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German Pages 227 [237] Year 2006
R. Gradinger H. Gollwitzer Ossäre Integration
ESKA Implants GmbH & Co. KG bedankt sich herzlich bei den Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats unter der Leitung von Herrn Professor Dr. med. Reiner Gradinger und bei allen weiteren Autoren, die durch ihre vielseitigen und umfassenden Beiträge dieses Werk ermöglicht haben.
R. Gradinger H. Gollwitzer Ossäre Integration
R. Gradinger H. Gollwitzer
Ossäre Integration Mit 258 Abbildungen und 28 Tabellen
123
Prof. Dr. Rainer Gradinger Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Sportorthopädie am Klinikum Rechts der Isar der Technischen Universität München Ismaninger Straße 22 81675 München
Dr. Hans Gollwitzer Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau Prof. Küntscher-Straße 8 82418 Murnau/Staffelsee
ISBN 3-540-22721-0 Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN 987-3-540-22721-2 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.
SPIN 11309734 Titelbild und Design: deblik, Berlin Satz: TypoStudio Tobias Schaedla, Heidelberg Druck: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier
18/5135/yb – 5 4 3 2 1 0
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Vorwort Der Knochen ist ein Organ und wurde lange Zeit nicht so gesehen. Ein Gelenk ist ein äußerst komplexes Organ und wird bis heute nicht so gesehen. Dieses Buch, an dem viele Experten mitgewirkt haben, hat das Ziel Mechanik, Materialien und Biologie zu verbinden und das heutige Wissen auf diesen faszinierenden Arbeitsfeldern in ihrer Interaktion darzustellen. Die Idee spongiöse-trabeculäre Strukturen zu schaffen, um eine knöcherne Integration von Implantaten zu erreichen, stammt von Henßge, Hanslik und Grundei und wurde Schritt für Schritt in den letzten 3 Jahrzehnten entwickelt. Auch von meinem akademischen Lehrer Hipp wurde die biologische Potenz dieses Lösungsansatzes erkannt und aktiv mitbegleitet. An der Entwicklung waren viele Kliniker und Grundlagenforscher verschiedenster Richtungen – Ingenieure, Chemiker, Physiker, Biologen, Mathematiker, Informatiker, Anatomen u.a. – beteiligt. Was hat all diese Leute zusammengeführt? Die Idee! Was hat sie weiterarbeiten lassen an einem wissenschaftlich nicht eindeutig beschriebenen aber lebenden Projekt? Die Überzeugung und das Erleben, dass es geht! Die heute vorliegenden 17-Jahres-Ergebnisse im Bereich der Hüftendoprothetik, welche bei über 93% der eingebrachten Hüftendoprothesenstiele eine knöcherne stabile Integration nachweisen, sind weltweit unerreicht. Die heutzutage zur Verfügung stehenden weiterentwickelten Implantate lassen eine weitere Steigerung dieser exzellenten Ergebnisse erwarten. Wir sind der dauerhaften Integration eines Fremdmaterials in den menschlichen Körper zumindest sehr nahe gekommen, wahrscheinlich haben wir dies bereits jetzt erreicht. Die Diskussion über die Entfernbarkeit eines knöchern integrierten Implantates ist eine Scheindiskussion, die an dem Ziel der dauerhaften Versorgung unserer Patienten vorbeigeht. Versagensfälle wird es immer geben. Diese Quote zu minimieren ist unsere Aufgabe und es ist eine technisch zu lösende Aufgabe, auch diese Fälle dann entsprechend zu versorgen. Dabei kann es nicht das Ziel sein, lieber eine höhere Quote von Versagensfälle zu produzieren unter dem Gesichtspunkt diese einfacher lösen zu können. Die Aussage, dass wir dem Ziel einer dauerhaften-lebenslangen-Integration von Endoprothesensystemen in den menschlichen Körper nahe gekommen sind, ist Realität geworden. Zukünftige Entwicklungsansätze betreffen den Verschleiß von beweglichen Implantatteilen als bis heute nicht vollständig gelöstes Problem, das unter Umständen zum Teil mit bionischen Ansätzen verbessert werden kann. Die Optimierung der 3-dimensionalen Ausrichtung von Ersatzteilen im menschlichen Körper ist eine weitere Herausforderung, die mit Hilfe von Navigationssystemen in naher Zukunft verbessert werden kann. Der Übergang von Endo- zu Exoprothesen ist nach wie vor experimentell, die jetzt vorliegenden Ergebnisse sind allerdings ermutigend. Das vorgelegte Buch soll zur Verbreitung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse beitragen, wohl wissend, dass »eine neue wissenschaftliche Wahrheit sich nicht in der Weise durchzusetzen pflegt, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist« (Zitat: Max Planck). Prof. Dr. R. Gradinger (München, März 2006)
VII
Inhaltsverzeichnis Teil I
1
Geschichtliche Entwicklung
Geschichtliche Entwicklung der Endoprothetik und der Fixation durch Spongiosa-Metal® . . . . . . . . . . . 2 H. Grundei
Teil II
Teil III Anwendung
5 5.1
Wirbelsäule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Bandscheibe – Verblockungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . 83 W. Arnold
5.2
Wirbelkörperprothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 R. Gradinger, A. Töpfer, H. Gollwitzer
6 6.1
Große Gelenke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Kurzstielige oder langstielige Schulterprothesen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 P.M. Rozing, M.A. van der Sande, J. Nagels
Experimentelle Grundlagen
6.2.1 Hüfte: Standardimplantat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 H. Gollwitzer, R. Gradinger
2 2.1
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Biomechanische Grundlagen der Implantatverankerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 E. Steinhauser
2.2
Biologische und physiologische Grundlagen . . . . . . . 24 G. Schmidmaier, B. Wildemann
2.3
Tierexperimentelle Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . 30 R. Ascherl, W. Erhardt, S. Kerschbaumer, M.L. Schmeller, R. Gradinger
2.4
Histologische Untersuchungen von Implantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 S. Kerschbaumer
2.5
Metallurgische Grundlagen für die gusstechnische Herstellung einer räumlichen Oberflächenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 K. Klingbeil
6.3
Kniegelenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 J. Scholz
6.4
Sprunggelenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 J. Rudigier
3 3.1
Oberflächenbeschichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Beschichtungen auf Implantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 D. Repenning
7 7.1
Kleine Gelenke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Fingergrundgelenksendoprothese . . . . . . . . . . . . . . . . 147 C. Weber
3.2
Antiinfektiöse Oberflächenbeschichtung . . . . . . . . . . . 62 H. Gollwitzer, L. Gerdesmeyer
7.2
Fuß: Großzehengrundgelenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 K.-H. Olms
3.3
Bioaktive Oberflächenbeschichtung. . . . . . . . . . . . . . . . 69 G. Schmidmaier, B. Wildemann
8
Ossäre Integration in der oralen Implantologie . . . . 162 J. Sprang
4
Metallimplantatallergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 P. Thomas, B. Summer
9 9.1
Spezialimplantate Implantate und Strategien beim Hüftendoprothesenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 W. Mittelmeier, M. Hauschild, R. Bader, R. Gradinger
6.2.2 Hüfte: Schenkelhalsprothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 W. Thomas 6.2.3 Hüfte: Kurzstiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 G. von Salis-Soglio, J. Gulow 6.2.4 Oberflächenersatz des Hüftgelenkes: Doppel-Cup-Prothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 P. Juhnke 6.2.5 Spannungsverteilung und Primärstabilität bei vollstrukturierten versus teilstrukturierten Femurkomponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 R. Burgkart, R. Glisson
VIII
Inhaltsverzeichnis
9.2
Tumorendoprothetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 R. Gradinger, H. Gollwitzer
9.3
Endo-/Exoprothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 K.-H. Staubach, H. Grundei, H. Aschoff
9.4
Individualprothesen, Sonderanfertigungen . . . . . . . 195 R. Ascherl, H. Grundei, I. Hartung, R. Gradinger
Teil IV Ausblick
10
Verschleißteile und tribologische Optimierung . . . . 208 C. Kaddick, E. Steinhauser, K. Klingbeil
11
Entfernung ossär integrierter Implantate . . . . . . . . . . 215 H.S. Grundei, H. Gollwitzer
12
Trends und zukünftige Entwicklungen auf dem Gebiet der ossären Integration . . . . . . . . . . . 220 R. Gradinger, H. Gollwitzer Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
IX IX
Autorenverzeichnis Arnold, Wolf, Prof. Dr. Zentralklinikum Suhl gGmbH Zentrum für Orthopädie, Unfallund Wiederherstellungschirurgie Albert-Schweitzer-Straße 2 98527 Suhl Ascherl, Rudolf, Prof. Dr. Park-Krankenhaus Leipzig-Südost GmbH Orthopädisch – Traumatologisches Zentrum Strümpellstraße 41 04289 Leipzig
Aschoff, Horst-Heinrich, Dr. Sana Kliniken Lübeck GmbH Klinik für Hand- und Plastische Chirurgie Kronsforder Allee 71-73 23556 Lübeck
Bader, Rainer, Dr. Dipl.-Ing. Forschungslabor für Biomechanik und Implantat-Technologie Universität Rostock Doberaner Straße 142 18055 Rostock
Burgkart, Rainer, Dr. Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Sportorthopädie am Klinikum Rechts der Isar der Technischen Universität München Ismaninger Straße 22 81675 München
Gerdesmeyer, Ludger, PD Dr. Department Endoprothetik und Wirbelsäulenchirurgie Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Mare Klinikum Eckernförder Straße 219 24119 Kiel-Kronshagen Glisson, Rich, M.D. Orthopaedic Research Laboratories Department of Surgery Duke University Medical Center 375 MSRB, Box 3093 Durham, NC 27710 U.S.A.
Orthopädische Klinik und Poliklinik Universitätsklinikum Leipzig Liebigstraße 20 04103 Leipzig
Hartung, Ingo ESKA Implants GmbH & Co. Grapengießerstraße 34 23556 Lübeck
Hauschild, Matthias, Dr. Orthopädische Klinik und Poliklinik Universität Rostock Doberaner Straße 142 18055 Rostock
Gollwitzer, Hans, Dr.
Juhnke, Peer, Dr.
Abt. für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau Professor-Küntscher-Straße 8 82418 Murnau
Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Sportorthopädie am Klinikum Rechts der Isar der Technischen Universität München Ismaninger Straße 22 81675 München
Gradinger, Rainer, Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Sportorthopädie am Klinikum Rechts der Isar der Technischen Universität München Ismaninger Straße 22 81675 München
Kaddick, Christian, Dr.-Ing.
Grundei, Hans, Dr.-Ing. ESKA Implants GmbH & Co. Grapengießerstraße 34 23556 Lübeck
Erhardt, Wolf, Prof. Dr. Institut für Experimentelle Onkologie und Therapieforschung Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München Ismaninger Straße 22 81675 München
Gulow, Jens, Dr.
Grundei, Hannu S., Dr. ESKA Implants GmbH & Co. Grapengießerstraße 34 23556 Lübeck
ENDOLAB Mechanical Engineering GmbH Seb.-Tiefenthaler-Straße 13 83101 Thansau / Rosenheim
Kerschbaumer, Susanne, Dr. Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Sportorthopädie am Klinikum Rechts der Isar der Technischen Universität München Ismaninger Straße 22 81675 München
Klingbeil, Klaus, Dr.-Ing. ESKA Implants GmbH & Co. Grapengießerstraße 34 23556 Lübeck
X
Autorenverzeichnis
Mittelmeier, Wolfram, Prof. Dr. Orthopädische Klinik und Poliklinik Universität Rostock Doberaner Straße 142 18055 Rostock Nagels, J., Dr. Department of Orthopaedics Leiden University Medical Center Albinusdreef 2 NL-2333 ZA Leiden THE NETHERLANDS Olms, Kai-Hinrichs, Dr. Chirurgische Gemeinschaftspraxis Drs Osten, Olms, Drewes und Sax Markt 7 23611 Bad Schwartau Repenning, Detlev, Dr. omt GmbH Oberflächen- und Material-Technologie Seelandstraße 7 23569 Lübeck Rozing, P.M., Prof. Dr. Department of Orthopaedics Leiden University Medical Center Albinusdreef 2 NL-2333 ZA Leiden THE NETHERLANDS
Rudigier, Jürgen, Prof. Dr. Chirurgische Klinik II Klinikum Offenburg Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Freiburg Ebertplatz 12 77654 Offenburg
Sande, van der, M.A., Dr. Department of Orthopaedics Leiden University Medical Center Albinusdreef 2 NL-2333 ZA Leiden THE NETHERLANDS
von Salis-Soglio, Georg, Freiherr, Prof. Dr. Orthopädische Klinik und Poliklinik Universitätsklinikum Leipzig Liebigstraße 20 04103 Leipzig
Schmeller, Marie-Luise, Dr. Institut für Experimentelle Onkologie und Therapieforschung Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München Ismaninger Straße 22 81675 München
Summer, Burghard, Dipl.-Biol. Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie Ludwig Maximilian Universität München Frauenlob-Straße 9-11 80337 München Thomas, Peter, PD Dr. Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie Ludwig Maximilian Universität München Frauenlob-Straße 9-11 80337 München Thomas, Wolfram, Prof. Dr.
Schmidmaier, Gerhard, PD Dr. Klinik für Orthopädie, Unfall- und Wiederherstellungschirurgie Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie Charité, Campus Virchow-Klinikum Augustenburger Platz 1 13353 Berlin
Scholz, Jörg, Prof. Dr. Chefearzt der orthopädischen Abteilung Emil-Behring-Klinikum Gimpelstaig 9 14165 Berlin
Sprang, Jürgen, Dr. Dr. Zahnärztliche Praxis Binderstraße 24 20146 Hamburg
Staubach, Karl-Hermann, Prof. Dr. Klinik für Unfallchirurgie Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck Steinhauser, Erwin, Dr.-Ing. Abteilung Biomechanik Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Sportorthopädie der Technischen Universität München Connollystraße 32 80809 München
Clinica Quisisana Via G Giacomo Porro, 5 00197 Rom ITALY
Toepfer, Andreas, Dr. Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Sportorthopädie am Klinikum Rechts der Isar der Technischen Universität München Ismaninger Straße 22 81675 München Weber, Christian, Dr. Ärztlicher Direktor Orthopädische Abteilung Asklepios Klinik Hohwald Hauptstraße 16 01844 Hohwald Wildemann, Britt, PD Dr. Klinik für Orthopädie, Unfall- und Wiederherstellungschirurgie Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie Charité, Campus Virchow-Klinikum Augustenburger Platz 1 13353 Berlin
I
Teil I
Geschichtliche Entwicklung
Kapitel 1
Geschichtliche Entwicklung der Endoprothetik und der Fixation durch Spongiosa-Metal® – 2 H. Grundei
1 Geschichtliche Entwicklung der Endoprothetik und der Fixation durch Spongiosa-Metal® H. Grundei
Zusammenfassung Die Entwicklung der Endoprothetik begann im 19. Jahrhundert. Sie ist eingebettet in eine Jahrtausende alte Entwicklung der Medizin. Mit der Einführung neuer Materialien und neuer physikalischer Wirkprinzipien im 19. und 20. Jahrhundert erfuhr die Endoprothetík eine rasante Entwicklung, sodass sie heute einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Steigerung der Lebenserwartung liefern kann. Weltweit werden heutzutage jährlich mehr als 1.000.000 künstliche Hüftgelenke und 800.000 künstliche Kniegelenke eingesetzt, davon allein in Deutschland ca. 150.000 Hüft- und 60.000 Knieendoprothesen. Meilensteine in der Entwicklung der Endoprothetik waren die Einführung des »Knochenzements« zur Verankerung von Implantaten und die Realisierung von Oberflächenstrukturen zur dauerhaften zementfreien Fixation von Endoprothesen.
Geschichte der Orthopädie Die Orthopädie ist so alt wie die Chirurgie, und beide Disziplinen sind stets im Zusammenhang mit der angewandten Medizin zu betrachten. Ägypter, Griechen und Römer kann man als die Väter der angewandten Orthopädie und Chirurgie bezeichnen. Prähistorische Funde haben gezeigt, dass es schon damals Versorgungen mit Körperersatzstücken und -stützen gab.
Die Griechen beschäftigten sich als erste nachweislich wissenschaftlich mit Deformitäten des Körpers. Hippokrates, der 460 vor Christi wirkte, gilt als einer der Väter der Orthopädie (griech. ορτηοσ, Orthos = Gerade, παιδεια, Paideia = Erziehung oder Kind). Er berichtete ausführlich über die Verkrümmung der Wirbelsäule und empfahl bei seinen Behandlungsmethoden das Streckbett und die Gymnastik. Er beschrieb Verrenkungen an Hüfte und Knie sowie die Klumpfußbehandlung. Einige dieser Anwendungen findet man noch heute in der täglichen Praxis. Mit Ende des 15. und Beginn des 16. Jahrhunderts findet man in Mittel- und Nordeuropa Aufzeichnungen über chirurgische Behandlungsmethoden der Wirbelsäule. Waffenschmiede und Mechaniker waren die beruflichen Ahnen der so genannten chirurgischen Instrumentenmacher, die gemeinsam mit dem chirurgischen Medikus (Feldscherer oder Wundarzt) in den folgenden Jahrhunderten bei kriegerischen Auseinandersetzungen ihre handwerkliche und ärztliche Kunst bei Söldnern und Obrigkeiten anwandten. Die eigentliche Entwicklung der wissenschaftlichen Orthopädie begann im 18. Jahrhundert. 1741 veröffentlichte der französische Arzt Andry eine Monographie, in der er über seine Beobachtungen von Deformitäten des Körpers berichtete: »Orthopädie oder die Kunst bey Kindern die Ungestaltheit des Leibes zu verhüten und zu verbessern« [1]. Absicht des Autors war es, durch Aufklärung dafür zu sorgen, dass Kinder natürlich aufgezogen werden und dass Faktoren, die das Wachstum und die Entwicklung der Kinder hemmten, vermieden wurden.
3 Kapitel 1 · Geschichtliche Entwicklung der Endoprothetik und der Fixation durch Spongiosa-Metal®
Verformungen der Knochen und Gelenke sollten nicht mehr als gottgewollt, sondern als veränderbar und formbar angesehen werden. Die Realisierung dieser Vision erfolgte durch den Schweizer Arzt Venel, der 1780 die erste orthopädische Heilanstalt gründete. Orthopädische Leiden (z. B. Klumpfüße) wurden durch Apparate und Schienen behandelt – die erreichten Korrekturen konnten mit Gipsabdrücken belegt werden. Das deutsche Vorbild einer solchen Entwicklung war Johann Georg Heine, der in Würzburg als chirurgischer Instrumentenmacher 1816 ein entsprechendes Institut gründete. In dieser Einrichtung wurden, manchmal über Jahre, vor allem Patienten im Alter von 5–25 Jahren behandelt [2]. Mit den Erfindungen ▬ der Äthernarkose (1842 durch Long, USA), ▬ der Chloroformnarkose (1847 durch Simpson, England), ▬ des Gipsverbandes (1851 durch Mathijsen, Holland), ▬ der aseptischen Wundversorgung (1867 durch Lister, England; basierend auf dem Grundgedanken des Franzosen Pasteur) und ▬ der Röntgentechnik (1895 durch Röntgen, Deutschland) sowie den Ereignissen des deutsch-französischen Krieges 1870/71 wurden schließlich wesentliche Meilensteine für die Entstehung und Weiterentwicklung der operativen Orthopädie gelegt, um die zahlreichen durch den Krieg entstandenen Verstümmlungen zu behandeln [3]. Mit dem Inkrafttreten der Sozial- und Krankenversicherung in Deutschland am 1. Januar 1884 wurden die Voraussetzungen für eine so genannte staatliche Krüppelvorsorge geschaffen, die bis dahin ausschließlich von wissenschaftlichen und karitativen Organisationen geleistet wurde. Durch die Übernahme dieser Leistung durch den Staat wurde die Vorsorgung von Kranken ein öffentliches Anliegen und führte auch zu einer Neugliederung der Aufgaben des Instrumentenmachers in Chirurgie- und Orthopädie-Mechanik.
Elfenbein, das die Funktion des natürlichen Gelenkes übernehmen sollte [4]. Am Hüftgelenk implantierte Smith-Petersen 1923 eine Plexiglasschale [5], die den zerstörten Hüftkopf ersetzen sollte. Diese Erfindung scheiterte letztendlich, da die eingesetzten Materialien und die gewählte Befestigung der Implantate nicht den auftretenden Belastungen gewachsen waren. Erst die Erfindung der mechanisch festen und korrosionsstabilen CoCrMo-Legierung Vitallium durch Venable und Stuck [6] in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts führte bei dem so genannten Kopfstiel (von
Geschichte der Endoprothetik Die Geschichte der Endoprothetik begann 1890 mit Themistocles Gluck (⊡ Abb. 1.1). Er war der erste, der die Idee eines künstlichen Gelenks in die Tat umsetzte. Für das Kniegelenk entwickelte er ein Scharniergelenk aus
⊡ Abb. 1.1. Kniescharniergelenke nach Gluck (1890)
1
4
1
Teil I · Geschichtliche Entwicklung
Judet 1946, [7]) zu beachtlichen Erfolgen und ermöglichte auch die Erfindung stielendiger Prothesen durch Moore und Thomsen [6]. Hauptproblem aller Endoprothesenentwicklungen dieser Zeit blieb die mangelhafte Verankerung der Prothesenstiele im knöchernen Lager. Die unterschiedlichen Elastizitätsmodule von Metallstiel und Knochen führten durch eine mangelhafte Kraftübertragung zu ungünstigen Umbauvorgängen im Knochen und zur Lockerung der Implantate. Der entscheidende Fortschritt in der Entwicklung der Endoprothetik gelang Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts dem Engländer Charnley [8]. Er ergänzte den Hüftkopfersatz um eine künstliche Hüftpfanne und verankerte diese Totalprothese mit so genanntem Knochenzement. Dieses aushärtende Polymethylmetacrylat (PMMA) wurde bis dato in der Zahnmedizin und der plastischen Chirurgie bereits erfolgreich eingesetzt. Diese revolutionäre Verankerungsform und der Einsatz günstiger Gleitpartner im Sinne einer »Low-friction-Arthroplastie« (metallischer Hüftkopf und Kunststoffpfanne) führten zu einer enormen Verbreitung der Totalendoprothetik. Charnley fand bald Anhänger. Im Jahre 1966 implantierten der Hamburger Buchholz sowie der Schweizer Müller eigene Entwicklungen, drei Jahre später Mittelmeier und Weber [9]. In der Knieendoprothetik entstanden die ersten Totalendoprothesen als reine Scharnierprothesen. Die Modelle von Shiers (1954) und Walldius (1957) entstanden noch vor der Einführung des Knochenzements – sie mussten also für eine ausreichende Stabilisierung mit langen Stielen im Knochen verankert werden. Aber bereits das Implantat der Guepar-Gruppe (1968) war zur Zementfixierung vorgesehen [10]. Für den Oberflächenersatz des Knies waren für die damalige Zeit der Typ »St. Georg«, ein Modell von Buchholz und dem Chirurgie-Mechaniker Link, sowie das Modell des Amerikaners Marmor Stand der Technik [10]. Seit Beginn der siebziger Jahre bestand eine enge Zusammenarbeit zur Entwicklung von Knochenimplantaten zwischen Henßge, dem damaligen Direktor der Orthopädischen Klinik, seinem damaligen Oberarzt Thomas und Grundei, Leiter und Inhaber der orthopädischen Vertragswerkstatt für orthopädische Hilfs- und Heilmittel, der Medizinischen Hochschule zu Lübeck. Zielsetzung ihrer Forschungen ab Herbst 1972 war die Entwicklung von Implantaten, die der menschlichen Anatomie und den natürlichen Bewegungsabläufen mög-
lichst nahe kommen. Einer ihrer Schwerpunkte lag in der Knie- und Hüftendoprothetik. 1974 zeichneten sich nach umfangreichen anatomischen Studien durch Grundei und Thomas [11, 12] erste greifbare Ergebnisse im Kniebereich ab: die Gleitachs-Endoprothese, die die physiologischen Bewegungsabläufe Rollen, Gleiten und Rotieren realisieren konnte und sich nicht mehr über einen starren Achspunkt bewegte (⊡ Abb. 1.2). Hinzu kamen zeitnah die Femurund Tibiastiele für das Knie in ihrer querovalen Form. 1975 führte diese Entwicklungsstudie zur weltweit ersten keramischen Vollprothese mit physiologischen Bewegungsabläufen (⊡ Abb. 1.3). Mit der Firma Feldmühle AG in Plochingen wurde dieses Konstruktionsprinzip in enger Zusammenarbeit umgesetzt. Der Oberflächenersatz des Knies, der ebenfalls Bestandteil der anatomischen Studien war, fand unter der Bezeichnung »Anatomische GT-Schlitten-Endoprothese« durch die Erstimplantation 1977 seinen Einzug in die Welt der Implantate (⊡ Abb. 1.4). In der Hüftendoprothetik traten in den siebziger Jahren erste Probleme auf, die darauf zurückzuführen waren, dass die technisch gestalteten Stiele wenig Rücksicht auf die Anatomie des Femurs und die damit zusammenhängende Ausbildung des Zementmantels nahmen. Auch hier wurde die Anatomie zur Richtschnur für die Gestaltung eines neuen Hüftstieles gemacht und so entwickelten Grundei, Henßge und Etspüler den anatomischen Hüftstiel »GHE« [13] (⊡ Abb. 1.5). Die Erstimplantation fand im Dezember 1980 statt.
⊡ Abb. 1.2. Gleitachsendoprothese (1974)
5 Kapitel 1 · Geschichtliche Entwicklung der Endoprothetik und der Fixation durch Spongiosa-Metal®
a
b
⊡ Abb. 1.3. Keramische Vollprothese in Leiche – Situs
⊡ Abb. 1.4. a GT-Schlitten (1977); b GT-Gleitachsendoprothese, zementierbar (1978)
1
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Teil I · Geschichtliche Entwicklung
1
⊡ Abb. 1.5. GHE-Hüftstiel (1979–1980) mit Formkörper und anatomischer Anpassung an das koxale Femurende
Zementfreie Endoprothesenfixation Die Hauptursache für das damalige Versagen von zementierten Prothesen war die ungenügende Verbundfestigkeit der Knochen-Zement-Grenze. Durch Zermürbung und Zerrüttung des Knochenzementmantels kam es bei Wechselbeanspruchung zur aseptischen Lockerung. Eine akzeptable Lösung für diese Problematik sahen verschiedene Entwicklungsgruppen nur durch die Realisierung zementfreier Prothesenfixationen gegeben. Vor-
aussetzung dafür ist, dass durch die räumliche Gestaltung der Implantatoberfläche eine biomechanische Verbindung zwischen Implantat und wachsendem Knochen geschaffen wird. In der Entwicklung der Endoprothetik wurden dabei entsprechend dem technischen Stand der Metallurgie und der Bearbeitungstechnologie unterschiedliche Wege beschritten [14]. Die einfachste Form der Oberflächengestaltung ist eine Vergrößerung der Implantatoberfläche durch mechanische Bearbeitung wie Schmieden oder Gießen. Realisiert
7 Kapitel 1 · Geschichtliche Entwicklung der Endoprothetik und der Fixation durch Spongiosa-Metal®
a
b
c
⊡ Abb. 1.6a–c. Verschiedene Oberflächengestaltungen von Hüftgelenksendoprothesen: a kraterförmige Vertiefungen nach Judet, b Tragrippen nach Mittelmeier, c aufgesinterte Kugeln nach Lord
wurde dieses Konstruktionsmerkmal z. B. durch McKee [15] und Siwash [16], die zur Verankerung gewindeähnliche Oberflächen einsetzten. Judet [17] versah seine Prothese mit kraterförmigen Vertiefungen (⊡ Abb. 1.6a), Galante [18] veröffentlichte 1971 seinen räumlich offenen Verankerungsweg durch das Fiber-Mesh-Verfahren als Mikro-3-D-Raumstruktur (⊡ Abb. 1.7). Grundlage dieses Verfahrens waren zerhäckselte Metallspäne aus Titan- oder Kobalt-Chrom-Legierungen, die willkürlich ineinander geschüttet wurden und dann durch hohe Wärmezufuhr sinterverschweißt auf Endoprothesen gebracht wurden. Mittelmeier [19] setzte zur besseren Kraftüberleitung Tragrippen ein (⊡ Abb. 1.6b). Diese Oberflächengestaltungen lassen ein Heranwachsen des Knochens an die zerklüftete Implantatoberfläche zu und schaffen damit eine mechanische Verbindung zwischen Implantat und Implantatlager. Durch das Aufsintern von Kugeln gelang es Lord [20], eine Oberfläche zu schaffen, die sich in der Tiefe öffnete und ein begrenztes Hineinwachsen des Knochens in das Implantat zuließ (⊡ Abb. 1.6c). Die begrenzte mechanische Festigkeit dieser Oberflächenstruktur führte zum Teil zu Ablösungen der aufgesinterten Strukturen bei hohen Belastungen und damit zum Versagen der Prothese. Eine wichtige Grundvoraussetzung für eine lange Lebensdauer von zementlos eingebrachten Implantaten ist, dass sich bei der Verankerung der Endoprothesenkomponenten im knöchernen Lager ein stabiles mechanisches und biologisches Gleichgewicht zwischen dem Implantat und dem Organ »Knochen« einstellen kann. Dies ist
⊡ Abb. 1.7. Fiber-Mesh nach GALANTE (1971)
1
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1
Teil I · Geschichtliche Entwicklung
mit interkonnektierenden dreidimensional offenzelligen Raumstrukturen möglich, die ein Hindurchwachsen des Knochens bei erhaltener Blutzufuhr ermöglichen.
Entwicklung von »Spongiosa-Metal®« Grundei [13] suchte nach Verfahrenswegen zur Herstellung von dreidimensionalen Oberflächenstrukturen, die in ihrem Erscheinungsbild dem menschlichen Spongiosaknochen ähneln, räumlich jedoch gröber – makromaschig – ausfallen, sodass der natürliche Knochen ein- und hindurchwachsen kann. Die poröse Struktur des aus mineralisierter Kalbsspongiosa gewonnenen »Kieler Knochenspans« der Firma Braun Melsungen AG diente zur räumlichen Orientierung und war Grundlage für die Entwicklung und Maschenweitenbestimmung der späteren Metallspongiosa (⊡ Abb. 1.8). Dieses Knochenersatzmaterial wurde während der sechziger Jahre in der Kieler Universitätsklinik für Orthopädie und Chirurgie bei Defekten und zum Aufbau von Neuknochen regelmäßig eingesetzt. Schon durch den Begriff Spongiosa (= schwammartige Struktur) war es naheliegend, nach Werkstoffen oder Materialien zu suchen, die ebenfalls schwammartig aufgebaut waren, wie z. B. der Natur- oder Kunstschwamm. Der Naturschwamm, gelbfarbig, faserig und zugleich mit weiten Kanälen versehen, war ungeeignet für die in Frage kommende Abgusstechnik, weil sein Zellaufbau sehr unregelmäßig zerklüftet und die Porenweiten mehr als fünf Millimeter groß waren (⊡ Abb. 1.9). Der rostrotfarbige Kunstschwamm hingegen, den man in jedem Klassenzimmer oder zum Befeuchten von Briefmarken benutzte, war ein zellulärer Gummischwamm, aus Latex industriell hergestellt (⊡ Abb. 1.10). Dieser hatte eine immer wiederkehrende, gleiche Oberflächengüte ähnlich der natürlichen Spongiosa. In 18-monatiger Kleinarbeit wurden in einem zahntechnischen Labor die keramischen Abformmassen erprobt, mit denen es dann Anfang 1980 gelang, Gussstücke im Schleudergussverfahren unter Verwendung von Gummischwämmen herzustellen (s. auch Kap. 2.5). Die Vorstellung, dass der Gummischwamm die hochviskösen keramischen Einbettmassen wie Wasser in sein inneres Zellenlabyrinth aufnimmt, erfüllte sich nicht. Trotz unterschiedlichster Einbettversuche, wie mit gefrorenen Schwämmen oder durch Evakuieren, war die Oberfläche stets nur zerklüftet; besaß also ausschließlich trichterarti-
⊡ Abb. 1.8. Kieler Knochenspan
⊡ Abb. 1.9. Naturschwamm (1980)
⊡ Abb. 1.10. Kunstschwamm (1980)
9 Kapitel 1 · Geschichtliche Entwicklung der Endoprothetik und der Fixation durch Spongiosa-Metal®
ge Vertiefungen und keine inneren interkonnektierenden Verbindungen. Da mit diesem Schwammmaterial das gesteckte Ziel des räumlich offenen Metallgerüsts nicht zu realisieren war, mussten andere Wege beschritten werden. Schließlich fand sich bei der Firma Otto Bock Kunststoff (Duderstadt) in einem Polyurethan-(PUR-)Schwamm ein geeignetes Material. Dieser war in seiner Zellstruktur steuerbar, sodass man die Zellgrößen dieses Schaumschwammes vorherbestimmen konnte. Gewählt wurde der Schaumtyp 16 Pores per Inches (PPI, 1 Inch ≈ 2,5 cm). Diesem Schaumschwamm wurden dann in einem besonderen Verfahren nach Walz die Zellwände durch explosionsartige Druckwellen entfernt, wodurch ein PUR-Schaumgerüst im Sinne eines »retikulierten Filterschaums« zurück blieb. Dieser Filterschaum war die tragende Säule von »Spongiosa I« (⊡ Abb. 1.11). Die Stege dieses industriell hergestellten Schwammgerüsts waren jedoch bei der gewählten Maschenanzahl von 16 PPI zu dünn und ließen sich gusstechnisch nicht umsetzen. Die Suche nach flüssigen Materialien, mit denen man die feinen Stege des Filterschaums durch Tauchen oder Aufspritzen verstärken konnte, führten zu einer kleinen Wachsfabrik in der Nähe von Hamburg. Dort wurden Wachse für die Pharmaindustrie hergestellt, und dieses Wachs wurde der Verstärkungswerkstoff für das nächste Jahrzehnt. Im Frühjahr 1981 konnte den wissenschaftlichen Partnern Henßge und Hanslik erstmalig metallische Blöcke mit der geforderten offenen 3-D-Raumstruktur mit Maschenweiten von 0,3 bis 2,5 mm präsentiert werden (⊡ Abb. 1.12). Die gegossenen Metallspongiosa-Implantate wurden schließlich im Tiermodell untersucht [21].
⊡ Abb. 1.11. Spongiosa Metal® I nach Grundei (1981)
Integrationsmodell am Schaf Die von Grundei hergestellten metallspongiösen Implantatwürfel mit einer Kantenlänge von 10–12 mm wurden in einen operativ gesetzten Defekt in das Iliosakralgelenk von 12 gesunden Mutterschafen im Alter von 1–3 Jahren implantiert, wobei 2 Tiere unmittlebar nach dem Eingriff verstarben [21]. Röntgenuntersuchungen erfolgten unmittelbar nach dem Eingriff und vor der Opferung der Tiere 181 Tage postoperativ. Weitere Röntgenaufnahmen, makroskopische Aufnahmen und histologische Untersuchungen wurden vom Operationspräparat gefertigt (⊡ Abb. 1.13). Alle zehn metallspongiösen Implantate wurden in den 181 Tagen knöchern umwachsen und integriert, sodass
⊡ Abb. 1.12. Metallische Blöcke Spongiosa Metal® I (1981)
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ein fester Sitz der Implantate mit Arthrodeseeffekt der Iliosakralgelenke herbeigeführt wurde. Histologisch bestätigte sich die knöcherne Integration der metallspongiösen Implantate. So zeigte sich nicht nur ein Heranwachsen des Knochens an das Implantat (⊡ Abb. 1.14a), sondern ein Hindurchwachsen in das Innere der spongiösen Metallblöcke (⊡ Abb. 1.14b und 1.14c). Bei fünf der zehn Präparate konnte sogar im Zentrum der Implantate mineralisierter Knochen nachgewiesen werden. Diese ermutigenden Ergebnisse der Implantatintegration am Großtiermodell des Schafes konnten eine Anwendung am Menschen für bestimmte Osteosyntheseprobleme und für die Oberflächengestaltung von Gelenkimplantaten rechtfertigen und führten zur Herstellung gegossener Metallspongiosa-Implantate für die Humanmedizin [22]. Im Mai 1982 wurde von Henßge die erste Hüfttotalendoprothese mit metallspongiöser Oberfläche zementfrei implantiert. Im weiteren Verlauf folgten 1982 die erste zementfreie Knieendoprothese (GT-Gleitachsendoprothese) sowie weitere Produkte zur Versorgung gelenkendoprothetischer Indikationen. Mit der zuvor beschriebenen Oberflächenstruktur »Spongiosa Metal I« ergaben sich bei kleinen Stielgrößen durch die begrenzte Bauteilfestigkeit technische Limitationen. Ebenso war die Implantatentwicklung kleiner Gelenke, wie z. B. Fingergelenke, eingeschränkt. Auch ermöglichte diese Technologie nur eine ungenügende Reproduzierbarkeit. Hieran anknüpfend wurde die weitere Entwicklung forciert und mit der Realisierung von Einzelelementen, den so genannten Tripoden, die zur Belegung eines Grundsubstrats eingesetzt wurden, verbessert. Diese Tripoden ermöglichen es heute, definierte Strukturhöhen zwischen 0,65 und 3 mm zu gestalten und dabei einen offenen Raum von 60–70% zu realisieren (⊡ Abb. 1.15). Dabei kann in absoluter Reproduzierbarkeit die hervorragende Offenmaschigkeit gezielt nach den Erfordernissen des gewünschten KnochenimplantatInterface umgesetzt werden [23]. Die so produzierte aggressive und raue Oberfläche der ESKA-Endoprothese verzahnt sich beim Einsetzen mit dem Knochen und gewährleistet optimale Bedingungen für die Primärstabilität. Im weiteren Verlauf wird die dreidimensionale, interkonnektierende, offenmaschige Oberflächenstruktur schnell und vollständig von Knochen durchwachsen. Biomechanische Untersuchungen haben gezeigt, dass durch den konzeptionellen Aufbau von massivem Kern
⊡ Abb. 1.13. Beispiele von Operationspräparaten (1981): makroskopische Darstellung der ISG-Verblockung und radiologische Kontrolle
11 Kapitel 1 · Geschichtliche Entwicklung der Endoprothetik und der Fixation durch Spongiosa-Metal®
a
c
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d
⊡ Abb. 1.14. Histologischer Nachweis: Präparat aus dem Randgebiet des Implantates, Vergrößerung 60fach (Implantat: schwarz, kalzifizier-
ter Knochen: rot/violett, Osteoid: blau). Voller Kontakt zwischen Metall und Knochen mit hyperostotischer Verdichtung
mit offenmaschiger Oberflächenstruktur eine Elastizität erzielt wird, die mit der des menschlichen Knochens vergleichbar ist. Hieraus ergeben sich beste Voraussetzungen für eine isoelastische Integration der Endoprothese im knöchernen Lager. Anwendungsbeispiele (⊡ Abb. 1.16): ▬ Gelenkersatz am oberen Bewegungsapparat – Fingergelenk – Schultergelenk ▬ Gelenkersatz am unteren Bewegungsapparat – Hüftgelenk – Kniegelenk – Sprunggelenk – Zehengelenk ▬ Gelenkersatz an der Wirbelsäule
⊡ Abb. 1.15. Spongiosa Metal® II nach Grundei (1990)
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⊡ Abb. 1.16. Anwendungsbeispiele
Oberflächenveredelung
Durch die Beschichtung des Implantats mit Hydroxylapatit ergibt sich das Potential einer biologischen Wechselwirkung zwischen Knochen und Implantat. Es entsteht eine biologisch, chemische und stoffschlüssige Verbindung [24].
Punkt der Produktphilosophie ist die Absicht, die natürlichen und anatomischen Gegebenheiten zu rekonstruieren sowie die Langzeitverankerung durch zementlose knöcherne Integration zu gewährleisten. Heute wird diese Methode mit dem Begriff Bionik beschrieben [25]. Bionik ist dabei die systematische Beobachtung und Untersuchung der Problemlösungen der Natur im Hinblick auf ihre Übertragbarkeit auf menschliche Technik und Materialien.
Titan-Niob-Metallschicht
Literatur
Hydroxylapatit
Die Biokompatibilität des Werkstoffes wird durch Veredelung an der knochenseitigen Oberfläche verbessert.
Ausblick Forschung und Entwicklung werden mit höchstem Engagement fortgeführt, um innovativ modernste Produkte zum Gelenkersatz zu entwickeln und so die Lebensqualität des betroffenen Patienten zu verbessern. Zentraler
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13 Kapitel 1 · Geschichtliche Entwicklung der Endoprothetik und der Fixation durch Spongiosa-Metal®
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II
Teil II
Experimentelle Grundlagen
Kapitel 2
Grundlagen – 16
Kapitel 2.1
Biomechanische Grundlagen der Implantatverankerung – 16 E. Steinhauser
Kapitel 2.2
Biologische und physiologische Grundlagen – 24 G. Schmidmaier, B. Wildemann
Kapitel 2.3
Tierexperimentelle Untersuchungen – 30 R. Ascherl, W. Erhardt, S. Kerschbaumer, M.L. Schmeller, R. Gradinger
Kapitel 2.4
Histologische Untersuchungen von Implantaten – 38 S. Kerschbaumer
Kapitel 2.5
Metallurgische Grundlagen für die gusstechnische Herstellung einer räumlichen Oberflächenstruktur – 46 K. Klingbeil
Kapitel 3
Oberflächenbeschichtung – 53
Kapitel 3.1
Beschichtungen auf Implantaten – 53 D. Repenning
Kapitel 3.2
Antiinfektiöse Oberflächenbeschichtung – 62 H. Gollwitzer, L. Gerdesmeyer
Kapitel 3.3
Bioaktive Oberflächenbeschichtung – 69 G. Schmidmaier, B. Wildemann
Kapitel 4
Metallimplantatallergie – 75 P. Thomas, B. Summer
2.1 Grundlagen Biomechanische Grundlagen der Implantatverankerung E. Steinhauser
Zusammenfassung Die mechanisch stabile und dauerhafte Verankerung ist eine notwendige Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit eines künstlichen Gelenkersatzes. Bei der zementfreien Verankerungstechnik sind Formgebung und Oberflächenstrukturierung der Implantate von entscheidender Bedeutung für deren primäre und sekundäre Stabilität. Mittels biomechanischer Untersuchungen konnten die Grenzen der vom Knochen tolerierbaren Relativbewegungen in der Grenzschicht zum Implantat sowie für poröse Oberflächenstrukturierungen die optimalen Bereiche für Porengröße und Porosität ermittelt werden. Gegenwärtig wird mittels der gezielten Funktionalisierung von Implantatoberflächen angestrebt, eine möglichst frühzeitige ossäre Integration zu erreichen.
