Kriterium des Politischen“ (26– 28) in: Reinhard Mehring (Hrsg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, S. 45–60; siehe zum Begriff des Politischen in der historischen Konzeption Schmitts vor allem Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 94 ff. und Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, 206 ff. 229 Siehe die vielen Hinweise bei Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 95. 230 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 29. 231 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 33. 232 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 34. Auf S. 33 gibt Schmitt sogar an, das politisch Richtige könne sogar je nach Lage „in der Vermeidung des Krieges liegen“. Dies betont auch Wilfried Nippel, „Krieg als Erscheinungsform der Feindschaft“ (28–37) in: Reinhard Mehring (Hrsg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, S. 61–70, S. 65 f. 233 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 33. 234 So Nippel, „Krieg als Erscheinungsform der Feindschaft“ (28–37), S. 68. Nippel zeigt hier, dass der Bürgerkrieg von Schmitt erst in der Aufl. von 1932 in die Definition des Krieges aufgenommen wurde. 235 Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 103, S. 109. 236 Lantink begreift Spenglers Untergang des Abendlandes als einen intellektuellen Roman und versucht mit der Perspektive des „‚literarische(n)‘ Spengler und seine(n)
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Werk mit vielen Adjektiven beschrieben werden konnte, die auch auf die Romantik zutreffen, wie etwa pathetisch, irrational, ästhetisierend oder phantasievoll, begriffen viele Zeitgenossen Spenglers Werk nicht als romantisch. Spengler selber wollte auch eher als „moderner, ‚realistischer‘ Denker des 20. Jahrhunderts“237 wahrgenommen werden. In seinem Werk war der Begriff „Romantik“ eher negativ konnotiert und stand oft für schwärmerische unpolitische Weltfremdheit. Von Neuromantikern grenzte er sich ab.238 Spengler schrieb 1932: „… die nüchterne Wirklichkeit nicht sehen und meistern zu wollen, sondern sie durch Ideale, Träume, durch Romantik, durch Parteitheater mit Fahnen, Umzügen und Uniformen zu verschleiern […]. Begeisterung ist eine gefährliche Mitgift auf politischen Pfaden. […] Politik ist das Gegenteil von Romantik, sehr prosaisch, nüchtern hart.“ 239
Am wirkungsmächtigsten in Spenglers Zeit war für die Gleichsetzung von Romantik und unpolitischer Weltfremdheit wohl Carl Schmitt.240 Seine „Politische Romantik“ wurde 1919 veröffentlicht, also in dem Jahr, in welchem Spengler literarischer Star mit seinem Untergang des Abendlandes wurde und sein „Preußentum und Sozialismus“ vorlegte. Schmitt identifizierte die okkasionalistische Struktur der Romantik.241 Er betonte, dass nicht besondere Gegenstände oder Situationen wie Ruinen oder Sonnenuntergänge romantisch seien, sondern die Art und Weise, wie das romantische Subjekt mit diesen Objekten umginge. Für den Romantiker seien die Dinge der Welt Anlass (okassio) über sie zu sinnieren, zu träumen, zu schwärmen. „Konkret gesprochen bedeutet das: Revolution und Restauration können in gleicher Weise romantisch genommen, d.h. zum Anlass romantischen Interesses gemacht werden […]. Ganz verschiedenartige entgegengesetzte Vorgänge und Gestalten können vom romantischen Subjekt als Anfang des romantischen Romans betrachtet werden.“242 Was der Ro‚literarischen‘ Projekten“ (Lantink, Oswald Spengler oder die „zweite Romantik“, S. 11) einen neuen roten Faden der Spenglerforschung aufzunehmen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei Spenglers Verhältnis zur „Romantik“ die Lantink intensiv herausarbeitet. 237 Lantink, Oswald Spengler oder die „zweite Romantik“, S. 23. 238 Lantink, Oswald Spengler oder die „zweite Romantik“, S. 23 ff. So jedenfalls die Verwendung des Begriffes Romantik in seinen publizierten Schriften. Die Ambivalenz, die Lantink aufdeckt, indem er in den unveröffentlichten literarischen Quellen des Kulturphilosophen einen bewusst romantischen Spengler findet, wurde von Juristen damals freilich nicht entdeckt. Siehe zur Romantik im Untergang des Abendlandes detailliert Lantink, Oswald Spengler oder die „zweite Romantik“, S. 165 ff. 239 Spengler, Politische Schriften, S. X; Lantink, Oswald Spengler oder die „zweite Romantik“, S. 318. 240 So auch deutlich Lantink, Oswald Spengler oder die „zweite Romantik“, S. 37. 241 Siehe hierzu allgemein, Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, S. 103 ff. 242 Carl Schmitt, Politische Romantik, 6. Aufl. Berlin 1998, S. 125.
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mantiker nicht könne, sei eine Entscheidung zu treffen, bzw. eine Norm zu setzten. „(J)ede Norm erschiene als antiromantische Tyrannei.“243 Der Romantiker sei „nicht in der Lage, aus bewusstem Entschluss Partei zu ergreifen und sich zu entscheiden.“ Auch wenn die Romantikanalyse Schmitts damit wesentlich tiefschürfender war, bestand eine deutliche Einigkeit in der Ablehnung des Typus des romantischen Politikers. Ein tiefer gehender Vergleich würde hier zu weit führen, da auch andere Autoren als Kontext einbezogen werden müssten.244 Insbesondere wäre auch auf Gustav Adolf Walz einzugehen, der sich in seinem Werk über „Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes“ kaum auf Carl Schmitt, aber intensiv auf Spengler berief. 2. Unterschiedliche Argumentation in der Parlamentarismusund Demokratiekritik Man muss aber auch betonen, dass bei aller Ähnlichkeit dieser Aussagen im Ergebnis, die Herleitung der Erkenntnisse eine vollkommen differente ist. Im Kern muss man zwei prinzipielle Unterschiede feststellen: Zum einen bemühte sich Spengler, die gesamte Geistesgeschichte der Menschheit einzubeziehen und durch die Brille seiner Kulturphilosophie zu sehen, während sich Schmitt auf die Tradition der abendländischen Denker stützte. Zum anderen war Spengler lebensphilosophischer Irrationalist und Schmitt ein denkerischer Rationalist. a) Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Dimension des Rückgriffs auf die Geistesgeschichte Beide Denker argumentierten mit der geistesgeschichtlichen Entwicklung. Dies lässt sich gut anhand der Parlamentarismuskritik beider Denker zeigen. Der Tenor lautete bei beiden: Die Epoche des Parlamentarismus sei vorbei. Es handele sich um einen Anachronismus vergangener Tage. Spenglers Argumentation fußte darauf, dass die Epoche des Rationalismus, welche Grundlage des Parlamentarismus sei, in jeder Kultur nur eine eingeschränkte Zeit der Wirkungsmacht habe.245 Die „Beweisführung“ war für Spengler an dieser Stelle freilich schwer. Spengler musste erklären, 243
Schmitt, Politische Romantik, S. 126. Auf die politische Romantik von Schmitt antworteten etwa direkt Friedrich Meinecke, Rez. Schmitt, Politische Romantik in: Historische Zeitschrift, 121 (1920), S. 292–296; Georg von Below, „Zum Streit um die Deutung der Romantik“, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 81 (1926), S. 154–162; siehe daneben Kurt Börries, Die Romantik und die Geschichte: Studien zur romantischen Lebensform, Berlin 1925; Paul Luckhohn, Persönlichkeit und Gemeinschaft: Studien zur Staatsauffassung der deutsche Romantik, Tübingen 1925. 245 Siehe oben. 244
III. Der junge Schmitt als Vergleichsfolie für Spenglers Lebensphilosophie
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dass im alten Ägypten, China, Indien und der arabischen Kultur ähnliche demokratische und rationale Elemente zu finden seien, die zunächst eine Phase der Demokratie einläuteten, aber später wieder verdrängt wurden. Schmitt konzentrierte sich in „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ auf die Entwicklung der europäischen, nachantiken Idee vom Parlament. Noch nicht einmal bis in die Antike ging Schmitt dabei zurück. Er hatte dafür sehr viel mehr Zeit für seine Analyse der Entwicklung seit der Französischen Revolution. Sein Ergebnis lautete, dass das real existierende Parlament bewiesen habe, dass die Idee des „rationalen Liberalismus“,246 nach der durch Diskussion Wahrheit entstehe, falsch sei. Obwohl beide gleichermaßen den Anspruch hatten, mithilfe der Geschichte die Wahrheit über den Parlamentarismus herauszuarbeiten, trat nach Sontheimer vor allem Schmitts Ansatz dadurch hervor, dass er „wissenschaftlich haltbar“247 belegt zu haben schien, „daß alle Übelstände des gegenwärtigen parlamentarischen Systems nicht als ephemere, unter den schwierigen Bedingungen der deutschen Gegenwartslage durchaus erklärliche Phänomene, sondern als folgerichtiger Ausdruck einer auf dem Wege des Parlamentarismus nicht mehr zu behebenden Krise“248 gedeutet werden mussten. Wo Spengler durch ein Beispiel aus der arabischen, chinesischen, indischen, ägyptischen oder babylonischen Welt den Leser auf eine sprunghafte assoziationsreiche Reise mitnahm, verharrte Schmitt mehrere Seiten bei einzelnen Detailaspekten der abendländischen Geistesgeschichte. Spenglers Texte bekommen dadurch eine ganz eigene Wucht. Seine Werke waren trotz der vielen Verweise auf die Geschichte leichter zu lesen als Schmitts politische Romantik.249 Teilweise drohte Spengler jedoch gerade246
Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 46; Carl Schmitt argumentierte zum einen mit seiner Beschreibung der parlamentarischen Tätigkeit als romantischem „ewigen Gespräch“, welches nicht die nötigen Dezisionen hervorbringen könne (Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 43). Mit dem Parlament sei zum anderen der Liberalismus und zwar „als konsequentes, umfassendes, metaphysisches System“ (Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 45) eingeführt worden. So wie der ökonomischen Liberalismus davon ausgehe, das sich aus Freiheit und Konkurrenz der größtmögliche Reichtum ergebe, gehe man im Parlament davon aus, dass „der freie Kampf der Meinungen die Wahrheit“ (S. 46) ergebe. Dieser „liberale Rationalismus“ (S. 46) enthalte also einen spezifischen Wahrheitsbegriff, der aber freilich ein definitives Resultat nicht zum Inhalt habe, wenn man das parlamentarische Treiben als romantisches ewiges Gespräch ansehe. 247 Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 155. 248 Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 153. 249 Manchmal beschleicht einen das Gefühl, anstatt eines der bedeutendsten Bücher der Geschichtsphilosophie hätte man es mit einem einzigen großen Vortrag zu tun, der im Parlament der Geschichts- und Weltweisen die Mehrheit überzeugen und zu stürmendem, überbordenden Beifall herausfordern soll. Hat der Leser in Spenglers Argumentation
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
zu in banal-phrasenhafte Appelle zu verfallen.250 Jüngst sprach Osmančević in diesem Zusammenhang von Spenglers „einmaligen ‚Wer-das-nichtsieht-ist-blind‘-Einsichten“.251 Krebs urteilte unlängst: „Spenglers Schrifttum [...] krankt an einer eigenartigen Unbescheidenheit. Spengler weiß alles, Spengler versteht alles, selbst wo er seiner eigenen Philosophie zufolge gar nicht verstehen dürfte.“252 Zugleich muss aber auch Adornos Aussage daneben gehalten werden, nach der „Spengler kaum einen Gegner gefunden“ habe, „der sich ihm gewachsen gezeigt hätte“.253 Spenglers Blick in die Geistesgeschichte galt zwar als intelligent, geistvoll und anregend, hatte aber für viele nicht den Charakter einer zwingenden Beweisführung. Hatte man bei Spengler mal einen Satz oder Absatz nicht verstanden, so schränkte dies weder das Lesevergnügen ein, noch war die Gefahr groß, deshalb die Gesamtaussagen nicht zu verstehen. Um Carl Schmitts logische Gedankenführung zu folgen, konnte man sich es deswegen kaum leisten, einzelne Sätze nicht zu verstehen. Dies ist der eine, gewissermaßen oberflächlichere Unterschied zwischen Schmitt und Spengler. Tiefgreifender ist die differente Einstellung beider Denker zum Irrationalismus. b) Rationalismus und Irrationalismus bei Schmitt und Spengler Der für das Verständnis der gesamten Spenglerrezeption entscheidende Unterschied liegt in der Frage, inwieweit man Schmitt als Irrationalisten bezeichnen kann. Man kann es sich nicht zu einfach machen und Schmitt als puren rationalistischen Gegenpol zu Spengler aufbauen.254 So hatte eteinen Verweis auf die arabische Philosophie, das Kunstverständnis einer chinesischen Epoche oder die Bedeutung einer politischen Handlung eines indischen Herrschers nicht verstanden, so hindert dies den Lesefluss kaum, solange man „zwischen den Zeilen herausfühlt“, worauf Spengler hinaus will. Es fehlen allenfalls kleine Puzzelstücke in einem Gesamtbild, das letztlich leicht zu verstehen ist. Schmitts Argumentation ist sachlicher und nüchterner und zwingt den Leser zu größerer Konzentration. Hat man einen Gedankengang Schmitts nicht mitvollzogen, so entsteht eher der Eindruck, es fehle ein wichtiges Glied in der Argumentationskette, die nun weiter zu vollziehen sich nicht lohnt, ehe das fehlende Element begriffen wurde. Wo Spengler stakkatoartig Bilder aus verschiedenen Welten aneinander reiht, erkennt man bei Schmitt den strengen Eifer, jeder Aussage eine maximale Präzision abzuringen. 250 Vgl. hierzu Osmančević, Spengler, S. 109. 251 Osmančević, Spengler, S. 109. Kostprobe des Meisters: Man muß blind sein, um diese unbändige Lebenskraft nicht im gesamten Bilde der westeuropäischen Geschichte wirksam zu finden“ (Spengler, UdA I, S. 446). 252 Krebs, Die Imperiale Endzeit, S. 19. 253 Theodor Adorno, Spengler nach dem Untergang, in: Der Monat (1950), Heft 20, S. 115–128, S. 116. 254 Diese Position würde wohl eher Kelsen zukommen. Zudem ist zu bedenken, dass Schmitt sich auch in dieser Frage bisher einer eindeutigen Einordnung entzogen hat. Laut
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wa Koellreutter Spengler gerade deshalb neben Schmitt eingeordnet, weil Letzterer sich in jüngerer Zeit auf die Darstellung und Beforschung irrationaler Theorien konzentriert habe. Koellreutter meinte damit wohl vor allem Schmitts Werk „Die geistesgeschichtliche Lage des Parlamentarismus“ von 1923, in welcher Schmitt die Mythentheorie Sorels besprach. Schmitts Einstellung zu Irrationalismus und Rationalismus soll im Folgenden anhand von zwei Beispielen erläutert werden, wobei die Zeit des Nationalsozialismus schon deshalb ausgegrenzt wird, um den Komplexitätsgrad zu reduzieren. Zum einen soll die von Koellreutter angesprochene Frage der Darstellung irrationaler Theorien in „Die geistesgeschichtliche Lage des Parlamentarismus“ untersucht werden. Zum anderen stellt Schmitts Dezisionismus ein geeignetes Objekt dar, um deutlich zu machen, inwieweit ein Unterschied zu Spenglers Denken besteht. aa) „Irrationalistische Theorien der Gewaltanwendung“255 Schmitt näherte sich in „Die geistesgeschichtliche Lage des Parlamentarismus“ irrationalen Phänomenen, die er für das Verständnis eines modernen Staates für unverzichtbar hielt. Seine vorangegangenen Schriften be-
Hofmann gilt Schmitt einerseits „als Rationalist, gänzlich unromantischer Katholik“ aber andererseits als „Vertreter der Romantik, Irrationalist, Formalist, Nominalist“ oder „Existenzialist“ (Hofmann, Legitimität und Legalität, S. 1 f.). Schmitts Demokratiekritik wurde bereits vielfach dargestellt. Teilweise bildete auch dabei schon der Gegensatz zwischen Rationalismus und Irrationalismus eine Achse (siehe etwa die Einteilung der Kapitel bei Hofmann, Legitimität gegen Legalität, der zeitlich die „Rationale Legitimität (1912–1922)“ und „Das Legitimitätsproblem in Schmitts politischem Existenzialismus (1923–1933)“ trennt; ersteres Kapitel schließt mit der rationalen Rechtfertigung der Macht ab, letzteres mit der rechtsphilosophischen Grundposition der irrationalen Legitimitätstheorie). Siehe im übrigen auch die vor allem in der Biographie von Koenen hervorgehobene erkenntnistheoretische Religiosität, etwa wenn Koenen angibt, dass Schmitt zunächst zur Zeitschrift Europäische Revue keinen Beitrag leistete, weil es „(b)ei der Beantwortung“ der relevanten Themen „nicht auf Argumente, nicht auf ‚Unwiderleglichkeit‘, sondern auf die Wahrheit des Glaubens“ ankomme und daher eine Diskussion in der Öffentlichkeit nicht in Betracht komme (Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“ S. 56); siehe zur Religiosität des jungen Schmitt prägnant Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, S. 25 ff. Schmitts Religiösität war aber niemals antiintellektualistisch. Gerade im römischen Katholizismus erhoffte sich Schmitt die Auflösung aus romantischer Natur und rationalistischer Technik; siehe hierzu auch jüngst Hugo Eduardo Herrera, Carl Schmitt als politischer Philosoph. Versuch einer Bestimmung seiner Stellung bezüglich der Tradition der praktischen Philosophie, Berlin 2010. 255 So die Überschrift des entsprechenden Kapitels in Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 77.
