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German Pages [1073] Year 2011
Bonner beiträge zur kirchengeschichte Herausgegeben von
Gabriel Adriányi, Gisela Muschiol und Georg Schöllgen Band 28
Ortskirche und Weltkirche in der Geschichte Kölnische Kirchengeschichte zwischen Mittelalter und Zweitem Vatikanum Festgabe für Norbert Trippen zum 75. Geburtstag
Herausgegeben von Heinz Finger, Reimund Haas und Hermann-Josef Scheidgen
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Erzbistums Köln, des Kölner Metropolitankapitels, des Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds, des Landschaftsverbandes Rheinland, des Instituts für Kirchengeschichte der Universität Bonn sowie der ChoC-Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Glückwunschadresse für Johann Baudri (1877), Widmungstext; AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 1, hier Ausschnitt; siehe ausführlich dazu den Beitrag von Joachim Oepen, S. 437–464. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz/Layout: Michael Schiffer Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst GmbH, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20801-1
Inhalt
Geleitwort des Erzbischofs von Köln ............................................................................... 1 Geleitwort des Dompropstes ................................................................................................. 3 Vorwort .............................................................................................................................................. 7
I. Kölner Dom und Kölner Erzbischöfe Günter Assenmacher Persona iuridica ne sit parochus. Kanonistisches Supplement anlässlich der Aufhebung der Kölner Dompfarre .................................................................... 11 Hendrik Breuer Der Codex 132 der Kölner Dombibliothek als diözesaner Zeuge der großen Kirchenreform des 15. Jahrhunderts und ihrer ordenstheologischen Impulse ................................................................................ 29 Manfred Groten Brandkatastrophe und Solidarität, Marktsanierung und Gottesfrieden. Kölns Take-off unter Erzbischof Sigewin (1079-89) ................................................................................ 69 Gisbert Knopp „Ich meyne nicht, daß man etwas schöneres sehen kann“. Die Rolle des Kurfürsten Clemens August bei der Wahl und Krönung seines Bruders Karl Albrecht zum römisch-deutschen König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches .................................................................................. 89 Hannsgeorg Molitor Gebhard Truchseß von Waldburg als Studiosus ....................................... 107
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Inhalt
Stefan Samerski Ex oriente – Kardinal Josef Frings und die Aufnahme ostdeutscher Geistlicher im Kölner Erzbistum ...................................................................................................... 125 Gerhard Schettler Warum scheiterte die Kandidatur von Professor Johann Michael Sailer als Erzbischof von Köln in den Jahren 1816-1818? ................................................................ 145 Siegfried Schmidt „Der gerechte Stolz des deutschen Volkes “. Der Kölner Dom und seine Vollendung im Spiegel zeitgenössischer Reise- und Domführer des 19. Jahrhunderts ................................................................................................. 167 Barbara Schock-Werner Veränderung im liturgischen Zentrum des Kölner Domes im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts ........................... 205 Klaus-Peter Vosen Kardinal Karl Joseph Schulte und die Anfänge des Ansgariuswerkes in der Erzdiözese Köln ............................................. 233
II. Aus dem alten und neuen Erzbistum Köln Reimund Haas Kölner Kollekten für die Nordischen Missionen (1866-1930) und ein Bistum Hamburg ........................................................... 271 Ulrich Helbach Der Kölner Priester Peter Klein (†1944) und seine jüdische Mutter (†1958). Ein ungewöhnliches Fallbeispiel zum Verhältnis der katholischen Kirche und den Juden ..................... 297 Norbert Henrichs Der Katholische Gefängnisverein in Düsseldorf und seine interkonfessionelle Vorgeschichte .............................................. 375
Inhalt
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Michael Klöcker Die rheinischen Katholikentage 1919/20. Signale für den Katholizismus in der Moderne ......................................... 399 Wolfgang Löhr Nicht aus Furcht vor dem sicheren Tod. Das Testament der Maria Anna von Bylandt (1711-1787), Seniorissa des Kanonissenstifts Vilich bei Bonn ...................................... 415 Joachim Oepen Das katholische Köln. Eine Glückwunschadresse für den Kölner Weihbischof Baudri 1877 .................................................... 437 Leo Peters „ ... als ob Keveler ein unauszugründeter geltschatz sey ...“. Quellen zur Geschichte der Kevelaer-Wallfahrt des 17./18. Jahrhunderts im Gräflich von und zu Hoensbroech’schen Archiv von Schloss Haag .......................................... 465 Josef Pilvousek Organisation und Struktur der „Abgewanderten-Seelsorge“ des Erzbistums Köln in Thüringen 1943-1945 .................................................. 491 Hermann-Josef Reudenbach Alexander Schnütgen und das Erscheinungsbild der Bücher. Mit einer Beilage über seinen Blick auf Antiquariatskataloge ................................................................................................ 517 Hermann-Josef Scheidgen Die Niederlassung der Armen Dienstmägde Jesu Christi in Gangelt und die Anfänge der Psychiatrie im Rheinland ....................................................................................... 537 Norbert Schloßmacher Das Kölner Domfest 1948 in Bad Godesberg. Ein Vorbote für die zukünftige Hauptstadtregion ................................... 565
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Inhalt
Herman H. Schwedt Kölns Inquisitor Sebastian Knippenberg OP (†1733) auf dem „Index der verbotenen Bücher “ ..................................................... 591
III. Geschichte der Kirche in Deutschland Jürgen Bärsch Liturgiereform im Hirtenbrief. Die gottesdienstliche Erneuerung des Zweiten Vatikanischen Konzils im Spiegel der Hirtenworte des Bischofs von Essen Dr. Franz Hengsbach ...... 627 Winfried Becker Alfred Delp SJ – Widerstand aus dem Glauben. Ein Zeugnis seines Mitangeklagten Franz Reisert aus dem Kreis um Franz Sperr ........................................................................... 657 Josef van Elten Vom Nutzen und Nachteil der Pfarrgeschichte für die Kirche ............................................................................................................... 683 Ulrich von Hehl Katholisches Leben in Leipzig. Eine historische Skizze ....................... 691 Paul Meisenberg Enttäuschte Hoffnungen und tragische Defizite. Katholische Kirche im Dritten Reich .............................................................. 711 Rudolf Morsey „... und gehe zu den Hottentotten, wenn es der hl. Vater befiehlt“. Eine ergänzende Quelle zur Rolle des Fuldaer Bischofs Georg Kopp beim Abbau des Kulturkampfs in Preußen 1886/87 .................................................................. 733 Engelbert Plassmann Aufklärung durch Bibliotheken – Bildung durch Büchereien. Von Polling nach Bonn – Gedanken zur Bibliothekstheorie und zur Bibliothekspraxis in der Kirchengeschichte ..................................................................................................... 759
Inhalt
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Karl Josef Rivinius Kontroverse um das zweibändige Werk von Albert Maria Weiß OP „Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart “ ................................................................................ 785 Wolfgang Schmitz Eine unbekannte Kölner Ausgabe von Dietrich Coeldes Christenspiegel aus dem Jahre 1493 ........................... 811 Michael P. Vollert Die Förderung von Wohnungsbau und Siedlung durch die Katholische Kirche 1932-1965 ...................................................... 827
IV. Priesterausbildung Heinz Finger Priesterseminar und Universität. Das Konzil von Trient und die Wege der Priesterausbildung ............................................... 851 Erwin Gatz † Priesternachwuchs zwischen Überschuss und Mangel. Zur Auswahl von Priesteramtskandidaten in Deutschland um 1935 .......................................................................................................................... 889 Eric W. Steinhauer Eine kurze Geschichte der Ausbildung katholischer Theologen in Deutschland .................................................................................... 899
V. Weltkirche Karl-Joseph Hummel Seelsorgepolitik für eine versöhnte Zukunft. Karol Wojtyla/Papst Johannes Paul II., Julius Döpfner und Joseph Höffner 1965-1987 ........................................ 917
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Inhalt
Heinz Hürten Am Ende des pianischen Zeitalters – Katholische Kirche in Deutschland im letzten Lebensjahr Papst Pius’ XII. Eine Momentaufnahme ....................................................... 961 Hans-Joachim Kracht Diplomatenausbildung des Heiligen Stuhles. 300 Jahre – von der „Accademia degli ecclesiastici nobili“ zur „Pontificia Accademia ecclesiastica“. Versuch eines historischen Einstiegs ............................................................................................ 969 Rudolf Lill Barthold Georg Niebuhr als Gesandter Preußens in Rom (1816-1823) ................................................................................................. 997 Franz Norbert Otterbeck Der Vatikan. Ein „Staat des Grundgesetzes“? Gedanken zu Gewaltenteilung und Hierarchie, angeregt durch die Verfassung, die Papst Pius XI. seinem Stadtstaat 1929 gab ................................................................................. 1005 Hubert Wolf Kontrolle des Wissens? Kirche im Spannungsfeld zwischen Forschung und Zensur .................................................................... 1017
Verzeichnisse Bearbeitet von Reimund Haas und Harald Horst Schriftenverzeichnis Norbert Trippen .......................................................... 1039 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ................................................................. 1053
Der Erzbischof von Köln
Geleitwort Am 19. Juni 2011 feiert Prälat Prof. Dr. Norbert Trippen, seit 1986 residierender Domkapitular, seinen 75. Geburtstag. Professor Trippen ist nicht nur ein allgemein bekannter und anerkannter Kirchenhistoriker mit hoher wissenschaftlicher Reputation, sondern vor allem Kölner Diözesanpriester seit 49 Jahren. Am 12. Juli 1962 wurde er von meinem Vorvorgänger als Erzbischof von Köln, von Josef Kardinal Frings, zum Priester geweiht. Er hat seither in unserem Erzbistum, in dessen Sprengel er auch in Düsseldorf geboren wurde, seelsorglich gewirkt, zunächst bis 1966 als Kaplan an St. Nikolaus von Tolentino in Rösrath, dann als Subsidiar an der Liebfrauenkirche in Köln-Mülheim und in anderen Seelsorgeverpflichtungen und schließlich am Hohen Dom zu Köln, dort seit 2005 auch im wichtigen Amt des Poenitentiars. Von 1976 bis 1989 war er Regens des Erzbischöflichen Priesterseminars und von 1991 bis 2001 Direktor der Hauptabteilung Schule/Hochschule in unserem Generalvikariat. Der Jubilar, der am 10. März 1972 in Bonn zum Dr. theol. promoviert und am 4. Juli 1975 habilitiert wurde – in der Zwischenzeit war er neben seiner wissenschaftlichen Arbeit als Referent für die Fortbildung der Priester tätig – wurde
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Geleitwort
1978 Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an derselben Katholisch-Theologischen Fakultät. 1981 erhielt der Priester und Historiker Norbert Trippen den Titel Kaplan seiner Heiligkeit und 1992 wurde er vom Heiligen Vater Papst Johannes Paul II. zum Päpstlichen Ehrenprälaten ernannt. Seine zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten hielten ihn nicht davon ab, von 1986 bis 2001 auch als Präsident des Borromäusvereins für die Förderung des katholischen Schrifttums und die Katholischen Öffentlichen Büchereien zu wirken. Von 1995 bis 2001 war er Vorsitzender des „Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das alte Erzbistum Köln“, nachdem er von 1979 an dessen stellvertretender Vorsitzender gewesen war. Das Erzbistum Köln und die Erforschung seiner Geschichte hat dem Jubilar sehr viel zu verdanken. Es ist unmöglich, auch nur die bedeutendsten seiner profunden Arbeiten aufzuzählen, die Professor Trippen insbesondere der neueren Geschichte unserer Erzdiözese gewidmet hat. Besonders verdanken wir ihm die zweibändige Biographie von Josef Kardinal Frings, erschienen 2003 bis 2005, und die ebenfalls auf zwei Bände angelegte Biographie von Joseph Kardinal Höffner, deren erster Band 2009 erschienen ist, und deren zweiter Band mit Spannung erwartet wird. Nicht zuletzt danke ich dem Jubilar auch für die von seinem Lehrer und Doktorvater, dem Apostolischen Protonotar Prof. DDr. Eduard Hegel (†2005), übernommene und zu Ende geführte Herausgabe der fünfbändigen großen Geschichte des Erzbistums Köln. Viele Kirchenhistoriker – und ich freue mich sehr, dass es mehr als 40 sind – haben in dieser Festschrift als Mitbrüder, Freunde, Kollegen und Schüler von Professor Trippen diesem ihre Wertschätzung und ihre Dankbarkeit gezeigt. Trotz der hohen Zahl der Beiträge ist natürlich nicht jedes seiner Forschungsgebiete angesprochen worden, aber doch, wie ich glaube, sehr viele. Möge die Lektüre dieses stattlichen Bandes dem Jubilar Freude bereiten und für einen weiten Leserkreis die Kenntnis der Kirchengeschichte fördern. Köln, im April 2011
+ Joachim Kardinal Meisner Erzbischof von Köln
Metropolitankapitel der Hohen Domkirche zu Köln Der Dompropst
Geleitwort Im Kölner Metropolitankapitel hat es öfter Domkapitulare gegeben, die sich wissenschaftlich mit der Geschichte unseres Erzbistums und gelegentlich auch speziell der unseres Kapitels befasst haben. Einige haben auch historische Denkwürdigkeiten aufgezeichnet, die speziell das Kollegium des Domklerus zum Forschungsgegenstand hatten. Der Jubilar Prof. Dr. Norbert Trippen, der unserem Kapitel seit 1986, also seit einem Vierteljahrhundert, angehört, hat aber in besonderem Umfang und mit herausragender fachhistorischer Akribie über die Diözesan- wie über die Kapitelgeschichte geforscht und publiziert. Seit seiner theologischen Dissertation in Bonn 1972 „Das Domkapitel und die Erzbischofswahlen in Köln 1821-1929“ hat Norbert Trippen in den vergangenen vierzig Jahren immer wieder auf das Kölner Domkapitel insgesamt und auf einzelne Mitglieder in seinen Publikationen Bezug genommen. Er schrieb über die Wiederbegründung des Kölner Domkapitels durch die Bulle „De salute animarum“ Papst Pius’ VII. im Jahre 1821, über das Verhältnis von Erzbischof und Domkapitel im 19. Jahrhundert, über die vom Kapitel gefeierte Domliturgie, über den Domdechanten und Generalvikar Hüsgen (1769-1841), der in schwieriger Zeit als Kapitularvikar das Erzbistum verwaltete, und über den Domherrn Johann Wilhelm Frenken (1809-1887), eine in der Diözesangeschichte sehr umstrittene Persönlichkeit. Auch über die Dompfarre, die lange dem Kapitel inkorporiert war,
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Geleitwort
hat der Jubilar im vergangenen Jahr im Kölner Domblatt einen historischen Rückblick gegeben, indem er ihre Geschichte in den zweihundert Jahren ihres Bestehens mit gewohnter historiographischer Meisterschaft skizzierte. Dies ist der zuletzt eingetragene Titel im der vorliegenden Festschrift beigegebenen aktuellen Schriftenverzeichnis des Gefeierten. In der Festschrift selbst ist nun der erste Beitrag, verfasst vom Mitglied unseres Kapitels und Kölner Offizial Dr. Günter Assenmacher, den kanonistischen Voraussetzungen und Bedingungen dieser Pfarraufhebung gewidmet. Weitere Aufsätze dieses umfangreichen Bandes befassen sich mit der Hohen Domkirche und ihrer Liturgie, der Dombibliothek und den Domjubiläen, wie es in der Festschrift für einen Domkapitular überaus passend ist. Gewiss bilden die Publikationen zu Domkapitel und Dom – wie in der Festschrift so auch im Opus des Gefeierten – nur einen Teil des Inhalts. Ja, zum Werk von Norbert Trippen wird man sagen können, dass diese Thematik nur einen vom Umfang her geringen Ausschnitt aus der Fülle seiner Publikationen darstellt. Unser Kapitel hat aber allen Grund, dem Jubilar besonders für diese wissenschaftlichen Arbeiten dankbar zu sein und ihm auch dafür zu danken, dass er die Geschichte des Priesterkollegiums am Dom nicht isoliert als Institutionengeschichte einer geistlichen Korporation, sondern der Sache angemessen als integralen Bestandteil der Gesamtgeschichte der Kölner Kirche dargestellt hat. Dies bedeutet im Übrigen auch, dass Norbert Trippen viel über unser Domkapitel innerhalb von Monographien wie Aufsätzen geschrieben hat, die dessen Geschichte anders als die oben genannten nicht schon vom Titel her thematisch gewidmet waren. Der Jubilar war seit 1975 Professor für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Er hat sich dort der vorwiegend – aber nicht ausschließlich – jüngeren Geschichte der Weltkirche und der Kölner Ortskirche im gleichen Maße gewidmet. Nicht zufällig trägt eine der von ihm zu Ehren von Kardinal Höffner mitherausgegebene Festgabe den Titel „Ortskirche im Dienst der Weltkirche“. Ortskirche und Weltkirche werden nun auch in der ihm gewidmeten Festschrift behandelt. Hinzu kommt, als zeitlicher Aspekt des Titels, die Epoche vor und nach dem Zweiten Vaticanum. Der nun Fünfundsiebzigjährige hat ungefähr das erste Drittel seines Lebens vor dem Konzil erlebt, an dessen Historiographie er sich indirekt durch seine große Frings-Biographie beteiligt hat und über dessen vielfältige Wirkungen er in kleineren Publikationen mehrfach sehr reflektierte Überlegungen äußerte. Nun ist es seit dem Ende des Mittelalters üblich und wurde vom Trienter Konzil auch ausdrücklich gefordert, dass ein Domkapitular nicht nur
Geleitwort
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mit der Domliturgie und gelehrten Studien befasst ist, sondern auch für die Seelsorge und Verwaltung der Diözese zur Verfügung steht. Der Jubilar hat immer zur Verfügung gestanden, in besonderer Weise als Regens des Priesterseminars und als Leiter der Hauptabteilung Schule/Hochschule im Generalvikariat. So kommt es, dass in seiner Festschrift selbstverständlich nicht nur historische Themen, sondern auch solche der Pastoraltheologie und der Priesterausbildung behandelt werden. Zur Festschrift haben insgesamt mehr als vierzig Freunde, Kollegen und Schüler von Norbert Trippen beigetragen. Es ist schwer und immer mit unsicheren Zuordnungen verbunden, darin besondere Gruppen auszumachen. Sicher ist aber, dass die Kirchenhistoriker und zwar von den Theologischen wie den Philosophischen Fakultäten die Mehrheit stellen. Einige Autoren würden sich selbst wohl als „Profanhistoriker “ bezeichnen, aber das besagt bei Mediävisten und bei rheinischen Landeshistorikern wohl nur, dass sie sich nicht ausschließlich mit Kirchengeschichte befassen. Ihre Beiträge hier sind jedenfalls auf kirchliche Themen gerichtet, wobei die Geschichte der Kirche von Köln zur Freude unseres Kapitels den größten Raum einnimmt. Der Jubilar verkörpert die Erforschung der Kölner Kirchengeschichte in persona, und das Kapitel, das seinem langjährigen Mitglied natürlich nicht nur für seine Forschungen dankbar ist, wünscht ihm, dass er bei der Lektüre seiner Festschrift mit Freude feststellt, wie oft die ihm gewidmeten Beiträge auf seinen wissenschaftlichen Arbeiten aufbauen.
Köln, im März 2011
Dr. h.c. Norbert Feldhoff Dompropst
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Geleitwort
Vorwort Der Kirchenhistoriker Professor Norbert Trippen hat in Forschung und Lehre gleichermaßen Bedeutendes geleistet. Seine Veröffentlichungen haben die Wahl der besonderen Interessengebiete wie die Methode nicht weniger jüngerer Wissenschaftler wesentlich beeinflusst. Das breite Spektrum seiner eigenen Forschungen war nur schwer im Titel dieser Festschrift zum Ausdruck zu bringen. Die Herausgeber haben sich dann für eine Formulierung entschieden, die sich an den Titel anlehnt, den der Jubilar als Mitherausgeber einer Schrift des Jahres 1976 verwendete. Er lautete "Ortskirche im Dienst der Weltkirche", und Norbert Trippen hat seit seiner Priesterweihe 1962 Ortskirche und Weltkirche gleichermaßen gedient. Aus den vielfältigen pastoralen und wissenschaftlichen Aufgabenfeldern Norbert Trippens sowohl in der Ortskirche des Erzbistums Köln (u.a. Regens, Domkapitular und Hauptabteilungsleiter Schule/Hochschule) als auch in überdiözesanen Aufgaben (Kommission für Zeitgeschichte, Borromäusverein) sowie im Anschluss an seine zahlreichen und bedeutsamen wissenschaftlichen Veröffentlichungen haben sich rund 40 seiner Kollegen, Freunde und Schüler zusammengefunden, um Norbert Trippen zu seinem 75. Geburtstag mit kirchenhistorischen Aufsätzen zu ehren. Die Beiträge dieser Festschrift bemühen sich, wenigstens einen Teil der Schwerpunkte seiner kirchenhistorischen Forschung widerzuspiegeln. Ausgehend von der Kölner Kirchengeschichte mit den beiden Themenschwerpunkten Kölner Erzbischöfe und Kölner Dom (I. Teil) sowie altes und neues Erzbistum Köln (II. Teil) weitet sich das Spektrum der Beiträge zur Deutschen Kirchengeschichte (III. Teil), um auch den Bereich der Priesterausbildung vom Tridentinum bis nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (IV. Teil) zu bearbeiten und abschließend in die weltkirchlichen Bezüge (V. Teil) einzusteigen. Wenn diese recht umfangreiche Festschrift binnen – der für das menschliche Leben bedeutsamen – neun Monate gemeinsam erarbeitet werden konnte, gilt der Dank der Herausgeber zunächst den Autoren für die zeitnahe Erstellung ihrer Artikel. Sodann gilt neben dem Böhlau Verlag (hier besonders Frau Dorothee Rheker-Wunsch) in diesem engen zeitlichen Rahmen ein besonderer Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der – derzeit von Sanierungsbauarbeiten betroffenen – Diözesan- und Dombibliothek, namentlich Herrn Michael Schiffer für die einheitliche Formatierung
Vorwort
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der Beiträge und die Last der Korrekturen sowie Frau Claudia Croé für die logistische Realisierung. Dass die Festschrift für Norbert Trippen in dem Verlag und der Veröffentlichungsreihe der Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte, die seine Dissertation von 1972 eröffnet hatte, nun als 28. Band erscheinen kann, ist vor allem den Sponsoren zu verdanken. Großzügige Druckkostenzuschüsse gaben u.a. neben dem Erzbistum Köln und dem Kölner Metropolitankapitel auch der Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds sowie der Landschaftsverband Rheinland und die ChoC-Stiftung sowie weitere Sponsoren, die ungenannt bleiben möchten. Domkapitular Norbert Trippen hat während der Erstellung dieser Festschrift neben seiner breiten Vortragstätigkeit gewiss weiter intensiv an dem zweiten Band seiner Biographie von Joseph Kardinal Höffner gearbeitet, und so sind es aus Anlass seines 75. Geburtstages die herzlichen und dankbaren Wünsche der Herausgeber, Beiträger und Sponsoren, dass dem Jubilar noch viele und fruchtbare Jahre des wissenschaftlichen Forschens und Publizierens über Orts- und Weltkirche geschenkt werden.
Köln, zum 19. Juni 2011 Heinz Finger, Reimund Haas, Hermann-Josef Scheidgen
Persona iuridica ne sit parochus. Kanonistisches Supplement anlässlich der Aufhebung der Kölner Dompfarre von Günter Assenmacher
Die zum 31.12.2009 durch den Erzbischof von Köln verfügte Auflösung der Pfarrgemeinde an der Hohen Domkirche St. Petrus, Köln, (Dompfarrei) 1, veranlasste den Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, zu einer Rückschau auf die Einrichtung und Geschichte der Kölner Dompfarre im 19. und 20. Jahrhundert.2 Der Verfasser dieses Beitrages möchte die historische Abhandlung von Norbert Trippen gerne durch einige kanonistische Hinweise und Erläuterungen ergänzen.
1. Der Status quo und Maßgaben des geltenden Rechtes Die Überschrift dieser Miszelle ist dem can. 520 § 1 CIC/1983 entnommen. Dessen umfassende Anordnung ist bereits in can. 510 des geltenden Rechtsbuchs für die Lateinische Kirche für die Dom- und Kollegiatkapitel folgendermaßen spezifiziert: „§ 1. Mit einem Kanonikerkapitel dürfen künftig Pfarreien nicht mehr vereinigt werden; wo mit einem Kapitel vereinigte Pfarreien bestehen, sind sie durch den Diözesanbischof vom Kapitel zu trennen. § 2. In einer Kirche, die zugleich Pfarr- und Kapitelkirche ist, ist ein Pfarrer zu bestellen, ob er nun aus den Reihen der Kapitulare ausgewählt wird oder nicht; dieser Pfarrer ist an alle Pflichten gebunden und besitzt alle Rechte und Vollmachten, die nach Maßgabe des Rechts dem Pfarrer eigen sind. § 3. Es ist Sache des Diözesanbischofs, genaue Anordnungen zu erlassen, in denen die seelsorglichen Pflichten des Pfarrers und die dem Kapitel eigenen Aufgaben hinreichend in Einklang gebracht werden, wobei dafür zu sorgen ist, dass der Pfarrer den Kapitularen nicht zum Hindernis wird bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und dass umgekehrt das Kapitel der Wahrnehmung der ———— 1 2
ABl Köln 150, 2010, S. 5. Norbert Trippen, Die Kölner Dompfarre im 19. und 20. Jahrhundert, in: Kölner Domblatt 75, 2010, S. 178 - 202.
Günter Assenmacher
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pfarrlichen Aufgabe nicht im Wege steht; im Konfliktfall hat der Diözesanbischof zu entscheiden, der vor allem darauf bedacht sein muss, dass den seelsorglichen Erfordernissen der Gläubigen in geeigneter Weise Rechnung getragen wird. § 4. Die einer Kirche, die zugleich Pfarr- und Kapitelkirche ist, gemachten Spenden werden, sofern nichts anderes feststeht, als der Pfarrei gegeben vermutet.“ In der Kommentierung 3 werden diese Bestimmungen als Konsequenz der Abschaffung/Reform des Benefizialrechtes 4 bezeichnet, die das Zweite Vatikanische Konzil im Dekret über Dienst und Leben der Priester „Presbyterorum Ordinis“ vom 7.12.1965 5 angeordnet hat. Dort (Nr. 20,2) wurde klargestellt, dass die durchaus schwerwiegende Sorge um eine gerechte Entlohnung der Amtsträger immer zweitrangig gegenüber der Verpflichtung sein muss, dass die Erfüllung des mit dem Amt verbunden geistlichen Dienstes sichergestellt ist: „Die erste Bedeutung ... muss dem Amt, das die geistlichen Diener ausüben, zugemessen werden. Deshalb soll das sog. Benefizialsystem aufgehoben oder wenigstens so reformiert werden, dass der Benefiziumsteil oder das Recht auf die aus der Übergabe des Amtes fließenden Einkünfte als zweitrangig gilt und der erste Platz im Recht dem kirchlichen Amt selbst eingeräumt wird; deshalb muss künftig jegliches ständig übertragene Amt so verstanden werden, dass es zur Erfüllung eines geistlichen Zweckes verliehen ist.“ Heribert Schmitz formuliert das kurz gefasst in anderer Weise so: „Bei der Durchführung des Vat[icanum] II setzte sich endgültig die Erkenntnis durch, dass nur ein Priester selbst Pfarrer sein kann; sie führte zu dem Verbot neuer I[nkorporation]en in ein Dom- od[er] Stiftskapitel u[nd] zu dem Gebot, bestehende I[nkorporation]en derart aufzulösen, dass das Kapitel nicht mehr der Pfarrer ist, sondern dass als wirkl[icher] Pfarrer ein Kanoniker od[er] ein anderer Priester einzusetzen ist.“ 6 ———— 3
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Vgl. z.B. Reinhild Ahlers zu c. 520, in: Münsterischer Kommentar zum CIC; Winfried Aymans, Kanonisches Recht II, Paderborn 1997, S. 405, 415; Codice di Diritto Canonico commentato, Mailand 2001, S. 455, 464f.; Fernando Loza zu c. 510, in: Comentario exegético al Código de Derecho Canonico 3, Bd. II / 2, Pamplona 2002, S. 1187f.; Richard Puza, Die Dom- und Stiftskapitel, in: HdbKathKR2, S. 475 - 479, hier 478f.; Antonio S. Sánchez-Gil zu c. 520, in: Comentario exegético al Código de Derecho Canonico 3, Bd. II /2, Pamplona 2002, S. 1235 - 1238; Ludwig Schick, Die Pfarrei, in: HdbKathKR2, S. 484 - 496, hier S. 495. Vgl. z.B. den Überblick bei Peter Landau, Beneficium, in: TRE, Bd. 5, S. 577 - 583. AAS 58, 1966, S. 991-1024. Heribert Schmitz, Inkorporation II, in: LThK 3, Bd. 5, S. 503f., hier S. 503.
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Die Inkorporation 7 als eine durch bischöflichen oder päpstlichen Rechtsakt erfolgte dauernde Vereinigung von Pfarreien mit Klöstern, Kanonikerkapiteln, Universitäten, Spitälern etc., ist ein Rechtsinstitut, das seit dem Mittelalter in Europa eine große wirtschaftliche Bedeutung hatte; deshalb verbreitete es sich seit dem 13. Jahrhundert sprunghaft. Den Institutionen, denen die Pfarreien inkorporiert waren, sicherte es zwar die umfassende wirtschaftliche Nutzung des Pfründengutes der betroffenen Kirchen, auf der anderen Seite führte es aber oft dazu, dass die Interessen der Pfarrei selbst und die seelsorglichen Belange der Gläubigen nicht in der notwendigen oder wünschenswerten Weise wahrgenommen wurden. Das Konzil von Trient reagierte auf diesbezüglich geltend gemachten Missstände mit der Beseitigung der bischöflichen Inkorporationsbefugnis und einem grundsätzlichen Verbot, päpstliche Entscheidungen ausgenommen (Sessio 24, c.13 de ref.). Trotz des weitreichenden Wegfalls der Grundlagen in Folge der großen Säkularisationen des 18. und 19. Jahrhunderts war das Rechtsinstitut der Inkorporation im CIC/1917 verankert.8 Daran, dass es in der Dompfarre in Köln (und auch an anderen deutschen Kathedralen) überlebte, kann kein Zweifel sein, auch wenn Eduard Hegel, der Lehrer und Doktorvater des Jubilars, in einem Aufsatz aus dem Jahr 1950 sehr vorsichtig formulierte: „Es ist [in der Bulle „De salute animarum“ Papst Pius’ VII. vom 16.7.1821] zwar keine förmliche Inkorporation ausgesprochen worden, aber die ... Union zwischen Domkapitel und Pfarrei entspricht dem Rechtsverhältnis der „incorporatio pleno iure“: Das Kapitel „in corpore“ ist Inhaber der Pfarrrechte („parochus habitualis“); es bestellt zum „parochus actualis“ einen der Kapitulare, den der Erzbischof für die „cura animarum“ approbiert und der die Seelsorge unter Beihilfe der Vikare ausübt. Ein eigenes Vermögen besitzt die Dompfarrei ebenso wenig wie einen Kirchenvorstand.“ 9 Der lateinische Text der besagten Bulle lautet: „Porro in qualibet ex antedictis Ecclesiis tam Archiepiscopalibus quam Episcopalibus animarum parochianorum cura habitualis residebit penes Capitulum, actualis vero ab uno e Capitularibus ad hoc expresse designando, et praevio examine ad formam sacrorum Canonum ab ordinario approbando ———— 7
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Vgl. dazu z.B. Dominikus Lindner, Die Lehre von der Inkorporation in ihrer geschichtlichen Entwicklung, München 1951; ders., Inkorporation, in: LThK ², Bd. 5, S. 680 - 682; Peter Landau, Inkorporation, in: TRE, Bd. 16, S. 163 - 166; Heribert Schmitz, Inkorporation II, in: LThK³, Bd. 5, S. 503f. Vgl. cc. 452, 471, 1423 § 2, 1425. Eduard Hegel, Zur Geschichte der Kölner Dompfarrei, in: Kölner Domblatt 4/5, 1950, S. 82 - 96, hier S. 96.
Günter Assenmacher
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cum Vicariorum auxilio exercebitur.“ 10 Die Geschichte, die Bestimmungen in den Statuten des Domkapitels und die unbestrittene Praxis weisen den Rechtsstatus der Kölner Dompfarrei klar als den einer vollrechtlich inkorporierten Pfarrei aus. Nun findet sich schon im Motu proprio Papst Pauls VI. „Ecclesiae Sanctae“ vom 6.8.1966 11 die Vorschrift (I n. 21 § 2): „In Zukunft sollen Pfarreien nicht mehr Kanonikerkapiteln voll inkorporiert werden. Wenn solche Pfarreien vorhanden sind, sollen sie nach Anhörung des Kapitels und des Priesterrates abgetrennt und ein Pfarrer bestellt werden, sei es einer der Kanoniker oder sonst jemand. Er soll alle Vollmachten haben, die nach Vorschrift des Rechtes den Pfarrern zustehen.“ Wie es dann zu den bereits zitierten cc. 510 und 520 CIC / 1983 kam, muss hier nicht näher dargestellt werden.12 Die Maßgabe des nachkonziliaren Kirchenrechts war eindeutig.
2. Die Rezeption im Erzbistum Köln Schaut man auf die Daten, könnte man auf den ersten Blick durchaus zu dem Schluss kommen, dass man sich in Köln mit der Umsetzung der einschlägigen Normen reichlich Zeit gelassen hat, sind doch inzwischen seit dem Motu proprio „Ecclesiae Sanctae“ mehr als 40 Jahre vergangen. Sicher hatte man andere, vordringlichere Sorgen. Vielleicht brauchte es einen Anlass, um auf die entsprechenden Vorschriften aufmerksam zu werden. Erheben wir den Befund, der sich aus den Akten des Generalvikariates 13 ergibt: a) In der Tat stammt der erste Beleg dort aus dem Jahr 1980. Es handelt sich um ein sechs Seiten umfassendes Exposé, das Prof. Dr. Dr. Heinrich Flatten 14, von 1963 bis 1975 Inhaber des Lehrstuhls für Kirchenrecht in der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität in Bonn, seit 1966 nicht-residierender Domkapitular an der ———— 10
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Der lateinische Text findet sich bei Angelo Mercati, Raccolta di Concordati, Bd. 1, Vatikanstadt 1954, S. 648 - 665, hier S. 650; in deutscher Übersetzung ist die Bulle auszugsweise abgedruckt bei Lothar Schöppe, Konkordate seit 1800, Frankfurt 1964, S. 59-63, hier S. 61. AAS 58, 1966, S. 757- 787; eine lateinisch /deutsche Ausgabe liegt vor in: NKD 3, Trier 1967, S. 10- 60, hier S. 43. Vgl. dazu die Hinweise bei Heribert Hallermann, Pfarrei und pfarrliche Seelsorge = Kirchen- und Staatskirchenrecht Bd. 4, Paderborn 2004, S. 203. Rechtlicher Status der Dompfarrei. 037 - 8/105667 I 89. Weitere Hinweise bei Franz Kalde, Flatten, in: LTHK 3, Bd. 3, S. 1315.
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Hohen Domkirche, seit 1975 Erzbischöflicher Offizial, auf Wunsch des damaligen Generalvikars und heutigen Dompropstes Norbert Feldhoff am 18.1.1980 verfasst hatte, und zwar, „weil in nächster Zukunft das Amt des Kölner Dompfarrers neu zu besetzen ist und zuvor Klarheit über die rechtliche Lage bestehen sollte.“ Flatten thematisiert in seiner Darstellung der Rechtslage ausführlich die bereits oben dargestellte Forderung des Motu proprio „Ecclesiae Sanctae“. Er nennt sie klar „eine bindende Weisung ..., die auf Durchführung wartet“; seines Wissens sei die Trennung von Domkapitel und Dompfarrei bislang lediglich in der Erzdiözese München realisiert. Allerdings: „Wie man von Beteiligten aus München hört, ist man dort über die nun geschaffene Situation nicht ganz glücklich; vermutlich wegen der ungeklärten Rechtslage.“ Flatten führt dann mit Bezug auf den damals geltenden CIC/1917 aus: „In der Tat kann es nicht genügen, in einem bischöflichen Rechtsakt nach Anhören des Kapitels und des Priesterrats bloß die Trennung von Dompfarrei und Domkapitel zu dekretieren. Das faktische Nebeneinander von Dompfarrei und Domkapitel bleibt ja doch bestehen; jetzt nur mit dem beträchtlichen Nachteil eines Rechtsvakuums, wie das rechtliche Verhältnis der beiden künftig geregelt ist. Solange die Dompfarrei dem Kapitel inkorporiert ist, gilt eben die genau Abgrenzung, die im c. 415 vorgesehen ist. Mit der Beseitigung der Inkorporation entfällt aber die Vorschrift dieses c. 415, die ja nur für den Fall einer inkorporierten Pfarrei anwendbar ist. Ehe man eine Inkorporation beseitigt, müsste daher zuvor eine rechtliche Regelung getroffen werden, wie künftig auch ohne Inkorporation das Nebeneinander von Dompfarrei und Domkapitel zu ordnen ist. Die Regelung müsste vor allem die Abgrenzung in den gottesdienstlichen Funktionen und ganz besonders im vermögensrechtlichen Bereich ins Auge fassen. Hinsichtlich der vermögensrechtlichen Auswirkungen tauchen nicht geringe Schwierigkeiten auf. Wenn die Dompfarrei wie jede andere Pfarrei verselbständigt wird, muss dann nicht auch eine Rechtsperson geschaffen werden, die Träger von Pfarrvermögen werden kann? Muss dann aber nicht zwangsläufig nach den hier geltenden staatskirchenrechtlichen Vorschriften ebenfalls ein Kirchenvorstand der Dompfarrei gebildet werden? Wird dann jedoch nicht – gerade entgegen der Intention des M[otu]P[roprio], die das seelsorgliche Gewicht der Dompfarrei stärken wollte, – statt der bisher einheitlichen Vermögensverwaltung durch das Kapitel die Einheitlichkeit dieser Verwaltung aufgespalten und dem Dompfarrer eine zusätzliche Belastung in der Vermögensverwaltung aufgebürdet? Wie steht es dann künftig mit dem bisher im Eigentum des Kapitels stehenden Vermögen, das bislang der Dompfarrei zur Nutzung überlassen war, wie z.B. der Dompfarrsaal? Wie
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mit Vermögens- und Verwaltungsrechten an der Wohnung des Dompfarrers, an der Wohnung eines Dompfarrvikars, an etwaigen eigenen Paramenten für die Dompfarrei?“ Der Autor empfiehlt dann, in dieser komplexen Frage eine „Lösung in Gemeinsamkeit mit den anderen Bistümern der Deutschen Bischofskonferenz“ zu suchen und ggf. mit dem Apostolischen Stuhl Rücksprache zu nehmen, „wenn man etwa zu der Überzeugung kommen sollte, dass die staatskirchenrechtliche Konsequenz hinsichtlich des Kirchenvorstandes für ein reibungsloses Nebeneinander von Domkapitel und Dompfarrei nicht ohne Bedenken sei und man daher von einer vollen Anwendung der Vorschrift des M[otu]P[roprio] lieber absehen möchte.“ Für einen solchen Fall vermutet er in Rom Verständnis. Ein wichtiges Argument ist für ihn auch, dass der Gesetzgeber bislang nicht generell die Aufhebung jeder vollrechtlichen Inkorporation angeordnet, sondern die einem Kloster inkorporierten Pfarreien bewusst nicht einbezogen habe. „Wenn mithin die Inkorporation einer Pfarrei in ein Kloster belassen wird, so sieht man schwerlich ein, warum die Inkorporation in ein Kapitel immer vom Bösen sei, das unbedingt beseitigt werden müsse. Ob hinter der Vorschrift des M[otu]P[roprio] nicht eine Vorstellung von Domkapiteln steckt, die der Realität der Domkapitel im deutschen Raum nicht gerecht wird? ... Die Sonderverhältnisse Deutschlands verdienen hier Berücksichtigung. Sonst könnte man sich statt eines in Deutschland gut eingespielten Inkorporationssystems unter Umständen mit einer Trennung von Domkapitel und Dompfarrei erst recht Reibungen und Schwierigkeiten einhandeln.“ Die Neubesetzung des Amtes des Dompfarrers, die Anlass für die kirchenrechtliche Stellungnahme gegeben hatte, erfolgte mit Datum vom 18.5.1980: Dr. Friedhelm Hofmann, seit 1972 Domvikar und Dompfarrvikar, der heutige Bischof von Würzburg, war zwei Tage zuvor, am 16.5.1980, zum residierenden Domkapitular ernannt worden. b) Es scheint, dass die Frage der gesetzlich gebotenen Trennung von Dompfarrei und Domkapitel erst wieder 1988 in den Blick kam. Wiederum gab die Frage, was bei der Ernennung eines neuen Dompfarrers zu beachten sei, den Anlass, eine Darstellung der Rechtslage in Auftrag zu geben, die dieses Mal Prälat Heinrich Barlage besorgte. Er leitete von 1965 bis 1990 zunächst als Domvikar die Stabsabteilung Kirchenrecht in Generalvikariat; dem Domkapitel gehörte er seit 1984 an. Das Exposé von Prof. Flatten war ihm offensichtlich unbekannt. Auch er verweist in seinen Darlegungen auf das Motu proprio „Ecclesiae Sanctae“ und bemerkt dazu, dass seines Wissens in keiner deutschen Diözese die dort geforderte Trennung bislang umgesetzt worden sei. Jedenfalls bleibe zu beachten, „dass
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die Stellung eines Dompfarrers sehr schwach sein wird, wenn er keinen Sitz und keine Stimme im Kapitel hat. Da es nach bisheriger Praxis keinen Kirchenvorstand und selbst keinen Pfarrgemeinderat in der hiesigen Dompfarre gibt, muss festgehalten werden, dass jede Spannung zwischen Dompfarrer und Domkapitel zu einer starken Belastung für die Seelsorge sich auswirken würde.“ Auf can. 510 bzw. can. 520 § 1 des inzwischen längst promulgierten CIC/1983 nimmt er merkwürdigerweise keinerlei Bezug. c) Als 1989 aus gegebenem Anlass eine neue Organisation der Pfarrseelsorge in einem Teil der Kölner Innenstadt überlegt werden musste, rückte auch die Frage nach der Rechtsstellung der Dompfarrei wieder in den Blick, zumal ihr die Seelsorge an der aufzuhebenden Pfarrgemeinde St. Mariä Himmelfahrt zum Teil zufallen sollte und die Seelsorge an der ebenfalls aufzuhebenden Kirchengemeinde Groß St. Martin bereits seit längerer Zeit zugewiesen war. In der von Generalvikar Feldhoff verfassten Vorlage vom 21.7.1989 für die Sitzung des Erzbischöflichen Rates heißt es unter anderem: „Es ist zu prüfen, ob der Erzbischof nicht aufgrund von can. 510 § 1 CIC zum Handeln gezwungen ist. ... Zweifellos ist dies eine komplizierte Frage, an die sich niemand so gerne heranmachen möchte.“ Im Protokoll der Sitzung des Erzbischöflichen Rates vom 4.8.1989 heißt es dann: „Aufgrund der klaren Anweisung von can. 510 § 1 CIC erteilte der Erzbischof den Auftrag, die Trennung der Dompfarrei vom Kapitel einzuleiten. Dies muss in den Einzelheiten sorgfältig im Kapitel beraten werden.“ In einem Schreiben vom 7.8.1989 teilte dies der Generalvikar dem damaligen Dompropst Bernard Henrichs mit. Er ergänzte: „Hierbei sind vor allem die §§ 3 u. 4 des can. 510 CIC zu beachten.“ d) Erst am 4.9.1992, als sich der Erzbischöfliche Rate mit der „Stellung der Geistlichen am Dom und dem Generalvikariat bei den Wahlen zum Priesterrat“ beschäftigte, kam das Thema wieder zur Sprache. Das Protokoll vermerkt: „Angeregt durch diesen Tagespunkt [sic!] bringt der Dompropst ein Zusatzthema ein: den Status der Dompfarrei. Ist es notwendig und sinnvoll, die Dompfarrei aus dem Domkapitel zu excorporieren? Der Dompropst verweist auf Can. 510, 3, der deutlich mache, dass der Schwerpunkt bei der Verselbständigung inkorporierter Pfarreien auf einer effektiveren Seelsorgsmöglichkeit liege. Die uns bekannte Ordnung in Köln habe sich aber bewährt. Die Ausführungen des bisherigen Dompfarrers bestätigen die volle Freiheit seelsorglicher Belange am Dom. Durch eine Excorporierung entstehe erst ein Bündel an Problemen, das die un-
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eingeschränkte seelsorgliche Freiheit belasten werde, z.B. durch Schaffung eines Kirchenvorstandes, der sich in Berufung auf die allgemeinen Rechte dieses Gremium zu einer mit dem Domkapitel konkurrierenden [sic!] Gruppe entwickeln könnte. In der Diskussion wurde die Stellung des Dompfarrers, der nicht dem Domkapitel angehört, als schwierig dargestellt.“ Am 19.10.1992 ernannte der Erzbischof Msgr. Rolf Breitenbruch zum neuen Dompfarrer; er gehörte weder während seiner Amtszeit (bis 2003) noch später dem Domkapitel an, 1998 wurde er zum Ehrendomherrn ernannt. e) Das Rechtsverhältnis von Domkapitel und Dompfarrei beschäftigte auch weiter die Verantwortlichen. Im Juni 1996 übersandte der Dompropst dem Generalvikar einen Auszug aus der hier bereits zitierten Bulle „De salute animarum“ von 1821, in dem es heißt, dass an den Kathedralkirchen „die Seelsorge über die Pfarrgemeinen [sic!, lateinisch „animarum parochianorum cura habitualis“] zwar ein Recht des Kapitels [sei]; sie soll jedoch einem, eigens dazu bestellten, von dem Erzbischofe oder Bischofe in Vorgang gehöriger Prüfung, nach Vorschrift der kanonischen Satzung bestätigtem Mitgliede anvertraut und von demselben mit Hülfe der Vikarien [sic!, lateinisch „vicariorum“] ausgeübt werden.“ Nach einer gutachterlichen Stellungnahme über die Fortgeltung dieses päpstlichen Dokumentes, die von einem Referendar verfasst wurde, der der Rechtsabteilung des Generalvikariates zur Ausbildung zugewiesen war, wurden aus Berlin die Unterlagen über die Trennung der Dompfarrei St. Hedwig vom dortigen Kathedralkapitel angefordert; diese war bereits durch den damaligen Bischof von Berlin, Kardinal Meisner, am 16.10.1987 vorgenommen worden. Msgr. Dr. Cüppers, Leiter der Stabsabteilung Kirchenrecht seit 1995, erstattete auf Veranlassung des Generalvikars ein weiteres kanonistisches Gutachten. Er bezog sich darin weitestgehend auf das bereits zitierte Exposé von Prof. Flatten, verwies auf eine Spannung zwischen dem Recht des CIC/1983 und § 17 der damals geltenden Statuten des Domkapitels vom 17.1.1989 und unterstrich die Probleme, die sich daraus ergäben, dass es einer vom Kapitel getrennten Dompfarrei möglich sein werde, eigenes Vermögens zu erwerben, für dessen Verwaltung ein Kirchenvorstand zu wählen sei; ferner, dass in diesem Falle alle dem Dom gemachten Spenden, sofern nicht anderes feststehe, von Rechts wegen als der Pfarrei gegeben vermutet würden. f) Die weitere Verfolgung all dieser Überlegungen und Bedenken erübrigte sich schließlich, als die Notwendigkeiten der sog. Strukturreform (Reduzierung der Zahl der Pfarrgemeinden unter Berücksichtigung der Zahlen der in
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der Pfarrseelsorge einsetzbaren Priester und der praktizierenden Gläubigen) im Laufe des Jahres 2009 darauf hinaus liefen, die bislang selbständigen Pfarrgemeinden St. Andreas, St. Kolumba und St. Maria in der Kupfergasse gemeinsam mit der Dompfarrei zum 31.12.2009 aufzulösen und zum 1.1.2010 eine neue Innenstadtpfarrei mit dem Namen „St. Aposteln“ zu errichten.15 Diese Überlegungen fanden die Zustimmung sowohl des Domkapitels wie des Priesterrates; Schwierigkeiten seitens des amtierenden Dompfarrers gab es nicht, da Prälat Johannes Bastgen schon früher als Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal und jetzt als Dom- und Stadtdechant in Wahrnehmung dieser Aufgaben den Umstrukturierungsprozess von Anfang an bejaht und positiv begleitet hatte. Er war stets darauf bedacht, was auch allen anderen Beteiligten wichtig war, den Dom als Ort der Seelsorge zu erhalten; dies wollte er sowohl persönlich gewährleisten als auch strukturell gewahrt sehen. Da repräsentative pfarrliche Gremien nicht existierten, konnten sie auch nicht befragt werden. Die Neuordnung wurde mit Erzbischöflicher Urkunde vom 24.11.2009 zum 1.1.2010 in Kraft gesetzt. Öffentliche Diskussionen, Lamenti oder gar Widerstand gegen die Auflösung der zahlenmäßig ohnehin sehr kleinen Dompfarrei 16 gab es nicht.
3. Zur Situation an anderen deutschen Bischofskirchen Sicherlich ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Situation der anderen deutschen Kathedralkirchen von Interesse, auch wenn er möglicherweise an der Oberfläche bleibt und nicht ganz „á jour“ ist. Der Verfasser kann hier nämlich lediglich auf die Angaben in den Statuten der deutschen Domkapitel zurückgreifen, wie sie in der von Stephan Haering, Burghard Pimmer-Jüsten und Martin Rehak besorgten Sammlung aus dem Jahr 2003 vorliegen 17; ferner auf Ergebnisse einer Umfrage, die er selbst im Jahr 2006 durchführte, um im Auftrag des Kölner Dompropstes vor den Mitgliedern des „Konveniats Preußischer Pröpste und Dekane“ darüber zu referieren. Die entsprechenden Informationen, die er daraufhin erhielt, waren hinsichtlich ihres Umfanges und ihrer Qualität sehr unterschiedlich; sie konnten leider durch eigene Forschungen nicht weiter vertieft werden; ob sie heute ———— 15 16
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ABl Köln 150, 2010, S. 5 - 7. Der Personalschematismus für das Erzbistum Köln 2006/2207 verzeichnet auf S. 186 für die Dompfarrei 679 Katholiken. Erschienen in der Reihe Subsidia ad ius canonicum vigens applicandum, Bd. 6, Metten 2003.
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noch in allem zutreffen, kann nicht gesagt werden, zumal die Angaben in Personalschematismen etc. immer der Zeit hinterher hinken und auch nicht unbedingt aufschlussreich sind. Als 1802 unter französischer Herrschaft das erste Bistum Aachen errichtet wurde, erlangte die bisherige Stiftskirche den Rang einer Kathedrale; gleichzeitig wurde sie auch Pfarrkirche. Die unmittelbar neben dem Dom gelegene Pfarrkirche St. Foillan wurde damals allerdings nicht aufgegeben, sondern blieb von 1802 bis 1825 „Annexkirche“ der Dompfarrei. Nach dem Ende des ersten Bistums Aachen wurde St. Foillan wieder die eigentliche Pfarrkirche. Ob die pfarrliche Stellung des Domes 1825 automatisch erlosch oder ob es zu einer eigenen Aufhebung kam, ist nicht klar.18 In Augsburg gibt es seit Jahrhunderten eine strikte organisatorische Trennung zwischen Domkapitel und Dompfarrei. Letztere besitzt eine eigene Kirchenstiftung, ein eigenes Seitenschiff mit eigenem Altar im Dom und einen eigenen Dompfarrer nach can. 510 § 2. Wenn der Bischof ein Mitglied des Domkapitels mit dieser Aufgabe betrauen will, hört er zuvor das Kapitel. Der Dom in Augsburg ist Eigentum der Diözese; hausherrliche Gewalt übt der Bischof von Augsburg aus, der sich durch den Dompropst vertreten lässt. Während der Etat für die gottesdienstlichen und sonstigen Veranstaltungen des Domkapitels vom Kathedralfonds zu bestreiten ist, sind die entsprechenden Kosten der Dompfarrei durch die Dompfarrkirchenstiftung zu decken. Die liturgischen Funktionen des Domkapitels haben Vorrang vor den gottesdienstlichen Erfordernissen der Dompfarrei und anderen Veranstaltungen im Dom. Bei außerplanmäßigen Veranstaltungen des Domkapitels im Dom sind die seelsorglichen Belange der Dompfarrei zu berücksichtigen. Im Konfliktfall entscheidet der Bischof.19 Auch in Bamberg ist der Dom zugleich Pfarrkirche. Den Dompfarrer ernennt der Erzbischof in der Regel aus dem Kreis der Kanoniker; er ist Vorstand der Domkirchenstiftung St. Peter und St. Georg. Der Dompfarrer spricht sich mit dem Domdekan und dem „Summus custos“ hinsichtlich der Belegung des Domes ab. Gottesdienste und sakramentale Handlungen haben Vorrang vor allen anderen Veranstaltungen im Dom.20 Die St. Hedwigs-Kathedrale, Bischofskirche der 1930 gegründeten Diözese Berlin, ist Eigentum der damals schon lange bestehenden Kirchengemeinde St. Hedwig. Die Dompfarrei wurde durch Dekret des Bischofs vom 16.10.1987 entsprechend can. 510 § 1 CIC vom Domkapitel getrennt, das ———— 18 19 20
Schriftliche Mitteilung von Dompropst Dr. Hammans vom 5.4.2006 an den Verfasser. Schriftliche Auskunft von Offizial Freiherr von Castell vom 29.3.2006 an den Verfasser. § 24 des Statuts des Metropolitankapitels zu Bamberg in der Fassung vom 1.1.1998.
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bis dahin eines seiner Mitglieder wählte, welches dann vom Bischof zum Dompfarrer ernannt wurde. Nunmehr ernennt der Bischof den Dompfarrer nach Anhörung des Domkapitels. Der Dompfarrer ist Vorsitzender des Kirchenvorstandes der Kirchengemeinde, dem die Verwaltung der Kathedrale obliegt. Zur Wahrnehmung der Rechte des Domkapitels ist der Dompropst geborenes Mitglied in diesem Kirchenvorstand. Das Domkapitel, die Kirchengemeinde St. Hedwig und das Ordinariat müssen sich über die Nutzung, Erhaltung und Ausstattung sowie den Jahresetat der Kathedrale vereinbaren; diese Vereinbarung tritt durch bischöfliche Bestätigung in Kraft. Durch ein eigenes Bischöfliches Dekret vom 12.12.1989 sind bestimmte Fragen, die Bischof, Kathedralkapitel, Dompfarrei und Bistum betreffen, geregelt.21 Die Seelsorge an der Domkirche St. Petri in Bautzen, der Kathedrale der Diözese Dresden-Meißen war seit Gründung des Kollegiatkapitels St. Petri, das seit 1921 Kathedralkapitel ist, demselben inkorporiert. Die Ausgliederung der Dompfarrei erfolgte durch Bischöfliches Dekret vom 1.3.1982. Darin wurde angeordnet, dass über die Nutzung des Domes, der Eigentum des Domkapitels bleibt, zwischen dem Kapitel und der Dompfarrei eine Vereinbarung zu treffen sei, die der bischöflichen Bestätigung bedarf. Die ehemalige Hofkirche SS. Trinitatis in Dresden, vormals Konkathedrale und Propsteikirche, ist seit 1980 Bischofskirche. Eine Inkorporation bestand dort nicht.22 Bei der Wiedererrichtung des Domkapitels Eichstätt im Jahre 1821 wurde in vermögensrechtlicher Hinsicht aufgrund der konkordatären Gegebenheiten zwischen Domkustodiestiftung und Dompfarrkirchenstiftung unterschieden. Das Domkapitel war allerdings Pfarrer der Dompfarrei (parochus habitualis); es wählte aus seinem Kreis den Dompfarrer (parochus actualis); der Bischof hatte diese Wahl zu bestätigen. Seit Inkrafttreten des CIC/1983 kann der Bischof den Dompfarrer frei ernennen. Im geltenden Statut des Domkapitels vom 1.5.2005 ist die Verbindung von Domkapitel und Dompfarrei nicht mehr erwähnt.23 Bei der Gründung des Bistums Erfurt im Jahre 1994 blieb die bisherige Dompfarrei als Gemeinde erhalten; der Kirchenvorstand wurde aufgelöst und durch das Domkapitel ersetzt. In den Kapitelsstatuten ist festgelegt, ———— 21
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Die entsprechenden Unterlagen stellte Generalvikar Steinke am 10.12.1997 Generalvikar Feldhoff zur Verfügung. Schriftliche Mitteilung von Domdekan Weihbischof Weinhold vom 31.3.2006 an den Verfasser. Schriftliche Mitteilung von Domdekan Schimmöller vom 17.5.2006 an den Verfasser.