Einleitung Bei Implantaten unterscheidet das Medizinproduktegesetz zwischen Kurz- und Langzeitimplantaten. Kurzzeitimplantate verbleiben definitionsgemäß bis zu maximal 30 Tagen im Körper des Patienten, bei darüber hinausgehenden Verweildauern wird von Langezeitimplantaten gesprochen. Diese Aufteilung bewirkt, dass die meisten orthopädischen Implantate wie die Gelenkendoprothesen als Langzeitimplantate betrachtet werden, da diese über viele Jahre – im Idealfall bis zum Ableben eines endoprothetisch versorgten Patienten – ihre Funktion erfüllen sollen. Die biomechanischen Grundlagen der dauerhaften Implan-
tatverankerung sollen im folgenden Kapitel am Beispiel der Hüftgelenksendoprothetik erörtert werden, da die bei künstlichen Gelenken vorliegenden komplexen Vorgänge meist auf einfachere Implantate übertragbar sind. Zu den wichtigsten Anforderungen eines Implantats gehört neben dessen Biofunktionsfähigkeit auch die Bioverträglichkeit der verwendeten Werkstoffe bzw. von deren Abrieb- und Korrosionsprodukten. Die Lebensdauer einer Totalendoprothese wird hauptsächlich von deren Verschleißbeständigkeit sowie den geweblichen Vorgängen im Implantatlager bestimmt. Andere Faktoren, wie z. B. Infektionen, Luxationen, Implantatbrüche oder periprothetische Frakturen, treten in weit geringeren prozentualen Anteilen wie die sog. aseptische Implantatlockerung auf [1], die auf den biologischen Reaktionen auf unweigerlich anfallende Abriebprodukte und den postoperativen Belastungsverhältnissen im Knochenlager beruht. Die Implantation einer Endoprothese führt zu einer geänderten mechanischen Beanspruchungssituation des periprothetischen Knochens, da der Lastfluss über das Implantat zu einer Entlastung des Knochens (»stress shielding«) führt. Andererseits können jedoch auch lokale Spannungskonzentrationen zu einer erhöhten Belastung des Knochenlagers führen. Zu große Abweichungen vom natürlichen Belastungsmuster – sowohl eine Mehr- als auch eine durch »stress shielding« bedingte Minderbeanspruchung – führen zu einem resorptiven Knochenumbau mit dem Risiko einer konsekutiven aseptischen Implantatlockerung. Prinzipiell stehen zwei verschiedene Arten für die Verankerung einer Gelenkendoprothese im Knochen zur Verfügung. Zum einen die von Sir John Charnley etablierte Verwendung von Knochenzement, zum anderen
17 Kapitel 2.1 · Grundlagen: Biomechanische Grundlagen der Implantatverankerung
die zementfreie Verankerung mit direktem Kontakt des Implantats zu dessen knöchernem Lager. Die Entscheidung, ob eine Endoprothese zementiert oder zementfrei implantiert werden soll, wird in der Regel in Abhängigkeit von vielen Faktoren, wie z. B. der Beschaffenheit und mechanischen Belastbarkeit des Knochenlagers, dem Alter und Aktivitätsgrad des Patienten, der Schwierigkeit und Dauer des operativen Eingriffs etc., abhängig gemacht. Die Fixation ohne Verwendung von Knochenzement wird favorisiert, wenn die Erhaltung bzw. Neogenese von Knochen gegenüber einer sofortigen Vollbelastbarkeit des Implantates im Vordergrund steht.
Zementfreie Verankerungstechniken der Hüftendoprothetik Für alle zementfreien Implantate ist eine primär stabile Fixation notwendige Voraussetzung. Die Ausschaltung von Relativbewegungen im Interface im Sinne einer mechanisch stabilen Primärverankerung ist die wesentliche Bedingung für ein knöchernes Einwachsen zementfreier Implantate. Die sekundäre Integration soll bei zementfreien Implantaten schließlich möglichst knöchern erfolgen und damit eine dauerhafte stabile Verankerung garantieren. Neben dem eingesetzten Implantatmaterial sind diesbezüglich v. a. die Oberflächenstruktur als auch das Implantat-Design wesentlich.
Oberflächenstrukturierung Raugestrahlte Oberfläche vs. Oberflächenstrukturierung Strukturierte Oberflächen von Endoprothesen sind neben deren äußerer formgebender Gestalt ein wichtiger Bestandteil, um eine dauerhafte knöcherne Integration zu erreichen. Als technische Verfahren zur Erzeugung strukturierter Oberflächen sind bei den Endoprothesen das Raustrahlen mit Korundpartikeln, Gießen, Plasmaspritzen, Sintern (Aufsintern von kleinen Kugeln oder Drähten) und Diffusionsschweißen zu nennen. Die Erzeugung strukturierter Oberflächen durch eine Laserbearbeitung ist zurzeit noch als experimentell anzusehen. Alle Oberflächenstrukturen können auf Grund der von ihnen ausgehenden Kerbwirkungen sowie eventuell beim Herstellvorgang auftretender thermisch induzierter
2.1
Gefügebeeinflussungen des Implantatgrundkörpers dessen Dauerfestigkeit senken. Die Sinter- und Diffusionsschweißverfahren beeinflussen durch Temperaturen, die knapp unterhalb des Schmelzpunktes des Grundwerkstoffs liegen, dessen metallographisches Gefüge stärker als das Partikelstrahlen, Gießen oder Plasmaspritzen [2]. Durch Raustrahlen können im Gegensatz zu den anderen genannten Fertigungsverfahren keine porösen Strukturen erzeugt werden. Implantate mit einer raugestrahlten Oberfläche bedürfen daher einer geometrischen Formgebung, die eine stabile, auf einem Pressfit- bzw. Verklemmungsprinzip beruhende Fixation gewährleistet. Neuere Untersuchungen zeigten, dass die mit hoher Geschwindigkeit auf die Implantatoberfläche geschossenen Strahlpartikel teilweise auf der Implantatoberfläche trotz obligatorisch nachfolgender Reinigungsvorgänge verbleiben können [3, 4]. Wenn diese äußerst harten Korundpartikel in vivo in die künstlichen Gelenkflächen gelangen, kann es durch den einsetzenden Dreikörperverschleiß zu einer erhöhten Freisetzung von schädlichen Abriebpartikeln mit konsekutiver Implantatlockerung kommen.
Porengröße und Relativbewegung in der Grenzfläche Implantatknochen Für eine dauerhafte zementfreie Verankerung eines Implantats im Knochen, die sog. Sekundärstabilität, sind neben der Oberflächenstruktur mehrere weitere Bedingungen ausschlaggebend: Unmittelbar nach der Implantation dürfen an der Grenzfläche zwischen Implantat und Knochen nur kleine Relativbewegungen auftreten. In einer tierexperimentellen Studie an Hunden wurde von Pilliar et al. schon früh gezeigt, dass Relativbewegungen über 150 µm die Bildung von Bindegewebe in der Grenzfläche nach sich ziehen [5]. Pilliar et al. untersuchten im gleichen Prüfmodell Relativbewegungen < 28 µm und fanden hierbei direktes Knocheneinwachsen vor [5]. Eine andere Arbeitsgruppe erbrachte ebenfalls unter Verwendung eines Tiermodells den Nachweis, dass es bereits bei Bewegungen in einer Größenordnung von 75 µm zur Ausbildung von Bindegewebe zwischen Implantat und Knochen kommt [6]. Um eine größtmöglich Primärstabilität – z.B. bei einem Hüftstiel – mit möglichst kleinen Mikrobewegungen hin zum Knochenlager zu erzielen, kann das Implantat entweder über einen Verklemmungsmechanismus (meist bei Implantaten mit gestrahlter Oberfläche) oder eine regelrechte Verzah-
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2
Teil II · Experimentelle Grundlagen
nung (meist bei anatomisch geformten Stielen mit poröser Oberflächenstrukturierung) initial eingebracht werden. Implantate mit einer porösen Oberfläche müssen über eine Porengröße verfügen, die gut vom Knochen zu erschließen ist. Bereits in den 1970er Jahren wurden von verschiedenen Forschergruppen tierexperimentelle Studien zur Ermittlung der optimalen Porengröße in Hinblick auf ein rasches knöchernes Einwachsen und eine hohe mechanische Festigkeit der Grenzschicht durchgeführt [7, 8]. Bobyn et al. untersuchten 1980 in einer Studie an Hunden systematisch den Einfluss der Porengröße auf die Scherfestigkeit und das Einwachsverhalten an Implantaten aus einer Kobaltbasislegierung. Die verwendeten Implantate wiesen Porengrößen von 20–50 µm, 50–200 µm, 200–400 µm und 400–800 µm auf, die Porosität lag zwischen 30 und 35% und wurde durch pulvermetallurgisch aufgebrachte Kugelstrukturen erzielt. Für die Porengrößen zwischen 50 und 400 µm wurden die höchsten Scherfestigkeiten, die in einem Bereich von 17 MPa lagen, nach einer Einheilungszeit von 8 Wochen ermittelt [9]. Von verschiedenen Forschergruppen wurden Aussagen zur Mindestporosität poröser Implantatoberflächen publiziert, die in einem Bereich von 20–40% liegen. Es ist jedoch zu beachten, dass nicht allein die Parameter Porengröße und Porosität für die Implantatverankerung von Bedeutung sind, sondern insbesondere die Erschließbarkeit der Hohlräume für knöcherne und vaskuläre Strukturen [10]. Die Arbeitsgruppe um Gradinger und Mittelmeier schlug demzufolge eine Einteilung von Oberflächenstrukturen in ▬ makrostrukturierte Oberflächen, z. B. Waben, Lamellen, Stufen, Rippen mit Strukturgrößen > 2000 µm, ▬ mesostrukturierte Oberflächen, z. B. Kugeln, Netze, Gitter, trabekuläre Strukturen mit Öffnungen zwischen 100 und 2000 µm und ▬ mikrostrukturierte Oberflächen, z. B. gestrahlte Oberflächen oder mittels Plasmabeschichtung aufgebrachte Strukturen mit Erhebungen/Öffnungen < 100 µm vor [10]. Um die Interposition von Bindegewebe zwischen Knochen und Implantat zu verhindern, sollte unmittelbar postoperativ ein direkter und möglichst vollständiger Grenzflächenkontakt zwischen Implantat und Knochenlager in den für die Lastübertragung wichtigen Regionen bestehen. Zudem kann eine frühe Zellbesiedelung und knöcherne Integration von Implantaten das Risiko der Implantatinfektion vermindern [11]. Die Erzielung einer möglichst frühzeitigen knöchernen Integration bei zementfrei eingebrachten Endoprothesen liegt gegenwärtig im Zen-
trum der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten. Durch die gezielte Funktionalisierung der Implantatoberflächen verspricht man sich, unter Beibehaltung der bewährten metallischen Grundwerkstoffe, bestimmte biologische implantatassoziierte Aspekte gezielt verbessern zu können. Diese Aspekte können sowohl auf eine verbesserte bzw. beschleunigte knöcherne Integration der Implantate durch eine Beschichtung mit Hydroxylapatit, Wachstumsfaktoren (BMP-2 oder BMP-7) oder RGD-Peptiden ausgerichtet sein [12–14], als auch den Schutz der Implantate vor einer Besiedelung mit Bakterien betreffen [15].
Implantat-Design Neben der Oberfläche und dem damit einhergehenden Prinzip des Knochenan- bzw. -einwachsens spielt die Gestalt eines Implantats eine wichtige Rolle für dessen primäre und sekundäre Verankerung. Bei den Hüftstielen lassen sich drei verschiedene Gestaltkonzepte von einander abgrenzen, im Einzelnen der so genannte Geradschaft, anatomisch und somit meist in einer Links-Rechts-Variante geformte Stiele sowie individuell für den Patienten angefertigte Prothesenstiele. In der Anfangszeit der zementfreien Hüftendoprothetik waren Stiele mit poröser Oberflächenstrukturierung über ihre volle Länge mit der jeweiligen Struktur versehen. Nachdem verschiedene klinische Studien bei diesen vollstrukturierten Implantaten über ausgeprägte Oberschenkelschmerzen der Patienten berichteten [16] und seitens der Biomechanik das bei diesen Stielen stark ausgebildete »stress shielding« im proximalen Implantatlager erkannt wurde, begann die Entwicklung teilstrukturierter Implantate. Ziel dieser im proximalen Bereich strukturierten Stiele war die Reduzierung der distalen Kraftübertragung bei gleichzeitiger Erhöhung der proximalen Lastübertragung, um die Umbauvorgänge des Knochens besser steuern zu können. Bezüglich des optimalen Orts für die Verankerung eines Hüftstiels gibt es neben der proximalen Verankerung, die sich hauptsächlich auf die Metaphyse des Femurs bezieht und bei der Mehrzahl heutiger Hüftstiele angewandt wird, auch die distal betonte Verankerung, die z. B. beim von Prof. Zweymüller entwickelten Geradschaft seit Jahrzehnten klinisch erfolgreich verfolgt wird. Eine Sonderform der Implantatverankerung stellt die epimetaphysäre Fixation dar, deren bekanntestes Anwendungsbeispiel die bereits 1976 entwickelte Druckscheibenprothese
19 Kapitel 2.1 · Grundlagen: Biomechanische Grundlagen der Implantatverankerung
nach Huggler und Jacob darstellt. Vor einigen Jahren hat eine auffallende Entwicklung von Schenkelhals- und Kurzstielendoprothesen eingesetzt, da man bei diesen Implantaten zum einen knochensparende Primäreingriffe bei weitgehend physiologischer Lastübertragung, zum anderen für den Fall eines Revisionseingriffs eine leichte Entfernbarkeit dieser Implantate bei noch erhaltenem meta- und diaphysärem Knochenlager erwartet. Für die Verankerung der Pfannenkomponente gelten grundsätzlich die gleichen Randbedingungen wie für Stiele. Grundvoraussetzung für eine dauerhafte ossäre Integration ist eine hohe Primärstabilität des Implantats, die bei den Pfannen oftmals durch eine zusätzliche Verankerung mit Knochenschrauben im Os ilium ausgeführt sein kann. Im Wesentlichen gibt es drei verschiedene Konzepte zur Pfannenfixation, man unterscheidet zwischen Pressfit-Pfannen, Schraub- und Spreizpfannen. Während Schraub- und Spreizpfannen zumeist über eine raugestrahlte oder plasmabeschichtete Oberfläche verfügen (bei Schraubpfannen wäre bei einer porösen Oberfläche das Eindrehmoment zu groß, Spreizpfannen sind sehr dünnwandig und nicht für raumfordernde poröse Strukturen geeignet), sind bei den Pressfit-Pfannen auch offenporige Oberflächen möglich. Die Unterschiede zwischen diesen drei Fixationsprinzipien liegen neben der langfristig erzielbaren, knöchernen Integration der Pfannengehäuse in der intraoperativen Handhabung sowie der Positionier- und Korrigierbarkeit.
2.1
möglich, andere als unmittelbar postoperative Situationen zu untersuchen, da z. B. implantationsbedingte knöcherne Umbaureaktionen erst im Laufe von Wochen über Monate bis zu mehreren Jahren eintreten bzw. ablaufen. In Zusammenhang mit der ossären Integration von Implantaten sind verschiedene Untersuchungsaspekte zu nennen: 1. Ermittlung der Primärstabilität eines Implantats, 2. Erfassung der Lastübertragung vom Implantat auf dessen knöchernes Lager, 3. Bestimmung der mechanischen Festigkeit von Oberflächenstrukturierungen und -beschichtungen. Keines der Prüfverfahren zur Untersuchung der genannten Fragestellungen ist geeignet, eine Standardisierung in Form einer normierten Prüfung – z. B. nach ISO, DIN oder ASTM – zu erlangen. Dies liegt daran, dass diese Testmethoden trotz vieler zu treffender Vereinfachungen hinsichtlich der realen Verhältnisse noch über eine Vielzahl freier Randbedingungen verfügen. So kann es z. B. bei einer Untersuchung angezeigt sein, humanes Knochenmaterial für die Ermittlung der Relativbewegungen zwischen Implantat und Knochen zu verwenden – und hierbei die große inter- und intraindividuelle Streuung zugunsten eines möglichst realen Knochenlagers in Kauf zu nehmen – und bei einer anderen vergleichenden Untersuchung verschiedener Implantatsysteme diese an standardisierten Knochen aus Kunststoff durchzuführen.
Biomechanische Prüfverfahren Ermittlung der Primärstabilität eines Implantats In Hinblick auf eine realitätsnahe Testung von Implantaten wurden biomechanische Prüfverfahren entwickelt, die eine Vorhersage des klinischen Erfolgs bzw. eine Risikoabschätzung von Neuentwicklungen erlauben sollten. Basierend auf den Ergebnissen klinischer Verlaufskontrollen, röntgenologischer Untersuchungen und Schadensanalysen wurden verschiedene Testmethoden etabliert. Diese Prüfmethoden können hochspezifische Fragestellungen untersuchen, jedoch nicht allumfassend alle Parameter, die für den klinischen Erfolg eines Implantatsystems verantwortlich sind, mittels einer einzigen Prüfung analysieren. Darüber hinaus müssen bei diesen Prüfungen starke Vereinfachungen, z. B. hinsichtlich der Simulation von Muskel- und Gelenkkräften, angesetzt werden, da die komplexen anatomischen Gegebenheiten nicht nachgebildet werden können. Diese Aussage trifft sowohl für experimentelle als auch für mathematische Modellierungen zu. Es ist auch nicht
Die Primärstabilität eines Implantats kann auf verschiedene Arten quantifiziert werden (s. auch Kap. 6.2.5). Zum einen kann die belastungsabhängige Relativbewegung zwischen Implantat und dessen Knochenlager als Maß für die Implantatstabilität ermittelt werden. Hierbei ist zwischen den reversiblen Micromotions und Setzbewegungen des Implantats zu differenzieren. In der Regel kann mit den Micromotion-Messungen erst nach einer zyklischen Vorbelastung der Implantate (bis zur Eliminierung der Setzvorgänge) begonnen werden. Zum anderen können die Kräfte und/oder Drehmomente, die zum Einbringen bzw. Entfernen des Implantats aus seinem Lager erforderlich sind, beurteilt werden. Derartige Prüfverfahren werden typischerweise zur Ermittlung der Primärfestigkeit von künstlichen Hüftpfannen eingesetzt.
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Teil II · Experimentelle Grundlagen
Micromotion-Messung
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In der Literatur finden sich experimentelle und theoretische (Finite-Elemente-)Studien zur Ermittlung der Relativbewegungen zwischen Implantat und Knochen. Hierbei wurde primär der Einfluss der Implantatform, Oberfläche und Verankerungstechnik bestimmt, dies sowohl für Hüftstiele als auch für Pfannen. Rechnersimulationen erlauben ein breites Spektrum an Variationen der o. g. Implantatparameter, bedürfen jedoch wegen der zu treffenden Vereinfachungen bezüglich des Knochenaufbaus und nicht exakt bekannter mechanischer Kennwerte stets einer Validierung mit experimentell gewonnenen Ergebnissen [17]. Auch experimentelle Untersuchungen sind nur unter großen Einschränkungen hinsichtlich der Realitätsnähe möglich. Die in der Literatur publizierten Studien unterscheiden sich in vielen Punkten, dies betrifft sowohl Richtung und Betrag der aufgebrachten Belastung, Art und Lage der Messaufnehmer, Art des Knochenmodells etc. Heutzutage ist bekannt, dass Bewegungen mit einer großen axial-rotatorischen Belastungskomponente, wie z. B. das Treppensteigen, eine kritische Belastungsform darstellen [17, 18]. Die am Femur angreifenden Muskelkräfte haben einen großen Einfluss auf das Messergebnis, viele Studien wurden jedoch ohne eine Simulation muskulärer Kräfte durchgeführt. ⊡ Abbildung 2.1 zeigt am Beispiel eines humanen Knochenmodells die Ermittlung der proximalen Relativbewegungen, indem mittels linearer Wegaufnehmer die dreidimensionale Bewegung des Implantats in Bezug zur Oberfläche des Femurs aufgezeichnet wird. Da eine Starrkörperbetrachtung des Implantats wegen dessen Flexibilität nicht ausreichend genau wäre, muss dieselbe Messung unter identischer Belastung an mehreren Orten, z. B. dem distalen Ende des Hüftstiels, durchgeführt werden. Exemplarisch ist in ⊡ Abb. 2.2 der Betrag der axialen und transversalen Relativbewegungen für den Einbeinstand des in ⊡ Abb. 2.1 gezeigten Implantats an dessen proximalen und distalen Messpunkten dargestellt.
⊡ Abb. 2.1. Ermittlung der Relativbewegungen zwischen Implantat und Knochenlager an einem Leichenknochen [17]
Eindreh-, Ausdreh-, Auszieh- und Kippversuche an Hüftpfannen Zur Ermittlung der Primärfestigkeit von künstlichen Hüftpfannen werden neben Micromotion-Messungen auch Ausdreh- und Kippversuche eingesetzt. Für Micromotion-Messungen gelten die Gesetzmäßigkeiten, die im vorangegangenen Abschnitt am Beispiel der Hüftstiele
⊡ Abb. 2.2. Graphische Darstellung der proximalen und distalen Mikrobewegungen (angegeben in mm) bei einer Hüftgelenkkraft von 1000 N für das in ⊡ Abb. 2.1 gezeigte Experiment
21 Kapitel 2.1 · Grundlagen: Biomechanische Grundlagen der Implantatverankerung
erläutert wurden. Mit Ausdrehversuchen kann das rotatorische Lösemoment und hieraus die Scherfestigkeit der Grenzfläche zwischen Pfanne und Knochenlager ermittelt werden. Eindreh-, Auszieh- und Auskippversuche an Pfannen sind weitere etablierte Prüfverfahren zur Ermittlung der initialen Implantatstabilität [19, 20]. Insbesondere bei Schraubpfannen hängt die primäre Stabilität vom Eindrehmoment und der Form des Pfannengehäuses bzw. Gewindes ab. Bei Eindreh- und Auskippversuchen können anhand der Drehmoment-Drehwinkel-Diagramme wichtige Aussagen und quantitative Beurteilungen der biomechanischen Eigenschaften gewonnen werden. Neben den Aussagen zur Primärstabilität der Implantate liefern diese Prüfverfahren weitere wichtige biomechanische Kenngrößen. So sollte z. B. das Eindrehmoment nicht zu groß sein, da hierunter die Positioniergenauigkeit der Pfanne leidet. Da ein Überdrehen der Pfanne auf jeden Fall vermieden werden muss, ist die Erkennbarkeit des Aufsetzpunktes der Pfanne sowie die Überdrehsicherheit bzw. -reserve ein weiterer wichtiger biomechanischer Parameter in Hinblick auf die intraoperative Handhabung des Implantats [19].
2.1
nischen Spannung, dem Maß für die Beanspruchung des Knochens, verknüpft. Theoretische Verfahren (Finite-Element-Methode, FEM) erlauben ebenfalls eine Analyse der Lastübertragung, bedürfen jedoch einer experimentellen Validierung. Die DMS-Technik ermöglicht hochpräzise Messungen; allerdings sind diese auf Orte entsprechend der Ausdehnung der Dehnmessstreifen (DMS) begrenzt. Würde man sehr große Dehnmessstreifen verwenden, führte dies zu einer Mittelung der Messwerte der vom DMS überspannten Areale, womit ein Verlust an Messgenauigkeit einherginge (⊡ Abb. 2.3). Die Spannungsoptik, Thermographie und FEM erlauben eine Übersichtsbeurteilung ganzer Flächenareale, im Vergleich zur DMS-Technik verfügen Spannungsoptik und Thermographie jedoch über eine geringere Genauigkeit.
Erfassung der Lastübertragung vom Implantat auf dessen knöchernes Lager Durch die Implantation einer Endoprothese ändert sich unvermeidbar die mechanische Beanspruchung des Knochenlagers. Große Abweichungen vom physiologischen Belastungsmuster – sowohl Mehr- als auch Minderbelastung – führen zu resorptivem Knochenremodelling mit der Gefahr einer aseptischen Implantatlockerung. Ziel der Implantatfixation sollte daher eine möglichst physiologische Lastübertragung auf das Knochenlager sein. Messverfahren, mittels derer die Lastübertragung analysiert werden kann, erlauben durch einen Vergleich mit dem Zustand des noch nicht endoprothetisch versorgten Knochens eine Abschätzung der postoperativen ossären Umbauvorgänge. Die experimentell ermittelbare Messgröße ist die mechanische Dehnung des Knochens, die an dessen äußerer Oberfläche mittels Dehnungsmessstreifentechnik, der Thermographie (Messung der durch die mechanische Belastung entstehenden Wärmeströme) oder des Photostressverfahrens, d. h. einer spannungsoptischen Beschichtung, gemessen werden kann. Die Dehnung ist über das Materialgesetz eindeutig mit der mecha-
⊡ Abb. 2.3. Betrachtung eines spannungsoptisch beschichteten Kunststofffemurs durch ein Polariskop. Hierbei werden die Dehnungen der Femuroberfläche farblich dargestellt
22
Teil II · Experimentelle Grundlagen
Bestimmung der mechanischen Festigkeit von Oberflächenstrukturierungen und -beschichtungen
2 Bereits beim Einbringen von Endoprothesen, aber auch im Rahmen der späteren dauerhaften Belastung kommt es zu hohen mechanischen Belastungen in der Grenzfläche respektive an der Implantatoberfläche. Diese Belastungen können dazu führen, dass sich Beschichtungen ganz oder teilweise vom Grundkörper des Implantats lösen oder Elemente der Oberflächenstrukturierung ausbrechen. Callaghan et al. untersuchten 50 totale Hüftendoprothesen mit einer porösen Kugelbeschichtung und fanden in 18% der Fälle abgelöste Kugeln im Bereich der Pfanne und in 24% lose Kugeln im Bereich des Femurstiels [21]. Übliche Testverfahren beruhen auf Messungen der Haftfestigkeit von Beschichtungen, Ausreißversuchen eingebetteter oder eingewachsener Implantate oder Probekörper mit strukturierter Oberfläche, Finite-Elemente-Berechnungen oder Scherversuchen. Mittelmeier und Mitarbeiter konzipierten eine »einfache und reproduzierbare Methodik«, die die mechanische Festigkeitsprüfung von Strukturelementen ermöglicht [10, 22]. An speziell gefertigten Probekörpern mit einzelnen Strukturelementen, aber auch an beschichteten Implantatkomponenten wird hierbei mittels eines gehärteten Stempels die Scherfestigkeit der Oberflächenstruktur ermittelt (⊡ Abb. 2.4).
⊡ Abb. 2.4. Scherversuch an einer Einzelstruktur einer trabekulären Implantatoberfläche
Diese Prüfmethodik lässt sich nicht nur unter quasistatischen Belastungsbedingungen anwenden, sondern erlaubt auch eine dynamische Prüfung der Oberflächenstrukturen. Allerdings besteht bei diesem Prüfverfahren eine Limitation bezüglich einer Mindestbauhöhe der Strukturen von ca. 1 mm, und auch sehr grobe bzw. großflächige Makrostrukturen sind für eine derartige Testung nicht zugänglich.
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23 Kapitel 2.1 · Grundlagen: Biomechanische Grundlagen der Implantatverankerung
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2.1
2.2 Grundlagen Biologische und physiologische Grundlagen G. Schmidmaier, B. Wildemann
Zusammenfassung Ein wichtiger Aspekt bei der Implantologie ist die dauerhafte dreidimensionale Verankerung eines Biomaterials im endostalen Bereich eines Knochens. Da der Knochen kein uniformes Gewebe darstellt und sich die Verankerungseigenschaften in den verschiedenen Bereichen deutlich unterscheiden, ist das Wissen über die Makro- und Mikroarchitektur des Knochens eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration von Implantaten. Das Verständnis über die zugrunde liegenden zellulären Mechanismen und interzellulären Wechselwirkungen ist notwendig für die Weiterentwicklung von Implantatsystemen und soll im Folgenden erläutert werden.
Knochenstruktur Makrostrukturell lassen sich folgende Strukturen langer Röhrenknochen unterscheiden: die Substantia compacta, die die Markhöhle der Röhrenknochen umgibt, die Substantia corticalis, die die Oberfläche der Epiphyse bildet, die Substantia spongiosa, die sich im Knocheninneren befindet und die Medulla ossium, der Markkanal. Der Knochen ist außen von Periost (mit Ausnahme der Gelenkflächen) und innen von Endost überzogen. Die Struktur des kompakten Knochens ist durch eine Lamellenstruktur gekennzeichnet. Diese wird aus Osteonen mit zentral liegendem Haversschen Kanal gebildet, die in radiärer Orientierung durch Volkmannsche Kanäle verbunden sind.
Der gesunde Knochen ist kein statisches Gewebe, sondern unterliegt dem ständigen Auf- und Abbau durch ein gerichtetes Zusammenspiel von knochenaufbauenden und -abbauenden Zellen [1] (⊡ Abb. 2.5). Frost beschrieb 1966 den zeitlichen und anatomischen Zusammenhang zwischen Knochenresorption und -formation und nannte diese funktionelle Einheit »basic metabolic unit« (später auf »basic multicellular units« umbenannt, BMU) [2].
Zellen des Knochens Der Knochen ist aus folgenden vier verschiedenen Zelltypen zusammengesetzt [3]: »bone lining cells«, Osteoblasten, Osteozyten und Osteoklasten. »Bone lining cells«, Osteoblasten und Osteozyten stammen von lokalen Osteoprogenitorzellen mesenchymaler Herkunft ab: ▬ »Bone lining cells« sind flache, inaktive Zellen, die auf der äußeren und inneren Knochenoberfläche und in den Havers-Kanälen liegen. Lichtmikroskopisch stellen sich diese spindelförmig dar, besitzen nur wenig raues endoplasmatisches Retikulum und einen wenig ausgeprägten Golgi-Komplex. ▬ Bei den Osteoblasten handelt es sich um Zellen, die Bestandteile der Knochengrundsubstanz (Kollagen, Proteoglykane, Glykoproteine) synthetisieren und deren Mineralisation regulieren. Sie befinden sich an der Oberfläche der Knochenbälkchen, liegen dort vergleichbar mit einem einschichtigen »Epithel« zusammen und stehen über feine zytoplasmatische Fortsätze
2.2
25 Kapitel 2.2 · Grundlagen: Biologische und physiologische Grundlagen
Ruhe
Aufbau
Mineralisation
Ruhe
Gefäß
Monozyten Osteoblasten Lining-Cells Ok
Lining-Cells Osteoid
Progenitor
Neuer Knochen
Ruffled border Knochen Osteozyt
⊡ Abb. 2.5. Schematische Darstellung der Zellen des Knochens (in Anlehnung an Marks u. Odgren [3]). Ok = Osteoblast
in Verbindung. Histologisch stellen sie sich basophil dar und weisen alle Anzeichen aktiver, proteinbildender Zellen auf. Sie produzieren Typ-I-Kollagen und sezernieren alkalische Phosphatase. Die neugebildete, noch nicht verkalkte Grundsubstanz, die von den Osteoblasten abgegeben wird, bezeichnet man als Osteoid. Aktive Osteoblasten bilden täglich einen etwa 1 µm breiten Osteoidsaum, von dem innerhalb von drei bis vier Tagen 70% verkalken. Der Rest mineralisiert innerhalb der nächsten sechs Wochen [3]. ▬ Der Osteozyt ist ein reifer Osteoblast, der vollständig von Knochengrundsubstanz umgeben ist. Osteozyten sind über feine filopodienartige Fortsätze, die sich in Knochenkanälchen befinden und radiär von den Osteozyten verlaufen, verbunden. »Gap junctions« gewährleisten den Fluss von Ionen und kleinen Molekülen über eine Strecke von bis zu 15 Zellen. Osteoklasten hingegen entstehen durch die Fusion mononukleärer Zellen, die aus hämatopoetischem Gewebe stammen. Es sind große, stark verzweigte und bewegliche Riesenzellen, die Knochengrundsubstanz abbauen (⊡ Abb. 2.6). Der große, multinukleare Zellleib weist bei aktiven Osteoklasten einen Bürstensaum (»ruffled bor-
⊡ Abb. 2.6. Osteoklasten im Knochen, dargestellt mit der enzymatischen TRAP- (tartratresistente saure Phosphatase-)Färbung
der«) auf, dem Ort der Knochenresorption [4]. An Stellen der Knochenresorption liegen Osteoklasten in Einbuchtungen, die als Howship-Lakunen bezeichnet werden. Sie besitzen unter anderem tartratresistente saure Phosphatase (TRAP) als Enzym. Osteoblasten, reife Osteozyten und Osteoklasten stehen in engem Zusammenhang beim Auf- und Abbau der Knochenmasse [3] und werden als »basic multicellular units« (BMU) bezeichnet (⊡ Abb. 2.5) [1]. Am Anfang des
26
2
Teil II · Experimentelle Grundlagen
Knochen-Remodellings steht die Aktivierung von »lining cells« und das Anlocken von Osteoklastenvorläufern aus dem Knochenmark oder dem Blut. Nach der Fusion zu aktiven Osteoklasten resorbieren diese den Knochen. Die Resorptionsphase dauert nur ca. 2–4 Wochen und endet mit der Apoptose der Osteoklasten. Anschließend wird die Resorptionslakune von Osteoblasten ausgefüllt, die Osteoid produzieren. Nach einer Ruhephase setzt die Mineralisation ein und es bildet sich neuer Knochen. Die Phase des Knochenaufbaus dauert ca. 4–6 Monate und ist somit deutlich länger als die Resorptionsphase [5]. Nur durch eine funktionierende Interaktion aller beteiligten Zellen ist eine knöcherne Integration und dreidimensionale Verankerung von Implantaten im Knochen möglich.
Knochenmatrix und Wachstumsfaktoren Das Knochengewebe setzt sich aus Zellen und extrazellulärer Matrix zusammen. Letztere besteht zu 35% aus organischen und zu 65% aus nichtorganischen Anteilen. Die nichtorganischen Anteile setzen sich hauptsächlich aus Kalzium und Phosphat als Hydroxylapatit zusammen [6], während die organischen aus kollagenen und nichtkollagenen Proteinen bestehen. Typ-I-Kollagen macht mehr als 90% des organischen Knochenmaterials aus und ist das wichtigste Strukturprotein des Knochens. Die übrigen 10% der nichtkollagenen Proteine erfüllen verschiedene regulierende Funktionen. Der Anteil der Wachstumsfaktoren (WF) an nichtkollagenen Proteinen des Knochens beläuft sich lediglich auf weniger als 1% [6]. Bereits 1920 vermutete Bier, dass die Frakturenden des Knochens ein »Agens« freisetzen, das den Heilungsprozess positiv beeinflusst [7]. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Suche nach dem einzigartigen »Wundhormon«, speziell im Frakturhämatom, fortgesetzt. Levander entdeckte 1938, dass die intramuskuläre Injektion eines Extrakts von in saurem Alkohol gelöstem Knochen und Kallus die Bildung heterotopen Knochenund Knorpelgewebes auslöst. Er schlussfolgerte, dass die Knochenregeneration ein Resultat der Aktivierung undifferenzierten mesenchymalen Gewebes durch spezifische knochenbildende Substanzen sei [8]. 1965 gelang es Urist erneut mittels eines Extrakts aus demineralisiertem Knochen ektope Knochensubstanz zu erzeugen [9]. Diese Beobachtungen lösten in der Folge zahlreiche Untersuchungen zur Erforschung der lokalen Knochenstimulation durch extrazelluläre Matrix aus, in deren Verlauf einige WF, als
Erstes »bone morphogenic protein-2« (BMP-2), entdeckt wurden. WF sind Polypeptide, die generalisiert, in sehr kleinen Konzentrationen, in spezifischen Geweben gebildet werden und als lokale Faktoren der Zellregulation fungieren. Die meisten WF werden als hochmolekulare Vorstufen freigesetzt, die durch proteolytische Spaltung in ihre aktive Form mit niedrigem Molekulargewicht überführt werden. Im Folgenden soll auf die für den Knochenstoffwechsel bedeutende WF näher eingegangen werden. WF vermitteln an ihren Zielzellen sowohl eigene Effekte als auch indirekte Wirkungen über die Beeinflussung von systemischen Hormonen wie Parathormon, Vitamin D, Kalzitonin und Wachstumshormon (GH) [10, 11]. Auf Mesenchymzellen, Fibroblasten, Chondrozyten und Osteoblasten üben WF zahlreiche Effekte aus [12]. In diesen Zellen regulieren sie den Phänotyp durch Differenzierungsvorgänge und beeinflussen die Proliferation und Stoffwechselfunktionen, wie Matrix- und Proteinsynthese. Nach Freisetzung aus der Knochenmatrix sind WF in der Lage, den Metabolismus von Osteoblasten und Osteoklasten während der Remodelling-Vorgänge zu steuern sowie die Heilungsantwort nach einem Trauma oder die ossäre Integration von Biomaterialien anzuregen und zu kontrollieren [13–15]. Die Konzentration der im Knochen gespeicherten WF beeinflusst das Ausmaß der Knochenneubildung und der Resorption [16]. Die Konzentration der Faktoren im Knochen variiert mit der Lokalisation, den physiologischen Bedingungen und nicht zuletzt mit dem Alter. Im kortikalen Knochen nehmen die Konzentrationen von IGF-I und TGF-β mit zunehmendem Alter ab [17] (⊡ Tabelle 2.1).
Knochenheilung und Implantateinheilung Die Implantateinheilung ist vergleichbar der Knochenbildung und -heilung, deren Prinzipien im Folgenden näher erklärt werden. Die Knochenheilung kann in folgende zwei Arten unterteilt werden: ▬ Primäre Heilung: Es kommt zu einem direkten Zusammenwachsen der Knochenenden mit Wiederherstellung der Havers-Kanäle. Dies erfolgt nur bei einem direkten Kontakt der Knochenenden. ▬ Sekundäre Heilung: Im Frakturspalt bildet sich ein knorpeliges Gewebe, das analog zur embryonalen Knochenbildung im weiteren Heilungsverlauf verknöchert [19]. Diese Heilungsform findet sich stets bei dem Vorhandensein eines Frakturspalts.
27 Kapitel 2.2 · Grundlagen: Biologische und physiologische Grundlagen
2.2
⊡ Tabelle 2.1. Wachstumsfaktoren (WF) im zeitlichen Verlauf der Knochenheilung (mod. nach Solheim [18]). Heilungsphase
WF
Quelle, Lokalisation und Wirkung
Inflammation und Hämatombildung
BMP-2/4
In mesenchymalen Zellen des Hämatoms und der Kambiumschicht des Periosts im Fakturbereich. BMP-4-mRNA zeigt sich in Osteoprogenitorzellen des proliferierenden Periosts, der Markhöhle und des Muskels.
TGF-β1
Von Thrombozyten und Entzündungszellen freigesetzt. Stimuliert die Proliferation mesenchymaler Zellen der Kambiumschicht des Periosts.
PDGF
Von Thrombozyten und Entzündungszellen freigesetzt. Stimuliert die Proliferation mesenchymaler Zellen der Kambiumschicht des Periosts.
aFGF
In Zellen der Kambiumschicht, assoziiert mit einer Zunahme mesenchymaler Zellen.
BMP-2/4
In Osteoblasten, die den Geflechtknochen nach Fraktur auskleiden. Nimmt mit zunehmender Knochenreifung ab.
TGF-β1
In proliferierenden mesenchymalen Zellen, in Osteoblasten und in der Matrix.
PDGF
Von Thrombozyten freigesetzt. Stimuliert die intramembranöse Knochenbildung.
BMP-2/4
In Vorläuferzellen, kurz vor deren Reifung zu Chondrozyten.
TGF-β1
In mesenchymalen Zellen, jungen und reifen Chondrozyten.
IGF-I
In jungen Chondroblasten am Rand des durch Knorpel ersetzten fibrösen Gewebes.
aFGF
Gebildet von Chondrozyten, ihren Vorläufern und Makrophagen. Stimuliert die Chondrozytenproliferation/-reifung.
BMP-2/4
Intrazellulär in Osteoblasten der kalzifizierten Knorpelmatrix.
TGF-β1
In der Umgebung hypertropher Chondrozyten und in Chondrozyten am Rand der Ossifikationszone.
bFGF
Möglicherweise von Chondrozyten gebildet. Wichtig für die enchondrale Ossifikation.
Kallusbildung und intramembranöse Knochenbildung
Chondrogenese
Enchondrale Ossifikation
Sowohl bei der primären als auch bei der sekundären Knochenheilung ist die Revaskularisierung des neu gebildeten Gewebes für die nutritive Versorgung notwendig [20]. Bei der Implantateinheilung unterscheidet man nun die Distanzosteogenese von der Kontaktosteogenese (⊡ Abb. 2.7) [21]. Den beiden Prinzipen ist gemein, dass es durch das Einbringen eines Implantats in ein Knochenlager zur Hämatombildung und Inflammation kommt. Durch die Verletzung wird die Kontinuität des Knochens zerstört und Gefäße zerreißen. Es kommt zu entzündlichen Reaktionen und der Bildung eines Hämatoms mit lokaler Infiltration von u. a. Granulozyten, Monozyten und Mastzellen. Die Mastzellen führen über Histaminund Heparinfreisetzung zu einer Entzündungsreaktion. Im Hämatom finden sich des Weiteren pluripotente Stammzellen, die zu Osteoblasten, Fibroblasten und Chondroblasten ausdifferenzieren. In das Hämatom
⊡ Abb. 2.7. Prinzip der Distanzosteogenese und Kontaktosteogenese (mod. nach Davies [22]). Roter Pfeil: Richtung der Knochenneusynthese
sezernierte Zytokine und Wachstumsfaktoren fördern die Zellinfiltration, Angiogenese und Zelldifferenzierung. In der hypervaskularisierten Entzündungsphase wird das Frakturhämatom schließlich lokal phagozytiert.
28
2
Teil II · Experimentelle Grundlagen
Bei der Distanzosteogenese findet die Knochenneubildung am alten Knochenlager statt, also in einer Distanz zum Implantat. Die osteogenen Zellen stammen bei dieser Heilung aus dem alten Knochen. Im Verlauf der Heilung wächst der neue Knochen dann an das Implantat heran. Im Gegensatz dazu kommt es bei der Kontaktosteogenese zu einer de-novo-Bildung von Knochen direkt am Implantat. Hierfür verantwortlich sind Progenitorzellen, die zum Implantat migrieren, dort zu Osteoblasten differenzieren und extrazelluläre Matrix synthetisieren, die dann im Verlauf mineralisiert und neuen Knochen bildet. Im Verlauf der Heilung schließt sich so der Spalt zum Knochen. Im Idealfall erfolgen beide Prozesse parallel bei der Einheilung von Implantaten. Eine Störung der Kontaktosteogenese kann jedoch zum Verlust des ImplantatKnochen-Kontakts und somit zur Implantatlockerung führen. In diesem Fall bildet sich eine fibröse Zwischenschicht zwischen dem Knochenlager und dem Implantat, die nicht mineralisiert und somit keine Stabilität gewährleistet.
Osteokonduktion, Osteoinduktion und Osteogenese Notwendig für die Kontaktosteogenese ist die Osteokonduktivität des Implantats. Eine mikrostrukturierte Oberfläche von Implantaten begünstigt auf Grund ihrer Struktur und Porosität die Fibrinogenabsorption, die Thrombozytenaktivierung sowie -adhäsion und ermöglicht somit das Anhaften von osteoblastären Zellen und die Neusynthese von Knochen direkt auf der Implantatoberfläche [23, 24]. Osteokonduktion ist ein passiver Prozess, der auf Grund von Materialeigenschaften das Adhärieren und Einwachsen von Zellen in eine Struktur ermöglicht. Dem gegenüber stehen die aktiven Prozesse der Osteoinduktion und Osteogenese. Unter Osteoinduktion versteht man den aktiven Prozess der Anlockung von Zellen und deren Differenzierung. Wachstumsfaktoren gehören zu den osteoinduktiven Substanzen, die migratorisch und differenzierend auf Zellen wirken. Während der Störung der Knochenkontinuität werden im Knochen gespeicherte Faktoren wie TGF-β1, IGF-I, BMP-2 freigesetzt. Thrombozyten sind ebenfalls eine Quelle für Wachstumsfaktoren (PDGF, TGF-β1, VEGF, EGF) [25].