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
handelten den Gegensatz zwischen Rationalismus und Irrationalismus eher als Gegenachse, so insbesondere die „Politischen Romantik“ von 1919.256 In „Die geistesgeschichtliche Lage des Parlamentarismus“ besprach Schmitt in einem ganzen Kapitel die „Irrationalistischen Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung“257. Während Schmitt selbst in der Diktatur des Proletariats nach Marx „noch die Möglichkeit einer rationalistischen Diktatur“258 erkannte, „beruhen alle modernen Lehren direkter Aktion und Gewaltanwendung mehr oder weniger bewusst auf einer Irrationalitätsphilosophie.“259 Ganz deutlich machte Schmitt, dass „eine neue Bewertung rationalen Denkens überhaupt“ und „ein neuer Glaube an Instinkt und Intuition“ wirkungsmächtig werde, „der jeden Glauben an die Diskussion beseitigt“.260 Im Wesentlichen besprach Schmitt im folgenden Georges Sorel, der sich seinerseits auf den Lebensphilosophen Henri Bergson berief 261 und kurz die französischen Anarchisten Proudhon und Bakunin. Die Anarchisten wendeten sich gegen jede Form von zentralistischer Einheit, denn „auf Zentralismus und Autorität beruhen alle tyrannischen Institutionen, mögen sie nun, wie in der moderneren Demokratie, durch das allgemeine Wahlrecht sanktioniert sein oder nicht.“ 262 Bakunin sehe darin auch einen „Kampf gegen Intellektualismus“.263 Bakunin warne davor, unter Berufung auf den Verstand, faktisch einer Herrschaft der Gebildeten oder eine Herrschaft der Wissenschaft zu etablieren. Bei der Darstellung von Sorel erwähnte Schmitt einige Positionen der Lebensphilosophie, die auch Spengler ebenso deutlich aussprach, wie der französische Gewalttheoretiker. So referierte Schmitt, dass diese Art der Philosophie davon ausgehe, das Leben könne nicht durch ein System wiedergegeben werden,264 oder dass „(j)ede rationalistische Deutung [...] die Unmittelbarkeit des Lebens fälschen“265 würde.266 Andererseits ging es Schmitt auch um ein Thema, dass 256
Der Parlamentarier wurde von Schmitt hauptsächlich kritisiert, weil er im „ewigen Gespräch“ verharrt, unfähig die politisch notwendige Dezision zu treffen (Schmitt, Politische Romantik, S. 126; einen Bezug zur Lebensphilosophie klammert er dabei völlig aus (Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, S. 103); Gegenstand der Betrachtung sind Autoren des frühen 19. Jh., vor allem Adam Müller). 257 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 77 ff. 258 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 77. 259 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 77. 260 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 78. 261 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 79. 262 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 79. 263 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 79. 264 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 79. 265 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 84. 266 Spitzfindig bemerkte er, dass aus Sicht besonders sozialistischer Denker des Lebens selbst Marx materialistische Dialektik zu rational und lebensfremd erscheinen müsse: Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 82 f.:
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bei Spengler eher eine untergeordnete Rolle spielte: den Mythos.267 Schmitt schrieb: „Aus den Tiefen echter Lebensinstinkte, nicht aus einem Räsonnement oder einer Zweckmäßigkeitserwägung, entspringt der große Enthusiasmus, die große moralische Dezision und der große Mythos. In unmittelbarer Intuition schafft eine begeisterte Masse das mythische Bild, das ihre Energie vorwärts treibt und ihr sowohl die Kraft zum Martyrium wie den Mut zur Gewaltanwendung gibt. Nur so wird ein Volk oder eine Klasse zum Motor der Weltgeschichte.“ 268
Aus dieser Perspektive erscheine „die diskutierende, transingierende, parlamentierende Verhandlung […] als ein Verrat am Mythos“.269 Dem „merkantilen Bild der Balance“ trete ein anderes Bild entgegen, das Bild einer „Entscheidungsschlacht“.270 Schmitt lavierte in diesem Kapitel in hohem Maße zwischen Rationalismus und Irrationalismus. Er widersprach Sorel in wesentlichen Punkten,271 sagte aber auch deutlich, dass die „große psychologische und geschichtliche Bedeutung“272 der Mythentheorie nicht verkannt werden dürfe. Sie sei das deutlichste Zeichen dafür, „daß der relative Rationalismus des parlamentarischen Denkens seine Evidenz verloren hat.“273 Folgender Halbsatz verrät dabei tiefste Einsicht und zeigt sogleich, dass Schmitt weder Sorels noch Bergsons Irrationalismus übernahm. Schmitt leitete seine Kritik der lebensphilosophischen Mythentheorie nach Sorel ein, indem er schrieb: „Wenn man einer so entschieden irrationalistischen Theorie mit Argumenten entgegentreten darf“274. Schmitts Reflektionshöhe deutete sich bereits darin an, dass er die Frage stellte, ob „Argumente“ etwas seien, das man einer irrationalen intuitiven Aussage entgegenstellen „Marx konnte von der Höhe seiner Heglischen Schulung Proudhon als einen philosophischen Dilettanten behandeln und ihm zeigen, wie arg er Hegel missverstanden hatte. Heute würde ein radikaler Sozialist mit Hilfe einer modernen Philosophie Marx zeigen können, daß er hier nur ein Schulmeister war und noch ganz in der intellektualistischen Überschätzung westeuropäischer Bildung steckte, während der arme, abgekanzelte Proudhon jedenfalls den Instinkt für das wirkliche Leben arbeitender Massen hatte.“ 267 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 80 ff. 268 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 80. 269 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 81. 270 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 81. 271 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 86. 272 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 87. 273 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 89. Als „relativ rationalistisches“ Element bezeichnete Schmitt die Idee, durch Diskussion den richtigen Weg für ein Volk zu finden, Recht über Macht siegen zu lassen und überhaupt das „an sich Böse, the Way of beasts, wie Locke sagt“ (ebda., S. 61), überwinden zu können. 274 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 85.
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
kann. Schmitt machte noch deutlicher, dass er dieses Dilemma mitdachte, indem er angab, „nicht also auf Fehler im logischen Sinne“ 275 hinweisen zu wollen. Etwas Logisches wäre jedenfalls eindeutig etwas, das ein Lebensphilosoph nicht hätte gelten lassen. Man „durfte“ also im Sinne einer intellektuellen Fairness nicht mit Logik gegen einen Lebensphilosophen vorgehen, vielleicht allenfalls auf „unorganische Widersprüche“ 276 hinweisen, wie Schmitt betonte. Der Staatsrechtler war damit einer der wenigen Autoren, die aufgrund der Beachtung gewisser Regeln eines „intellektuellen Fairplay“ für alle Seiten gleichermaßen anschlussfähig blieb. Er sagte nicht, dass er nur chinesisch verstehe, sondern zeigte vielmehr, dass er bei seiner Kritik die Grundregeln des zu kritisierenden Denkens beachten werde. bb) Dezisionismus und die Irrationalität des Ausnahmezustandes Ein weiterer Aspekt fand sich im Dezisionismus. Dieser verlieh im Ergebnis einer Entscheidung Autorität, die in keiner Hinsicht einen vorher ableitbaren, rationalisierbaren oder kontrollierbaren Inhalt aufweisen musste.277 Es ließen sich zudem Stellen finden, an denen Schmitt von einer „Philosophie des konkreten Lebens“278 sprach, was ihn, bei hinreichender Dekontextualisierung, ebenfalls in die Nähe der bekennend irrationalen Lebensphilosophie rückte. Man konnte die entsprechenden Stellen aber auch anders lesen. Schmitt ging es darum, im Gegensatz zu den „Positivisten“ auch die dringenden Fragen der Realität – und das war in den Anfangsjahren der Weimarer Republik der Ausnahmezustand – als Element des Staatsrechts mitzudiskutieren. Er zitierte Anschütz, der, vor das Problem einer fehlenden rechtlichen Regelung gestellt, diagnostizierte, es läge „eine Lücke im Recht vor, welche durch keinerlei rechtswissenschaftliche Begriffsoperationen ausgefüllt werden kann. Das Staatsrecht hört hier auf“.279 Gerade das wollte Carl Schmitt nicht gelten lassen. Er knüpfte die Definiten der Souveränität daher an die Fähigkeit, den Ausnahmezustand zu beherrschen, also letztlich an das außerjuristische Kriterium der Macht. Eine Philosophie des konkreten Lebens könne sich nicht vor dem Ausnah275
Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 86. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 86. 277 Hoffmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, der betont, dass Schmitt nicht einfach Macht mit Recht gleichsetzt (S. 65). Er folgert, dass die „Rechtsgeltungslehre Schmitts [...] keineswegs in ihrer sachlichen Originalität“ liege „sondern in der methodischen Schärfe und Konsequenz, mit der Schmitt die Staatslehre mit ihrem nihilistischen und irrationalen Unter- und Hintergrund konfrontiert.“ (S. 70 f.). 278 Schmitt, Politische Theologie, S. 21. 279 Anschütz, Staatsrecht S, 906. Zitat bei Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 20 f. 276
III. Der junge Schmitt als Vergleichsfolie für Spenglers Lebensphilosophie
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mefall zurückziehen. „In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik“,280 so Schmitt. Schmitt beurteilte in der Diktatur verschiedene Staatstheorie nach dem Grad ihres Rationalismus. Im Contract Social sei „der Rationalismus an seinem kritischen Höhepunkt angekommen.“281 Die verfassungsgebende Gewalt sei nämlich „als bloß mechanistischer Rationalismus unbegreiflich“. „Das Volk, die Neigung, die Urkraft alles staatlichen Wesens, konstituiert immer neue Organe. Aus dem unendlichen, unfassbaren Abgrund ihrer Macht entstehen immer neue Formen, die sie jederzeit zerbrechen kann und in denen sich ihre Macht niemals definitiv abgrenzt. Sie kann beliebig wollen, der Inhalt ihres Wollens hat immer denselben rechtlichen Wert wie der Inhalt einer Verfassungsbestimmung“. 282
Auch an anderen Stellen der „Diktatur“ rückte Schmitt das Unbegreifliche an der verfassungsgebenden Gewalt deutlich in den Fokus seines Interesses.283 cc) Ergebnis Muss Schmitt daher als Lebensphilosoph neben Spengler an den extremen Rand des irrationalen Denktyps gestellt werden? Um dies zu beantworten, muss man betrachten, was Schmitt aus dem Leben ableitete. Er erhielt einen Staatsbegriff, der durch Macht gekennzeichnet war, welcher den rein juristischen Staatsbegriff ablöste. Er erhob das Leben dabei aber nicht zu einer höchsten metaphysischen Wahrheit, behauptete nicht, dass jede Macht gut oder richtig sei, und schwärmte erst recht nicht von Mächten 280
Schmitt, Politische Theologie, S. 21. Carl Schmitt, Die Diktatur, 7. Aufl. Berlin 2006, S. 139. 282 Schmitt, Die Diktatur, S. 139. 283 Schmitt beschrieb es etwa als ein Charakteristikum der absolutistischen Staatsauffassung, das Volk als etwas Ungebildetes und Irrationales zu betrachten. Die früher absolutistische, in Machiavelli typisiert vorgefundene, Staatslehre sei weder als moralische noch juristische Begründung relevant, sondern primär nur „die rationale Technik des politischen Absolutismus“ (Schmitt, Die Diktatur, S. 9, S. 11 f.). Dieser Staatsauffassung entspreche es, „im Volk, in der ungebildeten Masse […] etwas Irrationales zu sehen, das durch die Ratio beherrscht und geführt werden muß“ (Schmitt, Die Diktatur, S. 9). Es liege der gesamten absolutistischen Staatstheorie zu Grunde, „daß der Mensch gewisse moralisch vielleicht als minderwertig erscheinende Qualitäten haben muß, um sich als Material für diese Staatsform zu eigenen“ (Schmitt, Die Diktatur, S. 9). Mit dem Volk könne man demnach auch keine Verträge schließen, man müsse es überlisten. Deutlich bringt Schmitt auf den Punkt: „Das Irrationale ist nur das Instrument des Rationalen, weil nur das Rationale wirklich fühlen und handeln kann“ (Schmitt, Die Diktatur, S. 10). Ein Diktator hat nach dieser Staatsauffassung die Funktion zu entscheiden, wozu dass irrationale Volk nicht in der Lage wäre (Schmitt, Die Diktatur, S. 13). 281
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
des Schicksals, die sich im Leben durchsetzten. Schmitt versuchte auch in keiner Weise, das Staatsrecht auf intuitiven Boden zu stellen. Das Leben und die politischen Mächte waren für Schmitt nicht mehr oder weniger als sozial existente und staatsrechtlich relevante Faktoren, die deswegen in das staatsrechtliche Denken inkorporiert werden mussten. Sein insoweit wohl als „sozialwissenschaftlicher Ansatz“ zu nennendes Denken macht ihn eben nicht zu einem extremen Irrationalisten. Ebensogut hätte man Thomas Hobbes284 oder Max Weber285 als Antirationalisten bezeichnen können. Schmitt war in seiner Argumentationskette eher rational, durchdachte logisch und analysierte die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Staates vor dem Hintergrund des politischen Geschehens. Er gelangte durch seine scharfsinnigen Untersuchungen aber im Ergebnis häufig an Orte, die jenseits der rationalen, durch das positive Staatsrecht vermessbaren Grenzen lagen. Nicht umsonst wird häufig darauf hingewiesen, dass er den Begriff des Politischen mit seiner existentiellen Grundthese vom Kampf zwischen Freund und Feind im selben Jahr (1927) veröffentlichte, wie Heidegger sein Hauptwerk Sein und Zeit. Thesenartig zugespitzt lässt sich der Gegensatz im Denken zwischen Schmitt und Spengler folgendermaßen formulieren: Für Spengler war „Rationalismus“ ein Objekt, über das man Erkenntnisse haben konnte, aber keine Methode, die zu einem Erkenntnisgewinn führen könne. Bei Carl Schmitt war umgekehrt der Irrationalismus ein Objekt, welchem man sich mit rationalen Methoden so weit wie möglich nähern muss, um den modernen Staat zu verstehen. Der Irrationalismus wurde dabei aber selber niemals Methode zur Gewinnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Weil Schmitt das Schwärmen, die Gefühle und die Intuition nicht zu ernst nehmen konnte, blieb er auch bei der Lektüre von Spenglers „Preußentum und Sozialismus“ nicht immer ganz ernst. Bei Spenglers pathetischem Satz: „Aber dieses Leben, das uns geschenkt ist, diese Wirklichkeit um uns, in die wir vom Schicksal gestellt sind, mit dem höchstmög284
Man könnte Hobbes aufgrund seines, von Schmitt so bezeichneten, Dezisionismus als Irrationalist bezeichnen, weil die Entscheidung für den Gesellschaftsvertrag im Vordergrund stand und eine rational ableitbare inhaltliche Bindung des Souveräns nicht vorgesehen war. 285 Da Max Weber von den sozialen Tatsachen des Lebens ausging und Macht und Herrschaft auf den Begriff bringen wollte, wäre auch er in dieser Hinsicht ein „Irrationalist“. Der auf den ersten Blick radikal erscheinende Vergleich liegt insbesondere deshalb nahe, weil Schmitt die politische Theologie zunächst für die Erinnerungsgabe für Max Weber schrieb (siehe Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, S. 124: „In der Erinnerungsgabe macht Schmitt klar, was er von Weber lernte und wie er dessen‚ verstehende Soziologie‘ wissenschaftlich fruchtbar machen möchte.“) Insbesondere dankt er Weber für die Überwindung des rein juristischen Staatsbegriffes (Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, S. 128).