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dass der Bischof den Dompfarrer nach Möglichkeit aus den Reihen des Domkapitels nach dessen Anhörung ernennt.24 In Essen wurde im Zuge der Neuordnung der Pfarreien der Essener Innenstadt die Dompfarrei St. Johann-Baptist (Münsterpfarrei) aufgelöst und der damals neu gebildeten Katholischen Kirchengemeinde St. Gertrud, Essen-Mitte, zugewiesen.25 Bereits am 16.8.1968 hob Erzbischof Hermann Schäufele die in der Bulle „Provida solersque“ verfügte Inkorporation der Dompfarrei Unserer Lieben Frau in das Metropolitankapitel in Freiburg auf und erhob diese zur selbständigen Pfarrei. Der Dompfarrer, der seither frei ernannt wird, verwaltet als Pfarrvorstand das Vermögen der „Münsterfabrik“.26 Die Pfarrkirche zum Heiligen Jakobus in Görlitz war seit 1973 Prokathedrale der 1972 errichteten Apostolischen Administratur Görlitz und ist seit 1994 Kathedrale des in diesem Jahr zum Bistum erhobenen Sprengels. Den Dompfarrer ernennt der Diözesanbischof nach Anhörung des Domkapitels. Dompfarrer und Domkapitel regeln einvernehmlich die wechselseitigen Belange.27 Die Domkirche St. Marien in Hamburg ist Eigentum der Katholischen Kirchengemeinde St. Marien, deren Pfarrer den Titel „Dompfarrer“ trägt. Er wird vom Bischof nach Anhörung des Metropolitankapitels ernannt. Zur Wahrung und Wahrnehmung der Rechte des Domkapitels an der Domkirche ist der Dompropst geborenes Mitglied des Kirchenvorstandes der Kirchengemeinde St. Marien. In Angelegenheiten, die das Metropolitankapitel und das Erzbistum Hamburg betreffen, bedürfen die Beschlüsse des Kirchenvorstandes der Zustimmung des Dompropstes. Das Domkapitel, die Dompfarrei und das Generalvikariat treffen über die Nutzung, Erhaltung und Ausstattung sowie über den Jahresetat der Domkirche Vereinbarungen, die durch Erzbischöfliche Genehmigungen in Kraft treten.28 Im Schematismus der Diözese Hildesheim 2008 ist der Dom Mariä Himmelfahrt unter der Pfarrgemeinde „Zum Heiligen Kreuz“ verzeichnet, allerdings vor der Pfarrkirche. Pfarrer ist einer der Domkapitulare. In den Statuten des Kapitels finden sich keine einschlägigen Bestimmungen. Nähere Einzelheiten wurden leider nicht mitgeteilt. ———— 24 25 26 27 28
Schriftliche Mitteilung durch Dompropst Generalvikar Dr. Jelich vom 20.3.2006 an den Verfasser. Schriftliche Mitteilung von Dompropst Vieth vom 22.3.2006 an den Verfasser. Schriftliche Mitteilung von Dompropst Weihbischof Dr. Wehrle vom 28.3.2006 an den Verfasser. § 72f. der Statuten des Domkapitels in Görlitz vom 1.12.1997. Schriftliche Mitteilung von Dompropst Kuckhoff vom 18.3.2006 an den Verfasser.
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In § 31 der Kapitelsstatuten vom 23.4.1996 heißt es lediglich, dass die Domkirche in Fulda zugleich Pfarrkirche für die Dompfarrei ist. „Dem Dompfarrer bleiben die ihm schon seither zustehenden Rechte in Bezug auf die pfarrlichen Gottesdienste und die seelsorglichen Amtshandlungen im Dom gewahrt.“ Änderungen können nur mit Zustimmung des Domkapitels erfolgen, im Konfliktfall entscheidet der Bischof. Weitere Auskünfte wurden zur Situation in Fulda nicht erteilt. Auch der Dom zu Limburg ist zugleich Domkirche und Pfarrkirche. Der Bischof ernennt für die Domgemeinde einen eigenen Pfarrer, der den Titel „Dompfarrer“ trägt; er muss dem Domkapitel angehören. „Konfliktfälle zwischen den seelsorgerischen Pflichten des Pfarrers und den Aufgaben des Domkapitels haben sich in der Vergangenheit nicht ergeben, weil im Dom Gottesdienst und sakramentale Handlungen vor allen Veranstaltungen Vorrang haben.“ 29 § 6 (2) der Kapitelsstatuten von Magdeburg vom 1.10.2003 bestimmt: „Die Kathedralkirche St. Sebastian ist zugleich Pfarrkirche. Eigene vom Kathedralkapitel beschlossene seelsorgliche Angebote können die pfarrliche Pastoral ergänzen. Das Kathedralkapitel beachtet die Anordnungen des Diözesanbischofs gemäß can. 510 CIC.“ Es besteht eine vertragliche Regelung zwischen Bischof, Kathedralkapitel und Kirchenvorstand der Propsteipfarrei St. Sebastian vom 14.4.2000.30 In Mainz gab es keine Inkorporation der Dompfarrei in das Kanonikerkapitel. Auch dort ist die Domkirche St. Martin zugleich Pfarrkirche der Dompfarrei. Der Dompfarrer wird vom Bischof nach Anhörung des Domkapitels ernannt; falls er nicht Mitglied des Domkapitels ist, erhält er den Rang eines Dompräbendaten.31 Kardinal Döpfner löste mit Urkunde vom 1.3.1973 nach Zustimmung des Metropolitankapitels und des Priesterrates die Metropolitan- und Stadtpfarrei Zu U. L. Frau in München aus dem Verband des Metropolitankapitels. Der Dompfarrer wird vom Erzbischof nach Anhörung des Kapitels ernannt. Eigentümerin der Metropolitankirche München ist die Metropolitanund Pfarrkirchenstiftung Zu U. L. F. in München, die gemeinsam vom Erzbischof und dem Metropolitankapitel verwaltet wird.32 Zur Dompfarrei am St. Paulus-Dom in Münster zählen nach Angaben des Personal-Schematismus des Bistums Münster (2010) 79 Katholiken. Pfarr———— 29 30 31 32
Schriftliche Mitteilung von Domdekan Weihbischof Pieschl vom 18.5.2006 an den Verfasser. Vgl. AfkKR 173, 2004, S. 154 -163. Schriftliche Mitteilung von Archivdirektor Dr. Braun vom 4.5.2006. Schriftliche Mitteilung von Domdekan Dr. Wolf vom 13.4.2006 an den Verfasser.
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verweser ist derzeit der Dompropst, ihm steht ein Domvikar als „Domkaplan“ zur Seite. Früher gab es einen eigenen Dompfarrer. Mit Bezug auf die 2. Auflage (1991) des Bistums Osnabrück teilte Domdechant Dr. Plock dem Verfasser am 27.3.2006 mit, dass bis zur Säkularisation des alten Domkapitels 1802 die Dompfarrei diesem inkorporiert war; seit 1802 sei die Dompfarrei rechtlich selbständig. Die früher dem Domkapitel in Paderborn inkorporierte Dompfarrei wurde im Zuge der Auflösung verschiedener Innenstadtpfarreien ebenfalls aufgelöst und ging in der neugegründeten Pfarrei „St. Liborius“ auf.33 Die bis zur Säkularisation 1803 am Dom in Passau bestehende Personalpfarrei für die Bediensteten des Fürstbischofs und des Domkapitels wurde 1803 Pfarrei für die untere Altstadt und war dem Kapitel inkorporiert, welches einen Domkapitular als Dompfarrer bestellte. 2005 wurde die Dompfarrei wegen der sehr gesunkenen Katholikenzahl in einen Pfarrverband integriert, dessen Pfarrer vom Bischof ernannt wird und nicht dem Kapitel angehört.34 Die Dompfarrei in Regensburg war seit 1263 dem dortigen Domkapitel inkorporiert, oft übernahm eines seiner Mitglieder das Amt des Dompfarrers, der allerdings erst im 19. Jahrhundert bisweilen so genannt wurde, sonst aber den Titel „Dompfarrvikar“ trug. Zum 1.8.1990 wurde die dem Domkapitel inkorporierte Dompfarrei St. Ulrich erstmals zu Bewerbung ausgeschrieben. Zu beachten ist, dass in Regensburg die Kapitelskirche, d.h. der Dom, nicht identisch ist mit der Pfarrkirche der Dompfarrei.35 Das Statut des Domkapitels von Rottenburg-Stuttgart vom 8.1.1993 enthält keine Hinweise auf das Verhältnis Domkapitel – Dompfarrei. Im Verzeichnis der Personen und Einrichtungen der Diözese Rottenburg-Stuttgart (2009, Teil I) werden für die Kathedrale St. Martin in Rottenburg und die Konkathedrale St. Eberhard in Stuttgart eigene Dompfarrer genannt. Auch in Speyer ist die Kathedralkirche zugleich Kapitels- und Pfarrkirche. Der Dompfarrer wird vom Bischof frei ernannt, er soll Mitglied des Domkapitels sein bzw. werden. Die materiellen Bedürfnisse für die gottesdienstlichen und sonstigen Veranstaltungen im Dom, die nicht in die Zuständigkeit der Dompfarrei fallen, werden durch das Domkapitel gemäß einer eigenen schriftlichen Vereinbarung bestritten.36 ———— 33 34 35
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Schriftliche Mitteilung von Dompropst Dr. Hentze vom 20.3.2006 an den Verfasser. Schriftliche Mitteilung von Dompropst Dr. Wagenhammer vom 16.3.2006 an den Verfasser. Schriftliche Mitteilungen von Offizial Dr. Josef Ammer vom 20.3.2006 und Archivdirektor Dr. Mai vom 30.3.2006. Schriftliche Mitteilung von Offizial Dr. Weis vom 28.3.2006 an den Verfasser.
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Bischof Spital exkorporierte die am 8.9.1827 errichtete Dompfarrei St. Petrus Trier aus dem dortigen Domkapitel und errichtete sie mit gleichem Datum als eigenständige Pfarrei und eigene Kirchengemeinde, die in das Dekanat unter den Pfarrverband Trier I eingegliedert wurde. Bischof Marx hob diese Pfarrei nach Anhörung der zuständigen Gremien zum 1.10.2003 auf und vereinigte sie mit der Pfarrei- und Kirchengemeinde Trier Liebfrauen. Er verfügte, dass die Hohe Domkirche, das Domkapitel und die übrigen Domgeistlichen, die auf dem Territorium der ehemaligen Dompfarrei und Kirchengemeinde Trier St. Petrus wohnen, von der Pfarrseelsorge exemt bleiben.37 In Würzburg wurden zwei Pfarreien unterschieden: Die Dompfarrei als Pfarrsprengel eines territorial umschriebenen Innenstadtbezirks, deren Pfarrstelle vom Bischof frei besetzt wurde, und die Domstiftspfarrei, die dem Domkapitel voll inkorporiert war. Zu ihr gehörten nur die Haushalte des Bischofs und der Mitglieder des Domkapitels einschließlich der Domvikare. Durch Dekret vom 1.2.1984 wurde die Domstiftspfarrei im Einvernehmen mit dem Kapitel von diesem getrennt und dem jeweiligen Dompfarrer übertragen.38
4. Ergebnis a) Mit der Entscheidung, die bisherige Dompfarre in der neuen Innenstadtpfarrei „St. Aposteln“ aufgehen zu lassen, wurde der wiederholten gesetzlichen Forderung nach Trennung von Domkapitel und Dompfarrei in radikaler Weise entsprochen: Diese jahrhundertealte Pfarrei, die viele Veränderungen mitgemacht hatte, gibt es nicht mehr. Zuständiger Pfarrer für die in ihrem bisherigen Bezirk wohnhaften Gläubigen ist seit 1.1.2010 der Pfarrer der neuen Pfarrei „St. Aposteln“. Auch wenn sie weiter die Gottesdienste im Dom besuchen und sich dort beheimatet fühlen, ist die Basilika am Neumarkt für sie fortan die Pfarrkirche. b) Ausgenommen – exemt – von den Zuständigkeiten der dortigen Pfarrseelsorge bleibt durch Erzbischöflichen Erlass einmal die Hohe Domkirche selbst. Eine Zuordnung der Kathedrale als „weitere Kirche“ zum Bereich der neuen Pfarre „St. Aposteln“ wäre unstreitig unter ihrem Rang als Mut———— 37 38
Schriftliche Mitteilung von Dompropst Rössel vom 28.3.2006 an den Verfasser. Schriftliche Mitteilung von Offizial Dr. Rambacher vom 16.3.2006 an den Verfasser.
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terkirche des Erzbistums 39, als Kathedralkirche 40 des Erzbischofs und Metropoliten der Kirchenprovinz Köln und als Kirche des Domkapitels. c) Exemt von der Pfarrseelsorge bleiben nach Erzbischöflicher Verfügung auch die an der Hohen Domkirche residierenden Mitglieder des Metropolitankapitels sowie die anderen dort ernannten Geistlichen. Sie sind also nicht möglichen Weisungsbefugnissen des Pfarrers von „St. Aposteln“ oder des Dechanten oder Stadtdechanten unterstellt, sondern unmittelbar dem Erzbischof bzw. nach Maßgabe der Kapitelsstatuten dem Dompropst und dem Domdechanten. d) Der Erzbischof hat im Zuge der Auflösung der bisherigen Dompfarre durch eigene Dekrete sowohl dem Dompropst als auch dem Domdechanten mit dem Recht der Subdelegation die allgemeine Trauvollmacht verliehen; so ist gewährleistet, dass – immer servatis servandis – in der Domkirche die Spendung aller Sakramente und Sakramentalien unabhängig von der Zustimmung oder Delegation durch den Pfarrer von „St. Aposteln“ erfolgen kann. Damit soll allerdings keine ungebührliche „Insel“ außerhalb des Pfarrprinzips erhalten oder favorisiert werden. e) Da sowohl wegen des besonderen Ranges und der Wertschätzung der Domkirche und/oder ob ihrer Verbundenheit mit dort tätigen Geistlichen nicht wenige Gläubige nicht nur die zahlreichen Gottesdienste dort besuchen, sondern auch die Spendung bestimmter Sakramente/Sakramentalien erbitten, hat der Erzbischof verfügt, dass die in der bisherigen Dompfarrei geführten Kirchenbücher und die dazu gehörigen Akten dort verbleiben und auch weiter dort geführt werden, obwohl der CIC sie „libri paroeciales“ nennt (c. 535) und bei der Auflösung anderer Pfarreien andere Regelungen gelten. Das bis zum 31.12.2009 geführte Siegel (vgl. c. 535 § 3) hat seither nur noch historische Bedeutung. Beurkundungen etc. werden nunmehr mit dem Siegel des Domkapitels beglaubigt. Aus dem „Dompfarramt“ wurde das Büro der „Domseelsorge“. f) Da die Dompfarre über kein eigenes Vermögen verfügte, erübrigten sich Bestimmungen über dessen Übertragung und weitere Verwaltung.
———— 39 40
Dekret 384 der Kölner Diözesansynode von 1954. Vgl. Günter Assenmacher, Kathedrale, in: LThK 3, Bd. 5, S. 1338; Martin Hülskamp, Bischofskirche, in: LKStKR, Bd. 1, S. 272f.
Persona iuridica ne sit parochus
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g) So haben sich die in der Vergangenheit vordringlichen Fragen und Besorgnisse darüber, wer bei der Besetzung der Stelle des Dompfarrers und in den vermögensrechtlichen Fragen mitzureden und zu entscheiden hätte, erledigt. h) Die Statuten des Domkapitels wurden zum 1.1.2010 neu gefasst. In § 8 heißt es nun: „Der Domdechant trägt die Verantwortung für die Feier der Gottesdienste und die Seelsorge im Dom.“ Im „Dompfarrbrief “ (November 2009 -Januar 2010) schrieb er, der Einsatzbereitschaft des Domklerus gewiss: „Auch nach Aufhebung der Dompfarrei soll das Leben der Personalgemeinde am Dom weiterhin gestärkt werden. Der Dom wird auch in Zukunft als Bischofs- und Kapitelskirche ein Ort vielfältiger Seelsorge bleiben.“
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Der Codex 132 der Kölner Dombibliothek als diözesaner Zeuge der großen Kirchenreform des 15. Jahrhunderts und ihrer ordenstheologischen Impulse von Hendrik Breuer
I. Historische Einführung: Der Kölner Erzbischof Ruprecht von der Pfalz als Nachfolger des Erzbischofs Dietrich II. von Moers und das Zeitalter der großen Kloster- und Kirchenreform Nachdem der Kölner Erzbischof Dietrich II. von Moers am 13.2.1463 auf seinem Schloss Zons gestorben war, wählte das Kölner Domkapitel nur einen knappen Monat später am 30.3.1463 mit Ruprecht Pfalzgraf bei Rhein einen Angehörigen der kurpfälzischen Wittelsbacher zum neuen Erzbischof von Köln. Zuvor hatte dieser das Amt des Dompropstes in Würzburg innegehabt. Dennoch war er seinem neuen Wirkungsort durch einen Studienaufenthalt an der Kölner Universität in den Jahren 1442/43 eng verbunden. Die Wahl des Wittelsbachers dürfte auf Seiten des Kölner Domkapitels maßgeblich von dem Bestreben geleitet gewesen sein, einen auswärtigen Kandidaten zu gewinnen, der als Gegengewicht zu dem starken Machtstreben der Burgunderherzöge aufzutreten vermochte.1 Mit seinem Vorgänger Dietrich II. verband den neuen Erzbischof die Vertrautheit mit den Anliegen der großen Kirchenreform des 15. Jahrhunderts sowie der in ihrem Umfeld in die Wege geleiteten großen klösterlichen Observanzreformen. Die in Kreisen der großen Reformkonzilien erhobenen Forderungen nach einer „reformatio ecclesiae“ hatten auch das Ordenswesen erfasst. Der Zusammenhang zwischen der großen Kirchenreform und den in den Orden durchgeführten Observanzreformen spiegelt auch die im Jahre 1439 von einem unbekannten Autor im Umfeld des Baseler Konzils verfasste „Reformatio Sigismundi“ wieder. Darin heißt es im Hinblick auf das Petrusamt wörtlich: „Nun beginne ich mit unserem Vater, dem Papst. Hier muß man zunächst wissen, warum man ihn heilig nennt. Das liegt einerseits daran, daß ihm alle heiligen Dinge und heiligen Stücke anvertraut sind, die uns Gott der Herr zum Trost in ———— 1
Vgl. dazu die Darstellung bei F. Bosbach, Ruprecht, Pfalzgraf bei Rhein, in: E. Gatz (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448-1648, 1996, S. 605 - 607.
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der Welt gegeben hat: die sieben Sakramente, in die sich Gott unwiderruflich geistlich hineingegeben hat. Er hat sie dem Papst anheimgegeben, und der soll sie mit eben der Wirkung (in gleicher frucht), zu der sie uns Christus Jesus übergeben hat, jedermann mitteilen; darum ist seine Macht ganz und gar heilig. Zum anderen heißt er wegen der umfassenden heiligen Gaben heilig, die er von Christus empfangen hat, zu binden und zu lösen. Ein Papst soll auch heilig sein und in allem Tun, das ihm von Gott befohlen ist.“ 2
Unmittelbar danach prangert der Autor Missstände in den kirchlichen Orden an. Die von ihm beobachtete Laxheit in der klösterlichen Regeldisziplin führt er auf ein Übermaß an päpstlichen Dispensen zurück: „Fragt man einen Mönch: ‚Warum haltet ihr eure Regeln nicht ein?‘, was kann er darauf anderes antworten als: ‚ Davon hat man uns dispensiert.‘ Oh, das Dispensieren! Papst, Kardinal und Orden dispensieren alle in die Hölle. Wer darf das Ordensgelübde brechen oder aufheben? Es ist doch ein Sakrament und verbindet in besonderer Weise mit Gott ...“ 3
Nach dem selbst gestellten Anspruch des Baseler Konzilspräsidenten Giuliano Cesarini sollte das Konzil die geplante Ordensreform detailliert beraten und in eigener Verantwortung für die flächendeckende Durchsetzung der Reformimpulse sorgen. Bereits zwei Jahre nach dem Ende des Konzils musste der Kardinallegat Nikolaus von Kues, der die Beschlüsse in Deutschland umsetzen sollte, bei einer Visitationsreise die Unmöglichkeit der Durchsetzung dieses Plans erkennen. Daher delegierte er die Ausführung an die Bischöfe, welche die apostolische Autorität in ihren Diözesen ausübten. Die Durchsetzung einer zentralisierten Observanzreform aller Orden stieß in den Einzelfällen auf höchst unterschiedliche Schwierigkeiten. Diese betrafen nicht allein die traditionellen Mönchsorden, allen voran die Benediktiner, sondern auch die Kanoniker und die regulierten Chorherrenstifte in der Tradition des Kirchenvaters Augustinus. Sowohl den Benediktinern als auch den Augustinerchorherren fehlte es an einer zentralen Organisationsstruktur, welche die Durchsetzung einer Observanzreform erleichtert hätte. Die im Gegensatz dazu zentralistisch ausgerichteten Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner verstanden es, sich unter Berufung auf ihre umfangreichen geistlichen Privilegien einer schnellen, einheitlichen Reform zu entziehen.4 Birgit Studt hat in ihrer Studie zur Kirchenreform in ———— 2
3 4
Zitiert nach A. M. Ritter, B. Lohse, V. Leppin (Hgg.), Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Mittelalter, 5. Aufl. 2001, S. 242. Zitiert nach A. M. Ritter, B. Lohse, V. Leppin ebda. Vgl. zu den hier geschilderten Hintergründen die Angaben bei B. Studt, Papst Martin V. (1417-1431) und die Kirchenreform in Deutschland, 2004, S. 73f.
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Deutschland unter Papst Martin V. die Auswege skizziert, die dazu dienten, angesichts des Mangels an zentralen Organisationsstrukturen Ersatzmechanismen zur Durchsetzung der Klosterreform zu finden. So wurde teilweise auf die weltliche Herzogsgewalt zurückgegriffen. In Bayern und Österreich erhielten die Herzöge päpstliche Visitationsprivilegien. In zahlreichen Bistümern wurden die Bischöfe mit der Durchführung klösterlicher Reformvorhaben betraut. In den geistlichen Kurfürstentümern fielen diese Verantwortlichkeiten in der Weise zusammen, dass die Erzbischöfe als Inhaber der geistlichen und weltlichen Macht Klosterreformen propagierten und durchsetzten. Eindeutig nachgewiesen ist die Tatsache, dass sich die Durchsetzung einer strengen Observanz in den Benediktinerklöstern in engem Zusammenhang mit der Reform der Augustinerchorherrenstifte vollzog.5 Interessant sind die inhaltlichen Begründungsmuster, die gerade bei der Reform der Benediktinerkonvente durch die Bursfelder Kongregation Anwendung fanden. Bereits seit dem Frühmittelalter hatte sich im Orden des Mönchsvaters Benedikt ein vitales Interesse an der eigenen Geschichte entwickelt. Deren Erkenntnisse, Entwicklungen und Normen wurden als wegweisender Maßstab für alles zukünftige Handeln verstanden. Als historische Zeugnisse künden sowohl die Ostertafeln, welche die angelsächsischen Missionare im Frühmittelalter ins Frankenreich brachten, als auch die umfassenden, um historische Begleitereignisse erweiterten Klosternekrologe und die durch Mönche verfassten Annalen von dem Bestreben, das regelkonforme Leben der Mönche durch die Geschichte hindurch zu bewahren und in der jeweiligen historischen Gegenwart unter heilsgeschichtlichen Aspekten zu verorten.6 Im Kern dürfte dieser Gedanke auf den Mönchsvater Benedikt selbst zurückgehen. Im abschließenden 73. Kapitel seiner Regel heißt es: „Diese Regel haben wir geschrieben, damit wir durch ihre Beobachtung in unseren Klöstern eine dem Mönchtum einigermaßen entsprechende Lebensweise oder doch einen Anfang im klösterlichen Leben bekunden. Für den aber, der zur Vollkommenheit des klösterlichen Lebens eilt, gibt es die Lehren der heiligen Väter, deren Beobachtung den Menschen zur Höhe der Vollkommenheit führen kann. Ist denn nicht jede Seite oder jedes von Gott beglaubigte Wort des Alten und Neuen Testamentes eine verlässliche Wegweisung für das menschliche Leben? Oder welches Buch der heiligen katholischen Väter redet nicht laut von dem geraden Weg, auf dem wir zu unserem Schöpfer gelangen? Aber auch die Unterredungen der Väter, ihre Einrichtungen und Lebensbe———— 5 6
Vgl. dazu nochmals B. Studt (Anm. 4), S. 96f. So die Angaben bei U. Faust, Benediktiner, in: P. Dinzelbacher, J. Z. Hogg (Hgg.), Kulturgeschichte der christlichen Orden in Einzeldarstellungen, 1997, S. 93f.
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schreibungen sowie die Regel unseres heiligen Vaters Basilius, sind sie nicht für Mönche, die recht leben und gehorsam sind, Anleitungen zur Tugend? Wir aber sind träge, leben schlecht, sind nachlässig und müssen deshalb vor Scham erröten. Wenn du also zum himmlischen Vaterland eilst, wer immer du bist, nimm diese einfache Regel als Anfang und erfülle sie mit der Hilfe Christi. Dann wirst du schließlich unter dem Schutz Gottes zu den oben erwähnten Höhen der Lehre und der Tugend gelangen.“ 7
Der Mönchsvater Benedikt stellt im Schlusskapitel seines Regelwerks heraus, dass die biblische Weisung über das gelingende Leben niemals vollständig durch eine stets ausschnittartige Klosterregel erfasst werden kann. Insoweit stellen die Heilige Schrift und die aus ihr abgeleiteten Handlungsanweisungen der Kirchenväter einen bleibenden, durch die Regel selbst niemals obsoleten Auftrag dar. Ebenso deutlich betont Benedikt, dass seine Regel, sofern sie in Konkurrenz zu älteren, schon bestehenden Parallelwerken, wie beispielsweise den brasilianischen Regeln des Ostens tritt, diese nicht in deren eigener Gültigkeit in Frage stellt. Vielmehr behalten diese als geistliches Korrektiv einer historisch gewachsenen Lebensform einen dauerhaften Wert. Neben dem biblischen Zeugnis, den Weisungen der Kirchenväter sowie der Konzeption eines geistlichen Lebensentwurfes durch ältere Vorgänger bleibt aus der Sicht Benedikts ein viertes Moment der entscheidende Faktor der geistlichen Vervollkommnung des Mönches. Alle Regelanweisungen bleiben ohne das individuelle Tugendstreben jedes einzelnen Mönches leer und inhaltslos. Der Mönchsvater betont ausdrücklich, dass seine Regel nur Wegweisung und Hilfestellung zum gelingenden Klosterleben sein will, dabei aber konkrete Menschen in ihrer je eigenen geschichtlichen Gegenwart ansprechen will.8 Schon die historischen Interessen der älteren Benediktiner wurzeln somit in dem Bemühen, den eigenen Regelentwurf geschichtlich zu verorten und in je unterschiedlicher Zeit auf angemessene Weise zugänglich zu machen. Diese geschichtstheologische Perspektive der benediktinischen Ordensregel ließ deren geistliches Konzept zu einem sehr wesentlichen Schlüssel der großen Kirchen-, Ordens- und Kanonikerreform des 15. Jahrhunderts werden. Die Kirchenreform des 15. Jahrhunderts verdankte sich neben den großen Missständen aus der Zeit des Schismas als Negativursache vor allem bei ———— 7
8
Zitiert nach Salzburger Äbtekonferenz (Hg.), Die Benediktusregel, Lateinisch /Deutsch, 4. Aufl. 2005, S. 294 - 297. Vgl. zu diesen Angaben dem Tenor nach G. Holzherr, Die Benediktsregel, Eine Anleitung zu christlichem Leben, 7. Aufl. 2007, S. 420.
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positiver Betrachtung dem Vordringen des Humanismus, dessen innerkirchlicher Rezeption sowie seiner großen Prägekraft für die Kanonistik des 15. Jahrhunderts. Nach Auffassung Günther Böhmes war der Humanismus zuerst eine Bildungsbewegung, die dem Studium der sog. „humaniora“ gewidmet war, d.h. jener Wissenschaften, welche die Betrachtung des Menschen und seiner vielfältigen Begabungen in den Mittelpunkt stellten. Auf einer zweiten, nämlich politischen und gesellschaftlichen Ebene bedeutete dies eine veränderte Wahrnehmung der sozialen Gegebenheiten, der politischen Autoritäten und des Rechtswesens, da alle sozialen Bindungen nunmehr unter dem Aspekt der humaniora zu betrachten waren. Auf einer dritten, übergeordneten Ebene bildete sich durch diese Entwicklung der neue Typus des Gelehrten heraus. Dessen Grundüberzeugung lag nach Auffassung Böhmes darin, dass die Würde und Größe des Menschen nicht auf seiner Herkunft und seinem Stand, sondern auf seiner Bildung beruhte.9 Diese gerade auch in Italien geprägte humanistische Strömung sollte über einzelne Bischöfe eine prägende Kraft auf das kirchliche Leben ausüben. Der Reformappell des Lübecker Bischofs Johann Schele im Umfeld des Baseler Konzils sowie die unermüdliche Reformtätigkeit seines zeitgleich amtierenden Kölner Amtsbruders Dietrich II. von Moers bilden einzelne Beispiele solcher kirchenpolitischer Maßnahmen im Dienst der humaniora.10 Bei dieser Betrachtung darf keineswegs davon ausgegangen werden, dass die zeitgleichen Reformvorschläge untereinander völlig harmonisch und aus kirchlicher Sicht absolut traditionskonform gewesen seien. Was die Vorschläge verband, war das bisweilen harte Ringen um eine gesellschaftlich und politisch wahrnehmbare Gestalt der Kirche, die geeignet erschien, den Rang und Stellenwert der christlichen Religion angesichts eines immens veränderten Menschen- und Gesellschaftsbildes zu bewahren und die christliche Religion andererseits nicht aus den zeitgenössischen Diskursen auszublenden. In diesem Sinne vermochten die großen Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts zumindest ihrer Idee nach wertvolle Dienste zu leisten, da sie Bischöfe, Mönche und die im Sinne der „humaniora“ geschulten Denker zusammenführten. Mit Blick auf die Orden und die Kanoniker war bereits davon die Rede, dass sich ein genereller und allgemeiner Reformanspruch des Baseler Konzils gegenüber allen Orden selbst für einen Legaten wie Nikolaus von Kues ———— 9
10
Vgl. zu dieser Definition des Humanismus die Darstellung bei G. Böhme, Bildungsgeschichte des europäischen Humanismus, 1986, S. 23. Vgl. dazu die Angaben bei W. Prange, Johannes Schele, in: E. Gatz (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198-1448, 2001, S. 359 - 361.
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als kaum durchsetzbar und wenig praktikabel erwies. In diesem Kontext ist die Beobachtung Petra Weigels von Interesse, nach der sich „das Wechselverhältnis zwischen konziliarem Reformanspruch und Ordensreform auf der Ebene der einzelnen Orden konstruktiver und integrativer gestaltete“ als die abstrakten Rahmenvorgaben der einzelnen Konzilien. Demnach ist positiv darauf hinzuweisen, dass die Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts als „Foren des Austausches“ Zusammenschlüsse der Bettelorden überhaupt erst ermöglicht haben und gerade die Mendikanten als eine treibende Kraft der großen Kirchenreform wahrnehmbar machten.11 Überhaupt ist darauf hinzuweisen, dass Ordensklöster und Kollegiatstifte dem Konziliarismus eine Legitimationsbasis verschafften, da sie durch ihre kanonistisch garantierte korporative Form die Legitimität eines Konzils als eines gesamtkirchlichen Repräsentationsorgans transparent machten. Die Bettelorden hatten durch ihr Aufkommen im 13. Jahrhundert ein Bewusstsein für korporationsrechtliche Strukturen in der Kirche geschaffen und mit ihrem Eindringen in die universitäre Wissenschaft auch die Kanonistik für solche Überlegungen sensibilisiert. Vor allem Franciscus Zabarella, der um 1400 dem Kardinalskollegium eine repräsentative Funktion für die Gesamtkirche zuschrieb, konnte die Kurie frühzeitig für die konziliare Bewegung begeistern. Auf seinen Thesen fußt auch die Auffassung des Nikolaus von Kues, nach welcher der Pluralismus der Auffassungen unter den Kardinälen deren Kollegium als gesamtkirchliches Repräsentationsorgan überhaupt erst wertvoll machte.12 Die Bedeutung des Nikolaus von Kues, die trotz seines Seitenwechsels von den Konziliaristen zu den Anhängern des Papstes unbestritten ist, liegt darin, dass er als Kanonist dachte und argumentierte und so der konziliaren Kirchenreform überhaupt erst argumentativ den Weg bereitete. Als Argumente für die Legitimität konziliarer Entscheidungen führte Cusanus das Paradigma der ökumenischen Konzilien der alten Kirche sowie einen durch Pseudo-Isidor tradierten Brief Papst Marcellus’ I. an. Mit diesen Beispielen waren die treibenden Kräfte im Hintergrund der großen Kirchenreform klar benannt. Zum einen war das Bewusstsein für die historische Verortung der Kirche, ihrer Institutionen und ihrer Lehrauffassungen gewachsen. Zum anderen gewann die Kanonistik in diesem Zusammenhang eine kaum zu überschätzende Bedeutung. Als geschichtliche Größe stellte die Kirche aus ———— 11
12
So P. Weigel, Reform als Paradigma – Konzilien und Bettelorden, in: H. Müller, J. Helmrath (Hgg.), Die Konzilien von Pisa (1409), Konstanz (1414 -1418) und Basel (1431-1449), 2007, S. 292f. So R. Haubst, Der Leitgedanke der repraesentatio in der cusanischen Ekklesiologie, in: ders. (Hg.), Nikolaus von Kues als Promotor der Ökumene, 1971, S. 156.
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der Sicht der Konziliaristen die „res publica christiana“ dar, die einer rechtlichen Organisation und etablierter Repräsentanzinstitutionen bedurfte. Dieses von den Bettelorden geprägte und entwickelte Bewusstsein schuf die inhaltliche Verbindung zwischen der großen Kirchenreform und den teilweise älteren Observanzreformen in den Orden. Die Ordensreform war einerseits eine Frucht des Konziliarismus gewesen. Andererseits aber führte sie im Kleinen vor Augen, wie die Reform der Kirche als eines „christlichen Gemeinwesens“ insgesamt vollzogen und bewältigt werden konnte.13 Insbesondere hatten die Verselbständigung der reformierten Observantenkongregationen und deren Herauslösung aus den territorialen Ordensprovinzen gezeigt, dass die Unabhängigkeit der reformierten Konvente gegenüber den Territorialstrukturen die Regeldisziplin zu stärken vermochte. Nicht weniger wichtig war die Unabhängigkeit geistlicher Einrichtungen von weltlichen und politischen Tendenzen. Insoweit bot die Reform der Ordenskonvente ein höchst lehrreiches Beispiel für parallele Reformmaßnahmen in den regulierten und nichtregulierten Kollegiatstiften ebenso wie in den Domstiften. Ein anschauliches Beispiel für diese Parallelität der Reformvorgänge in Klöstern und Stiften bilden die Maßnahmen Herzog Albrechts V. von Österreich im Jahre 1415. In enger Anbindung an die benediktinische Reform in Melk sorgte er sich auch um die Stärkung der Observanz im Kanonikerstift Dürnstein. Zur Intensivierung der dortigen Reform berief er erfahrene Chorherren aus dem schlesischen Stift Glatz. Ein höchst virulentes Problem für die Kloster- und Stiftsreform war aus ihrer anfänglichen Förderung durch die weltlichen Territorialherren erwachsen. Ihre Tätigkeit zugunsten der Reform, die dem Grunde nach willkommen war, hatte den Territorialherren auf Umwegen häufig sehr beachtliche Mitspracherechte und Einflussmöglichkeiten in der kirchlichen Binnensphäre eingebracht. Vor allem bestand die Gefahr weltlicher Zugriffe auf kirchliche Güter sowie der Einmischung in kirchliche Gerichtsverfahren.14 Als Ruprecht von der Pfalz im Jahre 1463 die Nachfolge des verstorbenen Erzbischofs Dietrich II. von Moers antrat, sah er sich alsbald verschiedenen der soeben erwähnten Probleme ausgesetzt. Obwohl der neue Erzbischof ein durch die aufwendige Hofhaltung seines Vorgängers völlig überschuldetes Erzbistum übernahm, bemühte er sich mit Unterstützung des Abtes von Groß St. Martin um eine umfassende Klosterreform im Erzbis———— 13
14
Vgl. zu diesen Zusammenhängen die Angaben bei J. W. Stieber, Der Kirchenbegriff des Cusanus, in: K. Kremer, K. Reinhardt (Hgg.), Nikolaus von Kues, Kirche und Respublica christiana, 1994, S. 133 und S. 137. So B. Studt (Anm. 4), S. 96f.
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tum Köln. Sie mündete in den im Jahre 1469 erfolgten Anschluss aller Kölner Benediktinerklöster an die Bursfelder Reformbewegung. So erfolgreich die Klosterreform aus der Sicht Ruprechts verlief, so wenig gelang es ihm, das Kölner Erzstift selbst zu reformieren. Schon bald nach seinem Amtsantritt geriet Ruprecht in einen schweren Konflikt mit dem Domkapitel und den Ständen. Beide Parteien wandten sich energisch gegen die vom Erzbischof beabsichtigte Erhebung einer Landsteuer zur Senkung der kirchlichen Schuldenlast. Ruprecht zwang seine Gläubiger konsequent zum Abschluss neuer, für ihn günstigerer Schuldverträge. Zudem bediente er sich eines im Jahre 1467 geschlossenen militärischen Bündnisses mit Geldern gegen Kleve, um solche Gebiete des Kurstaats, die bereits verpfändet waren, erneut zu besetzen und anschließend ein zweites Mal zu verpfänden. Mit diesem Vorgehen brachte Ruprecht die zumeist dem niederrheinischen Adel entstammenden Inhaber der entsprechenden Schuldforderungen gegen sich auf. Als der Erzbischof nach dem Scheitern dieser Maßnahmen erneut die schon im ersten Anlauf gescheiterte Landsteuer gegen das Domkapitel und die Stände durchzusetzen versuchte, kam es zum offenen Bruch. Den im Jahre 1471 verfassten Klageschriften, die von den Stiftskanonikern gegen den Erzbischof bei den Ständen und Amtsleuten des Erzstiftes eingereicht wurden, folgte im Jahre 1472 die Entsendung einer Beschwerdedelegation zum Papst. Nach dem Scheitern aller Vermittlungsversuche wandten sich das Domkapitel und weite Teile der Stände von Ruprecht ab und wählten den Domherrn Hermann von Hessen zum Stiftsverweser.15 Nach dem Zeugnis der im Codex 132 der Kölner Dombibliothek enthaltenen Intitulatio ließ der Kölner Stiftskanoniker Fredericus de Scheytterhusen al. de Nuss im Umfeld dieser Ereignisse die Synodal- und Provinzialstatuten bedeutender Kölner Erzbischöfe aus der Zeitspanne zwischen den Statuten des Konrad von Hochstaden vom 12. März 1260 und denjenigen des Ruprecht von der Pfalz aus dem Jahre 1470 sammeln.16 Bereits bei einer kursorischen Sichtung der in der Handschrift erwähnten Erzbischöfe fällt auf, dass diese größtenteils über bedeutsame Kontakte zu verschiedenen Orden verfügten und deren theologische Anliegen in die Rechtsform von Statuten kleideten. Die im Codex 132 zuletzt enthaltenen Erlasse Ruprechts fallen demgegenüber deutlich aus dem Rahmen. Dies möge die Aufstellung über die folgenden stichwortartigen Exzerpte exemplarisch belegen:
———— 15 16
So die Darstellung bei F. Bosbach (Anm. 1), S. 605 - 607. Vgl. dazu die Angaben zu Cod. 132, in: Codices Electronici Ecclesiae Coloniensis (CEEC).
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1. 2. 3.
4. 5. 6.
7. 8. 9. 10.
11. 12. 13.
24. 25.
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Innovamus statuta bonae memoriae Theoderici archiepiscopi Coloniensis predecessoris nostri Causae introductae seu introducendae super rebus non excedentibus valorem octo marcarum Coloniensium censeantur minime Statuimus et ordinamus quod in causis prophanis summariis servabuntur termini et modus procedendi sicut in causis beneficialibus decimarum matrimonialibus et usurarum ... Item de observatione terminorum in causis plenis mere prophanis Necessarius est post citationem ad causam ... quid citetur reus ad libellandum ad secundam diem Similiter in secunda instancia nisi quod articuli dati in prima instancia reputantur ... et quod omnes termini servati in prima instancia ad secundam servendus in secunda et tertia instancia ad primam diem ... servandi sunt termini ad producendum de diligentia prosecutionis appellationis ... Ad effectum quem declarandum penas contentas in litteris executoralibus vel inhibicionis vel aliis quibuscumque serventur ... Item in causa gravaminis ... si actor vult servare terminos ... citetur adversarius ad impugnandum et iustificandum ad primam diem Item in causis beneficialibus matrimonialibus decimarum ... servetur terminus ad libellandum et iurandum de calumpnia ad primam diem et in illo termino detur libellus ... in secunda instancia omnes termini serventur In minimis tamen causis infra duodecim florenos vel super parvis iniuriis verbalibus nullus processus fiat Insuper in causis confessati sive recogniti servetur stilus huiuscumque servatus per viam monitorii ... Statuimus et ordinamus quod in causis ficti inquisitionum super criminibus per subditos commissis hoc ordine procedatur Item statuimus et ordinamus quod advocati et procuratores et notarii premissa inquantum eos concernunt non adimplentes seu clientulos suos mutilibus expensis ex eorum negligentia gravantes praeter dampna expensarum et interesse ad quem parti gravate obligantur ...
Der kurze Überblick über die Statuten Ruprechts lässt erkennen, dass diese in keiner Weise genuin geistlichen Anliegen der Kirchenreform gewidmet sind. Sie beinhalten vielmehr ausschließlich Bestimmungen, die der Durchführung von Prozessen und der Regelung ihrer formalen Abläufe und Fristen gewidmet sind. Angesichts der zuvor geschilderten Rahmenbedingungen der Kirchenreform und der unter Ruprecht deutlich angewachsenen Zahl von Zwangsmaßnahmen, Abgabenerhöhungen und Gerichtsverfahren
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zur Aufbesserung der wirtschaftlichen Situation des Erzstifts wird deutlich, dass die im Codex 132 tradierten Prozessstatuten einerseits das Bemühen des Erzbischofs um geregelte Verfahrensabläufe widerspiegeln, andererseits aber auch ein reales Bild der Zerrüttung des Kölner Erzstifts unter Ruprecht zeichnen. Insoweit bleibt die Frage zu stellen, ob die Urheber der Sammlung das Handeln der älteren Kölner Erzbischöfe vom Verhalten Ruprechts abzusetzen versuchten. Ebenso ist von Interesse, inwieweit die kirchlichen Statuten zur Reform des Erzstifts und des Kanonikerlebens Ziele der Ordensreform implizit beinhalten. Aus der Sicht des humanistischen Geschichtsdenkens und seiner Förderung im Umfeld der Bursfelder Reform ist schließlich ebenso zu prüfen, ob der Sammlung der Kirchen- und Synodalstatuten im Codex 132 der Kölner Dombibliothek ein idealisierendes Konzept zur Schaffung einer humanistischen historia und zur Propagierung einer von Ordensidealen getragenen Reform der Kirche zugrundeliegt. Für diese Annahme spricht bereits rein äußerlich, dass nahezu alle im Codex 132 zu Wort kommenden Erzbischöfe enge Kontakte zu einzelnen Orden unterhielten oder sogar Reformmaßnahmen in deren Interesse in die Wege leiteten.
II. Die Kapitel- und Synodalstatuten der Kölner Erzbischöfe im Codex 132: Zeugnisse des Einflusses ordenstheologischer Ziele auf die Reform der Kirche und des Weltklerus 1. Erzbischof Konrad von Hochstaden (1228-1261): Die Reform des Stiftsklerus und der Kölner Benediktinerklöster durch das Kölner Provinzialkonzil am 13.5.1261 Der am 30. April 1238 zum Erzbischof von Köln erhobene Propst Konrad von Hochstaden aus dem Stift St. Maria ad gradus entstammte einer hoch angesehenen Dynastengeschlecht aus dem Gebiet des Kölner Sprengels. Reichspolitisch versuchte Konrad ein gegen die Staufer gerichtetes Gegenkönigtum zu etablieren. Im Kölner Bereich wollte der neue Erzbischof als Mann des Ausgleichs zwischen den kirchlichen und den städtischpolitischen Anliegen auftreten. Dem von ihm beherrschten Erzstift gab Konrad durch die Einrichtung von Ämtern eine feste verfassungsrechtliche Struktur. Neben dem Erlass einer höfischen Ämterordnung versuchte Konrad von Hochstaden, den Territorien und Städten seines Herrschaftsgebiets eine Eigenständigkeit zu gewähren und seine eigene Macht als geistliche
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Oberherrschaft über verschiedene untergeordnete Vasallen wahrzunehmen. Die rechtlich-politische Reform der Struktur des Erzstifts wurde durch eine Erneuerung geistlichen Lebens in den Benediktinerkonventen und Stiftsgemeinschaften begleitet.17 Konrad von Hochstaden nahm dabei ein Anliegen Papst Innozenz’ III. auf, das dieser im Rahmen des vierten Laterankonzils im Jahre 1215 energisch zu fördern versucht hatte. Vor allem sollten unter Wahrung der Rechte der Diözesanbischöfe im Abstand von drei Jahren Generalkapitel der Äbte zur Förderung der Regelobservanz einberufen werden. Während die englischen Benediktiner die Weisungen Innozenz’ III. umgehend aufgriffen, lief der Prozess in anderen europäischen Ländern zögerlich an. So bedurfte es einer ausdrücklichen Anweisung Papst Honorius’ III., damit im Tiberiuskloster der französischen Stadt Agde am 7. Dezember 1226 ein Äbtekapitel zur Planung der Klosterreform zusammentreten konnte. Gregor IX. bestätigte dessen Beschlüsse im Juli 1228. Sie enthielten Forderungen über das Verhalten der Amtsträger, die Gebetsverpflichtungen, die Aufnahme in die Gemeinschaft, das Verbot des Privateigentums, den Verzicht auf den Fleischverzehr, das Verbot von Pracht- und Modekleidern sowie die Entlassung schuldig gewordener Amtsträger aus ihren Positionen.18 Diese von päpstlicher Seite herbeigeführten Reformen und Reformvorhaben waren auch Gegenstand eines großen Kölner Provinzialkonzils, das am 13.5.1261 kurz vor dem Tod Konrads von Hochstaden zusammentrat. Beratungsgegenstand waren vermutlich die ein Jahr zuvor am 12. März 1260 durch Konrad in den Synodalstatuten festgehaltenen Reformvorschläge.19 Bereits die im Codex 132 enthaltene Inhaltsübersicht lässt ein deutliches Interesse am konventualen Leben der Kanoniker erkennen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
primo de manifesta cohabitatione clericorum item de manifesta negociacione clericorum item de insufficiencia quae est illitteratura clericorum item de tonsura clericorum item de clericis symoniacis item de clericis irregularibus item de dormitoriis. de lectura tabulae capitularis. de lunacionibus et kalend. et de ieiunoriis defunctorum et divino officio pro eis faciendo. de inodo eundi in capitulum agendi et procedendi in eodem. de ordine ———— 17
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So die Darstellung bei W. Janssen, Konrad von Hochstaden, in: E. Gatz (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198 -1448, 2001, S. 272f. So die Angaben bei P. Maier, Ursprung und Ausbreitung der Kastler Reformbewegung, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 102 (1991), S. 79 - 83. So W. Janssen (Anm. 17), ebd.
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8. 9. 10. 11. 12. 13.
ministrancium ad altare, et de modo canonicorum comedendi et dormiendi omnia sub uno contextu item de campanariis et custodibus simul item de capellanis regalibus aequalibus et praepositorum et qui non debent esse huiusmodi capellani item de pistrinis ecclesiarum item de praepositis et eorum capellanis qualiter se invicem habere debeant item de electionibus capitulorum item de emunitatibus et muris eorum
Die Statuten des Konrad von Hochstaden schärfen elementare Normen des Lebens der Kanoniker ein. Ihr Inhalt spiegelt das historisch vielschichtige Wachstum der auf die Tradition des Kirchenvaters Augustinus zurückzuführenden Regelanweisungen wider. Nach der Übernahme des Bischofsamtes in Hippo im Jahr 391 ließ der Kirchenvater binnen zwei Jahren seinen „ordo monasterii“ erarbeiten. Der Klerus der Bischofskirche wurde somit nach klösterlichen Maßstäben organisiert. Im Zuge der Wandalenherrschaft in Nordafrika während des 5. und 6. Jahrhunderts wanderten zahlreiche Mönche nach Süditalien, Frankreich, Spanien und Portugal aus. Ihnen ist es zu verdanken, dass die augustinische „Klosterregel“ für den Klerus von Hippo in Europa bekannt wurde. Im Zuge der Klosterreform des Benedikt von Aniane, die Kaiser Ludwig der Fromme eifrig unterstützte, wurde im Jahre 816 das Aachener Konzil einberufen. Es diente dazu, für die Klöster im Reich die Regula Benedicti als Leitnorm klösterlichen Lebens festzuschreiben. Für die zahlreichen Kanonikerstifte wurde die „Institutio canonicorum“ als Einheitsnorm erarbeitet. Sie war nicht nur deutlich umfangreicher als der augustinische „Ordo monasterii“, sondern organisierte das konventuale Zusammenleben der Kanoniker nach dem Leitmaßstab der Benediktinerregel. Die Lebensformen der Benediktinermönche und der Kanoniker wurden nunmehr so weit wie möglich harmonisiert. Die große Nähe von Klöstern und Stiften in der Harmonisierung der Lebensform geht auf diese Zeit zurück. Mit der Verbreitung der Kanonikerstifte im 12. Jahrhundert und deren Reform kam von Seiten des Augustinerchorherrenstifts Springiersbach Kritik am Tagesablauf und an der Zeitorganisation nach der augustinischen Regula canonicorum auf. Nun wurde eine überarbeitete Fassung des augustinischen „Ordo monasterii“ vorgelegt, welche den Erfordernissen der Augustinerchorherren besser gerecht wurde. Somit bestanden nun zwei Fassungen des „Ordo monasterii“ und die stark benediktinisch geprägte „Institutio canonicorum“ des Aachener Konzils nebeneinander.20 ———— 20
Vgl. dazu H. U. von Balthasar, Die großen Ordensregeln, 7. Aufl. 1994, S. 137-143.
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Zunächst fallen in den Statuten des Konrad von Hochstaden Elemente des augustinischen „Ordo monasterii“ auf. Dies gilt etwa für die im ersten Statut „item de manifesta cohabitatione clericorum“ enthaltenen Bestimmungen gegen Konkubinen: „Cum enim manifestos cohabitatores seu concubinarios censeamus. non solum eos qui in suis domibus tenent concubinas. verum omnes generaliter eos eciam qui mulieres focarias extra domos suas manentes ... Melius itaque praecipimus quod tales inde in visitatione nostra notati cessent de cetero a talis peccati commerito“.
Weisungen gegen das Klerikerkonkubinat beinhaltet bereits das sechste Kapitel des augustinischen „Ordo monasterii“ in Gestalt einer präventiven Mahnung. Darin heißt es: „Gott also zu mißfallen fürchte der Ordensmann, damit er nicht einer Frau auf sündhafte Weise zu gefallen suche; er bedenke, daß Gott alles sieht, damit er nicht eine Frau in sündhafter Weise zu sehen verlange. Die Furcht Gottes ist ja auch im Hinblick auf diese Sache anempfohlen in der Schriftstelle: Lüsterne Augen sind vor dem Herrn ein Greuel (Spr. 27, 20, n. Sept.). Wenn ihr also in der Kirche beisammen seid und überall, wo Frauen sind, wachet gegenseitig über eure Reinheit; denn Gott, der in euch wohnt, will euch auf solche Weise durch euch selbst behüten.“ 21
Die Warnung vor einem unangemessenen Umgang mit Frauen, welcher die Keuschheit berührt, gehört somit zur ältesten Traditionsschicht der auf augustinische Vorgaben zurückgehenden Statuten des Konrad von Hochstaden. Gleiches gilt auch für die Warnung vor übertriebener Gewinnsucht, da diese die Armut und den Verzicht auf Individualeigentum in Frage stellt. Im zweiten Statut des Konrad von Hochstaden unter dem Titel „item de manifesta negociacione clericorum“ heißt es dazu: „Cum negociacio in clerico et usura in laico quasi esse unius generis censeant. Ita praecipimus quod cessent de cetero a tali peccati malitia et in penam commissi excessus intrent ... Quia vero isti turpis avaricie sectatores non deo sed mammone lucrificare elegerunt et malis inhaerendo lucris Christi fideliter primonio et bonis ecclesiasticis sunt usi illicite et indigne ...“
Dieselbe Forderung nach einem Armutsverständnis, das übertriebenen Gütergebrauch („inhaerendo lucris“) und existenzgefährdenden Mangel gegeneinander auszugleichen versucht, findet sich bereits im ersten Kapitel des augustinischen „Ordo monasterii“. Dort heißt es: ———— 21
Zitiert nach H. U. von Balthasar (Anm. 20), S. 165.
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„Die in der Welt Vermögen besaßen, sollen es nach ihrem Eintritt ins Kloster gerne sehen, daß es Gemeingut wird. Die aber in der Welt nichts besaßen, sollen nicht im Kloster das suchen, was sie nicht einmal draußen haben konnten; was sie aber wegen ihrer Schwächlichkeit brauchen, sollen sie erhalten, selbst wenn ihre Armut in der Welt so groß war, daß sie nicht einmal das Notwendige finden konnten. Nur sollen sie sich nicht deswegen glücklich schätzen, weil sie Nahrung und Kleidung gefunden haben, wie sie es draußen nicht hatten finden können.“ 22
Im Rahmen der Betrachtung des dem augustinischen „Ordo monasterii“ entnommenen Regelguts der Statuten des Konrad von Hochstaden fällt die Fokussierung auf die Verteidigung der evangelischen Räte als gemeinsamer Grundlage des Mönchs- und des Kanonikerlebens auf. Neben diesen Bestimmungen stehen in den Statuten des Konrad von Hochstaden Anweisungen, die erst in der „Institutio canonicorum“ des Aachener Konzils enthalten sind. Dabei handelt es sich im Schwerpunkt um Bestimmungen, welche äußere Erscheinungsmerkmale der Kanoniker oder aber den Bau und die Verteidigung der Klausur betreffen. So werden im vierten Statut die Bestimmungen über das Tragen der Tonsur eingeschärft: „Item de clericis non clericalem tonsuram habentibus ... praecipimus ut tonsuram cumque clericalis sit et suas coronas habent.“
In der „Institutio canonicorum“ des Aachener Konzils findet sich folgende Bestimmung gleichen Inhalts: „I. Esidori in libro officiorum de tonsura. Tonsurae ecclesiasticae usus a Nazareis, nisi fallor, exortus est. ... Quam renovationem in mente oportet fieri, sed in capite demonstrari, ubi ipsa mens noscitur habitare. Quod vero, detonso capite superius, inferius circuli corona relinquitur, sacerdotium regumque ecclesiae in eis existimo figurari. Thiara enim apud veteres constituebatur in capite sacerdotum.“ 23
Die Aachener Institutio begründet mit einem Zitat Isidors von Sevilla das Tragen der Tonsur damit, dass es für einen Kleriker nötig und angemessen sei, die niedere Krone abzulegen, um statt ihrer die Tiara als Zeichen der priesterlichen Vollmacht der Kirche zu gewinnen. Das Motiv der Krone findet sich sowohl in der Aachener Institutio als auch im Statut des Konrad von Hochstaden. Dessen Bestimmung lässt sich somit eindeutig auf die Aachener Fassung des Ordo der Kanoniker zurückführen. ———— 22 23
Zitiert nach H. U. von Balthasar (Anm. 20), S. 161. Zitiert nach MGH Legum Sectio III. Concilia, 1906, S. 318.
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Gleiches gilt für die Bestimmungen zur Ummauerung und Befestigung des Stiftsbezirks. Im letzten Statut unter dem Titel „item de emunitatibus et muris eorum“ heißt es: „Item quod omnis ecclesiae collegiate emunitates suas muro circumdatas et clausuras portarum bene munitas habeant. firmissime praecipimus et mandamus ... et unumquodque collegium ea inscripto ad suae exemplar et regimen vitae recipiat et recepta penes se in perpetua commendacione memoriae teneat diligenter. haec itaque ad praesens statuismus salvo nobis quod alia si quam ad hoc occurrerint opus habenda reformationis atque correctionis remedio.“
Eine ähnliche Bestimmung enthält auch die Aachener Institutio. Unter dem Titel „Quod diligenter munienda sint claustra canonicorum“ heißt es im 117. Kapitel: „CXVII. Quod diligenter munienda sint claustra canonicorum. Praepositorum officii est, ut subditorum mentes sanctarum scripturarum lectionibus assidue muniant ... Sint etiam interius dormitoria, refectoria, cellaria et caeterae habitationes usibus fratrum in una societate viventium necessariae.“ 24
Sowohl das Statut des Konrad von Hochstaden als auch die Weisung der Aachener Institutio versteht die Stiftsimmunität als Sinnbild einer zum Gedächtnis versammelten societas. Auch hier lässt sich somit die Aachener Institutio eindeutig als Quelle ausmachen. Unabhängig von denjenigen Regelelementen, die auf die verschiedenen Fassungen augustinisch geprägter Kanonikerregeln zurückgehen, lässt sich in den Statuten des Konrad von Hochstaden eine dritte Gruppe von Weisungen ausmachen. Sie betreffen in erster Linie das Verhältnis der Kanoniker zueinander, die Rolle und die erwünschten Eigenschaften des praepositus, die Gebetszeiten sowie die Funktionen der unterschiedlichen Räume des Klausurbereichs. Der Grundtenor dieser Bestimmungen zum Zusammenleben in der Stiftsklausur sowie seiner Werte ist deutlich von der Benediktsregel inspiriert. Zunächst heißt es im elften Statut des Konrad von Hochstaden unter dem Titel „item de praepositis et eorum capellanis qualiter se invicem habere debeant“ wie folgt: „Consequenter de ecclesiarum prepositis videamus qualiter ipsi erga capellani se habere debeant et qualiter capellani erga ipsos viceversa. Cum enim ipsis prepositis ea potissime incumbat sollertia quod circa ecclesie exteriora vel eius temporalia defensanda. sint iugiles et cooperantes capellanis ubicumque ———— 24
Zitiert nach MGH Legum Sectio III. Concilia, 1906, S. 398.