Als osteogen bezeichnet man Zellen, die das Potential zur Differenzierung in Osteoblasten und somit zur direkten Knochenbildung besitzen [26]. Die Modifikation von Implantaten zu osteoinduktiven oder osteogenen Materialien ist ein bedeutendes Forschungsfeld in der orthopädischen und traumatologischen Chirurgie. Mit diesen Modifikationen könnte die Einheilung und somit die Haltbarkeit von Prothesen verbessert werden (s. auch Kap. 3.3).
Oberflächeninteraktion Entscheidend für die Einheilung von Materialien ist deren Oberflächenbeschaffenheit. Rauhigkeit, Ladung, chemische Zusammensetzung und andere Faktoren beeinflussen die biologischen Reaktionen nach Implantation und entscheiden somit über Abstoßung oder Integration. Unmittelbar nach Implantation kommt es zu Wechselwirkungen zwischen der Implantatoberfläche und Serumproteinen, die von elektrochemischer, dispersiver (van-der-WaalsKräfte) oder chemischer Natur sind und zur Absorption von Proteinen auf der Oberfläche führen. Dadurch kommt es zur Änderung der Proteinkonformation und teilweise zur Degradation. Die so gebildete Proteinschicht stellt dann das Substrat für die Zellanhaftung dar. Über spezifische Ligandrezeptorbindungen haften im Folgenden Zellen an die Proteinschicht. Es kommt zu einer Verankerung der Zellen und zur Auslösung intrazellulärer Kaskaden, die Auswirkungen auf die weitere Zelladhäsion, Proliferation oder Differenzierung haben [27].
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29 Kapitel 2.2 · Grundlagen: Biologische und physiologische Grundlagen
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2.2
2.3 Grundlagen Tierexperimentelle Untersuchungen R. Ascherl, W. Erhardt, S. Kerschbaumer, M.L. Schmeller, R. Gradinger
Zusammenfassung Vor dem klinischen Einsatz neu entwickelter Implantate spielen neben den In-vitro-Tests v. a. die tierexperimentellen Untersuchungen eine zentrale Rolle und stellen die entscheidende Untersuchung vor der Humananwendung dar. Alleinig durch die tierexperimentelle Untersuchung kann die Biokompatibilität und Integration eines Implantats in einem intakten Organismus vor dem klinischen Einsatz getestet werden. In Experimenten mit implantierten Probekörpern können die Verträglichkeit und Integration neuer Materialien und Oberflächen evaluiert werden, während in den aufwendigeren sog. Gebrauchstest funktionsfähige Implantate auf Oberflächen- und Strukturkompatibilität sowie mechanische Eigenschaften, Funktion und Funktionsdauer untersucht werden können. Klinische Langzeitstudien an kleinen Kollektiven helfen schließlich, die Entwicklung zu etablieren.
Einleitung In der modernen Implantologie stehen sich die beiden wesentlichen Verankerungsformen der zementierten und der zementfreien Implantatverankerung gegenüber. Ohne die seit den fünfziger Jahren bewährte und technologisch wiederholt verbesserte Implantatfixation mit Knochenzement wird die Endoprothetik auf absehbare
Zeit nicht auskommen. Bei jüngeren Patienten allerdings nimmt die zementfreie, direkte, biologische Verankerung immer größeren Raum ein: Weltweit wird mindestens die Hälfte der Endoprothesen am Hüftgelenk zementfrei implantiert. Material und Design der Prothesenbauteile und deren Oberflächen müssen dabei dem Knochengewebe die Möglichkeit zum lebendigen, remodellierenden und belastungsangepassten Ein- und Umbau geben.
Biokompatibilität In der Endoprothetik bestimmen Werkstoff und Formgebung eines Implantats frühes, grenzschichtarmes Einheilen und dauerstabile, biologische Fixation. Die chemische Zusammensetzung und die physikalischen Eigenschaften prägen die Biokompatibilität, unter der längst mehr verstanden wird als nur die Verträglichkeit und Funktion von Materialien, Bauteilen oder Systemen im Körper. Gerade beim Gelenkersatz wird vom technischen und biologischen System eine zielgerichtete Interaktion gefordert: knöcherne Heilung und konsequente Verankerung sollen über Jahre eine dauerhafte, schmerzfreie Belastbarkeit (und Beweglichkeit) gewährleisten. Erste Auskünfte hinsichtlich der Verträglichkeit von neuen Materialien geben orientierende Experimente wie Zell- und Gewebekulturen oder Expositionsversuche mit Probekörpern und Abriebpartikeln in vivo wieder. Diese
31 Kapitel 2.3 · Grundlagen: Tierexperimentelle Untersuchungen
werden zunehmend standardisiert; herkömmliche Legierungen auf der Basis von Kobalt oder Titan sind längst bewährt und bezüglich ihrer Gewebereaktion sicher und weitreichend abgeklärt.
Oberflächenkompatibilität Als Oberflächenkompatibilität eines Materials oder Bauteils dürfen seine physikalischen, chemischen und morphologischen Eigenschaften gelten, die ihrerseits eine erwünschte biologische Wechselwirkung mit dem Wirtsgewebe erzeugen. Bei Langzeitimplantaten im Knochen entscheidet diese Interaktion fast schicksalhaft über die Dauerfunktion der Implantate als Gelenkersatz, und die Kompatibilität kann im Hinblick auf die Reaktion des Knochengewebes folgendermaßen abgestuft werden: ▬ inkompatibel: Freisetzung von Substanzen in toxischen Konzentrationen → Überempfindlichkeits-, Entzündungs- und Fremdkörperreaktionen bis zur Implantatabstoßung; ▬ biokompatibel: Freisetzung von Substanzen in nichttoxischen Konzentrationen → Integration des Gewebes in eine dünne Bindegewebsschicht (Distanzosteogenese); ▬ bioinert: keine Freisetzung toxischer Substanzen → keine Gewebereaktion bzw. knöchernes Einheilen (Kontaktosteogenese); ▬ bioaktiv: positive Interaktion mit Gewebedifferenzierung → Knochenbildung an Grenzfläche zwischen Knochen und Implantat (Kontaktosteogenese)
Strukturkompatibilität Strukturkompatibilität ist die Anpassung der inneren und äußeren Architektur und Formgebung von Bauteilen an das Wirtsgewebe, um mechanische Parameter und die morphologische Bauweise des Gewebes nachzuahmen und damit Einheilungsvorgänge zu fördern. Hierzu gehören Anordnung und Auswahl von Fasern bei Verbundwerkstoffen ebenso wie Design und Dimensionierung von (offenzelligen) strukturierten Implantatoberflächen (⊡ Tabelle 2.2). In diesem Zusammenhang gilt Porosität als Anteil der Hohlräume am Gesamtvolumen (Angaben oft in Prozent).
2.3
⊡ Tabelle 2.2. Reaktion des Knochenlagers auf Porosität und Porengröße von Implantatoberflächen [8, 12, 14]. Porengröße [µm]
Reaktion Knochenlager
827
>12
1200–1400
850–1050
20–30
600–700
CoCrMo-Schmiedelegierung (pulvermetall.-erschmolzen) (ISO 5832–12, ASTM F1537)
>1172
>827
>12
1200–1400
900–1100
20–30
600–700
Titan GRAD 1–4B (ISO 5832–2)
200–680
140–520
30–10
250–750
200–550
16–30
100–300
TiAl6V4 gegossen (EN 3352, ASTM B 367–83)
>880
>815
>5
880–1000
815–900
5–10
TiAl6V4 geschmiedet (ISO 5832–3)
> 860
>780
>10
860–1120
800–1000
10–15
440–690
48
Teil II · Experimentelle Grundlagen
Formherstellung
2
Gießen
Montage Brennen und Erhitzen der Form
Gußbaum
Tauchen
Feinkeramik
Gießen
Vakuum- oder Roll-over-Gießen
Stützkeramik Besanden Abschlagen der Formmasse
Trennen
Schalenbildung durch mehrmaliges Tauchen und Besanden
Schleifen
Ausschmelzen und Ausbrennen
⊡ Abb. 2.26. Schematische Darstellung des Gießverfahrens
2.5
49 Kapitel 2.5 · Grundlagen: Metallurgische Grundlagen für die gusstechnische Herstellung
trichter, um den bis zu zwölf Endoprothesen angeordnet sind. Die Art der Montage ist ausschlaggebend für die Qualität der Implantate, aber auch für die Wirtschaftlichkeit des Verfahrens. Dieser Modellbaum wird mehrfach in eine zähflüssige Formkeramik, den so genannten Schlicker, getaucht, um eine keramische Schale um den Wachsbaum aufzubauen. Dabei sind vor allem die ersten Schichten der Formkeramik wichtig, die als Negativform alle Einzelheiten der Endoprothese und der komplizierten Oberfläche wiedergeben muss. Danach werden weitere gröbere Schichten, die Stützkeramik, aufgebracht, die der keramischen Form auch eine ausreichende mechanische Stabilität verleihen sollen. Nach jeder Schicht erfolgt eine Besandung und sorgfältige Trocknung der Form unter kontrollierten klimatischen Bedingungen sowie der Einsatz von Katalysatoren, die die Aushärtung beschleunigen, um ein Reißen der Form zu verhindern. Nach dem Aushärten der keramischen Stützschicht hat der Wachsmodellbaum seine Aufgabe erfüllt und kann aus der Form entfernt werden. Das erfolgt in einem speziellem Ofen, in dem das Wachs zunächst verflüssigt wird und aus der Form läuft. Danach erfolgt eine aktive Verbrennung der Wachsreste und der Kunststoffanteile, sodass am Ende dieses Prozesses eine Hohlform entsteht, die für den Gießprozess zur Verfügung steht. Diese Form wird vor dem Abgießen gebrannt und mit einer Temperatur von etwa 1200 °C zum Gießprozess geführt, um zu sichern, dass die Schmelze auch in enge Querschnitte und feinste Konturen ausläuft. Das Abgießen der Kobalt-Basis-Legierung erfolgt bei einer Temperatur zwischen 1500 und 1600 °C und kann je nach Anforderung an das Implantat in einer Vakuum-Induktions- oder einer Roll-over-Schmelz- und Gießanlage erfolgen. In der Vakuumanlage erfolgt das Schmelzen der CoCrMo-Legierung in einer geschlossenen Kammer bei Unterdruck und in einer Stickstoffatmosphäre (⊡ Abb. 2.27) [12]. Die Roll-over-Anlage ist dagegen ein offenes System, das bei atmosphärischem Druck, aber auch unter einem Schutzgasschleier arbeitet, um ein Oxidieren der Schmelze zu verhindern (⊡ Abb. 2.28). Nach dem Abkühlen der Traube wird die keramische Schale abgeschlagen und der Gussbaum mit Trennscheiben in seine Einzelteile getrennt. Danach erfolgt ein wichtiger Schritt des metallurgischem Prozesses – das Homogenisierungs- oder Lösungsglühen, bei dem die hohen Leistungsparameter des Materials (Zugfestigkeit und Bruchdehnung) erzeugt wer-
Material-Schleuse
Schmelzkammer
Induktionsbeheizter Schmelztiegel
Schleuse
Zur Vakuumpumpe und Schutzgaseinleitung
Zur Vakuumpumpe und Schutzgaseinleitung Gießkammer
Feingussform
Gussteilentnahme
⊡ Abb. 2.27. Vakuumgießanlage
⊡ Abb. 2.28. Roll-over-Schmelz- und Gießanlage
50
Teil II · Experimentelle Grundlagen
Gusslegierung
Gusslegierung homogenisiert
2
⊡ Abb. 2.29. Schliffbilder der CoCrMo-Gusslegierung
den. Bei einer Temperatur von 1100–1200 °C gehen die Karbide, die sich an den Korngrenzen angelagert haben, fein verteilt in Lösung. Dieser Zustand wird nach einer Haltezeit von etwa einer Stunde durch Abschrecken der Teile in Wasser stabilisiert. Es entsteht ein metallurgisches Gefüge mit feinen Korngrenzen, das eine Zugfestigkeit von etwa 1000 MPa und eine Bruchdehnung von etwa 20% besitzt (⊡ Abb. 2.29). Diese Fertigung ist ein technologisch und zeitlich sehr aufwendiger Prozess, der etwa 2–4 Wochen in Anspruch nimmt. Werden Gussrohlinge aus klinischen Gründen, z. B. bei Sonderimplantaten für die Tumorversorgung, in kürzerer Zeit benötigt, so ist auch ein Abguss in Hochfrequenzgießanlagen für Schleuderguss möglich. Beim Schleudergießverfahren werden die Wachsmodelle vollständig in einen Keramikkörper (Muffel) eingegossen, der in einem Ofen ausgeformt (entwachst) und gebrannt wird. Die Schmelze wird induktiv unter Schutzgas in einem Schmelzriegel hergestellt, der in einem Gehäuse auf einem Schleuderarm befestigt ist. Nach dem Er-
reichen der erforderlichen Schmelztemperatur wird die heiße Form horizontal vor die Öffnung des Schmelzriegels gelegt und der Schleudervorgang gestartet, bei dem der Schleuderarm in schnelle Umdrehungen (200–500 U/min) versetzt wird. Dabei schießt die Schmelze unter der Wirkung der Zentrifugalkraft in die heiße Form. Auch dieser Gießprozess wird mit dem Entformen des Gussrohlings, dem Trennen vom Angießer und der Wärmebehandlung abgeschlossen. Die Herstellung im Schleudergussverfahren ist teurer, da in der Regel nur einzelne Gussrohlinge hergestellt werden, ist aber innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu realisieren. Bei allen Gießprozessen erfährt der Gussrohling einen Maßschwund, der beim Wachsmodell etwa 1% gegenüber der Wachsform und beim Gießprozess etwa 2% gegenüber der Keramikform beträgt. Um maßgerechte Gussrohlinge herstellen zu können, wird der Gesamtschwund von 3% deshalb bereits bei der Herstellung der Wachsform berücksichtigt, die entsprechend größer ausgeführt werden muss.
2.5
51 Kapitel 2.5 · Grundlagen: Metallurgische Grundlagen für die gusstechnische Herstellung
Metallurgische Eigenschaften der interkonnektierenden dreidimensionalen Oberfläche Spongiosa-Metal® II Der effektive Elastizitätsmodul der gegossenen Spongiosa-Metal®-II-Oberfläche besitzt einen Wert von 300–400 N/mm2, ist also mit den Werten des natürlichen Knochens vergleichbar (⊡ Tabelle 2.4). Dadurch ergibt sich, dass das knöchern integrierte Implantat auf der Grenzfläche zwischen Implantat (E-Modul 220000 N/mm2) und Knochen (E-Modul 1000–17000 N/mm2) eine isoelastische Verbindungsschicht (Spongiosa-Metall + natürliche Spongiosa) besitzt, die für einen natürlichen Kraftfluss über das Implantat und für eine natürliche Spannungsverteilung im umgebenden Knochen sorgt. Unter bestimmten Bedingungen, z. B. wenn keine weitere mechanische Bearbeitung der Implantatoberfläche durch Schleifen, Polieren oder Strahlen erfolgt, kann eine HIP-Behandlung (»hot isostatic pressing«) der Gussrohlinge erforderlich werden. Bei dieser Behandlung werden durch hohen Druck und hohe Temperatur Mikroporositäten beseitigt und Poren verschweißt, sodass
eine Erhöhung der Festigkeit und eine Verbesserung der Oberflächenqualität möglich ist (⊡ Abb. 2.30). Das Gießverfahren und die abschließende Oberflächenbehandlung durch Beizen und Sandstrahlen liefern Gussrohlinge mit einer großen Form- und Maßtreue, hoher Festigkeit und ausgezeichneter Oberflächengüte.
⊡ Tabelle 2.4. Elastizitätsmoduli von Werkstoffen und Strukturen Werkstoff
E-Modul [N/mm2]
Kobaltbasislegierung
220000
CrNiMo-Stahl
210000
Titan
110000
Titanlegierungen
110000
Al2O3-Keramik
380000
Polyethylen
1000
Knochen (Kortikalis)
10000–20000
Knochen (Spongiosa)
100–2000
Spongiosa Metal II (Typ: forte)
300–400
1500
2000 Th1-Th3: Zonenthermoelemente Th4-Th8: Ladungsthermoelemente
1350
1600
Th8 Th7
600
P
450
1200 1000
Th2
Th5 Th4
800 Th3
600
300
400
150
200
0
0
1
2
3
4
⊡ Abb. 2.30. »Hot Isostatic Pressing« (HIP)
5
6
7
8 Zeit in h
9
10
11
12
13
14
15
16
0
Argondruck p in bar
750
Th1
Th6
Zone 2
900
1400
Ladung
Zone 1
T
1050
Zone 3
Temperatur T in °C
1200
1800
52
Teil II · Experimentelle Grundlagen
Qualitätssicherung
2
Begleitet wird der gesamte Gießprozess medizinischer Produkte durch eine umfangreiche Qualitäts- und Werkstoffprüfung. Die Gussrohlinge werden nach der Wärmebehandlung zunächst mit Hilfe des Farbeindringverfahrens auf Oberflächendefekte (Risse, Poren) untersucht. Danach erfolgt eine 100%ige Röntgenkontrolle, um auch innere Fehler des Gussteiles (Lunker, Porositäten) zu erkennen. Parallel dazu erfolgt die Bestimmung der mechanischen Eigenschaften (Zugfestigkeit Rm, 0,2% -Dehngrenze RP0,2, Bruchdehnung A und Brucheinschnürung Z) an Zugproben, die mit der Traube gegossen worden sind. Erst, wenn diese Prüfungen bestanden worden sind, wird der Gussrohling für die weitere Bearbeitung freigegeben.
Titanlegierungen und dreidimensionale Oberflächen Der Einsatz von Titan und Titanlegierungen (⊡ Tabelle 2.3) für die Herstellung von Endoprothesen mit einer dreidimensionalen Raumstruktur ist möglich, aber nicht unproblematisch [12]. Titan und seine Legierungen schmelzen erst bei sehr hohen Temperaturen (1800 °C) und stellen deshalb hohe Anforderungen an die keramische Form und die technische Ausstattung der Gießanlage. Wegen der hohen Reaktivität der Schmelze reagiert das flüssige Titan mit Elementen der Schmelz- und Gussform, sodass an der Oberfläche der Gussrohlinge Verbindungen entstehen können, die nicht biokompatibel sind. Außerdem kommt es in der Randzone durch Sauerstofflösung zu Gitterverspannungen im Gefüge, die zur Versprödung des Werkstoffes führen (»α-case«). Diese Veränderungen im Randbereich erfordern eine aufwendige Nacharbeit an den Gussrohlingen, um die veränderte Randzone durch technische oder chemische Prozesse wieder abzutragen. Die technischen Parameter von Gussrohlingen aus Titan und Titanlegierungen sind im Vergleich zu Titanschmiedelegierungen oder Kobaltbasislegierungen eher bescheiden (⊡ Tabelle 2.3). Besonders die niedrige Dauerbiegewechselfestigkeit empfiehlt es, vergossene Titanwerkstoffe nur bei kleineren Endoprothesen (Zahnimplantate) oder Sonderimplantaten (Wirbelkörperersatz) einzusetzen oder durch die konstruktive Auslegung der Implantate die erforderliche Festigkeit zu erzielen. Wegen
der aufgetretenen Gussporositäten ist bei Titanrohlingen eine HIP-Behandlung zur Verdichtung der Bauteile unbedingt erforderlich.
Fazit Durch die dargestellten technologischen Abläufe können Implantate mit einer räumlichen Oberflächenstruktur geschaffen werden, die einerseits dem Knochen einen festen Halt für die knöcherne Integration bieten und die anderseits als homogene Gussteile eine feste Verbindung mit dem tragenden Implantatkern besitzen. In Verbindung mit der anatomischen Gestaltung der Endoprothesenkomponenten entstehen Implantate, die eine lange Lebensdauer und eine beschwerdefreie Funktion ermöglichen.
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3.1 Oberflächenbeschichtung Beschichtungen auf Implantaten D. Repenning
Zusammenfassung Die Anforderungen an Implantatwerkstoffe sind je nach Einsatzbereich sehr vielfältig: Sie reichen von hoher mechanischer Dauerwechselfestigkeit über angepasste Steifigkeiten und hoher Bruchdehnung hin zu den unabdingbaren biologischen Verträglichkeiten. Alle in der Implantologie verwendeten Werkstoffe sind technische Werkstoffe und primär nicht für biologische Belange entwickelt worden. Entsprechend erfüllen die in der Implantologie verwendeten Werkstoffe die mechanischen Anforderungen in exzellenter Weise, während von biologischer Seite in zweierlei Hinsicht Optimierungsbedarf besteht: Einerseits sind alle metallischen Implantatwerkstoffe besonders in bakteriell entzündlichen Situationen korrosionsanfällig und andererseits denaturieren sie an der Oberfläche adsorbierte Eiweiße. Besonders mit Beschichtungen auf Tantal-, Niob- und Zirkoniumoxidbasis sowie ihrer multinärer Verbindungen werden die Ionenabgaben um mehrere Größenordnungen im Vergleich zu den herkömmlichen Werkstoffen verringert, und sie bieten Potential, in der Feinabstimmung ihrer multinären Zusammensetzung spezifische Proteinadsorptionen zu unterstützen.
gewebe so erreicht werden, dass das Therapeutikum so eingestellt ist, dass seine unphysiologischen Wirkungen und Nebenwirkungen auf den Organismus stets kleiner sein werden als dessen kompensatorische Potenz« [1]. Unabhängig von der physiologischen und somatischen Situation hängt die Sensitivität des Patienten gegenüber dem Fremdkörper von zwei grundsätzlichen Faktoren ab: 1. von den gewählten Materialien und der Kombination dieser Materialien bei mehrteiligen Implantatsystemen und 2. von der geometrischen Auslegung des Implantatsystems.
Implantatmaterialien in der Medizin In der Implantologie haben sich in den verschiedenen implantologischen Einsatzgebieten unterschiedliche Materialien durchgesetzt, deren Hauptauswahlkriterien im Wesentlichen durch die mechanischen Eigenschaften – teils auf Kosten der bestmöglichen biologischen Akzeptanz – bestimmt sind. ⊡ Tabelle 3.1 gibt hierzu einen repräsentativen Überblick.
Einleitung
Kobaltbasislegierungen
Implantate stellen für den Patienten eine biologische »Fremdsituation« dar, die grundsätzlich zu Fremdkörperreaktionen führt. »Insofern muss die Langzeitstabilität der Kontaktzone eines Implantats mit dem Hart- und Weich-
In der Knieendoprothetik werden beispielsweise die Kobaltbasislegierungen aufgrund der günstigeren mechanischen Eigenschaften, wie Dauerwechselfestigkeit, Kerbunempfindlichkeit und E-Modul, gegenüber den biolo-
54
Teil II · Experimentelle Grundlagen
⊡ Tabelle 3.1. Gängige medizinische Implantatmaterialien mit typischen Eigenschaften
3
Implantologischer Einsatzbereich
Bevorzugter Werkstoff
Selektierter Hauptvorteil
Restriktionen
Hüft und Knieimplantologie im Knochenkontakt
CoCrMo bzw. CoNiCrMo-Legierungen z. B. CoCr28Mo6 und CoNi35Cr20Mo10
Hohe Dauerwechselfestigkeit (σ > 450 MPa) und hohe Streckgrenze (Rp > 900 MPa), geringe Kerbempfindichkeit
Titanlegierungen: TiGr2 bzw.4, TiAl6V4, TiAl5Nb7
Vergleichsweise gute Biokompatibiltät
▬ Allergene Sensibilisierung ▬ Freisetzung von Metallionen, im verstärkten Maße bei bakteriell verursachten Infektionen ▬ Ausbildung einer Bindegewebskapsel ▬ Niedriges E-Modul ▬ Kerbempfindlich ▬ Empfindlich gegen Reibkorrosion
Unfallchirurgie
316 L X3 CrNiMo 18.4 X2 CrNiMoN 17.13.3
Gute Bearbeitbarkeit und gute mechanische Eigenschaften, hoher E-Modul
▬ Hohe allergene Sensibilisierung ▬ Freisetzung von Ni und Cr ▬ Bindegewebskapsel
Dentalimplantologie Wirbelsäulenchirurgie
Titan Gr2 und Gr4
Gute biologische Verträglichkeit und hinreichende mechanische Festigkeiten, günstige Eigenschaften erzielbar durch plasmaelektrochemische Prozesse
▬ Bildung schwarzer Suboxide ▬ Depassiviert in anaerobem Milieu
Gefäßchirurgie
316 L X3 CrNiMo 18.4
Werkstoff mit sehr guten Poliereigenschaften und hoher Bruchdehnung; gute Stützwirkung bei filigraner Struktur erreichbar
s. oben
Herzchirurgie
Pyrogener Kohlenstoff
Gut bearbeitbarer Werkstoff mit günstigen Reibeigenschaften für die Lagerstellen
Wirkt thrombogen, erfordert dauernde Verabreichung von Antikoagulationsmedikamenten
gisch verträglicheren Titanlegierungen bevorzugt eingesetzt. Kobaltbasislegierungen weisen zwar mit einer sich an der Oberfläche spontan ausbildenden Cr2O3- Passivschicht gute Korrosionsbeständigkeiten auf, mit der steigenden Einsatzdauer der Implantate werden jedoch zunehmend Sensibilisierungen durch allergene Reaktionen beobachtet.
Medizinische Stähle Im Bereich der Gefäßchirurgie kommen für die Gefäßwandstützimplantate (»Stents«) bevorzugt rostfreie austenitische Edelstähle, wie X3CrNiMo18.14 bzw. 316L, zur Anwendung. Edelstähle besitzen nach einer Vakuumweichglühung hohe Bruchdehnungen bis zu 90% und können auf Grund ihres hohen E-Moduls von ca. 210 GPa als filigrane, steife Stützimplantate ausgelegt werden. Bioverträglichere Werkstoffe auf Titanbasis weisen hingegen
nur Bruchdehnungen von 15–40% und E-Module zwischen 110 und 120 GPa auf.
Titan und Titanlegierungen Reintitan- und Titanlegierungen (Ti Gr2, Ti Gr4, TiAl5Nb7) gelten als die bioverträglichsten Werkstoffe und zeigten wie Tantal- und Nioboberflächen eine gegenüber »stainless steel« verbesserte Widerstandsfähigkeit gegenüber bakteriellen Infektionen [2]. Dennoch können Titanwerkstoffe bei bakterieller Infektion korrosionsanfällig sein. In experimentellen Studien wurde gezeigt, dass nach perkutaner Inokkulation mit Staphylococcus aureus die Infektionsrate von Titan bei 35% liegt, während diejenige von »stainless steel« 75% beträgt. Bereits Rabenseifner und Mitarbeiter [2] zeigten in einer 1987 vorgelegten Studie, dass mit »stainless steel« nach Beimpfung mit S. aureus keine Wundeinheilung erfolgte, wäh-
55 Kapitel 3.1 · Oberflächenbeschichtung: Beschichtungen auf Implantaten
3.1
ten des Grundmaterials mit ausgezeichneten biologischen Werten der Beschichtung zu kombinieren.
Interaktionen an der Implantatoberfläche
⊡ Abb. 3.1. Korrosion von vestibulär positioniertem Titan nach 4 Tagen
rend die Wunde nach Knochenbruch mit Tantal- und Niobnägeln »normal« verheilten. Stelzel et al. [3] legte eine Studie mit beschichteten und unbeschichteten oral vestibulär positionierten Titanplättchen vor, in der die Korrosion von Titan zu schwarzen Suboxiden in anaerobem, bakteriellem Habitat bei den Probanden bereits nach 4 Tagen auftrat. ⊡ Abbildung 3.1 zeigt stellvertretend die tiefgründige Korrosion einer Titanprobe. Mit Niob- und Tantal basierten Oberflächen werden Korrosionen selbst im stark sauren Milieu nicht beobachtet. Trotz der vergleichbar besseren Ergebnisse mit diesen Metallen bzw. deren Oxide muss unterstrichen werden, dass Implantate aus jedwedem Werkstoff Fremdkörper für das Immunsystem darstellen und eine Infektion deutlich begünstigen.
Keramik Eine grundsätzlich bessere Situation stellt sich bei der Auswahl der Werkstoffe für artikulierende Flächen in Gelenkprothesen dar. Hier steht mit den Keramikköpfen und -pfannen aus Al2O3 hinsichtlich Abriebfestigkeit, Reibwert und biologischer Verträglichkeit ein Werkstoff zur Verfügung, der in beiden Anforderungsprofilen, der mechanischen Festigkeit sowie der biologischen Kompatibilität vergleichsweise günstige Eigenschaften aufweist. Der Einsatz von Keramiken beschränkt sich im Wesentlichen auf kompakte, steife und nicht bruchgefährdete Implantatkomponenten. Grundsätzlich stößt man jedoch mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden, bearbeitbaren »Volumenwerkstoffen« auf prinzipielle Restriktionen, um alle geforderten Eigenschaften für ein sicher ossär integrierendes, langzeitstabiles Implantat zu erfüllen. Oberflächenbeschichtungen bieten die Möglichkeit, günstige mechanische Eigenschaf-
Bezüglich eines sinnvollen »Bioengineerings« von Oberflächen treten als Erstes die physikalisch-chemisch nachvollziehbaren Forderungen zur Gewebeverträglichkeit in den Vordergrund, die auf das Korrosionsverhalten, also die Ionenabgabe in das Gewebe, abstellen. Dabei sind sowohl die Bedingungen des gesunden als auch des bakteriell infizierten periimplantären biologischen Milieus zu berücksichtigen. Die Korrosion stellt einen relativen Begriff dar und wird durch elektrochemisch bzw. chemisch ermittelte Korrosionsströme beschrieben. Mit Hilfe elektrochemischer Korrosionsuntersuchungen [4] werden bei den Standardimplantatwerkstoffen in physiologischer Kochsalzlösung mit Milchsäure (DIN 13927) Korrosionsströme zwischen 10–6 und 10–8 A/cm2 festgestellt. Überschlagsrechnungen auf Basis der Faraday-Gesetze ergeben, dass bei 1 µA/cm2 für eine in der Hüft- und Knieimplantologie üblicherweise verwendeten CoCrMoLegierung pro Sekunde 1012 Co-Ionen pro Quadratzentimeter Implantatoberfläche in das periimplantäre Gewebe abgegeben werden. Eine weitere Gegenrechnung ergibt, dass pro Quadratzentimeter ca. 1015 Atome in der ersten Atomlage der direkt an der Oberfläche adsorbierten Proteine liegen. Dies bedeutet, dass bei dieser allgemein gültigen und als bioverträglich akzeptierten Korrosionsrate in der ersten Sekunde quasi jedes 1000. Atom der adhärierenden Proteinatomlage, und innerhalb einer Stunde durchschnittlich jedes Proteinatom mit freigesetzten Kobaltionen in Wechselwirkung tritt. Dieser Vorgang bewirkt letztendlich die Fragmentierung und Denaturierung der adhärierenden Proteine. Von der Zusammensetzung der primär adsorbierten Proteinschicht hängt es ab, ob Gewebszellen, Entzündungszellen oder Bakterien an der Oberfläche adhärieren [5]. Eine zusätzliche bakterielle Infektion führt auf Grund der pH-Absenkung und der kathodisch depolarisierenden Wirkung anaerober Spezies auf die Passivschichten der Implantatmaterialien zu einer noch höheren Korrosionsrate. Die sich aus der Oberfläche lösenden Korrosionsprodukte sind Fremdkörper und unphysiologische Ionenzusammensetzungen und können über verschiedene Entzündungs- und Abwehrreaktionen das Immunsystem für Sekundärantworten gegen Bakterien schwächen.
56
Teil II · Experimentelle Grundlagen
Auslegung und Auswahl von Beschichtungen
3
Oberflächenverfahren verfolgen das Ziel, das Interface zwischen Implantat und Gewebe biologisch, chemisch und physikalisch so zu modifizieren, dass die funktionelle Verträglichkeit zum biologischen Milieu stetig verbessert wird. Die Verfahren zur Oberflächenmodifikation lassen sich im Wesentlichen in drei Gruppen einteilen, nämlich in die physikalischen und chemischen Vakuumbeschichtungsverfahren, in die nasschemischen Auftrags- und Oxidationsverfahren sowie in die klassischen Pulverauftragsverfahren. Die physikalischen und chemischen Hochvakuumverfahren benutzen die übergeordneten Kürzel PVD (»physical vacuum deposition«) und CVD (»chemical vacuum deposition«), von denen sich weitere durch die Verfahrensweise gekennzeichnete ableiten, wie IAD (»ion-assisted deposition«) oder PECVD (»plasmaenhanced chemical vapour deposition«). Im nasschemischen Bereich finden in jüngerer Zeit zunehmend die elektrochemische Plasmaoxidation und das Sol-Gel-Verfahren an Bedeutung. Bei der Plasmaoxidation werden insbesondere auf Titanwerkstoffen durch Anlegen von Spannungen von bis zu einigen 100 V in wässrigen Elektrolyten oberflächenporöse Oxidschichten von ca. 10 µm Dicke erzeugt. Die Anforderungen an Implantatmaterialien sind so differenziert, dass sie nicht mit einem homogenen Vollmaterial erfüllt werden können, sondern nur durch Materialkombination in sog. Verbundwerkstoffen, zu denen auch beschichtete Materialien gehören. Besonders mit den modernen, im Hochvakuum durchgeführten plasma- und ionenunterstützten Beschichtungsverfahren haben sich für die Implantologie vielfältige Möglichkeiten eröffnet, mit einem differenzierten »Bioengineering« auf die zunehmenden Detailerkenntnisse zur Gewebeverträglichkeit von Implantaten zu reagieren. Mit den Beschichtungen verknüpft sind nicht nur Forderungen nach einer reizfreien, gewebeverträglichen Oberfläche, sondern auch nach Eigenschaften, die das Langzeitverhalten des Implantats positiv beeinflussen. Die Forderungen sind im Einzelnen: ▬ Hohe Haftfestigkeit der Schichten auf dem Substratmaterial, die vorzugsweise mit sog. Scratchtests (DIN V EN 1071–3) ermittelt werden. Diese ergeben eine direkte Korrelation zu den Haftscherfestigkeiten. ▬ Erhalt der Dauerwechselfestigkeit des Grundmaterials. Diese wird in der Regel von der Schicht mindernd beeinflusst, wenn sich der E-Modul von der Schicht
▬ ▬
▬
▬
▬ ▬
zum Grundmaterial zu abrupt ändert oder wenn es über die kerbempfindliche Schicht während der dynamischen Dauerbelastung zur Risspropagation ins Grundmaterial kommt. Im Haftbereich der Schicht dürfen sich keine spröden Mischphasen ausbilden. Die Schichten müssen porenfrei, dicht und nach Möglichkeit nanoskaliert sein. Unter porenfrei ist in diesem Zusammenhang zu verstehen, dass keine durchgehenden Poren in der Schicht zum Grundmaterial erlaubt sind, um den Austritt schädlicher Korrosionsprodukte möglichst vollständig zu unterdrücken. Die Schichten dürfen keine elektrochemischen Kurzschlusselemente zum Substrat ausbilden oder müssen zumindest so ausgelegt sein, dass ihr Gradientenverlauf eine Selbstheilung zulässt. Um eine späte akute Fremdkörperreaktion zu vermeiden, sollten die Schichten nicht resorbierbar sein oder langsam resorbierbar ohne beschleunigte »bulk degradation«. Beschichtungen sollen eine geringe Ionenabgabe aufweisen, die deutlich < 10–9 Cb liegt. Wechselwirkungen mit adhärierenden Proteinen und anderen biologischen Molekülen sollen keine erhöhte Anforderung an die Immunpotenz erfordern (Fragmentierungs-, Komplexierungsreaktionen, Proteolysen etc.).
Die Betrachtungen schließen in dieser Arbeit nur biopassive Materialien ein. Bioaktive osteoinduktive »Composites« wie BMPs [5, 14, 15], Hydroxylapatite, PRGs u. a. zur beschleunigten ossären Integration setzten nach Resorption wieder das Grundmaterial frei und haben nur eingeschränkte Bedeutung für die Langzeitstabilität des Fremdmaterials im knöchernen Kontakt.
Stabilitätskriterien und Oberflächen-pH Die Materialauswahl für »biopassive« Schichten, die eine Ionenabgabe < 10–9 Coulomb gewährleisten, ist eng begrenzt und erstreckt sich im Wesentlichen auf die Refraktärmetalle Niob, Tantal, Zirkonium und ihre Legierungen sowie oxidische Verbindungen. Das heißt, die Auswahl schließt außer den metallischen Schichten auch Keramikschichten wie Zirkonoxid, Niobdioxid und Tantaloxid oder ihre multinären Mischphasen ein. Edelmetalle scheiden auf Grund ihrer elektrochemischen Inkompatibilität
3.1
57 Kapitel 3.1 · Oberflächenbeschichtung: Beschichtungen auf Implantaten
6,5
V´O3
SiO2 Ta2O5 SnO2
Elektronegativität (ev)
zu den Implantatmaterialien und wegen ihrer hohen elektrischen Leitfähigkeit [6] aus. Baurschmidt et al. [7] postulieren Halbleiteroberflächen als ideale Oberflächen zum Erhalt der nativen Struktur von adsorbierten Proteinen. Halbleiter vermindern mittels Charge-Transferreaktion das Risiko, dass Proteine bei Adsorption denaturieren, wenn die energetischen Lagen von Leitungs- und Valenzband zu den Elektronenstrukturen der Proteine geeignet überlappen. Abweichend von dieser Hypothese vertritt der Verfasser dieser Arbeit die Auffassung, dass die Oberflächenbindungszustände, die Hydrolysefähigkeit sowie der pH-abhängige pzzp (»point of zero zeta potential«) eine übergeordnete Rolle zur Adsorption der Proteine und ihrer Degradation einnehmen. Alle o. g. Refraktärmetalle bzw. die sich spontan bildenden Oxide stellen unterschiedliche oberflächennahe pH-Werte ein, d. h., direkt an der Oberfläche können die Materialien in ihrem Reaktionsverhalten in atomarer Dimension wie Säuren oder Basen betrachtet werden. Aluminiumoxid reagiert beispielsweise in wässrigen Medien basisch, Titanoxid amphoter und Siliziumoxid sauer. Durch Titration der äquimolaren Menge an Säure bzw. Lauge lässt sich der Oberflächen-pH neutralisieren. Am Neutralisationspunkt sind alle Oberflächenladungen ausgeglichen, dies entspricht dem pzzp. Es ist davon auszugehen, dass sich die Proteine, ähnlich wie bei der Ionenaustauschchromatographie genutzt, auf Grund ihrer pH-abhängigen Nettoladung bzw. ihrer unterschiedlichen isoelektrischen Punkte an den verschiedenen Oberflächen unterschiedlich binden. ⊡ Abbildung 3.2 gibt den pH-Plot vs. die Elektronegativität einiger Oxide wieder [8]. Die spezifischen Oberflächeneigenschaften der Oxide lassen dem gemäß unterschiedliche, spezifische Proteinadsorptionen erwarten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass durch chemische oder plasmachemische Vorbehandlungen weiterer Einfluss auf die Oberflächenbindungszustände genommen werden kann. Dieser Betrachtungsweise bleibt als conditio sine qua non die hohe Korrosionsstabilität der Materialien übergeordnet. Die A-priori-Auswahlkriterien ergeben sich aus der Stabilität der Oxide. Diese lässt sich in grober Näherung mit den freien Bildungsenthalpien der Oxide korrelieren. ⊡ Tabelle 3.2 führt diese exemplarisch auf. Die freien Bildungsenthalpien der Oxide spiegeln jedoch nicht vollständig das Reaktionsverhalten der Metalle in wässrigen Medien wider. Dieses ist stark vom pH-Wert, von komplexbildenden organischen Verbin-
6,0
ZrO2
Fe2O3
TiO2 HgO FeTiO3
CuO
Fe3O4
ZnO NiO
Cr2O3
5,5
CO
Al2O3 Ag2O
SrTiO3 5,0
MgO
BaTiO3 0
7 PZZP (pH)
14
⊡ Abb. 3.2. »Point of zero zeta potential« (pzzp) verschiedener Metalloxide (aus [8])
⊡ Tabelle 3.2. Bildungsenthalpien verschiedener Passivschichten Verbindung
Passivschicht auf
Freie Bildungsenthalpie aus den Elementen ∆G (kJ/mol)
TiO2
Titan
–956
ZrO2
Zirkonium Vollmaterial
–1101
Nb2O5
Niob, Niobnitrid
–1921
Ta2O5
Tantal »Vollmaterial«
–2064
dungen sowie vom elektrochemischen Potential des wässrigen Mediums abhängig. Sauerstoffreiche wässrige Lösungen weisen positive Potentiale auf und unterstützen die Passivreaktionen der Metalle, während sich die Potentiale in sauerstoffarmen oder -freien Lösungen immer weiter zu negativen Werten verschieben. Diese letztgenannten Bedingungen wirken »kathodisch depolarisierend«, d. h. die schützende Passivschicht löst sich auf und die Korrosionsempfindlichkeit der Metalle bzw. ihrer Legierungen erhöht sich. Diese Bedingungen lie-
58
3
Teil II · Experimentelle Grundlagen
gen u. U. bei bakteriell verursachten Infektionen vor. Im Bereich der Dentalimplantologie werden im mikrobiellen, anaeroben Habitat des Sulkus der Schleimhaut pH-Werte unterhalb 4 mit Potentialen von E < –200 mV gemessen [9], verglichen mit einem pH-Wert von 7 und E > +70 mV bei aeroben nichtentzündlichen Habitaten. Infolge der anaeroben Besiedlungen korrodiert Titan zu schwarzen Suboxiden mit einem erhöhten Risiko von infektiösen Osteolysen und der Konsequenz des Implantatspätverlusts [9]. Eine bessere Grundlage zur A-priori-Beurteilung der Oberflächenstabilität bieten die so genannten Pourbaix-Diagramme [10], auch wenn sie die Wirkung der organischen Komplexbildner nicht mit erfassen. In den ⊡ Abbildungen 3.3 bis 3.6 sind die Diagramme der Metalle Chrom (stellvertretend für die Kobaltbasis- und Edelstahllegierungen), Titan, Tantal und Niob wiedergegeben. Die Diagramme zeigen, dass sich Chrompassivschichten bereits bei pH-Werten von < 5 auflösen können. Titan bildet unter physiologischen Bedingungen neben den halbleitenden Titandioxidschichten elektrisch sehr gut leitende schwarze Suboxidschichten, sog. Magneli-Phasen mit der formalen Zusammensetzungen TinO2n-1 aus. Diese Magneli-Phasen sind in der Regel voluminöser als die ca. 100 nm dicken Titandioxidschichten und scheren von der Implantatoberfläche unter Partikelabgabe ins Gewebe ab. Die Pourbaix-Diagramme weisen für Niob, Tantal und Zirkonium aus, dass ihre Oxide und Hydroxide selbst unter extrem sauren und elektrochemischen Bedingungen stabil sind. Diese in vitro gewonnenen Erkenntnisse korrelieren sehr gut mit den Ergebnissen der von unterschiedlichen implantologischen Fachbereichen durchgeführten tierexperimentellen und klinischen Studien [2, 3, 11,12]. Rabenseifner [2] führt bei der Verwendung von Tantal- und Niobnägeln die trotz Infektsituation verbesserte Wundeinheilung auf die Stabilität der Materialien zurück. Schildhauer [12] findet eine erhöhte Zytokinaktivität an Tantaloberflächen. Mit cerid-Tantal/Tantaloxid beschichteten Edelstahlstents legte Stark eine Studie vor, nach der die Restenoserate der mit diesen Koronarstents versorgten Risikopatienten von 75% bei unbeschichteten Edelstahlstents auf weniger als 30% sank, und bei Patienten mit normalem Restenoserisiko von 27% auf weniger als 15% [13]. Auf Grund der Nichtresorbierbarkeit und der Langzeitstabilität der Beschichtungen ist das Risiko einer Restenose bzw. späterer Stentthrombosen mit diesen Stents minimiert.