IV. Zusammenfassende Analyse
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lichen Gehalt zu erfüllen […], daß ist die Aufgabe,“286 unterstrich Schmitt die Worte „höchstmöglichen Gehalt“ und notierte am Rand neben einem Fragezeichen und einem Ausrufungszeichen in Klammern die Worte „Beamten Gehalt.“287
IV. Zusammenfassende Analyse IV. Zusammenfassende Analyse
Auf der Staatsrechtslehrertagung im Jahre 2000 wurde im Zusammenhang mit Spengler häufig von einem Einfluss des Irrationalismus auf die Staatsrechtslehre gesprochen. Die bisherige Analyse hat jedoch gezeigt, dass man sehr genau hinsehen muss. Eine pauschale Irrationalismuszuweisung führt bei dem Verständnis der Staatsrechtlehre der Weimarer Republik nicht weiter. Am wenigsten überraschend war es noch, dass Hans Kelsen das spekulative und täuschende Element an den angeblichen „Seins-Urteilen“ Spenglers entlarvte. Nimmt man diesen Maßstab, so verhielten sich fast alle anderen irrational. Ruft man jedoch die Radikalität der vulgären Lebensphilosophie Spenglers in Erinnerung, so ist es geboten, weitere Abstufungen im rationalen oder irrationalen Argumentieren einzuführen. Für Carl Schmitt wurde dargestellt, dass dieser im Gegensatz zu Spengler das Irrationale für ein lohnenswertes Objekt des Erkenntnisinteresses hielt, welchem er sich möglichst nahe mit rationalen Methoden annähern wollte. Die Realität und das Leben konnten eben auch auf eine Max Weberische wertneutrale Weise wissenschaftlich behandelt werden. Das Leben ins Zentrum der Wissenschaft zu rücken, war auch ohne Lebensphilosophie unproblematisch möglich. Für Otto Koellreutters „pragmatische“ Herangehensweise war Spenglers Kulturphilosophie zu wenig beweisbar, um Wissenschaft zu sein. Von einer Übernahme des lebensphilosophischen Irrationalismus ist insoweit kaum etwas festzustellen. Echte Elemente eines Antirationalismus, der jedoch niemals so absolut und radikal wurde wie bei Spengler, fanden sich bei Petraschek und Walz. Beide stellen für eine Frage des Einfühlens und der Intuition auf Spengler ab. Bei Beiden klingen Intertextualitäten mit maßgeblichen Begriffen von Dilthey und Bergson an. Beide stützen sich aber viel massiver auf Spengler und erwähnen die akademischen Lebensphilosophen nur sehr kurz und am Rande. Auf Basis seiner vulgären Lebensphilosophie vertrat Spengler eine sehr radikale Version der Gleichsetzung von Recht und Macht. Juristen konnten ihm darin nicht folgen, ohne dabei ihr Juristendasein aufzugeben. Am 286
Preußentum und Sozialismus – Schmitts Exemplar (LAV NRW RW 265 Nr. 25989), S. 80. 287 Ebda.
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E. Spengler in der Staatsrechtslehre
deutlichsten auf den Punkt brachte diesen Umstand der Verfassungshistoriker Hinze. Die wichtige Frage, in welcher Situation einer politischen Macht durch etwas eigenständiges Juristisches oder Juridisches entgegengehalten werden könne, wurde von Staatsrechtlern selber insgesamt wenig diskutiert. Deutlich wurde aber jedenfalls, dass selbst die Juristen, die Spengler punktuell rezipierten, dem Kulturphilosophen in seiner absoluten Machtfrage nicht folgten. Insbesondere jene Hegelianer, die im Staat und also im Recht die Verwirklichung einer Sitte erblickten, kritisierten Spengler hier oder deuteten ihn entsprechend um. So stand Petrascheks Spengler letztlich für eine bestimmte abendländisch-faustische Sitte, die höher gestuft wurde als die Macht. Inhaltlich ging es Petraschek hier um das soziale, aber nicht marxistische Rechtsdenken. Die populäre Vorstellung der sozialen Gemeinschaft haben die Staatsrechtler ansonsten kaum mit Spengler verknüpft. Die Machtfrage bei Spengler verdrängte vermutlich den Blick der Staatsrechtslehre auf den „Gemeinschaftsspengler“ und seinen „preußischen Sozialismus“.
F. Keine Rezeption von Spenglers Kulturvergleich F. Keine Rezeption von Spenglers Kulturvergleich
Als ein Ergebnis dieser Arbeit muss auch festgehalten werden, dass Spenglers umfangreicher Vergleich von acht Hochkulturen nicht rezipiert wurde,1 und dass obwohl ein Kulturvergleich aus juristischer Perspektive bei Erscheinen des „Untergangs“ bereits ein umfangreiches Thema in der Rechtswissenschaft war. Hasso Hofmann sprach jüngst von einer „Begriffs-Hochblüte“2 des Terminus Kultur. Zu nennen ist hier etwa Fritz Berolzheimer, dessen zweiter Band seines „Systems der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“ den „Kulturstufen der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“ gewidmet war.3 Die Entwicklungsgeschichte der Kultur- und Rechtsstufen begann bei Berolzheimer im alten Ägypten und bezog auch Babylon, die vedischen Arier, das Alte Israel und die Phöniker mit ein.4 Bei Berolzheimer wurde also bereits eine Kulturtheorie des Rechts mit Rechtsstoff unterfüttert, der außerhalb der Antike und des Abendlandes lag. Ähnlich umfangreich war der rechtskulturelle Fundus auf dessen Basis Max Weber seine Rechtssoziologie entwickelte, der etwa auch hinduistischen und arabischen Rechtseinrichtungen ihren Platz in der Geschichte der fortschreitenden Rationalisierung zuwies.5 Weniger „hochkulturell“ ging es bereits seit Mitte des 19. Jh. bei der beginnenden Rechtsethnologie zu, die sehr an der Vergleichung der frühen Rechtsformen zwischen den 1
Dies darf nicht verwechselt werden mit Spenglers Anschlussfähigkeit aufgrund seines Plädoyers für Lebensnähe. Die Konjunktion „Kultur und Recht“ meint häufig nichts anderes, als dass das Reale, das Sein, die Tatsache, eben all dies zusammengefasst in dem Begriff der Kultur für die Frage des Rechts Relevanz hat. In dieser Hinsicht wurde Spengler rezipiert. In diesem Unterabschnitt soll es aber nur um die Frage gehen ob Spenglers konkrete Beschreibung anderer Kulturen einen Juristen interessiert hat. Die Antwort fällt hier negativ aus. 2 Hasso Hofmann, Zur Geschichte des Begriffspaars Recht und Kultur in: JZ (2009), S. 1–10, S. 9. 3 Fritz Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 2. Bd., Die Kulturstufen der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, München 1905. 4 Ebda., S. 33–66. 5 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, etwa S. 588 zu den Veden des Hinduismus. Auch Vergleiche zwischen den Kulturen scheute Max Weber nicht: „Das Fetwâ des islamischen Muftî ist durchaus eine Parallele des bindenden responsum des römischen Juristen.“ (S. 596).