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iniuriam patiantur. qualiter ab illis iniuriis releventur. nostro prout eis opus fuerit auxilio accedente et non solum ad huius dei temporalia promovenda exterius teneant immo ad omnia alia tam intus quam extra quae sunt ad ecclesie utilitatem. et pacem spectantia. necnon ad ipsius ecclesie iura statuta honesta et bonas consuetudines observandas teneant ex proprio iuramento. ipsis precipimus curam hec omnia taliter se habere. quod inde irreprehensibiles censeant. Capellani eciam viceversa ita se erga ipsos habere prepositos studeant in omnibus honorando ipsos quibus sunt merito honorandi quod in ullo ipsorum prepositorum dignitati derogent sive iuri.“
Das Statut des Konrad von Hochstaden hebt die wechselseitige Wertschätzung, Dankbarkeit, Hilfsbereitschaft und Fürsorge zwischen dem Propst des Stiftes und den Kanonikern (capellani) hervor. Dabei greift er aber auf diejenigen Werte zurück, welche die Regula Benedicti zur Norm des Lebens in der Klostergemeinschaft erhebt. Besonderen Aufschluss hierüber geben das zweite und dritte Kapitel der Regula Benedicti. Im zweiten Kapitel der Regel heißt es über das Verhalten des Abtes gegenüber den Mönchen: „Wer also den Namen „Abt“ annimmt, muss seinen Jüngern in zweifacher Weise als Lehrer vorstehen: Er mache alles Gute und Heilige mehr durch sein Leben als durch sein Reden sichtbar. Einsichtigen Jüngern wird er die Gebote des Herrn mit Worten darlegen, hartherzigen aber und einfältigeren wird er die Weisungen Gottes durch sein Beispiel veranschaulichen. In seinem Handeln zeige er, was er seine Jünger lehrt, dass man nicht tun darf, was mit dem Gebot Gottes unvereinbar ist. Sonst würde er anderen predigen und dabei selbst verworfen werden.“ 25
So wie die Statuten des Konrad von Hochstaden hervorheben, dass der „prepositus“ gegenüber den „capellani“ „iugilis et cooperans“ sein soll und sie vor den „iniuria“ bewahren möge, so hebt die Benediktsregel hervor, dass der Abt allein durch sein Leben und sein Beispiel die geistlichen Werte den ihm anvertrauten Mönchen vorleben möge. Die Weisungen im Codex 132 und im zweiten Kapitel der Benediktsregel weisen die gleiche inhaltliche Stoßrichtung auf. Entsprechendes lässt sich umgekehrt auch für die Anweisungen zum Verhalten der Kanoniker gegenüber ihrem „praepositus“ in den Weisungen des Kölner Erzbischofs ausmachen. Sie ähneln in ihrer Grundtendenz denjenigen Anweisungen, welche im dritten Kapitel der Regula Benedicti den Mönchen für ihr Verhalten gegenüber dem Abt gegeben werden. Dort heißt es: ———— 25
Zitiert nach Salzburger Äbtekonferenz (Hg.), Die Benediktusregel, Latein / Deutsch, 4. Aufl. 2005, S. 85.
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„Sooft etwas Wichtiges im Kloster zu behandeln ist, soll der Abt die ganze Gemeinschaft zusammenrufen und selbst darlegen, worum es geht. Er soll den Rat der Brüder anhören und dann mit sich selbst zu Rate gehen. Was er für zuträglicher hält, das tue er. Dass aber alle zur Beratung zu rufen seien, haben wir deshalb gesagt, weil der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist. Die Brüder sollen jedoch in aller Demut und Unterordnung ihren Rat geben. Sie sollen nicht anmaßend und hartnäckig ihre eigenen Ansichten verteidigen.“ 26
Die Forderung, dass die Meinungsbildung innerhalb der geistlichen Gemeinschaft im vertretbaren Rahmen ein zweiseitiges Geschehen zwischen dem praepositus oder Abt einerseits sein soll, eint die Kanonikerreformstatuten des Konrad von Hochstaden mit der Benediktsregel. Offenbar gab diese als ordenstheologischen Impuls für die Kanonikerreform das innere Funktionsmodell der geistlichen Gemeinschaft vor. Im Ergebnis gehen die Statuten des Konrad von Hochstaden, soweit sie sich auf die Lebensform der Kanoniker beziehen, auf die bereits im „Ordo monasterii“ des Augustinus genannten evangelischen Räte zurück. Die Bestimmungen über äußerliche Erscheinungsmerkmale der Kanoniker, etwa die Tonsur oder die bauliche Gestalt der Kloster- oder Stiftsanlage, beruhen auf der präzisierenden Ergänzung und weiteren Auslegung der augustinischen Tradition durch das Aachener Konzil. Dabei können selbstverständlich Anlehnungen an die Regula Benedicti vorliegen, da diese im frühen 9. Jahrhundert als umfassende Norm geistlichen Gemeinschaftslebens verstanden wurde.27 Die wesentliche Erkenntnis bleibt, dass im Rückgriff auf diese Tradition in den Statuten des Konrad von Hochstaden der äußere Rahmen der Kanonikertradition mit inhaltlichen Impulsen benediktinischer Regelobservanz gefüllt wird.
2. Erzbischof Engelbert II. von Falkenburg (1261-1274): Die Intervention des Albertus Magnus gegenüber der Kriegspolitik des Erzbischofs und die Rezeption des Strafkodex der Kanonikerregel des Chrodegang von Metz durch die Dominikaner Nach dem Tod des Konrad von Hochstaden wählte das Kölner Domkapitel am 2.10.1261 seinen bisherigen Propst Engelbert von Falkenburg zum Nachfolger. Die bis 1274 reichende Amtszeit des neuen Erzbischofs war geprägt von dessen mehrmaligen Versuchen, die Stadtherrschaft gegen die ———— 26 27
Zitiert nach Salzburger Äbtekonferenz (Hg.), Die Benediktusregel, Latein/Deutsch, 4. Aufl. 2005, S. 95. Vgl. dazu G. Holzherr (Anm. 8), S. 35 - 37.
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Bürgerschaft zu erringen. Ein erster Versuch, dieses Ziel durch die Freilassung der durch Konrad von Hochstaden inhaftierten Widersacher und die damit verbundene erneute Anzettelung alter Rivalitäten zu erreichen, schlug fehl. In einem 1261 abgeschlossenen Friedensvertrag musste Engelbert II. von Falkenburg den alten, seit 1258 bestehenden Rechtszustand uneingeschränkt anerkennen. Schon Ende des Jahres 1262 unternahm er jedoch einen erneuten Vorstoß. Im Rahmen einer Reise nach Rom ließ er sich durch Papst Urban IV. von seinen früheren Verpflichtungen zur Anerkennung des Rechtsstatus der Stadt Köln dispensieren. Erneut versuchte der Erzbischof, die Macht in der Stadt an sich zu bringen. Bereits während des Jahres 1266 bedurfte es mehrerer Schiedssprüche des Dominikanertheologen und vormaligen Regensburger Bischofs Albertus Magnus, um die bisherige Ordnung in der Stadt wiederherzustellen. Auf diesem Weg erfuhr die Machtstellung des Erzbischofs eine bedeutsame Schwächung. Dennoch gab Engelbert II. auch in dieser Lage seine Ziele nicht auf. Er schmiedete nunmehr mit westfälischen Vasallen und Suffraganen ein Bündnis, um gegen die Grafen von Jülich und Geldern, die mit der Stadt auf einer Seite kämpften, zu Felde zu ziehen. Dennoch schlug dieser Plan fehl. Am 18.10.1267 erlitt der Erzbischof bei Zülpich eine folgenschwere Niederlage. Er wurde durch die Grafen von Jülich mehrere Jahre lang auf deren Burg inhaftiert. Erneut musste Albertus Magnus intervenieren, um Engelbert II. von der Vergeblichkeit seines Plans zu überzeugen und ihn im Interesse des Stiftes zum Abschluss des am 17.4.1271 unterzeichneten Friedensvertrages mit den Grafen von Jülich und der Stadt Köln zu bewegen.28 Die Folge dieser Ereignisse mit der mehrfachen Intervention des Dominikaners Albertus Magnus ist für die im Codex 132 tradierten angeblichen Statuten des Engelbert von Falkenburg von allergrößtem Interesse. Die Statuten beinhalten einen differenzierten Katalog von Straftatbeständen des kirchlichen Rechts und ordnen diesen spezifische Strafen zu. Interessant ist ein übersichtsartiger Blick auf die einzelnen näher erwähnten Delikte: 1. 2. 3. 4.
primo contra eos qui inanes in clericos vel personas ecclesiasticas iniciunt tenere violentas item contra incendarios et effractores locorum ecclesiasticorum et monasteriorum item contra violatores emunitatum et dotum ecclesiarum item contra raptores et invasores bonorum ecclesiasticorum et ecclesiasticarum personarum
———— 28
So die Darstellung bei W. Janssen, Engelbert von Falkenburg, in: E. Gatz (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198-1448, 2001, S. 274.
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5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30.
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item contra detentores seu subtractores decimarum item contra nobiles vi expedicionibus dampna personis ecclesiasticis in tuitibus inferentes item contra illos qui se de bonis clericorum sive in vita sive in morte intermictant item ut bona clericorum transeant sive theol libera et absoluta item ne clerici vel religiosi trahant ad iudicium saeculare item ut similiter contra occupantes bona ecclesiarum procedatur item ut iudices ecclesiastici laicis contra clericos causam habentibus faciant iusticiam expeditam item ut prelati iurisdictione sua libre utantur in terrenis eorum iurisdictioni subiectis item ut iudices ecclesiastici fraudem in iudiciis suis non invitant item ne iudices ecclesiastici se de causis ad forum saeculare spectantibus intimidant item contra impedientes ecclesiasticorum iudicium iurisdictionem et executionem animarum item contra eos qui clericos nostrum violenta manuum iniectione capiunt et detinent item processus causae contra eosdem item ne filii vel filiae clericos captivantium et per annum exicatorum ad ordines vel ad beneficia admittantur item mitigaciones pro fratribus et sororibus ac aliis personis ferre si se voluerint infra annum caute expurgare item si clericum in alia diocesi capi vel in ista captum ad aliam diocesim deduci itigat item contra accusatores et mutilatores clericorum item contra eos qui minas intulerint personis ecclesiasticis de corpore vel de rebus item contra eos qui sacrilegium in clericos permittere non verentur item contra clericum qui occasione alicuius conflictionis clericum aliquem captivaverit item contra clericos qui mutilant vel occidunt clericos item de litigantibus super una praebenda in aliquam ecclesiam diocesis coloniensis item ne aliquis clericus sacrilegis seu excommunicatis aut usurariis assistat vel eos defendat item ne clerici capellani nobilium excommunicatorum per mensem cum ipsis dominis suis permaneant item contra eos qui excommunicationis damnabiliter impendunt item processus de eodem
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31. item ut prelati et qualibus ecclesiasticae personae ad observationem statutorum istorum fideliter teneantur 32. item contra clericos in executionibus suorum remissas pecunias ipsos in debito non servantes 33. item ut percepto fore clericus statim cesset a divinis ne quis se possit per ecclesiae ignorantiam excusare 34. item ut haec statua ne aliquo possint tam in capitulis quam aliis locis sepius publicentur 35. item ut nomina sacrilegorum posita in registro saepius recitentur
Die Strafstatuten des Erzbischofs Engelbert von Falkenburg umfassen Tatbestände höchst unterschiedlicher Art. Eine erste Gruppe von Strafanordnungen betrifft ausnahmslos alle Gläubigen, die in kirchliches Eigentum eingreifen oder aber in sehr unterschiedlicher Art in verbotener Weise gegen Kleriker vorgehen. Beispiele dieser Gruppe bilden die Statuten Nr. 1- 8, Nr. 10, Nr. 15-23, Nr. 29 sowie Nr. 30. Diese Statuten fügen sich rein äußerlich gut in das eingangs beschriebene Bild der kriegerischen Auseinandersetzungen Erzbischof Engelberts II. ein, der durch seine aggressive Politik die Stadt Köln und deren Verbündete immer wieder zu neuen Gegenschlägen provozierte. Aus diesem Rahmen fallen aber diejenigen Bestimmungen heraus, welche sich gezielt an oder sogar gegen Kleriker wenden. Näherhin gilt dies für die Bestimmungen Nr. 9, Nr. 11-14, Nr. 24-28 sowie Nr. 31-33. Mit diesem Befund ist die Frage aufgeworfen, ob sich eine Quellenvorlage für diejenigen Statuten ausmachen lässt, die im Codex 132 dem Erzbischof Engelbert von Falkenburg zugeschrieben werden. Die Vermittlerrolle, die Albertus Magnus in den Konflikten zwischen dem Kölner Erzbischof und der Stadt wahrnahm, lässt an eine dominikanische Provenienz der Bestimmungen denken. Als Innozenz III. im Vorfeld des vierten Laterankonzils im Jahre 1215 ein Verbot neuer Ordensgründungen plante, um die weitere Ausbreitung häretischer Armutsbewegungen in ordensähnlicher Gestalt zu verhindern, empfahl er dem Dominikus, sein bislang nicht reguliertes Predigtwerk in der Gestalt einer Oblatenbewegung nach einem anerkannten Regelwerk zu organisieren. Dominikus wählte daraufhin das Regelwerk des Kirchenvaters Augustinus, das er aber um weitere Statutenbestimmungen ergänzte. Die Statutenbestimmungen des Dominikus, deren Abschluss ein umfassender Strafkodex bildete, waren der in frühmittelalterlicher Zeit entstandenen Kanonikerregel des Metzer Bischofs Chrodegang entlehnt. Der im Jahre 766 verstorbene Bischof, der einer angesehenen Familie des fränkischen Adels aus dem Umfeld der älteren Pipiniden entstammte, verfolgte mit seinem Regelwerk das Ziel, seinen Kle-
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rus nach dem „mos et ordo“ der römischen Kirche zu organisieren. Die Wahl dieser Statuten durch den Ordensgründer Dominikus band dessen Gründung eng an die römische Kirche.29 Aus der eingangs zitierten Statutenliste des Erzbischofs Engelbert finden die Bestimmungen Nr. 2-4, Nr. 5, Nr. 9, Nr. 24 und 25, Nr. 27 sowie Nr. 32 inhaltliche Entsprechungen in der Regel des Chrodegang von Metz. Die Bestimmungen Nr. 2-4 des Engelbert, die sich „contra raptores et invasores bonorum ecclesiasticorum et ecclesiasticarum personarum“, „contra incendarios et effractores bonorum ecclesiasticorum et monasteriorum“ sowie „contra violatores emunitatum et dotum ecclesiarum“ richten, finden im Kapitel LXXVI der Chrodegang-Regel eine gemeinsame Entsprechung. Es legt fest, „ut presbiteri inconsulto episcopo non constituantur in aecclesiis vel de aecclesiis expellantur ab aliquo“.30 Die Anordnung zielt dahin, das alleinige, unverletzliche Recht zur Verfügung über kirchliche Güter ausschließlich dem Bischof zuzusprechen. Jeder Eingriff von anderer Seite ist damit ausgeschlossen und verboten. Das Statut Nr. 5 des Engelbert von Falkenburg richtet sich gegen die Hinterzieher der kirchlichen Zehntabgaben („contra detentores seu subtractores decimarum“). Dieses findet eine Entsprechung im Kapitel LXXIII der Metzer Kanonikerregel. Unter dem Titel „De decimis dividendis“ legt es fest, dass die Gläubigen einer Zehntpflicht unterliegen, die Kanoniker aber nur ein Drittel der eingehenden Abgaben für den eigenen Unterhalt einbehalten dürfen.31 Die neunte Statutenbestimmung Engelberts II. legt fest, dass Kleriker und Ordensleute nicht in Auseinandersetzungen vor weltlichen Gerichten verwickelt werden dürfen: „item ne clerici vel religiosi trahant ad iudicium saeculare“. Derselbe Grundsatz wird in wesentlich schärferer Form im Kapitel LVI des Metzer Regelwerks definiert. Dort heißt es: „Saecularium et maxime potentium consortium devitandum est“. Chrodegang spricht nicht ———— 29
30
31
Vgl. zu dieser Traditionskette die Angaben bei H. Ch. Scheeben, Der Heilige Dominikus, 1927, S. 192 -194 und bei C. Vogel, Saint Chrodegang et les débuts de la romanisation du culte en pays franc, in: Saint Chrodegang, 1967, S. 91f. Der Strafkodex der Chrodegang-Regel dürfte in den Bußbüchern des irischen Mönchtums eine Vorgängertradition besitzen. Sollte Chrodegang ein Schüler des im Bodenseeraum tätigen Mönchsmissionars Pirmin gewesen sein, der seinerseits im Umfeld des Gallus ausgebildet worden war, so ergäbe sich eine klare Traditionslinie. Gallus gehörte wiederum zu den Schülern des Columban, des Gründervaters des irischen Mönchtums; näher dazu E. Ewig, Beobachtungen zur Entwicklung der fränkischen Reichskirche unter Chrodegang von Metz, in: Frühmittelalterliche Studien 2 (1968), S. 69 -71. Vgl. dazu den Regeltext in: The Old English Version, with the Latin orginal, of the Enlarged Rule of Chrodegang, 1916, S. 84. So Enlarged Rule of Chrodegang (Anm. 30), S. 81f.
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allein von Gerichtsverfahren, sondern stellt fest, dass aller Kontakt zur weltlichen Gewalt zu meiden ist. Die Anordnungen Nr. 24 und Nr. 25 des Engelbert sanktionieren die Gewalt von Klerikern gegenüber Klerikern. Die Strafandrohungen „contra clericum qui occasione alicuius conflictionis clericum aliquem captivaverit“ (Nr. 24) sowie „contra clericos qui mutilant vel occidunt clericos“ (Nr. 25) besitzen eine gemeinsame Grundlage im Kapitel L der Chrodegang-Regel. Im Rahmen des dort geschilderten „Modus correctionis“ heißt es dort: „Si vero quis in collegio canonicorum criminalem culpam ammiserit, huic nulla est danda dilatio ... coram episcopo deducatur ut ab eo publica multetur paenitentia.“ 32
Der Gedanke, dass die Gemeinschaft der Kanoniker im Binnenbereich vor Straftaten geschützt werden muss und im Falle eines Verstoßes dem Bischof als höchster Autorität der geistlichen Gemeinschaft die Kompetenz zum Strafurteil zukommt, bildet ein verbindendes Element zwischen den durch Dominikus rezipierten Strafbestimmungen des Chrodegang von Metz und den Statuten Engelberts II.33 Eine weitere Gemeinsamkeit mit den Strafbestimmungen des Chrodegang von Metz liegt bei der Anordnung Nr. 27 in der Statutenliste Engelberts vor. Sie legt fest, dass kein Kleriker exkommunizierten Menschen oder solchen, die sich eines schweren Missbrauchs schuldig gemacht haen, beistehen oder diese gar verteidigen darf: „item ne aliquis clericus sacrilegis seu excommunicatis aut usurariis assistat vel eos defendat“. Dieselbe Überzeugung, nach der sich ein Kleriker weder an einer Verteidigung noch an einer Unterstützung geschehenen Unrechts beteiligen darf, definiert Chrodegang im Hinblick auf politische oder militärische Tätigkeiten seiner Kleriker im Kapitel LV seines Regelwerks. Unter dem Titel „De clericis non manentibus in suo proposito“ heißt es dort: „Qui semel in clero deputati sunt aut monachorum vitam expetierunt, statuimus neque ad militiam neque ad dignitatem aliquam mundanam ... redeant.“ 34
In beiden hier verglichenen Bestimmungen ist der Maßstab leitend, dass Vergehen der weltlichen Sphäre keinen Eingang in das geistliche Leben finden dürfen. ———— 32 33 34
Vgl. Enlarged Rule of Chrodegang (Anm. 30), S. 58- 60. Vgl. zu den Hintergründen J. Chatillon, La spiritualité canonicale, in: Saint Chrodegang, 1967, S. 112f. Vgl. Enlarged Rule of Chrodegang (Anm. 30), S. 68.
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Im Ergebnis ist festzustellen, dass sich die Strafstatuten, die im Codex 132 der Dombibliothek dem Erzbischof Engelbert II. von Falkenburg in den Mund gelegt werden, teilweise auf die Strafbestimmungen des Chrodegang von Metz zurückführen lassen. Dessen Statuten hatte der Heilige Dominikus zur Ergänzung der von ihm genutzten Kanonikerregel des Kirchenvaters Augustinus gewählt. Als relativ komplex erweist sich die Frage nach der historischen Authentizität der Statuten. Der Verfasser des Codex 132 legt dem Erzbischof Engelbert von Falkenburg dominikanische Strafanweisungen in den Mund, obwohl dieser seinerseits in der Zeit zwischen seiner Niederlage im Jahre 1267 und den Friedensschlüssen vom 17.4.1271 der Adressat heftiger Vorwürfe des Albertus Magnus im Rahmen der Kämpfe zwischen der Kirche und der Stadt Köln war.35 Dennoch muss es sich bei den Statutenbestimmungen Engelberts II. nicht zwingend um ein Konstrukt des humanistischen Historiendenkens des 15. Jahrhundert handeln. Die Statuten Engelberts II. sind im Codex 132 auf den 5.5.1266 datiert. Sie stammen damit aus der Zeit vor der Kriegspolitik des Jahres 1267. In dieser Zeit hatte sich Albertus Magnus um den erwähnten Interessenausgleich zwischen Stadt und Erzstift bemüht, der faktisch aber eine Einschränkung der erzbischöflichen Machtstellung mit sich brachte. Insoweit könnten die den Dominikanerstatuten entlehnten Strafbestimmungen Engelberts II. zum Schutz des kirchlichen Eigentums auch eine kritische Replik des Erzbischofs auf das Ergebnis der frühen Vermittlungsbemühungen Alberts bilden. Dieses hatte kirchliche Ansprüche zur Disposition gestellt, die es nach der Chrodegang-Regel ebenso wie nach den inhaltsgleichen Dominikanerstatuten zu verteidigen galt.
3. Erzbischof Siegfried von Westerburg (1275-1297): Die Neuordnung des Sakramentenrechts nach den Maßgaben der Sakramentenlehre des Dominikanertheologen Albertus Magnus (1200-1280) Nachdem der Kölner Erzbischof Engelbert II. von Falkenburg im Jahre 1275 verstorben war, wurde der Mainzer Dompropst Siegfried von Westerburg durch Papst Gregor X. zum Erzbischof von Köln bestellt, nachdem die Wahl Konrads von Berg durch das Domkapitel für ungültig erklärt worden war. Den gravierendsten politischen Rückschlag, den Siegfried als persönliche Kränkung empfand, musste der Erzbischof im Jahre ———— 35
Vgl. W. Janssen (Anm. 28), S. 274.
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1282 hinnehmen. Er hatte sich engagiert um die Herzogswürde in Westfalen bemüht, welche Rudolf von Habsburg entgegen den Hoffnungen des Kölner Metropoliten den Grafen von der Mark übertrug. Der tief gekränkte, zugleich aber mächtige Siegfried von Westerburg blockierte daraufhin zur Revanche im Jahre 1287 die Wahl Albrechts von Habsburg, des Sohnes des zuvor verstorbenen Rudolf, zum deutschen König. Schon kurz zuvor war zudem im Jahre 1283 der Streit zwischen den Grafen von Geldern und Berg um die Erbfolge im Herzogtum Limburg entbrannt. Die Verwicklung Siegfrieds in den Limburger Erbstreit gipfelte in seiner Niederlage in der Schlacht bei Worringen sowie der anschließenden Inhaftierung des Erzbischofs auf Schloss Burg an der Wupper. Dieser politischen Sicht der Persönlichkeit Siegfrieds stehen seine intensiven Bemühungen um eine Erneuerung der Diözesansynode und eine bessere Wahrnehmung der bischöflichen Weihepflichten und der Sakramentenspendung gegenüber. Ebenso verband Siegfried eine tiefe Freundschaft mit Albertus Magnus, mit dem er gemeinsam das Jüngere Bibelfenster des Kölner Doms als Achsfenster der Kölner Dominikanerkirche stiftete.36 Die Statuten, die im Codex 132 dem Siegfried von Westerburg zugeschrieben werden, umfassen unter den Nummern 4-10 Vorschriften, die sich auf die würdige Spendung der Sakramente beziehen: 4.
item qualiter clerici et maxime sacerdotes populum regentes vel plebem in administratione septem sacramentorum quae continentur in hoc uso baptisma crisma ungo viaticum paenitentia ordinem ungo se habere debeant et primo de baptismo 5. item de sacramento confirmationis 6. item de sacramento extremae unctionis 7. item de sacramento eucharistiae sive altaris cum missa celebratur 8. item de sacramento confessionis et penitencie 9. item de ordinibus et qui ad ordines adiuncti debeant 10. item de matrimonio
Aus der Übersicht über die sakramentenrechtlichen Bestimmungen des Siegfried von Westerburg fällt zunächst die Siebenzahl der Sakramente auf. Diese wurde lehramtlich erstmals auf dem Konzil zu Lyon im Jahre 1274, das Thomas von Aquin nicht mehr erreichte, definiert. Historischen Aussagewert dürften die im Codex 132 enthaltenen Statuten daher insoweit besitzen, als sie auf eine lehramtliche Aussage rekurrieren, die ein Jahr vor dem
———— 36
So die Darstellung bei W. Janssen, Siegfried von Westerburg, in: E. Gatz (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198 -1448, 2001, S. 274-276.
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Amtsantritt des Siegfried von Westerburg getroffen wurde.37 Dass dieser seinerseits als Erzbischof das Recht der Sakramentenspendung tatkräftig reformierte, dürfte ebenfalls außer Frage stehen. Einer näheren Analyse bedarf dagegen die theologische Struktur, welche der kanonistischen Reglementierung der Sakramente im Codex 132 zugrundeliegt. Im Kontext der Bestimmungen zur Taufe ist in den Bestimmungen auf fol. 19 v und fol. 20 r eine spezifische Struktur erkennbar. So heißt es dort: 1.
2. 3.
4.
5.
Statuimus ut baptizans honorabiliter celebretur cum distinctione verborum in quibus salus pendet baptizati ... nihil addendo vel subtrahendo vel mutando dicat hec verba. petre vel wimice ego baptizo te Item sacerdos eandem formam doceat matres et feminas observare cum in necessitate baptizant infantes. eciam parentes si alii desunt Item sacerdos ad quem infans sic in necessiate baptizatus referendus est ... interroget de forma quam baptizans servavit et si invenerit eam servatam et rite baptizatum puerum faciat ei quae post baptismum fieri convenerunt ... Item in pascha et pentecostes et eciam fons baptismi si opus fuerit renovetur. et a mota aqua veteri ipse fons lavetur et bene mundificetur et nova aqua imposita benedicetur aqua et crismetur Item crisma. oleum sanctum et oleum infirmorum in ampullis metallinis per certos titulos designatis sub clave custodiatur.
Die Struktur der kanonistischen Regelungen lässt erkennen, dass die Bestimmungen in besonderer Weise darauf gerichtet sind, das Handeln des Taufspenders, die Form der Taufe und die dabei benutzten Substanzen des Wassers und des Chrisams in unverfälschter und unberührter Gestalt zu bewahren. Die Kette der in der Taufe vollzogenen sakramentalen Teilhandlungen ist unmittelbares Geschehen der Heilsmitteilung und wird daher durch flankierende Rechtsbestimmungen gegenüber Fremdeinwirkungen abgeschirmt. Aus diesem Grund ist zum einen die würdige Haltung des Spenders unbedingt sicherzustellen. Gleiches gilt für die Einhaltung der Form der Heilsvermittlung ebenso wie für deren Trägermaterien. Das Taufsakrament erscheint so als in sich geschützter, nach außen hin völlig abgeschotteter Weg, auf dem das Heil von Gott her über den Priester durch die heilige Handlung zu den Menschen gelangt. Die gleiche Systematik eines gegen jede äußere Kontamination zu schützenden Weges der Heilsmitteilung liegt ebenso den Regelungen über den ———— 37
Vgl. zu den Hintergründen G. Koch, Siebenzahl der Sakramente, in: W. Beinert (Hg.), Lexikon der katholischen Dogmatik, Neuausgabe 1997, S. 466f.
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postbaptismalen Salbungsritus des Firmsakraments („De confirmatione“) auf fol. 20 r zugrunde. Dort heißt es: „ut eos ad episcopum qui solus potest confirmare ducant septemnes et maioris aetatis. et tondeantur capilli in arie contra frontes dependentes et laventur frontes diligenter. habeant bandellos de panno lineo sine fractura et cum nodo latitudinis trium digitorum et longitudinis competentis. aut pater vel mater offerant pueros illi qui eorum noticiam habent et melius noverunt quod non sint vel fuerint confirmati et tertia die post confirmationem ducant eos ad ecclesiam et presbyter frontes eorum lavet et comburet bindellos et cineres bandellorum et aqua locionis in sacrum locum vel piscinam sive lavatorium reponatur ...“
Auch die Regelungen über das Firmsakrament betonen zunächst, dass allein der Bischof (solus episcopus) zur Spendung befähigt ist. Auf Seiten der Empfänger wird das vorgeschriebene Mindestalter von sieben Jahren festgelegt. Extrem regelungsintensiv ist der eigentliche, zweiteilige Ritus. Bei der eigentlichen Firmspendung sollen zunächst die in die Stirn fallenden Haare abgeschnitten und die Stirn selbst gereinigt werden. Die Vorgaben zielen im Kern darauf, diejenige Körperstelle zu reinigen, die im Folgenden zur Trägerin der sakramentalen Materie wird. Die Salbung selbst soll durch das Umwickeln der Stirn mit unversehrten Leinenbinden vollzogen werden, die ihrerseits einen Knoten bestimmter Breite und Länge aufweisen müssen. Nach drei Tagen sollen die Kinder erneut in die Kirche gebracht und die Leinenbinden bei dieser Gelegenheit entfernt werden. Nach der Waschung der Stirn sollen die Leinenbinden verbrannt und deren Asche sowie das bei der Waschung benutzte Wasser im Taufbecken als heiligem Ort der Sakramentenspendung deponiert werden. Auch die rechtliche Flankierung des Firmritus lässt das Bestreben erkennen, den Spender, den Empfänger, die Spendungshandlung selbst sowie die bei ihr genutzten Gegenstände und Materien gegen jede äußere Verunreinigung zu schützen. Auch die Firmung wird so als Weg einer in Gott wurzelnden Heilsmitteilung verstanden, welche der würdige Empfänger allein durch das formgemäße Handeln des Spenders zu erlangen vermag. Am deutlichsten ist diese rechtliche Wahrnehmung der Sakramente als nicht zu verunreinigender „Kanäle“ der göttlichen Heilsvermittlung an den vielschichtigen und umfangreichen Festlegungen zum Sakrament der Eucharistie auf fol. 20 v-22 r abzulesen. Auch hier seien einige wesentliche Elemente stichwortartig benannt:
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1. 2. 3.
sacerdotis in vestibus mundis ... mundo et contrito corde sacerdos ... nisi pius dixerit matutinas sacerdotes ne cum conscientia in mortali peccato constituti accedant ad missam celebrandam 4. Item missale involvatur camisia vel panno lineo 5. Item loca circa altare ... emundentur 6. Item praecipimus ut sursum super altare pannus lineus albus extendat 7. Item ampulle vini et aque integre et munde intus et exterius observentur 8. Item sacerdos sit diligens in electione hostie consecrande 9. Item praecipimus ut sacerdotes actentes reverenter et distincte legant et dicant in canone quae sunt dicenda 10. Item nullus sacerdos elevet hostiam ad ostendendum populo nisi postquam dixerit hec verba: hoc est enim corpus meum
Die in den Statuten des Siegfried von Westerburg niedergelegten Bestimmungen zur Feier der Eucharistie legen besonders deutlich die Schutzstruktur zur Wahrung der Reinheit der Sakramente offen. So setzen die Bestimmungen bei der Haltung des Priesters an, nehmen anschließend den Zelebrationsort und die liturgischen Gerätschaften in den Blick, wenden sich sodann den Substanzen von Brot und Wein zu, um anschließend das Erfordernis der korrekten Unterweisung auf der Seite der Empfänger hervorzuheben. Neben diesen generellen Anordnungen finden sich auch Sondervorkehrungen für überraschende Vorkommnisse während der Feier der Eucharistie. So wird beispielsweise festgelegt, dass ein Teil des Altartuches, auf den der Leib Christi gefallen oder das Blut des Herrn getropft ist, abgeschnitten und verbrannt werden möge: „Item si quid de sanguine vel corpore dni ceciderit super pallam altaris illa pars abscidatur et comburatur.“
Die gleiche Bestimmung wird entsprechend auch für priesterliche Gewänder vorgegeben: „Item si gusta sanguinis super vestimentum ceciderit illa pars abscidatur et comburatur.“
Gleiches gilt auch für kleinste Partikel, die während der Feier der Eucharistie in den Messkelch gefallen sind. Sie sollen umgehend herausgezogen und anschließend über dem Reinigungsbecken für die liturgischen Gerätschaften verbrannt werden: „Item si in sanguine ... aliquid abhominabile ceciderit ... extrahatur et super patenam vel calicem alium abluatur ... et super piscinam comburatur.“
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Interessant erscheint die Frage nach der theologischen Quelle dieses Sakramentenverständnisses. Wilhelm Janssen hat auf den großen Einfluss hingewiesen, welchen die Mystik des Heinrich Seuse (1295-1366) auf das geistliche Leben im Erzbistum Köln ausgeübt hat.38 Grundsätzlich entspreche die im „Horologium Sapientiae“ niedergelegte Theologie der sieben Sakramente als der sieben Heilswege dem Muster der kanonistischen Anordnungen im Codex 132. Im Hinblick auf die Lebensdaten Seuses, besonders seine Geburt im Jahre 1295, und den Tod des Siegfried von Westerburg im Jahre 1297 wäre diese Verbindung nur im Rahmen eines ex post vorgenommenen humanistischen Geschichtskonstrukts denkbar. Näherliegend wäre demgegenüber eine andere Herleitung. Seuse hatte durch seinen Aufenthalt am Kölner Generalstudium zwischen 1323 und 1327 eine intensive Befassung mit der Theologie Meister Eckharts sowie der älteren Dominikanertheologen, hier vor allem Albertus Magnus (1200-1280) und Thomas von Aquin (1225-1274), begonnen. Dass Seuses Sakramentenmystik auch durch die Metaphysik und Sakramententheologie Alberts beeinflusst gewesen sein dürfte, steht außer Frage.39 Im Hinblick auf die sakramentenrechtlichen Bestimmungen des Siegfried von Westerburg im Codex 132 ist somit eher davon auszugehen, dass diese durch die Theologie Alberts geprägt wurden. Dieser hatte die Sakramente stets als Medium der „Christusbegegnung“ gedeutet. Manfred Entrich weist darauf hin, dass diese Begegnung aufgrund ihres personalen Charakters mitnichten nur auf einem reinen „Wissen der Kenntnisnahme“ beruht. Sie vollzieht sich vielmehr durch die „scientia approbationis“ als „Zustimmung zu einem personalen Gegenüber“.40 Dieser hohe Stellenwert der Sakramente in der Theologie Alberts dürfte somit eher den Grund für die Akribie vorgeben, mit welcher in den Klerikerstatuten des Siegfried von Westerburg die Feier und der Empfang der Sakramente geordnet wurden. Die humanistische Reminiszenz an diesen Vorgang erweist sich im Ergebnis eindeutig als dominikanischer Impuls zur großen Kirchenreform des 15. Jahrhunderts.
———— 38
39
40
Vgl. dazu W. Janssen, Das Erzbistum Köln im späten Mittelalter (1191-1515), Zweiter Teil, in: N. Trippen (Hg.), Geschichte des Erzbistums Köln, Band 2, Teilband 2, 2003, S. 85f. Vgl. zu den hier wiedergegebenen biographischen Daten K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Band III, 1996, S. 415 - 420. So M. Entrich, Albertus Magnus, Sein Leben und seine Bedeutung, 1982, S. 106.
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4. Erzbischof Wikbold von Holte (1297-1304): Franziskanische Lebens- und Handlungsanweisungen als Maßstab der Kanonikerreform Der Kölner Erzbischof Siegfried von Westerburg war am 7.4.1297 in Bonn gestorben. Nur einen Monat später wählte das Kölner Domkapitel, das wegen des auf der Stadt Köln liegenden Interdikts in Neuss tagte, seinen schon im vorgerückten Alter befindlichen Dekan Wikbold von Holte zum neuen Erzbischof. Der aus einem kleinen westfälischen Herzogsgeschlecht stammende Kleriker wurde vor allem durch die Grafen von Jülich und Mark ebenso wie durch König Adolf von Nassau unterstützt. Immerhin bot seine Wahl die Aussicht, nach den unter Siegfried von Westerburg ausgebrochenen Konflikten um die Landfriedenshoheit in Westfalen zu einem Interessenausgleich zurückzufinden. In diesem Sinne dürfte vor allem Graf Eberhard II. von der Mark (1277-1308) auf die Wahl Wikbolds hingewirkt haben. Eberhard II. war dem Kölner Kapitelsdekan auch familiär verbunden, da er seinen ältesten Sohn Engelbert mit Wikbolds Nichte Mechthildis von Arberg vermählt hatte. Neben dieser familiären Beziehung gab es eine weiter zurückreichende geistliche Verbindung zwischen den märkischen Territorien in Westfalen und dem Kölner Erzstift. Schon der Kölner Erzbischof Engelbert I. hatte seit seinem Amtsantritt im Jahre 1216 eine extrem machtbewusste Territorialpolitik in Westfalen betrieben und war daraufhin von aufgebrachten Soester Bürgern in deren Stadt erschlagen worden. Im Rahmen der anschließenden innerstädtischen Unruhen hatten diese Bürger auch die erzbischöfliche Pfalz in Brand gesetzt. Erst Engelberts Nachfolger auf dem Kölner Erzbischofsstuhl, Heinrich von Molenark (1225-1238), gelang durch den Verzicht auf die Kölner Interessen in Westfalen eine Befriedung der zerrütteten Situation. Gegen Entrichtung einer Buße gewährte er der Stadt Soest wieder die zuvor aufgekündigte Gemeinschaft. Zudem gründete er im Rahmen eines Sühneaktes unmittelbar neben der zerstörten Pfalz ein Minoritenkloster. Die Soester Franziskaner erhielten aufgrund ihrer engen Bindung an die Kölner Erzbischöfe besonders durch Konrad von Hochstaden im Jahre 1259 umfassende Privilegien. So erhielten sie das bedeutsame Recht, im ganzen Erzbistum zu predigen und die Beichte abzunehmen. Ebenso verlieh er denjenigen Menschen, welche die Soester Franziskanerkirche an deren Weihetag
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besuchten, einen hochrangigen Ablass.41 Im Hinblick auf diese geistliche Verbindung braucht es nicht weiter zu verwundern, dass auch Wikbold von Holte ein entschiedener Förderer franziskanischer Interessen war. Nach seinem Tod in Soest am 28.3.1304 wurde sein Herz in Berücksichtigung einer testamentarischen Verfügung in der Soester Franziskanerkirche beigesetzt. Den übrigen Leichnam bestattete man dagegen in St. PatrokliMünster.42 Die im Codex 132 enthaltenen Statuten des Wikbold von Holte umfassen Vorschriften sehr unterschiedlichen Inhalts. Dies möge die in der Handschrift enthaltene Inhaltsübersicht verdeutlichen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23.
primo de aetate et qualitate regiminis ecclesias item de non residentibus in ecclesiis sive et de his qui minoris sunt aetatis item de alienis et ignotis regentibus ecclesias item de habentibus plura beneficia item de testamentis clericorum item de testamentis laicorum item de legatis fabricae ecclesiae coloniensis et pena celantium legata item quilibet potest in lecto aegritudinis condere testamentum non obstante quocumque statuto item quod proprietas potest legari recentor usu fructu non obstante quocumque statuto item pena contra contrarium statuentes item de inventario faciendo per inanii fideles item de bonis clericorum decedecimum et huius bonis se intromittentibus item de manifestis usuraiis item de quaestionariis non admittendis item de provisoribus promotoribus et detentoribus elemosinarum fabricae coloniensis item unusquisque promoveat fabricae coloniensi item de laicis provisoribus structurarum item de campanariis habendis item falsariis monetarum item de rescriptis et eorum virtutibus et incendariorum litteris item contra suspendentes redas vel litteras ad fores item contra detentores cerecensus item ut quilibet habeat copiam statutorum
———— 41
42
So die biographischen Daten in der Darstellung bei H. Keussen, Wigbold, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 42 (1971), S. 459f. sowie zu der älteren Vorgeschichte die Angaben bei R. Pieper, Die Kirchen der Bettelorden in Westfalen, Franziskanische Forschungen, Band 39 (1993), S. 156f. Vgl. dazu nochmals den Nachweis bei H. Keussen in Anm. 41.
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Die Statuten des Wikbold von Holte enthalten auf den ersten Blick ausschließlich an Laien und Kanoniker gerichtete Bestimmungen über die Leitungsaufgaben in der Kirche, die Benefizienverleihung, die Aufstellung von Testamenten, die kirchliche Vermögensverwaltung sowie Laien im Kirchendienst. Dennoch sind in den Weisungen teilweise kleine Details enthalten, die dem franziskanischen Regelgut entsprechen. So heißt es beispielsweise im ersten Statut unter dem Titel „primo de aetate et qualitate regiminis ecclesias“: „Licet a sacris canonibus sit institutum ne aliquis ad regimen parochialis ecclesiae assumatur nisi qui iam vicesimum quintum annum aetatis actigerit et scientia et moribus commendatis existat. Plures tamen huius salubris statuti invenimus transgressores. volentes igitur periculis animarum prospicere ...“
Das Statut legt ein Mindestalter von 25 Jahren für den Zugang zum leitenden Pfarramt fest. Zudem betont es, dass der Priester sich „durch Wissen und vorgegebene Verhaltensweisen“ („scientia et moribus commendatis“) bewährt haben muss. Die hier hergestellte Einheit von Wissen und äußerem Verhalten spiegelt ein Grundanliegen des Franz von Assisi wieder. In seinem Regelwerk fasst er Christus als Lehrer auf, der den ihm Anvertrauten das Wissen um die Einheit von Erkenntnis, Liebe und praktischem Vollzug der Lebensweisungen nahebringt.43 Dieselbe Sinneinheit schafft das vorliegende Statut durch die Verknüpfung der Leitungsverantwortung (regimen) mit der Bewährung in der Kenntnis und der Praxis (scientia et moribus) christlicher Verhaltensnormen. Entsprechend deutlich fällt auch die im folgenden Statut angeordnete Sanktionierung der Missachtung geistlicher Bildungsstandards aus. So heißt es im zweiten Statut unter dem Titel „De alienis et ignotis regentibus ecclesias“: „Item quia intelleximus aliqui clerici ut pote apostate discursores. Et vagi de aliis provinciis et diocesibus ad diocesim nostram coloniensem venientes regimen animarum et officiacionem ecclesiarum sibi assumunt. qui ab aliis diocesibus tamquam irrigulares et indigni pro eorum culpis et excessibus sunt remoti. Statuimus ut nullus deinceps presbiter alienus ad regimen et ad curam animarum ... assumatur ... qui his spretis aliquem clericum ignotum dicentem se presbiterum assumpserint excommunicationis sentenciam nisi infra sex dies a se talem amoverint se extuunt ipso.“
Das Statut droht allen leitenden Klerikern, die fremde, ihnen unbekannte Priester, über deren Bildung Unklarheit herrscht, in ihrer Verantwortung ———— 43
So W. Dettloff, „Christus tenens medium in omnibus“, Sinn und Funktion der Theologie bei Bonaventura (Schluss), in: Wissenschaft und Weisheit 20 (1957), S. 131f.
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fortdauernd wirken lassen, die Strafe der Exkommunikation an. Insoweit wird ein Verstoß gegen den im ersten Statut definierten, dem franziskanischen Regelgut entstammenden Nexus zwischen „regimen“, „scientia“ und „mores“ mit der schärfsten denkbaren Strafe belegt. Ein weiteres, äußerlich unscheinbares Moment franziskanischen Regelguts findet sich im vierten Statut „item de habentibus plura beneficia“. Darin heißt es: „Item cum sanctissimus pater dominus bonifatius octavus summus pontifex inter cetera statuerit ne aliquis deinceps nisi unicum personatum dignitatem praeposituram administracionem vel officia perpetua quocumque nomine censeantur cum praebenda in simul absque dispensatione sedis apostolicae in eadem ecclesia obtinere vel etiam obtenta tenere valeat.“
Das Statut richtet sich in Erinnerung an die apostolische Tradition der Armut gegen jede Form der Ämter- und Pfründenhäufung. Bereits diese Forderung entspricht in einer unspezifischen Weise franziskanischem Denken. Wesentlicher ist die Tatsache, dass der Erlass Wikbolds auf eine zugrunde liegende Anordnung Papst Bonifaz’ VIII. gestützt ist. Diese Verkettung offenbart insoweit franziskanisches Denken, als sich Franz von Assisi bei der Erhebung seiner Armutsforderungen, die infolge der Zeitverhältnisse nur allzu leicht unter Häresieverdacht geraten konnten, stets auf die römische Norm berief. Insoweit dürfte auch das vorliegende Verbot der Pfründenhäufung in seiner Rückführung auf eine römische Weisung franziskanischem Denken entstammen.44 Gleiches lässt sich auch für die Bestimmungen zur Freiheit der Testamentsaufstellung in den Statuten Nr. 5-9 des Wikbold von Holte ausmachen. Eine auf fol. 27 v wiedergegebene Bestimmung regelt eine bedeutende Ausnahme von der Testierfreiheit der Kleriker. Wörtlich heißt es darin: „Praecipimus ut sacerdotes denuncient suis subditis quia omnes quibus a iure inhibitum non est liberam testamen condendi habeant facultatem. Et clerici bona maxime immobilia et quae per ecclesias sunt adepti sive per modum testamenti sive alias non transferant ad filios vel nepotes aut alios suos consanguines sed reliquant ea ecclesiae a qua sunt profecta ...“
Der Bestimmung liegt ein zyklisches Argumentationsmuster zugrunde. Nach diesem sollen Güter, die der Erblasser von der Kirche erlangt hat, nach dessen Tod an dieselbe zurückfallen, da sie auch von ihr ausgegangen sind. In der franziskanischen Güterlehre spielt das Gegensatzpaar von „appropriatio“ ———— 44
Vgl. zu diesen Hintergründen die Angaben bei M. Vovk, Die franziskanische „Fraternitas“, in: Wissenschaft und Weisheit 39 (1976), S. 21.
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und „expropriatio“ eine zentrale Rolle. Derjenige Mensch, welcher sich im Geschehen der „appropriatio“ irdische Güter aneignet, muss sich stets der Tatsache bewusst sein, dass er nur für eine begrenzte Zeitspanne deren Sachwalter ist. Im Tod wird der Mensch im Gegenzug durch das Geschehen der „expropriatio“ aller erlangten Güter wieder „enteignet“. Diese kehren dann zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Die im Statut des Wikbold von Holte enthaltene Einschränkung geistlicher Testierfreiheit nutzt genau dieses Argumentationsmuster, um sicherzustellen, dass die von der Kirche zu Lebzeiten verliehenen geistlichen Güter nach dem Tod ihres Erblassers an die Kirche zurückfallen.45 Als ebenfalls von franziskanischem Regelgut beeinflusst erweisen sich die im Statut Nr. 15 unter dem Titel „De provisoribus promotoribus et detentoribus elemosinarum fabricae coloniensis“ zusammengefassten Bestimmungen zum sachgerechten Umgang mit Almosengeldern. Gegen diejenigen, welche Almosengelder hinterziehen oder unterschlagen, werden daher entsprechend harte Strafen verhängt: „ ... Alioquin ipsos suspendimus et si per octo dies decimam suspensionem sustinuerint ipsos excommunicamus et etiam omnes illos qui decimas elemosinas subripuerunt et celaverunt et distrahunt in fraudem dictae fabricae coloniensis.“
Diese Strafbestimmung schützt das Uranliegen des Franz von Assisi, als besitzlos lebender Mönch seinerseits Unterstützer, Sachverwalter und Fürsprecher der Armen zu sein. Zugleich geht es um die Befriedigung der ihnen zustehenden Almosenansprüche. Die Forderung nach einem korrekten Umgang des Weltklerus mit Subsidiengeldern stimmt mit dem franziskanischen Regelgut überein.46 Die Härte der Strafsanktion könnte auf einem deutlichen franziskanischen Einfluss beruhen. Die letzte, vielleicht eindrucksvollste Parallele zwischen den Statuten Wikbolds und franziskanischem Regelgut betrifft das Kapitel 22, das Strafen gegen die Hinterzieher der Wachsabgabe („cerocensus“) vorsieht. Auch diesen wird die Exkommunikation angedroht: „Item praecipimus ut omnium ecclesiarum rectores moneant cerocensuales ecclesiarum et ecclesiasticarum personarum quocumque nomine censeantur qui cerocensum hactenus non solverunt quod de subtractis satisfaciant infra mensem et deinceps debitis ipsibus et statutis persolvant decimum cerocensum ———— 45
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Vgl. zu diesem Argument franziskanischer Theologie die Darstellung bei M. Vovk, Die franziskanische „Fraternitas“, in: Wissenschaft und Weisheit 39 (1976), S. 22 - 25. Vgl. zu den Hitergründen dieses Themas in der franziskanischen Tradition die Angaben bei F. Schwendinger, Franziskanische Frömmigkeit (Schluss), in: Wissenschaft und Weisheit 8 (1941), S. 90f.
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ut tenentur. Alioquin decimos subtrahentes et non solventes quos ceronicani in ipsis scriptis excommunicatos publice nuncient singulis diebus dominicis et festivis“.
Das vorliegende Statut belegt die Hinterziehung der allgemeinen Wachsabgaben der Gläubigen oder aber deren schlichte Verweigerung mit der Strafe der Exkommunikation. Diese in ihrem Gehalt im Codex 132 einzigartige Bestimmung dürfte auf den hohen geistlichen und theologischen Stellenwert des Lichts in der franziskanischen Ordenstheologie und -liturgie zurückgehen. Die gesamte Schöpfung ist nach franziskanischer Auffassung „Schatten des Schöpfers, insofern sie ihn manifestiert“. Der Zustand der Finsternis und des völligen Fehlens des Lichts evoziert somit den Eindruck der Gottesferne. Er verhindert zudem das Aufspüren der „Fußspuren“ („vestigia“) des Schöpfers in der Welt. Die Liturgie als Feier der sakramentalen Gottesbegegnung verlangt aus dieser Sicht in höchstem Maße eine angemessene Ausstattung des Kirchenraumes mit Kerzen. Das Hinterziehen der Wachssteuer und die mangelnde Bereitstellung des Wachses bilden somit kein rein äußerliches Moment, sondern verstellen der Kirche und den Gläubigen insgesamt die Möglichkeit der Gotteserkenntnis.47 In den vorangehenden Überlegungen konnte an sechs verschiedenen Stellen ein Einfluss franziskanischer Ordensideale auf die Kanonikerstatuten des Kölner Erzbischofs Wikbold von Holte ausgemacht werden. Aufgrund seiner tatsächlichen Beziehungen zu den Soester Franziskanern und der franziskanischen Prägung seiner eigenen Spiritualität dürften die Statuteninhalte insoweit weitgehend authentisch sein.
5. Erzbischof Wilhelm von Gennep (1349-1362): Die materielle Grundsicherung der Ordensklöster durch die Inkorporation von Pfarrkirchen und das Folgeerfordernis der disziplinarischen Unterscheidung der Ordensleute vom Weltklerus Mit den Statuten des Erzbischofs Wilhelm von Gennep beginnt im Codex 132 derjenige Teil der Rechtserlasse, die sich nun nicht mehr auf die Reform des Weltklerus nach den Maßstäben konkreter Ordensregeln beziehen, sondern vielmehr Zeugnis einer klösterlichen Reformpolitik sind. Dass deren Ziele auch auf Stiftsreformen eingewirkt haben können, sei dabei unbestrit———— 47
Vgl. zu diesen liturgietheologischen Sachverhalten die Darstellung bei W. Dettloff, „Christus tenens medium in omnibus“, Sinn und Funktion der Theologie bei Bonaventura (I. Teil), in: Wissenschaft und Weisheit 20 (1957), S. 31f.
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ten. Nach dem Tod des Erzbischofs Walram von Jülich bemühte sich dessen engster Vertrauter und Berater Wilhelm von Gennep im Jahre 1349 mit Erfolg um die Nachfolge seines Mentors. Dem etwa vierzigjährigen Abkömmling eines maasländischen Adelsgeschlechts gelang durch eine konsequente Vermeidung kriegerischer Konflikte eine Sanierung der zerrütteten Finanzen des Erzstifts. Ebenso tatkräftig bemühte er sich um eine finanzielle Existenzsicherung der Klöster.48 In seiner Amtszeit wurden zu diesem Zweck in großer Zahl die Pfarrkirchen an den Klosterstandorten den Ordenskonventen zu deren materieller Existenzsicherung inkorporiert. Allerdings führte die Tätigkeit der Mönche in der Pfarrseelsorge dazu, dass sich ihr Lebenswandel in immer stärkeren Maß dem Leben des Weltklerus anglich. Infolge der den Orden gewährten Exemtion verselbständigte sich das geistliche Wirken der Mönche sogar teilweise gegenüber der Weisungsgewalt des Erzbischofs.49 Eine Reihe der im Codex 132 dem Wilhelm von Gennep zugeschriebenen Statutenbestimmungen scheint gegen diese Folgephänomene der Inkorporationspolitik gerichtet zu sein. Im Einzelnen gilt dies für die folgenden Bestimmungen: 13. Ne aliquis celebret in altari portatibili aut viatico sine licencia nostra 16. Ne aliquis assumatur in capellanum vel vicarium sine nostra licencia et quod rectores de elemosinis decenter fabricae teneantur satisfacere 20. Ne religiosi extra sua monasteria moram trahant et contra receptatores eorum 24. De contumacione votorum et vagis restoribus 25. De eodem cum inhibicione contra religiosos 26. Ne religiosi quicumque quaestum publicum faciant vel male quaesita incerta alias quam ad fabricam ecclesiae coloniensis ordinent
Die hier mit ihren Tituli genannten Statutenbestimmungen zielen in ihrem Grundanliegen einerseits dahin, die in der Pfarrseelsorge tätigen Mönche, die den Klöstern inkorporierte Pfarrkirchen geistlich versorgen, auf ihre Gelübde und den damit verbundenen Lebenswandel zu verpflichten. Andererseits geht es darum, die Mönche in ihrem pastoralen Handeln der Weisungsgewalt des Erzbischofs zu unterstellen. Das Statut Nr. 13 verbietet das ohne erzbischöfliche Erlaubnis an beliebigen Wegaltären (in altari viatico) vollzogene Messopfer. Die Bestimmung Nr. 16 verpflichtet die rectores ecclesiae zur Rechenschaft (redditam racionem) über die Almosen- und Kollekteneinnahmen. Die ———— 48
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So die Darstellung der Hintergründe bei W. Janssen, Wilhelm von Gennep, in: E. Gatz (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198-1448, 2001, S. 280. Vgl. dazu W. Janssen, Das Erzbistum Köln im späten Mittelalter (1191-1515), Zweiter Teil, in: N. Trippen (Hg.), Geschichte des Erzbistums Köln, Band 2, Teilband 1, 2003, S. 238f.
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inhaltliche Stoßrichtung dieser offenkundig gegen die Unterschlagung dieser Gelder gerichteten Bestimmungen ergibt sich aus den weiteren Weisungen. So weist das Statut Nr. 20 Mönche, die ihre Klöster verlassen haben (moram trahendo loca extra quae sicut piscis extra aquam) an, umgehend in diese zurückzukehren. Die Bestimmung Nr. 24 richtet sich gegen Mönche und Kanoniker (religiosi et seculares capellani), die in wahrheitswidriger Weise behaupten, die Vollmacht zur Aufhebung oder Abwandlung klösterlicher Gelübde (potestatem ... vota commutandi) zu besitzen. Auf Seiten der hier kritisierten „religiosi et capellani“ bestand offenbar das Interesse, die hierfür anfallenden Dispensgelder zu eigenen Zwecken zu verwenden, anstatt sie der eigentlich vorgesehenen Verwendung zugunsten des erzbischöflichen Stiftshaushalts (et ad usus alios quod ad usus predicte nostre fabrice) zuzuführen. Das Statut Nr. 25 verlangt in der Folge die öffentliche Bekanntmachung solcher missbräuchlicher Praktiken. Am intensivsten und umfassendsten wird die anmaßende Einmischung der in der Pfarrseelsorge tätigen Mönche in der 26. Anordnung des Wilhelm von Gennep bekämpft. Sie verbietet allen Religiosen (religiosos viros priores gardianos prelatos et superiores fratrum quorumlibet ordinum) die damals offenbar weit verbreitete Praxis, in den im Rahmen der Pfarrseelsorge gehaltenen Predigten (in sermonibus suis) zum Verzicht auf den Besuch der übrigen Pfarrgottesdienste aufzurufen (eisdem inhibeant ne in sermonibus suis ... prelatis detrahant ... laicos ab ecclesiarum frequentia). Die Statuten des Wilhelm von Gennep promulgieren anders als diejenigen seiner Vorgänger keine besonderen ordensspezifischen Zielsetzungen für den Weltklerus. Sie sind vielmehr darauf ausgerichtet, angesichts der zunehmenden Zahl der Inkorporationen von Pfarrkirchen in die Ordensklöster auf einen Interessenausgleich zwischen dem Erzbischof, dem Diözesanklerus und den Ordensgeistlichen hinzuwirken.50
6. Erzbischof Dietrich II. von Moers (1414-1463): Der Konziliarismus und die Regulierung der Klausner, Beginen und Begarden nach den Terziarenregeln Nachdem der Kölner Erzbischof Friedrich von Saarwerden am 9. April 1414 auf seiner Burg in Bonn-Poppelsdorf verstorben war, trat Dietrich ———— 50
Vgl. zu den zugrunde liegenden Unregelmäßigkeiten nochmals W. Janssen, ebd.