-2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 2,2 2,2 2 E(V) 2 Korrosion ? 1,8 1,8 1,6 1,4 1,2
Korrosion b
1,6 1,4 1,2 1
1 0,8
0,8
0,6
0,6
0,4
0,4 0,2
0,2 0
a
Korrosion 0
Passivität
-0,2
-0,2
-0,4
-0,4
-0,6
-0,6
-0,8
-0,8
-1 -1,2
-1
Korrosion
-1,2
-1,4
-1,4
-1,6
-1,6
-1,8
-1,8
-2
-2
Immunität
-2,2
-2,2
-2,4 -2,4 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 pH
⊡ Abb. 3.4. Theoretische Domänen der Korrosion, Immunität und Passivität von Titan bei 25 °C
-2
0
2
4
6
8
10
12
14
16 2
2 E(V)
1,6
1,6 1,2
Korrosion
b
1,2
0,8
0,8
0,4
0,4
0
a
0
Passivität
-0,4
-0,4
-0,8
-0,8
-1,2
-1,2
Immunität
-1,6 -2
0
2
4
6
8
-1,6 10
12
14
16 pH
⊡ Abb. 3.3. Korrosion, Immunität und Passivität von Chrom bei 25 °C
59 Kapitel 3.1 · Oberflächenbeschichtung: Beschichtungen auf Implantaten
-2
0
2
4
6
8
10
12
14
2 E(V)
2
1,6 1,2
1,6
b
1,2
0,8
0,8
0,4 0
16
0,4
Passivität
a
0
-0,4
-0,4
-0,8
-0,8
-1,2
-1,2
Immunität
-1,6 -2
-1,6 0
2
4
6
8
10
12
14
16 pH
14
16
⊡ Abb. 3.5. Immunität und Passivität von Niob bei 25 °C
-2
0
2
4
6
8
10
12
2
2 E(V)
1,6
1,6 1,2
b
Wie oben ausgeführt, spielt die Schichthaftung für die langfristige Sicherheit eine wichtige Rolle. Zur Gewährleistung dieses Kriteriums haben sich im Wesentlichen Verfahren durchgesetzt, die im Hochvakuum vor dem eigentlichen Beschichtungsprozess einen so genannten Plasmaätzprozess zulassen, in dem mittels energiereicher Argonionen Verunreinigungen und Oxidschichten von der Oberfläche sicher entfernt werden können. In situ wird der Prozess dann auf die Atom für Atom aufwachsende Schicht umgestellt. ⊡ Abbildung 3.7 zeigt eine sehr dichte, porenfreie Tantal/Tantaloxidschicht, die quasi ohne sichtbaren Interface auf Edelstahl 316L aufgebracht wurde. Die Atome werden sehr energiereich mit einer thermodynamischen Temperatur von T > 1.000.000 Kelvin (!) auf der Oberfläche kondensiert. Hiermit ist zum einen gewährleistet, dass die Schicht mit dem Implantatmaterial metallurgisch »verwächst« und zum anderen lassen sich über ein sog. Schicht-Matching die mechanischen und (elektro-)chemischen Eigenschaften der Schicht graduell an das Substratmaterial anpassen. Die Oberbegriffe zu diesen Verfahren lauten PVD, PECVD und Ionenimplantationsverfahren. Allen Verfahren gemeinsam ist, dass sie ionen- und plasmagestützte Vakuum- bzw. Hochvakuumverfahren sind. Der Vorteil dieser Verfahren liegt u. a. darin, dass die Beschichtung mit sehr hohen Oberflächenaktivierungen stattfindet und damit während der Beschichtung eine hohe Atombeweglichkeit der kondensierenden Atome an
0,8
0,4
0,4
Passivität
0
a
-0,4
-0,4
-0,8
-0,8
-1,2
-1,2
-1,6
-1,6
Immunität
-2
-2 -2
Beschichtungen, Beschichtungsverfahren und Anwendungen
1,2
0,8
0
3.1
0
2
4
6
8
10
12
14
⊡ Abb. 3.6. Immunität und Passivität von Tantal bei 25 °C
16 pH
⊡ Abb. 3.7. 5 µm dicke, dichte Tantalschicht auf medizinischem Edelstahl 316L mit festem, metallurgischen Verbund zum Grundmaterial
60
Teil II · Experimentelle Grundlagen
0
Konzentration [at %]
Fe Ta
80
3
70 60 50 40 30 20 10 50
100
150
200
250
300 Zeit
350 [s]
⊡ Abb. 3.8. Konzentrationsprofil einer nanoskalierten Tantaloxidschicht auf einem Edelstahlstent (Aufnahme: omt, Lübeck). Die Schichtdicke dieser Aufnahme entspricht 2,2 µm.
der Oberfläche gegeben ist. Die Oberflächenaktivierungen liegen vergleichsweise mehr als 1000fach höher als bei Plasmaspraying-Verfahren. Die hohe Atombeweglichkeit während der Beschichtung führt nach Maßgabe der Phasendiagramme zur Ausscheidung hochzäher, nanoskalierter heterogener Keramikschichten. ⊡ Abbildung 3.8 zeigt das Elementtiefenprofil eines mit nanoskaliertem Tantaloxid beschichteten Stents. Die Besonderheit dieser Vorgehensweise lässt das Tiefenprofil erkennen: Das Tantal ist zunächst in der Stahloberfläche auf einer Tiefe von ca. 50 nm mittels eines hochenergetischen Beschusses mit Tantalionen implantiert worden. An der eigentlichen Grenzfläche zum Stahlgrundkörper erscheint eine Übergangszone aus reinem Tantal (E-Modul ~ 170GPa), auf die sich letztendlich eine äußere, ca. 0,5 µm nanoskaliert erzeugte Tantaloxidschicht aufbaut. In ⊡ Tabelle 3.3 sind weitere Beschichtungen für die verschiedenen Anwendungsbereiche der Implantologie aufgeführt, die das Ziel haben, die Langzeitstabilität und die elektrophysiologische Neutralität der Implantatsubstratmaterialien zu erhöhen.
Literatur 1. Hartmann HJ, Brinkmann E (2000): Weißbuch Implantologie. Jahrbuch Verlag, S. 7 2. Rabenseifner R (1984): [Is fracture healing in the presence of biocompatible implant materials tantalum and niobium different in comparison to steel implants?]. Z Orthop Ihre Grenzgeb 122/3:349–355 3. Stelzel et al. (2004): Meeting Abstract, Wien 2004 4. Müller HJ, Greener EH (1970): Polarization studies of surgical materials in Ringer’s solution. J Biomed MatRes 4:29–41 5. Jennissen HP et al. (1999): Mat Wiss u Werkstofftechnik 30:838–845 6. Thull R et al. (1992): [Model for immunologic testing of biomaterials]. Biomed Technik 37/7–8:162–169 7. Baurschmidt P et al. (1975): Biomed Technik (Ergänzungsband) 20:49 8. Butler MA, Ginley DS (1978): J Electrochem Soc 125/2:228 9. Marsh P, Martin MV (2002): Orale Mikrobiologie. Thieme Verlag 10. Pourbaix M (1976): Atlas of Electrochemical Equilibria. National Association of Corrosion Engineers. Texas 11. Hennig FF et al. (1992): [A comparative study of the characteristics of femoral hip prosthesis heads–study and results ceramic-coated hip joint heads of titanium]. Biomed Technik 37/9:200–204 12. Schildhauer T, Köller M (2004): Cytokinfreisetzung humaner Lenkozyten. Meeting Abstract DGK 2004
3.1
61 Kapitel 3.1 · Oberflächenbeschichtung: Beschichtungen auf Implantaten
⊡ Tabelle 3.3. Übersicht einer Auswahl unterschiedlicher Beschichtungsmaterialien und -verfahren mit Anwendungsbeispielen Schichtsystem
Aufbau/Schichtdicke [µm]
Anwendung/Ziel
Verfahren
Literatur
NbTi 50
Dreifach/8–12 µm
Minderung der allergenen Sensibilität von CoCrMo
IAD/PVD
16
Niob-TitanMischkeramik
Gradientenschicht/ 4–7 µm
Gelenkgegenkörper zu High-density-Polyethylen (HDPE) für Knie, Hüfte, Kiefergelenk, Finger zur Minderung des PE-Verschleißes
IAD/PVD
6, 11, 17
Titannitrid
2–3 µm
Verschleißminderung bei artikulierenden Flächen; Gefahr der Pittingkorrosion auf CoCrMo und »stainless steel«
IAD/PVD
22
Zirkon-Titan Mischoxidkeramik
Gradientenschicht/ 7–12 µm
Zahnimplantate, Kiefergelenk, Osteosyntheseschrauben aus Titan und 316L zur Minderung der Titan-Reibkorrosion und Korrosion von 316L
IAD/PVD
18, 19
Tantal
Metallschicht
Hüftpfannen auf spongioser Kohlefaser
CVD
19, 20
Tantal/nTantaloxid
Gradientenschicht mit »mixed interlayer«
Stents, Osteosyntheseplatten, 316L
Kombinierte Ionenimplantation, IAD/PVD
20,23
Titandioxid
Einphasig, feinporig/ 8–12 µm
Zahnimplantate
Elektrolytische Plasmaoxidation
24
Titan
Einphasig/30–50 µm
Orthopädische Implantate
VPS (»vacuum plasma spraying«)
25,26
DLC (»diamondlike carbon«)
Einphasig/2–5 µm
Artikulierende Flächen, Stents
Plasma-CVD
28
Silber
Nanolayer/< 10 nm
Infektionsschutz
PVD, Galvanik
27
HA (Hydroxylapatit)
20–30 µm
Beschleunigte Osseointegration mit gesteuerter Resorption
elektrochemisch, Plasmaspritzen
13. Stark B (2000): MSM, private Kommunikation 14. Jennissen HP (1998): Patentschrift PCT/DE98/03463# 15. Sampath TK et al. (1990): Bovine osteogenic protein is composed of dimers of OP-1 and BMP-2A, two members of the transforming growth factor-beta superfamily. J Biol Chem 265/22:13198– 13205 16. Plenk H, Schider S (1990): Tantaluma and Niobium. Williams DP Concise encyclopedia of medical material. Pergamon Press 17. Thull R, Reuther J (1993): Untersuchungen und Eigenschaften von Titan-Zirkonoxid und Titan-Nioboxid auf Titan. Universität Würzburg, interne Publikation 18. Repenning D (1993): Jahrbuch für orale Implantologie 93:19 19. Jeng YX, Sun H (2001): Thin solid films 398–399:471 20. Sun DC et al.(1997): 23rd Soc for Biomat, New Orleans, Louisiana, S. 431 21. Graf HL, Sen B (2002): Z Zahnärztl Implantol 18:169 22. Hirschfeld KM (2000): Korrosionsuntersuchungen am System Titannitrid. Berichte aus der Werkstofftechnik 23. Poggie RA et al.: Cohen_Implex_Corp.com/S2–1 htms 24. Meyer S (2003): Plasmachemische Beschichtung. Der andere Verlag, Osnabrück
25. Khan MA et al. (1999): The corrosion behaviour of Ti-6Al-4V, Ti-6Al7Nb and Ti-13Nb-13Zr in protein solutions. Biomaterials 20:631– 637 26. Gruner H (2003): Plasmaspritzen für die Medizintechnik. medrevat.ch/deutsch/plasmaspritzen.htm 27. Gosheger G et al. (2004): Silver-coated megaendoprostheses in a rabbit model – an analysis of the infection rate and toxicological side effects. Biomaterials 25:5547–5556 28. Klaffke D (2003): Jahresbericht DFG
3.2 Oberflächenbeschichtung Antiinfektiöse Oberflächenbeschichtung H. Gollwitzer, L. Gerdesmeyer
Zusammenfassung Obwohl Infektionen mehr denn je zu den wesentlichen Komplikationen orthopädischer und traumatologischer Implantate zählen, gibt es für die klinische Anwendung noch keine etablierten antibakteriellen Implantate. Antiinfektiöse Oberflächenbeschichtungen könnten die bakterielle Besiedelung der Implantate hemmen und dadurch die Infektionsraten reduzieren. Aktuelle Entwicklungen werden im folgenden Beitrag vorgestellt und diskutiert. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Beachtung der Biokompatibilität, um eine sichere ossäre Integration der beschichteten Implantate nicht zu gefährden. Aufgrund der zunehmenden Häufigkeit antibiotikaresistenter Bakterien besteht zudem die Notwendigkeit der Entwicklung antibakterieller Oberflächen mit Breitspektrumwirkung, insbesondere gegen antibiotikaresistente Infektionserreger.
Infektion des intraossären Implantats Aus Orthopädie und Unfallchirurgie ist der Einsatz von Metall- und Kunststoffimplantaten nicht mehr wegzudenken und hat die Behandlung und Rekonstruktion vieler traumatischer, degenerativer, entzündlicher und tumoröser Pathologien vereinfacht, funktionalisiert bzw. erst ermöglicht. Als Paradebeispiel gilt der künstliche Hüftgelenksersatz, eine der erfolgreichsten orthopädischen Operationen, die den Patienten eine rasche Schmerzfreiheit und Wiederherstellung der Funktion und Mobilität ermöglicht.
Doch selbst eine so erfolgreiche Operation wie die Hüfttotalendoprothese (TEP) bleibt nicht ohne Risiken. Die mit Abstand häufigste Versagensursache ist die aseptische Lockerung im Implantatlager zwischen Endoprothese und Knochen. Weniger häufig, aber um ein Vielfaches schwerwiegender ist der Endoprotheseninfekt. Dessen kurative Therapieansätze sind häufig mit wiederholten und belastenden Operationen verbunden und meist nur nach Entfernung des Gelenkersatzes erfolgreich. Ein- oder zweizeitige Wechsel sind dabei häufig nicht zu umgehen, der Erfolg derartiger Operationen ist ungewiss. Durch eine verbesserte Infektionsprophylaxe mittels Reinraumtechnik, perioperativer Antibiotikaprophylaxe, Verkürzung der Operationszeiten und dem Einsatz antibiotikahaltigen Knochenzements konnten die Infektraten deutlich reduziert werden. Aufgrund der steigenden Implantationszahlen – mit weltweit mehr als 1,5 Millionen Hüft-TEPs pro Jahr – erfahren die Infektionen dennoch eine zunehmende Bedeutung. Durch Protheseninfektionen scheitern primär implantierte Hüft-TEPs trotz chirurgischer Intervention und hochdosierter Antibiotikatherapie in etwa 1–2% der Fälle. Knie- und Ellenbogen-TEPs weisen Infektionsraten von bis zu 5 bzw. 7% auf und bei Revisionseingriffen ist die kumulierte Infektionsrate noch deutlich höher anzusetzen als bei den Primärimplantationen. Neben den verheerenden Konsequenzen für die betroffenen Patienten verursachen Implantatinfektionen enorme zusätzliche volkswirtschaftlichen Kosten. Allein durch infizierte Osteosynthesematerialien und Endoprothesen entstehen in den USA pro Jahr mehr als 1,8 Mrd. Dollar an zusätzlichen Behandlungskosten [1].
63 Kapitel 3.2 · Oberflächenbeschichtung: Antiinfektiöse Oberflächenbeschichtung
Der volkswirtschaftliche Schaden durch Arbeitsunfähigkeit und Rentenzahlungen übertrifft diese Summe noch bei weitem.
Pathogenese der Implantatinfektion Zum Verständnis von Präventions- und Therapiemöglichkeiten ist die genaue Kenntnis der Pathophysiologie implantatassoziierter Infektionen eine wesentliche Voraussetzung. Grundlage der Implantatinfektion ist – wie bei der ossären Integration – die Wechselbeziehung zwischen lebendem Gewebe (Zellen, Bakterien) und Fremdmaterial an der Grenzfläche zwischen Implantat und Organismus, dem so genannten »interface« [2]. Jedes Implantat kommt unmittelbar nach der Implantation mit Blut und Gewebe in Kontakt und wird dabei von einer Schicht aus Proteinen und Glykoproteinen überzogen. Dieser sog. »conditioning film« bietet dann eine Angriffsfläche zur Adhäsion von weiteren Proteinen und Zellen, aber auch von Bakterien. Häufige Erreger von Implantatinfektionen wie Staphylococcus aureus haben spezifische Bindungsstellen für typische Bestandteile des »conditioning film« entwickelt, wie den »clumping factor« zur Bindung an Fibrinogen. Fibrin und Fibrinogen sind wesentliche Bestandteile des »conditioning film«, die eine bakterielle Adhäsion an Biomaterialien begünstigen. So wetteifern Bakterien und körpereigene Zellen um die Besiedelung dieser neueingebrachten Oberfläche, ein Wettstreit, der von Gristina als »race for the surface«
3.2
bezeichnet wurde [2]. Gewinnen die körpereigenen Zellen diesen Wettlauf, so kann das Implantat biologisch in den Organismus integriert werden, was eine zukünftige Implantatinfektion deutlich erschwert. Siedeln sich jedoch Bakterien auf dem Implantat ab, so können diese proliferieren oder auf der Oberfläche über viele Monate persistieren, bevor eine klinisch relevante Infektion auftritt. In diesem Fall können sich adhärente Bakterien vermehren und auf der Oberfläche einen Biofilm aus Proteinen, Glykoproteinen, Ionen und mikrobiellen Nährstoffen bilden (⊡ Abb. 3.9 und 3.10). In diesem Biofilm liegen die Bakterien in einer sessilen Form vor und besitzen eine vielfach höhere Resistenz gegen Antibiotika als planktonische, d. h. von der Oberfläche abgelöste Mikroorganismen. Ist eine Schwellenanzahl an Bakterien erreicht, so werden planktonische Mikroorganismen in das umgebende Gewebe freigesetzt, wodurch das klinische Korrelat der Infektion entsteht. Die Ursache für Infektionen, die innerhalb von 12 Monaten postoperativ auftreten, ist definitionsgemäß auf intra- oder unmittelbar postoperativ eingebrachte Bakterien zurückzuführen. Damit sind 70–80% der Implantatinfektionen als unmittelbare Operationsfolge zu sehen. Dies bedeutet auch, dass eine konsequente perioperative Prävention der bakteriellen Besiedelung mittels antiinfektiöser Oberflächen eine effektive Infektprophylaxe darstellen kann. Sowohl das Immunsystem als auch systemisch applizierte Antibiotika erreichen implantatadhärente Mikroorganismen nur von Seiten des umgebenden Organismus,
⊡ Abb. 3.9. Schematische Darstellung des bakteriellen Biofilms auf Metall. bzw. Kunststoffimplantaten. Das Implantatmaterial kann durch Bakterien direkt verändert bzw. abgebaut werden
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Teil II · Experimentelle Grundlagen
3
⊡ Abb. 3.10. Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines Biofilms von Staphylococcus epidermidis auf einer Ti-6Al-4V-Oberfläche
weshalb eine komplette Eradikation der adhärenten Bakterien regelmäßig scheitert. Eine antiinfektiöse Implantatoberfläche könnte somit durch zusätzliche Wirkung vom Implantat aus eine sinnvolle Weiterentwicklung zur Infektprophylaxe darstellen. Oberflächenbeschichtungen bringen außerdem den Vorteil mit sich, dass eine Optimierung der Grenzfläche zwischen Implantat und Organismus erreicht werden kann, ohne die bestehenden Eigenschaften des zugrunde liegenden Implantats zu verändern. Ein weiterer Vorteil ist die mögliche Verwendung der Beschichtung als Wirkstoffträger, wodurch zum einen Reoperationen zur Entfernung erschöpfter Wirkstoffdepots vermieden werden, zum anderen lokal hohe Wirkstoffkonzentrationen ohne systemische Toxizität erreicht werden.
Infektprophylaxe und Biokompatibilität Eine Implantatinfektion kann zum Versagen der ossären Integration und zur Lockerung des Implantats führen. Ebenso beeinflusst die knöcherne Integration die Infektresistenz des Implantats, fest integrierte Implantate erweisen sich als signifikant infektionsresistenter. Des Weiteren ist die Biokompatibilität des Implantats von entscheidender Bedeutung für die Leistungsfähigkeit der periimplantären Immunantwort. Verschiedene Autoren konnten nachweisen, dass die Primärantwort des Immunsystems gegen das eingebrachte Implantat große
Bedeutung für die Sekundärantwort gegenüber möglichen Infektionserregern besitzt. So reagieren Abwehrzellen nach Kontakt mit einem Biomaterial mit einer erhöhten Abwehrreaktivität und Exozytose von leukozytären Granula [3]. Charakteristisch hierfür ist die von Gristina beschriebene periimplantäre »immuno-incompetent fibroinflammatory zone« mit einer durch den Fremdkörper bedingten chronischen Entzündungsreaktion. Die dadurch verursachte Erschöpfung des Immunsystems resultiert in einer insuffizienten Sekundärantwort gegen Bakterien [4]. Zimmerli et al. konnten beispielsweise zeigen, dass polymorphkernige neutrophile Granulozyten aus dem periimplantären Gewebe eine signifikant geringere Fähigkeit zur Peroxidbildung auf verschiedene Stimuli besitzen als Zellen der Kontrolle aus Exsudat oder Blut. Des Weiteren zeigten die Abwehrzellen aus dem periimplantären Gewebe neben einer signifikant reduzierten Menge an Myeloperoxidase, β-Glukuronidase, Lysozym und B12-Bindungsprotein eine verminderte Stimulierbarkeit der B12-Bindungsproteinsekretion sowie erniedrigte Ingestionsraten opsonierter Partikel [3]. In weiteren Arbeiten konnte diese verminderte bakterizide Aktivität mit Reduktion des oxidativen Metabolismus und der granulären Enzyme in vivo bestätigt werden [5]. In diesem Zusammenhang sei – neben der primären Biokompatibilität des Implantats – die besondere Bedeutung der immundefizienten Wirkung von Abriebpartikeln erwähnt und auf die weiterführende Literatur verwiesen (z. B. [6]). Die Biokompatibilität spielt somit für die Entwicklung einer antibakteriellen Oberfläche eine entscheidende Rolle und muss deshalb von Beginn an beachtet werden. So konnten Pommer et al. zeigen, dass eine biokompatible Beschichtung von Fixateur-externe-Pins mit Hydroxylapatit neben einer verbesserten Integration zugleich zu einer Reduktion der Infektionsrate führen kann [7]. Die allermeisten Entwicklungen antiinfektiöser Oberflächen stammen aus der Anwendung kardiovaskulärer und urologischer Implantate. Studien zu antiinfektiösen Maßnahmen in Orthopädie und Unfallchirurgie sind dem gegenüber selten, häufig nicht standardisiert und meist mit geringer Power ohne sicheren Wirksamkeitsnachweis. Größtes Hindernis ist dabei die relativ geringe Infektionsrate der orthopädischen und traumatologischen Implantate, weshalb für konfirmatorische Studien extrem große Patientenkollektive erforderlich sind. Soll beispielsweise eine Absenkung der Infektrate bei Hüft-TEPs von insgesamt 2% auf 1% mit einer statistischen Power von
65 Kapitel 3.2 · Oberflächenbeschichtung: Antiinfektiöse Oberflächenbeschichtung
80% nachgewiesen werden, so werden dafür mehr als 5000 Studienpatienten benötigt. Bei einer Absenkung der Infektrate von 2% auf lediglich 1,5% steigt die erforderliche Fallzahl bereits auf über 22.000 an [8]. Dies ist auch einer der wesentlichen Gründe dafür, dass sich präventive Verfahren wie die Reinraumtechniken nur verzögert durchsetzen.
Antiinfektiöse Oberflächenbeschichtungen Prinzipiell muss bei antiinfektiösen Oberflächenbeschichtungen unterschieden werden zwischen antiadhäsiven Oberflächen, die die initiale Adhärenz der Bakterien verhindern, und antibakteriellen Oberflächen, die das Wachstum anhaftender Bakterien reduzieren. Sowohl bei antiadhäsiven als auch bei antibakteriellen Oberflächen darf dabei die notwendige ossäre Integration nicht außer Acht gelassen werden.
Antiinfektiöse Oberflächenbeschichtungen: antiadhäsiv Verschiedene Materialeigenschaften sind für die Adhärenz von Mikroorganismen und körpereigenen Zellen an Biomaterialien verantwortlich. Dies sind insbesondere die Oberflächentopographie und die freie Oberflächenenergie (»surface free energy«). Eine glatte und somit möglichst kleine dreidimensionale Oberfläche reduziert die Anhaftungsmöglichkeiten für Mikroorganismen und reduziert dadurch das Infektionsrisiko. Physikalische und chemische Verfahren wie das Elektropolieren werden deshalb zur Oberflächenoptimierung eingesetzt. Im Gegensatz hierzu sind jedoch Oberflächenvergrößerungen zur besseren zellulären Anhaftung und stabilen ossären Integration günstig, was zwangsläufig wieder eine gesteigerte Möglichkeit der bakteriellen Adhäsion mit sich bringt. Bei der Beurteilung der freien Oberflächenenergie ist zu beachten, dass Biomaterialien im Organismus unmittelbar nach der Implantation von einer Proteinschicht überzogen werden (»conditioning film«), wodurch sich die Oberflächencharakteristik signifikant verändern kann. Wie artifizielle Oberflächen besitzen auch Bakterien eine definierte Oberflächenenergie. Daraus ergibt sich eine gewisse Präferenz des jeweiligen Bakterienstammes zu bestimmten Materialien. Antiadhäsive Oberflächen
3.2
sind deshalb meist mit »unpassenden«, extrem hydrophoben oder extrem hydrophilen Oberflächen ausgestattet. Diese extrem geladenen Oberflächen minimieren neben der bakteriellen Adhäsion auch die Zell- und Proteinadsorption, und werden deshalb klinisch vorzugsweise intravaskulär in Blut- und Harnwegen auf Kathetern und Stents eingesetzt. Intravaskulär ist die Hemmung der Protein- und Zelladhäsion ein wünschenswerter Effekt zur Minimierung des Thrombose- und Stenoserisikos, während im Gegensatz dazu bei intraossären Implantaten eine verbesserte Protein- und Zelladhäsion zur Implantatintegration angestrebt wird. Klinische Erfahrungen mit antiadhäsiven Oberflächen bestehen im Bereich der Orthopädie auf Grund der o. g. Überlegungen bisher noch nicht. Im Infektmodell am Hamster konnten Nakamoto und Mitarbeiter zwar signifikant geringere Bakterienmengen auf heparin- und urokinasebeschichteten Stahldrähten nachweisen [9]. Limitierend muss hier jedoch angeführt werden, dass die Kontamination der Implantate nicht in vivo, sondern bereits vor Implantation stattfand, und dass die Stahldrähte subkutan implantiert wurden und somit die Ergebnisse nicht auf den Knochen übertragbar sind.
Antiinfektiöse Oberflächenbeschichtungen: antibakteriell Auf Grund der beschriebenen Interferenzen zwischen antiadhäsiven Eigenschaften und der angestrebten ossären Integration scheinen bakterizide Oberflächen für orthopädische und traumatologische Implantate überlegen. Für Endoprothesen und andere orthopädische Implantate sind bisher noch keine antiinfektiösen Oberflächen etabliert, jedoch befinden sich derzeit verschiedene antibakterielle Oberflächenbeschichtungen in der (prä-) klinischen Entwicklung. Die eingesetzten Beschichtungen bestehen zum Teil direkt aus dem antibakteriellen Wirkstoff, andere sind Kombinationen aus Wirkstoff und Wirkstoffträger. Dabei unterscheidet man aufgrund der wirksamen Substanzen zwischen Oberflächenbeschichtungen mit Antibiotika, Antiseptika und antibakteriell wirksamen Metallen. Antiseptikabeschichtungen Von Darouiche und Mitarbeitern wurde eine antiseptikahaltige Beschichtung für Marknägel beschrieben und am Tiermodell getestet [10, 11]. Das auf der Oberfläche
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Teil II · Experimentelle Grundlagen
fixierte Antiseptikum Chlorhexidin reduzierte die Infektionsrate im Tiermodell signifikant, Langzeitbiokompatibilität und Wirkung auf Immunsystem und Knochenlager sind jedoch bisher noch unklar. Eine ähnliche antiseptische Oberflächenbeschichtung wurde von De Jong et al. für die Anwendung auf Fixateur-externe-Pins entwickelt und ebenfalls im Tiermodell mit antibakteriellem Erfolg getestet [12]. Dabei wurden die Pins mit mehreren Schichten chlorhexidinhaltigem Hydroxylapatit beschichtet. Das Einwachsverhalten der Chlorhexidinbeschichtung ist jedoch noch nicht geklärt und auch hier fehlen längerfristige Ergebnisse. Antibiotikabeschichtungen Während für zentralvenöse Katheter, Herzklappen und urologische Implantate bereits antibiotikahaltige Oberflächenbeschichtungen zur Infektprophylaxe entwickelt und in größeren klinischen Studien, v. a. mit Rifampicin und Minocyclin erfolgreich getestet wurden, befinden sich orthopädische Anwendungen noch in der präklinischen Entwicklung. Eine Erfolg versprechende Oberflächenmodifikation ist dabei die Ausstattung einer biodegradierbaren Polymerbeschichtung auf Basis von Poly-D,L-Laktid (PDLLA) mit Gentamicin und anderen Antibiotika. Eine signifikante antibakterielle Wirksamkeit gegen verschiedene Staphylokokkenstämme konnte dabei sowohl in vitro [13] als auch in vivo [14, 16] nachgewiesen werden. Innerhalb der ersten Stunden werden aus der degradierbaren PDLLA-Beschichtung bereits wesentliche antibakteriell wirksame Mengen an Antibiotika freigesetzt, gefolgt von einer langsamen und kontinuierlichen Freisetzung über mehrere Wochen zum Erhalt des Wirkstoffspiegels im Gewebe. Neben der hoch signifikanten Reduktion des Bakterienwachstums in vitro konnte die antiinfektiöse Wirkung an einem neuetablierten Infektmodell der Ratte in vivo bestätigt werden [14–16]. Sowohl in der radiologischen Untersuchung (⊡ Abb. 3.11) als auch in der Histologie zeigte sich eine Reduktion der infektiösen Knochendestruktion nach lokaler Gentamicin-Applikation. Mikrobiologische Analysen konnten dies auf Grund einer deutlichen Minderung der Keimzahl im Knochen und am Implantat unterstützen. Die Erfolg versprechenden Ergebnisse der tierexperimentellen Untersuchungen waren Anlass, diese Technologie auf die humane Implantation Gentamicin-beschichteter Marknägel in besonders kritischen Situationen zu übertragen. Erste beschichtete Tibiamarknägel (UTN
a
b
c
⊡ Abb. 3.11a–c. Radiologische Aufnahmen 28 Tage nach Inokulation von 102 koloniebildenden Einheiten (Staphylococcus aureus) und Implantation von a unbeschichteten, b PDLLA-beschichteten und c Gentamicin-beschichteten Kirschner-Drähten. Durch die lokale Gentamicin-Gabe kommt es zu einer Reduktion der infektiösen Knochendestruktion. (Mit freundlicher Genehmigung von G. Schmidmaier u. M. Lucke, nach [16])
Protect, Synthes) wurden bei Patienten mit komplizierten offenen Unterschenkelbrüchen implantiert. Die Indikation zur Implantation antibiotikabeschichteter Nägel stellt sich insbesondere bei drittgradig offenen Frakturen, da diese ein bis zu 30% höheres Risiko zur Entwicklung einer Osteomyelitis im Vergleich zu Patienten mit geschlossenen Frakturen aufweisen. Eine weitere Indikation sind Reosteosynthesen, da auch hier bekannt ist, dass es vermehrt zu Knocheninfektionen kommt. Limitierend gilt jedoch für antibiotikahaltige Oberflächen, dass gerade bei Revisionsoperationen und septischen Prothesenwechseln ständig steigende Infektionsraten mit antibiotikaresistenten Bakterien zu beobachten sind. Bis zu 45% der Staphylococcus-aureus- und sogar bis zu 85% der Staphylococcus-epidermidis-Stämme von implantatassoziierten Infektionen wurden bereits als Methicillin-resistent eingestuft [17]. Der Einsatz von Antibiotika muss auf Grund der sich rasch verändernden Resistenzlage deshalb gerade bei Revisionsoperationen gezielt und wohl überlegt erfolgen.
67 Kapitel 3.2 · Oberflächenbeschichtung: Antiinfektiöse Oberflächenbeschichtung
Antibakterielle Metalle Antibakterielle Metalle, v. a. Silber, Kupfer und Zink werden bereits seit Jahrhunderten zur Abtötung von Mikroorganismen und zur Prophylaxe von Infektionen eingesetzt. Wie bei den antiadhäsiven und antibiotikahaltigen Oberflächen stammen auch bei Silber die ersten antibakteriellen Oberflächen aus der Entwicklung intravaskulärer Katheter. In Orthopädie und Unfallchirurgie wurden silberhaltige Oberflächenbeschichtungen v. a. für Fixateur-externe-Pins untersucht. Während im Infektmodell am Schaf nach einer relativ kurzen Studienzeit von zweieinhalb Wochen noch Vorteile für die silberbeschichteten Pins dokumentiert wurden [18], zeigten sich in den durchgeführten Humanstudien gegenteilige Ergebnisse. Auf Grund signifikant erhöhter Silberspiegel im Serum ohne Nachweis einer antibakteriellen Wirkung mussten zwei klinische Studien mit silberbeschichteten Fixateur-externe-Pins und Herzklappen aus ethischen Gründen abgebrochen werden [19, 20]. Gosheger et al. berichteten von einer silberbeschichteten Megaendoprothese, die im Infektmodell am Kaninchen mit Staphylococcus aureus eine Reduktion der Infektrate von 47 auf 7% ermöglichte [21]. Dabei wurden jedoch lediglich die Oberflächen beschichtet, die nicht in Knochen implantiert wurden. Ein Schutz der Oberflächen am Implantat-Knochen-Interface ist somit nicht zu erwarten. Auch zeigte sich eine signifikante Erhöhung des Serumsilberspiegels und des Organsilberspiegels. Der Einsatz silberbeschichteter Implantate muss somit weiter kritisch diskutiert werden, insbesondere ist die Toxizität der Beschichtungen im Knochenlager als limitierender Faktor zu werten. Die Kombination antibakterieller und biokompatibler Eigenschaften wird von Gollwitzer, Heidenau und Mitarbeitern in der Entwicklung einer antiinfektiösen Titanoxidbeschichtung angestrebt. Grundlage ist eine gewebefreundliche Sol-Gel-Tauchbeschichtung auf Basis von Titanoxid, in die verschiedene antibakterielle Wirkstoffe eingearbeitet werden können. Unter Beachtung der konzentrationsabhängigen Zytotoxizität untersuchter Metallionen zeigte Kupfer im Zellversuch die günstigsten Ergebnisse, während andere Metalle wie Silber, Zink und Quecksilber ihre antibakterielle Wirkung nur bei ausgeprägt zytotoxischen Konzentrationen erreichten. Nach homogener Integration der Kupferionen in die Oberflächenbeschichtung konnte in vitro eine ausgezeichnete antibakterielle Wirksamkeit der Kupfer-Titanoxid-Ober-
3.2
fläche bei gleichzeitig guter Zytokompatibilität bestätigt werden [22, 23]. Die weiterführenden Untersuchungen in vivo stehen noch aus.
Zukünftige Technologien und Ausblick Neben den erwähnten, »etablierten« und bereits nahe an der klinischen Anwendung stehenden Technologien gibt es noch diverse alternative experimentelle Ansätze. Vielversprechend wird die Beeinflussung der Kommunikation von Bakterien im Biofilm, dem so genannten »quorum sensing«, diskutiert. Es konnte gezeigt werden, dass diverse Abwehr-, Resistenz- und Wachstumsprozesse der Bakterien über Informationsaustausch im Biofilm gesteuert werden. Eine Unterbrechung dieser Mechanismen durch Quorum-sensing-Inhibitoren könnte die Empfindlichkeit der sessilen Bakterien erhöhen und eine Biofilmprophylaxe oder sogar eine Antibiofilmtherapie ermöglichen. Die Kombination von Biomaterialien mit Immunmodulatoren bzw. Komponenten der Immunabwehr gilt ebenfalls als viel versprechender Ansatz zur antibakteriellen Oberflächenmodifikation. Etienne et al. erforschen dabei den Einsatz von Defensin, einem antimikrobiellen Peptid der Anopheles gambiae Mücke und konnten in vitro bereits erste Erfolge verzeichnen [24]. Auch der Einsatz von Stickoxiden als antibakterielle Wirkstoffe wird an Oberflächenbeschichtungen untersucht. Gerade bei immunologisch aktiven Substanzen kann jedoch die Invivo-Wirksamkeit nicht sicher vorhergesagt werden. Antiinfektiöse Oberflächen können trotz der viel versprechenden Ergebnisse nur als weiterer Baustein in der Infektionsprophylaxe gesehen werden und bisherige Maßnahmen nicht ersetzen. Eine konsequente Infekttherapie vor Implantation des Biomaterials bleibt ebenso notwendige Grundforderung wie die konsequente Einhaltung aller anderen Parameter der Infektionsprophylaxe. Antiinfektiöse Oberflächenbeschichtungen könnten jedoch die Infektionsrate im infektgefährdeten Implantatlager herabsetzen. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Beachtung der Biokompatibilität, um die sichere ossäre Integration als wesentlichen Schutz vor Infektionen nicht zu gefährden. Auf Grund der zunehmenden Häufigkeit antibiotikaresistenter Bakterien besteht die Notwendigkeit der Entwicklung antibakterieller Oberflächen mit Breitspektrumwirkung gegen resistente Infektionserreger.
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Literatur
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3.3 Oberflächenbeschichtung Bioaktive Oberflächenbeschichtung G. Schmidmaier, B. Wildemann
Zusammenfassung Das vorliegende Kapitel beschreibt Grundlagen sowie experimentelle und klinische Studien zur Oberflächenmodifikation von Implantaten mit dem Ziel, die Integration in den Knochen zu verbessern.
Einleitung Implantate zur Versorgung von Knochen- und Gelenkdefekten sind in der Mehrzahl aus Metall. Trotz der Weiterentwicklung im Bereich der Metallurgie stellen diese Biomaterialien im Organismus einen Fremdkörper dar, dessen ossäre Integration bei insgesamt guter Bioverträglichkeit der Implantate immer noch ein Problem ist. Zur Verbesserung der Oberflächeneigenschaften von metallischen Implantaten werden daher seit Jahren verschiedene Möglichkeiten untersucht. Hierzu gehört die Modifikation der Oberflächenstruktur und -eigenschaft, die in verschiedenen Studien zu einer verbesserten Osteointegration von Implantaten geführt und bereits breite klinische Anwendung in der orthopädischen Chirurgie gefunden hat.
Strukturen oder chemische Zusammensetzungen erreicht werden sollen. Die extrazelluläre Matrix von Knochen besteht zu 65% aus nichtorganischen und zu 35% aus organischen Anteilen. Die nichtorganischen Anteile setzen sich hauptsächlich aus Kalzium und Phosphat als Hydroxylapatit zusammen [1]. Die Beschichtung von metallischen Implantaten mit Hydroxylapatit oder Kalziumphosphat konnte in zahlreichen Studien eine Verbesserung der Implantateinheilung zeigen (⊡ Abb. 3.12) [2–4] und ist seit Jahrzehnten im klinischen Einsatz in der Endoprothetik. Der Hauptbestandteil der organischen Knochenmatrix ist das Kollagen. Durch die Beschichtung von Metallen mit Kollagen, soll das Anwachsen von Zellen und somit ebenfalls die Osteointegration verbessert werden [5].
Biomimetische Oberflächen Unter Biomimetik versteht man im Allgemeinen die Nachahmung von biologischen Prozessen und Strukturen. Bei Implantaten bedeutet dies, dass durch Oberflächenmodifikationen von Metallen knochenähnliche
⊡ Abb. 3.12. Ergebnisse zur Implantateinheilung in Rattenfemura 2 Monate nach Implantation. Dargestellt ist die initiale Kraft zum Herausdrücken von Implantaten mit verschiedenen Oberflächen. Die benötigte Push-out-Kraft ist bei den HAP-beschichteten Implantaten signifikant höher im Vergleich zur Titangruppe [4]
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Teil II · Experimentelle Grundlagen
Die Zelladhäsion wird durch Proteinstrukturen in der extrazellulären Matrix vermittelt. Das Tripeptid Arg-GlyAsp (auch RGD-Peptid genannt) gilt als universelle Erkennungs- und Bindungssequenz von Adhäsionsproteinen bei Zell-Zell- und Zell-Matrix-Kontakten. Daher ist die Beschichtung von Oberflächen eine vielversprechende Methode zur Verbesserung der Zelladhäsion [6]. Jedoch sind die in der Literatur beschriebenen Ergebnisse zur Verbesserung der Knocheneinheilung mit RGDs widersprüchlich [7, 8] All die genannten Modifikationen basieren auf dem Prinzip der Osteokonduktion, worunter die Eigenschaft eines Materials verstanden wird, Zellen als Leitstruktur zur Adhäsion und Knochenapposition zu dienen. Neben dieser passiven Eigenschaft könnte durch das Einbringen osteoinduktiver Faktoren die Oberfläche »aktiviert« und eine migratorische und differenzierende Wirkung auf Zellen ausgelöst werden (Osteoinduktion).