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F. Keine Rezeption von Spenglers Kulturvergleich
Kulturen interessiert war.6 Das Interesse an Kultur und Recht äußerte sich auch in Zeitschriften wie der „Internationale(n) Zeitschrift für Philosophie der Kultur“ namens Logos, bei der unter anderem Otto von Gierke mitwirkte. Hoffmann will auch die von Kohler und Berolzheimer 1907 gegründete Zeitschrift „Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“ in diesen Kontext stellen, wenngleich hier nur selten auf eine Kultur außerhalb der Antike und des Abendlandes eingegangen wurde.7 Bedeutender erscheinen hier die unter anderem von Josef Kohler herausgegebenen „Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre“. In beiden Zeitschriften wurde der Plan begrüßt die maßgeblichen rechtstheoretischen Werke von 16 fremden Kulturen zu übersetzen, um etwa die indische, chinesische, ägyptische und mohammedanische Kultur der Rechtsvergleichung zu erschließen.8 Ein Plan, der allerdings damals nicht umgesetzt wurde. Die Zeitschriftengründungen, die umfangreiche Beachtung fremder Kulturen bei Berolzheimer und Weber und der Rechtsethnologie beweisen, dass es bei einigen Gelehrten ein großes Interesse an kulturvergleichender Rechtswissenschaft gab. Grundsätzlich hätte Spenglers Kulturphilosophie auch hier anregend wirken können, versprach er doch acht Hochkulturen vergleichend nebeneinander zustellen. Auch wenn im Wesentlichen die Antike und das Abendland im Zentrum von Spenglers Erörterungen standen, zog er immer wieder Parallelen zum Alten Ägypten, Babylon, Indien, China, der arabischen Kultur und den Ureinwohnern Amerikas. Einen konkreten Hinweis auf eine Spenglerrezeption für eine kulturvergleichende rechtliche Analyse konnte jedoch bei keinem der in dieser Arbeit untersuchten Autoren gefunden werden.
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Siehe pars pro toto etwa Albert Herman Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis, Oldenburg 1880. Einen Überblick über die vergleichende Rechtsethnologie findet sich bei Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 2, S. 403 ff. unter Einbeziehung von Bachofen, Kohler, Post, Leist, Bernhöft und anderen. 7 Wie eine Titelschau der Aufsätze in den ersten 10 Bänden zeigte. 8 Giuseppe Mazarella, Über die Sammlung orientalischer Rechtsquellen in: Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre 3 (1908), S. 197–202, S. 257–267; Felix Somló, Sammlung orientalischer Rechtsquellen in: ARWP 2 (1908/09), S. 328–330.
G. Zusammenfassung G. Zusammenfassung „Anerkannte Meinungen dagegen sind diejenigen, die entweder von allen oder den Meisten oder den Weisen und von diesen entweder von allen oder den Meisten oder den bekanntesten und anerkanntesten für richtig gehalten werden.“ (Aristoteles, Topik 100b, S. 21 ff.) “‘Well … they say’ ‘Who say?’ ‘They, sir. You know, they.’ ‘The same people who’re the “everybody” in “everyone knows”? The people who live in “the community”?’ ‘Yes, sir. I suppose so, sir’ Vimes waved a hand. ‘Oh, them. Well, go on.’” (Terry Pratchett, Feet of Clay, S. 106 f.)
Weder unter den anerkanntesten Weisen der Juristen noch innerhalb der breiten Masse der juristischen scientific community hat sich eine einheitliche herrschende Meinung über Spengler gebildet. Das war im pluralistischen Weimar, welches eine Blüte an nebeneinanderstehenden Ansichten und Perspektiven bot, auch nicht anders zu erwarten. Insgesamt wurde Spengler nicht zu einem großen übergreifenden Phänomen, das alle Juristen zu einem einheitlichen Gespräch verbunden hätte. Vielmehr gab es drei nebeneinanderliegende, isolierte Spenglerrezeptionen: erstens bestehend aus der „dynamischen Rechtslehre“, zweitens in der Rechtshistoriographie, und drittens in der Staatsrechtswissenschaft. Als ein übergreifendes Thema habe ich – viertens – allgemein, nach den potentiellen Gründen für die Spenglerbegeisterung einiger Juristen gefragt. Ein weiteres Ergebnis dieser Arbeit liegt – fünftens – in der Tatsache, dass Spenglers umfangreicher Kulturvergleich nicht rezipiert wurde.
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G. Zusammenfassung
I. Einfluss auf die „dynamische Rechtslehre“ I. Einfluss auf die „dynamische Rechtslehre“
1922 veröffentlichte Spengler den 2. Band seines Hauptwerkes. Dort behandelte er in einem Unterkapitel die Geschichte des Rechts der Antike, der magisch-arabischen Zeit und des Abendlandes. Schlagwortartig fasste Spengler den Gegensatz zwischen antikem und abendländischem Recht wie folgt zusammen: „Die Römer schufen eine juristische Statik, unsere Aufgabe ist eine juristische Dynamik. Das antike Recht war ein Recht von Körpern, unser Recht ist das von Funktionen.“
Nach 1922 häuften sich die Stimmen juristischer Autoren, die von dynamischem Recht, einer dynamischen Rechtsbetrachtung oder einer dynamischen Rechtslehre sprachen. Dabei beriefen sich die Juristen oft ausdrücklich auf Spengler. Der Begriff der Dynamik wurde dabei mit unterschiedlichen Konnotationen verwendet: Mit „Dynamik“ und „Funktion“ wurde für eine Abstraktion vom Körperlichen und eine Hinwendung zu Kraft und Wirkungen plädiert, zugleich einem flexiblen, an das Leben angepassten und anpassbarem Recht die Lanze gebrochen und ein gemeinschaftsorientiertes soziales Rechtsdenken gefordert. Wenn auch die Schlagworte in den allermeisten Fällen auf Spengler zurückgingen, so muss insgesamt festgestellt werden, dass die Juristen die Thesen des Kulturphilosophen nur in geringem Umfang inhaltlich übernahmen. So sprach sich Spengler in den von Juristen zitierten Passagen seines Hauptwerkes nicht für soziales Rechtsdenken aus. Er propagierte zwar an anderer Stelle einen „preußischen Sozialismus“ für die Zukunft Deutschlands, verband dies jedoch nie mit dem Begriff Dynamik. Ähnlich plädierte der Kulturphilosoph zwar eindringlich für Lebensnähe, verwendete dafür aber ebenfalls nicht den Begriff der Dynamik. Bei den Dynamikkonnotationen „sozial“ und „lebensnah“ vermischten die Juristen Zeitgeistthemen mit dem Schlagwort des Kulturphilosophen. So wurde das römische Recht ohnehin seit Längerem als das angeblich zu liberale bekämpft und das germanisch-soziale Recht demgegenüber hochgehalten. Gleichsam galt ein liberales Recht als lebensfremd. Dahinter stand der durch viele Umstände gespeiste soziale Geist der Weimarer Zeit. Diese Faktoren wurden Spenglers Begriffen übergestülpt, bis dynamisch-germanisch-sozial-lebensnah-funktional nahezu synonym verwendet werden konnten, um gegen das statische-römische-lebensfremdenichtfunktionale Recht vorzugehen. Spengler war in dieser Hinsicht also zuallererst als Schlagwortlieferant wirkungsmächtig. Nur in den Fällen, in denen die Juristen sich für eine abstraktere auf Wirkungen gerichtete Rechtsbetrachtung aussprachen, verwendeten sie den Begriff „Dynamik“, so wie Spengler ihn in seiner Rechtsgeschichte und im übrigen „Untergang des Abendlandes“ verwendet hatte. Hier kann also
I. Einfluss auf die „dynamische Rechtslehre“
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davon gesprochen werden, dass auch die Konzeption von Spenglers abendländischem Rechtsdenken durch die Juristen übernommen wurde. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten kritisierte Spengler überdeutlich das Regime und wurde in der Folge ab 1934 als Persona non grata offiziell totgeschwiegen. Daher wurde auch untersucht, wie sich die Autoren der dynamischen Rechtslehre hierzu verhielten. Die bedeutenderen Autoren zitierten Spengler ab 1933 immer seltener. Ab Ende 1935 wurde der Kulturphilosoph kaum noch genannt. Obwohl die „dynamische Rechtslehre“ für eine Umwertung der Rechtsordnung wie geschaffen schien, avancierte sie niemals zu einer Leittheorie der nationalsozialistischen „Rechtserneuerung“. Darüber darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass in der Zeit des Nationalsozialismus die Begriffe „Dynamik“ und „Funktionalität“ in juristischen Kontexten besonders hohe Konjunktur hatten. Insbesondere fand sich auch die Begriffsdopplung „dynamisch-funktionell“ häufig. Dies lässt sich auch auf den Einfluss der dynamischen Rechtslehre und mithin auf Spengler zurückführen. Da die Zentralbegriffe „Dynamik“ und „Funktion“ häufig sehr unterschiedlich gebraucht wurden, lag es nahe, zu überprüfen, ob die Zeitgenossen aus ihrem Horizont von der Existenz einer konsistenten „dynamischen Rechtslehre“ ausgingen. Die Protagonisten der dynamischen Rechtslehre zitierten sich zustimmend gegenseitig und gingen davon aus, dass viele moderne Gedanken in der Rechtswissenschaft letztlich Bestandteile ihrer Lehre seien. Die deutlichen Kritiker einer dynamischen Rechtslehre zeichneten ebenfalls das Bild einer großen einheitlichen, auf Spengler fußenden, Bewegung. Dabei wurde teilweise bereits von der sporadischen Verwendung des Begriffes „Dynamik“ darauf geschlossen, dass ein Spenglereinfluss vorliege. Für einige Zeitgenossen war also klar, dass es so etwas wie eine „dynamische Rechtslehre“ als festes Konzept gab. Die Mehrzahl der Juristen, die den Begriff verwendeten, gingen wie selbstverständlich – gewissermaßen a priori – von einem festen Konzept aus. Niemand fragte danach, was Dynamik eigentlich sei; jeder wusste es. Deshalb suchte man bei ihnen auch vergeblich nach trennscharfen Definitionen oder den ersten Schritten zu einer Diskussion über den Inhalt des Antonyms. Dieses Phänomen, welches aus der Rückschau befremdlich erscheint, wurde zum Ausgangspunkt genommen, um in einem separaten Kapitel der Frage nach den erkenntnistheoretischen Prämissen der dynamischen Rechtslehre nachzugehen.