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Graf von Moers am 22. September desselben Jahres nach der Wahl durch das Kölner Domkapitel die Nachfolge an. Als Sohn des Grafen Friedrich von Moers und seiner Gemahlin Walpurgis von Saarwerden war der neue Erzbischof ein Neffe seines Vorgängers. Dieser hatte Dietrich schon früh auf die erzbischöflichen Führungsaufgaben in Köln vorbereitet. So übertrug er seinem Neffen verantwortungsvolle Leitungsämter, wie etwa diejenigen des Bonner Stiftspropstes im Jahre 1397 sowie im Jahre 1411 einen Sitz im Kölner Domkapitel. Zudem wurde Dietrich II. durch seinen Onkel frühzeitig mit den zeitgeschichtlich aktuellen Fragen des Humanismus und der großen Kirchenreform vertraut gemacht. So braucht es auch nicht weiter zu überraschen, dass Dietrich von Moers enge Kontakte zu den an der Kölner Universität tätigen Humanisten unterhielt und die Reformbeschlüsse des Basler Konzils, an dem er selbst teilnahm, im Rahmen eines aufwendigen diözesanen Synodalwesens im Erzbistum umsetzte.51 Von dieser Reformtätigkeit künden auch die im Codex 132 festgehaltenen Statuten Dietrichs II., die hier nur kurz mit zwei wesentlichen Aspekten vorgestellt werden sollen. So ordnete der Metropolit gegenüber allen ihm unterstellten Suffraganbischöfen in einer auf fol. 91r wiedergegebenen Weisung an, dass diese die Beschlüsse der Kölner Provinzialsynode allen ihnen unterstellten Gläubigen bekannt machen sollten: „Iterum mandamus omnibus suffraganis nostris et eorum cuilibet ut statuorum in sacro provinciali concilio conclusorum et publicatorum sub forma autentica infra unum mensem immediate subsequentem recipiant et suis synodalibus consiliis faciant publicari infra tempus a iure statutum.“
Die Anordnung legt die Verbindlichkeit der konziliaren ebenso wie der auf Provinzial- oder Diözesanebene gefassten Beschlüsse fest. Unter diesen in den Statuten Dietrichs getroffenen Anordnungen befindet sich auch eine solche, die sich auf die Wahrnehmung geistlicher Rechte und Aufgaben durch „religiosi“ im weiteren Sinne bezieht. In der auf fol 89 v wiedergegebenen Anordnung heißt es: „Item statuimus et inhibemus sub poena excommunicationis sententiae ne quis de officio questionatus elemosinarum se intromittat nisi in sacris ordinibus fuerit constitutus. Nec ambonem ad predicandum populo aut caritativa postulandum subsidia aut indulgentias sibi commissas insinuando vel aliud quam in eorum litteris apostolicis vel diocesani episcopi continetur exponendum nisi in sacerdotio constitutus ascendere presumat ...“
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Vgl. dazu die Darstellung bei F. Bosbach (Anm. 1), ebd.
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Die vorliegende Bestimmung untersagt in einem ersten Schritt allen Gläubigen, die keine Ordensmitglieder sind, das Erbetteln von Almosen. Der zweite Teil verbietet darüber hinaus allen Angehörigen des Laienstandes die Wahrnehmung genuin geistlicher Aufgaben, wie etwa die Nutzung des Ambos zur Predigt, die Einforderung karitativer Abgaben oder die Erteilung von Ablässen. Die vorliegenden Anordnungen stehen im Zusammenhang mit den Bemühungen des Erzbischofs, alle nicht regulierten, religosenähnlich organisierten Gemeinschaften, wie beispielsweise die Klausner, Beginen und Begarden, den Terziarenorden anzuschließen. Die Terziaren- oder Drittorden hatten sich in Ansätzen bereits im 11. Jahrhundert im benediktinischen Bereich herausgebildet. Ihre eigentliche Blüte erlebten sie seit dem 13. Jahrhundert, als nicht regulierte Büßergemeinschaften den Bettelorden der Franziskaner und der Dominikaner angeschlossen wurden. Bereits der vierte Ordensmeister der Dominikaner, Munius von Zamora, hatte im Jahr 1285 eine Terziarenregel erarbeitet. Sie wurde jedoch erst 1405 durch Papst Innozenz VII. bestätigt. In deren 22 Kapiteln wurden die grundlegenden Missions-, Buß-, Heiligungs- und Gebetsverpflichtungen der Hauptregel auch für die Terziarenorden verbindlich vorgeschrieben.52 Ebenso wie die Maßnahmen des Kölner Erzbischofs Dietrich II. von Moers bestätigt auch der Zeitpunkt der Approbation der dominikanischen Terziarenregel das vitale Interesse der Konziliaristen und der observanten Mönche, nicht regulierte geistliche Gemeinschaften einer bewährten Regelobservanz zuzuführen.
III. Fazit: Der Codex 132 als diözesaner Zeuge bedeutender ordenstheologischer Impulse zur Kanonikerreform – Eine benediktinische Geschichtskritik an der Amtsführung des Erzbischofs Ruprecht von der Pfalz Der Codex 132 der Kölner Dombibliothek entstand im Zeitalter der großen Kirchenreform des 15. Jahrhunderts, die in einer engen Wechselbeziehung zu den bedeutenden Observanzreformen in den kirchlichen Orden stand. Die Auftraggeber wollten den kirchenrechtshistorischen Nachweis führen, dass die Reformstatuten der Kölner Erzbischöfe zeitübergreifend in dem Bestreben geeint sind, ordenstheologische Reformen auf die Observanz des ———— 52
Vgl. zu diesen Hintergründen der Terziarenorden, ihrer Gründung und Geschichte die Angaben bei L. Lehmann, Terziaren, Terziarinnen, in: W. Kasper (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche 9 (2000), Sp. 1349-1351.
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Stiftsklerus zu übertragen oder aber von erzbischöflicher Seite Klosterreformen zu initiieren. Die Tatsache, dass die Statuten des Erzbischofs Ruprecht von der Pfalz den letzten im Codex 132 enthaltenen Komplex bilden, gibt den Hinweis auf die Entstehung der Handschrift im Umfeld seiner Amtszeit. Kompliziert ist die Frage nach der parteilichen Zuordnung des Codex innerhalb des Konflikts zwischen Erzbischof Ruprecht und dem Kölner Domkapitel, der im Jahre 1473 mit der offenen Revolte der Domherren und der Wahl des Hermann von Hessen zum Stiftsverweser seinen Höhepunkt erreichte. Der in der Intitulatio gegebene Hinweis auf den Stiftskanoniker Fredericus de Scheytterhusen al. de Nuss dürfte mit großer Sicherheit darauf hinweisen, dass die leitende Idee hinter der im Codex 132 niedergelegten Statutensammlung eher die Haltung und den Anspruch des Domkapitels oder seines Umfeldes widerspiegeln dürfte als die Position des Erzbischofs. Auslöser des Konfliktes zwischen dem Kapitel und Ruprecht war dessen Politik der Steuererhöhungen zur Schuldentilgung, die er ab 1470 rigide vollzog. Zwar hatte das Domkapitel im Jahre 1469 der neuen, von Ruprecht erarbeiteten Verwaltungsordnung für das Erzstift noch zugestimmt. Die in diesem gebilligten Rahmen von Seiten des Erzbischofs konkret ergriffenen Maßnahmen der Erhebung einer Landsteuer, des gegenüber den Gläubigern ausgeübten Zwangs zum Abschluss günstigerer Schuldverträge sowie der mehrfachen Verpfändung von Territorien lehnte das Kapitel dagegen energisch ab. Ruprechts letzter großer Erfolg in der Phase der noch friedvollen Kooperation mit dem Domkapitel war die im Jahre 1469 vollzogene Unterstellung aller Kölner Benediktinerklöster unter die Bursfelder Reformkongregation. Diese Maßnahme einer durch den Erzbischof herbeigeführten klösterlichen Observanzreform, die sich auch auf die Regelbeachtung des Stiftsklerus positiv auswirkte, konnte in Köln eine Tradition vorweisen. Im Bereich des benediktinischen Ordenswesens sowie gleichzeitiger Reformen im Ordensund Stiftsklerus besaß sie ihren geistigen Vater in dem bedeutenden Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden. Dennoch fällt an dieser Stelle ein merkwürdiger Bruch in der Systematik des Codex 132 auf. Während die Rechtserlasse Konrads von Hochstaden ebenso wie diejenigen seiner Nachfolger ein deutliches Interesse an der Ausdehnung klösterlicher Reformziele auf den Bereich des Stiftsklerus erkennen lassen, spiegeln die Statuten Ruprechts keinerlei Tendenz dieser Art wider. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der von ihm im Jahre 1469 in Köln herbeigeführten benediktinischen Observanzreform merkwürdig. Der
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Inhalt der Statuten Ruprechts erschöpft sich vielmehr in einer rechtsgeschichtlich instruktiven, im Übrigen aber aus dem Rahmen fallenden Regelung prozessualer Fragen, die in der Amtszeit des Erzbischofs tatsächlich das Bild der alltäglichen Amtsangelegenheiten bestimmt haben dürften. Insoweit wird Ruprecht innerhalb des Codex 132 gegenüber der eigentlichen Erwartung höchst negativ vom Wirken seiner Amtsvorgänger abgesetzt. Besonders deutlich fällt dabei der Vergleich Ruprechts mit Konrad von Hochstaden als dem im Codex 132 zuerst zu Wort kommenden geistigen Vater der älteren benediktinisch geprägten Kloster- und Stiftsreform in Köln während des 13. Jahrhunderts aus. Anders als diese zeitigte Ruprechts benediktinische Reform infolge der katastrophalen Lage des Erzstifts keinerlei Auswirkungen im Bereich des Stiftsklerus. Die Frage nach den geistigen Vätern dieses Programms verweist nicht allein auf die Ziele des Konziliarismus. Die Programmatik der Statuten stellt sich viel deutlicher als ein Resultat desjenigen benediktinischen Geschichts- und Regelverständnisses dar, von welchem bereits in den einleitenden Überlegungen zum 73. Kapitel der Regula Benedicti die Rede war. Insoweit könnte die im Codex 132 vorgenommene negative Kontrastierung des Konrad von Hochstaden und des Ruprecht von der Pfalz die dortige Statutensammlung als Kritik von benediktinischer Seite an der ungünstigen Überlagerung der Bursfelder Reformziele durch das ausufernde Prozesswesen der Amtszeit Ruprechts erscheinen lassen. Dass die den einzelnen Erzbischöfen im Codex 132 zugeordneten, ordenstheologisch beeinflussten Statuten in diesem Rahmen ausschließlich ein kirchenrechtshistorisches Konstrukt der humanistischen Geisteswelt des 15. Jahrhunderts darstellten, sei mit dieser These nicht gesagt. Aufgrund der historisch belegten Nähe zahlreicher Kölner Erzbischöfe zu großen Orden dürfte der im Codex 132 nachgezeichneten „historia“ ordenstheologischer Einflüsse auf die Kanonikerreform durchaus ein hoher historischer Wahrheitsgehalt innewohnen. Inwieweit diese Linie aber durch das humanistische Geschichtsbewusstsein systematisiert und weitergehend ausgestaltet wurde, muss im Ergebnis offen bleiben.
Brandkatastrophe und Solidarität, Marktsanierung und Gottesfrieden. Kölns Take-off unter Erzbischof Sigewin (1079-89) von Manfred Groten
1. Die Brandkatastrophe „Wenn wir schon zu jeder Zeit Gott wegen unserer und der übrigen Christen Verfehlungen inständig anflehen müssen, so müssen wir umso eifriger Gottes Milde anrufen, so oft wir von den Widerwärtigkeiten der Welt betroffen werden, damit die unverdiente Gnade Gottes die Qualen, die wir zu Recht in dieser Welt erdulden, zu mildern und durch das gütige Geschenk der Liebe abzuwenden geruhe. Rascher aber wird Gott den Zorn seines Unmuts gegen uns mildern, wenn wir zu unserer Hilfe seine Heiligen und Auserwählten mit demütiger Verehrung anrufen. Das haben wir bei der Ankunft des heiligen Kunibert, unseres Patrons, an jenem Tage offenkundig erfahren, an dem wir – leider durch unsere Sünden verursacht – das Kloster der heiligen Gottesmutter zu den Stufen vor unseren Augen niederbrennen sahen. Es fing an jenem Tag auch das Haus des heiligen Petrus an der Ostseite Feuer, so dass schon ein Teil des Klosters niedergebrannt war und die Brüder und die Bürger der Stadt in Verzweiflung gerieten und wegen der drohenden Feuersbrunst schon die Ausstattungsstücke aus der Kirche brachten. Da kam aber die Gemeinschaft des heiligen Kunibert, und als sie den Körper dieses unseres heiligsten Patrons seufzend und unter Tränen in das Haus des heiligen Petrus dem Feuer entgegen trugen, da ließ vor unseren Augen, die wir zugegen waren, durch Gottes Gnade das Feuer und der Brand vom Haus des heiligen Petrus ab, wodurch der Herr wahrhaftig bezeugte, dass wir durch die Verdienste des heiligen Kunibert von der Gefahr des Brandes befreit worden sind.“ 1 Das Entsetzen über die Brandkatastrophe und die Verwunderung und Freude über die unverhoffte Rettung der Kölner Domkirche vor der völligen Zerstörung spricht deutlich aus dem ausführlichen Bericht, der die Urkunde einleitet, mit der Erzbischof Sigewin dem hl. Kunibert durch reiche
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Rheinisches Urkundenbuch. Ältere Urkunden bis 1100, 2 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 57) bearb. von Erich Wisplinghoff, Düsseldorf 1994, Nr. 267. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter 1 bearb. von Friedrich-Wilhelm Oediger (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21), Bonn 1954-61, Nr. 907 (im Folgenden zitiert: REK), Nr. 1138.
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Schenkungen seinen Dank abstattete. Die Schenkungen erfolgten am 18. Februar und am 4. März 1080. Kurz vor dem früheren Datum wird das von Erzbischof Anno II. vollendete Stift Mariengraden in Schutt und Asche gesunken sein.2 Der Wiederaufbau konnte 1085 mit der Neuweihe der Kirche abgeschlossen werden.3 Dass die Kanoniker von St. Kunibert mit den Reliquien ihres Patrons dem Feuer trotzten, bezeugt ihren tiefen Glauben an die Kraft des Heiligen, dem sie die Fähigkeit zutrauten, aus dem Jenseits in die Geschicke der Welt einzugreifen.4 Der oben zitierte Text lässt aber auch erkennen, dass ihnen dieses Werk des Glaubens äußerste Kraftanstrengung und Risikobereitschaft abverlangte. Die Kanoniker machten es sich nicht leicht, aber sie hatten Erfolg. Das Wunder, das der hl. Kunibert 1080 wirkte, ist keineswegs einmalig. Es gibt zahlreiche Berichte über die Macht der Heiligen über das Feuer. Ein weiteres Kölner Beispiel liefert die Vita Annonis.5 Als im Jahre 1070 Erzbischof Anno im Begriff stand, die Jakobskapelle beim Stift St. Georg zu weihen, brach eine „gefräßige Feuersbrunst“ aus, zu deren Bekämpfung fast alle Teilnehmer die feierliche Handlung verließen. Als sie nach dem Löscheinsatz zurückkehrten, stellte sich heraus, dass das Feuer in der Zwischenzeit wieder aufgeflammt war. Der Erzbischof, dessen Heiligkeit die Vita erweisen will, forderte die Menge daraufhin auf, mit ihm die Weihehandlung zu vollenden und das Lob Christi um keiner Gefahr willen abzubrechen. Die Menge gehorchte, und tatsächlich erlosch das Feuer durch göttliche Einwir-
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Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 2, 3 Ergänzungsband (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz 7, 3) bearb. von Ludwig Arntz, Heinrich Neu, Hans Vogts, Düsseldorf 1937, S. 5- 28, Toni Diedrich, Stift – Kloster – Pfarrei. Zur Bedeutung der kirchlichen Gemeinschaften im Heiligen Köln, in: Köln. Die Romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg (Stadtspuren 1) hrsg. von Hiltrud Kier und Ulrich Krings, Köln 1984, S. 32f., Helmut Fußbroich, St. Maria B. V. ad Gradus im selben Band S. 557-561, Frank G. Hirschmann, Stadtplanung, Bauprojekte und Großbaustellen im 10. und 11. Jahrhundert. Vergleichende Studien zu den Kathedralstädten westlich des Rheins (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 43), Stuttgart 1998, S. 48 -51. Konrad Bund bereitet eine größere Veröffentlichung vor, vgl. einstweilen ders., Eine Glocke braucht ihren Turm – die untergegangene Kölner Stiftskirche St. Mariengraden und ihr Geläute (Kölner Glocken und Geläute des Mittelalters V). Ein doppeltes Jubiläum und eine schmerzliche Erinnerung, in: Jahrbuch für Glockenkunde 19/20 (2007/08), S. 27-58. Zur Lage des Stifts vgl. Hermann Keussen, Topographie der Stadt Köln im Mittelalter, 2 Bde., Bonn 1910, Nachdruck Düsseldorf 1986, Bd. 2, S. 302f. Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie Anm. 1), Nr. 278. Dort Hinweis auf den Brand: sed exigentibus peccatis ex combustione in cineres redactum. Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 102 -122. Vita Annonis I, 34, MG SS 11, S. 481, REK 1, Nr. 992 zu 1070 (im Regest ungenau referiert). Zu den Wundern Annos vgl. Uta Kleine, Gesta, Fama, Scripta. Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis (Beiträge zur Hagiographie 7), Stuttgart 2007, S. 75-122, 159 -188, 231-282.
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kung, als ob Wasser darauf gegossen worden wäre. So wurden die Verdienste des heiligmäßigen Erzbischofs offenbar. Erzbischof Sigewin sah die Ursache des Brandes von Mariengraden im Zorn Gottes über die Sündhaftigkeit der Menschen, der er sich auch selbst verfallen wusste. Nur die Gnade Gottes, erwirkt durch die Verdienste der Heiligen, verhinderte das Schlimmste. Dass diesem göttlichen Gnadenwirken kein Automatismus innewohnte, hatten Sigewin und seine Zeitgenossen wenige Jahre zuvor erfahren müssen. Am Osterfest 1076 brannte die Peterskirche in Utrecht, in der Bischof Wilhelm in Anwesenheit König Heinrichs IV. den Bann über Papst Gregor VII. verkündet hatte, im Gefolge eines Blitzeinschlags nieder.6 Angesichts der ungeheuerlichen Anmaßung des Königs und des Bischofs hatte Gott seinen Zorn nicht gemäßigt. Bischof Wilhelm war bald nach der Brandkatastrophe gestorben. Im Köln war man dagegen noch einmal davongekommen, aber der Schock musste tief sitzen, denn auch Erzbischof Sigewin hielt König Heinrich die Treue und stellte sich damit gegen Papst Gregor und seine Anhänger. Sigewin war um den Jahreswechsel 1078/79 von Heinrich IV. zum Erzbischof von Köln bestimmt worden.7 Im Gegensatz zu seinem unrühmlichen Vorgänger Hildolf 8 war er vermutlich Rheinländer 9 und als Domdekan mit den Kölner Verhältnissen seit Jahren gut vertraut.10 Die Vita Annonis berichtet, dass Anno Sigewins Erhebung auf den Kölner Bischofsstuhl vorausgesehen und ihn gepriesen habe: Ecce vere Israhelita in quo dolus non est (Joh. 1, 47).11 Sigewins Investitur entsprach jedoch nicht den Anforderungen, die Gregor VII. an die Amtseinführung eines Bischofs stellte. Dennoch ließ der Papst die Sache in der Schwebe, weil er noch Hoffnung auf eine gütliche Einigung mit dem König hatte.12 Sigewin hat sein ungeklärtes Verhältnis zu Gregor VII. klaglos hingenommen. Bis zu seinem Lebensende
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Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V. 2, Berlin 1894, S. 660-662. REK 1, Nr. 1133. Tobias Wulf, Erzbischof Siegwin von Köln. Ein Beitrag zur Geschichte des Erzbistums Köln im 11. Jahrhundert, in: Geschichte in Köln 50 (2003), S. 9-35. REK 1, Nr. 1111-1113, Hanna Vollrath, Erzbischof Hildolf von Köln (1075-1078): „Häßlich anzusehen und von erbärmlicher Gestalt“. Eine Fallstudie zum Konzept von kanonischer Wahl und Reformfeindschaft im Investiturstreit, in: Köln, Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters, Festschrift für Odilo Engels zum 65. Geburtstag hrsg. von Hanna Vollrath und Stefan Weinfurter, Köln-Weimar-Wien 1993, S. 259- 281. REK 1, Nr. 1132. REK 1, Nr. 1070 (nach dem 23. Mai 1072). Vita Annonis II, 8, MG, SS 11, S. 486f. REK 1, Nr. 1135 (Juni 1079), dagegen heißt es in den Annalen Bertholds, er sei bald exkommuniziert worden (mox excommunicationi infelix subiacebat), vgl. Nr. 1133.
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ist er ein getreuer Gefolgsmann Heinrichs IV. geblieben.13 Unter seinem Stab blieb Köln eine unerschütterliche Bastion des salischen Königtums.14 Die Kirchenreformer fanden keinen Zugang zum konservativen Köln. Wie sich gleich zeigen wird, heißt das allerdings nicht, dass das innovative Potential der kirchlichen Reformideen oder die sie begleitenden neuen religiösen Ausdrucksformen an Köln spurlos vorbeigegangen wären. Die Parteigänger Papst Gregors VII. hatten 1077 Rudolf von Rheinfelden zum Gegenkönig gegen Heinrich IV. erhoben. Seither zerriss ein Bürgerkrieg das Reich. Am 27. Januar 1080 hatten das Heer Rudolfs bei Flarchheim an der Unstrut in Thüringen die Truppen Heinrichs IV. geschlagen.15 Die Nachricht über die Niederlage seines Königs mag Erzbischof Sigewin erreicht haben, kurz bevor der Brand in Mariengraden ausbrach. Die Frage, ob Sigewin und seine Gefolgsleute im Angesicht Gottes richtig handelten, musste angesichts der Zerrüttung des Reiches in aller Schärfe gestellt werden. Am 22. März 1080 weilte Erzbischof Liemar von Bremen zusammen mit Bischof Benno II. von Osnabrück in Köln.16 Liemar befand sich auf dem Weg zu König Heinrich, der in Lüttich das Osterfest feiern wollte, um über seine schmähliche Abweisung durch Gregor VII. in Rom zu berichten.17 Das schroffe Verhalten des Papstes gegenüber der hochrangigen königlichen Gesandtschaft zur Fastensynode verwies schon auf den erneuten Bannspruch über Heinrich IV., den Gregor am 7. März 1080 verkündete.18 Auch die römischen Ereignisse mussten Sigewin zu denken geben. Erzbischof Liemar und Bischof Benno fungierten als Zeugen für bedeutende Schenkungen Sigewins an den hl. Gereon und seine Gefährten.19 Auch den Elftausend Jungfrauen brachte Erzbischof Sigewin 1080 Geschenke dar, um ihre Fürbitten zu erlangen.20 Da die betreffende Urkunde am 9. November 1080 ausgestellt wurde, kann man die Schenkung an die heiligen Jungfrauen als ein Dankopfer für den glücklichen Ausgang der am 15. Oktober ausgetragenen Schlacht an der Grune zwischen den rivalisierenden Königen interpretieren. Erzbischof
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REK 1 Nr. 1142, 1144, 1163-1165, 1167, 1170, 1177, 1178. Ursula Lewald, Köln im Investiturstreit, in: Investiturstreit und Reichsverfassung (Vorträge und Forschungen 17) hrsg. von Josef Fleckenstein, Sigmaringen 1973, S. 373-393, Raymund Kottje, Zur Bedeutung der Bischofsstädte für Heinrich IV., in: Historisches Jahrbuch 97/98 (1978), S. 131-157, hier S. 143f. Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V. 3, Berlin 1900, S. 238-241. Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie Anm. 1), Nr. 261f. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 251. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 252- 256. REK 1, Nr. 1140, Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie Anm. 1), Nr. 261. REK 1, Nr. 1143, Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie Anm. 1), Nr. 332.
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Sigewin hatte an dem Feldzug teilgenommen und verlor bei der Plünderung des Lagers Heinrichs IV. durch die Sachsen sein Gepäck.21 Der zunächst siegreiche König Rudolf erlag nach dem Ende der Kämpfe seinen Verletzungen.22 Es dürfte nicht leicht fallen, ein Jahr zu finden, in dem die Kölner Heiligen so reich beschenkt wurden wie 1080. Am Ende dieses Jahres sah die Situation Heinrichs IV. und seiner Anhänger deutlich besser aus als zu Jahresbeginn. Das Gegenkönigtum war zunächst beseitigt, und am 25. Juni war mit Clemens III. ein Gegenpapst gewählt worden, der Gregor VII. den Stuhl Petri streitig machen sollte.
2. Die Solidarität Wie haben die Kölner auf die Brandkatastrophe von 1080 reagiert? Die Antwort könnte ein geheimnisvolles Pergamentblatt liefern, das bisher noch nicht in dem Zusammenhang betrachtet worden ist, in den wir es hier stellen wollen. Gemeint ist die „Kölner Namenliste“, die Wilhelm Levison in einer Londoner Handschrift entdeckt hat.23 Anhand identifizierbarer Namen ist diese Liste einhellig in die Zeit um 1080 datiert worden, also in die Zeit mit der wir uns hier beschäftigen. Das große Pergamentblatt (ca. 52 cm hoch, ca. 26 cm breit) ist einseitig in zwei Spalten beschrieben worden. Es enthält fast 400 24 männliche und weibliche Rufnamen in Blöcken angeordnet, denen als Überschriften oder Rubriken Namen von Kölner Stifts-, Kloster- und Pfarrkirchen vorangestellt sind. Einige Blöcke zeigen eine Binnengliederung durch das Freilassen von Zeilen. Da das Blatt am oberen Rand beschnitten worden ist, fehlen die Überschriften bei den ersten Blöcken der ersten und zweiten Spalte. Die Zuordnung dieser Blöcke lässt sich für Spalte I mit hoher Wahrscheinlichkeit, für Spalte II mit erheblich geringerer Sicherheit rekonstruieren. In den Zeilen 2 bis 4 der ersten Spalte finden sich mehrere Namen, die
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REK 1, Nr. 1142. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 337-341, 644 - 652. Wilhelm Levison, Eine Aufzeichnung über Kölner Kirchen aus dem 11. Jahrhundert, in: ZRG KA 6 (1916), S. 386 -391, ders., Eine Kölner Namenliste aus dem 11. Jahrhundert, in: AHVN 119 (1931), S. 164-169, Rudolf Schützeichel, Die Kölner Namenliste des Londoner Ms. Harley 2805, in: Namenforschung. Festschrift für Adolf Bach zum 75. Geburtstag am 31. Januar 1965 hrsg. von Rudolf Schützeichel und Matthias Zender, Heidelberg 1965, S. 95-126. Die Zahl bei Schützeichel (wie Anm. 23), S. 114. Schützeichel schließt aus dem Auftreten bestimmter Namen in verschiedenen Blöcken, dass einzelne Personen mehrfach eingetragen wurden. Ob das zutrifft, ist nicht zu klären.
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erzbischöfliche Kapläne der Zeit Sigewins tragen: Heinricus (Z. 2) 25, Thiederihc und Eiluechin (Z. 3) 26, Gezo (Z. 4). 27 Dieser Befund deutet darauf hin, dass der erste umfangreiche Namenblock der Kölner Domkirche zuzuordnen ist. Die Struktur dieses Block ist allerdings aufgrund von Textverlust schwer zu analysieren. Welche Bedeutung der Ortsname [R]ichelinchusen (wohl Recklinghausen) in Zeile 7 hat, ist nicht zu klären.28 Vielleicht gehört er gar nicht zum ursprünglichen Text. Er kann auf jeden Fall nicht als Überschrift für die folgenden Namen angesehen werden, weil sich unterhalb des Schriftzugs eine freie Zeile befindet, was bei den anderen Überschriften nicht der Fall ist. Der erste Block der zweiten Spalte ist bei weitem der umfangreichste der ganzen Liste. Der in Z. 5 genannte Wlfhart könnte einen Hinweis auf seine Zuordnung zu einer Kirche liefern.29 Ein Wolfhard hat vor 1106/21 ein Haus in der Witschgasse als Stiftung für sein Seelenheil dem Kloster St. Pantaleon vermacht.30 In der Überlieferung von St. Pantaleon tauchen auch die Namen Razo (Z. 5 und 19) 31 und Tiezo (Z. 7 und 13) 32 auf. Allerdings sind diese Namen häufiger belegt als der Name Wolfhard. Die wenigen Nachweise reichen nicht aus, um die Zuordnung zu St. Pantaleon zur Gewissheit zu erheben. Angesichts des regen Interesses der Kölner Bürger für die Verhältnisse in St. Pantaleon, das der Bericht Lamperts von Hersfeld über den Aufstand gegen Erzbischof Anno nach Ostern 1074 erkennen lässt 33, erscheint es aber nicht unwahrscheinlich, dass zahlreiche Namen gerade diesem Kloster zugeordnet werden.
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REK 1, Nr. 1147 (1081), 1150 (1079-83). REK 1, Nr. 1150 (1079-83). REK 1, Nr. 1147 (1081), 1174 (1085 ?), 1190 (1079-89). Schützeichel (wie Anm. 23), S. 99-102. Der Name ist auch in Z. 35 unter Klein St. Martin belegt. Die Urbare von S. Pantaleon in Köln (Rheinische Urbare 1, Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 20) hrsg. von Benno Hilliger, Bonn 1902, S. 87f. Nr. IV, vgl. auch S. 14 (Memorienkalender zum 12. Februar), 112 (Urbar A um 1225, zahlungspflichtig Gottschalk Overstolz und eine Witwe. Hilliger (wie Anm. 30), S. 88 Nr. IV, 89 Nr. V (unter Abt Gerhard 1123- 45, Razo und Bruder Tyezo). Hilliger (wie Anm. 30), S. 40 (Memorienkalender zum 14. Juni, Stifter einer Verkaufsbude [la]), 63, 113 (Urbar A um 1225), S. 89 Nr. V (unter Abt Gerhard 1123- 45). Lamperti monachi Hersfeldensis opera (MG SS rer. Germ. 38) hrsg. von Oswald Holder-Egger, Hannover 1894, S. 190. Vgl. auch Manfred Groten, Wurde das romanische Kölner Stadtsiegel im Kloster St. Pantaleon gestochen?, in: Colonia Romanica 1 (1986), S. 73-77. Vgl. allgemein Hans Joachim Kracht, Geschichte der Benediktinerabtei St. Pantaleon in Köln 965-1250 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 11, Siegburg 1975, Sebastian Ristow Die Ausgrabungen von St. Pantaleon in Köln. Archäologie und Geschichte von römischer bis in karolingisch-ottonische Zeit, Bonn 2009).
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Es ergäbe sich also folgende Verteilung der Kirchen: I 1 [Dom] 2 St. Aposteln, daneben 2a St. Johann [Baptist] 34 (Nachtrag) 3 St. Gereon 4 St. Kolumba 5 St. Severin (wiederholt am Ende der Spalte) 6 Groß St. Martin (Schottenkloster) 7 St. Ursula
II 1 [St. Pantaleon (Benediktinerkloster) ?] 2 Klein St. Martin 3 St. Cäcilia 4 St. Andreas 5 St. Alban
Die Reihung der Kirchen erscheint willkürlich. Verschiedene Kirchentypen treten gemischt auf. Die übliche Reihenfolge der Stiftskirchen nach ihrem Alter ist nicht beachtet worden.35 Auch topographische Gesichtspunkte spielen keine Rolle. Der gesamten Liste scheint also kein erkennbares Konzept zugrunde zu liegen. In ihr fehlt das vornehmste Kölner Damenstift St. Maria im Kapitol. Ebenso sind die Männerstifte St. Kunibert, St. Georg und Mariengraden nicht belegt, was bei letzterem angesichts seiner Zerstörung nicht verwundern muss. Bei den innerstädtischen Pfarrkirchen vermisst man St. Laurenz. Zu der Beschriftung des Blattes stellt Levison fest: „Die meisten [Personennamen] stammen von der Hand des ersten Schreibers, einzelne sind ausradiert, andere von verschiedenen, aber ziemlich gleichzeitigen Händen ergänzt; viele der Nachträge heben sich durch dunklere oder hellere Tinte ab, indem im übrigen die Hände oft kaum zu unterscheiden sind.“ 36 Der Schluss des Satzes enthüllt Levisons Ratlosigkeit. In der Tat lässt die verfügbare Abbildung des Blattes 37 keine durchgehende Anlagehand erkennen. Es scheint eher so zu sein, dass fast jeder Block von einer neuen Hand geschrieben worden ist, zu deren Eintragungen oft Ergänzungen von anderen Händen hinzukommen. Dieser Befund ließe sich durch die Annahme erklären, das Blatt sei an einem zentralen Schreibort angelegt, dann im Umlaufver-
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Recte = Stift, kursiv = Pfarrkirche. Manfred Groten, Prioren und Domkapitel von Köln im Hohen Mittelalter, Beiträge zur Geschichte des kölnischen Erzstifts und Herzogtums (Rheinisches Archiv 109), Bonn 1980, S. 38. Levison, Namenliste (wie Anm. 23), S. 165. Schützeichel (wie Anm. 23), nach S. 104.
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fahren 38 bei einzelnen Kirchen ergänzt und schließlich am Ursprungsort eine Zeit lang von verschiedenen Händen fortgeschrieben worden. Die Namenliste stellt im Rahmen der pragmatischen Schriftlichkeit in Köln im späten 11 Jahrhundert ein völliges Unikum dar. Vergleichbare Aufzeichnungen kennen wir aus den Gruppeneinträgen in den süddeutschen Verbrüderungsbüchern.39 Für Köln muss die Anlage der Namenliste jedoch als erklärungsbedürftiger Sonderfall gewertet werden. Nur ein außergewöhnliches Ereignis kann Anlass zu einer solchen schriftlichen Fixierung von Personennamen gegeben haben. Die Anlage eines so einzigartigen Dokuments war nur an einem leistungsfähigen Schreibort möglich, an dem mehrere Schreiber zur Verfügung standen. Eine solche Gruppe von Schreibern stellten in Köln nur die erzbischöflichen Kapläne dar, die in fast allen Urkunden Sigewins als Zeugen auftreten.40 Es ist daher zu vermuten, dass die Namenliste in der Umgebung des Erzbischofs und vielleicht auch in seinem Auftrag entstanden ist. Der Erzbischof kann aber nicht der alleinige Initiator der Namensammlung gewesen sein. Zu welchem Zweck die Namen aufgezeichnet worden sind, geht aus der Liste nicht hervor. Dass jedoch ein religiöser Kontext anzunehmen ist, kann man aus der Tatsache schließen, dass nicht nur Namen von Männern aufgeführt werden, sondern auch von Frauen, die in weltlichen Angelegenheiten nicht öffentlich auftreten konnten. Die Beteiligung von Geistlichen und Laien weist in dieselbe Richtung. Geistliche und Laien erscheinen in der Liste grundsätzlich von einander getrennt. Das zeigt sich bei St. Ursula, wo Frauennamen mit Mehthilt an der Spitze durch zwei Leerzeilen von gemischten Männer- und Frauennamen abgesetzt sind. Bei der genannten Mechtild dürfte es sich um die 1080 belegte Äbtissin von St. Ursula handeln 41, bei den übrigen Namen dann wohl um Kanonissen. Die abgesetzten gemischten Namen gehören demgegenüber Laien. Bei St. Andreas sind vier Männernamen von einem gemischten Namenblock abgehoben. Bei dem an erster Stelle genannten Karl handelt es
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Ein schlüssiger Beweis für diese Hypothese lässt sich nicht erbringen, weil als Vergleichsmaterial aus den einzelnen Kirchen nur Urkunden zu Verfügung stehen, die in diplomatischer Minuskel geschrieben sind, während die Namenliste Gebrauchsschrift/ Buchschrift zeigt. Der Namenblock von St. Gereon lässt sich nicht mit der Hand identifizieren, die die Urkunde für St. Gereon von 1080 (Historisches Archiv des Erzbistums Köln, Pfarrarchiv St. Gereon A I 1, vgl. Anm. 19) geschrieben hat. Vgl. Holger Schmenk, Die frühmittelalterlichen Gedenkbücher des Bodenseeraums, Marburg 2003. REK 1, Nr. 1138 -1140, 1143, 1147, 1149, 1151, 1155, 1161, 1162, 1174, 1175, 1181-1183, 1190. REK 1, Nr. 1143. Gertrud Wegener, Geschichte des Stiftes St. Ursula in Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 31), Köln 1971, S. 182.
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wohl um den Dekan von St. Andreas.42 Zu St. Cäcilia werden nur Frauennamen aufgeführt. An zweiter Stelle steht der Name Hathewihc, den zwischen 1089 und 1094 die Äbtissin dieses Stiftes trug.43 Bei St. Gereon sind nur Männernamen angegeben, beginnend mit Werenbolt, 1080 als Dekan des Stiftes bezeugt.44 Bei den Männerstiften fällt auf, dass deren Vorsteher, die im Priorenkolleg organisierten Pröpste, nicht in Erscheinung treten. Die Namen von Laien sind in der Liste deutlich in der Überzahl. Die Bewegung, die die Namenliste dokumentiert, wurde also in hohem Maße von Laien getragen, die zu bestimmten Kirchen in Beziehung traten. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass alle in der Liste belegten Kirchen Pfarrrechte hatten. Dass das Stift Mariengraden keine Pfarrrechte besaß, könnte demnach ebenso wie seine Zerstörung 1080 für sein Fehlen in der Liste verantwortlich sein. Einige der Stifte hatten zwar die Pfarrseelsorge in eigene Annexkirchen ausgegliedert, die Namenliste zeigt aber deutlich, dass die Gläubigen sich um 1080 noch den Patronen der Stiftskirchen am stärksten verbunden fühlten. So erscheinen in der Liste Laien unter der Rubrik St. Andreas, obwohl die Kirche St. Paul, in der der Pfarrgottesdienst gefeiert wurde, zu dieser Zeit wohl schon existierte.45 Anders lagen die Verhältnisse allerdings in der Innenstadt. In den von der Römermauer umschlossenen Stadtkern reichte die Sogkraft der Stifte kaum hinein. Hier konnten die Pfarrkirchen Zentren des religiösen Lebens werden. So erscheinen St. Kolumba und St. Alban in der Namenliste.46 Einen Sonderfall stellt die auf dem südlichen Teil des Marktgeländes vor der östlichen Mauer der Römerstadt gelegene Pfarrkirche Klein St. Martin dar.47 Ihre Pfarrrechte leiteten sich, wie noch am Ende des 13. Jahrhunderts in einem Prozess festgestellt wurde 48, vom Stift St. Maria im Kapitol ab. Der rasante Ausbau des Marktviertels im 11. Jahrhundert überforderte offenbar das vom hohen Adel dominierte Damenstift, das den Pfarrgottesdienst in
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Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie Anm. 1), Nr. 243 (undatiert, vor 1083), REK 1, Nr. 1204 (1091), 1212 (1094). REK 1, Nr. 1211, Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie Anm. 1), Nr. 251. REK 1, Nr. 1139f. Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie Anm. 1), Nr. 241 (2. Hälfte des 11. Jhs.). Karte der mittelalterlichen Kölner Pfarrsprengel bei Hermann Jakobs, Verfassungstopographische Studien zur Kölner Stadtgeschichte des 10. bis 12. Jahrhunderts, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 60 (1971), S. 49-123, hier S. 99. Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 2, 3 Ergänzungsband (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz 7, 3) bearb. von Ludwig Arntz, Heinrich Neu, Hans Vogts, Düsseldorf 1937, S. 74- 85, Keussen, Topographie 1 (wie Anm. 2), S. 55b6. Hermann Keussen, Der Rotulus von S. Maria im Kapitol vom Jahre 1300, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 35 (1914), S. 95-211.
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einer kleinen Kapelle in der Immunität lesen ließ.49 Es war wohl Erzbischof Anno, der den veränderten Verhältnissen durch die Errichtung einer neuen Pfarrkirche am Rande des Marktes Rechnung trug. Dass Klein St. Martin in annonischer Zeit gegründet worden sein muss, und nicht erst um 1080, wie es in der Literatur meistens heißt 50, ergibt sich aus der starken Repräsentation dieser Kirche in der Namenliste, die nicht zu einer Kirche in der Aufbauphase passt. Für die durchgängig behauptete maßgebliche Beteiligung der Bürger an der Errichtung von Klein St. Martin gibt es übrigens in den Quellen keine Anhaltspunkte. Es handelt sich um eine unzulässige Rückprojektion spätmittelalterlicher Zustände in das 11. Jahrhundert. Damit entfallen auch alle Überlegungen bezüglich des Entwicklungsgrads bürgerlicher Vergemeinschaftungen, die an diese Annahme geknüpft worden sind. Die räumliche und ständische Distanz zu St. Maria im Kapitol ließ auch Klein St. Martin zu einem Zentrum religiösen Lebens der Stadtbewohner werden. Die „splendid isolation“ des Stifts könnte auch erklären, warum St. Maria im Kapitol in der Namenliste fehlt. Das Stift übte vermutlich wenig Anziehungskraft auf die Laien in seiner Umgebung aus. Die topographische Verteilung der Namenblöcke zeigt, mit einer möglichen Ausnahme, eine deutliche Konzentration auf den östlichen Teil des Stadtzentrums: Der verstümmelte Block für den Dom weist noch 15 Zeilen auf, der für Groß St. Martin 12 Zeilen. Bei den Pfarrkirchen stehen unter St. Kolumba 16 Namen, unter St. Alban 13, unter Klein St. Martin 40. Die Peripherie ist weit schwächer repräsentiert. Bei St. Aposteln und St. Severin sind je ein Name verzeichnet, bei der Pfarrkirche St. Johann Baptist 2. Bei St. Caecilia und St. Gereon sind offenbar keine Laien eingetragen worden. Etwas besser sieht es im nördlichen Umfeld der Römerstadt bei St. Andreas und St. Ursula aus. Dieser Bereich war offenbar dichter besiedelt als das südliche Vorfeld der Stadt, wo auch das nicht vertretene Stift St. Georg lag. Allerdings fehlt am Rande der nördlichen Peripherie auch St. Kunibert. Sollte der mit noch 32 erhaltenen Zeilen größte Block der Liste tatsächlich St. Pantaleon zuzuordnen sein, würde die Bedeutung dieses Siegburger Reformklosters eindrucksvoll in Erscheinung treten. Anders als die anderen Konventualkirchen, die aufgrund ihrer Pfarrrechte Laien aus ihrem Umfeld an sich binden konnten, erstreckte sich die Anziehungskraft von St. Pantaleon
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St. Noitburgis, vgl. Keussen, Rotulus (wie Anm. 48), S. 106. Jakobs, Studien (wie Anm. 46), S. 109-114, Hugo Stehkämper, Die Stadt Köln in der Salierzeit, in: Die Salier und das Reich 3 hrsg. von Stefan Weinfurter unter Mitarbeit von Hubertus Seibert, Sigmaringen 1991, S. 75 -152, hier S. 117, Hirschmann, Stadtplanung (wie Anm. 2), S. 63f.
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über die gesamte Stadt. Schenkungen an das Kloster 51 bestätigen diesen Befund ebenso wie die prominente Vertretung der klösterlichen Ministerialen in der städtischen Führungsgruppe im 12. Jahrhundert.52 Was hat nun zahlreiche Laien veranlasst, sich an bestimmte Kirchen (in einer für uns nicht näher bestimmbaren Form) zu binden und diesen Akt sogar schriftlich festhalten zu lassen? Angesichts der formalen Ähnlichkeit der Namenliste mit dem Quellentyp der Verbrüderungsbücher könnte man an eine Gebetsverbrüderung denken. Eine so große Verbrüderungsbewegung, wie sie die Liste dokumentiert, muss von einem bestimmten Ereignis ausgelöst worden sein. Als ein solch aufrüttelndes Ereignis kommt ganz gewiss der Brand von Mariengraden 1080 in Frage. Die oben geschilderte Krisensituation könnte Erzbischof Sigewin durchaus zu einem Aufruf an die Bevölkerung Kölns verlasst haben, Gott für sein gnädiges Wirken zu danken und für die Zukunft in gesteigertem Maße seine Gnade zu erflehen. Die Resonanz zeigt, wie empfänglich die Kölner für einen solchen Appell waren. In Köln gab es also durchaus ein Publikum für die Klagen über die Vergänglichkeit und Sündhaftigkeit der Welt, die die Kirchenreformer angestimmt hatten. Als Heilmittel predigten sie Buße und Umkehr. In der deutschen Memento-mori-Dichtung wurde dieses Lebensgefühl in die Laienwelt vermittelt.53 Es kontrastierte mit der weltzugewandten Aufbruchstimmung, die von den durch das hochmittelalterliche Klimaoptimum verbesserten Lebensbedingungen befeuert wurde.54 Das späte 11. Jahrhundert war eine von jähen Stimmungsumschwüngen charakterisierte Umbruchzeit. Das scheint in milderer Form auch für die durch die Namenliste dokumentierte Aktion zuzutreffen. Wie die freigelassenen Zeilen innerhalb der Namenblöcke anzeigen, war die Liste auf Zuwachs angelegt. Man ging also davon aus, dass die Bewegung weiter anwachsen würde. Wie die verbleibenden Lücken zeigen, hat man die Nachhaltigkeit der Mobilisierung der Bevölkerung jedoch überschätzt. Das könnte die Folge eines bald nach dem Beginn der Namensammlung einsetzenden Stimmungsumschwungs gewesen sein. Im Laufe des Jahres 1080 besserte sich die Lage für die Anhänger
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Hilliger (wie Anm. 30), Nr. IV (erschlossene Datierung 1106 -21), V (erschlossene Datierung 112345). Manfred Groten, Die Kölner Richerzeche im 12. Jahrhundert. Mit einer Bürgermeisterliste, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 48 (1984), S. 34-85, hier S. 62. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 6 (1986), Sp. 381-386. Vgl. auch Manfred Groten, Die Arengen der Urkunden Kaiser Heinrichs IV. und König Philipps I. von Frankreich im Vergleich, in: Archiv für Diplomatik 41 (1996), S. 49- 72, besonders S. 55. Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, S. 61 (1. Warmphase 1021- 40, 2. Warmphase 1080-1120), 72 (Winterverhältnisse).
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Heinrichs IV. tatsächlich in gewissem Umfang. Auf der Synode von Brixen im Juni wurde ein Gegenpapst gewählt, der der königlichen Partei von höchster Warte kirchliche Legitimation verleihen konnte. Mit dem Tod Rudolfs von Rheinfelden nach der Schlacht an der Grune vom 15. Oktober erlosch zunächst das Gegenkönigtum. Damit mag sich die düstere Stimmung verflüchtigt haben, die im Frühjahr 1080 eine Bußbewegung in Leben gerufen hatte. Welchen sozialen Status die in der Namenliste verzeichneten Männer und Frauen hatten, lässt sich aus der Quelle nicht ermitteln. Es erscheint verlockend, in ihnen Angehörige des Meliorats, der primores 55, zu sehen, die sich mit der städtischen Geistlichkeit verbunden hatten. Zur Vorsicht mahnt allerdings die Feststellung, dass die in den Urkunden Sigewins als Zeugen genannten Laien, die nicht dem Adel zuzurechnen sind, seien es Ministerialen oder Bürger, soweit sie seltenere Namen tragen (Wichman, Ratere 56, Hupreht, Giselbreht 57, Amelricus, Otto, Burchardus 58, Adelricus, Marcmannus 59, Volradt, Megenzo 60), nicht in der Namenliste auftauchen. Außer dem häufig belegten Rufnamen Ludolf kommen auch die in der ältesten erhaltenen Schöffenliste von 1103 überlieferten Namen nicht vor.61 Die unter St. Andreas genannte Bezela (II, Z. 51) könnte die als Mutter eines Heinrich 1083 belegte gloriosa matrona sein.62 Insgesamt liegt der Anteil der Frauennamen bemerkenswert hoch. Mit mindestens 180 Einträgen macht der Frauenanteil der Namenliste knapp die Hälfte des erhaltenen Gesamtbestandes aus. Dieser Befund bezeugt eine starke religiöse Mobilisierung von Frauen in der Stadtbevölkerung, die schon auf die im frühen 12. Jahrhundert erkennbare große Popularität der Siegburger Reformbewegung bei den Kölner Frauen verweist.63
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Stehkämper, Köln (wie Anm. 50), S. 111-114, Manfred Groten, In tanto tumultu rerum. Die Bürger von Brügge in Galberts Bericht über die Ermordung Graf Karls von Flandern 1127, in: Vielfalt der Geschichte. Lernen, Lehren und Erforschen vergangener Zeiten. Festschrift für Ingrid Heidrich zum 65. Geburtstag hrsg. von Sabine Happ und Ulrich Nonn, Berlin 2004, S. 126-140, S. 132-136. REK 1, Nr. 1138 (1080). REK 1, Nr. 1143 (1080). REK 1, Nr. 1155 (1083). REK 1, Nr. 1161 (1084). REK 1, Nr. 1172 (1085). Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter 2 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21) bearb. von Richard Knipping, Bonn 1901, Nr. 28. REK 1, Nr. 1155. Vgl. Manfred Groten, Reformbewegungen und Reformgesinnung im Erzbistum Köln, in: Reformidee und Reformpolitik im spätsalisch-frühstaufischen Reich (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 68), Mainz 1992, S. 97-118, hier S. 107f. und allgemein den Beitrag von Franz J. Felten, Frauenklöster und -stifte im Rheinland im 12. Jahrhundert im selben Band S. 189 300.
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Für die weitere Argumentation ist es hier nicht erforderlich, sich auf die Deutung der Namenliste als Zeugnis für eine Gebetsverbrüderung festzulegen. Für die stadtgeschichtliche Auswertung des Dokuments genügt es, von einer Solidargemeinschaft von Klerus und Volk von Köln zu sprechen. Wir haben auf jeden Fall das vor uns, war Jan Dhondt als solidarité bezeichnet hat. Unter Solidaritäten versteht er mehr oder weniger beständige, mehr oder weniger fest gefügte Gruppierungen, die auf Dauer oder für kurze Zeit gemeinsam handeln, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.64 Eine solche Definition hat den Vorteil, dass sie von den rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen der Gemeinschaft absieht. Entscheidend ist die Feststellung, dass es um 1080 zu einem Schulterschluss der Kölner Kirche und der Kölner Stadtbevölkerung auf breiter Grundlage gekommen ist. Eine solche Solidaritätsbekundung war in Köln dringend erforderlich, nachdem das herrische Vorgehen Erzbischof Annos gegen die aufständischen Kölner deren Ehre tief verletzt hatte.65 Das in der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs neu erwachende kaufmännischbürgerliche Selbstwertgefühl passte nicht in Annos konservatives Weltbild, in dem Arbeit als Konsequenz des Sündenfalls „schändete“.66 In dem für ihn offenbar noch gültigen Konzept der funktionalen Dreiteilung der Gesellschaft in Geistliche (Beter), Adlige (Kämpfer) und Arbeiter wurde nicht zwischen armseligen Arbeitssklaven in der Landwirtschaft und weltweit agierenden Handelsherren unterschieden.67 Das haben die Kölner Kaufleute Anno nicht verziehen. Ihnen war nach dem bald auf die Niederschlagung
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Jan Dhondt, Les „solidarités“ médiévales. Une société en transition: la Flandre en 1127-1128, in: Annales 12 (1957), S. 529- 560, dort S. 537: [solidarités =] groupements plus ou moins permanents, plus ou moins cohérents, ..., [une solidarité ] agit collectivement, soit de manière permanente, soit à court terme en vue d’un objectif précis. Zum Verlauf des Aufstandes von 1074 vgl. REK 1, Nr. 1033. Die Literatur zu diesem Ereignis ist zu umfangreich, um sie hier zu zitieren. Die Bedeutung der Ehre hat Knut Görich in zahlreichen Studien herausgearbeitet, zuerst in Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert, Darmstadt 2001. Aus der Fülle der weiteren Publikationen sei nur verweisen auf Winfried Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmorde. Eine Geschichte der Ehre, Stuttgart 2010. Vgl. zu den verschiedenen Wertungen des Phänomens Arbeit Verena Postel, Arbeit und Willensfreiheit im Mittelalter, Stuttgart 2009. Otto Gerhard Oexle, Die funktionale Dreiteilung der ‚Gesellschaft‘ bei Adalbero von Laon. Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 154, ders., Deutungsschemata der sozialen Wirlichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens, in: Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme (Vorträge und Forschungen 35) hrsg. von František Graus, Sigmaringen 1987, S. 65-117, ders., Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters, in: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität hrsg. von Winfried Schulze, München 1988, S. 19-51.
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ihrer Empörung folgenden Tod des Erzbischofs kein Votum für die Heiligkeit des Kirchenfürsten zu entlocken. Die Mönche von Siegburg sahen sich veranlasst, in das Annolied ein Städtelob einzubauen (möglicherweise nachträglich 68), um die ablehnende Haltung der Kölner zu besänftigen.69 Unter dem von Heinrich IV. aus Trotz erzwungenen Regime Erzbischof Hildolfs wird sich das Verhältnis der Kölner Bevölkerung zur Kölner Bischofskirche kaum gebessert haben.70 Vor diesem Hintergrund kommt den Ereignissen von 1080 eine fundamentale Bedeutung zu. Letzten Endes dokumentiert die Kölner Namenliste die Aussöhnung zwischen Kölner Kirche und Kölner Bürgertum. Diese Aussöhnung war Voraussetzung für den Aufstieg Kölns zur führenden Wirtschaftsmacht des Reiches. Die Namenliste ist ein Zeugnis für die Solidarität von Klerus und Bürgerschaft in Köln, dem an Intensität kein anderes gleichkommt. Allerdings hat Hugo Stehkämper die engen Beziehungen zwischen den Kölner Bürgern und ihren Kirchen im 12. Jahrhundert minutiös dokumentiert.71 Die von Mathias Kälble für Freiburg und Gerold Bönnen für Worms herausgearbeitete Bedeutung solcher Beziehungen für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und Verfassung scheint allerdings für Köln auf längere Sicht geringer zu veranschlagen sein.72
3. Die Marktsanierung Das gute Verhältnis zwischen Erzbischof Sigewin und den Kölner Bürgern war die unabdingbare Voraussetzung für ein Großprojekt, dessen Spuren die Grabung auf dem Heumarkt zutage gefördert hat.73 Es handelt sich um eine durchgreifende Sanierung der großen Fläche des Heumarkts (und wohl
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Vgl. meine Rezension zu Stephan Müller, Vom Annolied zur Kaiserchronik, Heidelberg 1999, in: Geschichte in Köln 49 (2002), S. 267-269. Das Annolied hrsg. von Eberhard Nellmann, Stuttgart 1975, S. 12 (ab Strophe 8)-16. Vgl. oben Anm. 8. Hugo Stehkämper, Bürger und Kirchen in Köln im Hochmittelalter (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 45), Köln 2007. Mathias Kälble, Bruderschaft und frühe Stadtgemeinde. Zu den fratres de Friburch im St. Galler Verbrüderungsbuch, in: ... in frumento et vino opima. Festschrift für Thomas Zotz zu seinem 60. Geburtstag hrsg. von Heinz Krieg und Alfons Zettler, Sigmaringen 2004, S. 111-126, Gerold Bönnen, Gemeindebildung und kommunale Organisation in Worms und Speyer (1074 bis ca. 1220), in: Rheinische Vierteljahrsblätter 74 (2010), S. 19-56, hier S. 30-34. Nico Aten, Gjergj Frasheri, Franz Kempken, Marion Merse, Ausgrabungen auf dem Heumarkt in Köln. Zweiter Bericht zu den Untersuchungen von Mai 1997 bis April 1998, in: Kölner Jahrbuch 31 (1998), S. 514-520.
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auch des Altermarkts) in Form einer Erhöhung des Bodenniveaus um etwa 70 cm durch die Aufbringung von Kies und Erde. Von Brücken überspannte Entwässerungskanäle sorgten für einen trockenen Baugrund für Marktbuden, eine von Nordwest nach Südost führende Straße verbesserte die Verkehrsführung auf dem Markt. Durch die Niveauerhöhung wurde der Marktplatz in gewissem Umfang besser vor Rheinhochwasser geschützt. Die Baumaßnahmen bedurften der Genehmigung des Erzbischofs, dem bei seiner Investitur das Marktrecht als Regalienrecht vom König verliehen wurde.74 Es ist aber kaum vorstellbar, dass der Erzbischof der alleinige Initiator der Marktsanierung war. Man darf vielmehr davon ausgehen, dass auch die Kölner Kaufleute ein vitales Interesse am guten Zustand des Marktgeländes hatten. Sie mögen auch bereit gewesen sein, ihren Beitrag zur Beseitigung von Mängeln zu leisten. Eine finanzielle Beteiligung der Bürger an dem Sanierungsprojekt musste dem Erzbischof vor allem willkommen sein, weil die Mittel seiner Kirche schon in eine andere Großbaustelle flossen, nämlich den Wiederaufbau von Mariengraden.75 Die Aufhöhung der Marktfläche erforderte eine enorme technische und logistische Leistung. Gewaltige Mengen Kies und Erde mussten außerhalb der Stadt, vermutlich auf Gütern der Kölner Kirche, gefördert und auf die Marktfläche aufgebracht werden. Befestigung und Entwässerung der riesigen Fläche stellen keine geringe Ingenieurleistung dar. Die Arbeiten mussten möglichst ohne große Beeinträchtigungen der drei jährlichen Messen zu Ostern, Petri Kettenfeier (1. August) und um St. Severin (Ende Oktober) organisiert werden.76 Das war nur im Einvernehmen zwischen dem Marktherrn und den Kaufleuten möglich. Die Marktsanierung lässt sich mit der Methode der Dendrochronologie genau bestimmen. Untersuchte Bauhölzer, die bei der Grabung geborgen wurden, erlauben eine Datierung auf das Jahr 1082.77 Damit wurde das Großprojekt bald nach dem Schulterschluss von Kirche und Bürgerschaft im Jahre 1080 in Angriff genommen. Das Gelingen des Sanierungsprojekts lässt auf eine effektive Organisation der Kölner Kaufleute untereinander schließen. Ob diese Organisation sich spontan im Zuge der Arbeiten entwickelte oder ob sie schon in Gestalt einer Gilde vor 1082 bestand, lässt sich nicht klären. Die Kölner Kauf-
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Zwei Jahrtausende Kölner Wirtschaft 1 hrsg. von Hermann Kellenbenz, Köln 1975, S. 93, 113 (Edith Ennen). Hirschmann, Stadtplanung (wie Anm. 2), S. 15- 65 zu Köln. Zwei Jahrtausende (wie Anm. 74), S. 113f. (Edith Ennen). Aten u.a. (wie Anm. 73), S. 515.