Bioaktive Substanzen Es ist inzwischen allgemein anerkannt, dass es möglich ist, die Knochenheilung durch osteoinduktive Faktoren positiv zu beeinflussen [9–14] (s. auch Kap. 2.2). Ein Problem stellt jedoch die lokale und effektive Applikation der Faktoren am Wirkort dar. Osteoinduktive Faktoren, wie Wachstumsfaktoren, haben im Organismus eine sehr kurze Halbwertszeit [15, 16] und sind nicht spezifisch für Zellen des Knochenmetabolismus. Dies kann konzentrationsabhängig zu unerwünschten Nebenwirkungen führen. Bei systemisch appliziertem IGF-I können neben Elektrolytverschiebungen auch Veränderungen der Serumkonzentrationen von Insulin und Wachstumshormon auftreten. Weiter sind Hypoglykämie, Hypokaliämie, Konvulsionen, Pseudotumor cerebri, Papillenödem, Fazialisparesen, Parotisschwellung, Tachykardie, vorübergehend veränderte Leber-Funktions-Tests, Anti-IGF-I-Antikörper, Haarausfall und vermehrt Infektionen des oberen Respirationstraktes beschrieben [17–19]. Die Möglichkeit, TGFβ1 systemisch zu verabreichen, ist auf Grund von dessen immunsuppressiver Wirkungen stark eingeschränkt [13]. Die hochdosierte, systemische Applikation von rh-TGF-β1 erzeugt bei Ratten ein Spektrum an Läsionen in zahlreichen Zielgeweben des Organismus sowie im Bereich der Injektionsstellen an Venen und Muskelgewebe [20]. Daher muss eine geeignete Applikationsform entwickelt werden, die eine optimale Wirkung der Faktoren gewährleistet und das Risiko von Nebenwirkungen minimiert.
Applikationsformen In experimentellen Studien wurden Faktoren entweder systemisch, durch Injektionen und Katheter, oder lokal, mittels osmotischer Minipumpen und subperiostaler Injektionen, verabreicht [21–26]. Bei der lokalen Injektion von TGF-β ist im Bereich der Einstichstelle eine ausgeprägte Ödembildung zu beobachten [27] und mit jeder Injektion wird zudem ein Minitrauma erzeugt, das den Heilungsprozess stören und eine Eintrittspforte für Keime darstellen kann. Eine weitere Möglichkeit der lokalen Applikation besteht daneben in der Einarbeitung der Wachstumsfaktoren in Trägermaterialien wie Kollagenschwämmen, Gelen und Membranen, die operativ direkt an den Wirkort gebracht werden [28, 29]. Obwohl hier Effekte der Faktoren auf Knochengewebe und -stoffwechsel nachweisbar sind, erscheinen diese Methoden für die klinische Anwendung unpraktikabel. Externe Pumpen, Katheter oder direkt vor Ort platzierte Trägermaterialien erfordern zum einen die Einbringung weiteren Fremdmaterials und bergen die Gefahr von Infektionen. Letztere können durch sekundäre Dislokationen, zusätzliche Folgeeingriffe erforderlich machen. Dislozierte oder fehlerhaft eingebrachte Kollagenschwämme mit Wachstumsfaktoren können zu einer Knochenbildung im umliegenden Weichgewebe führen. Darüber hinaus bestehen Kollagenschwämme teilweise aus bovinem Material, das im Körper als Fremdeiweiß zu allergischen Reaktionen führen kann [30]. Für den klinischen lokalen Einsatz sind derzeit die Wachstumsfaktoren BMP-2 und BMP-7 zugelassen.
Anforderungen an lokale Applikationssysteme Da die systemische Applikation der Faktoren zahlreiche Probleme mit sich bringt, müssen bioaktive Wachstumsfaktoren lokal und kontrolliert angewendet werden. Hierbei sollte es vermieden werden, zusätzlichen Fremdkörper in den Organismus einzubringen. Applikationssysteme sollten die Freisetzung der Faktoren optimal gewährleisten sowie deren biologische Aktivität sicherstellen. Im Idealfall sind sie bioresorbierbar [31, 32]. Um Immunreaktionen, Toxizität und Nebenwirkungen zu reduzieren, ist die Biokompatibilität eine weitere essentielle Anforderung an das Trägermaterial. Die Knochenbildung darf weder durch eine hervorgerufene Fremdkörperreaktion noch durch
71 Kapitel 3.3 · Oberflächenbeschichtung: Bioaktive Oberflächenbeschichtung
3.3
physikalische Blockierung auf Grund unvollständigen Abbaus des Trägermaterials beeinträchtigt werden. Es ist erforderlich, dass die Faktoren kontinuierlich und kontrolliert freigesetzt werden, da sie ansonsten resorbiert würden, ehe sie ihre Wirkungen entfalten könnten [33]. Eine hohe Benutzerfreundlichkeit und leichte Handhabung für den Operateur sind anzustreben. Zudem sollte die Applikation der Wirkstoffe auch indirekt bei geschlossenen Frakturen oder im Bereich der Implantologie möglich sein.
Drug-Delivery-System (DDS) Die Kombination eines Implantats mit einem »DrugDelivery-System« (DDS) würde eine optimale Lösung zur Stabilisierung der Fraktur oder Protheseneinheilung mit lokaler Stimulation der Knochenheilung und ossärer Integration darstellen. Als Drug-Delivery-System könnte eine resorbierbare Beschichtung von Biomaterialien dienen. Diese Beschichtung muss fest auf der Oberfläche des Implantats haften, um den Einbringungsprozess unbeschadet zu überstehen. Die in die Beschichtung eingearbeitete Menge und die Freisetzung der Faktoren kann durch die direkte lokale Applikation gering gehalten werden. So werden hohe lokale Konzentrationen, bei geringer systemischer Belastung, direkt am gewünschten Wirkort erreicht. Als Substanzen für die Beschichtung von Osteosynthesematerialien und Implantaten zur lokalen Wirkstofffreisetzung werden derzeit verschiedene Materialien untersucht. Zu ihnen zählen: Kalziumphosphat, Hydroxylapatit, Heparin und Polymere [34–39]. Zellkulturstudien konnten zeigen, dass Bisphosphonate eingearbeitet in Hydroxylapatit, die DNA-, Protein- und Kollagensynthese von Osteoblasten stimulieren [40] und die Implantateinheilung verbessern [34]. Die Freisetzung von BMP-2 aus einem biphasischen Kalziumphosphat bewirkt die De-novo-Knochenformation in nichtskelettalem Gewebe in einem Rattenmodell [41]. Auch eine Kalziumphosphatbeschichtung kann als Modifikation für metallische Implantate und DDS dienen. Liu et al. zeigen eine dosisabhängige Einlagerung von BMP-2 in die Kalziumphosphatbeschichtung, wobei die biologische Aktivität des Wachstumsfaktors erhalten bleibt [35]. Aber auch synthetische Materialien wie Polymere werden als lokale Drug-Delivery-Systeme erprobt.
⊡ Abb. 3.13. Zyklische Monomere
»Platelet-derived growth factor-BB« (PDGF-BB) wurde zur Verbesserung der gelenkten Gewebeneubildung in Poly(L-Laktid) Membranen eingearbeitet [42, 43]. Bei einigen dieser Materialien konnten Rückstände des Trägermaterials nachgewiesen werden, die eine chronische Entzündungsreaktion hervorrufen und die Osteoinduktion hemmen können [44]. Biomaterialien auf der Basis von Laktid, Glykolid (⊡ Abb. 3.13) und ihrer (Co-)Polymere, ermöglichen eine genaue Dosierung und Kombination der Wirksubstanzen sowie deren gleichzeitige oder zeitlich versetzte Freisetzung [45–48]. Die Freisetzung von Wirksubstanzen wird auch durch das Abbauverhalten von Polymeren beeinflusst. Die Biodegradation von Polymeren ist mikrostrukturell abhängig von der chemischen Zusammensetzung, der Kristallinität und dem Molekulargewicht, makrostrukturell von der Geometrie und Größe des Implantats und außerdem noch von Umgebungsfaktoren wie Temperatur, Milieu, Wasserdampfdruck und Implantatbett [49]. Der Abbau erfolgt hauptsächlich durch zwei Mechanismen: den Oberflächenabbau (Surface-Erosion) und dem Abbau der Masse (Bulk-Erosion) [50]. Für die Verwendung als Drug-Delivery-System ist die Freisetzungskinetik der Wirksubstanz von großer Bedeutung. Es werden drei Hauptmechanismen der Freisetzung unterschieden [51]: 1. Diffusion, 2. Polymerquellung gefolgt von einer schnellen diffusionskontrollierten Freisetzung, 3. Polymerabbau.
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Teil II · Experimentelle Grundlagen
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⊡ Abb. 3.14. Schematische Darstellung der Substanzfreisetzung aus einem Matrix-Delivery-System. Mit Zunahme der Zeit verlangsamt sich die Freisetzung, da die Wegstrecke für die Substanz länger wird
Die drei Prozesse erfolgen teils parallel und in Abhängigkeit der Polymereigenschaften. In ⊡ Abb. 3.14 ist die Substanzfreisetzung schematisch dargestellt. Anfangs kommt es zu einer raschen Freisetzung aus der oberen Schicht des Polymers. Mit der Zeit verlangsamt sich die Freisetzung, da die Substanz aus tiefen Schichten eine längere Wegstrecke hat.
Poly(D,L-Laktid) (PDLLA) Bereits 1960 wurde Polylaktid als biodegradierbares Material für chirurgische Implantate entwickelt. Das Trägermaterial Poly(D,L-Laktid) (PDLLA) ist ein inertes, amorphes PLA-Stereo-Co-Polymer, das durch Hydrolyse zu Laktidsäure biodegradiert und letztlich als Kohlendioxid und Wasser ausgeschieden wird. Nach der Metabolisierung können weder in Fäzes noch im Urin toxische Metabolite des Laktids nachgewiesen werden [52]. In vitro behält PDLLA, im Verlauf von bis zu 25 Wochen, nahezu 100% seiner Stabilität bei und kann, abhängig von der Menge, in vivo innerhalb eines Jahres vollständig degradiert werden. Das Laktid zeichnet sich durch seine gute Biokompatibilität aus [53, 54]. Osteosynthesematerialien können ohne Veränderungen des Materialdesigns mit PDLLA als Drug-Delivery-System für Wachstumsfaktoren beschichtet werden, sodass kein zusätzliches Fremdkörpermaterial als Träger eingesetzt werden muss. Die Schichtdicke auf metallischen Implantaten beträgt ca. 10 µm und weist eine hohe mechanische Stabilität auf, die einer intramedullären Implantation zu über 96% standhält [38] und ebenso über eine ausgezeichnete Bruchdehnung verfügt [55].
Die osteoinduktiven Faktoren lassen sich in einem kalten Beschichtungsverfahren einarbeiten, ohne ihre biologische Aktivität zu verlieren. Lagerungsversuche zeigen, dass es bei einer Lagerung der beschichteten Implantate über 14 Monate zu keinem Verlust der biologischen Aktivität der eingearbeiteten Substanzen kommt [56]. In der Beschichtung sind sie als feine Suspension verteilt und werden vor allem durch Diffusions- und Erosionsvorgänge freigesetzt [51]. In-vitro und In-vivo-Versuche zeigen, dass die eingearbeiteten Substanzen nach einem initialen Peak von ca. 50% in den ersten 42 Stunden in den folgenden 40 Tagen kontinuierlich bis zu 80% freigesetzt werden.
Experimentelle Anwendung einer PDLLA Beschichtung mit Wachstumsfaktoren Um die Wirkung der lokalen Applikation von Wachstumsfaktoren in vivo zu untersuchen, wurden tierexperimentelle Studien am Klein- und Großtiermodell durchgeführt. Die Wachstumsfaktoren IGF-I, TGF-β1 und BMP-2 wurden alleine oder in Kombination in die Beschichtung von Implantaten zur intramedullären Stabilisation eingearbeitet und die Knochenheilung zu verschiedenen Zeitpunkten anhand radiologischer, biomechanischer und histologischer Methoden ausgewertet. Es zeigt sich sowohl im Ratten- als auch im Schweinemodell eine beschleunigte Knochenheilung durch die lokale Applikation der Wachstumsfaktoren (⊡ Abb. 3.15) [57–60]. Die kombinierte Gabe der Wachstumsfaktoren IGF-I und TGF-β1 wirkt synergistisch auf die Knochenheilung bei der Ratte [59]. Langzeituntersuchungen verdeutlichen die Beschleunigung der Heilung durch die Wachstumsfaktoren in der frühen Phase ohne Änderung der physiologischen Heilungsabläufe und ein vergleichbares Remodeling des Kallus in der späten Phase [61]. Des Weiteren zeigen sich keine vermehrten Fremdkörperreaktionen oder Resorptionslakunen durch die Beschichtung, wodurch auf eine gute Biokompatibilität geschlossen werden kann [54]. Zusammen mit der Untersuchung der systemischen Parameter, die keine Änderungen durch die lokale Wachstumsfaktorenapplikation zeigen, verdeutlichen die Studien, dass diese Applikationsmethode von Wachstumsfaktoren die Heilung beschleunigt, ohne die physiologischen Abläufe zu beeinflussen. Die Kombination von biomechanisch etablierten Implantatsystemen mit bioaktiven Oberflächenbeschichtun-
73 Kapitel 3.3 · Oberflächenbeschichtung: Bioaktive Oberflächenbeschichtung
⊡ Abb. 3.15. Röntgenbilder 28 Tage nach Osteotomie und Stabilisation mit unbeschichteten, PDLLA-beschichteten und IGF-I- und TGFβ1-beschichteten Marknägeln [60]. Durch die lokale Applikation der Wachstumsfaktoren kommt es zur vollständigen Überbrückung der Osteotomiespalts
gen könnte die Komplikationsrate in der orthopädischen und unfallchirurgischen Chirurgie weiter senken. Eine Kombination verschiedener Wirkstoffe in Beschichtungen zur Anwendung maßgeschneiderter Oberflächen erscheint ebenfalls möglich. Vor einer breiten Anwendung dieser Technologien, sind jedoch weitere klinische Studien notwendig.
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3
Teil II · Experimentelle Grundlagen
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4 Metallimplantatallergie P. Thomas, B. Summer
Zusammenfassung Nickel, Chrom und Kobalt sind klassische Auslöser kutaner Kontaktallergien. Metallimplantatassoziierte allergische Reaktionen können als lokale oder disseminierte Ekzeme, Wundheilungsstörungen, Urtikariaschübe oder möglicherweise als Implantatlockerung auftreten. Allerdings scheinen diese Reaktionen im Vergleich zu den kutanen Sensibilisierungsraten selten. Zur Abklärung dienen Anamnese, Epikutantest und Analyse von periimplantärem Gewebe. Der Lymphozytentransformationstest bleibt aufgrund der schwierigen Relevanzbewertung umstritten. Eine erweiterte Datensammlung zu Patienten mit allergiebedingter Implantatunverträglichkeit soll zusammen mit Untersuchungen zu Mechanismen der periimplantären Unverträglichkeitsreaktion die Grundlage für weiterführende Empfehlungen liefern.
Metallallergie Nickel, Chrom und Kobalt sind klassische Auslöser kutaner Kontaktallergien. Sensibilisierungsraten der Allgemeinbevölkerung betragen gegenüber Nickel bis zu 10% (bei Betonung des weiblichen Geschlechts) und gegenüber Kobalt und Chrom bis zu 2% [1–4]. Nickel ist weiterhin das häufigste Kontaktallergen beim epikutan getesteten dermatologischen Patientengut (⊡ Tabelle 4.1). Anhand von kutanen Unverträglichkeitsreaktionen gegenüber Metallen wurden Charakteristika der Kontaktallergie schon lange untersucht. Als klinische Bilder der Metallallergie sind
⊡ Tabelle 4.1. »Hitliste« der Kontaktallergene Platz
Allergen
% der Getesteten (n=6346)
1
Nickel (II) – sulfat
15,4
2
Duftstoff-Mix
9,0
3
Perubalsam
8,4
4
Kaliumdichromat
6,8
5
Kobalt (II) – chlorid
6,5
6
Dibromdicyanobutan/2-Phenoxyethanol
5,0
7
Amerchol L-101
5,0
8
Kolophonium
4,8
9
p-Phenylendiamin
4,5
10
Kompositen-Mix
3,1
Gemäß Datenauswertung, 1. Halbjahr 2004, Informationsverbund dermatologischer Kliniken (IVDK)
klassische Kontaktekzeme (oft im Bereich der Hände), aber auch ungewöhnliche Erscheinungsformen wie pseudolymphomartige Schwellungen, nickelinduzierte Cheilitiden und von innen heraus (hämatogen) provozierte Ekzeme zu nennen (z. B. über Nahrungsmittelkontamination) [4–6]. Dass hier eine von T-Lymphozyten getragene Spättyp(Typ-IV-)Reaktion vorliegt, wurde anhand von histologischen Analysen entsprechender Ekzemherde, aber auch über eine In-vitro-Stimulierbarkeit humaner Lymphozyten durch Metallexposition gezeigt [7–10].
76
4
Teil II · Experimentelle Grundlagen
Bei bestehender spezifischer Überempfindlichkeit (»Sensibilisierung«) kann die individuelle Auslöseschwelle für Hautreaktionen sehr unterschiedlich ausfallen. So kann der kurzzeitige, aber häufige Nickelkontakt durch Umgang mit Münzen bereits bei einer Kassiererin ein Handekzem unterhalten. Dies kann im Epikutantest nachvollzogen werden. Auch auf die Haut platzierte Euromünzen zeigen genügend Nickelfreisetzung, um ein lokales Ekzem zu provozieren [11]. Wie aus ⊡ Abb. 4.1 erkennbar wird, ist bei der üblicherweise am Rücken durchgeführten Epikutantestung auch durch aus Euromünzen freigesetztes Nickel eine interindividuell schwankende Ekzeminduktion möglich. Neben unterschiedlichen »Elutionsbedingungen« (Schweißmenge und pH) trifft freigesetztes Nickel auch auf von Person zu Person unterschiedliche Apoptoseschwellen bei mononukleären Zellen (Lymphozyten, Monozyten) [12]. Dieses Phänomen – ähnlich wie die Phänotypänderung antigenpräsentierender (dendriti-
scher) Zellen unter Metallexposition – zeigt ebenfalls die individuell unterschiedlich ausgeprägte Reaktionsbereitschaft gegenüber Metallen [13, 14]. Schließlich können proinflammatorische Reize eine spezifische Sensibilisierung begünstigen. Dazu gehören u. a. das hautirritierende Potential von Substanzen, zusätzliche bakterielle Infekte und Substanzkontakt in Wundflächen (z. B. Ohrlochstechen und Nickelkontakt). Für die kutane Metallkontaktallergie sind somit viele Aspekte hinterfragt und teilweise auch in entsprechenden prophylaktischen Maßnahmen umgesetzt worden [11]. Beispiele hierfür sind Schutzkleidung, Schutzhandschuhe bei beruflichem Umgang mit potentiellen Kontaktallergenen, die Propagierung nickelarmer Metalllegierungen für Ohrschmuck und Piercing und die europäische »Nickel Direktive«. Letztere schreibt vor, dass Gebrauchsgegenstände mit längerem Hautkontakt maximal 0,5 µg/cm2 Nickel pro Woche freisetzen dürfen [15]. Speziell in Skandinavien hat die schon vor Jahren begonnene Umsetzung dieser Maßnahmen bereits zu einem Rückgang der Nickelsensibilisierung in der jüngeren Bevölkerung geführt [16].
Metallimplantate und Immunreaktion Pathophysiologie
⊡ Abb. 4.1. Interindividuell schwankende Reaktion auf freigesetztes Nickel aus Euromünzen bei zwei Nickel-allergischen Personen
Mit dem Einbringen von Implantatmaterialien am Menschen ist neben der anfänglichen Entzündungsreaktion im weiteren Verlauf je nach »Biokompatibilität« der Materialien ein Abklingen der Entzündungsantwort und beispielsweise eine ossäre Integration der Hüft- oder Knietotalendoprothesen die Regel. Allerdings kann bei manchen Personen eine spezifische Überreaktion von Lymphozyten gegen Legierungskomponenten entstehen bzw. es können eingebrachte Metallimplantate bereits auf eine vorbestehende Metallallergie bei den jeweiligen Patienten treffen. Noch wird im Gegensatz zu kutaner Kontaktallergie teils nur vermutet, welche Faktoren eine Metallimplantatallergie bahnen bzw. manifest werden lassen: ▬ Adjuvansfaktoren wie »Low-grade«-Infekt, Induktion vaskulärer Adhäsionsmoleküle durch Nickel- und Kobaltionen, durch Partikelexposition erfolgte Makrophagenaktivierung, mäßiggradige Korrosionsphänomene (unterhalb für Lymphozyten lokal toxischer Werte) [18–20], ▬ Anreicherung von Partikeln in lokalen Lymphknoten [21, 22],
77 Kapitel 4 · Metallimplantatallergie
▬ patienteneigene Faktoren, wie vorbestehende Kontaktallergie oder Neigung zu »TH1-Entzündungsantwort« auf Fremdmaterialien [7]. Eine meist unspezifische Entzündung wird vornehmlich über die partikelinduzierte Makrophagenaktivierung unterhalten. Phagozytose, Enzymfreisetzung und Produktion von Interleukin 1, 6 sowie Prostaglandin E werden besonders unter den Aspekten Osteoklastenaktivierung, Knochenresorption und Gewebeumbau untersucht [18, 20, 23, 24]. Die biologischen Effekte der beim Gelenkersatz auftretenden Abriebpartikel variieren mit deren Größe und Zusammensetzung [25–28]. Makrophagendominierte Fremdkörperreaktionen mit Riesenzellen werden meist durch größere Partikel (speziell Polyethylen) induziert. Makrophagen-Fibroblasten-Interaktion im synovialen Interface führt zu verstärkter Fibrosierungsreaktion. Typisch ist auch die erhöhte Vaskularisierung durch von Monozyten freigesetztem VEGF ("vascular endothelial growth factor"). Unklar ist, ob auch eine alterierte verbliebene Synovialflüssigkeit zu (Lubricin-vermittelter?) Implantatlockerung führen kann. Den bei Metall-Metall-Paarungen eher im Nanometerbereich liegenden Abriebpartikeln wird neben lokal toxischen Effekten auch eine Immunaktivierung zugeschrieben. Dazu gehören die Induktion von vaskulären Adhäsionsstrukturen mit periimplantärer Rekrutierung von Entzündungszellen und die nach Proteinbindung mögliche Antigenwirkung. Auf die Auseinandersetzung auch des spezifischen Immunsystems mit freigesetzten Metallen deuten die von Hallab et al. [29] als erhöht beschriebenen metallspezifischen In-vitro-Lymphozytenantworten bei Endoprothesenträgern. Mögliche systemische Effekte sind auch in Assoziation zu erhöhten Metallspiegeln in Blut und Urin von Endoprothesenträgern denkbar, wurden bisher jedoch nie schlüssig gezeigt [17]. Urban et al. [21] beschrieben anhand von Autopsiebefunden bei Patienten mit Gelenkersatz eine Partikelverteilung in Lymphknoten und inneren Organen wie Leber und Milz. Karzinogene Effekte wurden von Urban jedoch nicht beschrieben – ebenso wenig wie in einer Datenauswertung des skandinavischen Endoprothesenregisters. Anzumerken bleibt, dass Urban und Mitarbeiter auch bei einigen ihrer Kontrollpersonen eine Organpartikelbelastung fanden, so z. B. Goldpartikel nach entsprechender antirheumatischer Therapie oder Rückstände von Bariumkontrasteinläufen.
Klinisches Bild Im Gegensatz zur kutanen Kontaktallergie gibt es praktisch keine Daten über die Epidemiologie metallimplantatassoziierter allergischer Reaktionen. Jedoch beschreiben Kasuistiken und kleine Fallserien typische MetallimplantatallergiePatienten unter dem klinischen Bild von Ekzemreaktionen über Osteosynthesematerialien sowie Knie- oder Hüftendoprothesen, mit dem Bild von Wundheilungsstörungen oder disseminierten Ekzemen [8, 30–34] (⊡ Abb. 4.2). Auch die mögliche Assoziation von aseptischer Lockerung und rezidivierenden lokalen Ergüssen und Schmerzen mit Metallimplantatallergien wird in Betracht gezogen [20, 35]. Schließlich wurden auch Urtikariaschübe nach Metallimplantation [31] sowie Ekzeme und sterile Osteomyelitis nach Stahldraht-Cerclage beschrieben [37, 38]. Vermutlich entsteht nur bei einem kleinen Teil der implantattragenden Patienten eine lokale periimplantäre
⊡ Abb. 4.2. Ekzemreaktion nach Knie-TEP bei einer Nickel-allergischen Patientin
4
78
4
Teil II · Experimentelle Grundlagen
Überempfindlichkeit. Beschrieben wurden hierzu lymphozytär dominierte periimplantäre histopathologische Veränderungen [39] und entsprechende molekularbiologische Entzündungsprofile [30]. Es gibt jedoch auch Berichte [40], wonach selbst Patienten mit bekannter kutaner Nickelkontaktallergie bei Einbringen nickelhaltiger Materialien einen komplikationslosen Verlauf zeigten. Allerdings lässt sich bei metallallergischen Patienten vorab nicht sagen, wer allergiebedingte Unverträglichkeitsreaktionen zeigen wird.
Diagnostik Meist wird der Verdacht auf eine Metallimplantatunverträglichkeit geäußert, wenn differentialdiagnostische Schritte (Infektausschluss, mechanisches Versagen, neurologische Komplikationen u. a.) keine Klärung der Symptome gebracht haben. Als Diagnostikhilfen dienen: ▬ Anamnese, ▬ Epikutantest, ▬ Analyse von periimplantären Gewebe, ▬ Lymphozytentransformationstest. In der Anamnese ist auf Angaben früherer Unverträglichkeitsreaktionen bei Metallkontakt bzw. bei Metallimplantation zu achten sowie auf Assoziation der berichteten Beschwerden und/oder Hauterscheinungen mit der erfolgten Metallimplantation. Der Epikutantest bietet eine standardisierte Methode zum Nachweis einer Typ-IV-Allergie. Dementsprechend gibt es für viele Legierungskomponenten durch die Deutsche Kontaktallergie-Gruppe (DKG) evaluierte Testpräparationen. Eine erweiterte »Implantattestreihe« umfasst auch Knochenzementkomponenten. Es ist allerdings zu vermuten, dass nicht alle periimplantär auftretenden Metallüberempfindlichkeitsreaktionen sich über eine Hauttestreaktion widerspiegeln (und umgekehrt). Der Epikutantest sollte jedoch als standardisierter Test durchgeführt werden. Andererseits ist der Aussagewert einer Zusatzhauttestung über Testlegierungsplättchen sowie die Bedeutung einer subkutanen Vorabimplantation von Materialproben umstritten. Im Tierexperiment zeigt sich einerseits, dass injizierte Nickel- und Kobaltsalze relativ gut löslich und somit im Urin wiederzufinden sind, während Chrom durchaus auch länger im Gewebe/intrazellulär gespeichert wird [17]. Andererseits ist die »Immunisierungsstärke« bzw.
⊡ Abb. 4.3. Ekzemreaktion bei Kobaltallergie in Assoziation mit Unterschenkel-Osteosynthese
das Erreichen einer überschießenden Immunantwort bei epikutaner oder subkutaner Applikation oft besser als bei Injektion in tiefere Gewebebereiche oder bei gastrointestinaler Applikation (⊡ Abb. 4.3). Histologie und Immunhistologie des periimplantären Gewebes liefern bei kutanen Reaktionen wertvolle Zusatzinformationen. Wegen der erschwerten Zugänglichkeit sind allerdings implantatnahes Punktatmaterial oder periimplantäre Biopsien nicht routinemäßig zu erhalten. Da jedoch kutane und periimplantäre Immunreaktionen mit Charakteristika einer Typ-IV-Allergie nicht immer parallel auftreten, kann die Analyse von periimplantärem Gewebe sinnvolle Zusatzinformationen liefern. Einerseits kann neben Abstrichmaterial aus dem Implantatlager auch über Kultur aus Biopsien sowie histologisch und molekularbiologisch nach einem »Low-grade«-Infekt
79 Kapitel 4 · Metallimplantatallergie
gesucht werden. Und andererseits kann eine T-lymphozytär dominierte Entzündung mit Charakteristika einer TypIV-Allergie identifiziert werden [39]. Es kann auch nach Oligoklonalität des T-Zellinfiltrats gesucht werden. Dies gilt als Hinweis für ein antigeninduziertes oligo(mono)klonales T-Zell-Infiltrat. Zusätzlich ist es möglich, im Gewebe Aktivierungsmarker und die Zytokinexpression (wie IFN-γ) anhand des Einsatzes von PCR-Techniken zu beurteilen [30]. Damit lässt sich beispielsweise ein TH1typisches Entzündungsmuster identifizieren. Im Lymphozytentransformationstest (LTT) kann bei einem Teil der metallallergischen Patienten eine spezifische Reaktivität der zirkulierenden Blutlymphozyten nachgewiesen werden [7, 10, 41]. Kürzlich hatten Hallab et al. [29] über erhöhte LTT-Ansprechraten bei komplikationsbehafteten Hüft-TEP-Trägern berichtet. Auch in unserer Arbeitsgruppe werden In-vitro-Testsysteme zur Erfassung der Lymphozytenreaktivität gegenüber Metalllegierungen im Kokulturverfahren mit Referenzmaterialien eingesetzt. Die Ergebnisse solcher Tests sind unter Berücksichtigung aller Befunde zu interpretieren. Sie können allerdings den Epikutantest nicht ersetzen und müssen aufgrund der großen methodischen Unterschiede zwischen den verschiedenen derzeit angewendeten Kultur- und Stimulationstechniken mit Vorsicht interpretiert werden. Derzeit ist es aber eher nur in Einzelfällen möglich, eine kausale Verknüpfung zwischen einer im Hauttest gefundenen Kontaktallergie gegenüber Implantatkomponenten und der Unverträglichkeit eines Implantats zu zeigen. Dies bedarf der Zusammenschau von klinischem Bild einschließlich dem Ausschluss der Differentialdiagnosen, von Testergebnissen und Abklingen der Symptomatik nach Materialwechsel. Um weitere Erkenntnisse zur Epidemiologie und Ausprägung von Überempfindlichkeitsreaktionen zu erhalten, betreuen die Autoren ein Implantatallergieregister ([email protected]) sowie eine Informationsplattform (Kontakt: http://derma.klinikum.uni-muenchen.de/Implantatallergie.htm), worüber Informationen gesammelt und Auskünfte für Anfragen gegeben werden. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit der DGOOC (Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie) sowie der DKG (Deutsche Kontaktallergie-Gruppe). Weiterhin wird über den Arbeitskreis »Implantatallergie« der DGOOC, dem auch der Erstautor angehört, eine Verfassung von Stellungnahmen zum Thema Implantatallergie angestrebt.
Schlussfolgerungen für die Praxis Nickel, Kobalt und Chrom sind Hauptauslöser kutaner Metallkontaktallergien. Auch wenn allergische Reaktionen gegenüber Metallimplantaten selten sind, so sollte nach Ausschluss von Differentialdiagnosen daran gedacht und eine möglichst komplette Diagnostik angestrebt werden. Dazu gehören Anamnese, erweiterte Epikutantestung sowie als ergänzende (und bisher nicht routinemäßige) Informationsquelle die periimplantäre Gewebeanalyse. Der Lymphozytentransformationstest liefert ebenfalls Zusatzinformationen, darf aber nicht überbewertet werden. Wird präoperativ bereits eine Metallallergie angegeben, so sollte auf Alternativen, die dieses Metall nicht enthalten, ausgewichen werden. Sollte trotzdem vom Operateur das Einsetzen des potentiell allergieauslösenden Metalls favorisiert werden, so muss mit dem Patienten eine Güterabwägung getroffen werden. Der Patient muss nach Aufklärung über ein Komplikationsrisiko zustimmen. Wie hoch dieses Risiko ist, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen. Die Autoren würden sich über Rückmeldungen zu obigem Register und zur Informationsplattform freuen, da hiermit eine bessere Datenlage geschaffen werden soll.
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Teil II · Experimentelle Grundlagen
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36. 37. 38.
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40. 41.
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III Teil III
Anwendung
Kapitel 5
Wirbelsäule – 83
Kapitel 5.1
Bandscheibe – Verblockungssystem – 83 W. Arnold
Kapitel 5.2
Wirbelkörperprothesen – 88 R. Gradinger, A. Toepfer, H. Gollwitzer
Kapitel 6
Große Gelenke
– 94
Kapitel 6.1
Kurzstielige oder langstielige Schulterprothesen? – 94 P.M. Rozing, M.A. van der Sande, J. Nagels
Kapitel 6.2.1
Hüfte: Standardimplantat – 99 H. Gollwitzer, R. Gradinger
Kapitel 6.2.2
Hüfte: Schenkelhalsprothesen – 110 W. Thomas
Kapitel 6.2.3
Hüfte: Kurzstiel – 116 G. von Salis-Soglio, J. Gulow
Kapitel 6.2.4
Oberflächenersatz des Hüftgelenkes: Doppel-Cup-Prothesen – 120 P. Juhnke
Kapitel 6.2.5
Spannungsverteilung und Primärstabilität bei vollstrukturierten versus teilstrukturierten Femurkomponenten – 126 R. Burgkart, R. Glisson
Kapitel 6.3
Kniegelenk – 132 J. Scholz
Kapitel 6.4
Sprunggelenk – 137 J. Rudigier
III Kapitel 7
Kleine Gelenke – 147
Kapitel 7.1
Fingergrundgelenksendoprothese – 147 C. Weber
Kapitel 7.2
Fuß: Großzehengrundgelenk – 156 K.-H. Olms
Kapitel 8
Ossäre Integration in der oralen Implantologie – 162 J. Sprang
Kapitel 9
Spezialimplantate
Kapitel 9.1
Implantate und Strategien beim Hüftendoprothesenwechsel – 168 W. Mittelmeier, M. Hauschild, R. Bader, R. Gradinger
Kapitel 9.2
Tumorendoprothetik – 180 R. Gradinger, H. Gollwitzer
Kapitel 9.3
Endo-/Exoprothese – 190 K.-H. Staubach, H. Grundei, H. Aschoff
Kapitel 9.4
Individualprothesen, Sonderanfertigungen – 195 R. Ascherl, H. Grundei, I. Hartung, R. Gradinger
5.1 Wirbelsäule Bandscheibe – Verblockungssystem W. Arnold
Zusammenfassung Zur indikationsabhängigen operativen Therapie pathologischer Veränderungen in den Segmenten L4/5 und L5/S1 wurde ein standardisiertes Operationsverfahren entwickelt. Zum Einsatz kommen starre oder elastische Spacersysteme, deren Instrumentarium auch für den minimal-invasiven Zugang bei L4/5 und den endoskopischen Einsatz bei L5/S1 geeignet ist. Die allgemeine Hauptindikation ist der konservativ therapierefraktäre Kreuzschmerz auf Grund einer Bandscheibendegeneration. Eine Ausweitung der Indikation bei traumatischen Wirbelsäulenschädigungen ist in Zukunft möglich. Bei exakter Positionierung der Spacer ist die Distraktionsspondylodese belastungsstabil, d. h. der Patient kann am 1. postoperativen Tag mobilisiert werden. Eine Orthese wird besonders bei jüngeren Patienten als Mahnbandage gegen Extrembewegungen, nicht zur Entlastung empfohlen. Eine intensive postoperative Rumpfmuskelkräftigung ist wie bei jeder anderen Spondylodesenoperation oder der Versorgung mit einer künstlichen Bandscheibe unabdingbar.
Die Spondylodese im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule ist ein Standardverfahren zur Behandlung von chronischen Schmerzzuständen, die auf Instabilitäten basieren. Auch heute gibt es noch unterschiedliche Ansichten zu kombinierten Verfahren wie der dorsoventralen oder nur dorsalen Stabilisierung sowie über die Wahl der Implantate. Eine Grundvoraussetzung zur Operation ist der dringende Wunsch des Patienten auf Schmerzfreiheit bei
Versagen einer ausgiebigen und umfangreichen konservativen Therapie sowie seine Kooperationsbereitschaft.
Indikationen Die Hauptindikation für die endoskopische lumbale Wirbelsäulenfusion, eine weniger traumatisierende Methode, ist wie für die offene Spondylodese der konservativ ausgereizte, therapieresistente Kreuzschmerz auf Grund einer Bandscheibendegeneration (auch nach mehreren Voroperationen ohne Laminektomie) oder auch bei höhergradiger Instabilität [7]. Zusätzlich werden der radikuläre Schmerz – evtl. als Folge einer Foramenstenose – und das Posthemilaminektomiesyndrom angegeben [6]. Für uns ist besonders die stark schmerzhafte, arosive Osteochondrose eine Indikation für den vorderen (und endoskopischen) Zugang.
Kontraindikationen Weitgehend einig ist man sich über die Kontraindikationen, die bei einer Spondylolisthesis des Grades 3 und 4, einer notwendigen Fusion von mehr als zwei Etagen und nicht durchgebauten ventralen Spondylodesen bestehen. [6, 7].Wegen der Gefahr des Nachsinkens des Spacers ist für Patienten mit ausgeprägter Osteoporose das Verfahren ungeeignet. Bei einer vorausgegangenen Diszitis muss die Infektion voll ausgeheilt sein, die Operationsmethode sollte in diesen Fällen mit entsprechender Zurückhaltung angewendet werden.
84
Teil III · Anwendung
Erweitert werden die Kontraindikationen noch um die aus der laparoskopischen Chirurgie bekannten allgemeinen Kontraindikationen für ein Pneumoperitoneum.
Operationsprinzipien und Zugänge
5
Der offene anteriore, transabdominale und auch retroperitoneale Eingriff an der Lendenwirbelsäule stellt nach unseren Erfahrungen in Beziehung auf Blutverlust, Kreislaufbelastung und postoperative Mobilisation im Gegensatz zu den Angaben bei anderen Autoren [5] keinen belastenderen Eingriff als die dorsale Spondylodese dar. Die Diskussion über die biomechanischen Vorteile unterschiedlicher Spondylodesearten ist noch nicht endgültig abgeschlossen. Beim Aufklärungsgespräch über ventrale Zugänge sind unbedingt die Probleme eines Plexusschadens mit retrograder Ejakulation und Blutungen, vor allem venöse, zu dokumentieren. Ein kombiniertes dorsoventrales Vorgehen wird in jedem Fall einer dorsalen Instabilität von uns favorisiert, wie zum Beispiel bei Zuständen nach Laminektomien. Die Verwendung eines starren Spacers in Kombination mit einer dorsalen Spondylodese ist üblich (Cages aus Metall, in letzter Zeit zunehmend nur noch aus Titan, Beckenkammspan oder Kunstknochen). Der weiter unten beschriebene elastische Spacer kommt ausschließlich ventral wie eine künstliche Bandscheibe zum Einsatz.
Endoskopische anteriore Distraktionsspondylodese am Beispiel des ESKA-Bandscheibendübels ESKA-Spacer-System Für die Distraktionsspondylodese ist ein spezielles Instrumentarium erforderlich, das auch bei der endoskopischen lumbalen Wirbelsäulenfusion einsetzbar ist. Es wird ein spezielles Spacersystem elastisch oder starr der Firma ESKA Implants (Lübeck) verwendet: 1. Einteiliger Spacer (Bandscheibendübel Typ I) mit dreidimensionaler Gitternetzstruktur »Spongiosa Metal®« (⊡ Abb. 5.1) 2. Bandscheibenspacer (Bandscheibendübel Typ II) mit Silikonkern für eine elastische ventrale Spondylodese (⊡ Abb. 5.2) als Weiterentwicklung des Typs I.
⊡ Abb. 5.1. Einteiliger Spacer (Bandscheibendübel Typ I) mit dreidimensionaler Gitternetzstruktur »Spongiosa Metal®«
⊡ Abb. 5.2. Bandscheibenspacer (Bandscheibendübel Typ II) mit Silikonkern für eine elastische ventrale Spondylodese
Beide Spacervarianten sind entsprechend der vorliegenden Anatomie in unterschiedlichen Längen und Durchmessern vorhanden: ▬ Bandscheibendübel Typ I: Länge 30 mm; Ø 15–20 mm Länge 35 mm; Ø 15–21 mm Länge 40 mm; Ø 17–19 mm Länge 45 mm; Ø 19 mm Bei Bedarf sind unterschiedliche Längen und Durchmesser erhältlich. ▬ Bandscheibendübel Typ II (mit Silikonkern): – konische Form – Implantationsrichtung Sagittalebene L5/S1 Länge 30 mm; Ø 15–19 mm Länge 35 mm; Ø 21–25 mm – parallele Form – Implantationsrichtung Frontalebene L4/5 Länge 40 mm; Ø 21–25 mm Länge 45 mm; Ø 21–25 mm
85 Kapitel 5.1 · Wirbelsäule: Bandscheibe – Verblockungssystem
5.1
Operationstechnik Für die Spaceraufnahme müssen nach Einbringen und Zentrieren von Kirschner-Drähten mit dem Kronenbohrer Kanäle gefräst werden. Der Kronenbohrer ist kanüliert und garantiert die zentrale Position, wenn er über dem platzierten Kirschner-Draht eingesetzt wird. Eine Markierung am äußeren Ende zeigt die Tiefe der Bohrung an. Quer angebrachte Stäbe am Platzierungsinstrument ermöglichen die exakte waagerechte Position beim elastischen Spacer. Kronenbohrer und Spacersystem werden über einen suprasymphysär platzierten 33-mm-Trokar (Fa. Ethicon Endo-Surgery) eingebracht. Der Spacer selbst besitzt einen abgerundeten Kopf zur Spreizung des mit dem Kronenbohrer (2 mm geringerer Durchmesser) ausgefrästen Lochs. Die endgültige Verklemmung wird durch den 1 mm größeren Durchmesser am Ende des Spacers erreicht (⊡ Abb. 5.3). Zur Vermeidung von Überdruck durch Flüssigkeits- und Luftkompression besitzt der Spacer eine zentrale vordere Öffnung. Die Korrektur, Entfernung und Platzierung des Spacers ist mit dem Platzierungsinstrument über einen ImbusSechskant mit Innengewinde möglich (⊡ Abb. 5.4). Die Grund- und Deckplatten des entsprechenden Segmentes liegen bei 2, 4, 8 und 10 Uhr des Spacers, um genügend Festigkeit zu garantieren, aber auch um genügend Spongiosa für die ESKA-Oberfläche zu bieten.
⊡ Abb. 5.3. Spacer zur endoskopischen Distraktionsspondylodese: 1 abgerundeter Kopf. 2 zentrale vordere Öffnung. 3 1 mm größerer Durchmesser am Spacerende. 4 Imbus-Sechskant zur Fixation des Platzierungsinstrumentes
Distraktionsspondylodese L5/S1: Voraussetzungen, Patientenvorbereitung, Lagerung Die Schaffung eines transperitonealen Zugangs zum lumbosakralen Bereich der Wirbelsäule berücksichtigt die Erfahrungen der laparoskopischen Rektumchirurgie [3]. Vorbereitung des Patienten, Lagerung, Positionierung des Operationsteams und Anordnung der Geräte erfolgen wie zur Rektumexstirpation. Auch die ersten Operationsschritte wie Sigmolyse, Darstellung der Ureteren und der Beckenachse sowie die Mesodissektion entsprechen dem Vorgehen bei diesem Eingriff. In der gleichen Patientenposition erfolgt auch die spätere Wirbelsäulenoperation unter zusätzlicher Verwendung des Röntgenbildverstärkers (2 Ebenen!). Allerdings ändert sich dann die Arbeitsrichtung der Operateure (⊡ Abb. 5.6). Röntgenologisch und endoskopisch werden anatomische Varianten und pathologische Darmbefunde dia-
⊡ Abb. 5.4. Platzierungsinstrument für das ESKA-Spacersystem
86
5
Teil III · Anwendung
gnostiziert. Die Darmvorbereitung erfolgt wie für alle kolorektalen Eingriffe (präoperative Lavage, Single-shotAntibiotikaprophylaxe). Seitens der Wirbelsäule gehören die exakte klinische Untersuchung, Nativ-Röntgenaufnahmen, MRT, bei manchen Autoren auch die Diskographie und die orientierende neurologische Untersuchung zur präoperativen Diagnostik. Der Patient muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei diesem laparoskopischen Verfahren noch nicht um eine etablierte Standardoperation handelt. Die Operateure müssen den Patienten über ihre persönlichen Erfahrungen und das Operationsrisiko (Darm- und Wirbelsäulenoperation getrennt) voll aufklären [1, 2]. Anzumerken ist, dass die Präparation zunächst von kranial nach kaudal erfolgt. Diese Richtung und mit ihr das operative Set-up wechseln dann bei dem eigentlichen
Wirbelsäuleneingriff mit der Präparation von kaudal nach kranial (⊡ Abb. 5.5 und ⊡ 5.6) Im Segment L5/S1 werden die konischen Spacer eingesetzt und in sagittaler Ebene implantiert (⊡ Abb. 5.7).