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G. Zusammenfassung
Für Spengler war eine vulgäre Form der Lebensphilosophie charakteristisch, nach der wahre Erkenntnisse durch Intuition und Nachfühlen gewonnen werden konnten. Rational erdachte Erkenntnisse hingegen wurden von Spengler als nicht wahr, bzw. als nur sekundär wahr anerkannt. Daher verachtete Spengler selber das Definieren von Begriffen. Dies war in einer Zeit, in der die lebensfremde „Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz“ von allen Seiten bekämpft wurde, hochgradig anschlussfähig. Die meisten Juristen, die Spengler befürworteten, waren dementsprechend auch der Ansicht, dass man die Realität und all ihre irrationalen Phänomene nicht durch die Methode des rationalen Definierens und Durchdenkens allein in den Griff bekommen konnte. Daher war es für sie auch zwingend und nicht weiter erklärungsbedürftig die Zentralbegriffe „Dynamik“ und „Funktionalität“ nicht zu definieren. Die für Weimar schon häufiger aufgefallene Begriffsdiffusion, bei gleichzeitiger Sakralisierung des Lebens, muss mit einem ernst zu nehmenden und von den Zeitgenossen ernst genommenen Irrationalismus erklärt werden, der freilich bei den jeweiligen Autoren unterschiedlich radikal ausgeprägt war. Damit deutet sich aber auch an, dass die dynamische Rechtslehre nicht für alle Weimarer Juristen stehen konnte. Ein großer Teil der dogmatisch, zumindest relativ rational arbeitenden Juristen sah sich nie dazu veranlasst, den Kulturphilosophen in ihre Welt aus positivem Recht, Rechtsprechung und Kommentar- und Lehrbuchliteratur aufzunehmen. Diesem eher rationalen juristischen Denktypus blieb Spengler immer fremd. Dies zeigte sich überdeutlich an der Untersuchung des Einflusses der „Dynamiker“ auf den dogmatischen Diskurs über die Übertragbarkeit eines Unternehmens. Obwohl der Rechtscharakter des Unternehmens bei vielen Autoren der „dynamischen Rechtslehre“ eine große Rolle spielte, wurden ihre Beiträge weder von den Meinungsführern in der Frage des Unternehmensrechts rezipiert, noch von den jüngeren Autoren, die sich auf diesem Gebiet hervortaten in nennenswertem Umfang berücksichtigt.
II. Einfluss auf die Rechtshistoriographie II. Einfluss auf die Rechtshistoriographie
Insgesamt war Spengler für die Rechtshistoriographie in viel geringerem Umfang ein Thema, als für die Zivilrechtler der dynamischen Rechtslehre. Auch in der Hochphase des Streits um Spengler, in der Vertreter nahezu aller Fachrichtungen sich mit den Thesen des Kulturphilosophen auseinandersetzten, schwiegen die Romanisten zum „Untergang des Abendlandes“. Sie erkannten zwar, dass der populäre Spengler Ansichten verbreitete, die bedeutenden Erkenntnissen des Faches diametral entgegen standen und sie
III. Einfluss auf die Staatsrechtswissenschaft
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hatten auch recht damit, dass Spengler für die Entstehung der Vorstellung, das römische Recht sei jüdisch, eine Rolle spielte, aber sie erhoben ihre Stimme gegen den Kulturphilosophen erst, als die Bedrohung ihres Faches in der Zeit des Nationalsozialismus immer ernster wurde. Als die Romanistik immer mehr mit dem Rücken zur Wand stand, versprach es wohl aussichtsreich zu sein, den mittlerweile in Ungnade gefallenen Spengler nun deutlicher zu kritisieren. Spenglers Darstellung der germanischen Rechtsgeschichte war sehr bescheiden ausgeprägt. Das Abendland befinde sich, so Spengler, gerade erst am Beginn der Phase, in der sich die faustische Kulturseele im Recht verwirklichen konnte. Demnach habe sich die abendländische Kulturseele noch nicht im geltenden abendländischen Recht niedergeschlagen. Folglich bestand nach Spengler erst recht kein Einfluss des faustisch-dynamischabendländischen Rechtsdenkens auf das germanische oder mittelalterliche Recht. Dennoch fanden sich Autoren, die Spenglers Konzept der faustischen Seele als Analyse- und Interpretationswerkzeug für das germanische- und das mittelalterliche Recht verwendeten. Insbesondere die „Gewere“ und die „Munt“ wurden dabei mit Spengler neu erklärt. Abgesehen von Hans Fehr wurden diese Ideen jedoch von wissenschaftlichen Außenseitern vorangetrieben. Es entstand niemals eine innergermanistische Debatte über die Fruchtbarkeit von Spenglers Vorstellungen für die Erforschung der deutschen Rechtsgeschichte.
III. Einfluss auf die Staatsrechtswissenschaft III. Einfluss auf die Staatsrechtswissenschaft
Spenglers „politische Publizistik“ war seit jeher ein Kernthema der Spenglerforschung. Eine Rezeptionsgeschichte von Spenglers politischen Ausführungen innerhalb der Staatsrechtslehre existierte bisher jedoch nicht. Spenglers Aussagen über politische Fragen der Gegenwart waren in der Weimarer Staatsrechtslehre präsent. Neben mehreren Zusammenfassungen von Spenglers staatstheoretischen Überlegungen konnte sogar eine Vorlesung nur über Spenglers Staatsrechtslehre nachgewiesen werden. Insbesondere Spenglers Kritik der Demokratie, seine Prognose, dass bald ein Cäsarismus die Demokratie ablösen werde und seine Kritik am Parteiensystem wurden rezipiert. Das Spektrum des Interesses der Staatsrechtler an Spengler war durchaus breit, wenngleich Interesse in vielen Fällen nicht mit Zustimmung gleichgesetzt werden darf. Seine konkreten Vorschläge zur Änderung der Weimarer Reichsverfassung wurden ebenso besprochen, wie seine Lehre vom Vorrang des politischen Lebens vor dem geschriebenen Verfassungsrecht. Letztere Vorstellung, nach der das Leben letztlich im-
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G. Zusammenfassung
mer über das Verfassungsrecht triumphieren werde, war im Weimarer Methoden- und Richtungsstreit potentiell bei den „Antipositivisten“ anschlussfähig, wenngleich Spengler nie eine zentrale Figur im Streit zwischen den Staatsrechtlern wurde. Im Detail habe ich innerhalb der Staatsrechtslehre vor allem die Frage untersucht, inwiefern Spenglers irrationalistische Lebensphilosophie ein ausschlaggebender Punkt für seine Rezeption innerhalb der Staatsrechtslehre war. Als Ausgangspunkt diente hier die Tagung der Staatsrechtslehrer aus dem Jahr 2000, die sich mit der Staatsrechtslehre im Nationalsozialismus befasste. Hier wurde mehrfach der Einfluss des Irrationalismus von Spengler auf die Staatsrechtlehre der Weimarer Zeit konstatiert. Auch vor dem Hintergrund, dass dieser Aspekt bei den Autoren der „dynamischen Rechtslehre“ eine große Rolle spielte, war die Frage des Einflusses von Spenglers Lebensphilosophie interessant. Auf Basis seiner vulgären Lebensphilosophie vertrat Spengler eine sehr radikale Version der Gleichsetzung von Recht und Macht. Juristen konnten ihm darin nicht folgen, ohne dabei ihr Juristendasein aufzugeben. Zugleich konnten sie Spenglers Lebensphilosophie als Wissenschaftler nicht folgen, ohne die rationale Wissenschaft zu opfern. Daher erwärmten sich nur wenige und tendenziell unbedeutendere Staatsrechtler für Spenglers Lebensphilosophie. Dennoch konnten einige Textstellen gefunden werden, in denen Staatsrechtler für die Fragen der Erkenntnis durch Intuition und des Einfühlens Spengler den Vorzug vor der akademischen Lebensphilosophie gaben. Aber auch diese Gefolgschaft in erkenntnistheoretischer Perspektive führte nicht zu einer Übernahme der radikalen Gleichsetzung von Recht und Macht. Insbesondere jene Hegelianer, die im Staat und also im Recht die Verwirklichung einer Sitte erblickten, kritisierten Spengler hier oder deuteten ihn entsprechend um. Der bedeutendste Staatsrechtler, der sich umfangreich mit Spengler beschäftigte, war Otto Koellreutter. Für dessen „pragmatische“ Herangehensweise war Spenglers Kulturphilosophie zu wenig beweisbar, um Wissenschaft zu sein. Von einer Übernahme eines erkenntnistheoretischen Irrationalismus ist bei Koellreutter nichts festzustellen. Ähnliches gilt für Hermann Heller. Spenglers Einfluss liegt hier also keinesfalls darin, dass er einen erkenntnistheoretischen Irrationalismus in die Staatsrechtlehre hineintrug. Er wurde in den meisten und wichtigsten Fällen eher mit seinen Gegenwartsanalysen geschätzt, während die Fundamente seiner Lebensphilosophie von vielen Staatsrechtlern ignoriert oder abgelehnt wurden. Um das Bild abzurunden, wurde auch noch einer der bedeutendsten Staatsrechtler jener Zeit – Carl Schmitt – im Hinblick auf seinen Irrationalismus analysiert. Schmitt wurde dabei nicht Gegenstand dieser Arbeit, weil er Spengler zitierte, sondern weil Spengler und Schmitt in der bisherigen For-
IV. Potentielle Gründe für die Spenglerbegeisterung
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schung häufig im selben Atemzug genannt wurden, wenn es um die Darstellung des antiparlamentarischen Schrifttums der Weimarer Republik, insbesondere aus der Perspektive der sog. „Konservativen Revolution“ ging. Es drängte sich bei diesen gleichermaßen wirkungsmächtigen und im Ergebnis häufig übereinstimmenden Autoren auf, zu überprüfen, inwieweit hier im erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt eine Übereinstimmung vorlag. Schmitt faszinierte die Existenz von Irrationalismen, er blieb aber erkenntnistheoretisch immer auf rational-analytischem Boden. Schmitt konstruierte zwar einen Staatsbegriff, der durch Macht gekennzeichnet war und er wollte damit auch bewusst einen rein juristischen Staatsbegriff ablösen. Er erhob das Leben dabei aber nicht zu einer höchsten metaphysischen Wahrheit. Das Leben und die politischen Mächte waren für Schmitt nicht mehr oder weniger als sozial existente und staatsrechtlich relevante Faktoren, die deswegen in das staatsrechtliche Denken inkorporiert werden mussten. Thesenartig zugespitzt lässt sich der Gegensatz im Denken zwischen Schmitt und Spengler folgendermaßen formulieren: Für Spengler war „Rationalismus“ ein Objekt, über das man Erkenntnisse haben konnte, aber keine Methode, die zu einem Erkenntnisgewinn führen könne. Bei Carl Schmitt war umgekehrt der Irrationalismus ein Objekt, welchem man sich mit rationalen Methoden so weit wie möglich nähern muss, um den modernen Staat zu verstehen.