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mannsgilde ist erst im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts sicher bezeugt 78, aber ihre Anfänge reichen zweifellos weiter zurück. Die Marktsanierung von 1082 könnte ihre erste große Bewährungsprobe gewesen sein. Hohe Aufwendungen für die Verbesserung der Infrastruktur konnten nur Sinn haben, wenn die Auslastung des Marktes gut war und mit einer weiteren Steigerung des Warenumschlags gerechnet wurde. So kann man die Maßnahmen von 1082 wohl als ein Indiz für das Aufblühen des Kölner Zwischenhandels werten. In der Zeit Erzbischof Sigewins wurden die Fundamente für die Kölner Wirtschaftsmacht des Hochmittelalters gelegt.
4. Der Gottesfriede Zur Vervollständigung des hier gezeichneten Bildes muss noch der Kölner Gottesfrieden von 1083 einbezogen werden.79 Vorbild für diesen Frieden war derjenige, den Bischof Heinrich I. von Lüttich mit den bedeutendsten Adligen seines Bistums ausgehandelt und am 27. März 1082 (Sonntag Oculi) verkündet hatte.80 In den schwärzesten Farben malt der Geschichtsschreiber Ägidius von Orval gestützt auf ältere Quellen vor 1251 die Zustände, die den Bischof dazu veranlassten, das in Frankreich entwickelte Instrument des Gottesfriedens zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung in seiner Diözese einzusetzen.81 Der Friede verbot das Tragen von Waffen und
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Zwei Jahrtausende (wie Anm. 74), S. 128f. (Edith Ennen). Franz-Reiner Erkens, Sozialstruktur und Verfassungsentwicklung in der Stadt Köln während des 11. und frühen 12. Jahrhunderts, in: Die Frühgeschichte der europäischen Stadt im 11. Jahrhundert (Städteforschung A43) hrsg. von Jörg Jarnut und Peter Johanek, Köln-Weimar-Wien 1998, S. 169-192, hier S. 182f., geht vom Bestehen der Gilde schon zum Jahre 1074 aus, allerdings ohne schlagende Argumente. Die einzige Quelle für die Kölner Gilde ist die Gildeliste des 12. Jahrhunderts, ediert bei Kölner Schreinsurkunden des zwölften Jahrhunderts, 2 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 1) bearb. von Robert Hoeniger, Bonn 1884-1894, Bd. 2,2, S. 46- 57. Hans-Werner Goetz, Der Kölner Gottesfriede von 1083, Beobachtungen über Anfänge, Tradition und Eigenart der deutschen Gottesfriedensbewegung, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 55 (1984), S. 39-76. Die jüngste Arbeit zum Thema Paul Christian Schwellenbach, Untersuchungen zum Kölner Gottesfrieden von 1083. Ursprung, Inhalt und Wirkungsgeschichte, Saarbrücken 2009, geht auf die hier behandelten Zusammenhänge nicht explizit ein. Das liegt daran, dass er wichtige Literatur übersehen hat. Er stellt den Gottesfrieden in den Zusammenhang des Verfalls der lothringischen Herzogsgewalt. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 467-469. Druck MG Const 1 S. 603 Anm. 1 nach MG SS 25, S. 90. Zum Gottesfrieden allgemein vgl. Werner Goetz, Kirchenschutz, Rechtswahrung und Reform. Zu den Zielen und zum Wesen der frühen Gottesfriedensbewegung in Frankreich, in: Francia 11 (1983), S. 193-239, The Peace of God. Social Violence and Religious Response in France around the Year 1000 hrsg. von Thomas Head und Richard Landes, Ithaca-London 1992, Thomas Head, The Development of the Peace of God in Aquitaine
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Kampfhandlungen an bestimmten Wochentagen und Heiligenfesten sowie im Advent, in der Weihnachts-, Fasten-, Oster- und Pfingstzeit. Gegen Friedensbrecher sollten die Adligen, die den Gottesfrieden beschworen hatten, mit Waffengewalt vorgehen. Brach ein Freier den Frieden, verlor er sein Erbe und wurde aus der Lütticher Diözese verbannt. Heinrich von Lüttich hatte nicht die Absicht, die Autorität Heinrichs IV. in Frage zu stellen, der wie seine Vorgänger den Anspruch erhob, der oberste Hüter des Friedens in seinem Reich zu sein. Dass der Bischof treu zum König stand, geht aus der Tatsache hervor, dass Heinrich IV. im Jahre 1080 das Osterfest (12. April) in Lüttich feiern konnte, nachdem Papst Gregor VII. am 7. März zum zweiten Mal den Bann über ihn verhängt hatte.82 Im Frühjahr 1081 war Heinrich IV. nach Italien gezogen, erst 1084 kehrte er ins Reich zurück. Der Bischof handelte im Einvernehmen mit dem jenseits der Alpen weilenden Herrscher, der seine Maßnahme ausdrücklich bestätigte.83 Im gleichen Sinne wurde auch Erzbischof Sigewin aktiv, indem er für seine Diözese auf einer Synode am 20. April 1083 einen Gottesfrieden nach Lütticher Muster errichtete.84 Was war die Ursache der von Ägidius von Orval geschilderten Tollwut, die das Land mit dem Blut ihrer Opfer überschwemmte? Im August 1081 hatten die Anhänger des Papstes Hermann von Salm, den Bruder Graf Konrads von Luxemburg, zum Gegenkönig gewählt.85 Hermann hatte zwar verwandtschaftliche Beziehungen zum kölnisch-niederländischen Raum, das Zentrum seiner Macht lag aber in Sachsen. Sein Bruder Konrad gehörte zu den Garanten des Lütticher Gottesfriedens.86 Eine krisenhafte Situation
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(970-1005), in: Speculum 74 (1999), S. 656- 686, Rolf Große, Der Friede in Frankreich bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, in: Von Sacerdotium und Regnum. Geistliche und weltliche Gewalt im frühen und hohen Mittelalter, Festschrift für Egon Boshof zum 65. Geburtstag hrsg. von Franz-Reiner Erkens und Hartmut Wolff, Köln-Weimar-Wien 2002, S. 77-110, Hans-Werner Goetz, Die Gottesfriedensbewegung im Licht neuer Forschungen, in: Landfrieden. Anspruch und Wirklichkeit (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N.F. 98) hrsg. von Arno Buschmann und Elmar Wadle, Paderborn 2002, S. 31-54. Vgl. allgemein Hartmut Hoffmann, Gottesfrieden und Treuga Dei (Schriften der MGH 20), Stuttgart 1964, Elmar Wadle, Die peinliche Strafe als Instrument des Friedens, in: Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 43) hrsg. von Johannes Fried, Sigmaringen 1996, S. 229247, Mihai-D. Grigore, Ehre und Gesellschaft. Ehrkonstrukte und soziale Ordnungsvorstellungen am Beispiel des Gottesfriedens (10.-11. Jahrhundert) (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2009. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 275f. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 469. REK 1, Nr. 1152 (Druck MG Const 1, S. 603- 605). Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 417f. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 469.
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entstand vor allem durch das Übergreifen eines von Westen vordringenden Strukturwandels adliger Herrschaft, der von Südfrankreich seinen Ausgang genommen hatte, in die Niederlande und das Rheinland. Durch den Bau von Burgen unterwarfen sich machtgierige châtelains die im Schatten ihrer Festungen gelegenen Landstriche und untergruben damit die Machtpositionen von Grafen und Herzögen.87 Die rheinischen Burgherren, die sich wie ihre französischen Standesgenossen stolz nach ihren Burgen nannten, z.B. Gerhard de Hostade, Wichmann de Hemmersbach, verweigerten den Besuch der gräflichen Gerichte, weil sie Gleichrangigkeit mit den Grafen beanspruchten.88 Diese Sezessionsbewegung bedrohte den Bestand der Grafschaften. Sie war von Fehden begleitet, die Bauern und Kaufleute gleichermaßen in Mitleidenschaft zogen. In einer Zeit, in der die Herrschaft König Heinrichs IV. auf schwachen Füßen stand, war der gesellschaftliche Wandel aber nicht aufzuhalten. Der Kölner Erzbischof Sigewin erkannte die Ansprüche der neuen Burgherren an und ließ ihre Beinamen in die Zeugenlisten seiner Urkunden aufnehmen.89 Mit der Errichtung des Gottesfriedens versuchte Sigewin die Gewalt einzudämmen. Dass die Gottesfrieden erfolgreich waren, lässt sich daran ablesen, dass der Lütticher 1155 von Friedrich Barbarossa bestätigt wurde 90 und auch der Kölner um diese Zeit noch wirksam war.91 Für die Bewohner Kölns waren die Gottesfrieden in zweierlei Hinsicht von existenzieller Bedeutung. Einerseits sorgte der Kölner Gottesfrieden für Ruhe im Umland der Stadt, aus dem sie Lebensmittel und Rohstoffe bezog. Für die Kölner Kaufleute war der Schutz der Rheinschifffahrt und der Landwege nach Westen und Osten unabdingbare Voraussetzung für ertragreiche Handelsgeschäfte. Die Kölner Messen konnten nur florieren, wenn die Sicherheit ihrer Besucher gewährleistet war. So schuf der Gottesfrieden von 1083 die Rahmenbedingungen für den Erfolg der Marktsanierung vom Vorjahr. Nach seiner Kaiserkrönung am 31. März 1084 kehrte Heinrich IV. nach Deutschland zurück.92 Dass er das erste Weihnachtsfest nach seiner Rückkehr in sein
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Thomas N. Bisson, The Crisis of the Twelfth Century. Power, Lordship, and the Origins of European Government, Princton/Oxford 2009 betont die Gewalttätigkeit dieses Prozesses der Herrschaftsbildung. Manfred Groten, Die Stunde der Burgherren. Zum Wandel adliger Lebensformen in den nördlichen Rheinlanden in der späten Salierzeit, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 66 (2002), S. 74-110. Groten, Burgherren (wie Anm. 88), S. 79 D FI Nr. 123 (7. September 1155): Renovamus etiam et confirmamus et imperiali auctoritate tenedam censemus et servandam pacem Henrici episcopi in Leodiensi episcopatu. Urkundenbuch der Abtei Steinfeld bearb. von Ingrid Joester (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 60), Bonn 1976, S. 603f., Nr. 1. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 571.
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Reich in Köln feierte 93, ist als Zeichen seines ungebrochen guten Verhältnisses zu Erzbischof Sigewin zu werten. Mit der Weihe des Neubaus von Mariengraden im folgenden Jahr 94 schließt sich der Kreis der hier betrachteten Ereignisse.
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Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 605, REK 1163. Vgl. Anm. 3.
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„Ich meyne nicht, daß man etwas schöneres sehen kann “. Die Rolle des Kurfürsten Clemens August bei der Wahl und Krönung seines Bruders Karl Albrecht zum römisch-deutschen König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches von Gisbert Knopp
Zu den Neuerwerbungen, die dem StadtMuseum Bonn zur Vervollständigung seiner kurfürstlichen Galerie zum Geschenk gemacht wurden, gehört auch ein kürzlich bei einer Auktion erworbener Kupferstich mit der Inschrift: Höchst-Feyerliche Crönung Ihro Majestät des Römischen Kaysers, CARLS des SIEBENDEN, in der St.Bartholomaei Stiffts- oder Dhom-Kirche, zu Franckfurt am Mayn den 12. Febr. 1742. Bezeichnet: I. G. Funck, Archit. Delin./ M. Rößler, delin. et sculpsit.
Der 30,5 x 39 cm große Kupferstich ist dem Wahl- und Krönungs-Diarium Karls VII. pag. 63 entnommen 1 (Abb. 1). Er gibt im Bild ein Ereignis wieder, auf das im Hause Wittelsbach seit Generationen hingearbeitet wurde: alles Sinnen und Trachten war auf dieses Ziel gerichtet. Dabei ist Clemens August, Kurfürst-Erzbischof von Köln und Hochmeister des Deutschen Ordens, Bruder des erwählten römisch-deutschen Königs, die eigentlich herausragende Figur während der Frankfurter Tage von der Wahl über die Salbung, die Krönung bis zur Huldigung. Der Fürst, der den Ernst diplomatischer Verhandlungen genauso wie die Festlichkeiten und das Spiel des Zeremoniells gleichermaßen einzusetzen wusste. Die Kaiserkrönung seines Bruders Karl Albrecht, die er als Consecrator selbst und als Coronator unter Assistenz der beiden anderen geistlichen Kurfürsten vornahm, war zweifellos auch sein höchster Triumph. Im farbenprächtigen Deckenfresko Carlo Carlones im Gardensaal von Schloss Augustusburg in Brühl ist die Verherrlichung des ———— 1
Genauer Titel: „Vollständiges Diarium Von den Merckwürdigsten Begebenheiten, Die sich vor, in und nach der Höchstbeglückten Wahl und Crönung Des Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten und Unüberwindlichsten Fürsten und Herrn, Herrn Carls des VII. Erwählten Kaisers, Zu allen Zeiten Mehrern des Reiches, in Germanien und Böheim Königs, in Ober- und Nieder-Bayern, auch der Oberen Pfaltz Hertzogs, Pfaltzgrafen bey Rhein, Ertz-Hertzogs zu Österreich, Landgrafen zu Leuchtenberg, etc. etc. etc. Im ganzen Heil. Röm. Reich, Und sonderlich in dieser Freyen Reichsund Wahl-Stadt Frankfurt am Main zugetragen, ...“ Buchdruck und Kupferstich auf Papier. Verlegt bei Johann David Jung, Frankfurt am Main, 1742.
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Clemens August in einer weiteren Stufe fortgeführt: Stand er im Treppenhaus als der ruhmreiche kurkölnische Herrscher aus dem Hause Wittelsbach im Mittelpunkt des Bildprogramms, so feiert das Fresko im Gardensaal den Höhepunkt in der Geschichte dieses Hauses: Das Kaisertum Karls VII. (Abb. 6). Eine wunderbare Charakterisierung des Clemens August stammt aus der Feder des Johann Michael von Loen, einem aus Frankfurt stammenden, vielgebildeten, hof- und welterfahrenen Aufklärer und Romanautor, der die Geschehnisse in Frankfurt, insbesondere den Einzug des Clemens August in die Stadt am 22. Januar 1722 minutiös schildert: „Der Churfürst von Cölln ist ein mächtiger Fürst. Er hat insonderheit als Bischoff von Münster grosse Einkünffte. Er sieht wohl aus, und ist von einem sehr gleichen Character. Er redet nicht viel, urtheilet aber desto gründlicher; seine Manieren sind leutselig. Er hat einen feinen Geschmack und weiß alles wohl anzugeben; Er liebet den Pracht und die Lustbarkeiten; allein ohne Unordnung, ohne Ausschweiffung. Sein Herz ist gut und großmüthig; wann er Fehler hat, so bedecken solche so vielerley Tugenden, daß man sie nicht wahrnimmt.“ 2 Unser Kupferstich zeigt eine, weitgehend den realen Gegebenheiten entsprechende Innenansicht des Frankfurter Domes, der Blick durch das Kirchenschiff zum Chor während der Krönungsfeierlichkeiten am 12. Februar 1742. Die dreischiffige Halle ist mit seitlichen Emporen für zusätzliche Sitzund Stehplätze der zahllosen Gäste hergerichtet, während das Mittelschiff den Funktions- und sonstigen Würdenträgern sowie Ehrengästen vorbehalten ist. Zentraler Ort des Geschehens ist die Vierung, die zum Chor hin nach Abbruch des Lettners mit einem Gitter abgeschlossen wurde. Unmittelbar davor war der silberne von einem Baldachin bekrönte Consecrations- und Krönungsaltar aufgebaut (bez. Nr. 4). Wände und Säulen sind geschmückt mit Gobelins, Bänke und Betstühle mit goldbordierten Tüchern überzogen. Im Zentrum des Bildes ist der Krönungsakt dargestellt: die Kurfürsten von Köln (Mitte) und Mainz (links) zusammen mit dem Ersten Wahlbotschafter Triers als Vertreter des Kurfürsten setzen dem Erwählten die Krone auf. Links und rechts stehen die Weihbischöfe, hinter dem zu Krönenden mit dem Rücken zum Betrachter die Äbte. Im großen Halbrund, ebenfalls mit dem Rücken zum Betrachter, verfolgen die Wahlbotschafter der weltlichen Kurfürsten den Krönungsakt. ———— 2
Brief Johann Michael von Loens, in: ders., Gesammelte kleine Schriften, besorgt und hrsg. von J. C. Schneider u.a., Frankfurt / Leipzig 1749-1752, Bd. II, S. 182-189, Zit. nach: Das Hofreisejournal des Kurfürsten Clemens August von Köln 1719-1745, hrsg. von Barbara Stolberg-Rilinger, bearb. von André Krischer, Siegburg 2000, Quellenanhang Nr. 9, S. 252.
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Die Darstellung des Stichs hält aber nicht nur den Augenblick der Krönung fest. Vielmehr zeigt sie auch den Erwählten in festlichem Ornat auf einem Betstuhl kniend vor der Krönung in der Mitte auf einem dreistufigen Podest herausgehoben (Nr. 9). Und als dritte Szene im Bild rechts (Nr. 6) ist der Gekrönte nach seiner Inthronisation auf dem Thronsessel sitzend bei Erteilung des Ritterschlags zu sehen, womit die gesamte Krönungszeremonie im Dom endet. Das Diarium gibt für die auf dem Kupferstich befindliche Nummerierung folgende Erläuterung: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.
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Der Hochaltar Eingang in die Sacristey Eingang in das Conclave oder Wahl-Capelle Consecrations-Altar Thron des Durchlauchtigsten Herrn Consecratoris Thron Ihro Majestät des Kaysers, allwo Sie nach der Crönung inthronisiert worden, und den Ritter-Schlag verrichtet haben Altar zur Credentz des Herrn Consecratoris zugerichtet Altar, worauf die Reichs-Insignien gelegen Bet-Stuhl Ihro Majestät des Kaysers vor der Crönung Bet-Stuhl Ihro Churfürstl Gnaden von Trier, wo Dero Erster Herr Botschaffter gesessen Bet-Stuhl Ihro Churfürstl. Gnaden von Mayntz Lange Bet-Banck für die Erste und Andere Geistliche Churfürstl. Herren Botschaffter Lange Banck für die Weltliche Erste und Andere Churfürstl. Herren Botschaffter Vier Tabourets von rothem Tuch mit wollenen Franzen für die assistierende Bischöffe Sechs Tabourets von rothem Tuch ohne Franzen für die assistierende Aebte Bet-Banck mit rothem Sammet und goldenen Borden überzogen, samt dergleichen 6 Küssen, für den Päbstl. Herrn Nuncium und Französischen Herrn Botschaffter Zwey Bäncke mit Teppichen überzogen, für die Reichs-Fürsten Eine Banck für die Frantzösisch-Dänisch- und Schwedischen accreditierten Ministers, mit Tuch überzogen Zwey Bäncke für die Reichs-Grafen Bäncke für die Kayserliche Ministres, Churfürstl. Geheime Räthe und fremde Ministres und Cavaliers Bäncke für hiesigen Stadt-Magistrat Lettner, worauf Ihro Maj. die Kayserin nebst des Cron-Printzen und Printzeßinnen Hoheiten, auch übrigen Durchlauchtigsten Personen von Dero Hause und sämtlichen HofDames, gestanden Lettner, worauf die Frantzösische und andere Botschaffterinnen, Dames und Cavaliers gewesen, unter welchen noch eine Loge von drey Stuffen für übrige Dames und Cavaliers befindlich. Etliche Staffeln für Cavaliers, sonderlich für diejenigen, so zu Rittern geschlagen worden.
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Die Vorbereitungen für das große Ereignis waren nach den exakten Vorstellungen und Vorgaben des Clemens August immens, konnten im Grunde genommen in dem kurzen zur Verfügung stehenden Zeitraum kaum bewältigt werden. Sie konnten eigentlich auch erst beginnen, als die Wahl des Bayerischen Kurfürsten Karl Albrecht gesichert war. Dabei mögen die vom französischen König Ludwig XV. entsandten Hilfstruppen zur Unterstützung der mit ihm verbündeten beiden Kurfürsten, Karl Albrecht und Clemens August, der gewünschten Kandidatenfindung Nachdruck verliehen haben. Clemens August fühlte sich offensichtlich als hauptverantwortlicher Organisator, jedenfalls für den kirchlichen Part, nachdem er sich von dem im 77. Lebensjahr stehenden Mainzer Kurfürsten, Philipp Karl von Eltz, das eigentlich diesem zustehende Amt des Coronators hatte übertragen lassen, womit gleichzeitig auch das Recht, die Krönungsmesse zu zelebrieren, verbunden war.3 Anfang Oktober 1741 – inzwischen waren 11 Monate nach dem Tod Karls VI. vergangen – gab Clemens August deshalb das Bischofsornat für die Krönungsfeierlichkeiten in Paris in Auftrag, was sich zu einem Politikum auswirken sollte.4 Die mit genauen Vorgaben versehene Bestellung umfasste 22 liturgische Gewänder mit entsprechenden Zubehörteilen – insgesamt 60 – vollständig mit Gold zu besticken und erging an den bayerischen Gesandten in Paris, Prince de Grimberghen. Um dem Ganzen den nötigen Nachdruck zu verleihen, wandte sich dieser an den Generalleutnant der Pariser Polizei und verlangte von ihm, durch seine Ordnungskräfte noch 60 zusätzliche Sticker rekrutieren zu lassen. Das gelang allerdings erst, nachdem der französische Außenminister eingeschaltet worden war und der König die Freiwilligkeit der Verpflichteten zur Bedingung gemacht hatte. So geschah das Unglaubliche, dass der ungeheuer große, nicht einmal für die französische Krone bestimmte Auftrag in höchstens vier Monaten fertig gestellt und auf die Reise in die Krönungsstadt Frankfurt gehen konnte. Zu den Krö———— 3
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Der Streit flackerte bei fast jeder Gelegenheit wieder auf, bis nach einem heftigen publizistischjuristischen Kampf seit den frühen 1650er Jahren – 1657 ein kurkölnisch-kurmainzischer Krönungsvergleich zustande kam, der dem jeweiligen Chef der Kirchenprovinz – in Franfurt also dem Mainzer Erzbischof – die Funktion des Coronators zusprach: Wolfgang Sellert, Zur rechtshistorischen Bedeutung der Krönung und des Streites und das Krönungsrecht zwischen Mainz und Köln, in: Herrscherweihe und Königskrönung im frühneuzeitlichen Europa, hrsg. von Heinz Duchhardt, Wiesbaden 1983, S. 2132. Über das Bischofsornat, die sog. Clementina vgl. das ebenso prächtige wie umfassende Werk von Dela von Boeselager, Capella Clementina Kurfürst Clemens August und die Krönung Kaiser Karls VII. (= Studien zum Kölner Dom 8), Köln 2001, hier S. 56ff.
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nungsfeierlichkeiten legten Clemens August das Pluviale mit Mitra und 19 Assistenten und Ministranten die für sie bestimmten Gewänder des Pariser Ornates an. Es ging dann später als „Capella Clementina“ in den Paramentenschatz des Kölner Domes ein und hält die Erinnerung an seinen Stifter und das denkwürdige Ereignis der Kaiserkrönung vom 12. Februar 1742 lebendig. Eine aus Anlass des 300. Geburtstages von Clemens August vom Landschaftsverband Rheinland veranstaltete Ausstellung mit dem vielsagenden Titel „Der Riss im Himmel“ brachte denn auch im Gardensaal von Schloss Augustusburg unter besagtem Fresko der „Verherrlichung des Kaisertums Karls VII.“ eine Inszenierung des Krönungsornates, bei dem auch die fünf zugehörigen Mitren gezeigt wurden: die am reichsten bestickte „Pretiosa“, die Clemens August bei der Krönungsmesse selbst trug, und die vier anderen, die er vor sich hertragen ließ, die Bischofsstühle von Münster, Paderborn, Hildesheim und Osnabrück symbolisierend 5 (Abb. 2). Zu dem in Paris eiligst bestellten Krönungsornat gehörte auch ein Thronsessel, reich geschnitzt und vergoldet, bestimmt nicht etwa für den zu krönenden Kaiser, seinen Bruder, sondern als prachtvollen Sitz für sich selbst, den Konsekrator. In der Krönungskirche fand er Aufstellung auf der Evangelienseite unter einem Baldachin – im Stich die Nr. 5. Als oberer Abschluss der Sesselbeine erscheinen vier Cherubim und auf der Rückenlehne, quasi als Trophäe, mehrere liturgische Geräte, eine Handwaschgarnitur, ein Altarkreuz, ein Zepter und eine Stola. Das Thronmöbel, von einem führenden Rokokokünstler in Paris entworfen, ist in den Schnitzereien das Werk des im Louvre ansässigen Bildhauers De Bruyne. Der Thronsessel gehörte ebenfalls zu der Schenkung des Clemens August an den Kölner Dom, gelangte aber während der Französischen Besatzungszeit 1804, aus welchen Gründen auch immer, an den Aachener Dom, wo er zeitweise als Bischofssitz diente.6 Der feierlichen Weihe und Krönung Karl Albrechts war seine Wahl vorausgegangen: im Gegensatz zu den Erbmonarchien war das Heilige Römische Reich deutscher Nation eine Wahlmonarchie, das Reichsoberhaupt durch Wahl zu ermitteln. Der Gewählte hieß bis zu seiner Krönung Römischer König und nahm erst nach diesem feierlichen Akt den Kaisertitel an. In der Goldenen Bulle von 1356 war der Wahlmodus im Einzelnen festge———— 5
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Dieselbe, Menschen und Mächte – Kurfürst und Politik. Die zwei Gesichter des Rokoko: Clementina Clementina, in: Der Riss im Himmel. Clemens August und seine Epoche. Katalog zum Gesamtprojekt, Köln 2000, S. 63 - 65. Dela von Boeselager (wie Anm. 4), S. 195ff.
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legt. Wahlberechtigt waren nur die Kurfürsten, die, um Doppelwahlen auszuschließen, mit Stimmenmehrheit wählen mussten. Der Mainzer Kurfürst als Erzkanzler des Reiches und Direktor des kurfürstlichen Kollegiums hatte bei jedem der Kurfürsten die Wahl anzukündigen und ein entsprechendes Einladungsschreiben zur Wahl in die freie Reichsstadt Frankfurt überreichen zu lassen. Die Kurfürsten konnten dann persönlich erscheinen, einen anderen Kurfürsten mit ihrer Stimme beauftragen oder eine aus drei Gesandten bestehende Wahlbotschaft schicken.7 Am 20. November wurden dann die „ordentlichen Wahl-Conferentzen“ in Anwesenheit des Mainzer Kurfürsten Karl Philipp im reich geschmückten Konferenzsaal des Frankfurter Römers eröffnet. Die kurfürstlichen Wahlgesandten fuhren – die vom Grafen Hohenzollern angeführte kurkölnische Gesandtschaft an der Spitze und der Mainzer Kurfürst am Schluss – in prächtigen sechsspännigen Kutschen und begleitet von Läufern, Lakaien und Heiduken in kostbarer Livree vor. In den folgenden Wochen traten die Gesandten zu 30 Wahlkonferenzen zusammen, bei denen es gelegentlich auch sehr hitzig um die Formulierung der einzelnen Artikel der Wahlkapitulation ging, die der neue Römische König, quasi als Voraussetzung für den Regierungsantritt, bei seiner Wahl zu beschwören hatte. Clemens August hatte durch sein persönliches Erscheinen in Frankfurt bereits am 9. Dezember versucht, das Wahlgeschäft zu beschleunigen und als Hochmeister des Deutschen Ordens durch eine besonders glänzende, repräsentative Hofhaltung in dem gegenüber dem Dom gelegenen Sachsenhäuser Deutschordenshaus, einer Kammerkommende des Deutschmeisters, Eindruck zu machen und durch Luxus und Freigebigkeit für sein Haus zu werben (Abb. 4). Feierlichen Einzug in Frankfurt mit allen Ehren, die ihm als Kurfürst und Hochmeister zukamen, hielt er erst am 22. Januar, zwei Tage vor dem offiziellen Wahltag. Mit unglaublichem und unvorstellbarem Aufwand suchte Clemens August in- und ausländische Besucher, Beteiligte sowie Zuschauer zu beeindrucken, was den bereits erwähnten Johann Michael von Loen zu den Bemerkungen veranlasste: „Ich meyne nicht, daß man etwas schöneres sehen kann“ und ———— 7
Zur Wahl und Krönung vgl.: Peter Claus Hartmann, Karl Albrecht – Karl VII., Regensburg 1985 S. 215-243. – Wahl und Krönung in Frankfurt am Main. Kaiser Karl VII. 1741-1745, hrsg. Rainer Koch / Patricia Stahl, Ausstellung Historisches Museum Frankfurt am Main, Bd. 1 Forschungsstand Bd. 2 Ausstellungskatalog, Frankfurt 1986. – Clemens August. Fürstbischof, Jagdherr, Mäzen. Katalog zu einer kulturhistorischen Ausstellung aus Anlass des 250jährigen Jubiläums von Schloß Clemenswerth, hrsg. vom Landkreis Emsland, Meppen / Sögel 1987, S. 413 - 440
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„Dieser Einzug dünkt mich das non plus ultra in der Art dieser Ceremonien zu seyn.“ 8 In einem 31 x 60 cm großen Kupferstich ist der Zug in allen Einzelheiten im Bild dokumentiert (Abb. 3). Nach dem Bericht des von Loen wurde der Zug von dem Reichs-Erbmarschall Graf von Pappenheim und der Stadtreiterei angeführt. Darauf kamen 50 „Handpferde“ und 27 Kutschen, alle mit sechs Pferden bespannt, welche den kurfürstlichen Ministern und hohen Herren des Hofes zustanden. Zwölf kurfürstliche Reitpferde erschienen dann. „Diese waren die schönsten Thiere, die man sehen konnte, und doch wußte man nicht, ob man ihren reichen Aufputz oder ihr stolzes Gewächs bewundern sollte.“ Es folgten 24 Kammerherren mit acht Trompetern und einem Pauker, dann fuhr eine „ prächtige Leibkutsche“ leer. Diejenige, worin der Kurfürst saß, war von besonderem Erfindungsreichtum: die französische Geschicklichkeit hatte darin die Schönheit mit dem Reichtum „auf das sinnreichste vereinbaret. Ihr Gebäude ist eigentlich nicht grösser, als andere Kutschen auch, allein die geschnitzten Zierrathen die man oben auf der Decke angebracht hat, haben sie dermassen erhöhet, daß man ... ein Thor [ Gallentor] in dieser Stadt hat tiefer graben und das Pflaster aufnehmen müssen.“ Das Diariium ergänzt die Schilderung insofern, als die Kutsche innen blaugrundiger Samt mit Goldstickerei schmückte und Clemens August ganz allein in ihr saß in „purpurrotem Talar “.9 Was hier mit „Talar“ bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit das Kurhabit, der Kurfürstenmantel mit großem Hermelinkragen und pelzverbrämten Rändern, dazu der Kurhut. Sechzig bewaffnete Trabanten in kostbarem Aufzug flankierten das kurfürstliche Gefährt, zwölf Edelknaben, spanisch gekleidet, ritten mit ihrem Hofmeister und zwölf Kammerdienern hinterher. Die Leibwache der Hatschiere mit Pauken und Tompeten und der Tross mit sechs Maultieren, die die Gepäckwagen zogen, bildeten den Schluss. Der eigentliche Wahlvorgang, verfassungsrechtlich der entscheidende Akt zur Bestimmung des neuen römischen Königs, künftigen Kaisers fand am 24. Januar 1742 statt. Die Kurfürsten von Mainz und Köln, die im Gegensatz zu den übrigen Kurfürsten persönlich anwesend waren, hatten ihr Kurfürsten-Ornat angelegt. Gegen 11 Uhr setzte sich der prächtige Zug mit rund 18 000 entsprechend festlich gekleideten Personen, Pferden und goldenen Kutschen in Bewegung vom Römer zum Dom. Während der greise Mainzer Kurfürst in einer rotsamtenen Sänfte getragen wurde, saß Clemens August in vollem Habit hoch zu Roß. Man begab sich in den mit kostbaren Gobelins ausgekleideten Chor der Kirche, wo der Kölner Kurfürst links ———— 8 9
Johann Michael von Loens (wie Anm. 2), S. 252. Diarium Karls VII. (wie Anm. 1) Bd. 2, S. 274- 279.
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neben dem Altar Platz nahm. Die kirchlichen Zeremonien wurden mit dem Veni Sancte Spiritus eingeleitet, worauf das eigentliche Hochamt de Sancto Spiritu gesungen wurde, so wie es in der Goldenen Bulle von 1356 vorgeschrieben war. Die protestantischen Gesandten verließen nach dem Evangelium ihre Plätze und hielten sich bis nach der Kommunion in einer Nebenkapelle auf. Nach dem Hymnus Veni Creatur Spiritus traten die Kurfürsten und ersten Wahlgesandten, einschließlich der Protestanten, vor den Altar, um, gemäß der Goldenen Bulle, den Eid abzulegen, dem christlichen Volk „ein weltlich Haupt zu wählen“. Nach der Eidesleistung begaben sich die Kurfürsten in das „Conclave“ in eine Nebenkapelle (Eingang im Stich Nr. 3), die vom Reichserbmarschall verschlossen wurde. Der Mainzer Kurfürst veranlasste nach festgelegter Reihenfolge die Stimmabgabe und verkündete in seiner Eigenschaft als Erzkanzler, dass in einstimmiger Wahl „im Namen des allmächtigen Gottes, der Durchlauchtigste Fürst und Herr, Herr Carl Albrecht, in Ober- und Nieder-Bayern, der Oberen Pfaltz Hertzog, Pfaltzgraf bey Rhein, des Heiligen Röm. Reichs Ertz-Truchseß und Churfürst ... zu einem Römischen König und künftigen Kayser erwehlet sei.“ Nachdem die bayerischen Botschafter die Annahme der Wahl erklärt hatten und für den abwesenden Electus die Wahlkapitulation beschworen hatten, wurde vor dem Dom das Wahlergebnis verlesen, und das Volk rief „Vivat Rex“ – diese Akklamation war seit Karl dem Großen ein wichtiger Rechtsakt zur Gültigkeit der Krönung. Der Bericht des mehrfach erwähnten Johann Michael von Loens scheint der eines Augenzeigen zu sein, der schildert, dass in dem Moment, als nachmittags 3 Uhr die Glocken läuteten und Kanonendonner zu hören war, jedermann wusste, dass Carl Albrecht „zum römischen König sey erwehlet worden“, es aber noch längere Zeit dauerte, bis einer zum Vorschein kam und seinen Namen öffentlich mit einem frohen Vivat ausrief. „Es schien als wollte der Pöbel, der auf dem grossen Platz stund, darzu genöthiget seyn. Die gut bayrisch Gesinnten winckten mit den Hüthen und schrien aus vollem Halse Vivat Carolus; allein das Volck machte nicht viel Bewegung. Man sahe wohl, daß es mit den Churfürsten nicht recht zufrieden war, daß sie nicht die Königin von Ungarn, die man hier vergöttert, zum Kayser erwehlet hatten.“ 10 Jedenfalls versucht der Chronist den Eindruck zu erwecken, als ob das Volk überrascht oder enttäuscht vom Wahlausgang gewesen sei. Hatte man ernstlich geglaubt, nach all’ den immensen geheimen und pompösen, öffentlich zur Schau gestellten Vorbereitungen des Kölner Kurfürsten Clemens ———— 10
Johann Michael von Loens (wie Anm. 2), S. 254.
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August für die Wahl seines Bruders, wäre das Wahlergebnis zu Gunsten Maria Theresias ausgefallen? Sechs Tage nach der Wahl erfolgte am 31. Januar 1742 der prunkvolle Einzug Karls VII., wie er sich jetzt nach der Wahl nannte, in Frankfurt, vom Pfälzer Vetter Karl Philipp als Reichsvikar in die Mainstadt gerufen. Er war ähnlich aufgebaut, wie der des Clemens August, nur durch die Beteiligung aller kurfürstlichen Wahlgesandtschaften ungleich reicher und größer. Der Weg führte den Erwählten in den Dom, wo er ins „Conclave“ geführt wurde, um persönlich die erarbeitete Wahlkapitulation zu beschwören und zu unterzeichnen. Es waren große Sorgen, politischer, aber auch persönlicher Art, die den Electus bedrückten und eine rechte Feststimmung nicht aufkommen ließen. Die Österreicher hatten inzwischen Braunau, die wichtigste bayerische Festung am Inn und die Stadt Burghaus im Osten Kurbayerns genommen. Die Vorstellung, ein Kaiser ohne Land und Hauptstadt zu sein, setzte ihm schwer zu: sein Gesundheitszustand verschlimmerte sich zusehends. Aber aus Furcht seine Feinde könnten noch vor der Krönung seine Wahl anfechten, wagte er es nicht, die feierliche Krönungszeremonie trotz seiner Leiden noch weiter hinauszuschieben.11 Für Clemens August lief währenddessen alles weiter auf Hochtouren. Nachdem die Reichskleinodien von Aachen und Nürnberg nach Frankfurt feierlich überführt worden waren, wurden aus der Goldenen Kammer des Kölner Domes die Mitra Pretiosa, der gotische Bischofsstab, die Schriften mit den Krönungstexten und das Kurschwert herbeigeholt. Weitere Gegenstände, wie die liturgischen Geräte, die Altarwäsche, die bischöflichen Untergewänder und sonstigen Pontifikalien, praktisch die gesamte Ausstattung für die Krönungsmesse, wurden offensichtlich aus der Hofkapelle der Bonner Residenz genommen. Vor dem Chor der Krönungskirche (Abb. 5) war unterdessen der „Consecrations-Altar“ (Nr. 4) errichtet worden, der nördliche Seitenaltar zur „Credentz“ des Konsekrators (Nr. 7) für die Ablage des Gewandes und der Lavabo Garnitur sowie der südliche für die Ablage der Reichs-Insignien (Nr. 8). Auf der Evangelienseite stand auch der Thronsessel des Clemens August (Nr. 5). Als Krönungstag war schließlich der 12. Februar festgelegt worden. Schon am Morgen begaben sich die Kurfürsten von Köln und Mainz im roten „Kurhabit“ zur Kirche, wo ihnen die Pontifikalgewänder für den ———— 11
Das Tagebuch Kaiser Karls VII. aus der Zeit des österreichischen Erbfolgekrieges, hrsg. von Karl Theodor Heigel, München 1883, S. 50.
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Empfang des Königs angelegt wurden. Clemens August trug über Soutane und Rochett den Chormantel mit dem Lamm, das Prunkstück aus dem Pariser Ornat, dazu besondere Strümpfe und Schuhe sowie Ring und Pectorale. Es war dies das auf mehreren Porträts festgehaltene, von Edelsteinen gerahmte Hochmeisterkreuz, das er ebenfalls eigens in Paris hatte anfertigen lassen. Die Krönungsfeier begann mit der Einholung des erwählten Königs. Den beiden Kurfürst-Erzbischöfen wurden die Insignien ihrer geistlichen und weltlichen Würden vorangetragen. Den Konsekrator Clemens August umgaben 35 Assistenten und Ministranten, einschließlich der Hofkapläne und Zeremoniare. Ein peinlicher Zwischenfall ereignete sich beim Einzug, als dem Vertreter des Erbschatzmeisteramtes die Krone – und zwar die altehrwürdige Reichskrone des 10./12. Jahrhunderts – vom Kissen rutschte, die Krone selbst zwar noch aufgefangen, aber der Kronenbügel zu Boden fiel und beinahe zertreten worden wäre.12 Am Altar angelangt, sprach der Konsekrator mehrere Fürbitten für den König, begab sich dann zu seinem Thron, wo er vor aller Augen das Pluviale gegen das Messgewand wechselte. Danach stimmte er die Messe „De Epiphania“ an, wie es „nach uhralten Aachischen Rituali “ Brauch war, und wie es für Clemens August in Verehrung der Heiligen Drei Könige sicherlich eine zusätzliche Freude gewesen sein mag. Im Anschluss an die Epistel, dem „scrutinium“, der Befragung des Königs nach seiner Rechtgläubigkeit, Treue gegen den Papst etc. und dem Treuebekenntnis von Fürsten, Klerus und Volk, nahm Clemens August mit Katechumenenöl die Salbung des Königs vor mit dem Zeichen des Kreuzes auf den Scheitel des Hauptes, der Brust, zwischen den Schultern, zwischen der flachen Hand und dem Gelenk des rechten Arms sowie auf den Handflächen. Nach Anlegung der Krönungsgewänder trat Karl Albrecht vor den Altar, wo er den „Säbel Karls des Großen“ – Symbol des Schutzherrn der Kirche empfing. Da man keinen Ring für den König bereit gelegt hatte, steckte Clemens August kurzerhand seinen eigenen Ring dem Bruder an den Finger.13 Dann wurden Szepter und Reichsapfel gereicht, und die Nürnberger Gesandten brachten den Königsmantel, der vom Vertreter des Erzkämmeres umgelegt wurde. Zu dem vor dem Altar auf einem golddurchwirkten Kissen Niedergeknieten traten die geistlichen Kurfürsten, Clemens August, der Mainzer ———— 12
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Hermann Uhde, Die Kaiserkrönung Karl’s VII. (1742). Nach dem Bericht eines Augenzeugen, in: Historisches Taschenbuch 5. Folge, Bd. 4 Leipzig 1876, S. 128, 129. Uhde (wie Anm. 12) S. 133.
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Kurfürst Philipp Karl sowie der Vertreter des Trierer Kurfürsten, Graf von Ingelheim, und setzten ihm gemeinsam (wie im Stich dargestellt unter Nr. 4) die Kaiserkrone auf das Haupt, entsprechend dem „Aachener Ordo“, in dem es heißt: simul superponat coronam regiam“ 14 (Abb. 5). In anderen Bildquellen krönt Clemens August alleine, die beiden anderen stehen assistierend zur Seite. Mit der Krone auf dem Haupt leistete Kaiser Karl VII. dann den Eid in lateinischer und – zum einzigen Mal während der ganzen Zeremonien – auch in deutscher Sprache, mit den zwei Fingern auf das aus den Zeiten Karls des Großen stammende Aachener Evangelienbuch. Nachdem Clemens August den Schlusssegen erteilt hatte, begab sich der Kaiser, angetan mit den Insignien des Reiches zu seinem Thron, wo er dann mit dem Schwert Karls des Großen an die 75 Herren und Grafen zu Rittern schlug (der Akt dargestellt im Stich unter Nr. 6). Damit war der eigentliche Krönungsakt beendet. Aber nach alter Tradition wurde der Kaiser noch vom Marienstift, dem zum Ende des 8.Jahrhunderts gegründeten Kollegiatstift in Aachen, „wie ein jeder römischer Kayser, gleich nach der Crönung“ zum Mit-Kanonikus aufgenommen und leistete den entsprechenden Eid.15 Der kirchlichen Feier schloss sich das nach altem kaiserlichen Zeremoniell veranstaltete Krönungsmahl im Römer an, wohin man in feierlichem Zug den unter einem Himmel schreitenden Kaiser begleitete, wobei die Kurfürsten von Köln und Mainz die Enden des Krönungsmantels hielten.16 Der Kaiser zeigte sich sodann in vollem Ornat mit Krone, Zepter und Reichsapfel am zweiten Fenster des Kaisersaales, um die in der Goldenen Bulle vorgeschriebene Ausübung der Erzämter zu sehen. Auch für das anschließende Krönungsmahl hatte die Goldene Bulle, um Unklarheiten und Streitigkeiten zu vermeiden, die Ausstattung – die kaiserliche Tafel vier Stufen, die der Kurfürsten eine höher –, Tischordnung und den zeremoniellen Ablauf im Einzelnen festgelegt. Das Bankett glich einem theatralischen Schauspiel, dem das Volk von einer Galerie zuschauen konnte: in drei Gängen wurden 12-13 Speisen gereicht. Karl Albrecht selbst war von der prunkvollen und aufwendigen Inszenierung der Feierlichkeiten sehr angetan und sicherlich auch tief bewegt, aber es waren andere Gründe, die die Festfreude des Kaisers ohne Stammland ———— 14
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Eduard Eichmann (Hrsg.), Kirche und Staat, Bd. 2: Von 1122 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (= Quellensammlung zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 2) Paderborn 1914, S. 65. Hartmann (wie Anm. 7), S. 238. Diarium Karls VII. (wie Anm. 1), S. 38ff. – Heigel, Tagebuch (wie Anm. 11), S. 51f.
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trübten. In sein Tagebuch schrieb er: „ich selbst würde nur sagen, dass nach allgemeinem Urteil niemals eine Krönungszeremonie glanzvoller und prächtiger war, als meine, wo Luxus und Überfluss in jeder Hinsicht die Vorstellungskraft überboten haben ... alle richteten die Augen auf mich, der ich zum einen die Herrlichkeiten der Kaiserwürde, zum anderen aber die lange Zeremonie und die schmerzhaften Nierensteine zu tragen hatte. Gerade in diesem erhabenen Moment fühlte ich mich, mehr denn je zuvor, als ein gebrechlicher Mensch, wie kein anderer den Schwächen der Welt ausgeliefert, die mir dem Scheine nach untertan war ... Mein Bruder, der Kurfürst von Köln, setzte mir die Krone aufs Haupt.“ 17 Die Krönung der Kaiserin aus dem verfeindeten habsburgischen Hause konnte gar erst wegen des fortdauernden schlechten Gesundheitszustandes Karls VII. am 8. März 1742 nachgeholt werden. Auch dieser kirchliche Akt wurde vom Schwager Clemens August unter Assistenz der Gesandten der beiden übrigen geistlichen Kurkollegen und der Fürstäbte von Fulda und Kempten als Erzkanzler bzw. Erzmarschall der Herrscherin vollzogen und mit feierlichen Aufzügen und einem Festmahl im Römer begleitet. Die Finanzierung seines Einzugs und des Aufenthaltes in Frankfurt hatte Clemens August mit ungeheuren Schulden bewerkstelligt, die ihn an den Rand der Kreditwürdigkeit gebracht hatten. Ökonomische Gesichtspunkte traten offensichtlich hinter denen, der Selbstdarstellung, der Zurschaustellung von Größe und Ansehen zurück, wenn es darum ging, die höchste Würde des Reiches für sein Stammhaus einzuholen.
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Heigel, Tagebuch (wie Anm. 11), S. 52.
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Abb. 1: Innenansicht des Frankfurter Domes bei der Krönung Karls VII. zum Kaiser am 12. Februar 1742. Kupferstich bez.: I. G. Funck, Archit. Delin./M. Rößler, del. et sculpsit. StadtMuseum Bonn
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Abb. 2: Krönungsornat, sog. Clementina. Inszenierung im Gardensaal von Schloss Augustusburg in Brühl während der Ausstellung anlässlich des 300. Geburtstages von Kurfürst Clemens August, Mai-Oktober 2000. (Foto: Jürgen Gregori, LVR Amt für Denkmalpflege im Rheinland)
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Abb. 3: Einzug des Kurfürsten Clemens August in Frankfurt am 22. Januar 1742. Kolorierter Kupferstich aus dem Diarium Karls VII., pag. 274, bez.: I.N. Lentzner, delin./M. Rößler fecit. Historisches Museum Frankfurt
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Abb. 4: Deutschordenshaus in Frankfurt-Sachsenhausen – Quartier des Clemens August während seines Aufenthaltes in Frankfurt. Federzeichnung, 1764/1784. Historisches Museum Frankfurt
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Abb. 5: Innenansicht des Frankfurter Domes bei der Krönung Karls VII. Kupferstich (Detail aus Abb. 1)
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Abb. 6: Verherrlichung des Kaisertums Karls VII. Ausschnitt aus dem Deckenfresko von Carl Carlone im Gardensaal von Schloss Augustusburg in Brühl (Foto: Florian Monheim)
Gebhard Truchseß von Waldburg als Studiosus von Hansgeorg Molitor
Gebhard Truchseß von Waldburg wurde von seinen Zeitgenossen als gebildeter, sprachkundiger Prälat und Fürst wahrgenommen. Von den Zeugen, die nach seiner am 5. Dezember 1577 erfolgten Wahl zum Erzbischof von Köln in einem außergewöhnlich gründlichen förmlichen Verfahren im Rahmen des vorgeschriebenen Informativprozesses von einem Sondergesandten des Papstes 1 in Köln verhört wurden 2, bekam er für das Maß seiner Treue zum katholischen Glauben und für seine Studien und seinen Bildungsstand Bestnoten, auch wenn er keine akademischen Grade vorzuweisen hatte. Doch über seinen schulischen und akademischen Werdegang wissen wir nur wenig. Das betrifft sowohl die Abfolge der Stationen und die Dauer des Aufenthaltes an den einzelnen Studienorten als auch die Lern- und Studieninhalte. Im Winter 1554/1555 hielten sich der gerade sieben Jahre alt gewordene Gebhard 3 und sein um ein gutes Jahr älterer Bruder Friedrich 4 in Dillingen auf. Sie wohnten unter Aufsicht ihres Präzeptors Kilian Blankenstein im Haus ihres Onkels, des Bischofs von Augsburg Otto Kardinal Truchseß von Waldburg, ein Bruder ihres Vaters.5 Dillingen war die zweite Residenz der Augsburger Bischöfe. Die Namen der jungen Truchsesse sind in der Matrikel der jungen Dillinger Universität 6 dieser und der unmittelbar folgenden Jahre jedoch nicht verzeichnet. ———— 1
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Giambattista Castagna, Nuntius beim Niederländischen Pazifikationstag 1579, der spätere Papst Urban VII. Er starb 12 Tage nach seiner Wahl am 15. September 1590 an Malaria. Die Befragung der sechs Zeugen fand zwischen dem 4. und 19. September 1579 statt. Die dritte der von Rom vorgeschriebenen 18 Fragen lautete: An sit peritus litterarum, et quibus studiis operam dederit et in quo loco. An sit doctor, vel licentiatus, et an in sacra pagina vel iure canonico. Joseph Hansen, Der Infomativprocess de vita et moribus des Kölner Erzbischofs Gebhard Truchsess. Mitt. aus dem Stadtarchiv Köln 7 (1892) S. 39- 66, hier S. 43- 44. Geboren 10. November 1547. Geburts- und Sterbedaten der Truchsesse von Waldburg, Trauchburg-Scheer’sche oder Jakobinische Linie, hier und im Folgenden nach Detlev Schwennicke (Hrsg.), Europäische Stammtafeln. NF, Bd. 5: Standesherrliche Häuser 1, Marburg 1988, Tafel 149. Geboren 4. August 1546. Joseph Vochezer, Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg in Schwaben, Bd. 3, Kempten u.a. 1907, S. 1. 1549 von Otto Kard. Truchsess von Waldburg als Collegium Ecclesiasticum gegründet, 1551 durch Papst Julius III. zur Universität erhoben, 1553 von Ks. Karl V. als solche bestätigt, 1563 den Jesuiten anvertraut. Andreas Bigelmair, Dillingen an der Donau. LThK, 2. Aufl., Bd. 3, Freiburg 1959, Sp. 391393, hier Sp. 392.
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Am 25. Juni 1557 wurden Friedrich, Gebhard und ihr jüngerer Bruder Karl 7 an der Universität Ingolstadt immatrikuliert.8 Auch im Sommer 1558 erscheinen die drei wieder in der Ingolstädter Matrikel. Ohne genaues Immatrikulationsdatum werden sie in der Gruppe der gräflichen Studenten aufgeführt.9 Außerdem belegt ein Brief ihres Präzeptors Spatius vom 27. November 1558 aus Ingolstadt an Vater Wilhelm ihre Präsenz daselbst.10 Dass Gebhard vom Sommersemester 1557 bis zum Wintersemester 1558/1559 in Ingolstadt Student war, scheint also gesichert. Am 6. November 1559 wurden Gebhard und Karl dann in die Matrikel der Dillinger Universität eingetragen.11 Weitere förmliche Einschreibungen dort fehlen. Doch gibt es einen Brief vom den 27. November 1560 an Wilhelm d. J. Truchsess von Waldburg 12, den Vater Gebhards, von Präzeptor Daniel Hieber, in dem sich dieser lobend über die Studien und das Betragen seines Schützlings Gebhard äußert.13 Ferner findet sich in der Matrikel die Bemerkung, Gebhard und Karl hätten zu Ostern 1561 an der Universität lateinische Gedichte rezitiert.14 Damit ist ein Studium von Gebhard und Karl Truchsesse von Waldburg ab dem Wintersemester 1559/1560 bis zum Wintersemester 1560/1561 in Dillingen belegt. Sollte einer der beiden jungen Truchsesse von Waldburg, die 1561 in Bourges studiert haben 15, Gebhard gewesen sein, dann wäre dies die nächste Station auf seinem Studienweg.16 Das nächste gesicherte Studiendatum ist die Immatrikulation Gebhards und seines rund vier Jahre jüngeren Bruders Christoph 17 an der Universität Löwen am 28. Mai 1563.18 Nach Aussage seines dortigen Hausgenossen ———— 7 8
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Geboren 7. August 1548. Götz von Pölnitz, Die Matrikel der Ludwig-Maximilians-Universität Ingolstadt-Landshut-München, Bd. 1 (Ingolstadt), 1 (1472 -1600), München 1937, Sp. 755. Ebd. Sp. 766. St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3 Nr. 1645. Thomas Specht, Alfred Schröder (Hrsg.), Die Matrikel der Universität Dillingen, Bd. 1, Dillingen 1909 (Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 2), S. 29. Die Forschung nennt ihn „den Jüngeren“, um ihn von seinem Vater gleichen Namens zu unterscheiden. J. Vochezer, Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg 3, S. 2. Ebd. Am 20. April 1561 schrieb Präzeptor Spatius aus Bourges an Wilhelm d. J. ohne Namensnennung, den beiden jungen Herren ginge es gut. Aus dem Jahr 1562 sind Briefe von Bruder Karl aus Dôle bezeugt. Ebd. Kein Beleg für einen Truchsess von Waldburg bei Winfried Dotzauer, Deutsche Studenten an der Universität Bourges, Meisenheim 1971. Geboren 24. August 1551. Christoph übernahm später die Leitung des Hauses Waldburg-Scheer. A. Schillings, Matricule de l’université de Louvain, Bd. 4 , Brüssel 1961, S. 655.
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Cunerus Petri 19 wohnten dieser und sein Bruder „über zwei Jahre“ mit ihm unter einem Dach.20 Gebhards Studium in Löwen hat demnach also bis zum Ende des Sommerhalbjahrs 1565 gedauert. Am 28. Februar 1568 wurde Gebhard als Schwabe (suevus) in die Matrikel der Universität Perugia eingetragen.21 Angaben zur Länge seines Aufenthaltes in Perugia oder gegebenenfalls auch anderen italienischen Universitäten fehlen.22 Im Folgenden seien einige Einzelheiten aus den Studientagen in Ingolstadt und von der Anreise zum Studium nach Löwen mitgeteilt.23 Im Sommer 1558 erreichten Wilhelm Truchseß von Waldburg auf seiner Burg Scheer 24 an der Donau zwei Briefe 25 seines Sohnes Gebhard aus Ingolstadt. Im Juni schrieb Gebhard an seinen Vater: Patri suo suavissimo filius dilectus S[alutem] D[icit] Pater charissime, si vales cum Matre, fratre ac sororibus meis, bene est, nos ad summum valemus, reddo te etiam certiorem, quod noster D[ominus] Praeceptor M[agister] Kilianus a nobis discedit et reverturus Dilingam, et illic iterum vult esse in colegio, quem non libenter dimisimus (sed laus deo) nos habemus iterum valde bonum Praeceptorem, qui me magnopere delectat. Vale et me habeas tibi comendtum. Ingolstadii 22 Junii Anno 1558 Tuus Filius Dilectus Gebhardus Baro. Der zweite Brief wurde im Juli geschrieben und lautet: Patri suo suavissimo filius dilectus S[alutem] D[icit] Tua valetudo dilectissime Domine Pater mihi fuit gratissima. Scias nos una cum Praeceptore nostro optime valere. Studebimus diligenter, et obediemus nostro Preceptori ut non frustra sint expensae, sed ut magnam adferant utilitatem, conabimur. Accepimus literas a matre nostra charissimas quae nobis voluptati ———— 19 20 21
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Im Informativprozess von 1579. J. Hansen, Informativprocess, S. 64. Fritz Weigle, Die Matrikel der deutschen Nation in Perugia (1579 - 1727), ergänzt nach den Promotionslisten und der Matrikel der Universität Perugia im Zeitraum von 1489-1791, Tübingen 1956 (Bibl.Dt.Hist.Inst.Rom 21), S. 146. Die undatierten Postscripta zu einem nicht bekannten Brief von Otto Kardinal Truchsess von Waldburg an seinen Hauspfleger erwähnt unser bruder seine sohn, die in Italien studieren. Sie sollten mit geringsten costen gehn Florenz komen (wohl wegen einer nahenden Florentinische unnd Ferrariesche hochzeit). Sein Bruder Wilhelm solle sich endlich entscheiden, ob er seine Söhne noch länger in NN (verderbt) lassen oder gehn Bononia oder Senis verschickhen welle. St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3 Nr. 1649. Alle dazu herangezogenen ungedruckten Quellen stammen aus dem Bestand Dep. 30/1 T 3 des Staatsarchivs Sigmaringen. Der Bestand ist nicht paginiert. Nur die einzelnen Konvolute, die oft viele Blätter umfassen, tragen Nummern. Die variierenden Schreibweisen der Quellen werden übernommen. In der heutigen Stadt Scheer, Kreis Sigmaringen. St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3 Nr. 1922.