Distraktionsspondylodese L4/5 Im Gegensatz zu L5/S1 erfolgt der Zugang zu dem Segment L4/5 in üblicher Weise standardisiert retroperitoneal. Hierzu werden von der Industrie unterschiedliche Spreizersysteme angeboten, die weitgehend einen minimal-invasiven Zugang ermöglichen. Es werden die gleichen Fräser und das Setzinstrumentarium wie bei dem Segment L5/S1 verwendet (s. ⊡ Abb. 5.4). Die Spacer werden in diesem Segment in der Frontalebene implantiert und entsprechen in ihren Größen den
⊡ Abb. 5.5. Lagerung des Patienten und Anordnung bei der Bauchpräparation zu Beginn der endoskopischen Wirbelsäulenverblockung
⊡ Abb. 5.6. Lagerung des Patienten, Arbeitsrichtung und Trokarplatzierung (33 mm-Trokar suprasymphysär) bei der endoskopischen Wirbelsäulenverblockung
⊡ Abb. 5.7. Endoskopische Implantation der Bandscheibendübel in Höhe L5/S1 in sagittaler Richtung
87 Kapitel 5.1 · Wirbelsäule: Bandscheibe – Verblockungssystem
anatomischen Gegebenheiten. Aus der Implantationsrichtung ergibt sich auch die Notwendigkeit der Implantation paralleler Spacer.
Nachbehandlung Bei exakter Positionierung der Spacer ist die Distraktionsspondylodese belastungsstabil, d. h. der Patient kann am 1. postoperativen Tag mobilisiert werden. Eine Orthese wird besonders bei jüngeren Patienten als Mahnbandage gegen Extrembewegungen, nicht zur Entlastung empfohlen. Eine intensive postoperative Rumpfmuskelkräftigung ist wie bei jeder anderen Spondylodesenoperation oder der Versorgung mit einer künstlichen Bandscheibe unabdingbar.
Biomechanische Prüfung des Spacers Typ II Zusammenfassend ergab die biomechanische Prüfung des elastischen Bandscheibenspacers auf einem Belastungssimulator keine Schädigung, die auf die konstruktive Gestaltung der metallischen Träger und des Silikonpuffers zurückzuführen ist (Labor für Biomechanik und Experimentelle Orthopädie – Prüfbericht Nr. 09/02 – ESKA). Ein positives Votum der Ethikkommission der Landesärztekammer Thüringen (Nr. KL/1018/04/111) und der Georg-August-Universität Göttingen (Nr. 1/8/03) zum Einsatz des Bandscheibendübels Typ II liegt vor.
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5.1
5.2 Wirbelsäule Wirbelkörperprothesen R. Gradinger, A. Toepfer, H. Gollwitzer
Zusammenfassung Die typischen Indikationen zum Ersatz eines Wirbelkörpers finden sich v. a. nach Frakturen mit entsprechender Destruktion und Instabilität des Wirbelkörpers sowie bei Primärtumoren und Metastasen der Wirbelkörper. Bei schmerzhafter, instabiler Wirbelkörperdestruktion mit knöchernem Substanzverlust von mehr als 50%, neurologischem Defizit oder Immobilisierung des Patienten kann auch bei Metastasen ein Wirbelkörperersatz indiziert sein. Dabei sollte eine Therapie immer interdisziplinär in einem spezialisierten Tumorzentrum erfolgen. Aufgrund der besseren Korrekturmöglichkeiten und der stabileren Verblockung werden extendierbare Wirbelkörperprothesen immer häufiger eingesetzt. Der vorliegende Beitrag gibt eine Übersicht über die Möglichkeiten des Wirbelkörperersatzes mit einem modularen und extendierbaren System und nennt Risiken und Komplikationsmöglichkeiten.
Funktionelle Anatomie und Biomechanik Zum Verständnis der operativen Versorgungsmöglichkeiten im Bereich der Wirbelsäule ist eine kurze Betrachtung der funktionellen Anatomie und Biomechanik notwendig. Die Wirbelsäule reicht vom Hinterhaupt bis zum Os coccygis. Eine Besonderheit stellt die gelenkige Verbindung zwischen dem Os occipitale, dem Atlas und dem Axis dar. Erst der dritte Halswirbelkörper zeigt den ty-
pischen Aufbau mit Wirbelkörper-Interartikularportion, Querfortsätzen sowie dorsal angeschlossener Lamina mit Processus spinosus. Im thorakalen Bereich trägt der Brustkorb wesentlich zur Stabilität bei. Eine Besonderheit sind die gelenkigen Verbindungen zwischen Querfortsatz und Rippen. Im Bereich der Lendenwirbelsäule nimmt die statische Belastung von L1 zu L5/S1 Schritt für Schritt zu. Das Os sacrum ist aus Wirbeln und entsprechenden Querfortsätzen entstanden und stellt einen knöchernen Block dar. Die gelenkige Verbindung zur unteren Extremität ist hier das Iliosakralgelenk als Amphiarthrose. Das Os coccygium entspricht der Rückbildung des Schwanzskelettes und ist aus 4–5 Wirbelkörpern zusammengesetzt. Für die Stabilität sind neben den gelenkigen Verbindungen vor allem auch die Bandverbindungen, hier insbesondere das Ligamentum longitudinale anterius und posterius sowie die Ligg. flava und die Ligg. interspinosa verantwortlich. Bezüglich der Beweglichkeit sind im Bereich der Halswirbelsäule der sog. Kopfgelenksbereich (C0–C2), der mittlere Bereich (C2–C5) sowie der untere Bereich (C5–Th1) zu unterscheiden. 60% der Rotationsfähigkeit ist in den oberen Kopfgelenken lokalisiert, hier vor allem C1 und C2. Die Flexionsfähigkeit beruht vor allem auf dem Segment C0/C1, während die Seitneigung vor allem dem Segment C2/C3 zugeschrieben ist. In den darunter liegenden Abschnitten ist die Beweglichkeit insgesamt, bezogen auf die Anzahl der Wirbelkörper, deutlich reduziert. Eine besondere Belastung besteht am Übergang von C7 zu Th1. Die Brustwirbelsäule selbst ist am wenigsten beweglich und zwar in allen Ebenen. Im Bereich der Len-
89 Kapitel 5.2 · Wirbelsäule: Wirbelkörperprothesen
denwirbelsäule ist vor allem die Flexion/Extension in den unteren Segmenten am stärksten ausgeprägt, die Seitneigung ist im Segment L3/L4 am stärksten möglich. Für die Versorgung bei Wirbelkörperdestruktionen ist zu beachten, dass die Übergänge von der Brust- zur Lendenwirbelsäule sowie von der Lendenwirbelsäule zum Sakrum besonders biomechanisch belastet sind. Dies hat Konsequenzen für die entsprechende operative Versorgung. Weiterhin muss man die ventral lokalisierten Gelenkverbindungen (Wirbelkörper und Bandscheiben mit Bändern) von den dorsalen Interartikularportionen unterscheiden. Wichtig ist dabei für Wirbelkörperersatz und Verblockung, dass durchschnittlich 80% der Belastung von den ventralen Gelenkverbindungen übernommen wird und somit die Wiederherstellung der vorderen Säule bei Destruktion entscheidend für ein annähernd normales biomechanisches Verhalten der Wirbelsäule ist. Ebenso beziehen sich 90% der Durchblutung auf die vorderen Wirbelsäulenabschnitte, was für die Knochenheilung und für die ossäre Integration von Implantaten eine wesentliche Bedeutung hat. Für eine alleinige ventrale Versorgung ist jedoch die Integrität der dorsalen knöchernen und ligamentären Strukturen (v. a. Rotations- und Distraktionsinstabilität) eine entscheidende Voraussetzung.
Indikationen zum Wirbelkörperersatz Indikationen sind schmerzhafte, instabile Wirbelkörperdestruktionen mit knöchernem Substanzverlust von mehr als 50% und Störung der Wirbelkörperintegrität, neurologischem Defizit und/oder Immobilität des Patienten [1]. Die Wirbelkörperdestruktion kann dabei traumatischer, infektiöser oder tumoröser Genese sein (benigne, maligne oder semimaligne Tumoren, tumorähnlichen Läsionen) oder auch im Rahmen von fortgeschrittenen Osteoporosen entstehen (⊡ Tabelle 5.1). Die Versorgung ist daher von der Ursache abhängig zu machen.
Tumorentitäten Nach einer Sammelstatistik finden sich die in den ⊡ Tabellen 5.2 und 5.3 genannten Tumoren [2]. Das seltene Auftreten von primären Knochentumoren (insgesamt 1% aller primären Malignome) sollte dazu führen, dass diese Patienten in entsprechend spezialisierten
⊡ Tabelle 5.1. Mögliche Indikationen zum Wirbelkörperersatz Genese
Indikation
Fraktur
Frakturen mit Kompressionskomponente und entsprechend ausgeprägter Störung der Wirbelkörperintegrität und Bandscheibenzerreißung, Berstungsspaltbruch (A3.2), kompletter Berstungsbruch (A3.3), posttraumatische Fehlstellung/Instabilität
Spondylodiszitis
Destruktion, Fehlstellung, Abszedierung, Myelitis
Tumor/ Metastasen
Schmerzen, Instabilität, nicht beherrschbares Tumorwachstum, neurologisches Defizit, Immobilität
⊡ Tabelle 5.2. Häufigkeit benigner und semimaligner extraduraler Tumoren der Wirbelsäule Benigner/semimaligner Tumor
Prozentualer Anteil an WK-Tumoren
Hämangiom
4,2%
Osteoidosteom
6,2%
Osteoblastom
4,7%
Osteochondrom
4,2%
Riesenzelltumor
3,8%
Chondrom
1,3%
Chondroblastom
0,5%
Chondromyxoidfibrom
0,5%
Benignes fibröses Histiozytom
0,2%
Tumorähnliche Läsionen Aneurysmatische Knochenzyste
3,8%
Eosinophiles Granulom
o.A.
⊡ Tabelle 5.3. Häufigkeit primärer maligner extraduraler Tumoren der Wirbelsäule Maligner extraduraler Tumor
Prozentualer Anteil an WK-Tumoren
Chondrosarkom
6,8%
Osteosarkom
4,8%
Ewingsarkom
4,2%
Fibrosarkom
2,3%
Angiosarkom
1,7%
Malignes fibröses Histiozytom
0,3%
Non-Hodgkin-Lymphom
0,8%
Plasmozytom
30,2%
5.2
90
Teil III · Anwendung
⊡ Tabelle 5.4. Zuordnung der Wirbelkörpermetastasen zu Primärtumoren [3]
5
Primärtumor
Prozentualer Anteil an WK-Metastasen
Mammakarzinom
21%
Lungenkarzinom
14%
Prostatakarzinom
7,5%
Nierenzellkarzinom
5,5%
Gastrointestinale Tumoren
5%
Schilddrüse
2,5%
Andere
44,5%
Zentren behandelt werden. Bezüglich der Häufigkeit sind fraglos die knöchernen Metastasen im Bereich des Achsskeletts von herausragender Bedeutung (⊡ Tabelle 5.4), insbesondere auch deswegen, weil die Lebenserwartung auch bei Patienten mit knöchern metastasierten Tumoren heute deutlich zugenommen hat. Wirbelsäulentumoren zeigen besondere Affinität zu bestimmten Wirbelsäulenabschnitten, was durch anatomische Grundlagen wie die Blutversorgung bedingt ist. Im ventralen Abschnitt finden sich eher die bösartigen, im dorsalen Wirbelsäulenabschnitt eher die gutartigen Wirbelkörpertumoren (⊡ Abb. 5.8). Bei Tumoren ist ein endoprothetischer Wirbelkörperersatz immer dann indiziert, wenn die grundsätzlichen Indikationen (Schmerz, Wirbelkörperinstabilität, [drohendes] neurologisches Defizit und Immobilität des Patienten) vorliegen. Um eine definitive Entscheidung zur Operation zu treffen, ist eine umfassende Diagnostik (klinische Untersuchung einschließlich neurologischer Abklärung, Staging des Patienten mit Abschätzung der Lebenserwartung sowie lokale Bildgebung mit Röntgennativaufnahmen und Kernspin-/Computertomographie) zu fordern. Die früher häufig übliche Skelettszintigraphie wird heute zunehmend von der Positronenemissionstomographie oder auch von der Ganzkörperkernspintomographie abgelöst. Als relative Kontraindikationen gelten bei Patienten mit Metastasierung der Wirbelsäule ein Tumorbefall mit multipler Metastasierung, eine Lebenserwartung von unter 3 Monaten, komplette Querschnittslähmung und Destruktion von mehr als zwei benachbarten Wirbelkörpern [1].
⊡ Abb. 5.8. Prädilektionsorte maligner und benigner Wirbelsäulentumoren: Aufgrund anatomischer Gegebenheiten, und hier insbesondere aufgrund der Blutversorgung, sind maligne Tumoren wie Metastasen v. a. in den ventralen Abschnitten lokalisiert
Implantate Die Wirbelkörperprothese wird als interne Augmentation des Wirbelkörpers (Fraktur) bzw. als Wirbelkörperersatz nach Korporektomie (Tumor) eingesetzt. Man unterscheidet dabei den Wirbelköperersatz mittels biologischer Transplantate (trikortikaler Knochenspan aus Beckenkamm, Rippen etc.) von industriell hergestellten Wirbelkörperersatzimplantaten (»cages«). Bei ausgedehnter Destruktion des Wirbelkörpers erweisen sich der trikortikale Beckenkamm oder andere Knochentransplantate als häufig nicht ausreichend, und weisen neben der zusätzlichen Entnahmenmorbidität Nachteile wie eine lange Einbauzeit, schlechte biomechanische Eigenschaften und relativ häufige Pseudarthrosen auf. Ein weiterer Nachteil ist insbesondere in der Tumor-
91 Kapitel 5.2 · Wirbelsäule: Wirbelkörperprothesen
5.2
⊡ Abb. 5.9. Wirbelkörperersatz Typ GHG (Firma ESKA Implants): distrahierbares System zum Wirbelkörperersatz monosegmental (links) und als modulares System (rechts)
chirurgie das Risiko der Transplantatnekrose bei notwendiger postoperativer Strahlentherapie. Eine Grundvoraussetzung für den Einsatz industriell hergestellter Wirbelkörperimplantate sind intakte Deckplatten der benachbarten Wirbelkörper, um ein Einsinken und Nachsintern zu vermeiden. Daraus ergibt sich bereits die relative Kontraindikation bei ausgeprägter Osteoporose. Bei diesen Wirbelkörperersatzimplantaten unterscheidet man zwischen expandierbaren und nicht expandierbaren Cages. Der wohl bekannteste und klinisch am besten untersuchte nicht expandierbare Cage ist der sog. »Meshed Titanium Cage« nach Harms. Trotz breiter klinischer Anwendung zeigten sich Nachteile, die in der implantologischen Forschung zur Entwicklung expandierbarer Cages führten. Diese Nachteile betreffen v. a. intraoperative Schwierigkeiten wie die Notwendigkeit eines wiederholten Zuschneidens und Einpassens des Cages mit Zeitverlust und der Gefahr der Deckplattenverletzung. Zudem bereitet die Rotationseinstellung häufig Schwierigkeiten, und eine Distraktion des Implantates zur stabileren Verblockung ist nicht möglich.
Expandierbare Wirbelkörperprothesen Die genannten Schwierigkeiten führten zur Entwicklung in situ expandierbarer Implantate. Als vorteilhaft hat es sich zudem erwiesen, ein modulares System zu benutzen,
das entsprechend den Wirbelsäulendimensionen ausgerichtet ist. Diese Voraussetzungen erfüllt der GHG-Wirbelkörperersatz (Gradinger, Hipp, Grundei). Er besteht aus 3 distrahierbaren Grundkörpern jeweils für HWS, BWS und LWS mit entsprechenden aufsteckbaren Modulteilen, die der Resektionsausdehnung angepasst eingebracht werden. Zusätzlich besteht dieser Wirbelkörperersatz aus einem extendierbaren Modul, das in den Grundkörper eingearbeitet ist. So ist eine Anpassung einer Lendenwirbelkörperendoprothese von 36–57 mm möglich. Weiterhin besteht die Möglichkeit, ein doppelstöckiges Modul einzubringen (⊡ Abb. 5.9). Um dem zementlos implantierten Wirbelkörperersatz die Chance der sekundären knöchernen Integration zu geben, ist grundsätzlich eine Primärstabilität des Implantats anzustreben. Ob und welche Zusatzstabilisierungen angezeigt sind, hängt im Wesentlichen von der Destruktion (Bandapparat!) und von der Lokalisation ab. Die besonders biomechanisch belasteten Abschnitte wie zervikothorakaler oder thorakolumbaler sowie lumbosakraler Übergang sollten eine zusätzliche dorsale Stabilisierung mittels transpedikulärer Instrumentation erfahren (⊡ Abb. 5.10). Dies ist immer auch dann in den anderen Abschnitten notwendig, wenn ventrale Destruktionen auf die dorsalen Wirbelsäulenabschnitte übergegriffen haben. Eine Instabilität bei isolierter Stabilisierung mit ventralen Cages nach Korporektomie ist v. a. in der Rotation und Extension zu erwarten [4].
92
Teil III · Anwendung
Fallbeispiele Fallbeispiel 1 (⊡ Abb. 5.11) Fallbeispiel 2
5
⊡ Abb. 5.10. Ersatz von BWK 8 und LWK 4 mittels GHG-Wirbelkörperersatz und zusätzlicher ventraler (LWS) sowie dorsoventraler Stabilisierung bei einem 70-jährigen Patienten mit Plasmozytom. Die dorsale Stabilisierung der BWS war aufgrund einer fortgeschrittenen Zerstörung auch dorsaler Wirbelsäulenabschnitte notwendig geworden
⊡ Abb. 5.11. 71-jährige Patientin mit Bronchialkarzinom und metastasenbedingter kompletter Zerstörung des LWK-4 (links). Aufgrund der immobilisierenden Schmerzen und der neurologischen Symptomatik bestand die Indikation zur Dekompression und zum Ersatz des Lendenwirbelkörpers mit zusätzlicher ventraler Stabilisierung bisegmental von L3 auf L5 (rechts)
Eine 36-jährige Patientin stellte sich mit therapieresistenten Rückenschmerzen und beginnenden neurologischen Ausfällen der unteren Extremität in unserer Klinik vor. Die weitere radiologische Diagnostik erbrachte einen Tumor im Bereich des Uterus mit metastasenverdächtigen Raumforderungen der Adnexe bei Uterus myomatosus. Des Weiteren bestand der Verdacht auf eine Metastase im Bereich des LWK 4 mit Einengung des Spinalkanals und Beteiligung der Pedikel sowie ein Lungenrundherd subpleural rechts. Aufgrund des zunehmenden neurologischen Defizits erfolgte zunächst die Laminektomie in Höhe L4 mit Probebiopsie der Pedikel und dorsaler Stabilisierung von L3 auf L5 (⊡ Abb. 5.12). Die feingewebliche Untersuchung erbrachte eine Metastase eines hochdifferenzierten Leiomyosarkoms G1. Im Rahmen der weiteren Therapie erfolgte die Myomenukleation des Uterus (G1, R1) durch die Kollegen der gynäkologischen Abteilung und schließlich bei insgesamt günstiger Prognose und Frakturrisiko der ventrale Wirbelkörperersatz des LWK 4 (s. ⊡ Abb. 5.12). Postoperativ zeigte sich ein rascher Rückgang der neurologischen Symptomatik. Adjuvant erfolgte noch die
93 Kapitel 5.2 · Wirbelsäule: Wirbelkörperprothesen
⊡ Abb. 5.12. 36-jährige Patientin mit Spinalkanaleinengung und Befall des LWK 4 durch eine Metastase eines hochdifferenzierten Leiomyosarkoms. Aufgrund des neurologischen Defizits erfolgte zunächst die Lami-
lokale Radiatio des LWK 4 und die operative Entfernung einer Lungenmetastase durch Teilentfernung des rechten Unterlappens. Fünf Jahre postoperativ ist die Tumorerkrankung weiterhin stabil, die Patientin ist ohne neurologisches Defizit voll mobilisiert.
Risiken und Fehlerquellen Neben den Risiken der Gefäß-, Organ- und Nervenverletzung (Plexus!) im Zugangsweg sind implantatbedingte Fehlerquellen zu beachten. Beim Einbringen expandierbarer Cages muss eine Überdistraktion mit der Gefahr der Kompression angrenzender Deckplatten vermieden werden. Weiterhin ist auf ein mögliches Verkippen während der Distraktion zu achten. Weitere Komplikationen sind Implantatdislokationen, mangelnde knöcherne Integration, Nachsintern mit Repositionsverlust und die Infektion.
nektomie L4 mit Probebiopsie und dorsaler Stabilisierung (Steffi-Platten, Fa. Acromed, links). Nach Exzision des Primärtumors schließlich Ersatz des LWK 4 mittels extendierbarem ESKA GHG-Wirbelkörperersatz (rechts)
chen Eingriffen [1]. So konnte in eigenen Untersuchungen bei Metastasen der Lendenwirbelsäule neben einer deutlichen Schmerzreduktion bei 58% der operierten Patienten eine Besserung des präoperativ bestehende neurologischen Defizits erreicht werden [1]. Die Indikation zum kombinierten dorsoventralen Vorgehen ist in Abhängigkeit von der Prognose des einzelnen Patienten eher weit zu stellen. Die alternativen Therapiemöglichkeiten sind natürlich die Strahlentherapie wie auch die Chemotherapie in Abhängigkeit von der Tumorentität. Die Entscheidung, welches Verfahren in welcher Kombination gewählt wird, muss im Rahmen einer interdisziplinären Tumorkonferenz festgelegt werden, die Behandlung sollte daher ausschließlich in spezialisierten Tumorzentren erfolgen.
Literatur 1.
Fazit 2.
Die bisherigen Erfahrungen mit dem GHG-Wirbelkörperersatz bei Tumorbefall der Wirbelsäule zeigen, dass eine stabile Rekonstruktion möglich ist – auch bei einer kompletten Wirbelkörperresektion. Die vorliegenden operativen Ergebnisse belegen die Sinnhaftigkeit von sol-
5.2
3. 4.
Gradinger R et al. (1999) Endoprothetischer Wirbelkörperersatz bei Metastasen der Lendenwirbelkörper. Operative Orthopädie und Traumatologie 11:70–78 Immenkamp M, Herle A (1994) Geschwülste der Wirbelsäule – Knochentumoren. In: Witt AN et al. (Hrsg) Orthopädie in Praxis und Klinik. Band 5, Teil 2. Thieme, Stuttgart McLain RF, Weinstein JN (1999) Tumors of the spine. In: Herkowitz HN et al. (Hrsg) The spine. Saunders, Philadelphia, p 1186 Kandziora F et al. (2004) Wirbelkörperersatz in der Wirbelsäulenchirurgie. Unfallchirurg 107:354–371
6.1 Große Gelenke Kurzstielige oder langstielige Schulterprothesen? P.M. Rozing, M.A. van der Sande, J. Nagels
Zusammenfassung Im Gegensatz zur Frakturendoprothetik des Schultergelenks ist bei Omarthrose und rheumatoider Arthritis die Implantation kurzstieliger Humeruskomponenten möglich. In der vorliegenden Studie wurden die klinischen und radiologischen Ergebnisse nach Implantation einer Kurzstiel- (60 Schultern) und einer Langstielprothese (66 Schultern) verglichen. Dabei zeigte sich aufgrund einer optimierten Rekonstruktion der biomechanischen Verhältnisse eine mindestens gleichwertige Beweglichkeit im Schultergelenk nach Implantation der kurzstieligen Humeruskomponente. Auch die bei langen Stielen relativ häufig auftretenden Komplikationen des Stress Shielding (9%) und der periprothetischen Fraktur (9%) konnten bei Anwendung kurzer Stiele vermieden werden. Nach den vorliegenden Ergebnissen sollte somit bei entsprechender Operationsindikation (Omarthrose, rheumatoide Arthritis) und gutem metaphysären Knochenlager die Implantation einer proximal verankerten kurzstieligen Prothese der Schulter bevorzugt werden.
Einleitung Die biomechanischen Anforderungen von Humeruskopfprothesen nach Frakturen unterscheiden sich von denen bei Arthrose oder rheumatoider Arthritis (RA). Bei der Rekonstruktion des proximalen Humerus nach Fraktu-
ren muss die Prothese mit dem distalen Stielanteil in der Humerusdiaphyse fixiert werden, da die gebrochenen Tubercular proximal um die Prothese rekonstruiert werden müssen. Bei Schultern mit Omarthrose oder rheumatoider Arthritis sind lange Stiele unnötig, da nur der Humeruskopf ersetzt werden muss und der metaphysäre Knochen ausreichend Stabilität zur Verankerung einer Humeruskopfprothese bietet. Für diese Indikationen wurde eine kurzstielige Humeruskopfprothese entwickelt (Multiplex Shoulder Prosthesis, ESKA Implants, Lübeck). In der vorliegenden Studie verglichen wir die klinischen und radiologischen Ergebnisse dieser Kurzstielprothese [1] mit einer Patientengruppe, der eine langstielige Prothese implantiert worden war [2].
Material und Methoden Seit 1994 verwendete der Erstautor (PMR) die zementfreie Multiplex-Schulterprothese (ESKA Implants GmbH & Co, Lübeck) als Implantat der ersten Wahl bei Omarthrose und rheumatoider Arthritis (RA) des Schultergelenkes (⊡ Abb. 6.1). In den Jahren zuvor bzw. wenn die kurzstielige Schulterprothese nicht in der Klinik vorrätig war, wurde eine zementfreie langstielige Schulterprothese implantiert (Biomet Inc, Warsaw, Indiana, USA). Die Operationsindikationen für eine Schulterprothese waren Schmerzen und Bewegungseinschränkung bei gleichzeitigen radiologischen Zeichen der Destruktion des Glenohumeralgelenkes. Eine Hemiarthroplastik wurde durchgeführt, wenn
95 Kapitel 6.1 · Große Gelenke: Kurzstielige oder langstielige Schulterprothesen?
6.1
ten eine ipsilaterale Ellenbogenprothese einliegend. Bei 2 Patienten wurde die Prothese zementiert. Alle Patienten wurden im Abstand von einem und zwei Jahren postoperativ und dann in unregelmäßigen Abständen in der Ambulanz nachuntersucht, geröntgt und klinisch nach dem Constant Score und dem HSS 100 Score bewertet [3]. Die Röntgenuntersuchungen beinhalteten eine Bewertung bezüglich Stress Shielding im Humerusschaft und Hinweise für Lockerungszeichen der Prothesenkomponenten. Die statistische Auswertung erfolgte mittels Mann-Whitney Test mit Hilfe der NCSSSoftware (Kaysville, Utah, Version 5.01).
Ergebnisse Klinische Evaluation ⊡ Abb. 6.1. Kurzstielige Multiplex-Schulterprothese mit und ohne poröser Stieloberfläche
das Glenoid noch intakt war oder wenn bei destruiertem Glenoid kein ausreichendes Knochenlager für eine sichere Fixation einer Glenoidkomponente und/oder eine massive irreparable Rotatorenmanschettenruptur vorlag. Eine kurzstielige Schulterprothese wurde bei 53 Patienten in 60 Schultern implantiert (45-mal bei rheumatoider Arthritis und 15-mal bei Omarthrosen). Aus logistischen Gründen wurde in 6 Fällen eine zementierte Schulterprothese implantiert. Bei 7 Patienten wurde auf beiden Seiten eine Schulterprothese implantiert und 9 Patienten hatten eine ipsilaterale Ellenbogenprothese. Die durchschnittliche Nachuntersuchungszeit betrug 54 Monate (20–101). Das Durchschnittsalter der Patienten war 65 Jahre. Diesem Patientenkollektiv wurde eine Gruppe mit 66 langstieligen Schulterprothesen gegenübergestellt (46-mal bei rheumatoider Arthritis, 20-mal bei Omarthrosen) [2]. Diese zementfreien langstieligen Schulterprothesen (Biomet Inc., Warsaw, Indiana, USA) wurden vom Erstautor (PMR) zwischen 1992 und 1998 implantiert. Die 59 Patienten dieser Gruppe (3 Männer, 56 Frauen) hatten ein durchschnittliches Alter von 62 Jahren (34–85), und die durchschnittliche Nachuntersuchungszeit betrug 87 Monate (24–152). Sieben Patienten wurden bilateral mit einer Schulterprothese versorgt und 6 Patienten hat-
Bei der Auswertung der Ergebnisse wurde entsprechend der Fragestellung der Schwerpunkt auf den Vergleich von Humeruskomponenten mit kurzem und langem Stiel gelegt. Selbstverständlich besitzt v. a. bei Totalendoprothesen die Glenoidkomponente einen wesentlichen Einfluss auf das Outcome der Schulterprothese. Gerade die funktionellen Ergebnisse müssen somit unter dieser Einschränkung beurteilt werden (Anmerkung der Herausgeber). Kurzstielprothese (Multiplex-Schulterprothese, ESKA Implants). Es wurden 38 Hemiprothesen und 22 Tota-
lendoprothesen (Glenoid: 16-mal Polyethylen und 6-mal Metall) implantiert. Der postoperative klinische HSS Score (max. 100 Punkte) verbesserte sich von durchschnittlich 43 auf 52 Punkte. Die aktive Anteversion verbesserte sich von durchschnittlich 62 auf 93 Grad, die Abduktion von 52 auf 84 Grad und die Außenrotation von 10 auf 27 Grad (⊡ Tabelle 6.1). Langstielprothese (Biomet Inc.). In dieser Gruppe wurden 15 Hemi- und 51 Totalendoprothesen mit 38 zementierten und 13 zementfreien Glenoidkomponenten implantiert. Der postoperative klinische HSS-Score verbesserte sich von durchschnittlich 41 auf 67 Punkte. Die aktive Anteversion verbesserte sich von durchschnittlich 65 auf 82 Grad, die Abduktion von 53 auf 67 Grad und die Außenrotation von 15 auf 21 Grad. Da die Nachuntersuchungszeit bei den langstieligen Prothesen mit 7,2 Jahren länger war als bei den kurzen Stielen, erfolgte zum Vergleich eine Auswertung mit einem Follow-up von 5 Jahren. In dieser Gruppe mit kürzerer Nachuntersuchungszeit verbesserte sich der HSS-Score von 41 auf
96
Teil III · Anwendung
⊡ Tabelle 6.1. Klinische Ergebnisse vor der Operation und bei der letzten Nachuntersuchung n
Kurzer Stiel n=60
Langer Stiel n=66
Diagnose Omarthrose/RA
15/45
20/46
hemi/total
38/22
15/51
▬ normal
25 (46%)
31 (47%)
▬ dünn
10 (19%)
7 (11%)
▬ kleiner Riss
3 (6%)
5 (8%)
▬ großer Riss
16 (16%)
23 (35%)
Alter
65±11 Jahre
62±11 Jahre
Nachuntersuchung
präop.
45±24 Monate
präop.
87± 35 Monate
Constant Score
26±9
46±15
34±11
47±17
HSS (100 Punkte)
43±13
52±18
41±11
67±21
▬ Schmerz (30 Punkte)
10±7
22±7
9±6
23±8
▬ Bewegung (25 Punkte)
9±3
14±4
9±3
12±4
▬ Funktion (20 Punkte)
7±5
13±5
7±5
15±5
▬ Kraft (15 Punkte)
12±2
10±6
12±3
11±5
Aktive Flexion
62°±28°
93°±38°
65°±27°
82°±41° (n.s.)
Abduktion
52°±20°
84°±34°
53°±23°
67°±29° (p=0,002)
Außenrotation
10°±22
27°±22°
15°±20°
21°±23° (n.s.)
Rotatorenmanschette
6
65 Punkte. Die aktive Anteversion verbesserte sich von durchschnittlich 65 auf 79 Grad, die Abduktion von 53 auf 64 Grad und die Außenrotation von 15 auf 22 Grad. Bei den Nachuntersuchungen war im Vergleich beider Gruppen die Schulterbeweglichkeit bei Patienten mit kurzstieligen Prothesen statistisch signifikant größer (p=0,002).
Komplikationen In der Gruppe der Kurzstiele zeigten sich keine intraoperativen, jedoch postoperative Komplikationen. Ein Patient entwickelte eine Wundinfektion zwei Wochen postoperativ, die erfolgreich mit Antibiotika behandelt wurde. Ein weiterer Patient klagte über eine schmerzhafte Impinge-
ment-Symptomatik, die mittels Akromioplastik behandelt wurde. Ein Patient zog sich drei Monate postoperativ eine traumatische Fraktur des Tuberculum majus mit Ruptur der Supra- und Infraspinatussehne zu. In der Gruppe der Langstielprothesen wurden 6 Humerusfrakturen im Bereich der Prothesenspitze beobachtet. Bei 5 Patienten traten die Frakturen ohne adäquates Trauma auf, nur in einem Fall lag ein Sturzereignis vor. Bei einem Patienten war die Fraktur in der Höhe zwischen seiner Schulter- und Ellenbogenprothese lokalisiert, wobei sich die Ellenbogenprothese nach Heilung der Fraktur lockerte. Drei Patienten erlitten eine Humerusfraktur innerhalb des ersten postoperativen Jahres, ein Patient nach sieben und zwei weitere Patienten nach zehn Jahren. Zwei dieser Frakturen wurden mittels interner Osteosynthese und vier Frakturen mittels Sarmiento-Gips behandelt.
97 Kapitel 6.1 · Große Gelenke: Kurzstielige oder langstielige Schulterprothesen?
6.1
Röntgenuntersuchungen der humeralen Komponente Inkomplette röntgentransparente Linien wurden in einem Fall um eine zementierte kurzstielige humerale Komponente beobachtet. Die zementfreien humeralen Kurzstielkomponenten wiesen allesamt Zeichen einer stabilen ossären Integration auf ohne Anhalt für Migration oder röntgentransparente Linien (⊡ Abb. 6.2). Es zeigten sich keine Anzeichen eines Stress Shielding wie Knochenresorption im Bereich des Tuberculum majus oder des Humerusschaftes. In der Gruppe der Langstielprothesen wurde die kortikale Dicke an vier verschiedenen Stellen des proximalen Humerus gemessen: jeweils medial und lateral am proximalen und distalen Drittelpunkt zwischen dem geometrischen Mittelpunkt des Humeruskopfes und der Prothesenspitze [2]. Bei sechs Patienten zeigte sich eine signifikante Reduktion der Kortikalisstärke in den Jahren nach Implantation. Dieses Stress Shielding wurde bei fünf Patienten mit rheumatoider Arthritis beobachtet (⊡ Abb. 6.3) und bei einem weiteren Patienten mit Omarthrose und einer zementierten Humeruskomponente. Der früheste Zeitpunkt eines signifikanten Stress Shielding wurde 4 Jahre postoperativ beobachtet.
⊡ Abb. 6.3. Stress Shielding: proximale Knochenrückbildung am Humerus 7 Jahre nach Implantation einer langstieligen Prothesenkomponente
⊡ Abb. 6.2a,b. Röntgenabbildung a
b
einer Kurzstielprothese in situ: präoperativ (a); postoperativ (b)
98
Teil III · Anwendung
Diskussion
6
Determinanten für die aktive Schultergelenkbeweglichkeit sind das Patientenalter, der Zustand der Rotatorenmanschette [4, 5] und die Lage des Rotationszentrums [6–8]. In der vorliegenden Studie erreichten Patienten mit einer kurzstieligen Schulterprothese nach einem vergleichbaren Nachuntersuchungszeitraum eine größere aktive Anterversion, Abduktion (p=0,002) und Außenrotation als die Vergleichsgruppe mit Langstielprothesen. Diese Ergebnisse bestätigen auch die Intention des kurzstieligen Prothesendesigns. In der normalen Anatomie des Humerus liegt das Rotationszentrum des Humeruskopfes medial und posterior zur Längsachse des Humerusschaftes. Bei der Verwendung einer langstieligen Schulterprothese positionieren sich der Kopf und das Rotationszentrum durch die Ausrichtung im Humerusschaft zwangsweise zu weit lateral (und anterior). Dies führt zu einer Verkürzung des Hebelarmes der Muskeln der Rotatorenmanschette und mindert so die aktive Beweglichkeit. Um dieses Problem zu vermeiden, muss der Prothesenkopf genau an der Stelle positioniert werden, wo der zerstörte Humeruskopf reseziert wurde. Bei dem Design der Multiplex-Schulterprothese wird ein Kopf mit äquivalentem Radius und Höhe wie der originale Humeruskopf auf eine zirkuläre Basisplatte gesteckt, die die resezierte Fläche der Humerusmetaphyse abdeckt. Diese Basisplatte hat einen kurzen Stiel mit einer rauen Oberfläche zur Unterstützung der ossären Integration und wird in die Metaphyse des Humerus implantiert. Dabei muss der kurze Stiel der Basisplatte nicht in der Humeruschaftachse liegen. Die Position der Basisplatte wird durch die Resektionsebene in der korrekten Inklination und Retroversion vorgegeben und korrigiert somit automatisch auch das laterale und mediale Offset. Bei langstieligen Schulterprothesen kann man die Position des Rotationszentrum durch die Verwendung von exzentrischen Köpfen verbessern. In dieser Studie kamen jedoch keine exzentrischen Köpfe zur Anwendung. Stress Shielding des proximalen Humerus wurde in 9% der Fälle nach der Implantation einer Langstielprothese beobachtet [2]. Diesem Stress Shielding liegt eine fehlende proximale Krafteinleitung aufgrund des rigiden Schaftdesigns im Vergleich zum weicheren Knochen bei gleichzeitig steifer distaler Verankerung zugrunde. Eine mögliche Lösung dieses Problems stellt die Verwendung von kurzstieligen Endoprothesen dar. Eine kurzstielige Schulterprothese mit Basisplatte verteilt die Belastung besser in der proximalen Humerusmetaphyse und führt dadurch
zu einer optimierten Krafteinleitung vom Implantat in den Knochen. Stress Shielding des proximalen Humerus kann mit Hilfe dieses Designs vermieden werden, wie die Ergebnisse unserer Studie zeigen. Das Konzept einer Kurzstielprothese mit proximaler Fixierung und Verankerung im metaphysären Humerus scheint eine mechanisch gute Integration zu ermöglichen, da eine Prothesenlockerung in unserer Studie nicht nachgewiesen werden konnte. Der Gebrauch einer langstieligen Schulterprothese weist im Vergleich zur kurzstieligen Prothese ein wesentlich erhöhtes Risiko einer periprothetischen Fraktur auf (9% verglichen mit 0%). Besonders bei einliegender ipsilateraler Ellenbogenprothese sollte der Gebrauch eines langen intramedullären Schulterprothesenstiels vermieden werden, da die zwischen den Prothesen liegende Humerusdiaphyse hohen Dreh- und Biegekräften ausgesetzt ist und damit eine Sollbruchstelle darstellt. Mit der kurzstieligen Multiplexprothese traten keine Humerusfrakturen auf. Aufgrund der Ergebnisse dieser Studie kann geschlossen werden, dass mit Verwendung der Multiplex-Kurzstielprothese im Vergleich zu konventionellen Langstielprothesen durch optimierte Rekonstruktion der biomechanischen Verhältnisse eine verbesserte aktive Beweglichkeit erreicht werden kann. Die Probleme des Stress Shielding und der periprothetischen Frakturen können durch kurze Stiele der Humeruskomponenten vermieden werden.
Literatur 1.
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6. 7.
8. 9.
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6.2.1 Große Gelenke Hüfte: Standardimplantat H. Gollwitzer, R. Gradinger
Zusammenfassung Die zementfreie Verankerung von Hüfttotalendoprothesen hat in den letzten Jahrzehnten eine enorme Entwicklung erfahren und stellt gerade beim jungen Menschen den Goldstandard des künstlichen Hüftgelenkersatzes dar. In der folgenden Arbeit werden die Grundprinzipien der Verankerung zementfreier Hüftimplantate, wichtige Entwicklungsschritte moderner Endoprothesen sowie wesentliche Komponenten und Charakteristika der Hüftgelenkskomponenten am Beispiel der ESKA-GHE- und G2-Endoprothesen vorgestellt. Ferner wird eine Übersicht über die wesentlichen klinischen Ergebnisse bei der Verwendung dieser Hüftimplantate gegeben. In den nun vorliegenden Langzeitergebnissen der zementfreien Endoprothesen bestätigt sich das Konzept der ossären Integration, so zeigen sich nach 17 Jahren herausragende Standzeiten mit 94% der Stiele und 84% der Pfannen in situ.