IV. Potentielle Gründe für die Spenglerbegeisterung – Spengler als Medium seiner Zeit IV. Potentielle Gründe für die Spenglerbegeisterung
Spengler entsprach in zentralen Positionen dem (juristischen) Zeitgeist, in dem er die Bedeutung des Lebens und der Tatsachen betonte und ein soziales Denken für das ausklingende Abendland, insbesondere für Deutschland forderte. Für die Fragen des kulturbezogenen, sozialen und lebensnahen Rechts kann Spengler daher gewissermaßen als Medium seiner Zeit gelten, der vorhandene Strömungen in sich aufsog und sie laut und effektvoll wieder in die zeitgenössischen Debatten zurückgab. Innerhalb der einzelnen Inseln der Spenglerbeschäftigung zeigten sich diese Elemente in sehr unterschiedlicher Form. Während in den Schriften der dynamischen Rechtslehre und bei den spenglerrezipierenden Rechtshistorikern das soziale Rechtsdenken eine bedeutende Rolle spielte, fand sich dieser Aspekt bei den Staatsrechtlern kaum. Was die meisten Spenglerrezeptionen verbindet ist, dass es überall, wo Spengler positiv aufgenommen wurde, in irgendeiner Weise um das wirk-
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G. Zusammenfassung
liche Leben als Maßstab, Erkenntnisquelle und Ziel aller juristischer Tätigkeit ging.
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Namenverzeichnis Namenverzeichnis Namenverzeichnis Aristoteles 25, 36, 59 f., 75, 176, 241, 243, 281 Augustus 25, 237 Bachofen, Johann Jakob 280 Bader, Karl 44 Baender, Paul 58, 68, 77, 128 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 272 Baumecker, Otto 58 Bender, Peter 10 Benjamin, Walter 21 Bergson, Henri 10, 81, 135–138, 249, 251, 272 f., 277 Bernhöft, Franz 280 Berolzheimer, Franz 280 Beseler, Gerhard von 185 Beßlich, Barbara 5, 13 Beyerle, Franz 118 Binder, Julius 32, 74f, 77, 88, 120 f. Blackstone, William 30, 205 Bott-Bodenhausen, Manfred 44, 58, 77, 101, 109, 112, 118 f., 128, 134, 156, 165, 169 Bozi, Alfed 76 Büchner, Eugen 20 Budde, Emil 76 Buddha, Gotamo 241 Burkhard, Jakob 13
Dilthey, Wilhelm 11, 81, 135–138, 245, 249, 251, 277 Domke, Martin 118 f., 156, 159 f. Dreier, Horst 224 du Chesne, Curt 49, 51–53, 69, 76, 103, 119 Duguit, Léon 66, 103, 105, 110 Eckermann, Karin Erika 6 Edmund Husserl 21 Eger, Otto 185 f. Ehrenberg, Victor 194 Ehrlich, Eugen 63, 86 f., 133 Eichler, Hermann 58, 119 Elster, Alexander 49, 54 f. 68, 79, 103, 118 f., 124, 129, 134, 151, 155, 159, 161
Callmann, Rudolf 8, 10, 57, 68 f., 101, 103, 119, 124, 129 f., 131, 134, 151 Cassirer, Ernst 75, 77, 105 Chamberlain, Houston Stewart 10 f., 13, 193, 198, 200, 203 f. Comte, Auguste 10, 60 f., 125 f.
Fahrrenkopf, John 6 Fechner, Erich 164 Fehr, Hans 9, 14, 17, 41–45, 49, 54, 56, 57 f., 68, 70, 78–80, 84, 91f. , 98, 101, 103 f., 108 f., 111f., 113, 116, 118–121, 124, 128–131, 134, 138–143, 153 f., 155 f., 158, 159–165, 169, 171, 174 f., 209, 210, 214, 216–218, 221 f., 226f., 229, 285 Feibel, Fritz 134, 143 Feine, Hans Erich 217 Fichte, Johann Gottlieb 233, 247–250, 268 Frisch, Max 4, 21 Frisch, Ragnar 61 Frobenius, Leo 21 f. Fuchs, Ernst 43, 89, 100, 145, 192 Fumetti, Arthur von 214, 216
Darwin, Charles 20, 188 Demokrit 37 f., 82, 176 Descartes, René 25, 176, 206 Dikoff, Lüben 58, 112, 120
Gajus 203, 211 f., 213 Gebhard, Vornahme unbekannt 57 Geiler, Karl 9 Georgescu, Valentin 186, 196
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Namenverzeichnis
Giaro, Tomasz 11 Gierke, Julius von 164, 166, 168 Gierke, Otto von 42, 73 f., 99, 120 f., 155, 157, 188, 206, 250, 283 Glungler, Wilhelm 65, 80–82, 118, 124, 130, 134 Göbbels, Joseph 23, 108 Goethe, Johann Wolfgang von 135, 188, 249 f. Goldschmidt, James 122, 124 f., 131–133, 184 Grotius, Hugo 30, 79 f. Haeckel, Ernst 20 Haferkamp, Hans-Peter 9, 85 Hanausek, Gustav 45 Hartmann, Eduart von 233 f., 251 Hebeisen, Michel Walter 11 Heck, Phillip 56 f., 86, 89, 109, 116, 118, 126 Hedemann, Justus Wilhelm 9, 15 f., 48 f., 51, 76, 52, 98, 101, 103 f., 114, 119 f., 129 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 47, 88 f., 115, 142, 230, 233 f., 235, 244, 246, 249 f., 251, 258, 273, 278 Heidegger, Martin 4, 21, 276 Heller, Hermann 66, 87, 227, 235–238, 245, 247, 252–255, 259 f., 286 Heraklit, 39, 135, 176 Heuss, Theodor 194 Hielscher, Friedrich 229 f. Hill, Herbert 58 Hinze, Otto 175, 229, 254, 278 Hobbes, Thomas 264, 276 Hoffmann, Eduard H. 58 Hofmann, Hasso 239, 259, 261–266, 271, 279 Höhn, Reinhard 47 Holmes, Oliver Wendel 18 Hölscher, Emil Erich 9, 57, 90, 129, 142 Honig, Richard 77 Huangdi, Qin Shi 25 Huntington, Samuel Phillips 2 Husserl, Edmund 4, 21, 245 Husserl, Gerhard 66, 77 Jellinek, Georg 63, 188, 265 Jenny, Franz 58, 91, 102 f.
Jsay, Hermann 40 f., 89, 121–126, 139 f., 146, 150 f., 172 Jsay, Rudolf 160, 162 Jünger, Ernst 4, 21, 224, 229, 261 Justinian 30, 178, 198, 205, 212 Kafka, Franz 21 Kaiser, Thorsten 9, 34, 113 f. Kant, Immanuel 25, 33, 46–48, 70, 76 f., 80 f., 115, 120 f., 137, 141, 153, 234, 243–245, 251, 257 f. Kantorowicz, Hermann 87 Kaser, Max 223 Kaufmann, Erich 89, 106, 253, 246, 257, 258 f. Kelsen, Hans 63 f., 66, 80, 82, 124, 133 f., 147, 229, 235 f., 238 f., 247, 253 f., 257 f., 265, 270, 277 Koellreutter, Otto 11, 17, 176, 221, 225–234, 237, 239, 247, 251–254, 259–262, 271, 277, 286 Koenen, Andreas 262, 271 Kohler, Josef 52, 55, 73 f., 76 f., 280 Koktanek, Anton Mirko 17, 22, 36, 195 Konfuzius 25, 241 Kornhardt, Hildegard (Nichte Spenglers) 219, 222 f., 228, 232 Kornhardt, Hildegard (Schwester Spenglers) 18 Koschaker, Paul 11, 186 f., 191 f., 196–198, 204 Krebs, Wolfgang 270 Kreller, Hans 184 f., 196 Kulenbeck, Ludwig 193, 202 f. Kunkel, Wolfgang 223 Kunz, Josef 64, 126, 226 f., 238 f. Lantink, Francis Wilhelm 5, 242, 262, 266 Larenz, Karl 47, 86, 115 f., 120 f. Ledig, Vorname unbekannt 57 Leibholz, Gerhardt 245 Leibniz, Gottfried Wilhelm 60 Leist, Burkard Wilhelm 280 Lenel, Otto 131, 184 f., 189 f., 193, 206 Lepsius, Oliver 144 f., 234 f., 257 Lessing, Gotthold Ephraim 241 Liszt, Franz von 118 Litt, Theodor 245 Livius 188
Namenverzeichnis Löwenstein, Alfred 74 Lübbe, Hermann 148 Mach, Ernst 39 Mann, Thomas 4, 13, 16, 21, 62, 136, 235, 257 Marcuse, Herbert 21 Marks, Siegfried 75, 104 Marx, Karl 22, 53, 93 f., 205, 233, 261 f., 262, 272 f. Marxen, Klaus 7, 138, 146 f. Maschke, Richard 211, 218 Maunz, Theodor 47 Mayr, Robert von 188, 189 Mehring, Reinhard 261, 264 Merk, Walter 199, 217 Merkel, Adolf 63 Meyer, Eduard 4, 22 194, 201 Mitteis, Heinrich 67, 94, 118, 174, 254 Mitteis, Ludwig 178, 188–91, 193, 198, 211 Mohler, Armin, 148 f., 260 Moltke, Helmuth James Graf von 110 Morgenstern, Oskar 61 Müller, Alfred 57, 68, 118, 124, 130, 134, 207–209, 214, 216–218, 221 Müllereisert, Franz Arthur 64 f., 119, 125 f., 133 Müller-Erzbach, Rudolf 233 Musil, Robert 106 Mussolini, Benito 19, 235, 237, 240 Netter, Oskar 8, 81 Nicolai, Helmut 198 Nietsche, Friedrich 5, 10, 22 f., 36, 81, 136, 195, 230, 233, 250 f. Nolde, Emil 138 Nolting-Hauff, Wilhelm 210–214, 216, 218, 221 Oertmann, Paul 77 Ohmeyer, Kamillo von 160 Oppenheimer, Franz Gerd 57, 68, 91, 99, 119 Oppikofer, Hans 43, 120, 134, 158 f., 160, 162–164 Osmančević, Samir 261, 263, 270 Ostwald, Wilhelm 39 f., 41, 65, 75–77, 80, 119, 121