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fuerunt. Vale amantissime domine Pater et me tibi comendatum sinas. Ingolstadii 22 Julii Anno 1558 Filius obedientissimus Gebhardus Baro dapifer hereditarius Gebhard war ganze zehn Jahre alt, als er die Briefe verfasste. Es sind dies wohl die frühesten uns erhaltenen Schreiben des späteren Erzbischofs und Kurfürsten von Köln. Schon ein Jahr früher war er zusammen mit seinen Brüdern Friedrich und Karl an der Universität Ingolstadt immatrikuliert worden.26 Mit der Einschreibegebühr von sechs Gulden für alle drei gehörten sie mit einem Fugger-Sohn und anderen Adeligen zur absoluten Spitzengruppe der Gebührenzahler.27 Wie bei Angehörigen des hohen Adels üblich, wurde keine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fakultät eingetragen. Die propädeutische Unterweisung, die üblicherweise an der Artisten-Fakultät stattfand, oblag bei Studenten, deren Väter es sich leisten konnten, ganz einem von diesen beauftragten und bezahlten Präzeptor. Er nahm die Funktionen eines Hauslehrers und Erziehers wahr. Wenn die Auftraggeber es erlaubten, zogen die Präzeptoren für ergänzende Übungen oder für die Vermittlung besonderer Fähigkeiten wie z.B. Fechten oder Musizieren Hilfskräfte hinzu. Das Wirken der zahlreichen Präzeptoren wurde obrigkeitlich reguliert, wohl auch deshalb, weil etliche unter ihnen aus Not oder Gewinnsucht ganze Scharen von Schülern unter ihre Fittiche nahmen und zudem gegen Entgelt Verköstigung und Unterbringung anboten. Eine Reformation Herzog Albrechts von Bayern für seine Ingolstädter Landesuniversität von 1555 verordnete, das alle privati präceptores, so bey unser universitet discipel annemen oder mitt inen dahin prinngen, denselben mit der lernung alles vleiss ausswartten, sich selbs und sy vor leuchtfertiger gesellschafft verhüetten, inen ein gutt exempel vortragen und in einer solchen zucht und eingezogen leben erhaltten sollen, damit ihr freundt und eltteren sich nit zubeclagen, dass sie bey unser universitet verfüertt, verderbtt, zeitt und uncosten verloren haben. Im Einzelnen begrenzte die Ordnung die Zahl der Betreuten auf vier oder zum maysten fünff discipel in der lernung und höchstens so viele Kostgänger, wie an einem Tisch Platz haben. Dazu wurden Höchstsätze für die Beträge festgelegt, die die Präzeptoren fordern durften, aussgenomen fürsten graven und herren, auch die, so aigne präceptores und sonndere geding mit inen ... haben.28 Für den Präzeptor der jungen Truchsesse von Waldburg ———— 26 27 28
25. Juni 1557. G. v. Pölnitz, Matrikel Ludwig-Maximilians-Universität, Sp. 755. Ebd. Karl von Prantl, Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt, Landshut, München, Bd. 2, München 1872, ND Aalen 1968, S. 198-212. Zitate S. 204/205. Die Reformordnung ist nicht in dieser Form, sondern in einer späteren lateinischen Übersetzung in Kraft getreten. Ebd. 1, S. 282.
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war aber weniger diese landesherrliche Reformation maßgebend, sondern das, was ihr Vater per Instruktion festgelegt hatte. Wie wir aus dem ersten Brief Gebhards erfahren, standen die drei jungen Truchsesse in Ingolstadt zunächst unter der Aufsicht von Magister Kilian.29 Der hatte aber gerade seinen Abschied genommen, um nach Dillingen zurückzukehren und eine Funktion an der von Gebhards berühmtem Onkel Otto Kardinal Truchsess von Waldburg gegründeten Universität 30 zu übernehmen. Sein Nachfolger als Präzeptor in Ingolstadt wurde Magister Johannes Spatz (Spatius), der dem Vater regelmäßig über das Befinden, Lernen und Treiben seiner Schützlinge berichtete.31 Wilhelm d. J. hatte dem ersten Präzeptor seiner Söhne eine allgemein gehaltene Instruktion mit nach Ingolstadt gegeben, wie mit den Jungen zu verfahren sei. Dessen Nachfolger versprach bei Dienstantritt zum 19. Juni 1558, sich ebenfalls danach zu richten und eventuelle Änderungen oder Präzisierungen zu berücksichtigen.32 Die Instruktion ist nicht erhalten. Ihren Tenor können wir aber aus der Korrespondenz des Spatius mit seinem Arbeitgeber erschließen. Demnach war der oberste Grundsatz, die jungen Herren in der Furcht Gottes zu erziehen.33 Der Präzeptor versprach, das ich derselben euer gnaden Sünen nutz und wolfart zu aller Zeit mit leerung und zucht schaffen welle.34 Seine Education habe zum Ziel, das sij ... von Tag zu Tag mehr auffnehmen, gott und dem nechsten zu gefallen leben und irer seele wolfahrt in der jugent zu betrachten anfachen. Damit wie sye sich Irm alten, loblichen und wolherbrachten herckhomens, eur gnaden stammen und namen billich zu seyen haben, das sy also irer vorfarn tugent und herliche thatten ersetzen und erben mögen.35 Gebhards Briefe sollen dem Vater vor allem zeigen, dass der Sohn beim Lateinlernen einigen Erfolg hatte. Der neue Präzeptor mag beim Schreiben ein wenig nachgeholfen haben. Der Inhalt entspricht weitgehend dem, was zu allen Zeiten in kindlicher Korrespondenz zu lesen ist: „Wie geht es Euch? Mir geht es gut.“ Immerhin denkt Gebhard auch an seine drei Schwestern, ———— 29
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Kilian Blankenstein. Er hatte Gebhard und seinen Bruder Friedrich bereits bei einem früheren Aufenthalt in Dillingen (belegt für den Winter 1554/1555, aber wohl von längerer Dauer) beaufsichtigt und unterrichtet. J. Vochezer, Geschichte des fürstliche Hauses Waldburg 3, S. 1. 1551- 1594 war ein Kilian Blankenstein Kanoniker am Stift St. Stephan in Konstanz. Helmut Maurer, Das Stift St. Stephan in Konstanz, Berlin 1981 (Germania Sacra, NF 15: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz. Konstanz 1), S. 458. S. o. Anm. 6. Einige dieser Briefe sind erhalten; sie sind die wichtigsten Quellen für die nachfolgenden Mitteilungen. Spatius an Wilhelm 13. und 22. Juli 1558. St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3 Nr. 1922. Spatius an Wilhelm 20. Juni 1558. Ebd. Spatius an Wilhelm 13. Juli 1558. Ebd. Spatius an Wilhelm 22. Juli 1558. Ebd.
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den daheim gebliebenen kleinen Bruder 36 und seine Mutter 37, für deren Brief an die in der Fremde studierenden Kinder er sich artig bedankt. Nicht fehlen darf die Versicherung, alle drei lernten eifrig und gehorchten ihrem Hauslehrer, „damit die Ausgaben nicht umsonst sind und großen Nutzen bringen“. Hatte der Vater die Söhne mit dem Verweis auf die Kosten angespornt, gar unter Druck gesetzt? Jedenfalls war die standesgemäße Ausbildung junger Adeliger teuer und Wilhelm d. J. war als Inhaber eines nicht sehr großen Anteils an den Waldburger Gesamtlanden ein zwar großzügiger aber nicht besonders reicher Mann. Außerdem war er Schwabe und ein sehr sorgfältiger Haushälter. Als Friedrich, Gebhard und Karl Truchsesse von Waldburg nach Ingolstadt aufgebrochen waren, hatte ihnen der Vater kostbare Geschenke mitgegeben. Jeder bekam einen kleinen vergoldeten Silberkrug, der mit neun 38 silbernen und zwei massiv goldenen Ziermünzen besetzt war und dazu einen wertvollen Rosenkranz.39 Zur umfangreichen Ausstattung gehörten die Leibund Nachtwäsche, Alltags- und Festkleidung sowie Mäntel und Kopfbedeckungen für den großen Auftritt. Nicht alle Kleidungsstücke waren prachtvoll oder luxuriös. Gebhard und Karl mussten zum Beispiel mit je einem alte[n] Bolnische[n] rockh vorlieb nehmen. Der Leibpelz von Friedrich war zu klein. Einige der gefütterten Wämser waren zu Hause auf Burg Scheer gefertigt worden und nitt sonders gutt. Jeder der drei Knaben besaß ein alt lidere par hosen, die sie anzogen, wenn die vornehmeren Beinkleider ausgebessert wurden. Hemden waren gleichsam Gemeinbesitz. Insgesamt 51 hatten die Jungen zur Verfügung. Auch 60 Fatzlett 40, 29 schwarze, 19 rote und 12 weiße, hatten sie sich zu teilen, desgleichen neun Hand- und sechs Fußtücher. Manche Kleidungsstücke wurden auch erst in Ingolstadt beschafft oder angefertigt. Das konnte zu Problemen führen. Von einer Partie Samt blie-
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Der 1554 geborene Ferdinand. Johanna, geborene Gräfin von Fürstenberg. Bei Friedrichs Krug waren es nur sieben. Alle Angaben zur Ausstattung der jungen Truchsessen von Waldburg für ihren Studienaufenthalt in Ingolstadt sind dem Register darin verzaychnett der Heren Klayder, Leinegewandt und kleinott bzw. (von anderer Hand hinzugefügt) dem Inventarium Meiner Sone zu Ingolstadt vom Juli 1558 entnommen. Sieben eng zweispaltig beschriebene Seiten. St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3 Nr. 1922. In der Hand getragene vornehme, nicht selten bestickte Ziertücher, die am Ende des 15. Jahrhunderts in Italien aufgekommen waren. Als sich das Schnupfen von Tabak verbreitete, wurde das modische Stück zum ordinären Gebrauchsgegenstand. Freundliche Mitteilung von Ina Schotes, Kostümwerkstätten Theater Krefeld-Mönchengladbach.
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ben einmal über drei Ellen übrig, und das aus der Ursach, dieweil der eln halb geirrt ist worden, und der Bayrisch vil größer ist weder der Augspurgisch.41 Jenseits des kulturgeschichtlichen Werts dieses detaillierten Verzeichnisses der großen und kleinen Besitztümer dreier sich zum hohen Adel zählender Studiosi ist von Belang, wie unterschiedlich die drei Knaben aus dem Schwabenland von ihren Eltern ausgestattet wurden. Die Unterschiede sind eine unmittelbare Folge ihres Alters, genauer, der sich aus der Reihenfolge der Geburt ergebenden Rollen, die ihnen zugedacht waren. Friedrich, der Erstgeborene, hatte nach dem Tod des Vaters als Haupt der TrauchburgScheer’schen Linie der Truchsesse von Waldburg 42 und als Stammhalter zu fungieren. Für den nach ihm geborenen Gebhard war von Anfang an eine geistliche Karriere vorgesehen, die möglichst in den Reichsfürstenstand führen sollte. Karl zog gegenüber seinen älteren Brüdern in allen Kategorien der Ausstattung den Kürzeren. Konnte er bei der Kleidung noch soeben mithalten, so fiel sein Besitz bei den als Kleinodien bezeichneten Stücken gegenüber dem seiner Brüder deutlich ab.43 Zu den Räumen, die die drei jungen Truchsesse in Ingolstadt bewohnten, gehörte auch eine Kamer, darin der Herrn Altar ist.44 In diesem Altarraum, dem wir die Funktion einer Privatkapelle zuschreiben können, wurden die Devotionalien der drei Knaben verwahrt und bei ihren Frömmigkeitsübungen benutzt. Das Besitzregister enthält entsprechend eine Kategorie Was zu dem altar gehört. An erster Stelle wird aufgezählt, was Her Friderich baim altar hatt. Hier finden wir 13 Gegenstände. Die Vermerckhung, was Her Gebhardt beym altar hatt umfasst dagegen 36 Positionen. Karl wird in diesem Zusammenhang überhaupt nicht erwähnt. Unter den Kleinodien in seinem Besitz erscheinen aber immerhin ein Rosenkranz mit blauen Perlen, ein vergoldetes Silberkruzifix und eine vergoldete Medaille, mit der Stadt Rom auf der einen und Papst Paul III.45 auf der anderen Seite. Bei Friedrich steht bei den frommen Besitztümern an erster Stelle ein gerahmtes Bild Kaiser Karls des Großen. Er nennt außerdem drei figürliche Darstellungen des Jesuskindes, ein Agnus-Dei-Bild, drei Heiligenbilder und eine aus Gips geformte Darstellung der Gottesmutter sein Eigen. ———— 41
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Spatius an Wilhelm 22. Juli 1558. St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3 Nr. 1922. Noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts maß die in Ingolstadt gebräuchliche bayrische Elle 38,3 cm, die Augsburger Elle dagegen 58,65 cm. Der verantwortliche Präzeptor hatte vorher im Augsburgischen gedient. Nach deren Stammvater Jakob (gest. 1460) wird sie auch Jakobinische Linie genannt. Friedrich werden 49, Gebhard 40, Karl 24 Klainotter zugeschrieben. Spatius an Wilhelm 22. Juli 1558. St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3 Nr. 1922. 1534-1549. Er berief das Konzil von Trient ein und erlebte noch dessen erste Tagungsperiode (1545 - 1548).
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Das Devotionalienverzeichnis von Gebhard ist deshalb so viel länger als das seines älteren Bruders, weil es viele Gegenstände enthält, die deutlich auf seine geistliche Bestimmung verweisen. Am Anfang steht bei Gebhard ein gerahmtes Bildnis Papst Pauls III.. Ferner besaß Gebhard außer drei Kruzifixen einschließlich der Jesuskindfiguren fünf andere Darstellungen Christi, zwölf Bilder der Muttergottes und zwölf Heiligenbilder. Als Besonderheiten erscheinen ein große nuß darin der gantz passion sowie eine goldene Schüssel mit dem Haupt Johannes des Täufers. Unmittelbaren Bezug zur Messfeier und zur Verehrung des Allerheiligsten haben ein Kelch mit Patene, eine Monstranz, mehrere Altarleuchten, ein Römisches Messbuch samt Kissen, Hostienladen, Altartücher, ein grünes Messgewand mit weißen Röcken, Alben und Stolen. Außerdem werden zwei Chormäntel und einige weitere Kissen aufgeführt, darunter eines, das seine Schwester Sybilla für ihn angefertigt hatte. Unter den Gebhard zugeschriebenen Kleinodien finden sich noch sieben Rosenkränze, zwei Kruzifixe sowie eine weitere besonders wertvolle Hostienlade. Friedrich besaß 49 Preziosen, unter anderem acht Rosenkränze und etliche kostbare Schreibgarnituren, mehr als sein Bruder Gebhard. Die Bücher der drei Truchsesse sollten in einer besonderen Liste erfasst werden. Diese ist aber nicht überliefert. Die für eine Messfeier notwendigen Utensilien mögen realiter der Feier von Privatmessen für die Truchsesse von Waldburg gedient haben. Trotzdem wurden sie nicht zufällig als Besitz von Gebhard gebucht. Gebhard sollte Priester werden, als solcher Karriere machen und sich so früh wie möglich in diese Rolle einleben, vielleicht auch in spielerischer Übung. Wenn auch nicht alles, was das akribische Verzeichnis des nach Ingolstadt verbrachten Besitzes der jungen Herren für diesen Studienaufenthalt angeschafft worden war, so stellte die standesgemäße Ausstattung seiner Söhne für den Vater doch eine erhebliche Belastung dar. Dazu kamen die laufenden Kosten für den Unterhalt sowie die Bezahlung des Präzeptors und anderer gelegentlich bemühter Privatlehrer. Alle zwei bis drei Monate ließ Wilhelm d. J. 60 Portugaler Ducaten nach Ingolstadt bringen, deren Gegenwert er in seinem persönlichen Ausgabenregister für das Jahr 1558 46 mit 100 Reichsgulden 47 bezifferte. Dazu kamen noch die Reisespesen, die der Bote, der das Geld nach Ingolstadt brachte, abrechnete. ———— 46 47
St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3 Nr. 1658. Unpaginiert. 37 Spalten. Für diesen Betrag hätte er nach den im selben Register für 1558 verzeichneten Preisen 300 Lämmer kaufen können (ebd. Spalte 18) oder 2.000 Hühner, jedes zu 3 Kreuzer (ebd. Sp. 21). Nach der Augsburger Reichsmünzordnung von 1551 gingen auf einen Gulden 60 Kreuzer. Ein Stier kostete 5 fl 30 kr (ebd. Sp. 26). Seinem Obervogt bezahlte er im Jahr 100 fl (ebd. Sp. 36). Die Fuhrknechte,
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Manchmal wurde es knapp in Ingolstadt. Es ist mir auch selbs nit lieb, das ich so in khurtzer Zeit sovil soll ausgeben, verhof aber die außgab soll hinfüran nit mehr so groß werden, schrieb Präzeptor Spatius im zweiten Monat seiner Tätigkeit an den Vater seiner Schützlinge. Es seien noch Rechnungen zu begleichen gewesen, die sein Vorgänger hinterlassen hatte.48 Und als Spatius im August 1558 den Eingang der 100 Gulden bestätigte, musste er wieder hinzufügen, vom ubergeschickten gelt hab ich die bißher angestandene schulden abzalt. Der Vorgang werde in der üblichen Abrechnung erscheinen.49 Den Studienalltag der drei jungen Truchsessen von Waldburg versuchte der Präceptor so zu regeln, dass sye in loblichen und ehrlichen iebungen ir zeit zubringen. Das jedenfalls teilte er dem Vater als seine Maxime mit.50 Fester Bestandteil des Tageslaufs während des Semesters war eine öffentliche Vorlesung von acht bis neun Uhr in der Früh, die alle drei täglich hörten. Das sei dem Vater hoffentllich recht, so der Präzeptor, sonderlich dieweil der Graf von Ötting, Herr von Landsperg, Fugger und anderr heren und des Adels derselbig Lection auch besuechen.51 Auf Anregung des Vaters bemühte sich der Präzeptor um einen qualifizierten Hauslehrer, der teglich ein stundt zu Inen gehe, damit sy ein gueten Lateinischen und deutschen Caracteren begreiffen. Der Vater hatte auch genauere Anweisung gegeben, wie der Nachfolger an der Spitze seines Hauses auf seine Aufgabe vorbereitet werden sollte. Derselbe Lehrer sollte nämlich dafür sorgen, dass sonderlich Herr Friderich Rechnen, Fechten und auff der Lauten schlagen lerne.52 Damit bestätigt uns Wilhelm d. J. Fächer und Fähigkeiten, die den Unterschied des Bildungskanons Adeliger von dem anderer bildungswilliger Schichten ausmachten. Auch Gebhard und Karl sollten Fechten und Lautenschlagen lernen.53 Am 2. August 1558 machte sich der Musiklehrer ans Werk, und [es] gieng zimlich wol von stat. Wann nur der lernmaister nit sovil feyertag machet 54, ein Verhalten das auch manchen Lehrern für andere Fächer eigen war, zum Beispiel dem Schreiber und dem Arithmeticus.55 Den loteristen deswegen einfach ————
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die das große Gepäck Gebhards und seines Bruders auf dem Weg nach Löwen von Scheer bis Speyer karrten, bekamen einen Tageslohn von 4 kr. Ebd. Nr. 1646. St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3 Nr. 1646. Spatius an Wilhelm 22. Juli 1558. Ebd. Nr. 1922. Spatius an Wilhelm August 1558, ohne Tag. Ebd. Nr. 1645. Der Präzeptor rechnete monatlich ab. Ebd. Spatius an Wilhelm 13. Juli 1558. Ebd. Nr. 1922. Spatius an Wilhelm August 1558. Ebd. Nr. 1645. Ebd. Ebd. Spatius an Wilhelm 18. Oktober 1558. Ebd.
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durch einen anderen zu ersetzen glaubte Spatius aber nicht verantworten zu können, weil zu besorgen, das dise jetzige lernung umbsunst wurde sein, dan sy dieser Zeit seiner art gewonet und jetz ein sondere widerumb an sich nemen müessen.56 Freilich durften die Übungen in diesen Nebenfächern nicht zuviel Zeit in Anspruch nehmen, denn dem principaliori studio sollte immer der Hauptanteil aller Anstrengungen gewidmet werden.57 Das Lernprogramm des Winters hatte andere Schwerpunkte als das des Sommers. Sovil aber schreiben und Rechnen belangt, wolt ich sy die selbige baide exercitia disen Winter 58 für die handt nehmen lassen, ... auff khünfftigen frieling ... das fechten, teilte der Präzeptor am 18. Oktober 1558 seinem Auftraggeber mit.59 Auch die Gefahr, dass die versprochene Zucht durch Allotria in Gefahr geriet, unterlag jahreszeitlichen Schwankungen. Im Sommer 1558 bat Präzeptor Spatius um eine Dienstanweisung für Gelegenheiten, die er Wilhelm d. J. wie folgt beschrieb: Weitter khan ich eur gnaden nit pergen, das es sich zimlich offt zutregt, sonderlich jetz zu summer zeiten, das die jungen herrn Ehren halb zu Ihren heren vettern und anderen berueffen werden, auch hergegen sy und andere zu inen, wie billich, khumen, das man auch gemeinigklich (wie e. gn. wissen) Musicam der orthen praucht. Und das werde noch zunehmen.60 Als im August desselben Jahres eine Hochzeitsfeier im hochadeligen Milieu in Ingolstadt anstand, zu der man die jungen Herren ohne vorherige Absprache eingeladen hatte, war Spatius wieder ganz unsicher, wie er sich verhalten sollte und bat den Vater um Entscheidung.61 Es gab andauernde Spannungen zwischen den Ingolstädter Bürgern und der Universität wegen studentischer Feiern und anderer Umtriebe, bei denen Ruhestörung eher zu den harmloseren Zwischenfällen gehörte. Die Ordnungen für die Universität schreiben immer wieder vor, derlei studentisches Treiben zu zügeln. So verpflichten die Statuten von 1556 den Rektor, studentische Tanzveranstaltungen zu unterbinden, es sei denn, die Studenten seien zu ehrenwerten Hochzeitsfeiern eingeladen.62 Vielleicht sah Spatius die Teilnahme an der anstehenden Adelshochzeit mehr als eine Gefahr für Zucht und Ordnung, die er für seine Zöglinge zu gewährleisten hatte, als eine zu erfüllende Standespflicht. ———— 56 57 58 59 60 61 62
Ebd. Spatius an Wilhelm August 1558. Ebd. Nr. 1645. Winterhalbjahr 1558/ 1559. St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3 Nr. 1645. Spatius an Wilhelm 13. Juli 1558. Ebd. Nr. 1922. Ebd. K. v. Prantl, Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität 2, S. 216. Vgl. auch die Kapitel derselben Ordnung De moribus scholarium, eorum obedientia et vitae innocentia, ebd. S. 225-226 und Statuta de poenis et mulctis ab delicta studiosorum infligendis, ebd. S. 227- 227.
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Gebhard zählte mit seinen Brüdern in Ingolstadt zur Fraktion der hoch angesehenen Studenten, denen die Universität bei bestimmten Gelegenheiten auch förmlich Ehre erwies. Am 18. Oktober 1558, dem Fest des Evangelisten Lukas, wurde vom akademischen Senat bei dem aus diesem Anlass wohl üblichen Umtrunk 63 illustris et generosus adolescens ex nobili et antiquissima baronorum Waldburgensium familia oriundus Fridericus Truchsessius Sacri Romani Imperii dapifer haereditarius zum 169. Rektor der Universität Ingolstadt gewählt.64 Nicht selten wurde das Rektoramt an Studenten vergeben.65 Die Ingolstädter Universitätsstatuten eröffneten ausdrücklich die Möglichkeit, illustres scholasticos auf diese Art zu ehren. Allerdings schrieben sie ein Mindestalter von 20 Jahren vor.66 Friedrich war gerade zwölf, als er gewählt wurde. Mit der Leitung der Universität hatten die adeligen Sprösslinge nichts zu tun. Diese Mühen lagen beim Vizerektor. Auch Gebhards jüngster Bruder Ferdinand 67 durfte sich später mit einem Rektorhut schmücken, und zwar 1581 an der Universität Freiburg.68 Von Gottesdienstbesuchen und Frömmigkeitsübungen ist in den von Ingolstadt zur Burg Scheer geschickten Briefen nicht eigens die Rede. Wir dürfen aber annehmen, dass sowohl der Vater als auch der Präzeptor das programmatische Versprechen, die jungen Truchsesse von Waldburg in der Furcht Gottes zu erziehen, sehr ernst nahmen. Dass dies auf streng katholische Weise geschehen sollte, verstand sich von selbst. Dafür sprechen nicht nur der Friedrich, Gebhard und Karl zur Verfügung stehende reich ausgestattete Hausaltar, die Kruzifixe, Andachtsbilder und Rosenkränze in ihrem Besitz, sondern auch die Universität Ingolstadt. Vater Wilhelm hatte seine Studien im Alter von acht Jahren 1526 an der herzoglich württembergischen Universität Tübingen begonnen.69 In Württemberg war aber 1534 die Reformation eingeführt worden. Für einen Truchsess von Waldburg war das Studium an einer lutherischen Universität undenkbar. Ingolstadt bot sich an, weil diese Universität ihren Ruf als unzweifelhaft katholische bayrische Universität noch dadurch gefestigt hatte, dass der Herzog von Bayern ab 1550 ———— 63 64 65
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potionibus communibus. G. v. Pölnitz, Matrikel 1, Sp. 777/778. In Ingolstadt waren zwischen 1550 und 1588 von 78 Halbjahresrektoren 14 keine Professoren, sondern Studenten adeligen Standes. K. v. Prantl, Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität 1, S. 277, Anm. 169. Statuten der Universität Ingolstadt von 1556. G. v. Prantl, Geschichte der Ludwig-MaximiliansUniversität 2, S. 212- 232, hier S. 215. Geboren 1554. J. Vochezer, Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg 3, S. 53. Er war am 6.3.1518 geboren und am 17.5.1526 immatrikuliert worden. Ebd. 2, S. 307.
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diese seine Universität für Lehrkräfte aus dem Jesuitenorden geöffnet hatte. Ingolstadt wurde zwar nie zu einer Jesuitenuniversität im vollgültigen Sinn, weil sich manche Fakultäten, außer der theologischen, zeitweilig oder dauerhaft der Aufnahme von Jesuiten in ihren Lehrkörper widersetzten. Dennoch stand Ingolstadt in Bezug auf die Katholizität der Jesuitenuniversität Dillingen nicht nach. Für die Reise von Gebhard Truchsess von Waldburg mit seinem Bruder Christoph an ihren neuen Studienort Löwen im Jahre 1563 hatte der Vater ihrem Reisebegleiter Balthasar von Hornstein eine ausführliche Instruktion mitgegeben.70 Die Reise ging zunächst zu Pferd über Tübingen nach Speyer. In Tübingen hatte Hornstein zwei Geschäfte für seinen Auftraggeber zu erledigen, die mit dem eigentlichen Zweck der Reise nichts zu tun hatten. Zum einen sollte er gut anderthalb Esslinger Eimer 71 guten heurigen Neckherwein zu ainem Thischdrunck und ein passendes Fass kaufen, das die Knechte, die das Gepäck der Truchsesse in einem Pferdekarren transportierten, auf dem Rückweg mit nach Schloss Scheer nehmen sollten. Ferner wurde von Hornstein beauftragt, bei einem Tübinger Rechtsprofessor 72 ein seit langem ausstehendes Gutachten anzumahnen. In Speyer waren mehrere Besuche zu absolvieren. Zunächst sollten die Reisenden beim Pfennigmeister des Reichskammergerichts 73 vorstellig werden, ihm das für ihn bestimmte Empfehlungsschreiben von Vater Wilhelm überreichen, sich Ratschläge für die Reise den Rhein entlang erbeten und insbesondere zu möglichst geringen Gebühren Taler zu 72 Kreuzer in solche zu 68 Kreuzer oder in Portugaler Ducaten umtauschen.74 Außerdem sollten sich die jungen Herren einem ungenannten Kammerrichter sowie Graf Schweickart von Helffenstein vorstellen. Am Schluss des Speyerer Programms stand die Besichtigung des Doms, des Stifts St. German und des Barfüßerklosters. ———— 70
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Memorial was Balthassar von Hornstein auff der Reyss mitt baiden Jungen Herrn Nach dem Niderland zuverrichten angedenckh haben soll vom 11. Mai 1563. Unpaginiert, 6 S.. St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3, Nr. 1646. Die detaillierten Reisekostenabrechnungen der begleitenden Bediensteten (ebd.) bestätigen, dass der Routenplan des Vaters genau eingehalten wurde. Ein württembergischer Eimer maß ca. 300 Liter. Kilian Vogler. Seit 1552 Professor der juristischen Fakultät. Theodor Knapp, Das württembergische Hofgericht zu Tübingen und das württembergische Privilegium de non appellando. Zeitschr. f. Rechtsgesch. GA 48 (1928) S. 1 - 135, hier S. 130. Mathias Hueber, dess Kay.n Chamergerichts Pfennigmaister. So das väterliche Empfehlungsschreiben, ebenfalls vom 11. Mai 1563. St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3 Nr. 1646. Wilhelm rechnete zuhause mit Talern zu 72 kr, Gulden zu 60 kr. Portugaler Dukaten zu 60 kr.
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Für Mainz, die nächste Reisestation, für die ein Programm vorgesehen war, stand ebenfalls die Besichtigung des Doms und danach der Kirche des Johannesstifts auf der Liste, diesmal am Anfang des Aufenthaltes. Außerdem empfahl der Vater, den kurfürstlichen Rat Philipp von Stockum gelegentlich eines Besuchs um die Vermittlung einer geeigneten Schiffspassage für die kleine Reisegruppe bis Köln zu bitten. Ein Zwischenhalt in Bonn sollte dazu genutzt werden, den kurkölnischen Kanzler Franz Burkard 75 zu den jungen Herren zu Gast zu laden und mit ihm die bewisten handlungen zu Cöllen bey dem Thumbcappyttel unnd zu Santt Gereon zu beratschlagen. Sofort nach der Ankunft in Köln möge sich Balthasar von Hornstein unverzüglich zu Arnold von Brauweiler, Kanonikus des Kölner St. Gereonstifts und Propst des Stifts St. Andreas in Worms, begeben und sich auch mit ihm beraten, wie in bewister sachen zu verfahren sei. Es ging besonders um Hern Gebhartten personliche erscheinung vor dem Thoumb Capittl unnd bey Santt Gereon daselb, umb persönliche empfahung der possession conferiertter praebend. Der dabei Arnold von Brauweiler auszuhändigende Brief 76 von Vater Wilhelm nennt weitere Einzelheiten: Arnold von Brauweiler hatte am 22. Dezember 1562 für Gebhard Truchsess von Waldburg die possession ime conferierter Prebend und canonicats zu Sanct Gereon procuratorio nomine empfangen und dann in Instrumento possessionis 77 ... angeregt, daß beneneter mein Son antequem emancipetur vel ad perceptionem fructuum admittatur coram Capitulo Ecclesiae praefati S. Gereonis personaliter compariern unnd die gebreuchig obligation erstatten solle. Gebhard könne jetzt seine Anwesenheit in Köln nutzen, vor dem Kapitel zu erscheinen und auch die schuldige gebur bey diser gelegenhait erstatten. Für all diese Angelegenheiten könne ihm Arnold von Brauweiler Ratschläge geben. Darum bat ihn der Vater und lockte mit der Aussicht auf nützliche Beziehungen: Er werde ihn bei seinem Bruder, dem hochwürdigsten Fürsten und Bischof und Kardinal zu Augsburg, aufs beste empfehlen. Die Instruktion wies Gebhard außerdem noch an, sich bei passender Gelegenheit zusammen mit seinem Bruder Christoph dem Scholaster des Domkapitels Johann von Manderscheid 78 vorzustellen, um von ihm vor der Abreise nach Löwen zu erfahren, was gemäß den Usancen des Domkapitels ———— 75
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Amstszeit 1556-1584. Joseph Hansen (Hrsg.), Rheinische Akten zur Geschichte des Jesuitenordens, Bonn 1896 (Publ. Ges. f. Rhein. Geschichtskunde 14), S. 292, Anm. 3. St. A. Sigmaringen Dep. 30/1 T 3 Nr. 1646. Dieses hatte der kurkölnische Kanzler Franz Burkard an Wilhelm übersandt. Johann Graf zu Manderscheid-Blankenheim. Domscholaster 11.8.1562 - 24.2.1579. Hermann Heinrich Roth, Das kölnische Domkapitel von 1501 bis zu seinem Erlöschen 1808. In: Erich Kuphal, Der Dom zu Köln, Köln 1930 (Veröff. des Köln. Geschichtsvereins 5), S. 257- 294, hier S. 266.
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beim Studium in Löwen zu beachten sei. Auch Kanzler Burkard und Canonicus Brauweiler könnten in dieser Beziehung Wegweisung geben und nützlich sein. Von Köln aus möge die kleine Gesellschaft, so die Instruktion weiter, über Antwerpen nach Löwen weiterreisen.79 Dort werde sich der in solchen Dingen erfahrene und vom Hauspfleger des Otto Kardinal Truchseß von Waldburg entsprechend instruierte Magister Adrian Bessemer 80 um ihre Unterbringung kümmern. Unterkunft und Verköstigung fanden Gebhard, sein Bruder und Adrian Ablacensis, ihr Präzeptor für die ganze Löwener Zeit, im Haus von Cunerus Petri, dem Pfarrer von St. Peter in Löwen und späteren Bischof von Leeuwarden. Der bezeugte 1579, Gebhard habe in Löwen an der Theologischen Fakultät Vorlesungen gehört und Disputationen beigewohnt. Der Präzeptor habe ihm den Katechismus des Canisius vorgelesen. Jeden Tag habe er der vom Präzeptor gefeierten Messe beigewohnt, oft gebeichtet und die Kommunion empfangen. Cunerus Petri fasste sein Urteil über Gebhard so zusammen: Sofern man aus Worten, Diskussionen, Gesprächen und Fasten schließen könne, sei Gebhard aufrichtig katholisch.81 Die Reise von Gebhard und Christoph Truchsesse von Waldburg von der Donau in die Niederlande war mehr als nur die Anreise zum Studium. Allein schon wegen der vom Vater empfohlenen Besichtigungen in Speyer, Mainz und Köln hatte sie Züge einer Bildungsreise. Bei den Monumenten, die Wilhelm seinen Söhnen zu besuchen riet, handelt es sich ausschließlich um Kirchen, darunter der für die Reichsgeschichte so bedeutsame Dom zu Speyer und die Kathedralkirchen von zwei Fürstbischöfen, die als geistliche Kurfürsten an der Spitze des Reichsepiskopats standen. Die vom Vater angebahnten und durch Briefe sehr konkret vorbereiteten Besuche unterwegs waren zunächst einmal von praktischem Nutzen für den Ablauf der Reise. Die für die Etappen ab Tübingen ins Auge gefassten Kontaktpersonen standen aber alle in einem Rang oder hatten Positionen im Herrschaftsapparat und Justizwesen des Reichs oder eines Territoriums inne, die eine Vorstellung der jungen schwäbischen Fürstensöhne, die im Begriff standen, die Grundlagen für ihre spätere Stellung im Herrschafts- und Sozial———— 79
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Balthasar von Hornstein solle sich alsbald ein Pferd kaufen und auf direktem Weg nach Burg Scheer zurückkehren. Für die Reise von Scheer nach Löwen und zurück rechnete er 35 Gulden, 13 Kreuzer und 1 Heller ab, als seine Auslagen und die der für den Transport des Gepäcks bis Speyer verantwortlichen Fuhrknechte für Unterkunft, Verpflegung und Kosten für die Pferde. Adrian Bessemerus. Dieser Name ist nicht zu identifizieren. Die Person ist wohl identisch mit Adrian Ablacensis. J. Hansen, Informativprocess, S. 64 - 65.
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gefüge des Reichs zu legen, auch unter Karrieregesichtspunkten als nützlich erscheinen ließen. Mit den für Bonn, der Residenzstadt des Kurfürstentums Köln und für die Reichsstadt, dem geistlichen Zentrum der Kölner Kirche und Sitz des Kirche und Kurstaat mitregierenden Domkapitels, eingeplanten Gesprächspartner sollten sehr konkrete Schritte auf dem Karriereweg Gebhards formell vollendet werden, nämlich die Übernahme je eines Kanonikats am Domstift und Stift St. Gereon, das diesem im Rang kaum nachstand. Bedenkt man, in welch hohem Maß die Kosten standesgemäßer Studien von fünf Söhnen den Vater belasteten, so stellte der Erwerb zweier einkömmlicher Pfründen, die zudem hohes Ansehen und im Fall des Domkapitels Aufstiegschancen eröffneten, sicherlich auch einen hochwillkommenen finanziellen Zugewinn dar.82 Diese Reise kennzeichnen Eigentümlichkeiten, die rechtfertigen, sie in die Kategorie der später so genannten Kavalierstouren einzuordnen.83 Die Reise von Gebhard und Christoph Truchsesse von Waldburg und ihres Begleiters Balthasar von Hornstein nach Löwen ist somit ein frühes Beispiel für einen erst später unvermeidlich gewordenen Bestandteil der Erziehung des Adelsnachwuchses. Balthasar von Hornstein wäre demnach ein Reisehofmeister in nuce gewesen.84 Von Beginn an hat der Onkel Gebhards, der Bischof von Augsburg Otto Kardinal Truchseß von Waldburg, die Erziehungs- und Bildungslaufbahn seines Neffen begleitet und beeinflusst. Bei ihrem Aufenthalt in Dillingen 1554/1555 wohnten Gebhard und sein Bruder Friedrich mit ihrem Präzeptor im Haus des Onkels. Der Präzeptor, der ab dem 19. Juni 1558 die studierenden jungen Truchsesse Friedrich, Gebhard und Karl von Waldburg in Ingolstadt betreute, stand zunächst im Dienst Bischof Ottos.85 An die Ingolstädter Studien schlossen sich einige Semester an der von Otto gegründeten und auf dessen Initiative mehr und mehr von den Jesuiten geprägten Dillinger Hoch———— 82
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Vgl. das Kapitel „Finanzierung und Kosten“ in: Mathis Leibetseder, Die Kavalierstour. Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert, Köln u.a. 2004 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 56), S. 55-64. Der Begriff entstand erst im 19. Jahrhundert. Die Sache der ausgedehnten und sorgfältig geplanten Reise junger Adeliger und Patrizier mit den Zielen, sie zu bilden, einzuführen und in die europäischen Beziehungsnetze zu integrieren, etablierte sich als feste Einrichtung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Ebd. S. 9, 18. Zu den Hofmeistern und anderen Mitgliedern der Suite reisender Adeliger ebd. S. 86-96. Ob dieses Dienstverhältnis andauerte oder später Vater Wilhelm Dienstherr wurde, muss offen bleiben.
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schule an. Die Studien seiner Neffen in Löwen hatte der Kardinal mit vorbereitet. Otto Kardinal Truchseß von Waldburg kümmerte sich in Absprache mit seinem Bruder Wilhelm um dessen Söhne. Letzterer berief sich nur zu gerne auf die Verwandtschaft mit dem berühmten Augsburger Bischof, der nach dem Religionsfrieden von 1555, beraten von Petrus Canisius, zu einem in Rom und den katholisch gebliebenen Teilen des Reichs anerkannten Motor der innerkirchlichen Reform geworden war und konsequent eine gegenreformatorische Linie verfolgte.86 Kardinal Otto betrieb nicht nur Gebhards Ausrichtung auf ein geistliches Amt. Selber geprägt von der Adelswelt, in der er aufgewachsen war, achtete er darauf, dass Gerhard diese Welt gründlich kennen lernte, gerade auch in deren italienischer Spielart.87 Des Onkels wirkungsvolles Eintreten für Gebhard hatte auch formelle Gründe. In dem mit seinem Bruder Wilhelm am 20. Juli 1558 geschlossenen Erbvergleich hatte Otto ganz und für immer auf die Wilhelm zufallenden Herrschaftsrechte verzichtet und versprochen, seinen Neffen Gebhard im priesterlichen Stand zu erziehen und in der geistlichen Karriere nach Kräften zu unterstützen.88 Nach dem Tod Wilhelms am 17. Januar 1566 übernahm Otto die Vormundschaft über Gebhard und seine Geschwister.89 Auch wenn hier nicht alle Studienjahre Gebhards gleichmäßig ausgeleuchtet werden konnten, lässt sich feststellen, dass der väterliche Wille im Verein mit der Protektion des einflussreichen Onkels es Gebhard erlaubten, im Verlauf seiner Studienzeit ein hohes Maß an Bildung und gesellschaftlicher Erfahrung zu sammeln. Sorgfältig ausgewählte und allem Anschein nach auch qualifizierte Präzeptoren haben Gebhard in diesen Jahren nicht nur lückenlos beaufsichtigt, ganz ihrem Auftrag entsprechend, sondern ihn auch in eine praktizierte Frömmigkeit hineinwachsen lassen, die ihn in den Augen der Familie und der katholischen Öffentlichkeit im Reich und jenseits seiner Grenzen, die wegen der Kirchenspaltung die Kandidaten für hohe Kirchenämter besonders kritisch beobachtete, für eine reichsfürstliche Position empfahlen. Der Erwerb geistlicher Präbenden an hoch renommierten Stiften festigte den Ruf und ebnete den Karriereweg. ———— 86
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Friedrich Zoepfl, Waldburg, Otto Truchseß von. LThK, 2. Aufl., Bd. 10, Freiburg 1965, Sp. 930 931. Nach Tübingen hatte Otto die Universitäten Padua, Bologna und Pavia besucht. Ebd. Sp. 930. Rudolf Rauh, Das Hausrecht der Erbtruchsessen Fürsten von Waldburg, Bd. 1, Kempten 1971 (Veröff. d. Fürstl. Waldburg-Zeil’schen Gesamtarchivs 1) S. 53- 54. Zusammen mit den Grafen Friedrich von Öttingen und Joachim von Fürstenberg. J. Vochezer, Geschichte des fürstlichen Hauses Waldburg 3, S. 2.
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Als sich Gebhard drei Monate nach seiner Wahl zum Erzbischof von Köln am 19. März 1578 zum Priester weihen ließ, war das angesichts des Verhaltens anderer nicht selbstverständlich, in Anbetracht dieser Vita und der Familientradition aber konsequent und stand in Einklang mit den Erwartungen. Gleiches gilt für die Professio fidei tridentina, die er am 24. April 1578 vor dem als wirksamem Reformer und Gegenreformator ausgewiesenen Trierer Erzbischof und Kurfürsten Jakob von Eltz in Koblenz leistete. Auch die Amtshandlungen in seinen ersten Jahren als Erzbischof und Landesherr rechtfertigten die Hoffnungen, die die katholische Welt in ihn als Kirchenreformer und Kämpfer gegen die Reformation gesetzt hatten, voll und ganz.90 Umso größer war das Entsetzen in Köln, beim Kaiser, in den katholischen Teilen des Reichs und in Rom, als sich kursierende Gerüchte bewahrheiteten und Gebhard Truchseß von Waldburg um die Jahreswende 1582/1583 kundtat, er wolle heiraten und evangelisch werden und als er sich anschickte, das Kurfürstentum Köln in einen weltlichen evangelischen Territorialstaat umzuwandeln.91 Die Universitäten haben sich ihre später berühmt gewordenen Studenten immer zur Zierde angerechnet. Nachdem Papst und Kaiser Gebhard Truchseß von Waldburg wegen seines Konfessionswechsels und der damit einhergehenden schweren Verstöße gegen das Recht der Kirche und des Reichs seiner Ämter enthoben hatten 92, versuchten die Universitäten Ingolstadt und Dillingen, Gebhard aus ihrer Tradition zu streichen. Die Ingolstädter Matrikel des Sommerhalbjahrs 1557 hat hinter Gebhards Namen den Vermerk Eligitur in archiepiscopum coloniensem anno 1577. Später ergänzte eine andere Hand: Hic postea apostata et proscriptus ex archiepiscopatus coloniensis (sic!). Hinter dem Eintrag vom Sommersemester 1558 ist zu lesen: Elector imperii vel archiepiscopus Coloniensis. Eine andere Hand ergänzte später: Postmodum ex archiepiscopo archiapostata factus.93 Die Dillinger Universität verhängte über Gebhard und seinen Bruder Karl kurz und bündig die Damnatio memoriae. Hinter ihrem Matrikeleintrag vom 7. November 1559 steht: Periit memoria horum.94 ———— 90
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Hansgeorg Molitor, Das Erzbistum Köln im Zeitalter der Glaubenskämpfe 1515 - 1688, Köln 2004 (Geschichte des Erzbistums Köln, hrsg. von Norbert Trippen, Bd. 3), S. 213 -214. Öffentliche Erklärungen 19. Dezember 1582 und 16. Januar 1583. Ebd. S. 217-221. Schreiben Papst Gregors XIII. an das Domkapitel von Köln vom 1. April 1583 und die Bestätigung der Absetzung durch den Lehnsindult Kaiser Rudolfs II. für Gebhards Nachfolger Ernst von Bayern am 15. September 1583. Ebd. S. 222. G. v. Pölnitz, Matrikel Ingolstadt 1, Sp. 755, 766. T. Specht, Matrikel Dillingen, S. 29. Karl hatte ebenfalls die Konfession gewechselt und seinen Bruder im Kölner Krieg militärisch unterstützt.
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Ex oriente – Kardinal Josef Frings und die Aufnahme ostdeutscher Geistlicher im Kölner Erzbistum von Stefan Samerski
Das Erzbistum Köln war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine der westlichsten Diözesen Deutschlands. Das Erzstift, das sich bis zur Franzosenherrschaft fast ausschließlich westlich des Rheins erstreckte, war 1801 im Wesentlichen untergegangen und Frankreich einverleibt worden.1 Frankreich hatte auch schon vorher immer wieder Einfluss auf die Geschicke und die Personalpolitik der rheinischen Kirchenmetropole genommen. Bei dieser traditionellen Westorientierung erstaunt es, dass man während des Zweiten Weltkriegs und in den Nachkriegsjahren ein deutliches und konstruktives Eintreten Kölns sowohl für die Belange der Gläubigen als auch für das Schicksal der Kleriker vermerkt, die aus Bistümern kamen, die nach 1945 überwiegend unter polnischer oder tschechischer Verwaltung standen.2 Das war nicht zuletzt das Verdienst des Kölner Erzbischofs Josef Kardinal Frings (1942-1969), der zwischen 1945 und 1965 Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenzen war.3 Trotz einer vorliegenden gediegenen Biographie über den Kölner Erzbischof ist dieser unverhofft glückliche Einsatz zugunsten der Vertriebenenproblematik in Köln nicht befriedigend erforscht. Diese Thematik kann auch hier, da sie vielschichtig und materialreich ist, nicht erschöpfend behandelt werden. An dieser Stelle seien nur einige Schlaglichter auf die pastorale Unterstützung der ostdeutschen Bistümer im Weltkrieg und auf die Aufnahme von Geistlichen – davon zwei Bischöfe – nach dem ———— 1
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Historische Entwicklung: Eduard Hegel, Das Erzbistum Köln zwischen Barock und Aufklärung. Vom pfälzischen Krieg bis zum Ende der französischen Zeit (= Geschichte des Erzbistums Köln, 4), Köln 1979. Zusammenfassend zur katholischen Vertriebenenproblematik: Franz Lorenz, Schicksal Vertreibung, Aufbruch aus dem Glauben. Dokumente und Selbstzeugnisse vom religiösen, geistigen und kulturellen Ringen, Köln 1980; Sabine Voßkamp, Katholische Kirche und Vertriebene in Deutschland. Integration, Identität und ostpolitischer Diskurs 1945-1972, Stuttgart 2007; Rainer Bendel, Aufbruch aus dem Glauben? Katholische Heimatvertriebene in den gesellschaftlichen Transformationen der Nachkriegsjahre 1945-1965, Köln u.a. 2003. – Bereits an dieser Stelle sei darauf aufmerksam gemacht, dass bei der Vertriebenenfrage, so auch bei Bendel, zumeist die Danziger Katholiken ausgeblendet sind, weil sie aus einem eigenen, 1920 gebildeten Staat und nicht aus Deutschland in den Grenzen von 1937 stammten, wegen ihrer kulturellen Zugehörigkeit und ihrer Geschichte aber als Deutsche berücksichtigt werden müssen. Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887- 1978), 2 Bde. (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, B, Bd. 94 u. 104), Paderborn u.a. 2003/2005.
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Kriegsgeschehen geworfen, die bislang rudimentär erforscht ist. Wohlgemerkt, Köln stand mit seinem deutlich greifbaren ostdeutschen Interesse nicht alleine unter den deutschen Diözesen; wohl aber war es eines der größten, bevölkerungs- und priesterreichsten Bistümer Deutschlands, das zudem in der fraglichen Zeit den Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenzen als Oberhirten hatte. Hatte die priesterreiche Erzdiözese Köln 4 bereits vor und im Zweiten Weltkrieg eigene Priester für die Seelsorge in den ostdeutschen Bistümern entsandt, so stellte sich durch den Überfall auf Polen von 1939 eine ganz neue Situation ein: Durch die Besetzung und den Anschluss von polnischen Territorien an das Reich 1939/40 wurden diese Gebiete nicht nur einer drastischen Germanisierung unterzogen, die je nach neugebildetem Gau recht unterschiedlich war, sie erlitten auch eine durch kein geltendes Recht eingeschränkte Kirchenverfolgung.5 Etliche Bischöfe der betroffenen polnischen Diözesen waren geflohen, die Ordinariate geschlossen oder nicht mehr funktionsfähig, zahlreiche Priester verhaftet, ermordet oder untergetaucht sowie Gotteshäuser und kirchliche Institutionen wie etwa Klöster geschlossen und beschlagnahmt. In den ersten Kriegsmonaten war die pastorale Notlage im westpreußischen Bistum Kulm am gravierendsten. Dort war nach dem Abbruch der Militärverwaltung fast das gesamte Domkapitel ermordet worden; der Bestand an Geistlichen ging durch Tötung, Verhaftung und Flucht auf 27 % zurück; von einer funktionierenden Diözesanverwaltung konnte nicht mehr die Rede sein.6 Ende 1939 kam dort die Seelsorge fast ganz zum Erliegen, da nur noch 35 bis 40 Priester regulär arbeiten konnten. Auf Vorschlag des Statthalters für den Reichsgau Westpreußen, Albert Forster (1940-1945) 7, wurde der dortige Nachbarbischof von Danzig, ———— 4
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Vgl. dazu: Vor allem Mitte der dreißiger Jahre kam es zu einer Vielzahl von Anmeldungen von Theologiestudenten in Köln: Guido Falkenberg, Das Collegium Albertinum im Spannungsfeld zweier Weltkriege und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1912- 1945, in: Wilfried Evertz (Hg.), Im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche. 100 Jahre Priesterausbildung im Collegium Albertinum, Siegburg 1992, 205 - 261, hier: 245 - 248. Vgl. auch: Eduard Hegel, Das Erzbistum Köln zwischen der Restauration des 19. Jahrhunderts und der Restauration des 20. Jahrhunderts (= Geschichte des Erzbistums Köln, 5), Köln 1987, 187 - 204. Vergleichende Weihestatistik: Erwin Gatz, Priesterausbildungsstätten der deutschsprachigen Länder zwischen Aufklärung und Zweitem Vatikanischen Konzil, Rom u.a. 1994, 108 - 117, 254ff. Dazu kurz: Stefan Samerski, Priester im annektierten Polen. Die Seelsorge deutscher Geistlicher in den an das Deutsche Reich angeschlossenen polnischen Gebieten 1939 -1945, Bonn 1997, 16 - 23. Samerski, Priester im annektierten Polen (wie Anm. 5), 18 -19; Zur politischen Situation: Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, Frankfurt/M. 1972, 272 - 293. Zur Person des Statthalters: Dieter Schenk, Hitlers Mann in Danzig. Gauleiter Forster und die NSVerbrechen in Danzig-Westpreußen, Bonn 2000.
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Dr. Carl Maria Splett (1938-1964) 8, Ende 1939 vom Hl. Stuhl zum Administrator der verwaisten Diözese Kulm bestellt. Dieser bemühte sich gegenüber dem Statthalter und seinen bischöflichen Mitbrüdern im Reich umgehend darum, Seelsorger für das Kulmer Bistum zu gewinnen. So wie Danzig und Ermland, die zwar sporadisch aushalfen, waren auch die übrigen deutschen Nachbarsprengel (Schneidemühl, Berlin, Breslau) kaum in der Lage 9, ausreichend Priester für die Notpastoral im polnischen AnnexionsgeBischof Dr. Carl Maria Splett biet freizustellen.10 Hatte sich bereits der Heilige Stuhl und sein Nuntius in Deutschland Ende November 1939 an die deutschen Bischöfe gewandt, um Priester für die Pastoral im Okkupationsgebiet zu gewinnen, so beschäftigte sich auf Bitten Spletts erstmals im März 1940 die Fuldaer Bischofskonferenz mit dem Problem der Entsendung von reichsdeutschen Priestern in das vor allem betroffene Westpreußen, wo ein Einsatz von Geistlichen aus dem Reich von staatlicher Seite von Anfang an gewünscht war.11 Da in Köln selbst noch in den Kriegsjahren ausreichend Priester vorhanden waren, ———— 8
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Zu Splett und seiner Tätigkeit im Bistum Kulm ausführlich: Stefan Samerski, Schuld und Sühne? Bischof Carl Maria Splett in Krieg und Gefangenschaft, Bonn 2 2000; Ulrich Bräuel / Stefan Samerski (Hg.), Ein Bischof vor Gericht. Der Prozess gegen den Danziger Bischof Carl Maria Splett 1946, Osnabrück 2005. Samerski, Priester im annektierten Polen (wie Anm. 5), 25- 27. Der Einsatz von deutschen Geistlichen wurde von den entsprechenden Gauleitungen offen und deutlich befürwortet – sah man doch von staatlicher Seite (!) den Einsatz dieser Priester als Mittel der Germanisierungspolitik an. Die deutsche Sprache wurde im Gottesdienst, bei der Sakramentenspendung, im Unterricht und sogar bei Inschriften im kirchlichen Raum (Friedhöfe, Gotteshäuser etc.) vorgeschrieben. Dazu kurz: Samerski, Priester im annektierten Polen (wie Anm. 5), 19 - 23. Samerski, Priester im annektierten Polen (wie Anm. 5), 25- 26
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wandte sich Splett im März gleich zweimal an das Kölner Generalvikariat und bat um personelle Hilfe. Nach Aufrufen in kirchlichen Blättern, persönlichen Aufforderungen, Eignungsprüfungen und der Einreisebewilligung der Gauleitung konnten im besetzten Bistum Kulm seit 1940/41 meist bis zum Kriegsende tatsächlich insgesamt zwölf Kölner Priester Dienst tun.12 Im Reichsgau Wartheland war die kirchliche Situation durch die harsche Religionspolitik des dortigen Gauleiters viel schwieriger; dort wurde ein Einsatz von rheinischen Priestern erst im Frühjahr 1942 möglich.13 Auf den Aufruf des Kölner Ordinariats meldeten sich bis Mai sieben Kapläne, von denen schlussendlich nur zwei die Genehmigung durch den Reichsstatthalter erhielten, wovon noch ein Geistlicher kurz vor seinem neuen Einsatz einem Fliegerangriff auf Essen zum Opfer fiel.14 Damit stellte das Erzbistum Köln die meisten Geistlichen für den Dienst im Okkupationsgebiet frei. Hier ist bereits die Amtszeit von Erzbischof Frings erreicht. In welcher Weise sich der junge Erzbischof um die pastorale Notsituation in den Annexionsgebieten gekümmert hatte, ist unzureichend erforscht. Wir wissen aber, dass sich Frings direkt nach dem Ende der Kriegshandlungen und dem Einsetzen der großen Flüchtlings- und Vertreibungswellen intensiv mit der Heimatvertriebenenproblematik beschäftigt hatte. Ende November 1945 berichtete Frings, der inzwischen den Vorsitz der Fuldaer Bischofskonferenzen übernommen hatte, an Pius XII.: „Von Osten her wälzen sich Millionen von Deutschen – man schätzt 15 Millionen – westwärts, die von Haus und Hof vertrieben und jeglicher Habe beraubt sind“.15 Das zerstörte Erzbistum und die weitgehend in Trümmern liegende Stadt Köln hatte bereits große Not, die heimkehrenden Evakuierten wieder aufzunehmen und zu versorgen. Die großen Vertriebenenströme erreichten dementsprechend auch die weniger zerstörten Regionen wie Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern.16 In seinem Weihnachtshirtenbrief von 1945 ging Frings deutlich auf die Nöte der Heimkehrer und Vertriebenen ein, die er in der Herbergssuche von Maria und Joseph gespiegelt sah.17 Er rief seine Diözesanen auf, soweit es ging, Hilfe zu leisten; außerdem koordinierte er inter———— 12 13
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Dazu: Samerski, Priester im annektierten Polen (wie Anm. 5), 30 - 33. Zur kirchlichen Situation im Warthegau immer noch: Kazimierz Śmigiel, Die katholische Kirche im Reichsgau Wartheland 1939-1945, Dortmund 1984. Dazu: Samerski, Priester im annektierten Polen (wie Anm. 5), 42. Zitierte nach: Trippen, Frings I (wie Anm. 3), 168. Zahlen, Karten und Berichte über die Vertreibungsproblematik ausführlich bei: Theodor Schieder, Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 1, Teil 1- 3, München 1954 -1960. Trippen, Frings I (wie Anm. 3), 168 -169.