Knöcherne Integration zementfreier Hüftendoprothesen Der künstliche Hüftgelenksersatz besitzt zweifellos eine herausragende Position in der orthopädischen Chirurgie und stellt einen der größten medizinischen Fortschritte des letzten Jahrhunderts dar. Mittlerweile werden weltweit mehr als eine Million Hüfttotalendoprothesen jährlich implantiert, davon rund 135.000 in Deutschland. Nach Implantation der ersten künstlichen Gelenke durch Themistokles Gluck und einer Vielzahl an Rück-
schlägen (Lockerung, Infektion, Fraktur, Implantatbruch) gelang Sir John Charnley schließlich der Durchbruch. Durch den Einsatz von Polymethylmetacrylat (PMMA, »Knochenzement«) erreichte er eine formschlüssige Kraftübertragung vom Implantat in den azetabulären und femoralen Knochen und erfüllte damit die Voraussetzung für eine primär stabile Implantatverankerung. Doch häufiges Versagen des Zementmantels sowie Hitzenekrosen durch hohe Aushärtungstemperaturen des Polymers führten zu relativ hohen Raten an Osteolysen und aseptischen Lockerungen. Schließlich wurden die Ergebnisse der zementierten Verankerung Ende der 70er Jahre als unzureichend angesehen. In der Folge gab es eine Vielzahl neuer Entwicklungen, wobei zum einen die Verbesserung der Zementiertechnik im Mittelpunkt stand, und zum anderen das Ziel einer dauerhaften, zementfreien Implantatfixation verfolgt wurde [1]. Dabei zeigte sich, dass der Erfolg der zementfreien Endoprothesenverankerung sowohl von der Primärstabilität als auch von der dauerhaften sekundären Integration in das Knochenlager abhängt. Wesentlichen Einfluss darauf haben Materialeigenschaften, Implantatdesign und Oberflächengestaltung [2]. Bekanntermaßen ist die Ausschaltung von Relativbewegungen im Interface im Sinne einer mechanisch stabilen Primärverankerung die wesentliche Bedingung für ein knöchernes Einwachsen zementfreier Implantate. Deshalb ist für alle zementfreien Stiele eine primär stabile Fixation durch das »Press-fit«-Prinzip eine notwendige Voraussetzung. Die sekundäre knöcherne Integration wird bei zementfreien Prothesen schließlich über eine Oberflächenstruk-
100
6
Teil III · Anwendung
turierung der Implantate angestrebt. Bei zementfreien Implantaten werden vollstrukturierte von teilstrukturierten Prothesen und, in Bezug auf die knöcherne Verankerung, die Prinzipien der diaphysären, metaphysär-diaphysären, rein metaphysären bzw. epimetaphysären Verankerung unterschieden. Neben den zementfreien Hüftendoprothesen dürfen auch die zementierbaren Implantate im Spektrum der einzusetzenden Gelenke nicht fehlen. Die Indikationen für den Einsatz von Knochenzement sind dabei für jeden Patienten im Einzelfall zu prüfen, jedoch ist der Einsatz von Knochenzement gerade bei Hüftpfannen in den letzten Jahren deutlich in den Hintergrund getreten. Aus diesem Grund stehen die Besonderheiten und Entwicklungsschritte zementfreier Standardendoprothesen der Hüfte im Fokus dieser Arbeit, die im Folgenden am Beispiel der GHE- und G2-Prothese (ESKA Implants, Lübeck) erörtert werden (⊡ Abb. 6.4).
a
Hüftstiel vollstrukturiert (GHE) b
Grundlage für die Entwicklung der zementfreien GHEProthese war die Überlegung, als Oberflächenstruktur die natürliche Spongiosa zu imitieren und somit nicht nur ein Heranwachsen (»bony ongrowth«) des Knochens zu ermöglichen, sondern über ein Hindurchwachsen (»bony ingrowth«) eine komplette Verzahnung von Implantat und Knochen zu erzielen (»Spongiosa-Metall«, Endocast®) [3]. Die Entwicklungsschritte zur Herstellung des auf einem Kunststoffschwamm basierenden Spongiosametalls wurden bereits in Kap. 1 dieser Monographie beschrieben. Sämtliche Implantate mit dieser interkonnektierenden Oberfläche wurden aus einer Kobalt-Chrom-Molybdän-Basislegierung hergestellt, die Porengröße entsprach 800–1500 µm mit einer Porosität von ca. 60%. Sowohl im Tierexperiment als auch an Humanexplantaten konnte für derart modifizierte Implantate ein Einwachsen von vitalem Knochengewebe mit Blutgefäßen und Kollagenfasern bis zu einer Tiefe von 3 mm in das kommunizierende Hohlraumsystem nachgewiesen werden [4]. Ein weiterer Schritt zur verbesserten knöchernen Integration und Primärstabilität war die Entwicklung so genannter »anatomischer Stiele« mit »Ei-ovalem« Durchmesser und konischer, anatomisch angepasster Form. Die anatomische Form der GHE-Implantate wurde durch Untersuchungen an humanen Leichenfemora entwickelt und weist eine seitendifferente S-förmige Schwingung ent-
c
d
e
⊡ Abb. 6.4. Zementfreie Hüftgelenksimplantate: a Hüftstiel G2 mit festem Konus, b Hüftstiel GHE als Stieladapter, c Doppelkonen zur Kombination der Hüftstiele mit unterschiedlich gewinkelten und lateralisierenden »Schenkelhälsen«, d Metallsockel »Standard« Typ 2000 (auch mit Schraubenlöchern zur zusätzlichen Schraubenfixation verfügbar), e Metallsockel »Kapuziner« (alle Abbildungen mit freundlicher Überlassung der Fa. ESKA Implants).
101 Kapitel 6.2.1 · Große Gelenke: Hüfte: Standardimplantat
sprechend dem proximalen Femur auf [3]. Dabei soll zum einen durch die abgeflachte Implantatschulter das Trochantermassiv bei der Implantation geschont werden, zum anderen soll die anatomisch angepasste Form das primäre Fixationsprinzip des »press-fit« optimieren. Weiterhin erleichtert die S-förmige Schwingung die Anpassung des Implantates in das koxale Femurende und damit die Vermeidung von Rotationsfehlern während der Implantation [5]. Die klinischen Untersuchungen zu diesen relativ steifen und kurzstieligen zementfreien Hüfttotalendoprothesen zeigten überwiegend positive Ergebnisse (⊡ Tabelle 6.2). Sielewicz et al. konnten insgesamt 605 zementfreie Hüfttotalendoprothesen über einen durchschnittlichen Zeitraum von 5 Jahren nachuntersuchen [6]. Dabei zeigten sich nach Merle d’Aubigné bei 565 Patienten (85%) exzellente oder gute Resultate. Lediglich 3 Endoprothesen (0,5%) mussten aufgrund einer aseptischen Lockerung gewechselt werden, bei 2 weiteren Hüften bestand zum Nachuntersuchungszeitpunkt der radiologische Verdacht auf eine Lockerung ohne klinische Beschwerdesymptomatik. Intra-
operativ kam es in 4 Fällen zu Frakturen des Femurschafts, die jedoch unter Entlastung folgenlos ausheilten [6]. Elf postoperative Luxationen mussten geschlossen reponiert werden, und zweimal kam es intraoperativ zur Fraktur des Trochanter minors. Bei der radiologischen Nachuntersuchung zeigte sich bei 99% der azetabulären Komponenten keine Stellungsänderung, nur bei 5 Hüftpfannen wurde eine Protrusion nachgewiesen. 98,5% der Hüftstiele waren in unveränderter Stellung in situ, 3 Stiele zeigten sich radiologisch und klinisch gelockert und mussten gewechselt werden. Als häufigste Ursache unbefriedigender postoperativer Ergebnisse wurden Schmerzen im Bereich des Oberschenkels angegeben, die insgesamt 7,4% der Patienten beklagten. Weitere Nachuntersuchungen nach 5–9 Jahren [7] bzw. 5,8 Jahren [8] zeigten gute und sehr gute funktionelle Resultate (Matsui et al. 100%, Scholz et al. 88%) mit ausgezeichneten Standzeiten der Implantate. Sugano und Mitarbeiter berichteten bei ausschließlich dysplastischen Hüften zu 100% von exzellenten und guten Ergebnissen, und einem durchschnittlichen Anstieg des
⊡ Tabelle 6.2. Ergebnisse nach Implantation zementfreier Hüfttotalendoprothesen (Typ ESKA); ateilstrukturierter Stiel (tcl); HHS durchschnittliches Funktionsergebnis nach Harris-Hip-Score (max. 100 Punkte; sehr gut/gut >80); bPAO Revision wegen periartikulärer Ossifikationen; cteilstrukturierter Stiel mit Hydroxylapatitbeschichtung; dHämodialysepatienten; enur aseptische Lockerung; fPrimäreingriffe und Wechseloperationen Autor
Hüften
Follow-up (Jahre)
Pat.-Alter
Pfannenrevision
Stielrevision
Sehr gut/gut (Merle d’Aubigné)
Deckinga [23]
96
6,2 (5,3–6,7)
75,5 (32–72)
0
0
93,2 HHS
Götze [26]
137
11,8 (10,1–14,9)
5
10
88,3 HHS
Kinnerc
200
4 (2–5)
64 (34–81)
0
0
97 HHS
51
6,3 (5–9)
50 (29–66)
1 (Infektion)
1 (Implantatbruch)
100%
[27]
Matsui [7] d
Nakai [11]
15
3,7 (2–6)
59,6 (46–74)
1 (Infektion)
1 (Infektion)
94%
Plötz [12]
106
2,8 (1–5,4)
Max. 65
0
0
98%
Runkelf [13]
72
3,6 (2–7)
55,6 (25–80)
2 (Lockerunge) 3 (OP-Fehlere)
2 (Lockerunge)
88%
Runkel [17]
43
3,6
53,4 (26–79)
2 (Lockerunge) 1 (OP-Fehlere)
2 (Lockerunge)
88%
Scholz [8]
990
5,8
57 (33–82)
3 (Infektion)
5 (OP-Fehlere) 3 (Infektion)
87%
Sielewicz [6]
605
5
57 (33–82)
0
3 (Lockerunge)
85%
Sprick [10]
138
6,3 (5–8,5)
62,4
2 (Lockerunge)
1 (Lockerunge)
91,2 HHS
b
2 Infektion, 1 Kopfbruch, 2 PAO Sugano [9]
66
3,6 (2–6)
51 (29–63)
6.2.1
0
0
100%
102
6
Teil III · Anwendung
Merle d’Aubigné Scores von 7,8 auf ausgezeichnete 16,9 Punkte (max. 18 Punkte) [9]. Im Gegensatz zu anderen Studien zeigte sich hier nur selten ein postoperativer Oberschenkelschmerz, der zudem rasch rückläufig war [9]. Sprick und Dufek bestätigten diese Beobachtung in einer weiteren Untersuchung mit postoperativem Oberschenkelschmerz bei lediglich 4% der Patienten [10], und Nakai et al. konnten eine derartige Komplikation sogar bei keinem ihrer Patienten beobachten [11]. Wenn sich unbefriedigende Resultate einstellten, so waren diese v. a. auf die Ausbildung periartikulärer Ossifikationen zurückzuführen, eine Komplikation, die durch die Einführung einer postoperativen Nachbestrahlung minimiert werden konnte [10]. Herausragend sind die Langzeitergebnisse der Stiele mit strukturierter Oberfläche. So zeigten sich in einer aktuellen Untersuchung von Gerdesmeyer et al. nach einer Nachbeobachtungszeit von 17 Jahren! noch 94% der Stiele stabil integriert! [Publikation in Vorbereitung]. Damit liegen die Ergebnisse deutlich über den Resultaten gängiger zementfreier oder auch zementierter Implantate, wie sie nach ähnlichen Nachbeobachtungszeiten z.B. im Rahmen der »Schwedenstudie« von Malchau et al. beobachtet werden konnten.
Postoperative Oberschenkelschmerzen nach zementfreier Hüftendoprothetik Als wesentliche Ursachen der postoperativen Oberschenkelschmerzen beim GHE-Stiel konnten eine schlechte primäre Passgenauigkeit des Implantats, eine Implantation in Varusposition, höheres Lebensalter mit Osteopenie [12] und eine vermehrte distale Krafteinleitung [4, 13] nachgewiesen werden. Weitere Autoren fanden für andere zementfreie Implantate postoperative Oberschenkelschmerzen bei bis zu 40% der operierten Patienten. Als Hauptursachen wurden dabei Mikrobewegungen zwischen Implantat und Knochen, hohe Lasttransfers zum Femur mit Belastungsspitzen durch steife Implantate (abhängig von Material, Geometrie und Größe, Oberfläche!) und ein Missverhältnis des Elastizitätsmoduls zwischen Implantat und Knochen verantwortlich gemacht. Weitere bekannte Risikofaktoren sind eine schlechte Knochenqualität mit Osteopenie sowie periostale Irritationen [14]. Interessanterweise war der postoperative Oberschenkelschmerz bei Plötz et al. nach einer stabilen ossären Integration zumeist rückläufig [12]. Weiterhin zeigte sich, dass selbst eine stabile fibröse Integration zu hervorra-
genden klinischen Ergebnissen führte. So wurde selbst bei Stielimplantaten, die radiologisch komplett von einer dünnen bindegewebigen Schicht umgeben waren, kein Stielwechsel notwendig [12]. Diese Ergebnisse stehen in Übereinstimmung mit Daten von Engh und Mitarbeitern, die die stabile fibröse Integration mit einem röntgendichten Saum im Abstand von nicht mehr als einem Millimeter zum Implantatstiel definierten [15]. Therapeutisch stehen bei chronischen Oberschenkelschmerzen nach sorgfältiger diagnostischer Abklärung anderer Ursachen neben analgetisch-antiphlogistischen Maßnahmen und der temporären Belastungsreduktion auch operative Verfahren zur Verfügung (kortikale Anbohrung, laterale Augmentation und Versteifung durch Anlagerung allogenen Knochens, Komponentenwechsel) [14].
Stress Shielding Vollstrukturierte Standardimplantate werden im koxalen Femurende sowohl metaphysär als auch diaphysär integriert. Eine feste diaphysäre Verankerung kann allerdings bei Belastung zum proximalen Schwingen des Stielimplantates führen. Folge ist eine mangelnde proximale Integration mit Rückbildung des nicht belasteten metaphysären Knochens im Sinne einer periprothetischen Saumbildung, dem sog. »stress shielding« [7, 15, 16]. Neben dem Knochenverlust durch Stress Shielding birgt eine rein distale Krafteinleitung zusätzlich ein erhöhtes Risiko eines Dauerschwingbruchs durch Wechselbelastung des Implantates. Auffallend war das proximale Stress Shielding auch bei der vollstrukturierten GHE-Prothese [7, 12]. So zeigte sich v. a. in der Zone I nach Gruen (lateral zum Trochanter major, ⊡ Abb. 6.5) häufig eine Knochenrückbildung mit Einwachsen von fibrösem Gewebe, radiologisch als kalkarme Zone oder noch häufiger als innere Kortikalisierungslinie zu erkennen [12]. Sprick und Dufek beschrieben diesen lateralseitigen Sklerosesaum in 46,4% der nachuntersuchten Hüftstiele nach 5 Jahren, ohne eine klinische Beschwerdesymptomatik beobachten zu können [10]. Durch proximales Schwingen des Implantats kann es jedoch auch zu einer proximal-medialen Knochenresorption kommen (Zone VII nach Gruen). Runkel und Mitarbeiter beobachteten eine derartige Resorption des Kalkars mit Verlust der medialseitigen Kragenauflage bei vollstrukturierten Implantaten sogar in 44% [13] bzw. 54% [17] der Hüftstiele, wobei eine stabile Verankerung durch die distale Integration gewährleistet war. Aufgrund dieser
103 Kapitel 6.2.1 · Große Gelenke: Hüfte: Standardimplantat
6.2.1
⊡ Abb. 6.5. Zoneneinteilung nach Gruen (Femur) sowie DeLee und
⊡ Abb. 6.6. Zementfreie Implantation eines vollstrukturierten GHE-
Charnley (Acetabulum) zur standardisierten Bestimmung der ossären Integration zementfreier Implantate.
Stiels sowie einer zementfreien Pfanne mit Spongiosa Metall I und zusätzlicher Schraubenfixation.
medialseitigen Resorption der knöchernen Kragenauflage wurde auch der Einsatz von Hüftstielen mit proximalem Kragen, der zu einer Optimierung der Kraftübertragung auf die Knochentrabekel beitragen sollte [3], weitgehend wieder verlassen. Entsprechend der proximalen Knochenresorption kann es bei vollstrukturierten Hüftstielen durch die distale Krafteinleitung auch zu einer Hypersklerosierung im Bereich der Stielspitze kommen. Eine derartige knöcherne Sockelbildung im Sinne einer Dichtezunahme der Kortikalis bzw. einer Knochenneubildung um die Prothesenspitze wurde von Plötz et al. in bis zu 77% dieser Stiele beschrieben [12]. Diese blieb jedoch ohne klinische Beschwerdesymptomatik, falls der Stiel schlüssig verklemmte [10, 12]. Als nuklearmedizinisches Korrelat dieses Knochenumbaus wurde bei asymptomatischen und
fest integrierten vollstrukturierten Hüftimplantaten ein persistierend positiver Befund in der Knochenszintigraphie bis zu 22 Monate nach Implantation nachgewiesen [8]. Dies ist insbesondere bei der Diagnostik der (septischen) Lockerung zu beachten, um falsch-positive Aussagen zu vermeiden bzw. korrekt zu interpretieren.
Hüftstiele teilstrukturiert (GHE, G2) und Spongiosa-Metall II Die berichteten Limitationen der vollstrukturierten Implantate führten zur Weiterentwicklung der zementfreien Prothesenstiele. Als günstig erwies sich dabei eine Teilstrukturierung der Prothesenstiele mit Beschränkung der makroporösen Oberflächenstrukturen auf die proximalen
104
6
Teil III · Anwendung
zwei Drittel der Stiele. Ziel war dabei eine Reduktion der distalen, diaphysären Krafteinleitung bei gleichzeitig vermehrter proximaler Krafteinleitung und metaphysärer Integration unter Vermeidung des sekundären Stress Shielding. Diesen Anforderungen an die neue Generation zementfreier Hüftprothesenstiele in Kombination mit den Überlegungen einer möglichst biologienahen Implantatintegration wurde in der Entwicklung der aktuellen GHE- und G2-Endoprothesen Rechnung getragen. Die Oberflächenstrukturierung ist hier auf die proximalen zwei Drittel begrenzt. Um eine reproduzierbare Oberfläche zu erreichen, wurde weiterhin eine standardisierte 3-dimensionale Trabekelstruktur eingeführt (Spongiosa-Metal II®), die über ein mesostrukturiertes und interkonnektierendes System ebenfalls ein Hindurchwachsen des Knochens durch die Trabekelporen ermöglicht [2]. Entscheidend ist dabei die wirksame Oberfläche des strukturierten Implantats, also die Oberfläche, die über ausreichend große Poren der Eintritts- und Verbindungskanäle eine knöcherne Erschließung zulässt (100–2000 µm) [2]. Die entwickelte Trabekelstruktur stellt mit einer Porosität von mehr als 70% eine Maximierung der wirksamen Oberfläche dar, da letztlich die gesamte Geometrie der knöchernen Erschließung mit ausreichend weiten Poren zur Verfügung steht. Zu beachten ist bei der Konstruktion solch oberflächenstrukturierter Implantate auch, dass die Bruchstabilität des Implantats gewährleistet sein muss. Durch den begrenzten Innendurchmesser des femoralen Markraums ist auch der Gesamtdurchmesser des Implantates limitiert. Die Bauhöhe der Oberflächenstrukturierung geht somit zwangsläufig »zu Lasten« des Prothesenkerndurchmessers, der für das Bruchrisiko der Prothese verantwortlich ist. Gerade bei kleinen Endoprothesen kann dabei ein kritischer Kerndurchmesser erreicht werden [18]. Durch die von der Arbeitsgruppe um Gradinger entwickelte Teilstrukturierung mit einem glatten, distalen Stielanteil sowie einer graduierten, abnehmenden Oberflächenbauhöhe von proximal nach distal konnte dieser Problematik begegnet werden [19]. Der Graduierung der Oberflächenstruktur entsprechend kommt es auch zu einer fließenden – von proximal nach distal abnehmenden – Krafteinleitung in das femorale Knochenlager. Die Gleichmäßigkeit der Trabekel und die graduierte Abnahme der Bauhöhe ohne Kalibersprünge gewährleistet wiederum eine Minimierung der Kerbwirkung mit Reduktion des Bruchrisikos [19]. Ursächlich für die günstigen klinischen Ergebnisse der G2-Stiele ist neben der metaphysären Integration
wohl auch die isoelastische dynamische Verankerung der Implantate über das Spongiosametall. Aufgrund der unterschiedlichen Elastizitätsmodule zwischen Knochen und Metall entstehen bei Belastung durch Scher-, Torsions-, Zug- und Druckkräfte Spannungen und Bewegungen am Interface. Diese können durch die Übergangszone im Bereich des Spongiosametalls teilweise gemindert werden, da die Trabekelstruktur in der Lage ist, Spannungsspitzen zu kompensieren [18]. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass auftretende Mikrobewegungen ein Maximum von ca. 28 µm nicht überschreiten, da es sonst zur Ausbildung eines bindegewebigen Interface kommt [20]. Weiterhin passt sich das Knochenlager der Krafteinleitung an. Diese ist im proximalen metaphysären Bereich entsprechend der Bauhöhe der Tripoden am größten und nimmt nach distal mit Abnahme der Tripodenbauhöhe ebenfalls ab, um letztendlich im Prothesenspitzenbereich mit glatter Oberfläche auf ein Minimum abzusinken. Dies zeigt sich als distales bindegewebiges Interface, radiologisch als innere Kortikalisierungslinie zu erkennen (⊡ Abb. 6.7). Neben der graduiert abnehmenden Bauhöhe der Trabekelstrukturen wurde bei der G2-Prothese auch die Form im Vergleich zum GHE-Implantat vereinfacht, so besitzen diese Stiele nur eine einfache Kurvation, um die vorbereitende Raspelung des femoralen Markraums und die Implantation zu vereinfachen. Obwohl auch für proximal teilstrukturierte Hüftstiele ein Auftreten von Oberschenkelschmerzen durch eine verminderte Primärstabilität und Mikrobewegungen an der Prothesenspitze diskutiert wurde [21], konnte dies in eigenen Untersuchungen ausgeschlossen werden [22]. Insgesamt scheint die Problematik der postoperativen Oberschenkelschmerzen durch den Einsatz teilstrukturierter Hüftstiele weitgehend beseitigt. Decking und Mitarbeiter beschrieben bei einem Patienten mit ausgeprägter Sklerosierung um die Prothesenspitze therapieresistente und persistierende Oberschenkelschmerzen, die durch eine Anbohrung des Femurs in diesem Bereich gelindert werden konnten [23]. Als weitere Vorteile der proximal teilstrukturierten Implantate wird neben der Reduktion des Stress Shieldings auch eine verminderte Korrosion und eine einfachere Explantation im Wechselfall diskutiert [16]. Im Gegensatz zu den vollstrukturierten Implantaten liegen für die proximal teilstrukturierten Stiele noch keine Langzeitergebnisse vor, aktuelle klinische Beobachtungen lassen jedoch vielversprechende Ergebnisse erwarten (⊡ Abb. 6.8).
105 Kapitel 6.2.1 · Große Gelenke: Hüfte: Standardimplantat
6.2.1
⊡ Abb. 6.7. Zementfrei implantierter GHEStiel mit teilstrukturierter Oberfläche (Spongiosa Metal I) 12 Jahre nach Implantation. Bei proximaler ossärer Integration ist distal ein schmaler Saum mit innerer Kortikalisierung (Vergrößerung, Pfeil) zu erkennen. Der distale Saum ist Folge der proximal festen Verankerung, welche distal Mikrobewegungen zulässt, und ist somit nicht als Lockerung zu werten (siehe auch Kapitel 6.2.5).
a
b
⊡ Abb. 6.8. Zementfrei implantierter G2-Hüftstiel mit zementfreier Standardpfanne, asymmetrischem Inlay und zusätzlicher Schraubenfixation bei einer 68-jährigen Patientin mit destruierender Coxarthro-
c se: a präoperativ, b postoperative Kontrolle, c unveränderte Stellung 1 Jahr postoperativ.
106
Teil III · Anwendung
Pfannenimplantate Schraubpfannen
6
Äquivalent zu den zementfreien Hüftstielen erfolgte die Entwicklung zementfreier Pfannenimplantate. Die Entwicklung der Schraubpfannen beruhte zunächst auf dem Grundgedanken einer Primär- und Sekundärstabilität durch mechanische Verzahnung von Gewinde und Knochenlager. Bei den Schraubpfannen mit glatter Oberfläche zeigte sich jedoch durch Druckspitzen im Knochenlager (mit Knochenresorption und Nekrose) eine mangelhafte Sekundärstabilität, die zu inakzeptablen Lockerungsraten führte [24]. Eine Weiterentwicklung stellen hier die porösen Schraubpfannen dar, die auf eine verbesserte Sekundärstabilität mit geringeren Lockerungsraten hinweisen [24]. Hierfür fehlen derzeit jedoch noch die Resultate größerer Studien, um einen klinischen Einsatz tatsächlich empfehlen zu können.
Sphärische Pfannen Für die klinische Anwendung setzten sich vorerst die sphärischen Pfannen mit Press-fit-Verankerung durch, die im Gegensatz zu den Schraubpfannen auch eine Korrektur der Positionierung während der Implantation erlauben [24]. Hier erwies sich, in Anlehnung an die Entwicklung bei Hüftstielen, eine Oberflächenstrukturierung für die zementfreie Integration als wesentlich, um eine adäquate Primär- und Sekundärstabilität zu ermöglichen. Die zur zementfreien Implantation vorgesehene formschlüssige metallische Pfannenschale der Firma ESKA wurde, dem Prinzip des knöchernen Einwachsens entsprechend, mit einer interkonnektierenden Oberflächenstrukturierung versehen. In den klinischen Nachuntersuchungen konnten bislang überwiegend gute bis sehr gute Ergebnisse bei gleichzeitig niedrigen Lockerungsraten beobachtet werden (⊡ Tabelle 6.2). Frühlockerungen waren dabei meist auf Operationsfehler mit einer primär zu steilen Pfannenpositionierung zurückzuführen [13, 17]. Decking et al. konnten bei keiner der 96 nachuntersuchten Pfannenimplantate eine Saumbildung oder gar Lockerung beobachten, und knöcherne Umbauvorgänge des Pfannenlagers traten nur selten auf [23]. Auch Plötz et al. erreichten bei 98% der Pfannenimplantate eine feste knöcherne Integration, zwei Pfannenimplantate zeigten eine Migration und mussten revidiert werden [12]. Gerdesmeyer et al.
konnten bei den zementfreien sphärischen Pfannenimplantaten nach 17 Jahren Nachbeobachtungszeit noch 84% der Implantate stabil integriert vorfinden [Publikation in Vorbereitung]. Diese hohen Standzeiten liegen wie bei den zementfreien Stielen deutlich über den aus der Literatur beschriebenen Ergebnissen für zementfreie und zementierte Implantate und bestätigen das Prinzip der dauerhaften ossären Integration.
Schraubenfixation bei Press-fit-Pfannen Um das Risiko einer Frühlockerung zu vermindern und über eine verbesserte Primärstabilität eine knöcherne Pfannenverankerung zu ermöglichen, wird eine zusätzliche Schraubenfixation durch die metallische Pfannenschale empfohlen. So beobachteten Runkel et al. Frühlockerungen von Pfannenimplantaten lediglich in der ersten Phase der Studie, also bei Prothesen, die ohne zusätzliche Schraubenfixation eingebracht worden waren. Bei den später implantierten Press-fit-Pfannen mit zusätzlicher Schraubenfixation konnte keine derartige Komplikation mehr beobachtet werden [13]. Dies steht in Übereinstimmung mit Untersuchungen anderer Autoren, die auch nachweisen konnten, dass zwei bikortikale Schrauben die Primärstabilität von Press-fit-Pfannen verbessern, dass jedoch mehr als zwei Schrauben keinen zusätzlichen Vorteil bringen. Auch die Bedenken der vermehrten Osteolysenbildung durch die Schraubenlöcher konnten nicht bestätigt werden [24]. Weitere neue Techniken zur Verbesserung der Primärstabilität beschäftigen sich mit dem Einsatz von Finnen oder Stiften an der Pfannenrückfläche oder einem unterschiedlichen Durchmesser der Pfannenfräse zum Implantat (»dual geometry components«), um eine stabilere Verklemmung zu erreichen. Dabei korreliert eine initiale Inkongruenz in den DeLee- und Charnley-Zonen I und III (⊡ Abb. 6.5) direkt mit der radiologischen Lockerungsrate, während kleine polar lokalisierte Spalten (DeLee- und Charney-Zone II) erfahrungsgemäß keinen Einfluss auf die Integration zeigten [24]. Neben der Pfannenlockerung wurden von Plötz et al. noch persistierende und therapieresistente Leistenschmerzen – v.a. bei Hüftbeugung – als mögliche Komplikation beschrieben [12]. Durch die Probeinfiltration mit Lokalanästhetikum kann in diesen Fällen eine Schmerzfreiheit erreicht werden, was eine Reizung des Musculus iliopsoas durch ein überstehendes Pfannenimplantat oder
107 Kapitel 6.2.1 · Große Gelenke: Hüfte: Standardimplantat
6.2.1
a
b
⊡ Abb. 6.9. Zementfrei implantierter G2-Hüftstiel mit zementfreier Standardpfanne und asymmetrischem Inlay bei einem 69-jährigen
Vernarbungen unter der Iliopsoassehne bestätigt. Eine morphologische Diagnosesicherung kann zum Teil per CT erfolgen. Eine der neuesten Entwicklungen stellt der, im Gegensatz zum sphärischen Standardimplantat entwickelte, abgeflachte Metallsockel »Kapuziner« dar (⊡ Abb. 6.4). Hiermit soll durch eine reduzierte Bautiefe zwischen Implantat und Knochenlager ein Ringschluss erreicht werden. Bei korrekter Implantation ist dabei ein vermehrter Primärkontakt zwischen Implantatoberfläche und Knochen – v. a. im Bereich der Fossa acetabuli – möglich [25]. Ob dadurch die klinischen Ergebnisse verbessert werden müssen die entsprechenden klinischen Studien zeigen (⊡ Tabelle 6.2).
c Patientin mit Coxarthrose: a präoperativ, b postoperative Kontrolle, c unveränderte Stellung beim Follow-up.
Klinische Anwendung der zementfreien Standardprothese des Hüftgelenkes Die Indikation zur Implantation zementfreier Hüftendoprothesen sehen wir bei allen Formen der Gelenkzerstörung und gleichzeitig erhaltener Knochenqualität des Implantatlagers. Typische Indikationen für die zementfreie Hüftendoprothetik sind vor allem ▬ die therapieresistente fortgeschrittene primäre oder sekundäre Koxarthrose im jungen und mittleren Lebensalter bei entsprechendem Leidensdruck, ▬ die Koxarthrose bei älteren, rüstigen Patienten mit guter Knochenqualität, ▬ die Hüftkopfnekrose,
108
Teil III · Anwendung
▬ die Schenkelhalsfraktur beim jungen Patienten nach Scheitern der osteosynthetischen Versorgung, ▬ operable proximale Femurmetastasen, aber auch der ▬ Endoprothesenwechsel bei erhaltenem Knochenlager.
6
Die Indikationsstellung zum Einsatz von Knochenzement muss im Einzelfall entschieden werden. Interessant ist anzumerken, dass bei älteren Menschen mit seniler Osteoporose nach der Implantation zementfreier metallspongiöser Endoprothesenstiele eine Knochenneubildung stimuliert wurde [8]. Bei der präoperativen Aufklärung sollte mit dem Patienten insbesondere das Problem einer möglichen Luxation und Beinlängendifferenz besprochen werden. Zu den relevanten Operationsrisiken zählen weiterhin periartikuläre Ossifikationen mit Bewegungseinschränkung, aseptische Lockerung, Infekt, Femurschaft- und Trochanterfrakturen, Hämatom, Nachblutung, Abrieb, Implantatbruch, Thrombose und Embolie. Wesentliche Punkte der Operationsplanung sind ggf. eine Eigenblutspende und eine Radiatio zur Ossifikationsprophylaxe bei Risikopatienten. Weiterhin sollte eine exakte präoperative Planungszeichnung erstellt werden, dazu stehen sowohl konventionelle als auch entsprechende digitale Planungsschablonen zur Verfügung. Im Rahmen der präoperativen Planung sollte insbesondere bei der dysplastischen Hüfte auf eine Wiederherstellung des anatomischen Drehzentrums geachtet werden. Ferner ist in diesem Zusammenhang auch die korrekte Einstellung des femoralen Offsets wesentlich, wofür neben den Standardstielen auch lateralisierende Implantate bzw. Stiele mit einstellbaren Doppelkonen zur Verfügung stehen. Da das Fixationsprinzip der zementfreien Femurstiele eine metaphysäre Verankerung vorsieht, muss bereits präoperativ auf ein ausreichendes Knochenlager am koxalen Femurende geachtet werden. Um dies in den entsprechenden Fällen möglich zu machen, ist vereinzelt eine diaphysäre Markraumaufbohrung notwendig. An Implantaten stehen sowohl für Standardimplantate als auch für lateralisierende Stiele jeweils 7 Stielgrößen mit einfacher (G2) oder doppelter Kurvation (GHE) mit bzw. ohne Kragen zur Verfügung (⊡ Abb. 6.4). Überlängen für Revisionseingriffe sind ebenso erhältlich. Der ESKA-Adapter-Hüftstiel mit modularem Konusadapter von 0° bis 20° ermöglicht zusätzliche Einstellungen zur physiologischen Rekonstruktion der Gelenkkinematik. Unterschieden wird auch zwischen links und rechts, da entsprechend der natürlichen Antetorsion des koxalen Fe-
murendes in das Stielimplantat ebenfalls eine Antetorsion von 6° integriert ist. Die Koppelung des Hüftkopfes erfolgt über einen EURO-Konus der Größe 12/14 mm, die Kombination der Gleitpartner Keramik–Polyethylen bzw. Keramik–Keramik wird derzeit bevorzugt eingesetzt. Gerade für eine dauerhafte knöcherne Integration, und hier insbesondere zur Vermeidung abriebinduzierter Osteolysen, spielt die Wahl der Gleitpartner eine entscheidende Rolle. Diesbezüglich sei auf das Kap. 10, »Verschleißteile und tribologische Optimierung«, in der vorliegenden Monographie verwiesen. Für die Hüftpfannenrekonstruktion stehen sowohl für den »Standard« als auch für den abgeflachten »Kapuziner« Metallsockel jeweils 11 verschiedene Größen mit einem Außendurchmesser von 44–68 mm zur Verfügung. Als Gelenkpartner können Inlays aus Polyethylen, Aluminiumoxid-Keramik sowie ESKA-Ceram® eingesetzt werden. Asymmetrische Inlays zur Optimierung der Pfannenüberdachung sind ebenfalls erhältlich. Die Kopfgröße kann zwischen 28 und 32 mm gewählt werden.
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109 Kapitel 6.2.1 · Große Gelenke: Hüfte: Standardimplantat
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6.2.1
6.2.2 Große Gelenke Hüfte: Schenkelhalsprothesen W. Thomas
Zusammenfassung Die ESKA-Schenkelhalsendoprothese »CUT« verfolgt zur Realisierung einer adäquaten Antwort bei der endoprothetischen Behandlung der Coxarthrose das Prinzip der inneren metaphysären Fixation. Es wird hierbei durch die minimale Knochenresektion der gesamte Schenkelhals in seiner knöchernen Struktur erhalten und als Verankerungsstruktur genutzt. Gleichzeitig kann eine dynamische Fixation mit proximaler Krafteinleitung erreicht werden. Bei der kleinen Dimension der Endoprothese sind genaue präoperative Planung und Ausführung des Eingriffs unter Implantation der korrekten Größe des Implantates von ausschlaggebender Bedeutung. Die neue anatomische Form mit Großkopfversorgung und metallischen Gleitpaarungen erleichtert diesen Anspruch.
Einleitung Bei der Coxarthrose ist im Wesentlichen neben der Gelenkpfanne der Femurkopf von Verformung, Zystenbildung und osteophytärer Umwandlung betroffen. Um den gesunden Schenkelhals bei notwendiger endoprothetischer Versorgung zu erhalten, sind schon frühzeitig entsprechende Endoprothesen entwickelt worden [1]. Nachdem diese Implantate wegen Material- und Verankerungsproblemen nur kurzfristig erfolgreich waren, verging eine geraume Zeit, bis Huggler und Jacob die
Druckscheibenprothese zur klinischen Anwendung brachten [2]. Auch die Gruppe ESKA hat ein zementloses Schenkelhalsimplantat entwickelt, das ähnlich wie die Druckscheibenprothese die laterale Femurkortikalis für die Anbringung einer Lasche mit Schraube durchbohren musste und seit 1995 zur Anwendung kam (Cigar, Eska Implants, Lübeck). Um die gelegentlich auftretenden Laschenprobleme (v. a. Schmerz und Instabilität) zu vermeiden, wurde eine Variante mit innerer Fixation entwickelt [3].
Schenkelhalsendoprothese CUT mit rein innerer Fixation Diese »Schenkelhalsendoprothese CUT 2000« wird mit ihrer anatomisch angepassten Form zwischen Zug- und Drucktrabekel des Schenkelhalses eingebracht, wo sie sich über die dreidimensional offenmaschige Verankerungsstruktur des Spongiosametalls zementfrei verankern lässt. Diese biomechanisch günstige Integration geschieht durch dynamische Fixation des Implantates unter funktioneller Beanspruchung. Hierbei entsteht, wie im physiologischen Fall ohne Implantat, eine erhöhte Krafteinleitung an der medialen Schenkelhalskortikalis mit Kompensation an der lateralen Anlagezone der inneren Femurkortikalis. Dieser Effekt ist durch funktionell-morphologische Analysen [4], durch spannungsoptische Untersuchungen [5, 6] und durch szintigraphische Studien [7] bestätigt worden.
111 Kapitel 6.2.2 · Große Gelenke: Hüfte: Schenkelhalsprothesen
Modulare Bestandteile der Schenkelhalsprothese Die ESKA-Schenkelhalsendoprothese CUT bietet dem Operateur durch ihre vielfältige Zusammenstellbarkeit ein weites Anwendungsspektrum. Sie besteht aus drei Teilen (⊡ Abb. 6.10): Der eigentliche Endoprothesenkörper ist konisch gestaltet, wobei sich der Durchmesser zur Peripherie hin verjüngt. Dieser periphere Teil ist zugleich gebogen gestaltet, um sich dem kurvigen Verlauf der lateralen Zugtrabekel des Schenkelhalses anzulegen. Das laterale Ende der Endoprothese ist an der Oberfläche glatt und passt sich reizlos der inneren Kortikalis des Femur an. Diese Gestaltung mit dem lateral längeren, gebogenen Anteil macht die Endoprothese in ihrer Form dem englischen Gehrock ähnlich, was letztlich zur Namensgebung »CUT« geführt hat. Die mediale Stufe im Endoprothesenkörper führt zu einer rechtwinkeligen Abstützung auf den kräftigen Drucktrabekeln des Kalkar. Der Querschnitt der Endoprothese ist ebenfalls zur bestmöglichen Anpassung an die normalanatomischen Verhältnisse des Schenkelhalses oval gestaltet. Die Endoprothese wird mit anwachsenden Durchmessern geliefert, wobei pro Durchmesser jeweils 3 verschiedene Längen zur Verfügung stehen. Die Endoprothese kann wegen ihrer neutralen Form für die rechte und linke Seite angewandt werden. Die Verankerungsoberfläche besteht aus dem langjährig erprobten »Spongiosametall II« [8, 9].
⊡ Abb. 6.10a–c. Endoprothese CUT A (anatomische Form): a Endoprothesenkörper mit 10°-Adapter (a.p.-Ansicht); b Endoprothesenkörper mit 10°-Adapter (seitliche Ansicht); c Endoprothese mit 10°-Adapter, Großkopf und Kapuzinerpfanne
6.2.2
Auf dem Endoprothesenkörper wird ein Halsadapterteil konisch fixiert. Dieser Adapter steht in einer 10°- und in einer 20°-Winkelvariante zur Verfügung, wodurch je nach Notwendigkeit eine variable Schenkelhalseinstellung erfolgen kann. Hierdurch sind individuelle Anpassungen des Varus-/Valgus-Winkels sowie des Ante- und Retroversionswinkels mit unterschiedlichen Off-set-Ergebnissen möglich (⊡ Abb. 6.11). Die Stabilität dieser Konusverbindung wurde in einer biomechanischen Studie nachgewiesen [10]. Auf den Konus des Endoprothesenhalses (Adapter) wird der Endoprothesenkopf aufgesetzt. Die Köpfe werden je nach Anforderung in unterschiedlichen Längen und Durchmessern angewandt. Als azetabuläre Endoprothese bevorzugen wir die ESKA-Kapuziner-Pfanne, die mit ihrer abgeflachten Bodenform eine Press-fit-Fixation durch Ringschluss ermöglicht. Auf der Basis der Auswertung der klinischen Erfahrungen der Mitglieder der Anwendergruppe (s. Ergebnisse) und durch neue biomechanische Erkenntnisse sowie technische Neuerungen (Metall-Metall-Paarungen), sind Anregungen zur Perfektionierung dieses Endoprothesen-
⊡ Abb. 6.11. Endoprothese CUT A (anatomische Form): Schematische Darstellung der Beeinflussung von Off-set und Beinlänge durch den Adapterwinkel und die Kopfhalsgröße
112
6
Teil III · Anwendung
konzeptes entstanden. Das endgültige Implantat hat jetzt eine der Anatomie des Schenkelhalses verbessert angepasste Form (»CUT A«). Durch diese auch medial kurvige Gestaltung ist eine verbesserte Implantation in den Schenkelhals möglich, ohne dass die bei der gestreckten Form öfter beobachtete valgische Aufstellung entsteht. Außerdem wird das CUT-Implantat heute mit der Großkopfversorgung kombiniert. Hierdurch entsteht eine Verlagerung des Bewegungszentrums in die natürliche Ebene. Dies hat ein günstiges Verhältnis zwischen dem Verankerungselement des Endoprothesenkörpers und dem Hebel des Bewegungselementes (Halsadapter und Kopf) zugunsten der Verankerungsseite zur Folge. Die Großkopfversorgung wurde erst durch die gleichzeitige Perfektionierung metallischer Gleitpaarungen möglich. Für die hier beschriebene so genannte »bionische« Version der Großkopfversorgung kommt der zementlose Metallsockel mit abgeflachtem Pol zur Press-fit-Fixation zur Anwendung. In diesen Sockel werden in modularer Bauweise Metall-Inlays unterschiedlicher Durchmesser eingebracht (38 mm, 44 mm, 48 mm; ⊡ Abb. 6.10).
Operationstechnik Die Operation wird mit Hilfe von Schablonen zeichnerisch oder mit dem Computer geplant. Hierbei ist es wichtig, bei gegebener korrekter subkapitaler Resektion den richtigen Durchmesser und die genaue Länge entsprechend der Operationsanleitung auszuwählen. Diese Daten müssen dann während der Operation überprüft werden. An unserer Klinik wird die Operation in Rückenlage des Patienten über einen transglutäalen Zugang in minimal-invasiver Technik durchgeführt. Nach Kapsulotomie wird der Hüftkopf nach Anlage einer Sägeschablone subkapital in einem Winkel von 45 Grad zur Horizontalebene reseziert. Der Schenkelhalsstumpf wird durch Hohmann-Hebel und entsprechende Haltungsmanöver am Bein nach lateral weggehalten. So wird zunächst die Hüftpfanne endoprothetisch versorgt. Anschließend wird der Schenkelhalsstumpf aus dem Situs herausgedreht. Es erfolgt eine zentrale Aufbohrung und die Überprüfung des Durchmessers mit einer entsprechenden Messmünze. Mit Universal- und Formraspeln wird der Schenkelhals aufbereitet, wobei die endgültige Formraspel zugleich als Probeimplantat zur Überprüfung von korrektem Durchmesser und Länge durch Bildwandlerkontrolle dient. Mit den Probeteilen können auch Bein-
länge, Schenkelhalsposition und Impingement geprüft werden. Erst danach werden die Probeteile durch die endgültigen Endoprothesenteile ersetzt. Es folgen Spülung des Situs, Einlage von Redondrainagen, schichtweiser Wundverschluss und abschließende Röntgenkontrolle.