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Papinian 181 f., 211 Passow, Richard 169 Paulus 181 Peter, Hans 9 Petraschek, Karl Otto 9, 11, 227, 233 f., 238, 250 f., 254, 259, 278 Petrig, Dieter 9 Pisko, Oskar 160 Platon 60, 176, 201, 243 Popp, Andreas 58, 78 Post, Albert Hermann 87, 215, 280 Potthoff, Heinz 49, 56, 68, 70, 92 Pratchett, Terry 282 Pringsheim, Fritz 225 Proudhon, Pierre-Joseph 272 f. Quesada, Ernesto 18 Radbruch, Gustav 16 f., 43, 88, 130 f., 134, 147 Rathenau, Walter 97, 155, 164, 169 Renner, Karl 50, 104 Riechers, Arnd 8, 97 Rilke, Rainer Maria 4, 21 Rosenberg, Alfred 200 Rosenfeld, Vorname unbekannt 57 Rosenstock, Eugen 70, 122–125, 134, 158 Rousseau, Jean-Jacques 79 Rückert, Joachim 8, 144–147, 152, 168 Rümelin, Max 125 f. Rüthers, Bernd 115 Salvius Julianus, Publius 211 San Nicoló, Mariano 185 f., 187, 189 f., 196, 204 Sander, Fritz 133 Sauer, Wilhelm 130, 133 Scheler, Max 245 Schmelzeisen, Gustav Clemens 42, 44, 49, 56 f., 79, 108 f., 111, 118 f., 120, 128 Schmerbach, Folker 110 Schmidt, Richard 13 Schmitt, Carl 14, 16 f., 109, 116, 228 f., 232, 235, 238 f., 255, 259–277, 286 f. Schönbauer, Ernst 196 Schopenhauer, Arthur 135, 188, 233 f., 249, 251 Schröder, Jan 98 Schröter, Manfred 5 f., 193
326
Namenverzeichnis
Schulz, Fritz 186 f., 192, 196, 204 Schumpeter, Josef 62, 169 Seagle, William 18 Sebottendorf, Rudolf von 200 Silberschmidt, Wilhelm 70 Simmel, Georg 21, 81, 136, 215 Simon, Dieter 10 f., 198 Sloterdijk, Peter 224 Smend, Rudolf 66, 225 f., 252 Sohm, Rudolf 188–192, 206 f. Sokolowski, Paul 74 f., 166, 167, 212 Sombart, Werner 163, 169, 239 Sontheimer, Kurt 61, 136 f., 242, 261, 269 Sorel, Georges 235, 255, 260, 271, 273 Spencer, Herbert 60 Starck, Christian 224 Stier-Somló, Fritz 159 Stolleis, Michael 10, 228, 235, 256 f., 263 Stutz, Ernst 6 Swoboda, Ernst 41, 45–49, 68 f., 70, 79, 80, 82, 101, 108 f., 116, 118–120, 124, 127 f., 138 140–143, 153–158, 169, 171, 221 Tartarin-Tarnheyden, Edgar 12, 237 Thöndl, Michael 6, 235 Tribonian 198
Trigg, Hugh Larimore 18 Tucholsky, Kurt 16, 21 Ulmer, Eugen 129 Ulpian 181, 184, 186, 202 f. Vollgraff, Karl Friedrich 7 Vollnhals, Clements 6 Voltaire 241 Wagemann, Arnold 199 Wahl, Adalbert 175 Walz, Gustav Adolf 66, 247–250, 259, 268, 277 Ward, Lester Frank 60 Warschauer, Erich 76 Weber, Max 21 f., 28, 87, 146 f., 153, 163, 201, 230 f., 237, 250–253, 276 f., 280 Wegerich, Christine 16, 49 Wenger, Leopold 133, 178 f., 183, 188, 189, 192, 206, 223 Wieacker, Franz 86, 96, 120 f., 121, 223, 257 Wittgenstein, Ludwig 4, 21 Wolf, Erik 77, 167 Wolff, Christian 79 Wurzel, Karl Georg 65, 126 Wüstendörfer, Hans 167 Zeiler, Franz von 45, 127, 141
Sachverzeichnis Sachverzeichnis Sachverzeichnis Abstraktion 68–77, 112, 150, 158, 171 Aktienrecht 8, 97, 165 f. Apollinisch 26 f., 36–38, 83, 177 Arbeitsrecht 56 Auftrag 154 Dynamik 32–173 – allgemeine Dynamikkonnotationen 59-67 – juristische Dynamikkonnotationen 68–106 – dynamische Rechtslehre 117–132 – als Abstraktion 68–77, 112 – als Bewegung 78–89 – als Funktion 101–105 – als Gemeinschaftsorientierung 90–101 Eigentum 3, 17, 19, 30, 154 – abstraktes 112 – Bergwerkseigentum 233 – dynamisches 8 f., 32, 37 f., 42 f., 49–56, 90–101, 130, 157 – bei Spengler 92–95, 114, 205 – funktionales 49, 91 f., 101–104, 120 – geistiges 219 – germanisches 91 – körperliches 91 f., 139 – in Bewegung 50 f. – im Nationalsozialismus, siehe Nationalsozialismus – römisches 91, 100, 210 – soziales 90–101, 103 – sowjetisches 210 – Werteigentum 52, 73 f., 77 Energetik 39–41, 65, 75 f., 80, 119, 158, 167, 214 – Wert-Energetik 64 Erfolgshaftung 42, 154
faustisch 27 f., 30, 35-38, 56, 70, 84, 102, 204–209, 213, 215, 219, 222, 226, 278, 285 Fin de siecle 150 germanisches Recht 47, 50, 72 f., 91, 143, 195, 199, 204–219, 222, 282, 285 – bei Spengler 30, 204–207 – Eigentum, siehe Eigentum Germanistik 57, 99, 140, 145, 173, 188, 207–219 Gewere 42, 113, 154, 159, 209 f., 213 f., 216 f., 222, 285 Idealtypen siehe Weimarer „Denktypen“ Ideen von 1789 147 Ideen von 1914 148, 239, 241 Ideengeschichte 10, 75, 106 Irrationalismus 133–155, 168, 172, 224 f., 240–259, 264, 270–277, 284, 286 f. – Wertirrationalismus 87 – Denktyp siehe Weimarer „Denktypen“ Konservative Revolution 7, 148 f., 229, 260, 262 f., 287 Körper 26–30, 36–40, 45, 60, 65, 81–84, 91, 102–105, 109, 113, 132, 139, 156 f., 161, 176, 180 f., 207 f., 209, 211–214, 282 – Abstraktion vom Körper siehe Abstraktion – körperliches Eigentum siehe Eigentum Kredit 42, 52, 131, 154, 157 Lebensnähe 10, 34, 61, 79, 83–90, 92, 105, 121, 150, 152 f., 157, 171, 280, 282, 287
328
Sachverzeichnis
Lebensphilosophie 7, 11, 35, 61 f., 90, 135–145, 152 f., 225, 236, 238, 240–259, 264, 272, 274, 277 Leitwissenschaft 116, 169 f. Marxismus 53, 93 f., 104, 242 Menschenwürde 46–49, 70 Munt 208, 216, 222, 285 Nationalsozialismus 22 f., 33, 44, 47–49, 54, 57, 86, 97, 103, 107–116, 145, 171 f., 196, 200, 217, 221 f., 224, 228, 231, 248, 250, 254, 263, 271, 283, 285 f. nationalsozialistische – Eigentumslehre 17, 86, 112–114 – Rechtsumwertung 107 f., 115–117, 203, 283 österreichisches Recht 45 f., 49, 154 Person 28–30, 37 f., 46–48, 64, 66 f., 70, 74, 91, 107, 139, 154, 157, 178, 180, 209, 214 Positivismus 86, 149, 257–259 Praetor 83, 182 Rationalität siehe Irrationalität Rechtsgeschichte, siehe Spenglers Rechtsgeschichte Rechtsprechung 42, 79, 83, 95, 113, 118, 156, 158 f., 161–165 f., 167, 169 f., 173, 284 Reichsgericht 55, 78, 98, 123, 146, 152, 156, 161–164, 167, 169 Romanistik 177 f., 183, 185, 186, 190, 193 f., 196, 197, 202, 207, 285 Romantik 61, 242, 248 f., 261–263, 267–269, 271 f., 196
römisches Recht – als jüdisches Recht 196–204 – bei Spengler 179–183 – Krise des 186, 193, 195 f. – Eigentum, siehe Eigentum Sache 29 f., 37 f., 40, 45, 52 f., 71, 73, 77, 91, 102 f., 120, 154, 156, 158, 162, 166–168, 184, 208–210, 212–214, 218, 220 f. Sozialismus 16, 142, 261 – bei Spengler 17, 26, 92–94, 101, 144, 212, 246 Spengler(s) – Biographie 20–24 – Geschichtsphilosophie 24–26, 28–31 – Irrationalismus 240–247, 270–277 – Lebensphilosophie 135–138 – Rechtsgeschichte 179–183, 204–207 Staatsrechtswissenschaften 224–278 Streit um Spengler 1, 5 f., 21, 175, 183, 187 f., 192–195, 198, 227 Substanzrecht, siehe Werteigentum Unternehmen 42 f., 70, 112 154, 156–170, 284 – „an sich“ 8, 97, 170 Urheberpersönlichkeitsrecht 55 Urheberrecht 71, 161 Volksgeist 72, 139, 145, 189 Vollmacht 154 Weimarer „Denktypen“ 143, 145, 147 f., 150 f., 153, 168, 170, 173, 275, 284 Werteigentum siehe Eigentum Wertirrationalismus siehe Irrationalismus