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konfessionell und überregional die unterschiedlichen Hilfsaktionen und bewegte die vor allem betroffenen Bischöfe von Nordwestdeutschland Ende Januar 1946 zu einer gemeinsamen Kanzelverkündigung, die jedoch wegen unverhohlener Kritik an den Besatzungsmächten nicht publiziert wurde. Hier wurden in einem „flammenden Protest“ 18 die Methoden der Vertreibung vor der Weltöffentlichkeit gegeißelt und die Bevölkerung aufgerufen, die umgesiedelten Menschen aus dem Osten mit Opferbereitschaft und christlicher Liebe zu empfangen. Nachdem im Sommer 1946 die Vertriebenenströme auch die ländlichen Regionen des Kölner Erzbistums erreicht hatten, wandte sich Frings Ende Juli an die Landdekanate: „Die armen Flüchtlinge befinden sich buchstäblich in äußerster Not, und deshalb sind alle Menschen, die Heim und Habe besitzen, durch das Gebot der Liebe streng verpflichtet, ihnen auch unter großen persönlichen Opfern zu helfen“.19 Dieser energische und unmittelbare Eifer für humanitäre und pastorale Belange, getragen von Kardinal Frings, der als Vorsitzender der Bischofskonferenzen auch um Vorbildfunktion bemüht war, ist unzweifelhaft besonders herauszustellen, zumal das Erzbistum selbst Not litt und man ganz unvorbereitet auf den Menschenstrom war. Für den Kardinal war die Situation der geschätzten 6,5 Millionen katholischer Vertriebener „eines der wichtigsten und schwierigsten Probleme“ 20 für das katholische Nachkriegsdeutschland. In der Neuorganisation der Vertriebenenseelsorge im Westen Deutschlands spielte Frings in den ersten Nachkriegsjahren unzweifelhaft eine sehr bedeutsame Rolle. Über seine Tätigkeit als Vorsitzender der Bischofskonferenz ist bereits fundiert veröffentlicht worden.21 Er hatte nach dem frühen Tod des Päpstlichen Sonderbeauftragten der heimatvertriebenen Deutschen, des Bischofs Maximilian Kaller (1930-1947) 22, die Oberaufsicht über die Vertriebenenfrage in Deutschland inne.23 Das war umso bedeutsamer, als sich der Hl. Stuhl seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im-
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Auch zum folgenden: Trippen, Frings I (wie Anm. 3), 169. Zitiert nach: Trippen, Frings I (wie Anm. 3), 169. Trippen, Frings I (wie Anm. 3), 181. Frederic Buscher, Cardinal Joseph Frings and the german Refugee Crisis, 1945 - 1955, Pittsburgh 2000; Norbert Trippen, Die Integration der heimatvertriebenen Priester, in: Franz Lorenz, Schicksal Vertreibung (wie Anm. 2), wiederholt: Trippen, Frings I (wie Anm. 3), 171-188. Kaller (1880 -1947), 1926 - 30 Apost. Administrator / Prälat von Tütz bzw. Schneidemühl, 1930 1945 Bischof von Ermland; Erwin Gatz (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945 2001. Ein biographisches Lexikon, Berlin 2002, 185- 188. Frings wurde durch ein römisches Schreiben vom 12. April 1948 zum „hohen Protektor für das gesamte Flüchtlingsproblem“ ernannt: Trippen, Frings I (wie Anm. 3), 186.
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mer stärker aus dieser brisanten und politisch belasteten Frage zurückhielt 24, wie später noch deutlich werden wird. Das persönliche Verdienst von Kardinal Frings um die konkrete Integration von vertriebenen Geistlichen in Köln liegt noch weitgehend im Dunkeln. Dies soll nun anhand von verschiedenen Einzelschicksalen schlaglichtartig beleuchtet werden. Das Problem der in West- und Mitteldeutschland weilenden ostdeutschen Priester und Priesteramtskandidaten 25 wurde auf der Deutschen Bischofskonferenz vom August 1945 angeschnitten – die Frage der ebenfalls heimatlosen Ordinarien und Weihbischöfe, von denen im Westen und der Mitte Deutschlands etliche weilten, wurde nicht thematisiert, vermutlich weil die Ernennung und Abberufung von Bischöfen Sache des Papstes war. Allerdings stand die Versorgungsfrage im Raum, die sofort beantwortet werden musste. Auf der besagten Sitzung vom August, als die Bevölkerungssituation noch im Fluss war, ordnete man die vertriebenen Priester seelsorglich ihren Landsleuten zu, die bislang von Ordensgeistlichen betreut wurden.26 Erst 1947/48, als erste Zahlen vorlagen, die Situation sich leicht konsolidiert und man erste Erfahrungen im Westen gemacht hatte, wurde die virulente Frage der Priesteramtskandidaten und Geistlichen durch die Bischofskonferenz und den Papst einer vorläufigen Klärung zugeführt. Den deutschen Vorschlag weitgehend rezipierend, verordnete Rom am 14. Mai 1947, dass die im Westen weilenden Ordinarien (Breslau, Ermland, Schneidemühl) ihre Priester zum Dienst in einer anderen Diözese verpflichten konnten.27 Bei Rückruf in den Dienst der Ursprungsdiözese sollten die Aufnahmeordinarien zwei Monate zuvor informiert werden. Die vertriebenen Geistlichen wurden verpflichtet, sich innerhalb eines Monats beim Ortsbischof ihres derzeitigen Wohnortes zu melden und dort eine Aufgabe wahrzunehmen. Von dieser Regelung waren aber die vertriebenen Danziger Geistlichen nicht betroffen 28, da ihr Bistum auch nach 1939/40 nicht zum Einzugsge-
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Zunächst war der Limburger Bischof Dirichs Nachfolger des im Juli 1947 verstorbenen ermländischen Bischofs Kaller Päpstlicher Sonderbeauftragter für die deutschen Heimatvertriebenen. Er starb bereits Ende 1948. Ihm folgte im Oktober 1949 der Schneidemühler Prälat Hartz nach, der allerdings keine päpstliche Beauftragung erhielt, sondern nur die der Fuldaer Bischofskonferenz: Trippen, Frings I (wie Anm. 3), 178 -188. Vgl. dazu: 5. Verzeichnis der deutschen vertriebenen Priester aus dem Osten. Stand 1.1.1960, hrsg. vom Priesterreferat, Königstein/TS, Limburg 1960. Trippen, Frings I (wie Anm. 3), 171. Dazu: Trippen, Frings I (wie Anm. 3), 183 - 185. Verzeichnis mit biographischen Angaben: Richard Stachnik, Danziger Priesterbuch 1920- 1945; 1945 -1965; Hildesheim 1965, 199 - 223.
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biet der Deutschen Bischofskonferenzen gehörte.29 Der zuständige Ordinarius Splett ist 1946 von einem polnischen Tribunal verurteilt und erst Ende 1956 in die Bundesrepublik abgeschoben worden.30 Dazu aber später. Zunächst ging es um einen anderen Bischof, der in Köln seine zweite Heimat fand: der Breslauer Weihbischof Joseph Ferche (1888-1965).31 Der gebürtige Oberschlesier wurde nach langen Jahren in der aktiven Pfarrseelsorge 1930 in das Breslauer Domkapitel berufen. Große Verdienste erwarb er sich 1939/40 als Erzbischöflicher Kommissar des nach Kriegsbeginn an das Deutsche Reich angeschlossene Olsa-Gebiet – eines tschechoslowakischen Landzipfels, der kirchlich seit langem zur Erzdiözese Breslau gehörte. Dank seiner geschickten und pastoral orientierten Arbeit wurde Ferche 1940 zum Weihbischof für Breslau ernannt. Nach seiner Ausweisung im September 1946 hielt er sich für einige Monate im Gebiet der SBZ auf, bevor er nach langem Suchen Anfang 1947 in Köln eintraf. Den Weg dorthin hatte Frings ihm geebnet, nachdem die Suche nach einer dauerhaften Betätigung in der späteren DDR und in Berlin ergebnislos verlaufen war. Nachdem er die Vorsitzenden der Freisinger und der Fuldaer Bischofskonferenzen Anfang Oktober Weihbischof Joseph Ferche um 1955 1946 auf seine neue Si———— 29
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Dies hat der Hl. Stuhl auf Anfrage von Splett 1941 ausdrücklich entschieden: Stefan Samerski, Carl Maria Splett, in: Stefan Samerski (Hg.), Das Bistum Danzig in Lebensbildern. Ordinarien, Weihbischöfe, Apostolische Visitatoren 1922/25 bis 2000, Münster u.a. 2003, 61-73, hier: 69. – Kurz zur Geschichte und Organisationsstruktur des jungen Bistums: Samerski, Das Bistum Danzig in Lebensbildern, 7- 31. Zum Prozess ausführlich: Bräuel / Samerski, Ein Bischof vor Gericht (wie Anm. 8). Zu Ferche vgl. jüngst die Arbeit: Sebastian Holzbrecher, Weihbischof Joseph Ferche (1888 -1965). Seelsorger zwischen den Fronten, Münster 2007.
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tuation aufmerksam gemacht hatte 32, erreichte ihn während einer Firmreise im Thüringer Wald Anfang November 1946 gänzlich unerwartet die Einladung von Kardinal Frings, in das Erzbistum Köln überzusiedeln.33 Nach dem Tod von Joseph Hammels (1868-1944) 34 war die Stelle des zweiten Kölner Weihbischofs frei geworden; außerdem bot der Kölner Oberhirte Ferche eine vakante Domherrnstelle im Kölner Metropolitankapitel als angemessene Sustentation an.35 Frings hatte durch die übergroße Arbeitsbelastung angesichts seines Vorsitzes in der Bischofskonferenz und des Vertriebenenstroms in das ausgedehnte rheinische Erzbistum bischöfliche Unterstützung dringend nötig. Er erkannte aber auch die pastorale Notwendigkeit einer mentalitätsbezogenen Seelsorge in Köln: Pfingsten 1947, also kurz nach Ferches Eintreffen in der rheinischen Metropole, teilte er mit: „Für mich bedeutet es eine große Freude, den Ostflüchtlingen zu zeigen, dass wir helfen wollen, wo wir können, und einen sichtbaren Beweis der inneren Verbundenheit zwischen Katholiken des Ostens und des Westens in Deutschland zu erbringen“.36 Neben diesem wahrhaft katholischen Gedanken spielte für ihn sicherlich auch der Beratungsbedarf in Vertriebenenfragen eine wichtige Rolle. Der Kölner Kardinal zog bekanntermaßen mit Vorliebe ausgewiesene Experten vor wichtigen Entscheidungen zu Rate.37 Der Breslauer Weihbischof fasste das Kölner Angebot als große Ehre und unter den damals gegebenen Umständen als nachhaltige Zukunftsoption auf: In Köln tat sich ihm ein dauerhaftes Wirkungsfeld auf, dass seiner Position und Qualifikation angemessen erschien. Nach einer längeren Zeit der Beratung und Entschlusslosigkeit legte Ferche schließlich Anfang Dezember 1946 die Entscheidungsgewalt in Frings’ Hände, der seit Anfang 1944 auf einen zweiten Weihbischof wartete und Ferche zu einer klaren Antwort drängte.38 Bei diesem Tauziehen muss die besondere Situation und Position Ferches in Rechnung gestellt werden, der zwar in der SBZ drin———— 32
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Dazu: Holzbrecher, Ferche (wie Anm. 31), 121- 122. Der Münchener Erzbischof Faulhaber als Vorsitzender der Freisinger Bischofskonferenzen hatte wegen der starken Zerstörung Münchens abgesagt. Holzbrecher, Ferche (wie Anm. 31), 90, 92. Zu Hammels (1868 - 1944), 1924-1944 Kölner Weihbischof : Eduard Hegel, Hammels, Joseph, in: Erwin Gatz (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785- 1803 bis 1945, Berlin 1983, 281. Holzbrecher, Ferche (wie Anm. 31), 92. Zitiert nach: Holzbrecher, Ferche (wie Anm. 31), 93 Anm. 367. Ende 1945 hatte sich der Kardinal noch generell gegen eine solche Transferierung ausgesprochen; zu jenem Zeitpunkt war das Vertriebenenproblem jedoch in Köln noch nicht virulent. Trippen, Frings I (wie Anm. 3), 191. Holzbrecher, Ferche (wie Anm. 31), 107.
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gend als Sakramentenspender gebraucht wurde, aber andererseits mit zahlreichen vertriebenen und einheimischen Geistlichen in eine Konkurrenzsituation geriet und nur mit Schwierigkeiten finanziert werden konnte. Am 20. Januar 1947 begab sich Ferche schließlich persönlich nach Köln, um das großzügige Angebot anzunehmen und sich vorzustellen.39 Er resignierte dann auf sein Breslauer Kanonikat, um das Kölner anzunehmen. Auf Antrag von Frings ernannte ihn der Papst am 27. März 1947 offiziell zum Weihbischof in Köln – ein Amt, das er am 1. Juli offiziell antrat.40 Als neue Aufgaben erwarteten ihn in der Rheinmetropole die üblichen Pontifikalhandlungen sowie die Integration der Heimatvertriebenen. Nun konnte sich Ferche in gesicherten Bahnen und mit gewohnter pastoraler Tatkraft seinem umfangreichen Arbeitspensum widmen. Schon im August visitierte er 45 Klöster mit 700 Schwestern; bis Ende Dezember hatte er 55 der insgesamt 90 Pfarreien von Köln und Leverkusen besucht sowie in Köln und Essen rund 15.000 Kindern die Firmung gespendet.41 Dieser von großer Dankbarkeit getragene Elan setzte sich fort. Mit der Zeit wurde er mehr und mehr in die Seelsorge und Verwaltung des Erzbistums eingebunden. Ferche wurde bald zum Vorsitzenden der Diözesancaritas 42 ernannt und vom Generalvikariat mit der Betreuung der Pfarrexamen in Pastoral- und Moraltheologie sowie in Liturgie betraut. Außerdem wurde er zum Promotor für die Seligsprechung des „Gesellenvaters“ Adolf Kolping (1813-1865) 43 bestellt. Seine Integration in das ihm bislang fremde Köln wurde vor allem durch seinen guten Kontakt zu Frings erleichtert, der ihn gelegentlich zu einer Tasse Kaffee und einem Gespräch bat.44 Ein solch enges persönliches Verhältnis zum Ordinarius war Ferche in Breslau nicht bekannt gewesen! Zu Ferches goldenem Priesterjubiläum 1961 dankte ihm der Kölner Erzbischof mit den Worten: „Er ist einer der Unsrigen geworden.“ 45 Zu jener Zeit hatten ihn bereits Krankheiten zu längeren Kur- und Krankenhausaufenthalten gezwungen. Dennoch war er 1963 zur ersten Sessio des Zweiten Vatikani———— 39 40 41 42
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Holzbrecher, Ferche (wie Anm. 31), 112. Holzbrecher, Ferche (wie Anm. 31), 132 -133. Holzbrecher, Ferche (wie Anm. 31), 133. Zur Arbeit der Caritas im Erzbistum Köln: Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln (Hg.), 50 Jahre Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln 1916-1966 (= Sonderdruck der CaritasNachrichten 9/10), Köln 1967; Norbert Feldhoff / Alfred Dünner (Hg.), Die verbandliche Caritas. Praktisch-theologische und kirchenrechtliche Aspekte, Freiburg / Br. 1991, bes. der Beitrag von Hermann-Josef Scheidgen (S. 21-51). Zum Bahnbrecher des katholischen Vereinswesens kurz: Heinrich Festing, Adolph Kolping, in: Lexikon der Heiligen und Heiligenverehrung, Bd. 1, Freiburg / Br. 2003, 23 - 24. Holzbrecher, Ferche (wie Anm. 31), 134. Zitiert nach: Holzbrecher, Ferche (wie Anm. 31), 134.
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schen Konzils nach Rom geflogen und hatte dort atmosphärisch an der Versöhnung der polnischen und deutschen Bischöfe mitgewirkt. Er starb am 23. September 1965 und wurde am Tag seines silbernen Bischofsjubiläums in der Kölner Domherrengruft beigesetzt.46 Nach diesem Beispiel einer gelungen persönlichen und seelsorgerlichen Integration in Köln sei ein weiteres Bischofsschicksal angeführt, das weitaus verwickelter und politisch aufgeladener war als das Ferches. Der bereits erwähnte Carl Maria Splett war Ordinarius von Danzig, der selbst nie auf diesen Bistumstitel verzichtet hatte. Er nahm nach seiner Ausweisung ebenfalls im Erzbistum Köln seinen Wohnsitz. Bei dieser geographischen Entscheidung spielte allerdings die Person des Kölner Erzbischofs weniger eine Rolle als Spletts Freund in Neuss, der dortige Oberstadtdirektor Dr. Josef Nagel (1895-1963) 47, der den Bischof über die Studentenverbindung her kannte und mit ihm auch während dessen Gefangenschaft in Briefkontakt stand. Nagels langjähriger politischer Freund und beruflicher Weggefährte Dr. Adolf Flecken (1889-1966) 48, der spätere nordrhein-westfälische Innenund Finanzminister, und Kardinal Frings entstammten eingesessenen Neusser Familien. Gemeinsam mit Nagel, einem gebürtigen Kölner, kooperierten sie in der Angelegenheit Splett sehr effektiv. Nach der Verurteilung Spletts durch ein befangenes Gericht in Gdańsk Anfang Februar 1946 bemühten sich Danziger Geistliche bei Frings seit 1947 um die Freilassung des Bischofs.49 Gelegentlich eines gemeinsamen Romaufenthaltes im Frühjahr 1947 sprach der Kölner Kardinal darüber mit dem in Berlin sitzenden Bischof Heinrich Wienken (1883-1961), der schon seit langen Jahren in Verhandlungen mit Regierungsstellen in der Hauptstadt reiche Erfahrungen gesammelt hatte.50 Das päpstliche Staatssekretariat hatte Frings schon Anfang des Jahres mitgeteilt, dass sich Pius XII. (1939-1958) ———— 46 47
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Holzbrecher, Ferche (wie Anm. 31), 135. Nagel war 1945-1946 Oberbürgermeister und von 1946-1960 Oberstadtdirektor von Neuss; freundliche Auskunft des Archivdirektors Dr. Jens Metzdorf / Neuss. Flecken gehörte 1945 für die CDU dem Neusser Stadtrat und seit 1947 dem Landtag von NRW an. Er wurde 1950 Innenminister und 1952 Finanzminister. Zu ihm: Nicolaus Bömmels, Dr. Adolf Flecken zum Gedächtnis. Leben und Werk eines Neusser Politikers und Heimatfreundes, in: Neusser Jahrbuch für Kunst, Kulturpolitik und Heimatkunde 1967, 35 - 36. Die Hinweise zum Neusser Kreis und ihrer Aktivität verdankte ich der freundl. Auskunft von Herr Archivdirektor Dr. Jens Metzdorf, Stadtarchiv Neuss. Historisches Archiv des Erzbistums Köln (AEK), CR II, 25.20e, 1, Bittgesuche Danziger Geistlicher an Frings. Wienken (1883 - 1961), 1937- 1951 Generalvikar des Bischofs von Meißen, 1951- 1957 Bischof von Meißen, 1937- 1952 Leiter des Commissariats der Fuldaer Bischofskonferenz: Martin Höllen, Heinrich Wienken, der „unpolitische“ Kirchenpolitiker. Eine Biographie aus drei Epochen des deutschen Katholizismus, Mainz 1981.
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für den Prozess Spletts sehr interessiert und sich um dessen Freilassung bemüht hatte. Diese Aktionen waren allerdings erfolglos verlaufen.51 Wienken wie Frings waren ratlos, ob und was in dieser Situation zu tun sei, zumal im Februar 1947 weitere päpstliche Bemühungen erfolgten, die durch deutsche Eingaben an polnische Behörden nur gestört werden könnten.52 Immerhin liefen beim Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenzen alle Fäden zusammen, und dieser verfolgt nicht nur die Entwicklung, sondern bemühte sich auch um wirksame Lösungsvorschläge. Nagel dankte Frings jedenfalls im Juli 1947 für dessen Aktivität.53 Ende 1949 versuchten Nagel und Flecken über den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, eine Intervention der Alliierten zustande zu bringen.54 Da diese aus fadenscheinigen Gründen aber abwinkten und auf eine Kontaktaufnahme zwischen deutschen und polnischen Bischöfen verwiesen, wurde wiederum Kardinal Frings eingeschaltet. Ende Januar 1950 kam ein Dreiergespräch in Köln zustande, bei dem Frings zusagte, in der folgenden Woche in Rom mit dem Kardinalstaatssekretär zu sprechen. Diese als auch eine Neusser Intervention beim polnischen Generalkonsul verliefen jedoch im Sande. Als Spletts Haftstrafe im polnischen Gefängnis Wronki bei Posen 1953 verbüßt war, bemühte sich Nagel um die Ausreise aus Polen, zumindest aber um die Freilassung des Oberhirten.55 In Deutschland hatte man nur sehr ungenaue und widersprüchliche Kenntnis über Spletts Befinden und Schicksal. Nagel sprach nun im Auswärtigen Amt in Bonn vor, um politische Unterstützung zu stimulieren. Das Ministerium zeigte sich in der streng geheimen Besprechung sehr interessiert am Schicksal des letzten deutschen Bischofs von Danzig, riet aber davon ab, kirchliche Stellen zugunsten von Spletts Freilassung einzuschalten. Diese, namentlich der Sekretär des Papstes und der inzwischen zum Bischof von Meißen avancierte Wienken, sollten lediglich Näheres über die Lebensumstände Spletts herausbringen. Frings selbst wurde zwar informiert – spätestens durch Wienken –, hatte aber, wie abgesprochen, direkt wohl nichts veranlasst, sondern nur an den Sekretär von Pius XII. geschrieben.56 In Rom bemühte man sich umgehend, Informationen über Spletts Schicksal einzuziehen, fand aber ganz offensichtlich keine zuverlässige Quelle. Nach vatikanischen Informationen sei ———— 51 52 53 54
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AEK, CR II, 25.20e, 1, Tardini an Frings, 20.1.1947. Den Hinweis hat P. Ivo Zeiger SJ gegeben: AEK, CR II, 25.20 e, 2, Nagel an Frings, 2.7.1947. AEK, CR II 25.20e, 2, Nagel an Frings, 2.7.1947. Auch zum Folgenden: Stadtarchiv Neuss, D.04.F.01, Nr. 464 (Nachlass Flecken). Freundliche Auskunft von Archivdirektor Dr. Metzdorf. Dazu: AEK, CR II 25.20e, 5, Aufzeichnung über eine Besprechung im Auswärtigen Amt, 13.7.1953. AEK, CR II 25.20 e, 5, Kölner Generalvikar an P. Leiber, 15.7.1953.
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der Danziger Bischof bereits Ende 1951 freigelassen worden mit der Auflage, Polen nicht zu verlassen.57 Man wolle sich bei den polnischen Bischöfen informieren und vorerst nichts Weiteres unternehmen, hieß es aus dem Vatikan. In der kritischen Zeit des auslaufenden Stalinismus in Polen waren etliche Bischöfe in Haft und einige Administratoren vertrieben worden; die Bedingungen für das kirchliche Leben waren allgemein sehr schwierig.58 Tatsächlich war Spletts Haftzeit am 10. August 1953 abgelaufen und er selbst ohne weiteres Gerichtsurteil in das Dominikanerkloster Stary Borek in Südpolen verbracht worden.59 Das konnte auch Nagel Ende August dem Kölner Generalvikariat melden.60 Auch die Zentrale Rechtsschutzstelle in Bonn stand zu jener Zeit mit dem Generalvikariat in Kontakt, um über verschiedene Rechtsanwälte die Ausreise von Splett in die Bundesrepublik zu ermöglichen.61 Erst Mitte November gab man dieses Tauziehen mit den polnischen Behörden auf, als klar war, dass Splett unter staatlichem Druck kein Ausreisegesuch stellen konnte.62 Inzwischen hielt sich der Bischof noch weiter abgelegen in einem Franziskanerkloster in den Beskiden auf, wo er isoliert und unter strenger Aufsicht lebte.63 Die staatliche und private Aktivität in Deutschland könnte sogar die Ursache für diese Verlegung unter erschwerten Bedingungen gewesen sein, so dass auch Frings hier gut beraten war, sich nicht persönlich einzuschalten. Im Sommer 1956 wirkte sich das politische Tauwetter in Polen für den internierten Danziger Bischof günstig aus.64 Am 17. Dezember 1956 konnte Splett seinen Aufenthaltsort in den Beskiden verlassen und sich in Warschau um die noch fehlenden Ausreisepapiere kümmern. Kardinal Frings erhielt schon Mitte November die Nachricht von der bevorstehenden Ausweisung Spletts.65 Es galt zunächst, Dokumente zu besorgen und eine Aufenthaltsgenehmigung für den Danziger Bischof in der Bundesrepublik zu erwirken. Die alles entscheidende Frage werde aber sein – so ein von Frings erbetenes ———— 57 58 59
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AEK, CR II 25.20 e, 5, P. Leiber an Generalvikar, 22.7.1953. Jan Siedlarz, Kirche und Staat im kommunistischen Polen 1945 - 1989, Paderborn u.a. 1996, 80 - 86. Zuletzt: Stefan Samerski, Danzig in Düsseldorf. Die letzten Lebensjahre des Danziger Bischofs Carl Maria Splett am Rhein, in: Düsseldorfer Jahrbuch 78 (2008), 241- 267, hier: 255. AEK, CR II 25.20e, 5, Notiz vom 31.8.1953. AEK, CR II 25.20e, 5, Rechtsschutzstelle an Kanzler des Erzbistums Köln, 1.9.1953. AEK, CR II 25.20e, 5, Rechtsschutzstelle an Generalvikariat Köln, 16.11.1953. Splett wurde am 2. September nach Dukla (Beskiden) verlegt; Samerski, Danzig in Düsseldorf (wie Anm. 59), 255. Zur Abschiebung Spletts zuletzt: Samerski, Danzig in Düsseldorf (wie Anm. 59), 256. Zur Gomułka-Ära: Siedlarz, Kirche und Staat (wie Anm. 58), 108 - 112. AEK, Akte CR II 25.20e, 6, Frings an Polzin, 28.11.1956.
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Gutachten –, ob Splett auf sein Bistum verzichten werde oder nicht.66 Denn Splett war längst zu einem Politikum geworden, noch ehe er im Westen eintraf. Frings wurde wegen der Tragweite des Falls empfohlen, sich in aller Vorsicht mit dem Nuntius in Verbindung zu setzen. Außerdem sollte der Kardinal umgehend mit dem polnischen Ministerpräsidenten Kontakt aufnehmen, damit Splett ausreisen könne. Splett sei von den Deutschen nahezu vergessen, so dass Frings diesen Schritt aus humanitären Gründen tun müsse.67 Ob es dazu kam, ist unbekannt; ein solches Schreiben war zu jenem Zeitpunkt auch nicht mehr erforderlich gewesen, denn schon am 22. Dezember teilte Splett dem Kölner Ordinariat mit, dass seine Ankunft am Rhein unmittelbar bevorstehe.68 Schließlich erreichte der Bischof am 27. Dezember mit einem RotKreuz-Zug Neuss am Rhein, wo er bei der befreundeten Familie Nagel in der Nordkanalallee 72 seinen provisorischen Wohnsitz nahm.69 Die Nachricht von seiner Ausreise aus Polen hatte sich unter den deutschen Katholiken rasch herumgesprochen. Kardinal Frings hatte schon am nächsten Tag ein Begrüßungsschreiben für den Danziger Bischof entworfen, in dem er sein Bedauern über die langen Jahre der Unfreiheit zum Ausdruck brachte.70 Die Kölner Kirchenzeitung meldete dann offiziell Spletts Anwesenheit im Kölner Erzbistum am 6. Januar 1957. Daraufhin versuchten zahlreiche Weggefährten und Interessierte, mit dem Danziger Bischof Kontakt aufzunehmen.71 Schon im Januar traf er mit den heimatvertriebenen Danzigern zusammen. Anfang März reiste er nach Rom, wo er als Bischof von Danzig am 16. des Monats von Pius XII. in Privataudienz empfangen wurde. Der Papst führte mit ihm ein langes Vier-Augen-Gespräch, informierte sich über die Gefangenschaft des Bischofs und die Situation der polnischen Kirche. Anschließend bezeichnete ihn der Papst voller Hochachtung als Bekennerbischof.72 Frings gewährte Splett zunächst Ruhe nach den Strapazen der Misshandlungen und der Gefangenschaft in Polen und gab ihm die Möglichkeit, sich zunächst neu zu orientieren. Dann regelte die Kölner Erzdiözese für den Danziger Oberhirten die wirtschaftliche Absicherung: Die westdeutschen ———— 66 67 68 69 70 71
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AEK, Akte CR II 25.20e, 6, Gutachten von Teusch, 27.11.1956 AEK, Akte CR II 25.20e, 6, Gutachten von Teusch, 27.11.1956. AEK, Akte CR II 25.20e 6, Schreiben Spletts, 22.12.1956. Samerski, Danzig in Düsseldorf (wie Anm. 59), 256. AEK, Akte CR II 25.20e 7, Entwurf von Frings an Nagel / Neuss, 28.12.1956. AEK, Akte CR II 25.20e 7, Urbanczyk an Kölner Generalvikariat, 10.1.1957; Kolbe / Schlechbach an Generalvikariat Köln, 21.1.1957. Samerski, Danzig in Düsseldorf (wie Anm. 59), 257.
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Bischöfe stellten dem rheinischen Erzbistum ab April 1957 monatlich 1.000 DM zum Unterhalt für ihren neuen Gast zur Verfügung.73 Splett erhielt die erste Überweisung Anfang Mai.74 Zu der Zeit hielt er sich gerade zur Erholung in Wiesbaden auf, wo er auch die ersten wichtigen Formalitäten (Lohnsteuerkarte etc.) erledigte.75 Später übernahm die Bundesregierung die finanziellen Aufwendungen für den Bischof von der Weichsel. Von Wiesbaden aus bat Splett das Kölner Generalvikariat um eine Wohnung im Erzbistum. Er dachte dabei an ein geistliches Haus, das von Ordensschwestern geleitet wurde.76 Seine Wege führten ihn jedoch zunächst nicht nach Düsseldorf: Am 28. Juni bot der Generalvikar dem ostdeutschen Bischof ein neues Domizil in Bad Godesberg bei den Vinzentinerinnen in der Kronprinzenstraße an.77 Der Oberhirte bedankte sich umgehend und nahm das Angebot an.78 Den Umzug verschob er bis nach der Bundestagswahl vom 15. September.79 Inzwischen erreichte ihn auch der päpstliche Auftrag vom Juni des Jahres, die Danziger Katholiken in der Bundesrepublik seelsorglich zu betreuen.80 Dies tat er in Zukunft vorrangig und mit großem organisatorischem Eifer. Seine gehaltvollen Predigten waren bei den Gläubigen immer noch geschätzt. Immer wieder vertrat er das Recht auf Heimat als Naturrecht und setzte sich dafür ein, das heimatliche Eigengut auch in der Fremde zu pflegen; gleichzeitig aber mahnte er auch an die Verpflichtung zur Eingliederung in die neue Gesellschaft. Er teilte die Sorge der polnischen Katholiken im Kampf gegen das totalitäre System und freute sich über Nachrichten aus Polen. Ende August 1957 besichtigte er seine neue Unterkunft in Bad Godesberg und besprach alles Wesentliche mit der Hausoberin.81 Am 26. September war dann der Umzug des wenigen Gepäcks abgeschlossen. Er dankte dem Kölner Kardinal für die Vermittlung und bat um einen Gesprächstermin, um seine zukünftige Tätigkeit im Erzbistum zu besprechen.82 Für Splett kam also ganz offensichtlich keine andere Diözese in Frage als das ———— 73
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Um den 20. März 1957 wurden nach Köln 1000 DM überwiesen: AEK, Akte CR II 25.20e, 7, Teusch an Lewen, 20.3.1957. AEK, Akte CR II 25.20e 7, Generalvikariat Köln an Splett, 3.5.1957 (Überweisung von 2000 DM). AEK, Akte CR II 25.20e 7, Splett an Generalvikariat Köln, 31.5.1957. AEK, Akte CR II 25.20e 7, Splett an Teusch, 31.5.1957. AEK, Akte CR II 25.20e 7, Teusch an Splett, 28.6.1957. AEK, Akte CR II 25.20e 7, Splett an Teusch, 1.7.1957. AEK, Akte CR II 25.20e 7, Generalvikariat Köln, Aktenvermerk, 9.9.1957. Ausführlicher dazu: Samerski, Schuld und Sühne (wie Anm. 8), 40; ders., Carl Maria Splett (wie Anm. 29), 71. AEK, Akte CR II 25.20e 7, Splett an Teusch, 27.8.1957. AEK, Akte CR II 25.20e 7, Splett an Frings, 26.9.1957.
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Kölner Erzbistum. Das Gespräch zwischen den beiden Oberhirten fand am 3. Oktober um 11 Uhr statt, zeitigte aber keine greifbaren Zukunftspläne. Sicherlich war es zunächst einmal wichtig, sich kennen zu lernen und auszusprechen. Frings drängte Splett zu einem pastoralen Einsatz im Kölner Erzbistum und erteilte ihm hierzu mündlich die Vollmacht für Predigt, Gottesdienste etc. Er stimmte mit Splett darin überein, in der Bischofskonferenz im kleinen Kreis darüber nachzudenken, welche Aufgabe er neben der Danziger Vertriebenenpastoral übernehmen könne.83 Splett neigte damals zu einer eher seelsorgerlichen Tätigkeit, da ihm der direkte Kontakt zu den Menschen stets wichtig war. Vermutlich auf ein konkretes Kölner Angebot reagierend, äußerte er einen Tag nach dem Gespräch mit Frings: „Die trockene juristische Tätigkeit im Offizialat würde mir nach den Erlebnissen der letzten zwölf Jahre doch nicht innere Befriedigung und reine Freude bereiten“.84 Schon am nächsten Tag sandte der Kardinal die erbetenen schriftlichen Vollmachten und versprach, mit seinen Amtsbrüdern in der Bischofskonferenz Rücksprache zu halten.85
Schlesiertag 1958: Kardinal Frings u.a. mit Prälat Golombek und Abordnung der Schlesischen Malteser-Association
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AEK, Akte CR II 25.20e 7, Splett an Frings, 4.10.1957. AEK, Akte CR II 25.20e 7, Frings an Splett, 5.10.1957 AEK, Akte CR II 25.20e 7, Frings an Splett, 5.10.1957.
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Ähnlich wie Ferche machte Splett von diesen Vollmachten regen Gebrauch und spendete im Kölner Bistum und weit darüber hinaus auch in Zukunft alle Sakramente. Besonders als Firmspender, aber auch zur Weihe neuer Kirchen – wie beispielsweise die zur Heiligen Familie in DüsseldorfStockum am 1. Juli 1962 86 – und zu Dekanatsvisitationen wurde der Bischof aus dem Osten im ausgedehnten rheinischen Erzbistum eingesetzt.87 Spletts Schwerpunkt war aber die Seelsorge an seinen Danzigern; seine Tätigkeit für das Erzbistum Köln lässt sich allenfalls als Aushilfe charakterisieren. Die Zeiten der Weltpolitik hatten sich 1961 geändert. Johannes XXIII. (1958-1963) verfocht eine neue Ostpolitik. Im Zuge dieser Neuorientierung versprach sich die Römische Kurie Vorteile von einem Entgegenkommen gegenüber der Volksrepublik Polen, so dass der Casus Splett zur Belastung wurde.88 Auf diese Weise kam die Resignationsfrage wieder ins Spiel. Ende August 1961 ließ der Nuntius Frings vertraulich mitteilen, es bestehe „die Wahrscheinlichkeit, dass im Laufe der nächsten Monate an Seine Exzellenz, den Hochwürdigsten Herrn Bischof Dr. Carl Maria Splett von Seiten des Heiligen Stuhls aus sehr schwerwiegenden religiös-seelsorglichen Erwägungen das Ersuchen gerichtet werden wird, auf sein Bistum zu resignieren“.89 Um eine „befriedigende und honorable Lösung“ 90 herbeizuführen, solle der Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen 91 als Heimatvertriebenenbischof zurücktreten und diesen Posten für Splett freimachen. Frings solle nun sehr rasch ein entsprechendes Votum der Fuldaer Bischofskonferenz herbeiführen, so dass diese Umbesetzung mit zwei Amtsverzichten schnell vonstattengehen könne. Das hätte in der Praxis einen doppelten Druck auf Splett bedeutet, dem er sich nicht hätte entziehen können! Angesichts dieser massiven Nagelprobe für die Glaubwürdigkeit der Vertriebenenpastoral, die vor allem in der Zeit des Kalten Krieges zu einem gravierenden politischen Problem wurde, zeigte Frings Standfestigkeit, echte ———— 86
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Stefan Samerski, Düsseldorf als Zentrum der Danziger Katholiken. Das unpolitische Politikum Carl Maria Splett, Bischof von Danzig (1938-1964), in: Düsseldorfer Jahrbuch 73 (2002), 295 - 309, hier: 302. Samerski, Schuld und Sühne (wie Anm. 8), 40. Zur Kurienpolitik unter Johannes XXIII.: Hansjakob Stehle, Geheimdiplomatie im Vatikan. Die Päpste und die Kommunisten, Zürich 1993, 283 - 290; Rudolf Lill, Zur vatikanischen Ostpolitik unter Johannes XXIII. und Paul VI., in: Karl-Joseph Hummel (Hg.), Vatikanische Ostpolitik unter Johannes XXIII. und Paul VI. 1958-1978, Paderborn u.a. 1999, 19 - 30 bes. 19 - 22. AEK, Nachlass Frings, 766; Promemoria der Apostol. Nuntiatur, 21.8.1961. Ebd. Janssen (1907 - 1988) war 1957-1982 Bischof von Hildesheim, 1957-1982 Beauftragter der Fuldaer Bischofskonferenz für die Vertriebenen- und Flüchtlingsseelsorge; Hans-Georg Aschoff, Janssen, Heinrich-Maria, in: Gatz, Die Bischöfe 1945- 2001 (wie Anm. 22), 265-267.
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Solidarität und Charakter! Im Anschluss an die Plenarkonferenz der deutschen Bischöfe konnte Frings in einem Handschreiben an den Nuntius am 1. September kurz und lapidar melden: „Obwohl der Hochw. Herr Bischof von Hildesheim sein Amt als Flüchtlingsbischof zur Verfügung stellte, wurde von der Übertragung dieses Amtes an Exzellenz Splett allerseits mit guten Gründen abgeraten“.92 Da er wegen der Brisanz der Angelegenheit nicht mehr dem Papier anvertrauen wollte, erklärte er sich zur mündlichen Stellungnahme bereit. Tatsächlich war das dann auch das letzte Wort, das in der Resignationsfrage gesprochen wurde: Splett starb 1964 als Bischof von Danzig. Die Einladung zum Zweiten Vatikanischen Konzil gab Splett wohl zum letzten Mal die Möglichkeit, seine eigenen Erfahrungen an der aktuellen Wirklichkeit zu spiegeln und theologisch zu durchdenken. Sein Votum für die Vorbereitungskommission des Konzils (August 1959), das man nur im Licht seines persönlichen Schicksals verstehen kann, setzte er am Schreibtisch in Düsseldorf auf. Darin forderte er eine theologische Erklärung über den Menschen in seiner personalen Würde, seinem Ursprung und Verhältnis zu seinem Nächsten. Im Westen drohe die Gefahr der Vermassung und der Übertechnisierung. Folgerichtig erwartete er aus der Sicht der katholischen Soziallehre eine Erklärung zu den Irrtümern des Kommunismus und Materialismus. Außerdem setzte er sich für eine neue Regelung der Jurisdiktion über die heimatvertriebenen Katholiken ein: Interessanterweise betonte er die Einheit von Hirt und Herde, die unabhängig vom jeweiligen Territorium fortbestehen sollte. Damit hatte er der Sache nach die Institution der Apostolischen Visitatoren vorweggenommen, wie sie nach 1964 für die ostdeutschen Priester und Gläubigen eingerichtet wurde.93 Diese Positionsbestimmung Spletts erklärt auch, warum er nie auf seinen Titel als Bischof von Danzig verzichtet hat, um seinem polnischen Amtbruder in Gdańsk den Weg frei zu machen. Als das Zweite Vatikanische Konzil im Oktober 1962 eröffnet wurde, war es vor allem die Liturgievorlage, an deren Beratungen Splett teilnahm. Aus eigener Erfahrung beabsichtigte er, auf die Schwierigkeiten beim Gebrauch der Landessprache in gemischtsprachigen Gebieten hinzuweisen, was aber unterblieb, da dieses Problem bereits einige Missionsbischöfe anschnitten. Bei der Verabschiedung des Liturgiedekrets auf dem Konzil am 4. Dezember 1963 firmierte er persönlich als Bischof von Danzig. Durch sein offenes, herzliches und geselliges Wesen förderte er die brüderliche Ein———— 92 93
AEK, Nachlass Frings, 766, Frings an Nuntius, 1.9.1961. Samerski, Düsseldorf als Zentrum (wie Anm. 86), 303.
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tracht der Konzilsväter, was sich auch auf die polnischen Mitbrüder auswirkte, deren Kontakt er suchte. Mit dem polnischen Bischofs-Koadjutor von Gdańsk, Edmund Nowicki (1956 -1971) 94, führte er ein ebenso freundschaftliches Gespräch wie mit dem polnischen Primas. Nach Düsseldorf zurückgekehrt, starb Splett ganz unerwartet am 5. März 1964 in seiner Wohnung.95 An seiner Beisetzung in der St.-Lambertus-Kirche in Düsseldorf nahmen neben dem Nuntius auch der Kölner Erzbischof Frings und drei weitere Bischöfe sowie hohe weltliche Würdenträger teil, die deutlich zum Ausdruck brachten, zu welch veritablen Politikum Splett in der Bundesrepublik Deutschland geworden war.96 Neben Ferche und Splett kamen auch zahlreiche vertriebene Priester an den Rhein, die zum Teil sogar von Frings angefordert wurden. So trafen direkt nach Kriegsende vier Breslauer Kleriker im Kölner Erzbistum ein, um auffallenderweise bei der Caritas in Altenberg Anstellung zu finden.97 In dieser humanitären Institution brauchte man nicht nur Experten mit ostdeutscher Ortskenntnis, sondern vor allem auch neue Mitarbeiter für die nach Kriegsende enorm anwachsende Arbeitslast der Caritas. Abschließend sei exemplarisch und kurz der konkrete Fall eines ermländischen Geistlichen erwähnt, der erst gegen Ende von Frings’ Amtszeit in die Bundesrepublik übersiedelte: Leo Kaminski (1895-1985).98 Dieser hatte während der Kriegszeit im Nachbarbistum Kulm ausgeholfen, wurde 1951 Kanoniker des Domkapitels von Frauenburg (Ermland) und kam erst im Juli 1964 im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland, wo er seit dem 8. September als Prosynodalrichter (Diözesanrichter) am Erzbischöflichen Offizialat in Köln eingestellt wurde. Dieses Amt übte er bis zu seinem Tod im November 1985 aus. Im Juni 1972 wurde er zum Päpstlichen Ehrenprälaten ernannt. Auch hier treffen wir auf einen konkreten Fall von nach außen hin gelungener Integration in die rheinische Diözese. Will man ein abschließendes Resümee aus diesen disparaten Einzelschicksalen wagen, so wird deutlich, dass Frings der Vertriebenenproblematik in Köln größte Aufmerksamkeit widmete und den ausgewiesenen Geistlichen eine neue Heimat bieten wollte. Für deren Integration in das Kölner Erzbistum setzte er sich mit Wort und Tat intensiv und verständnisvoll ein ———— 94
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Nowicki (1900 -1971), 1956 -1964 Koadjutor sedi datus in Gdańsk, 1964-1971 Bischof von Gdańsk; Stanisław Bogdanowicz, Edmund Nowicki, in: Samerski, Das Bistum Danzig (wie Anm. 29), 91-104. Samerski, Schuld und Sühne (wie Anm. 8), 42. Dazu ausführlich: Samerski, Düsseldorf als Zentrum (wie Anm. 86), 261 - 264. Holzbrecher, Ferche (wie Anm. 31), 94-95. Zu Kaminski (1895 -1985) kurz: Samerski, Priester im annektierten Polen (wie Anm. 5), 83.
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und verteidigte ihre Ansprüche sogar gegen höhere kirchliche Stellen, wenn es sein musste. Die Ostdeutschen waren ihm außerdem als neue Mitarbeiter und Berater willkommen. Sein Vorgehen bei der verwickelten politischen Frage der Freilassung Spletts zeigt, dass er sich nicht vom Grundsatz der Klugheit abbringen ließ. Mehr als die wissenschaftliche Aufarbeitung von Frings Vertriebenenarbeit nach organisatorischen und kirchenpolitischen Gesichtspunkten machen die konkreten Einzelschicksale von ostdeutschen Bischöfen und Priestern deutlich, wie ernst es dem Kölner Erzbischof mit der Mitbrüderlichkeit war.
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Warum scheiterte die Kandidatur von Professor Johann Michael Sailer als Erzbischof von Köln in den Jahren 1816-1818? von Gerhard Schettler
Wer in der rheinischen Kirchen- und Landesgeschichte nach Kölner Erzbischöfen und Bischofskandidaten des 19. Jahrhunderts sucht, wird unausweichlich auf die theologische Doktordissertation über „das Domkapitel und die Erzbischofswahlen in Köln 1821-1929“ des Geehrten aus dem Jahre 1972 stoßen.1 Sie wurde zum wissenschaftlichen Prototyp und Standardwerk für vergleichbare Studien in der Kölner Kirchenprovinz.2 Wer in dieser Doktorarbeit von Prälat Prof. Dr. Norbert Trippen nach bedeutenden Bischofsgestalten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im süddeutschen Raum sucht, wird den Regensburger Bischof Johann Michael Sailer (†1832) dort nicht genannt finden. Wer aber in Meyers Großem Konversationslexikon, sechste Auflage 17. Band, vom Jahre 1909 unter dem Stichwort Michael Sailer nachsucht, findet dort den folgenden Halbsatz: „... 1818 zum Erzbischof von Köln bestimmt, aber wegen des Einspruchs der Kurie nicht ernannt ...“ 3 Des weiteren findet sich in der Habilitationsschrift von Walter Lipgens (†1984) über den ersten Kölner Erzbischof des 19. Jahrhunderts „Ferdinand August Graf Spiegel und das Verhältnis von Kirche und Staat (1789-1835)“ u.a. die Aussage, dass in Berlin der bekannte Rechtshistoriker Professor und preußische Staatsrat Friedrich Carl von Savigny (†1861) für das Erzbistum Köln „die Aufmerksamkeit auf Sailer gelenkt“ habe, doch der preußische Staatskanzler Karl August Fürst von Hardenberg (†1822) und der preußische „Kulturminister“ Karl Frhr. von Stein zum Altenstein (†1840) „in Aachen von Sailer den Eindruck erhielten. ‚als wolle er diese Unterhandlungen nur benutzen,
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Norbert Trippen, Das Domkapitel und die Erzbischofswahlen in Köln 1821-1929 (Beiträge zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 1), Köln / Wien 1972. Vgl. Friedrich Gerhard Hohmann, Domkapitel und Bischofswahlen in Paderborn [1. Teil], in: WZ 121 (1971), 365 - 450; Reimund Haas, Domkapitel und Bischofsstuhlbesetzungen in Münster 18131846 (Westfalia Sacra, Bd. 10), Münster 1991. Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, 6. Auflage, Bd. 17, Leipzig / Wien 1909, 427.
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um sein Verhältnis in Bayern besser zu stellen‘, und diese Kandidatur aufgeben.“ 4 Da also schon diese ersten Spuren zur Kandidatur Sailers für den Erzbischofsstuhl von Köln nicht stimmig sind und bisher auch nicht weiter beachtet wurden, soll im Folgenden erstmals versucht werden, die Sachverhalte, Umstände und Motive der gescheiterten Kandidatur Sailers aus den Quellen näher klären zu wollen. Die dabei zusätzlich gewonnenen Erkenntnisse erweisen sich für die Kölner Verhältnisse als interessant, da diese Kandidatur Sailers für die überregionale Bedeutsamkeit des erzbischöflichen Stuhls in Köln bisher in der bistumsgeschichtlichen Forschung nicht beachtet wurde.5 So kannten beispielsweise weder im Jahre 1941 Beda Bastgen in seinen Auswertungen der vatikanischen Quellen 6 noch Dominik Burkhard im Jahre 2005 in seiner Studie „... zu den Auswirkungen eines Systemumbruchs“ die Kandidatur Sailers in Köln.7 Denn auch in den aktuellen Forschungen zur „Römischen Inquisition und Indexkongregation“, in denen Hubert Wolf im Jahre 2001„das postume Inquisitionsverfahren“ von 1873 gegen Johann Michael Sailer ediert hat, „gilt er als eine der wichtigsten Persönlichkeiten des deutschen Katholizismus am Übergang von der Aufklärung zur Romantik“.8 Deshalb soll zunächst sein Lebensweg soweit skizziert werden, wie er Professor Johann Michael Sailer qualifizierte als erster preußischer Kandidat für den vor der Wiedererrichtung stehenden erzbischöflichen Stuhl in Köln. ———— 4
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Walter Lipgens, Ferdinand August Graf Spiegel und das Verhältnis von Kirche und Staat 1789 1835. Die Wende vom Staatskirchentum zur Kirchenfreiheit, (Veröffentlichungen der Historischen Kommission Westfalens XVIII, Westfälische Biographien IV), 2 Bände, Münster 1965, Bd. 1, 239f. Vgl. Rudolf Lill, Der Bischof zwischen Säkularisation und Kulturkampf, in: Peter Berglar – Odilo Engels (Hrsg.), Der Bischof in seiner Zeit. Bischofstypus und Bischofsideal im Spiegel der Kölner Kirche. Festgabe für Joseph Kardinal Höffner, Erzbischof von Köln), Köln 1986, 349- 396; Eduard Hegel, Das Erzbistum Köln zwischen der Restauration des 19. Jahrhunderts und der Restauration des 20. Jahrhunderts 1815 -1962 (Geschichte des Erzbistums Köln, Bd. 5), Köln 1987, 27- 46. Beda Bastgen, Die Besetzung der Bischofssitze in Preussen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Reimund Haas, München 1978, 218 - 233. Dominik Burkhard, Kirchliche Eliten und die Säkularisation. Zu den Auswirkungen eines Systemumbruchs, in: Rolf Decot (Hrsg.), Kontinuität und Innovation um 1803. Säkularisation als Transformationsprozeß. Kirche – Theologie – Kultur – Staat (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. für abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 65), Mainz 2005, 135-170. Hubert Wolf, Johann Michael Sailer. Das posthume Inquisitionsverfahren (Römische Inquisition und Indexkongregation, Bd. 2), Paderborn 2002, 9f. Hier wird nur der Versuch des bayerischen Königs Maximilian I. von 1819 genannt, ihn zum Bischof von Augsburg zu nominieren, was am „Widerstand der Kurie“ scheiterte.
Warum scheiterte die Kandidatur von Professor Johann Michael Sailer
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1. Zum Lebensweg von Johann Michael Sailer bis 1817 Johann Michael Sailer wurde am 17. November 1751, zwei Jahre nach Johann Wolfgang von Goethe, mit dem ihn dasselbe Todesjahr 1832 verbindet, in Aresing, Kreis Schrobenhausen bei Augsburg, als Sohn armer Schustersleute geboren. So war ursprünglich an eine schulische Bildung nicht zu denken gewesen. Sailers fromme Mutter Maria und seine Erinnerung an sie behielt Zeit seines Lebens einen prägenden Einfluss auf seinen Charakter. Man beachtet bei dem späteren Wirken Sailers selten und zu wenig, dass Johann Michael mit 18 Jahren bereits Vollwaise war. Durch den Eifer eines ortsansässigen Handwerkskollegen des Schusters Sailer wurde dem kleinen Johann Michael doch noch der Weg zu einer geistigen Erziehung geebnet. Es zeigte sich hierin die erste göttliche Fügung. Nach dem Besuch des Münchner Jesuitengymnasiums trat er 1770 als Novize in das Jesuitenkolleg Landsberg ein, doch schon 1773 wurde der Jesuitenorden päpstlich aufgehoben. Sailer studierte danach in Ingolstadt Philosophie sowie Theologie und wurde am 23. September 1775 im Dom zu Eichstätt zum Priester geweiht. Nach abgeschlossenem Studium wurde Sailer vom Kurfürsten Maximilian III. (1745-1777) dort zunächst zum Repetitor und 1780 zum Professor der Dogmatik ernannt. 1784 bestellte man ihn zum Professor der Theologie in Dillingen, wo er u.a. die Unterstützung von Clemens Wenzeslaus (1768-1802), Fürsterzbischof von Trier und Bischof von Johann Michael Sailer Augsburg, einem Enkel
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August des Starken (†1733), erfuhr. Infolge Missgunst verlor Sailer diese Stellung im Jahre 1794, erhielt durch seine Tüchtigkeit jedoch 1799 wieder eine Professur für Moral- und Pastoraltheologie an der bayerischen Landesuniversität in Ingolstadt, die 1800 nach Landshut überwechselte. Sailer erwies sich als ein Genie in der Menschenführung. Als Dr. phil. (Ingolstadt 1774) und Dr. theol. (1780) war er zudem ein wirklicher Gelehrter. Im gesamten deutschen Sprachraum besaß er überkonfessionell bleibende Freunde hohen Standes und Bekanntheitsgrades. Nicht verschwiegen werden soll seine gefühlvolle Beziehung zu der geistig-literarisch gebildeten und verheirateten Eleonore Auguste Gräfin Stolberg-Wernigerode (1748 1821) besonders im Jahre 1803, die Sailer auch in Verbindung mit der süddeutschen Linie der Hohenzollern und sogar mit dem Münsterer Kreis brachte.9 Auch Ludwig van Beethoven wollte auf Empfehlung der Wiener Geistlichkeit seinen Neffen in Sailers Internat schicken.10 Zu seinen Schülern gehörte u.a. der bayerische Kronprinz (und anschließende König Ludwig I., 1825-1848), der später sein Gönner werden sollte. Der berühmte römische Rechtsgelehrte Friedrich Carl von Savigny aus Berlin wurde 1808-1810 Sailers Professorenkollege in Landshut und blieb bis zu Sailers Tod 1832 sein lebenslanger, einflussreicher, treuer Freund. Sein bayerischer Patriotismus, seine Treue zum Königshaus und seine Liebe zur Erziehung des jugendlichen Klerus verbauten ihm eine Karriere in Breslau 1812 und 1818 in Bonn/Köln. Sailers Leben ist gekennzeichnet durch sichtbare Führungen Gottes. Den Ruf nach Bonn und Köln hätte er annehmen sollen. Hier hätte er als eine überkonfessionell akzeptierte, bedeutende katholische Persönlichkeit in dem damals willigen Preußen viel Gutes und Einmaliges bewirken können. Die Einwände Sailers beruhten auf einem Irrtum. Wenn er gewollt hätte, wäre seine Berufung nach Bonn und Köln wohl erfolgreich gewesen. Dazu sei an den Ps 109,17 erinnert, der lautet: „Er wollte den Segen nicht, so bleibe er auch fern von ihm.“ Dies bekam Sailer nach der Ablehnung Kölns im Bayernland schnell zu spüren, wo Sailer sicher viele Freunde hatte, aber auch die Feinde wogen schwer. Manchmal gilt eben das Wort: „Geh in ein Land, das ich dir zeigen ———— 9
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Vgl. Hubert Schiel (Hrsg.), Johann Michael Sailer Briefe, [Bd. II], Regensburg 1952, Nr. 222, 257f., 265f., auch Nr. 331 (3.5.1808). Johannes Vonderach, Bischof J. M. Sailer und die Aufklärung, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 5 (1958), 258 -273, 384 - 403. Vgl. Hubert Schiel (Hrsg.), Johann Michael Sailer. Leben und Briefe, Bd. I: Leben und Persönlichkeit in Selbstzeugnissen, Gesprächen und Erinnerungen der Zeitgenossen, Regensburg 1948, Nr. 693a, 575.