Nachbehandlung Wir favorisieren eine individuelle Rehabilitation mit prinzipiell drei Phasen: ▬ Klinische Phase: Unter Heparinschutz erfolgt die Frühmobilisation ab dem 1. postoperativen Tag mit Gehübungen an zwei Unterarmstützen mit Bodenkontakt. In dieser Phase streben wir eine frühe Autonomie des Patienten durch Aufstehübungen, Sitzen und Treppensteigen, Toilettengang und Ankleidetraining an. Danach (3.–5. Tag) erfolgt die Entlassung aus der stationären Behandlung und der Übergang in die zweite Phase. ▬ Domizilphase: Der Therapeut/die Therapeutin begleitet den Patienten am Entlassungstag nach Hause, überprüft die häuslichen Verhältnisse (Toilettenerhöhung, Treppen, Teppiche, Bett etc.) und beginnt die individuelle Rehabilitation entsprechend den Leistungsanforderungen des Patienten. Nach 10 Tagen Beginn der Belastungssteigerung (10 kg alle 2 Tage) bis zur vollen Belastung unter gleichzeitigem Training der hüftstabilisierenden Muskulatur. Dann Übergang auf Entlastung mit einer Unterarmstütze. ▬ Leistungsphase: Zum Erreichen der vollen Leistungsfähigkeit werden Muskelstabilität, Ausdauer und Gangästhetik perfektioniert. Klinische und radiologische Kontrollen erfolgen nach 3, 6 und 12 Monaten, danach jährlich (⊡ Abb. 6.12).
Ergebnisse Die ESKA-Schenkelhalsendoprothese »CUT« findet seit nunmehr 8 Jahren Anwendung. In einem multizentrischen Anwenderkreis von 54 Kliniken sind bisher ca. 2500 Implantationen durchgeführt worden. Die Anwendergruppe hat gemeinsam Richtlinien zur korrekten Planung und Ausführung der Operation erarbeitet und die Perfektionierung der Implantate und der Instrumente vorangetrieben. Die Gruppe betreut eine gemeinsame Erfassungsstudie und führt eine zentrale Schadensmel-
113 Kapitel 6.2.2 · Große Gelenke: Hüfte: Schenkelhalsprothesen
dung und Analyse durch. Bei den Anwendern zeigen sich klinische Ergebnisse, die sich im Wesentlichen mit den eigenen – im Folgenden dargestellten – Beobachtungen decken: Wir überblicken 136 Operationsverläufe bei 130 Patienten (69 weiblich, 61 männlich) über einen Zeitraum von durchschnittlich 52 Monaten (3–96). 64-mal wurde das linke, 60-mal das rechte Hüftgelenk operiert, wobei
a
b
⊡ Abb. 6.12a,b. Klinischer Fall (Röntgenverlauf ): Patientin 47 Jahre: a
6.2.2
6 Fälle bilateral versorgt wurden. Das Alter der Patienten zum Operationszeitpunkt lag im Durchschnitt bei den weiblichen Patienten bei 52 Jahren (26–68), bei den männlichen bei 57 Jahren (21–71). Die Operationsindikationen sind in ⊡ Tabelle 6.3 zusammengestellt. Als postoperative Komplikation (⊡ Tabelle 6.4) wurde eine Thrombose beobachtet, die die Rehabilitation verzögerte. Vier Revisionen mussten wegen Implantatlockerung durchgeführt werden (3%). Wir sahen einen weiteren Fall einer beschwerdefreien Migration (drohende Lockerung?), 5-mal lag ein Trochanterschmerz vor, der nach ca. 12 Monaten und lokaler Antiphlogistikainfiltration abklang. Es wurde eine Fissur am Schenkelhals mit komplikationslosem Verlauf ohne Zusatzeingriff beobachtet. Weiterhin mussten wir eine Luxation wegen Impingement mit Austausch des Endoprothesenkopfes von 28 mm auf 32 mm behandeln. Eine Beinlängendifferenz von mehr als 1 cm bestand bei 1 Patienten. Die Funktion, gemessen anhand des Harris-HipScores, besserte sich rasch und die Werte lagen bei der letzten Nachuntersuchung bei durchschnittlich 92 von 100 möglichen Punkten (⊡ Tabelle 6.5).
Präoperativ: Dysplasiecoxarthrose rechts; b 1 Jahr postoperativ nach Implantation einer CUT-Prothese und Kapuzinerpfanne: Harris-HipScore 98
⊡ Tabelle 6.4. Komplikationen nach CUT-Endoprothresenimplantation (n=136) Komplikation
Anzahl [n]
⊡ Tabelle 6.3. Operationsindikationen bei verschiedenen
Thrombose
1
Diagnosen
Luxation
1
Diagnose
Operierte Hüftgelenke
Infektion
0
Arthrose
90
Lockerung mit Wechsel
4
Arthritis rheumatica
22
Migration
1
Hüftkopfnekrose
20
Beinlängendifferenz:
Frische Frakturen
1
+1,5 cm
1 (~0,7%)
Postraumatische Arthrose
2
+1 cm
4 (~2,9%)
Ankylose
1
+0,5 cm
6 (~4,5%)
⊡ Tabelle 6.5. Funktion nach Harris-Hip-Score (HHS, max. 100) im Nachuntersuchungszeitraum (durchschnittlich 52 Monate) Untersuchung
Prä-op
6 Wochen
3 Monate
12 Monate
Letztes Follow-up
Harris-Hip-Score
54
78
87
88
92
114
Teil III · Anwendung
Diskussion
6
Die Coxarthrose führt zur Degeneration des Knorpels und zu verformenden Umwandlungen des subchondralen Knochens des Hüftkopfes mit Osteophyten- und Zystenbildungen. Wir haben aus diesem Grunde mit der ESKA-Schenkelhalsendoprothese »CUT« ein Konzept entwickelt, bei dem der knochengesunde Schenkelhals erhalten bleibt und zur Fixation einer kurzen Endoprothese genutzt wird [3]. Das biomechanische Prinzip der dynamischen Fixation dieser Endoprothese wurde durch eine funktionellmorphologische Analyse untersucht [4]. Es zeigte sich hierbei unter Beanspruchung eine Erhöhung der Krafteinteilung medial, lateral und unter der Endoprothesenstufe. Dieses Phänomen ließ sich in der klinischen Anwendung durch szintigraphische Verlaufsbeobachtungen belegen [7]. Biomechanische Untersuchungen an Kunstknochen [5] und an Kadaverknochen [6] haben ihrerseits dieses Prinzip bestätigt. Es wurde in diesen Arbeiten besonders darauf hingewiesen, dass bei der relativ kleinen Dimension dieser Endoprothese eine gründliche Planung und präzise Ausführung der Operation unter Kontrolle der korrekten Größe und Länge unerlässlich sind. Zur Verbesserung einer bündigen Implantation wurde der Endoprothesenstiel in seiner Form durch eine mediale Kurvatur der anatomischen Form des Schenkelhalses angepasst (»CUT A«). Außerdem wurde zur Verbesserung des Hebelverhältnisses des relativ kleinen Verankerungskörpers der Endoprothese zum Hebelarm der Bewegungselemente (Halsadapter und Kopf) die Großkopfversorgung eingeführt. Dies war durch die neuerlich verfügbaren abriebarmen metallischen Gleitpaarungen möglich geworden. Durch diese Versorgung entsteht zugleich ein höherer Luxationsschutz und ein vermindertes Impingement-Risiko. Weiterhin lässt sich durch diese neue Version das Risiko der Beinlängendifferenz senken.
Schlussfolgerung Die ESKA-Schenkelhalsendoprothese »CUT« kann aufgrund der Resektion des allein erkrankten Hüftkopfes ohne Opferung des gesunden Schenkelhalses als adäquate Lösung zur endoprothetischen Primärversorgung der Coxarthrose angesehen werden. In einer multizentrischen Anwenderstudie von 54 Kliniken mit mehr als 2500 Implantationen hat sich innerhalb der ersten 8 Jahre gezeigt,
dass Misserfolge vermieden werden können, wenn entsprechend der gemeinsam erarbeiteten Operationsrichtlinien die Resektionsebene korrekt gewählt wird und das Implantat mit dem größtmöglichen Durchmesser und der richtigen Länge zur tiefen lateralen Kortikalisanlage implantiert wird. Unter Beachtung dieser Gesichtspunkte kann mit sehr guten Ergebnissen gerechnet werden (bisher 8-jährige Erfahrung). Auf der Basis der klinischen Erfahrungen einschließlich der Schadensanalysen wurde das Implantat konzeptuell perfektioniert: Der Endoprothesenstiel ist mit einer medialen Kurvatur ausgestattet. Die Großkopfversorgung verbessert die biomechanischen Verhältnisse der Implantatstabilität, reduziert das Risiko des Impingements und nutzt zugleich die Möglichkeit der tribologisch günstigeren metallischen Gleitpaarung. Im Falle einer Lockerung kann ohne besondere Schwierigkeiten eine Revision mit Übergang auf eine diaphysäre Stielverankerung durchgeführt werden.
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115 Kapitel 6.2.2 · Große Gelenke: Hüfte: Schenkelhalsprothesen
Anmerkung der Herausgeber Die ossäre Integration der in Kap. 6.2.2 beschriebenen Schenkelhalsprothese CUT mit proximaler Krafteinleitung konnte auch osteodensitometrisch bestätigt werden [1] und realisiert die knochensparende femorale Verankerung in der Hüfttotalendoprothetik. Wie im vorangegangenen Beitrag beschrieben, sind für diese solide Integration und für das klinische Ergebnis die exakte präoperative Planung und Implantatauswahl sowie die präzise Schenkelhalsresektion und Implantation erfolgsentscheidend. In verschiedenen Untersuchungen zeigten sich jedoch im klinischen Einsatz Probleme in der Umsetzung dieses Konzeptes, sodass gehäuft implantationsbedingte Komplikationen wie v. a. Beinlängendifferenzen und Schaftfissuren auftraten. So beschrieb Flamme [2] nicht nur eine im Vergleich zum Standardimplantat deutlich verlängerte Lernkurve, sondern v. a. die Komplikationen der Beinverlängerung von mehr als 5 mm (35%), der zu kurz implantierten Prothese (16%) und der Schaftsprengung (8%). Bei Stukenborg-Colsman et al. klagten gar 90% der 58 nachuntersuchten Patienten mit CUT-Endoprothesen über eine Beinverlängerung, Schaftfissuren waren bei 24% zu beobachten [3]. Die hohen klinischen Komplikationsraten sind auf anfangs nicht ausgereifte Implantate zurückzuführen, die in den Jahren der Weiterentwicklung sicher eine Verbesserung erfahren haben. Ob dadurch eine nachhaltige Reduktion der bekannten Komplikationen sichergestellt ist, bleibt abzuwarten und muss in prospektiven Studien belegt werden.
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6.2.2
6.2.3 Große Gelenke Hüfte: Kurzstiel G. von Salis-Soglio, J. Gulow
Zusammenfassung Es wird über die bisherigen klinischen Erfahrungen mit der ESKA-Kurzstielendoprothese berichtet. Das Implantat beruht auf der Philosophie der proximalen Kraftübertragung und Verankerung und zeichnet sich durch eine metallspongiöse Oberflächenstruktur aus. Von November 2002 bis Januar 2005 erfolgten 55 Implantationen, davon 49-mal als Primäreingriff und 6-mal im Rahmen von Revisionsoperationen. Bis auf einen Fall mit der Notwendigkeit eines frühzeitigen Implantatwechsels wegen Infektion sind die bisherigen Verläufe sowohl klinisch als auch radiologisch erfolgreich. Die Kurzstielendoprothese stellt die Vervollständigung eines differenzierten Versorgungsangebotes vom Oberflächenersatz bis hin zu modularen Revisionssystemen dar.
Entwicklung und Geschichte von Kurzstielen in der Hüftendoprothetik Die femoralen Komponenten bei primären Hüftendoprothesen unterscheiden sich vor allem durch Material, Länge, Design und Verankerungsprinzip. Bezüglich der Verankerung im knöchernen Implantatlager können 3 Gruppen unterschieden werden: 1. epiphysäre Verankerung (Oberflächenersatz), 2. metaphysäre Verankerung (so genannte »Schenkelhalsendoprothesen«), 3. metadiaphysäre/diaphysäre Verankerung (Kurzstiele und Standardstiele).
Die gemeinsame Philosophie der Kurzstiele besteht vor allem darin, dass bei einer gewünschten proximalen Kraftübertragung über eine proximale Implantatverankerung auch eine geringere Längendimensionierung des Endoprothesenstiels ausreichend ist. Vorzüge der Kurzstiele werden darüber hinaus in der Möglichkeit eines knochensparenden Vorgehens und in der leichteren Rückzugsmöglichkeit gesehen, sodass diese Implantate vor allem für jüngere Patienten empfohlen werden. Unterschiede zwischen den derzeit auf dem Markt befindlichen Kurzstielen bestehen bezüglich Länge, Design, Oberflächenstruktur, Resektionshöhe und vor allem bezüglich der vorliegenden klinischen Erfahrungen. Die erste Kurzstielendoprothese wurde 1977 durch Pipino konzipiert und 1979 erstmalig implantiert (zementiert und zementfrei). Nach günstigen Frühergebnissen [1] wurde durch Pipino und Mitarbeiter im Jahre 2000 über 44 Langzeitverläufe (>10 Jahre) mit 82% guten und sehr guten Ergebnissen berichtet [2]. Eine Weiterentwicklung stellt die 1996 eingeführte CFP-Endoprothese (Fa. Link) dar, die zementfrei implantiert wird und die ebenfalls zu positiven kurz- und mittelfristigen Ergebnissen führte. Anfang der 1980er Jahre wurde schließlich von Morrey an der Mayo-Klinik (USA) ein zementfreies Kurzschaftsystem entwickelt und 1985 erstmalig implantiert. Die Ergebnisse bei den ersten 146 Patienten (162 Hüften, Nachuntersuchung durchschnittlich 6,2 Jahre postoperativ) wurden im Jahre 2000 publiziert [3]. Die Implantationen erfolgten hier bei jüngeren Patienten mit einem Durchschnittsalter von 51 Jahren. Revisionsoperationen wurden v. a. aufgrund abriebinduzierter Lockerungen durch Osteolysen bei 6% der Patienten notwendig und wurden nicht direkt auf das
117 Kapitel 6.2.3 · Große Gelenke: Hüfte: Kurzstiel
6.2.3
Verankerungsprinzip zurückgeführt. Mechanisches Versagen der Stielverankerung führte lediglich bei 3 Patienten zu Revisionsoperationen. Bewerkenswert war außerdem, dass der für zementfreie Endoprothesen häufig beschriebene Oberschenkelschmerz von Morrey und Mitarbeitern bei stabil integrierten Kurzstielen nicht beobachtet wurde [3]. Hube und Mitarbeiter [4] berichteten im Jahre 2004 über eine prospektive randomisierte vergleichende Untersuchung zwischen dem Mayo-Kurzschaft und einem Standardschaft, hier zeigten sich für den Kurzschaft v. a. in der frühen postoperativen Phase (3 Monate postoperativ) signifikant bessere Ergebnisse.
Die ESKA-Kurzstielendoprothese Im Jahre 2002 wurde durch von Salis-Soglio und Grundei eine zementfreie Kurzstielendoprothese entwickelt, die über eine charakteristische metallspongiöse Oberflächenstruktur verfügt und rein metaphysär verankert wird. Das Implantat ist kragenlos, vollstrukturiert und weist zwei Drittel der Länge eines herkömmlichen Standardstieles auf (⊡ Abb. 6.13). Es existieren insgesamt 6 Größen, wobei sowohl die Resektionshöhe als auch die Markraumpräparation der Operationstechnik beim Standardstiel entsprechen. Die Markraumraspeln sind der Länge der Kurzstiele angepasst.
⊡ Abb. 6.13. Kurzstiel und Standardstiel (Fa. ESKA Implants)
Kasuistik Die ESKA-Kurzstielendoprothese wurde zunächst ausschließlich in der Klinik des Erstautors eingesetzt, wo von November 2002 bis Dezember 2004 insgesamt 55 Implantationen erfolgten. Die wichtigsten Daten der eigenen Kasuistik können wie folgt zusammengefasst werden: ▬ 55 Implantationen bei 54 Patienten (1 einzeitige doppelseitige Versorgung: ⊡ Abb. 6.14, ⊡ Tabelle 6.6) ▬ 32 Frauen, 22 Männer ▬ Durchschnittsalter 58,8 Jahre [35–85 Jahre]
Ergebnisse im eigenen Patientengut Die Implantatgröße lag nahezu immer eine Größe über der im Rahmen der computer-gestützten präoperativen
⊡ Tabelle 6.6. Indikationen zur Implantation der ESKA-Kurzstiele Indikation
Anzahl Hüften (n)
Koxarthrose
44
Hüftkopfnekrose
5
Aseptische Endoprothesenlockerung
6
Planung für das entsprechende Standardimplantat berechneten Größe. Der intraoperative Verlauf war in 49 der 50 Fälle unkompliziert, einmal kam es beim Einsetzen des Implantats zu einer proximalen Schaftfissur, die unter Einhaltung einer 6-wöchigen Tippbelastung ausheilte und keine weiteren Folgen nach sich zog. Die planmäßige Weiterbehand-
118
Teil III · Anwendung
6
⊡ Abb. 6.14. Einzeitige doppelseitige Implantation von Kurzstielendoprothesen zur Versorgung einer beiderseitigen Hüftkopfnekrose
⊡ Abb. 6.15. Hüftgelenksresektion wegen Infektion, nach Ausheilung Implantation einer zementfreien Kurzstielendoprothese
119 Kapitel 6.2.3 · Große Gelenke: Hüfte: Kurzstiel
6.2.3
lung beinhaltete 3 Wochen Tipp- und anschließend 3 weitere Wochen Teilbelastung, danach war bei regelrechtem Verlauf der Übergang zur Vollbelastung gestattet. In einem Fall kam es im Rahmen einer Frühinfektion zu einer frühzeitigen Implantatlockerung mit der Notwendigkeit der Wechseloperation. Eine aseptische Lockerung konnte im bisherigen Nachuntersuchungszeitraum nicht beobachtet werden. ⊡ Abbildung 6.15 zeigt den radiologischen Befund bei einem 36 Jahre alten Patienten mit rheumatoider Arthritis. Wegen einer hämatogenen Infektion war eine Hüftgelenksresektion notwendig geworden, nach Ausheilung der Infektion wurde der Patient mit einer Kurzstielendoprothese versorgt.
Fazit Die in der Literatur bislang mitgeteilten Erfahrungen mit so genannten »Kurzstielen« können als durchaus ermutigend bewertet werden, wobei auch bei diesen Implantaten eine deutliche Lernkurve vorliegt. Letzteres ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass gerade bei kurzstreckiger Verankerung eine ganz exakte Passgenauigkeit für eine stabile ossäre Integration realisiert werden muss. Trotz der selbstverständlich gebotenen Einschränkungen im Hinblick auf die kurze Beobachtungszeit scheint sich das Prinzip der proximalen Krafteinleitung und Verankerung auch bei der ESKA-Kurzstielendoprothese zu bewähren. Ein besonderer Vorzug ist in der ausreichenden Größendimensionierung auch bei nach distal eng zulaufenden Markräumen zu sehen, so dass eine proximale Unterdimensionierung und somit ggf. ein Schwingen der Endoprothese mit »stress-shielding« verhindert werden kann. Im Falle eines Rückzuges kann – nach knochensparender Entfernung mit adäquatem Instrumentarium (z. B. einem oszillierenden Meißelsystem) – auf einen Standardstiel zurückgegriffen werden. Sollte sich die Philosophie der Kurzstiele bewähren, würde dies nicht etwa eine Verdrängung der anderen Implantate bedeuten, sondern es käme hierdurch zu einer lückenlosen Vervollständigung eines differenzierten Versorgungsangebotes, das vom Oberflächenersatz bis hin zu modularen Revisionssystemen reicht (⊡ Abb. 6.16). Je nach individuellen Gegebenheiten ist dann die Entscheidung für eine Implantatform zu treffen, wobei bei dem
⊡ Abb. 6.16. Femorale Komponenten bei metallspongiösen Hüftendoprothesen
hier vorgestellten Implantatsystem ein besonderer Vorteil in dem problemlos möglichen intraoperativen Strategiewechsel zu sehen ist.
Literatur 1. 2.
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6.2.4 Große Gelenke Oberflächenersatz des Hüftgelenkes: Doppel-Cup-Prothesen P. Juhnke
Zusammenfassung Die erste Generation des Oberflächenersatzes ist aufgrund der verwendeten Materialien gescheitert. Heute stehen uns bessere Instrumentarien, besseres Design und mit der Metall-Metall-Paarung eine abriebarme Gleitpaarung zur Verfügung. Die Probleme der jetzigen Prothesengeneration betreffen eher die femorale Komponente, während bei der ersten Generation meist die Pfanne betroffen war. Schenkelhalsfraktur und aseptische Lockerung stellen die wichtigsten Revisionsursachen dar, hier könnte eine vermehrte Beachtung der Blutversorgung des Femurkopfes sowie eine Optimierung der Femurkappenplatzierung zu einer Verbesserung der Resultate führen.
Historie und Entwicklung des Oberflächenersatzes am Hüftgelenk Die Coxarthrose des jungen Patienten stellt für den operativ tätigen Orthopäden eine Herausforderung dar. Junge und aktive Patienten mit Coxarthrose haben im Gegensatz zu älteren Patienten einen grundsätzlich anderen Anspruch an einen totalen Gelenkersatz. Erfolge intertrochantärer Umstellungsosteotomien sind zeitlich begrenzt und den jüngeren Patienten steht nach Implantation einer Hüfttotalendoprothese eine so genannte »Prothesenkarriere« mit mehreren Wechseloperationen bevor. Dorr [1] konnte zeigen, dass Patienten unter 45 Jahren mit einer durchschnittlichen »Überlebensrate« der Prothesen von
87,6% nach 10 Jahren die schlechtesten Ergebnisse beim totalen Gelenkersatz haben. Diese Ergebnisse wurden von Joshi [2] bestätigt. So wurde bereits in den 50er und 60er Jahren u. a. von Sir John Charnley nach einer knochensparenden Lösung im Sinne eines Oberflächenersatzes für junge Patienten gesucht, die eine Alternative zum totalen Hüftgelenkersatz darstellen sollte. Charnley setzte zwei zementlos fixierte Teflonschalen als Gelenkoberflächenersatz ein, ein Versuch, der aufgrund intensiver Gewebsreaktionen auf das verwendete Material scheiterte [3, 4]. Wagner, der ab 1975 die nach ihm benannten Schalenprothesen implantierte, benutzte sowohl Keramik als auch Metall für das femorale Implantat in Kombination mit einer Polyethylen-(PE-)Pfanne. Nach vielversprechenden Frühresultaten, berichtete auch er über eine überdurchschnittliche Lockerungsrate [5]. Somit kann die erste Generation von Cup-Prothesen durch Auftreten zahlreicher Komplikationen als Fehlschlag bezeichnet werden. Rechl et al. fügten ihrer Nachuntersuchung der in unserer Klinik implantierten Wagner-Doppel-Cup-Prothesen bezeichnenderweise den Untertitel »Eine Problemanalyse« an [6]. Zwischen 1977–1984 wurden an unserer Klinik bei 114 Patienten (67 Männer, 47 Frauen) insgesamt 124 Wagner-Doppel-Cups implantiert. 85% (n = 104) der Endoprothesen konnten klinisch und radiologisch nachuntersucht werden. 45 Cups wurden histologisch (Hartschnitt-Histologie) untersucht (⊡ Abb. 6.17). Bei einem durchschnittlichen Follow-up von 107 Monaten [12–144 Monate] zeigten sich bei 76 Patienten mit 104 Cups insgesamt 53 Lockerungen. Dies entsprach
121 Kapitel 6.2.4 · Große Gelenke: Oberflächenersatz des Hüftgelenkes: Doppel-Cup-Prothesen
6.2.4
Hieraus ist dann die so genannte zweite Generation von Cup-Prothesen entstanden. Grundsätzlich wurde nicht nur das Design geändert und das Instrumentarium entschieden verbessert, wesentlich für die neue Generation war jetzt, dass eine Metall-Metall Gleitpaarung im Vordergrund stand.
Metall-Metall Gleitpaarung ⊡ Abb. 6.17. Kontaktradiographie und Dünnschliffpräparat einer Wagner-Dopplcup-Prothese: Zementknochenverzahnung in der Kontaktradiographie unter dem Dom und medial, sowie deutliche Anfärbung des lateralen Bindegewebes im Dünnschliffpräparat (aus H. Rechl et al. Doppelcup-Arthroplastik, Demeter Verlag).
eine Revisionsrate von 51%. Nur ca. 20% der Patienten hatten eine Standzeit des Oberflächenersatzes von mindestens 10 Jahren, im Einzelfall bis 18 Jahre. Bei dieser Untersuchung war die Lockerungshäufigkeit der Pfanne deutlich höher als die der femoralen Komponente. Unter Belastungsbedingungen verformte sich die dünnwandige zementierte Polyethylenpfanne und führte so zur Zementfraktur. Rechl konnte weiterhin nachweisen, dass »StressShielding« unter dem femoralen Cup, sowie mechanisch und durch Abrieb bedingte Osteolysen am medialen und lateralen Cuprand zusammen mit der reibungsbedingten Zunahme von Mikrobewegungen sekundär zur Ausbildung eines bindegewebigen Interface bis hin zum vollständigen bindegewebigen Ersatz des Femurkopfes führten [6]. Diese hohe Revisionsrate wurde von Witzleb und Mitarbeitern bestätigt, auch in seinem Patientengut lag die Revisionsrate bei den von ihm zwischen 1977 und 1987 implantierten 305 Wagner-Doppelcups bei 50% [7]. Bell et al. führten sowohl die Pfannen- als auch die Cuplockerung der Wagner-Doppel-Cup Prothesen auf eine durch Abriebpartikel induzierte bindegewebige Fremdkörperreaktion zurück [8]. Aufgrund dieser hohen Versagensraten und der beschriebenen Komplikationen wurde dieses Verfahren zunächst nahezu allerorts eingestellt. Jedoch waren einzelne chirurgisch tätige Orthopäden, allen voran Harlan Amstutz in Los Angeles, an einer Weiterentwicklung des Oberflächenersatzes interessiert und haben sehr konsequent die Fehler analysiert sowie darauf basierend eine Weiterentwicklung dieses Prothesensystems betrieben.
Die erste Generation von Metall-Metall-Paarungen wurde wegen gravierender Fertigungsmängel in ihrer klinischen Anwendung zunächst wieder verlassen. M.E. Müller implantierte zwar gemeinsam mit A. Huggler bis 1975 zahlreiche Hüfttotalendoprothesen mit Metall-MetallPaarungen und erreichte z. T. gute Langzeitergebnisse. Jedoch zeigte sich, dass es im Vergleich zu den Polyethylengleitpaarungen früh zu hohen Versagensraten kam, mit durchschnittlichen Frühlockerungsraten von 6,8%. Als Ursachen wurden hier unter anderem die zu dünnwandigen metallischen Pfannen genannt. Nach der Renaissance der Metall-Metall Paarungen in den 80er Jahren aufgrund verbesserter Fertigungstechnologien begannen McMinn in Birmingham und Amstutz in Los Angeles zu Beginn der 90er Jahre Oberflächenprothesen zu entwickeln, die auf dieser Tribologie basierten. Grundsätzlich gibt es bei der neuen Generation von Metall-Metall-Paarungen mit verbesserten tribologischen Eigenschaften zwei unterschiedliche Grundmaterialien: zum einem Kobalt-Chrom-Molybdän-Schmiedelegierung und zum anderen eine karbidhaltige Kobaltbasisschmiedelegierung. Mehrere publizierte Simulatorversuche [9, 10] konnten zeigen, dass nach einer gewissen Einlaufphase die Verschleißmenge abnimmt. So liegt der Verschleiß bei den Metall-Metall-Paarungen mit einer mittleren Partikelrate von 1 cm
2
Gewicht 3 Punkte
Fällen relativ einfache Revisionsmöglichkeiten. Kishida et al. haben anhand von prospektiven Knochendichtemessungen nachgewiesen, dass epiphysär krafteinleitende Oberflächenersatzprothesen geringere Umbauprozesse am proximalen Femur verursachen, was bis dahin nur an radiologischen Verlaufsserien vermutet wurde [16].
Indikationen Die Indikation sehen wir in erster Linie beim jungen, aktiven Patienten mit Coxarthrose, sei sie durch eine Dysplasie oder auch posttraumatisch bedingt. Bei der Indikation stützen wir uns auf den von Amstutz et al. [17] entwickelten Risikoscore (⊡ Tabelle 6.7). Amstutz hatte in seinem gesamten Patientenkollektiv eine durchschnittliche Standzeit von 94,4% nach vier Jahren. Anhand des von ihm entwickelten Risikoscores hatten Patienten mit erhöhtem Risiko (>3 Punkte) eine durchschnittliche Standzeit von 89% nach 4 Jahren. Patienten mit niedrigem Risiko (3) ein 4,2fach erhöhtes Risiko für eine Revision haben. Als zusätzliche Risikofaktoren konnte er große Femurkopfzysten, Patientengröße, weibliches Geschlecht sowie eine kleine Endoprothesengröße bei männlichen Patienten beobachten [17].
Kontraindikationen Dass die Hüftkopfnekrose eine Kontraindikation des Oberflächenersatzes ist, zeigten die Ergebnisse von Adili et al. Sie implantierten bei 28 Patienten mit Hüftkopfnekrose insgesamt 29 Doppel-Cup-Prothesen. Die durchschnittliche Standzeit nach 3 Jahren betrug 75,9%. Revisionen mussten bei acht Doppel-Cup-Prothesen (27,6%) nach durchschnittlich 18 Monaten (8–43 Monate) mit Umwandlung in eine totale Hüftendoprothese durchgeführt werden [18]. Kontraindikationen: ▬ hochgradige Schenkelhalsdeformität, ▬ Hüftkopfnekrosen, ▬ Coxarthrose bei coxa vara, ▬ Adipositas (BMI >30), ▬ Niereninsuffizienz.
123 Kapitel 6.2.4 · Große Gelenke: Oberflächenersatz des Hüftgelenkes: Doppel-Cup-Prothesen
6.2.4
Ergebnisse In unserem eigenen Krankengut haben wir zwischen 12/2003 und 02/2005 bei 16 Patienten (10 Männer, 6 Frauen) mit einem Durchschnittsalter von 40,6 Jahren (19–62 Jahre) 20 Doppel-Cup-Prothesen implantiert (⊡ Abb. 6.18). Diese Zahl ist im Vergleich zu der in unserer Klinik im gleichen Zeitraum implantierten Hüfttotalendoprothesen sehr gering, jedoch spiegelt sie unsere strenge Indikationsstellung zum Oberflächenersatz wider. Verwendet wird das Hüftoberflächenersatz ESKABionik-System (⊡ Abb. 6.19). Das System wird vollständig (Azetabulum- und Femurkopfkomponente) durch die klinisch bewährte Spongiosa-Metal-II-Oberflächenstruktur zementlos eingesetzt. Die Patienten werden regelmäßig postoperativ nach sechs Wochen, drei und sechs Monaten sowie nach einem Jahr klinisch und radiologisch (sechs Wochen und ein Jahr postoperativ) nachuntersucht. Bei einem durchschnittlichen Follow-up von 18 Monaten (2–28 Monate) konnten wir keine Infektion und keine aseptische Lockerung beobachten. Der durchschnittliche Harris-Hip-Score in unserem Patientengut stieg von 52 Punkten präoperativ auf 92 Punkte postoperativ. An Komplikationen traten bei zwei Doppel-Cup-Prothesen eine Schenkelhalsfraktur und eine Pfannendislokalisation auf, die zu einer Revision zur totalen Hüftendoprothese führten. Somit betrug unsere Revisionsrate 10%. Des Weiteren hatten wir eine Luxation, die geschlossen reponiert wurde. Bei den gegenwärtigen angewendeten Doppel-CupProthesen werden Revisionsraten zwischen 2–17% angegeben. Shimmin et al. konnten 3497 Birmingham Cups, die in Australien in mehreren Kliniken bei 3429 Patienten implantiert worden waren, nach einem durchschnittlichen Follow-up von 36 Monaten nachuntersuchen [19]. Sie konnten dabei als Komplikationen 50 Schenkelhalsfrakturen, 12 aseptische Pfannenlockerungen, 4 aseptische Lockerungen der femoralen Komponente, 2 Infektionen und 1 allergische Reaktion nachweisen. Dies entsprach einer Revisionsrate von 2%. In einer weiteren Publikation haben sie diese aufgetretenen Komplikationen genauer analysiert [20]. Es zeigte sich, dass bei den 50 Schenkelhalsfrakturen Frauen mit 1,91% signifikant häufiger betroffen waren als Männer mit 0,98%. 52% der Schenkelhalsfrakturen waren durch »neck notching« (Abschluss der Femurkappe unter Niveau der Schenkelhalskortikalis) bedingt. Bei 82% war zusätzlich die Prothese in VarusPosition implantiert worden.
⊡ Abb. 6.18. G.J. 62 Jahre männlich prä- und postoperativ nach Doppel-Cup Versorgung auf der rechten Seite.
⊡ Abb. 6.19. Hüftoberflächenersatz ESKA- Bionik- System
Über zufriedenstellende Ergebnisse berichteten auch Witzleb et al. Zwischen 1998 und 2004 führten sie insgesamt 420 Implantationen durch. In erster Linie wurde hier die Birmingham-Hip-Resurfacing-TEP, z. T. die DuromProthese (Fa. Zimmer) eingesetzt. Die ersten 238 Patienten wurden in einer durchschnittlichen Nachbeobachtungszeit von 2 Jahren nachuntersucht. Der postoperativ erreichte durchschnittliche Harris-Hip-Score lag wie in unserem Patientengut bei 91–94 Punkten. Die Revisionsrate betrug 2,2% [7]. Ein weiterer Punkt, auf den Witzleb et al. hin-
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6
Teil III · Anwendung
wiesen, war, dass Patienten, die mit einer so genannten Dysplasiepfanne versorgt worden waren, identische Harris-Hip-Score-Werte erreichen wie Patienten mit einer idiopatischen Coxarthrose und einer Standardpfanne. Die Hüftdysplasie muss somit nicht als Kontraindikation des Oberflächenersatzes angesehen werden. Steven Cuts berichtete 2004 auf dem International Hip Congress in Innsbruck über seine Ergebnisse von 65 Prothesen (60 Patienten). Es traten dabei 5 Schenkelhalsfrakturen, 4 aseptische Pfannenlockerungen und 2 Infektionen auf; dies entsprach einer Revisionsrate von 17%. Laut Amstutz sind die Schenkelhalsfraktur und die aseptische Lockerung der femoralen Komponente gegenwärtig die wesentlichen und damit häufigsten Gründe für eine Revision. Er selbst konnte lediglich fünf Schenkelhalsfrakturen bei 600 Doppel-Cup-Prothesen zwischen 1996 und 2003 beobachten. Diese Schenkelhalsfrakturen wurden analysiert und u. a. histologisch untersucht. Im Wesentlichen kam er zu dem Schluss, dass es multifaktorielle Ursachen sind, die zu einer Schenkelhalsfraktur führen. Unter anderem eine zu ausgedehnte Fräsung des Hüftkopfes, wodurch das Areal der femoralen Kappe nicht komplett mit eingeschlossen werden konnte. Der so freiliegende gefräste Knochen scheint aufgrund von »Stabilitätsverlust« anfälliger für Frakturen zu sein. Bei weiteren Frakturen war die Zementschicht am Dom zu dick, sodass auch hier die Kappe nicht passgerecht aufsaß. Größere Kortikalis nahe Zysten können einbrechen und ebenfalls zur Fraktur führen [21]. Um in Zukunft bei der Anwendung von Doppel-CupProthesen weitere Komplikationen zu vermeiden bzw. zu minimieren, fordern u. a. Beaulé und Mitarbeiter, die Blutversorgung des Hüftkopfes bei der Implantation mehr zu berücksichtigen. Nicht allein die durch »neck notching« bedingten Schenkelhalsfrakturen sind für ihn ein Grund für die z. T. hohen Revisionsraten, sondern auch die operativ bedingte Zerstörung der Gefäßversorgung, die letztendlich zur Nekrosebedingten Lockerung der femoralen Komponente führen kann [22]. Erst mit Hilfe der Angiographie gelang es, die arterielle Versorgung des Hüftkopfes darzustellen. Voraussetzung hierfür waren die morphologischen Untersuchungen an Korrosionspräparaten und postmortalen Angiogrammen durch Hipp [23]. Dabei zeigte sich, das ein Großteil der arteriellen Blutversorgung über den R. profundus der A. circumflexa femoris medialis am Schenkelhals entlang zum Hüftkopf gelangt. Aus diesem R. profundus entspringt der R. nutritius capitis distalis, der sich in mehrere kleine Äste aufteilt
und in den kaudalen Kopfanteil zieht. Die Rr. nutrii capitis proximales versorgen den oberen metaphysären und den lateralen epiphysären Hüftkopfanteil und treten am lateralen Knorpelrand des Kopfes in den Knochen ein. Hier besteht auch die größte Gefahr der Gefäßschädigung während der Präparation des Hüftkopfes. Nur ein Teil des medialen epiphysären Hüftkopfs wird durch die Gefäße im Lig. capitis femoris versorgt [24]. Diese Erkenntnisse sind bei der Implantation eines Oberflächenersatzes von entscheidender Bedeutung, gleichgültig welcher Zugang gewählt wird. Beaulé et al. postulierten, dass es, bedingt durch das Fräsen des Hüftkopfes – insbesondere posterolateral – zu irreversiblen Gefäßschäden im Bereich des Hüftkopfes kommen kann und die Lockerung der femoralen Komponente somit vorprogrammiert ist. Mit Hilfe eines DRT Laser Dopplers haben Beaulé und Mitarbeiter bei Patienten, die einen totalen Hüftgelenkersatzes bekamen, die Durchblutung des Hüftkopfes anterolateral und zentromedial vor und nach Osteotomie des Hüftkopfes gemessen. Dabei konnten sie zeigen, dass die mittlere Blutflussrate des Hüftkopfes durch die Osteotomie um 50% abnahm [22]. Sie folgerten, dass eine Verkleinerung des Hüftkopfes (z. B. durch Fräsen beim Oberflächenersatz) eine ähnlich ausgeprägte Verminderung des Blutflusses im Bereich des Hüftkopfes verursachen kann. In diesem Zusammenhang sei die Untersuchung von de Waal Malefit und Huskies erwähnt [25], die zeigen konnte, dass ein intraoperatives »neck notching« mit einer deutlichen höheren Lockerungsrate der femoralen Komponente assoziiert war (28,6% vs. 6,8%). Interessanterweise kam es in dieser Serie bei keinem dieser Patient zu einer Schenkelhalsfraktur [25].
Diskussion und Fazit Die erste Generation des Oberflächenersatzes ist aufgrund der verwendeten Materialien gescheitert. Während die Komplikationen bei der ersten Generation der Doppel-Cup-Prothesen v. a. im Bereich der Pfanne lokalisiert waren, betreffen die Probleme der jetzigen Prothesengeneration eher die femorale Komponente. Heute stehen uns bessere Instrumentarien, ein besseres Design und mit der Metall-Metall-Paarung eine abriebarme Gleitpaarung zur Verfügung. Trotz zum Teil noch nicht akzeptabler Revisionsraten zeigen die ermutigenden Ergebnisse u. a. von Amstutz,
125 Kapitel 6.2.4 · Große Gelenke: Oberflächenersatz des Hüftgelenkes: Doppel-Cup-Prothesen
dass die Versorgung von jungen Patienten mit Coxarthrose mit einer Doppel-Cup-Prothese eine ernst zunehmende Alternative darstellt. Die hohen Versagerraten der ersten Generation, die Anlass dafür waren, diese Art der Prothesenversorgung Mitte der 80er Jahre wieder zu verlassen, lag sicherlich nicht an der Idee des Oberflächenersatzes, sondern war bedingt durch das Versagen der eingesetzten Materialien. Die Vorteile der Knochenersparnis und die physiologische Krafteinleitung wurde bereits oben erwähnt. Jedoch können diese Vorteile nur einem Teil der Patienten zugute kommen. Denn die Vorausetzung für einen zufrieden stellenden Langzeitverlauf, noch nachzuweisen durch langfristige angelegte Studien, sind zunächst abhängig von einer strengen Indikationsstellung unter Zuhilfenahme des erwähnten Risikoscores. Weitere detaillierte Fehleranalysen sind notwendig, um im Vorfeld die gegenwärtig publizierten Revisionsraten sowie die vorhandenen Komplikationen besser einordnen zu können und somit zu minimieren. Ebenso müssen hinsichtlich der durch Abrieb bedingten erhöhten Serum- und Urinkonzentrationen von Metallionen bessere Langzeitergebnisse vorliegen, um festlegen zu können, ob es sich hier um ein Gefahrenpotential handelt oder nicht. Revisionen werden auch in Zukunft noch notwendig sein, jedoch sind sie, u. a. bedingt durch das modular vorliegende System, einfach und sicher durchzuführen. Die gegenwärtigen Veröffentlichungen in den nichtwissenschaftlichen Medien, die den Einsatz von Doppel-Cup-Prothesen sehr unkritisch begleiten, sind insofern nicht hilfreich, da sie den Patientendruck erhöhen und bei den Patienten falsche Hoffnungen wecken. Unter den genannten Vorrausetzungen kann das Konzept des Oberflächenersatzes einen wichtigen Stellenwert zwischen Osteotomie und Totalendoprothese erlangen und diese Lücke schließen, zumal die Langzeitergebnisse beim jungen Patienten mit totalem Gelenkersatz nicht zufriedenstellend sind.
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6.2.5 Große Gelenke Spannungsverteilung und Primärstabilität bei vollstrukturierten versus teilstrukturierten Femurkomponenten R. Burgkart, R. Glisson
Zusammenfassung Wesentliche Voraussetzung für eine dauerhafte ossäre Integration eines Implantats ist das Erreichen einer hohen Primärstabilität zum Zeitpunkt der Implantation. Für lange Prothesenstandzeiten ist schließlich die Prävention der implantatnahen Knochenatrophie durch »stress-shielding« von großer Bedeutung. Dazu ist eine möglichst physiologische Krafteinleitung vom Implantat in den benachbarten Knochen notwendig. Ziel der Studie war es, den Einfluss der Ausdehnung der Oberflächenstrukturierung von anatomisch geformten zementfreien Femurstielen mit offenporiger, dreidimensional interkonnektierender Oberfläche (ESKA Implants, Lübeck) auf die beiden Parameter Primärstabilität und Spannungsverteilung exakt in vitro zu quantifizieren. Bei den durchgeführten Versuchen an humanen, gepaarten Femora zeigten sich für die Mikrobewegungen – als bekanntes Maß für die Primärstabilität – keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen vollstrukturierten versus proximal 2/3-strukturierten Femurstielen. Zwar ergaben sich gegenläufige Tendenzen mit kleineren Mikrobewegungen distal für die vollstrukturierten Stiele, während die teilstrukturierten proximal geringere Werte aufwiesen. Alle mittleren Werte waren aber für die klinisch relevante proximale Region