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will“ (Gen 12,1), und „ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland“ (Mt 13,57), ein bedenkenswertes Wort Jesu. Diese Erfahrungen machen viele Menschen irgendwie und irgendwann in ihrem Leben. Dann geht es ihnen wie dem Volk Israel, nachdem es sich geweigert hatte, das Land Kanaan einzunehmen (Num 13 und 14). Ab dem Jahre 1821 gelang Sailer dann noch eine große geistliche Karriere. Nach dem Bayerischen Konkordat von 1817 war der 78 jährige Johann Nepomuk von Wolf im Jahre 1821 zum Bischof von Regensburg berufen worden. Zunächst verlieh er Sailer im gleichen Jahr die Würde eines Domkapitulars in Regensburg. Schon im Jahre 1822 wurde Sailer als Titularbischof von Germanicopolis in Regensburg zum Weihbischof, Generalvikar und Koadjutor bestellt sowie schließlich 1825 noch zum Dompropst berufen. Als 1829 Bischof von Wolf starb, muss der bayerische König Ludwig I. stark intervenieren, um Sailer zu seinen Nachfolger machen zu können, weil die Not einer erneuten römischen Absage bereits bekannt war.11 Bereits bei seinem Tode am 20. Mai 1832 galt Sailer als ein ökumenischer Heiliger und wird seither von vielen Frommen beider Konfessionen in Deutschland verehrt.12 König Ludwig I. von Bayern ließ ihm als „Apostel Bayerns“ im Regensburger Dom über seiner Begräbnisstätte durch den Bildhauer Konrad Eberhard (†1859) ein Denkmal erbauen.13 Der aus einem Bocholter Patriziergeschlecht stammende Domherr und Bischofssekretär von Sailer, Melchior Diepenbrock (1798-1853), lehnte zwar seine Nachfolge ab, wurde aber zunächst Domdechant und Generalvikar in Regensburg. Auf ausdrücklichen Wunsch von Papst Gregor XVI. (1831-1846) wurde von Diepenbrock zum Fürstbischof von Breslau berufen, wo er im Geiste Sailers die Erneuerung des kirchlichen Lebens beförderte und 1850 zum Kardinal ernannt wurde.14 Prof. Johann Michael Sailer war ein standhafter katholischer Priester in der Zeit von Revolutionskriegen und Säkularisation. Seine Zeit gleicht der unsrigen. Mithin sind die Aufgaben eines guten Christen ähnlich. Dem fal———— 11
12 13
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Vgl. grundlegend Beda Bastgen, Bayern und der Heilige Stuhl in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert Nach Akten des Wiener Nuntius Severoli und der Münchener Nuntien Serra-Cassano, Mercy d´Agenteau und Viale-Prelà, sowie den Weisungen des römischen Staatssekretariates aus dem vatikanischen Geheimarchiv (Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte ... , III. Folge, Bd. 17 und 18, NF. 4 und 5), 2 Bde. München 1940, bes. Bd. II, 650ff. und Register. Vgl. jetzt www.oekumenisches-Heiligenlexikon.de. Vgl. Friedrich C. Schmidt, Der Krummschuster Hansmichel von ... und Bischof Johann Michael von Sailer in Aresing. Eine mehr heimatgeschichtliche Darstellung unseres großen Sohnes, nicht nur für Aresinger, sondern für alle Sailerfreunde, Schrobenhausen 2000. Vgl. Alexander Loichinger, Melchior Diepenbrock. Seine Jugend und sein Wirken im Bistum Regensburg 1798 -1845 (Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg, Bd. 22), Regensburg 1988.
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schen Rationalismus der Aufklärung stellte er eine „christliche Vernunftslehre“ und ein kindliches inneres Vertrauen in Jesus Christus entgegen. Das brachte ihm den Ruf eines Protestanten ein. Er erkannte eine äußere und innere Kirche, die voneinander abhängen. Ansonsten zerfallen sie in Pharisäertum oder falschen Mystizismus.15 Sailer war ein Mann der Mitte und des Ausgleichs. Seine gesammelten Werke in 40 Bänden gab Joseph Widmer in Sulzbach in den Jahren1830-1842, heraus.16 An seinem Leben sollten wir unser eigenes richtiges christliches Verhalten ausrichten.
2. Rufe für Professor Johann Michael Sailer von der bayerischen Landesuniversität Landshut in das evangelischen Preußen 2.1 Der Einfluss des Berliner Rechtsgelehrten Friedrich Carl von Savigny im Leben von Johann Michael Sailer Nach Ablehnung mehrerer anderer Berufungen übernahm Professor Carl von Savigny im Jahre 1808 den Lehrstuhl für das römische Recht an der bayerischen Landesuniversität Landshut. Bald begründete er mit Sailer eine lebenslange, intensive Freundschaft. In den Schiel-Editionen der Johann Michael Sailer Briefe nimmt Savigny einen sehr umfangreichen Platz ein, wird aber in den verschiedenen Werken, die über Sailer handeln, nicht erwähnt.17 Im Jahre 1810 berief die preußische Regierung Professor Savigny als Mitglied in die Kommission zur Errichtung der Berliner Universität, dann als deren ersten Professor für das römische Recht. Weiterhin wurde Professor Savigny 1811 zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften berufen, 1816 zum Geheimen Justizrat ernannt und schließlich im April 1817 zum Mitglied des neugeschaffenen preußischen Staatsrates. In dieser Funktion schlug Savigny seinen befreundeten Landshuter Professorenkollegen Johann Michael Sailer als Professor der katholischen Theologie an der 1818 neuzugründenden Universität Bonn vor.18 ———— 15 16
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Vgl. Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 702, hier 584. Johann Michael Sailers sämtliche Werke, unter Anleitung des Verfassers herausgegeben von Joseph Widmer, 40 Teile, Sulzbach 1830 - 41, Suppl. Band 1855. Vgl. Schiel, Johann Michael Sailer I und II. Heinrich Schrörs, Geschichte der Katholisch-Theologische Fakultät zu Bonn 1818 - 1831 (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein III), Köln 1922, 13-19; Friedrich von
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Professor Savigny wurde 1842 Minister für Gesetzgebungsreform, hatte also insgesamt in der Verwaltung Preußens eine sehr hohe Stellung mit überragendem Einfluss. Ungünstige Gegenströmungen raubten ihm mit der Revolution von 1848 das Amt. Zu diesem Zeitpunkt war der spätere Bischof von Regensburg Johann Michael von Sailer bereits 16 Jahre tot. Während Sailer am Ende seiner Laufbahn und seines Lebens noch zu Ansehen gelangte, verschmälerte sich dieses bei Savigny im selben Umfang. Ohne eine etwas gründlichere Beschreibung der Person von Friedrich Carl von Savigny ist das geradezu hartnäckige Werben um Johann Michael Sailer für den preußischen Katholizismus nicht zu verstehen.
2.2 Die abgelehnte Berufung des Professors Johann Michael Sailer von der bayerischen Landesuniversität Landshut nach Breslau Im Jahre 1811 hatte Preußen die bisher in Frankfurt/Oder bestehende Universität Viadrina nach Breslau verlegt. Die Universität Breslau war im Jahre 1702 auf Initiative der Jesuiten von Kaiser Leopold I. (†1705) gestiftet worden mit den Disziplinen Philosophie und katholischer Theologie. Diese Fächer wurden nun mit der Frankfurter Viadrina vereinigt. Der preußische Staat suchte für diese erweiterte Neugründung hervorragende Lehrer. In diesem Sinne wandte sich der Geheime Staatsrat Friedrich Frhr. von Schuckmann (†1834) am 6. November 1812 brieflich an Sailer.19 Das sehr großzügige Angebot umfasste die katholische Professur an der Universität Breslau und die Domherrenstelle am Domstift zu Breslau. Der Minister wies auf die exponierte katholische Stellung Breslaus im preußischen Staat mit allen ehrenvollen Vorzügen und der Befriedigung einer tadellosen pionierhaften Pflichterfüllung in der Sache der katholischen Kirche von Preußen hin. Professor Sailer lehnte ab, „unfähig, in Person dem Zutrauen ... zu entsprechen“, wie wir aus seinem Brief an das preußische Departements des Kultus und des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern vom 12. Dezember 1812 erfahren, berät aber ausführlich das Ministerium hinsichtlich anderer geeigneter Persönlichkeiten.20 Von der Ablehnung haben wir ———— 19 20
Bezold, Geschichte der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität von der Gründung bis zum Jahre 1870, Bonn 1920, 72f. Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 584, 471f. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VA Sekt 4, Tit. IV, Nr. 1, Bd. 2, Blatt 135f: Sailer an Königlich geheimes Ministerial Department 12.12.1812.
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ansonsten nur wenig Kenntnis über den Polizeidirektor von Chrimar, Landshut; denn damals herrschte in den deutschen Territorien ein briefliches Spitzelsystem.21
3. Der Wiener Kongress und der Heilige Stuhl Diesem Ereignis müssen wir ein umfangreiches Kapitel widmen. Sonst kann man das Verhalten von Papst Pius VII. (1800-1823) gegenüber dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) und den Irrtum Sailers in den beiderseitigen Beziehungen nicht verstehen. Die folgenden Aussagen dazu stützen sich auf die Aktenedition von P. Ilario Rinieri, Il congresso di Vienna e la S. Sede vom Jahre 1904, die in diesem thematischen Rahmen bisher zu wenig beachtet wurden.22 Unser falsches Preußenbild ist noch immer geprägt von dem „siebzehnjährigen Bürgerkrieg des Kulturkampfes“ (1871-1888). Derart war das Verhältnis am Anfang des preußischen Staates nach dem Wiener Kongress nicht, sondern im Gegenteil ein liebevolles. Von den vier Großmächten England, Russland, Preußen und Österreich waren die Preußen nach Österreich am meisten am Wohlergehen von Papst Pius VII. und der würdigen Wiederherstellung der katholischen Kirche in Europa interessiert. Frankreich hatte auf dem Wiener Kongress eine Stimme, wurde aber erst Vollmitglied der damaligen Fünfergemeinschaft auf dem Kongress von Aachen 1818. Die Haltung Frankreichs ist von Ludwig XIV. (†1705) über Napoleon (1804-1814 Kaiser) bis zu Ludwig XVIII. (1814-1824) stets auf die Eingrenzung der päpstlich-römischen Gewalt bedacht gewesen. Russland äußerte durch seinen Bevollmächtigten Karl Robert Graf von Nesselrode (†1862) gegenüber dem Papst Pius VII., er trüge selbst die Schuld am Großwerden Napoleons. Ganz anders verhielt sich Preußen. Wilhelm Frhr. von Humboldt (†1835), bedeutender Staatsmann, war ab 1802 preußischer Ministerresident in Rom, ab 1806 wirkte er als bevollmächtigter Minister dort. Er verehrte durchaus Papst Pius VII. Mit Hardenberg fungierte er auf dem Wiener Kongress als bevollmächtigter Vertreter Preußens. Die päpstliche Diplomatie lobte ihn sehr. ———— 21 22
Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 593, 480. P. Ilario Rinieri: Il congresso di Vienna e la Sede (1813-1815). La Diplomazia Pontificia nel Secolo XIX, Volume Quarto, Roma 1904.
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„Die religiösen Dinge standen im katholischen Bayern schlechter als in evangelischen Ländern“. Dies äußerte 1814 mit Annibale della Genga nicht nur der letzte päpstliche Nuntius bis 1794 in Köln, sondern auch der spätere Papst Leo XII. (1823-1829). Die Verhältnisse in Deutschland waren allerdings durch die napoleonischen Eingriffe generell zerrüttet. Die „Organischen Artikel“ Frankreichs (Napoleon 1802) fanden dann auch 1809 im Religionsedikt des bayrischen Königs mit 118 Artikeln einen neuen lebhaften Ausdruck, sehr zum Bedauern des Hl. Stuhls. Der Wiener Kongress hatte ein Komitee eingerichtet mit dem Ziel des Studiums und der Regelung der religiösen Angelegenheiten in Deutschland.23 Die beiden kirchlichen Diplomaten Domdekan Franz Christoph von Wambold (†1832) und Joseph Anton Helfferich (†1832) berichteten an Kardinalstaatssekretär Ercole Consalvi († 1824), dass Preußen zu jeder Regelung bereit sei, die der Papst anbietet. Solches betraf die Errichtung von Bistümern, deren Grenzen, die Regelung von Vermögensangelegenheiten usw. Dies bestätigte ausdrücklich nochmals Frhr. von Stein als preußischer Berater. Die ersten Bischofsbesetzungen sollten durch den Papst erfolgen, später durch die Domkapitel. Mit dieser großzügigen Handhabung wollte König Friedrich Wilhelm III. ein Beispiel für andere deutsche Staaten geben, auch für die katholischen. Der Heilige Stuhl schrieb daraufhin folgendermaßen: „Ed allora, ... se una potenza acattolica e di primo rango avrà fatte condizioni si vantaggiose, la S. Sede sarà tanto più forte per esigerle egualmente dalle altre, e specialmente dalle potenze cattoliche.“ 24 Da eine allgemeine Regelung für eine Deutsche Reichskirche nicht zustande kam, ist umso mehr das freiwillige Verhalten Preußens über die Maße zu loben, was sich ja auch in der von König Friedrich Wilhelm III. durch seine Unterschrift zum Staatsgesetz erhobenen Bulle „De salute animarum“ 1821 ausdrückte. Unter diesen Umständen war Papst Pius VII. jeder vom preußischen König vorgeschlagene Kandidat für die neuen Bischofsstühle 25 ———— 23
24 25
Vgl. Dominik Burkhard, Staatskirche – Papstkirche – Bischofskirche. Die „Frankfurter Konferenzen“ und die Neuordnung der Kirche in Deutschland nach der Säkularisation (Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, 53. Supplementband), Rom/ Freiburg / Wien 2000. Rinieri, Il Congresso di Vienna e la S. Sede 4, 627. So hatte Preußen schon am 16.12.1816 für das Bistum Münster die Transferierung des Corveyer Bischofs Ferdinand Freiherr von Lüning vorgeschlagen und schlug weiterhin am 28.7.1821 für das Bistum Trier Edmund Graf von Kesselstatt vor. Vgl. Lipgens, Ferdinand August Graf von Spiegel und das Verhältnis von Kirche und Staat, Bd. 1, 239f.; Reimund Haas, Die Besetzung der Bischofsstühle in der Kölner Kirchenprovinz 1821-1840. Wissenschaftliche Hausarbeit für die Kirchliche Abschlussprüfung / Diplomprüfung an der Kath.-Theol. Fakultät der Ruhr-Universität Bochum 1973/75.
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bzw. für den Erzbischofssitz von Köln genehm, damit wäre es auch die von Prof. Dr. Dr. Johann Michael Sailer gewesen. Dessen Ablehnung beruhte also mit auf einer Fehleinschätzung der Beziehungen zwischen Berlin und Rom.
4. Zum Zustand in der Diözese Köln zur Zeit der Berufung von Professor Johann Michael Sailer nach Bonn und Köln 1817/1818 Zum kirchlichen Zustand im 1802 linksrheinisch errichteten Bistum Aachen bzw. ehemaligen Erzbistum Köln nach dem Beginn der preußischen Herrschaft erfahren wir u.a. Näheres aus dem Nachlass des späteren Erzbischofs von Köln Ferdinand August Graf von Spiegel (1824-1834), der unter der Nr. 346 den Berichte des Prof. Schmitz aus Köln an Spiegel nach Münster in den Jahren 1815-1824 enthält. Schmitz war Leiter des Schulwesens, das total im Argen lag. Die Wirtschaft hatte der preußische Staat bereits wieder zu einer Blüte gebracht und das preußische Geld war kreditwürdig.26 Der religiöse Geist blieb eher noch liberal, sich einmal ergebend aus der Biographie von Spiegel und dann auch aus den vorangegangenen Willenskundgebungen der Erzbischöfe von Köln, Mainz, Trier, Salzburg bei den Koblenzer Beschlüssen und den Emser Punktationen (1786). Vieles lief bereits vor Napoleon zögernd auf eine gewisse deutsche Nationalkirche hin, eine Richtung, die durch die österreichische Diplomatie auf dem Wiener Kongress endgültig beerdigt wurde, deren Geist aber noch nachwirkte. Erst während der Amtszeit Spiegels in Köln wurde dieser wieder ein treuer Sohn Roms, was unter seinem Nachfolger in einen Konservativismus mündete, der der preußischen Staatsmacht ins Gehege kam (Kölner Wirren). Die Bevölkerung Kölns war aber von jeher kirchlich gesinnt, wie es zumindest die Umschrift des ältesten Kölner Stadtsiegels formuliert. „Heiliges Köln, durch Gottes Gnade der römischen Kirche treue Tochter“.27 Durch den Lunéviller Frieden (1801) war das Erzstift von Köln säkularisiert worden und hatte allen Besitz und alle Bedeutung verloren. Im ersten ———— 26 27
Lipgens, Ferdinand August Graf von Spiegel und das Verhältnis von Kirche und Staat, Bd. 2, 783. Vgl. Toni Diederich, Die alten Siegel der Stadt Köln, Köln 1980. Die lateinische Umschrift der Stadtsiegel von 1130 und 1268 lautet: Sancta Colonia Dei Gratia Romanae Ecclesiae Fidelis Filia. Das Stadtsiegel wurde 1794 mit der Auflösung des Erzstiftes Köln im Zuge der französischen Revolution abgeschafft. Im Zentrum des Siegels befindet sich Petrus mit Evangelienbuch und Schlüssel als Patron Kölns und der Domkirche.
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Pariser Frieden 1814 musste Frankreich den französischen Anteil des linken Rheinlandes zurückgeben. Dieser wurde Preußen zugeteilt. Köln erhielt nicht wieder alle früheren Rechte und Behörden, vor allem ging die Universität nach Bonn. Köln wurde jedoch Sitz des Appellhofes, der Provinzialsteuerdirektion, der Oberpostdirektion sowie Sitz eines Regierungspräsidenten sowie bis 1822 auch eines Oberpräsidiums, was der Stadt und der Region neuen Auftrieb gab.28 Am 6. Oktober 1818 fuhr Sailer per Schiff von Rüdesheim nach Köln, wo er mit seiner Begleitung und dem verladenen Wagen nach 1½ Tagen ankam.29 Den Kölner Dom bezeichnete Sailer trotz seines damals unfertigen Zustandes als ein „Wunder gotischer Baukunst“. Drei Tage ist er in Köln umhergereist. „Die Stadt ist so groß, daß man in einer neuen Welt zu sein glaubt.“ Sailer wurde in Köln offensichtlich angst und bange. Der in Köln amtierende preußische Oberpräsident Friedrich zu Solms-Laubach (†1822) schickte ihn anschließend noch nach Aachen, wo er zweimal mit dem preußischen Staatskanzler Karl August von Hardenberg (†1822) speiste und bei den entscheidenden Unterredungen in seiner Ablehnung für Köln stolz und standhaft blieb.30
5. Die Kandidatur von Professor Johann Michael Sailer für Bonn-Köln und seine bedauerliche Absage Seit dem Wiener Kongress mit Preußens großzügigem Versprechen an den Heiligen Vater hinsichtlich der Restauration der katholischen kirchlichen Verhältnisse in Preußen musste der preußische Staat Ausschau halten nach einem geeigneten Kandidaten für den neu zu errichtenden erzbischöflichen Stuhl in Köln. Durch den ausgezeichneten Ruf Sailers in Deutschland und die Freundschaft mit dem preußischen Staatsrat von Savigny fiel die erste Wahl auf ihn. Die Verhandlungen wurden anfänglich inoffiziell durch Mittelsmänner geführt. Sailer muss mit dem Angebot auf alle Fälle geliebäugelt haben. Sonst hätte Sailer sich nicht über einen Vertrauten in Rom erkundigt, ob er dem Heiligen Stuhl für Köln genehm wäre.31 ———— 28
29 30 31
Vgl. Hegel, Geschichte des Erzbistums Köln, Bd. 5, 27- 29; Klaus Müller, Köln von der französischen zur preußischen Zeit 1794-1815 (Geschichte der Stadt Köln, Bd.8), Köln 2005. Vgl. Sailers Reisen in: Schiel, Johann Michael Sailer II, 614. Schiel, Johann Michael Sailer II, Nr. 430 Anhang, 449. Im Kontext der ebenfalls gescheiterten Kandidatur für das Bistum Augsburg nennt Sailer in seinem Brief vom 21.1.1820 an Johann Nepomuk von Ringeis den Joseph Anton Helfferich, „der mich genau kennt“
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Schon im Januar 1816 berichtetet der junge Leibarzt des bayerischen Kronprinzen, Johann Nepomuk von Ringseis (†1880), dass er „während seines Aufenthaltes in Koblenz von einigen Seiten her gefragt worden sei, ob Professor Sailer wohl annehmen werde, wenn man ihn zum Bischof am Niederrhein machte“. Darauf antwortete von Ringseis: „Wir wollen ihn zum Bischof in Bayern machen, wir wollen ihn nicht aus Bayern lassen. Aber still, sonst heißt es gleich, Prof. Sailer sei auch im Tugendbund.“ 32 Wohl auf das Jahre 1817 ist die Erinnerung Sailers vom 7. Dezember 1818 zu datieren: „Schon in zwei Briefen, da ich noch in Landshut war, war mir dieses Angebot ergangen.“ 33 Konkrete schriftliche Einlassungen gibt es dazu vom preußischen Kultusminister Karl Frhr. von Altenstein an Staatskanzler Fürst von Hardenberg Berlin vom 21. Juli 1818, der „die Besetzung der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn“ für „gewiss eine der wichtigsten und schwierigsten Teile der Organisation dieser Anstalt“ hielt. Zunächst behandelte Kultusminister Altenstein drei, weniger gute‘ Kandidaten: Prof. Georg Hermes (†1831) 34 von Münster habe er nicht gewinnen können; Direktor Franz Josef Seber (†1827) müsse sich erst noch weiter theologisch qualifizieren und mit einem „Dr. Brenner aus Bamberg müsse er erst noch Unterhandlungen anzuknüpfen suchen“. Minister Altenstein hatte damit die Hauptaussage seines Antrages vorbereitet, dass er überzeugt war, „daß keine Maßregel von durchgreifender Wirkung sein würde, gedachter Fakultät Vertrauen und Ansehen zu verschaffen und sie mit tüchtigen Männern zu versehen, als die Berufung eines unter Katholiken und Protestanten in gleich großer Achtung stehenden, tiefreligiösen, in den praktischen Zweigen der Theologie ausgezeichneten, im Lehren und Anleiten junger Leute geübten und in Behandlung der Verhältnisse erfahrenen Mannes, des Dr. Sailer in Landshut.“ Diese hohe Anerkennung für Prof. Sailer aus der Feder des preußischen Kultusministers ist höchst beachtenswert für das Gesamtbild von Sailer, wobei die Frage nach dem Einfluss von Prof. Savigny im Hintergrund daran offen bleiben muss. Da Altenstein die ———— 32
33 34
und: „Denn eben dieser Helfferich hat mich in Rom schon oft mit treuer Wahrheitsliebe gerechtfertigt“. Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 436, 456. Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 626, 516 Der preußische „sittlich-wissenschaftliche Verein“ Tugendbund bestand formal nur 1808/09, hatte aber noch große geistesgeschichtliche Nachwirkungen, auf die in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden kann. Vgl. grundlegend Johannes Voigt, Geschichte des sogenannten Tugend-Bundes oder des sittlich-wissenschaftlichen Vereins, Berlin 1850. Schiel, Johann Michael Sailer II, Nr. 430 Anhang, 448. Zur kirchlich umstrittenen Stellung Prof. Dr. Georg Hermes zunächst in Münster und ab 1820 in Bonn vgl. Lipgens, Ferdinand Augst Graf Spiegel und das Verhältnis von Staat und Kirche, Register; Haas, Domkapitel und Bischofsstuhlbesetzungen in Münster, Register.
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Berufung Sailers für – mit heutigen Begriffen – ‚Qualität und Profil‘ der „ganzen Fakultät entscheidend“ erachtete, war es sein „innigster Wunsch, daß dazu geschritten wird“. Jedoch war sich der Kultusminister bewusst, „dass schon einmal der preußischen Regierung ein ähnlicher Versuch mit ihm mißglückt ist“, nämlich im Jahre 1812 das Angebot für die Professur an der Breslauer Universität. Deshalb hoffte Kultusminister Altenstein, dass Sailer „sich wohl eher entschließen möchte, ..., die Professur anzunehmen“, wenn „ihm die hohe, einflußreiche und ihm gewiß ganz angemessene Würde eines Bischofs der zu bildenden Kölner Diözese angetragen würde“. Selbst wenn Sailer dadurch die Professur an der Bonner Universität „auch nicht lange verwalten“ könnte, würde die Universität „dabei außerordentlich gewinnen“. Abschließend kam Kultusminister Altenstein auf die Finanzierungsfrage für dieses außerordentliche Angebot zu sprechen. Im Universitätsetat waren 1.800 Taler für diese erste Professorenstelle vorgesehen und Altenstein wusste nicht, „ob dies dem Dr. Sailer annehmlich ist“. Da aber „kein Gehalt zu hoch sein würde, für welches er zu gewinnen wäre“, bat der Kultusminister den Staatskanzler, „falls ein bedeutend höheres Gehalt erfordert würde“, dies durch einen „anderen Etat außerordentlich anzuweisen“. Auch wenn der Kultusminister glaube, die mündliche Zustimmung Hardenbergs zu „diesem Plan“ schon erhalten zu haben, setzte Altenstein darauf, dass „ein solcher Antrag nur von Euerer Durchlaucht ... unmittelbar an ihn gelangen“ könnte. Ausgehend von der Zustimmung des Staatskanzlers bat Altenstein „ die Hochdenselben am angemessensten scheinende Art Unterredungen mit ihm einzuleiten“.35 Aus dem Zeitraum Juli bis Oktober 1818 stammt die Aktennotiz, nach der der preußische Diplomat Wilhelm Dorow (†1846), der ab 1820 Direktor der Verwaltung für Altertumskunde in den rheinisch-westfälischen Provinzen wurde, vom Staatskanzler Fürst von Hardenberg „den Privatauftrag erhielt“, u.a. „Sailer und Schelling nach Bonn zu ziehen“. Auch „wollte man Sailer schon im Juli 1818 nach Preußen ziehen: er sollte Bischof mit großer Einnahme sein; er sollte gewonnen werden, coûte que coûte“. Dem preußischen Unterhändler, „der ihn im Rheingau oft sprach“, erschienen „seine Forderungen groß“ und „auch nicht aufrichtig“. Nach der Einschätzung von Dorow wollte Sailer „diese Unterhandlungen nur benutzen, um sein Verhältnis in Bayern besser zu stellen“. Schließlich berichtete Dorow, dass „Sailer auch meinte, daß Preußen und Rom nicht gut ständen“. Dieses we———— 35
Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 662, 553f.
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nig positive Ergebnis seiner vertraulichen Vorgespräche ließ Dorow dem Staatskanzler Hardenberg für die persönliche Unterredung im Oktober in Aachen zukommen.36 Staatskanzler Fürst von Hardenberg hat dann von Spa aus Sailer am 20. August 1818, seine Sinnesart sehr lobend, das Angebot für sowohl für Bonn als auch für Köln „unter den glänzendsten Bedingungen“ übermittelt. Genauer sollte es im „Namen des Königs die Erste Professur der Theologie auf der Universität zu Bonn und das Direktorat der Seminarien der Rheinprovinzen“ sein. Zugleich wurde damit das „Versprechen gegeben, Sie zum Bischof von Köln zu erhöhen, sobald wir unter ihrem Beirat mit den Diözesen in Ordnung sein werden.“ Außerdem wurde ihm vom Staatskanzler freigestellt, „ob Sie die Professur beibehalten oder sie einem anderen würdigen Mann, der in Ihrem Geist leben und lehren und den Ihre eigene Wahl bestimmen würde, überantworten wollen.“ Auf die Fragen der damit verbundenen Einkünfte („Emolumenten“) wollte Staatskanzler Hardenberg zunächst mit der Versicherung, dass „diese äußeren Verhältnisse sich ganz nach Ihren Wünschen einrichten lassen“, sich nicht einlassen. Vielmehr drängte Hardenberg auf eine schnelle Entscheidung, dass er „unverzüglich, mit dem kürzesten Zeitverluste, Ihr Amt antreten könnten, um durch Ihre Person, Ihr Ansehen, Ihre Lehren und Einrichtungen der neuerrichteten Universität und Fakultät sogleich einen würdigen, achtungsgebietenden Charakter aufdrücke und diesen für die Zukunft so folgenreichen Bau mit glücklicher Vorbedeutung beginnen zu lassen.“37 Durch dieses in jedweder Hinsicht als einmalig und ungewöhnlich zu bewertende Angebot fühlte Sailer sich von „Gott in einen Kampf von einem Monat“ versetzt.38 So war Kultusminister Altenstein nach Erhalt der Nachricht von diesem Angebot an Sailer „unendlich erfreut“ und kommentierte: „Es ist viel gewonnen, wenn wir ihn gewinnen“.39 Auch dankte Sailer am 1. September 1818 von Landshut aus an Prof. Johann Ferdinand Koreff (†1851), dem Leibarzt und Vertrauten des Staatskanzlers von Hardenberg, für sein „Schreiben im Namen des verehrten Fürsten und Staatskanzlern Hardenberg, womit Sie mir die Aussichten auf eine so segensvolle Wirksamkeit zum Heile der Völker, die erst kurz dem preußischen Zepter heimgefallen sind, eröffnet haben“. Dazu bemerkte Sailer, dass sein erster Schritt in dieser Angelegenheit gewesen war, in Rom ———— 36 37 38 39
Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 663, 554. Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 670, 560f. Schiel, Johann Michael Sailer II, Nr. 423, 448f. Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 671, 561.
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im obigen Sinne vorstellig zu werden, „ob Rom gegen meine Person irgendeine Exzeption haben könnte, wenn mir eine Bischofsstelle namentlich die zu Köln zugedacht würde“. Als Motivation für diese Rückversicherung führte Sailer einleitend an, „der preußischen Regierung und mir das etwaige Schauspiel einer zweiten Wessenbergischen Geschichte zu ersparen“.40 Dieser Hinweis bezog sich auf den aktuellen kirchenpolitischen Konfliktfall, dass der Konstanzer Generalvikar Ignatz Heinrich von Wessenberg (1774-1860) nach dem Tod von Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg (†10.2.1817), mit dem Sailer seit 1778 eng befreundet gewesen war, zum Kapitularvikar und Bistumsverweser gewählt worden war. Während dies von Papst Pius VII. für nichtig erklärt wurde, konnte Wessenberg mit Unterstützung der badischen Regierung bis zur Errichtung des Erzbistums Freiburg 1827 im Amt bleiben. Vor einem solchen Konflikt wollte Sailer sich mit seiner vertraulichen Anfrage absichern, weil „es blinder Eifer nicht an groben und freien Lästerungen wider meine Orthodoxie“ nicht hatte fehlen lassen. Bechtold Schindler berichtet aus dem September 1818, dass Sailer ihm gegenüber gesagt habe, „Ich war in Verlegenheit, was ich tun sollte, betete, endlich ward´s mir auf einmal ganz helle, was ich zu tun hätte, und ich schrieb dem König von Preußen: ,Meine Person gehört der Kirche an; ich werde an das Oberhaupt derselben, den Papst, schreiben, und es ihm, über mich zu verfügen, überlassen‘“.41 Inwieweit Sailer dies realisiert hat, ist quellenmäßig bisher nicht erforscht. Doch erhielt er von seinem Verbindungsmann zum Papst eine „Antwort“, die sowohl „so günstig als gegründet war“, nämlich „Rom würde jeden Wunsch des Königs in Hinsicht auf meine Person recht gern entgegenkommen“.42 Damit ist im Vorfeld schon die eingangs zitierte Behauptung von Meyers Konversationslexikon, vom Scheitern der Kandidatur Sailers in Köln am Einspruch der Kurie als gegenstandlos entkräftet. Sie ist eventuell als Rückprojektion aus Sailers gescheiterter Bischofskandidatur im Bistum Augsburg im Jahre 1819 zu erklären. Mit dieser positiven Antwort im Vorfeld hätte Sailer die Bonn/Kölner Kandidaturen annehmen können und sich nicht gegen die Offenheit des Hl. Vater stellen sollen. So könnte man in allen dann folgenden Schwierigkeiten Sailers ein ‚irdisch-göttliches Strafgericht‘ für ihn vermuten. ———— 40 41 42
Schiel, Johann Michael Sailer II, Nr. 422, 439 Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 673, 562. Schiel, Johann Michael Sailer II, Nr. 422, 439f.
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Auch ist einem Aktenvermerk des Studienfreundes Max Alois Fahrmbacher vom Anfang September 1818 nicht nur zu entnehmen, dass Preußen ihn unter Minister Altenstein „zum Erzbischof von Köln mit 2.500 Thalern machen wollte“, sondern dass Sailer „diesen Ruf dem damaligen Kronprinzen, ... anzeigte, welcher sein Bedauern ausdrückte, eine solchen Mann dem Vaterland entzogen zu sehen, ihn aber doch zur Annahme dieses ausgezeichnet ehrenvollsten Rufes einlud, da er dem Vaterland Deutschland diene“. Nachdem Sailer die offiziellen Schreiben „im Paket und per estafette“ nach Aschaffenburg nachgesandt worden waren, sei „gestärkt durch Gebet und Betrachtung die Entscheidung erfolgt.“ Hier wird nun mit Bezug auf seinen Förder eine gegenläufige Begründung für die Ablehnung der Kandidatur ins Feld geführt: Als er (sub rosa 43 vom Geheimrat Savigny) aufmerksam gemacht ward auf die politische Triebfeder Preußens, ihn nur als Mittelperson schmiegsam für protestantische Interessen und für protestantische Zwecke zu gebrauchen, da war das Wort ,nein´ sogleich ausgesprochen; denn Sailer wollte frei stehen, treu seinem Glauben, seiner Kirche, seiner innigsten Überzeugung“.44 Als Sailer persönlich dann am 24. September dem Staatskanzler Hardenberg offiziell „für das wohlwollende Zutrauen“ dankte, betonte er zunächst „äußere Vorteile, Würden, Ehrenstellen haben mich von jeher wenig gereizt“. Er charakterisierte seine Vorlesungen, seine Schriften und sein Leben dahingehend, dass ihm dabei „Bildung der Geistlichkeit mehr als alles andere am Herzen lag“. So formulierte er dem preußischen Staatskanzler gegenüber schon den Vorbehalt: „Die Trennung von diesen würde für mich und die Zurückgelassenen so schmerzlich werden, daß ich mir nicht Kraft genug zutrauen darf, diese Trennung ganz von freien Stücken und aus eigenem Entschlusse zu bewirken.“ Weiter beteuerte er dem Staatskanzler gegenüber: „Dieses ... ist der Grund, warum ich mich außer Stand fühle, dem wahrhaft glänzenden Zutrauen, ... , durch unbedingte Hingebung zu entsprechen; einen anderen Grund habe ich nicht“. Dieses alleinige Motiv der „Verbundenheit zu Bayern“ erläuterte Sailer dem preußischen Staatskanzler weiterhin dadurch, dass er berichtete, „schon die bloße Sage, daß ich nach Bonn und Köln versetzt werden sollte“ habe „einen außerordentlichen Anteil in Bayern erregt“. Angesichts der „so allgemein und so lebhaft geäußerten“ Bedürfnisse in Bayern zu bleiben, wurde „es mir unmöglich, jene oben genannte Trennung aus eigenem Antrieb zu beschließen“. ———— 43 44
Lateinisch unter einer Rose, bedeutet so viel wie „ganz unter uns“ bzw. vertraulich. Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 672, 561f.
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Doch wollte Sailer seine Kandidatur für den Kölner Bischofsstuhl von sich aus nicht gänzlich ausschließen. So konstruierte er für „diesen so bestimmten Fall“ folgende Voraussetzungen: Sollte ihm dennoch „im preußischen Staat ein höheres Kirchenamt beschieden sein“ und „sollte nach festgestellter Kirchenverfassung der Ruf zu jenem höchsten Kirchenamt wirklich an mich ergehen“ sowie „dieser Wille des höchsten kirchlichen Oberhauptes ... ein förmlicher Wink und Auftrag, die Würde dieses Kirchenamtes über mich zu nehmen“, so würde er sich wohl von seinem „Vaterland“ trennen wollen. Dieser „Abtritt, den ich von meinen teuern Freunden und Anvertrauten nähme, würde nicht bloß die Gestalt des Gehorsams gegen die Kirche an sich tragen, er würde das Wesen des Gehorsams gegen die Stimme der Kirche in sich aufgenommen haben.“ Da dann wäre seine Berufung „in die schönsten Gegenden Deutschlands zur Belebung des schon gegründeten Christentums in katholischen Völkern ... nicht mehr meine Willkür, die mich etwa leitet, sondern die höhere Führung, die mich bestimmt hätte“.45 Damit hatte Sailer bereits am 24. September eine negative Antwort auf die von preußischer Regierung vor der Kirchenreorganisation angestrebte Besetzung der Bonner Fakultät und dann des Kölner Bischofsstuhles geben. Bei Walter Lipgens in der Biographie des 1825 eingeführten Kölner Erzbischofs Ferdinand August Graf Spiegel lesen wir über die weitere Kandidatur Sailers in Köln: „Im Oktober 1818 verhandelte Sailer mit dem Fürsten Staatskanzler von Hardenberg und dem Kultusminister Altenstein in Aachen.“ Nach den von Schiel aufgelisteten Reisen Sailers lässt sich dieser entscheidende Gesprächsaufenthalt auf den 12. bis 15. Oktober präzisieren. Wenn Walter Lipgens den Kernpunkt dieser Aachener Gespräche zwischen Sailer und Hardenberg (sowie Altenstein) dahingehend fokussiert „Die Herren hatten den Eindruck, ‚als wolle er diese Unterhandlungen nur benutzen, um sein Verhältnis in Bayern besser zu stellen.‘ So gaben sie diese Kandidatur auf.“,46 ist auch diese Deutung der Ursachen für das Scheitern der Kandidatur Sailers in Köln nicht nur zu hinterfragen und zu modifizieren. Schon am 30. Oktober 1818 kommentierte Professor Koreff die offensichtlich nicht erfolgreichen Kandidaturen bzw. Ablehnungen Sailers dem preußischer Diplomat Wilhelm Dorow (†1846) gegenüber, der ab 1820 Direktor der Verwaltung für Altertumskunde in den rheinisch-westfälischen Provinzen wurde: „Mit Sailer irrst Du Dich. Ich habe ihn gesprochen. Er ist vorsichtig und klug wie ein alter Prälat und darin nicht zu tadeln. Mit Rom sind wir in bestem Vernehmen. Keine Spur von Zwiespalt. Es ist ein Miß———— 45 46
Schiel, Johann Michael Sailer II, Nr. 423, 440f. Lipgens, Ferdinand August Graf Spiegel und das Verhältnis von Kirche und Staat, 240.
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verständnis, wenn Du und Sailer das glauben. Übrigens machen wir uns jetzt nicht so viel aus ihm. Professor will er unter keiner Bedingung werden ...“47 Aus der Retrospektive des Tagebucheintrages zu seinem 69. Geburtstag und im Kontext des sich abzeichnenden Vorschlags der bayerischen Regierung, „mich zum Bischofs von Augsburg vorzuschlagen“, während nun „die Nuntiatur aber den Antrag zurückgewiesen habe“, kam Sailer am 17. November 1819 noch einmal auf seine Kölner Kandidatur zu sprechen. „Im August 1818 erhielt ich durch den Minister von Hardenberg den wiederholten Ruf zur Bischofsstelle in Köln.“ Als Motiv „den Ruf von Preußen“ abgelehnt zu haben, benannte Sailer zunächst wiederum die „Anhänglichkeit an Bayern“. Dann betonte er für diese „wichtige Angelegenheit“ seine Ergebenheit „in die Hand der Kirche“ und den Willen Gottes, den „Herzdurchschauenden“. „Ich verlangte weder in Köln, noch in Augsburg, noch an einem dritten Ort Bischof zu werden“.48 In einem Rundschreiben an Freunde vom 7. Dezember 1818 kam Sailer noch einmal auf den ihm „von Köln über Landshut nacheilenden Brief des Fürsten Staatskanzlers Hardenberg“ zu sprechen, „worin er mir eine Lehrstelle zu Bonn und dann die bischöfliche Würde zu Köln unter den glänzendsten Bedingungen anbot“. Hierin erfahren wir aus Sailers Sicht die von ihm eingebrachten Ablehnungsgründe. „Endlich, da ich Gott einen Monat recht innig um seine Leitung gebeten hatte, stand es auf einmal vor meiner Seele, was ich dem Staatskanzler antworten sollte: ,Mein Wirkungskreis sei zunächst in Bayern so gesegnet, daß ich mich aus eigenem Entschluss von meinem Vaterland nicht trennen, somit dem Rufe nicht gehorchen könnte. Sollte indes der heil[ige] Vater in Rom mir nach geschlossenem Konkordate mit Preußen den förmlichen Auftrag machen, die Bürde des Kirchenamtes in Köln zu übernehmen, so würde mich der Gehorsam gegen die Kirche (der ich als Christ angehöre, wie als Mensch der Menschheit und als Bürger dem Staate) allein bestimmen, das zu tun, was ich aus eigener Selbstbestimmung nie tun könnte. In diesem einzigen und so bestimmten Fall würde ich den Ruf nach Köln annehmen; in keinem anderen.‘“ Da die preußische Regierung die vakanten Bischofsstühle in den neuen Provinzen Rheinland und Westfalen schnell besetzen wollte und ernsthafte Konkordatsverhandlungen mit der römischen Kurie und dem Papst erst im 1818 aufgenommen worden waren, war bei den preußischen Erwartungen und diesen Konditionierungen durch Sailer vom Oktober 1818 keine Annäherung auf eine Kandidatur für Köln zu finden. Nachdem er diese Ableh———— 47 48
Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 679, 565. Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 702, 580f.
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nung gefunden, formuliert und durchgehalten hatte, äußerte Sailer mehrfach seine Erleichterung, u.a. mit den Worten. „Von diesem Augenblicke an, als ich die Sache in die höhere Hand (der Vorsicht) gelegt hatte, war meine Seele ganz heiter, das ist Gewissen und Herz gleicht beruhigt.“ Als Sailer sich am 30. September 1821 beim bayrischen König Ludwig I. für die verliehene erste Domkapitulars-Stelle in Regensburg überschwänglich bedankte, kulminierten seine Dankesworte in dem bayerisch-patriotischen Satz: „Für mich bleibt der selige Gedanke: wer sein Vaterland liebhat, dem ist es nicht schwer, das Erzbistum Köln auszuschlagen und Domherr in seinem Vaterland zu werden.“49 Damit war der erste von der preußischen Regierung gestartete Vorschlag für eine schnelle Besetzung des bischöflichen Stuhls Kölns noch vor der staatskirchenrechtlichen Neuordnung der Diözesanverhältnisse gescheitet. Als diese mit der päpstlichen Zirkumskriptionsbulle „De salute animarum“ vom 16. Juli 1821 50 dann grundsätzlich gegeben war, scheint die preußische Regierung in Berlin daraus den Schluss gezogen zu haben, sich auf innerpreußische Kandidaten zu beschränken, auch wenn diese weniger theologisches Profil als Professor Sailer aufweisen konnten. So startete die preußische Regierung im Jahre 1822 den zweiten Versuch der Besetzung des bedeutsamen Kölner Erzbistums mit dem Angebot an den Ermländischen Bischof Joseph Wilhelm von Hohenzollern-Hechingen (1776-1835), der „ein fein gebildeter sowie fromm und wohltätiger als auch gewissenhafter und eifriger Bischof “ war und mit Prof. Sailer in guten wissenschaftlichen Kontakt stand.51 Als auch Joseph von Hohenzollern die Transferierung nach Köln abgelehnt hatte, konzentrierten sich die Bemühungen auf den in der französischen Besatzungszeit 1813 ernannten, aber nicht päpstlich bestätigen Bischof und amtierenden Münsterer Domdechanten Ferdinand August Graf von Spiegel, der „begierig“ das preußische Angebot annahm, so dass er 1824/25 das Amt übernehmen konnte.52 Wir wissen, dass Sailer im Rahmen einer privaten Reise in Rheinland und Westfalen mit seinem ———— 49 50
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Schiel, Johann Michael Sailer II, Nr. 452, 468f. Vgl. Norbert Trippen, Artikel De salute animarum, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Bd. 3 (Freiburg 1995), Sp. 46f. Vgl. Franz Hipler (Hrsg.), Literaturgeschichte des Bisthums Ermland (Monumenta historiae Warmiensi, Bd. IV, Abt. 3, Bd. 1, Braunsberg-Leipzig 1873; Ders. (Hrsg.), Briefe und Tagebücher des Fürstbischofs von Ermland Joseph von Hohenzollern, Braunsberg 1883, hier Nr. 73, 167-169: Hohenzollern an den Vortragenden Rat im Kultusministerium, Johann Heinrich Schmedding, 26.2.1822. Vgl. grundlegend Lipgens, Ferdinand August Graf Spiegel und das Verhältnis von Kirche und Staat, 283- 333 und zuletzt Reimund Haas, Art. Spiegel, in: Neue Deutsche Biographie Bd. 24, Berlin 2010, 678f.
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Sekretär Melchior Diepenbrock im Herbst 1827 auch „nach Köln kam, wo er den Erzbischof besuchte“.53 Sailers Ablehnung Kölns beruht möglicherweise auch auf Vorsicht und Ängstlichkeit in Sailers Wesen, Kind armer Leute, ab 18 Jahren Vollwaise, ohne Vermögen, Jedem Dank schuldend, der etwas Gutes für ihn im Leben tat. So wollte er unter keinen Umständen sein bayerisches Königshaus kränken. Vielleicht fürchtete er sich auch, bei Versagen nach Bayern zurückkehren zu müssen. Ähnliches brachte er schon einmal bei seiner Berufung in das schwäbische Dillingen gegenüber Kurfürst Karl Theodor zum Ausdruck.54 Jedenfalls war er in seinen Entscheidungen innerlich nicht so frei wie Fürstprimas von Dalberg, der aus hochherrschaftlichen Verhältnissen stammte. Dass König Friedrich Wilhelm III. von Preußen alle geistlichen und weltlichen Fäden in der Hand hielt, um Sailer an einem großen Wirkungsorte die rechte Entfaltung zu ermöglichen, war Sailer offenbar unbekannt. Sailers Bedeutung liegt in der Seelsorge, Menschenführung, Ökumene, einer rechtverstandenen kirchlichen Philosophie und Vernunftlehre. Als solcher wirkte er in die deutsche und schweizerische Öffentlichkeit. Als Diplomat und Kirchenpolitiker hatte er keine besondere Begabung und es bleibt die Frage, ob er „den göttlichen Ruf nach Köln verkannt hat“.55 Am Schluss unserer Forschungen steht der evangelische preußische König Friedrich Wilhelm III., der Gemahl der früh verstorbenen Königin Luise (†1810), als heiligmäßige Persönlichkeit vor uns. Gedemütigt durch Napoleon, in seinem Herrschaftsbereich angeschlagen durch die napoleonische kriegerische, zivile und religiöse Verwirrung, betroffen durch die Befreiungskriege und den Wiederaufbau des Staates, zeigt Friedrich Wilhelm III. eine beispielhafte Frömmigkeit, ein untadeliges christliches Leben und eine einmalige Großzügigkeit als protestantischer Herrscher gegenüber dem Heiligen Stuhl.56 Das sollte an dieser Stelle einmal anerkannt und festgehalten werden, da es sonst nirgends geschieht.
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Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 820a, 679. Schiel, Johann Michael Sailer I, Nr. 96, 81f. Vgl. Alexander Demandt, Es hätte auch anders kommen können. Wendepunkte deutscher Geschichte, Berlin 2010. Vgl. Werner Hahn, Friedrich Wilhelm III. und Luise. König und Königin von Preußen. Zweihundert zwei und zwanzig Erzählungen aus ihrer Zeit und ihrem Leben, 3. Aufl., Berlin 1877.
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6. Zu Sailers nichtspektakulärem Wirken für die Kirche Menschen werden zu ihrer Zeit oft verkannt. Dafür bedarf es manchmal keiner besonderen Gründe. Als erstes Beispiel aus der Epoche des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert sei abschließend an die Gebrüder aus der Familie des Freiherrn von Wessenberg erinnert: zum einen den jüngeren Johann Philipp (1773-1858), u.a. österreichischer Diplomat in der Kanzlei des Fürsten von Metternich auf dem Wiener Kongress, und zum anderen den schon genannten Ignaz Heinrich Karl, der seit 1802 Generalvikar des Bistums Konstanz war. Er sorgte für Pastoralkonferenzen, für die Bildung des jungen Klerus, wozu er das Seminar in Meersburg stiftete. Er hob das Niveau des Schulunterrichtes, führte die deutsche Sprache in die Liturgie ein, förderte den deutschen Kirchengesang. In der Schweiz fand seine Ansicht sogar Eingang in eine Tagsatzung. Auf dem Wiener Kongress strebte er eine deutsche Nationalkirche an, die u.a. die Wiener Diplomatie aber hintertrieben hat. Ignatz Heinrich von Wessenberg war Sailers Schüler in Dillingen gewesen. 200 Jahre später und in der heutigen Forschung werden Wessenbergs Ansichten als politisch begründet ansehen. Ähnlich verhielt es sich sodann mit Württemberg. Herzog Karl Eugen (†1793), der von Schiller gehasste Landesvater, verehrte Sailer über die Maße. Erbprinz Wilhelm besuchte mit dem Kronprinzen Ludwig in Landshut das Internat Sailers. Diese Tatsache hat sich mit einiger Sicherheit auf den Stand der katholischen Kirche von Württemberg nach dem Wiener Kongress unter seiner Regentschaft ausgewirkt bei der Eingliederung der Katholisch- theologischen Fakultät in die Universität Tübingen im Jahre 1817 und der abgeschlossenen Errichtung des Bistums Rottenburg 1828.57 Nach diesen Beispielen des Wirkens der Sailer-Schüler aus der Dillinger Zeit sei rückgeblickt auf Sailer selbst und seine erhaltene Offerte bzw. besondere Chance auf den Erzbischöflichen Stuhl von Köln. Auch wenn ihm drei Jahre Lebenszeit weniger beschieden waren als dem dann berufenen Kölner Erzbischof Ferdinand August Graf von Spiegel, hätte Sailer über Savigny wahrscheinlich König Friedrich Wilhelm III. zu so einer günstigen Gesinnung gegenüber der katholischen Kirche gebracht, dass sie daraus hätte großen Nutzen ziehen können. So hätte in einem weiteren protestantischen Land die katholische Kirche vermutlich durch das Wirken Sailers sehr profitieren können und er hätte die Chance eines Neustartes fern der süd———— 57
Vgl. Stefan Ihli, Kirchliche Gerichtsbarkeit in der Diözese Rottenbeurg im 19. Jahrhundert. Ein Exempel der Beziehungen zwischen Kirche und monarchischem Staat (Tübinger Kirchenrechtliche Studien, Bd. 7), Münster 2008.
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deutschen Verflechtungen gehabt. Dies darf man mit Fug und Recht den Schwächen Sailers zu dessen Vorteil und zu seiner postumen Verehrung hinzufügen, denn auch in Bayern sollte dann Sailers Erfolg eher bescheiden und mit einer nur dreijährigen Bischofszeit gekrönt bleiben.
„Der gerechte Stolz des deutschen Volkes“. Der Kölner Dom und seine Vollendung im Spiegel zeitgenössischer Reise- und Domführer des 19. Jahrhunderts von Siegfried Schmidt
I. Einleitung „Der Kölner Dom ist der gerechte Stolz des deutschen Volkes, das erhabenste Denkmal deutschen Geistes, das schönste Erzeugnis deutscher Kraft, der vollendetste Ausdruck deutschen Selbstvertrauens, die höchste Blüthe deutscher Kunstthätigkeit; an ihm hat der deutsche Geist seine ganze Tiefe geprobt, die deutsche Kunst ihr höchstes Problem gelöst, die deutsche Genialität sich in ihrer gewaltigsten Schöpferkraft und der künstlerische Gedanke in seiner frischesten Kühnheit gezeigt.“ – Mit diesem gleichermaßen pathetischen wie auch eine patriotische Gesinnung widerspiegelnden Satz leitete der Kölner Stadtarchivar Leonard Ennen 1 das Kapitel Das Aeussere des Domes in seinem 1872 in der DuMont-Schauberg’schen Buchhandlung verlegten umfangreichen Domführer ein.2 Die kurz vor ihrer Vollendung stehende gotische Kathedrale wurde von Ennen als Ausdruck eines erstarkten Deutschtums, als eine einzigartige deutsche Kulturleistung gedeutet. Damit steht Ennen, dessen Enthusiasmus vielleicht noch vom Ausgang des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 und der damit einhergehenden Reichsgründung beeinflusst wurde, ganz in der Tradition jener Redner und Autoren, die den vor seiner Vollendung stehenden Kölner Dom als Symbol der deutschen Nation, als nationales Denkmal begreifen. Thomas Nipperdey hat vor einem Vierteljahrhundert in einem Essay die mit der Befreiung der Rheinlande von der französischen Hegemonie etwa mit dem Beitrag von Joseph Görres im Rheinischen Merkur vom 20. November 1814 einsetzende Geschichte der Bestrebungen, den Kölner Dom als Nationaldenkmal zu erheben, detailliert und pointiert dargestellt. Bekanntlich stand die Wiederaufnahme der Bautätigkeit am Kölner Dom unter dem ———— 1
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Der promovierte Historiker und Theologe Leonard Ennen (1820 -1880) war Mitbegründer des Historischen Vereins für den Niederrhein und wurde 1857 der erste hauptamtliche Stadtarchivar in Köln, gleichzeitig übernahm er die Leitung der wissenschaftlichen Stadtbibliothek. – Vgl.: Kölner Personen-Lexikon. Hrsg. von Ulrich S. Soénius [u.a.]. Köln: Greven, 2008. 607 S., Ill. – Hier S. 139. Leonard Ennen: Der Dom zu Köln. Ein nothwendiger Führer für die Freunde und Besucher des Domes. Köln: DuMont Schauberg’sche Buchhandlung, 1872. VIII, 208 S., 5 Tafeln. – Zitat S. 99.
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Protektorat des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV., auf den sich auch nationalpolitisch das große Dombaufest vom 4. September 1842 fokussierte.3 Als Ennen seine Zeilen schrieb, war allerdings das in den Jahren um das Dombaufest kulminierende Bestreben, den Dom als überkonfessionelles, gesamtchristliches Erbe und nationales Denkmal aller Deutschen zu begreifen, bereits weithin anderen Betrachtungsweisen gewichen. Das Gotteshaus am Rhein konnte bei seiner Vollendung 1880 schon lange nicht mehr Symbol nationaler Integration sowie des Friedens und der Einheit der Konfessionen sein. So war dann das Domfest des Jahres 1880 zuvorderst ein politisches Fest, ein Kaiserfest und eine Fortsetzung des Kulturkampfes mit anderen Mitteln.4 Die Sichtweise, die in der althergebrachten Kölner Bischofskirche einen Ort nationaler Repräsentation, einen Erinnerungsort der Deutschen sehen wollte, wurde, wie in der Literatur dokumentiert, im 19. Jahrhundert vor allem von Intellektuellen, Künstlern, Literaten und Politikern getragen. Gerade Schriftsteller und Dichter versuchten oftmals mit seismographischer Sensibilität auf die politischen und kulturellen Grundströmungen ihrer Zeit zu reagieren.5 Franz-Josef Weihrauch kam in seiner Analyse der literarischen Reisebeschreibungen des Zeitraumes 1770-1860 in einem dem Kölner Dom gewidmeten Kapitel dagegen zu dem Schluss, dass es hauptsächlich drei Positionen waren, die in der Rheinreiseliteratur die Diskussion um diese Kathedrale bestimmten, nämlich erstens eine „Beurteilung aus religiösen Gründen“ unter unterschiedlichen Vorzeichen, zweitens „eine ästhetische ———— 3
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Thomas Nipperdey: Der Kölner Dom als Nationaldenkmal. In: Religion – Kunst – Vaterland. Der Kölner Dom im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Otto Dann. Köln: Bachem, 1983. 184 S. – S. 109- 120; hier S. 109-110. Auch abgedruckt in: Thomas Nipperdey: Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays. München: Beck, 1986. 234 S. – S. 156- 171. Ebd., S. 119. – Vgl. hierzu auch: Norbert Trippen: Das Kölner Dombaufest 1842 und die Absichten Friedrich Wilhelms IV. von Preußen bei der Wiederaufnahme der Arbeiten am Kölner Dom. Eine historische Reflexion zum Domfest 1980. – In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 182 (1979) S. 99- 115. – Hier insbesondere S. 99 u. S. 115. Vgl.: Sophie du Boisson, Sylvia Simon: Der Kölner Dom in der Dichtung. In: Das Kölner Dombaufest von 1842. Ernst Friedrich Zwirner und die Vollendung des Kölner Doms. Beiträge zu einer Ausstellung aus Anlaß des 150. Jahrestages der feierlichen Grundsteinlegung zum Fortbau des Kölner Doms, hrsg. v. Nikolaus Gussone. Ratingen: Oberschlesisches Landesmuseum, 1992. 182 S. – Hier S. 155- 181. – „Es bleibt festzuhalten, daß der Kölner Dom, wann immer er Gegenstand der Dichtung gewesen ist, ein ‚Dokument der Ambivalenz‘ war; er konnte unter einem rein patriotischen Blickwinkel einen anderen Bedeutungsgehalt bekommen als aus religiöser oder ästhetischer Sicht, er konnte ebenso zum politischen Brennpunkt werden wie zum Gegenstand kunsttheoretischer Betrachtungen und hinterließ bei all denen, die sich mit ihm ... literarisch auseinandergesetzt haben, kein für alle Zeiten festgefügtes Bild“ (ebd. S. 177). – Ferner: Walter Hinck: Krone auf dem Haupt Germanias. Der Kölner Dom in der deutschen Lyrik seit dem Vormärz. In: Ders.: Geschichtsdichtung. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1995. 151 S. – Hier S. 100 - 121.
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Würdigung, die zu einer Aufwertung der gotischen Architektur führt“ und drittens „die Würdigung des Kölner Doms als nationalem Symbol“. Und er fährt fort: „Diese drei Argumentationsstränge sind oftmals eng miteinander verknüpft.“ 6 Mit diesem Beitrag soll nun der Versuch unternommen werden, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie der Kölner Dom in zeitgenössischen Reise- und Domführern des 19. Jahrhunderts einem potentiell reisenden Lesepublikum nahe gebracht wurde. Wurde der nationale Gedanke, wie am Beispiel Ennens sichtbar, durchgängig oder vorherrschend auch in dieser Literatur transportiert, stellten die Autoren für die Reisenden eine andere Deutung des Bauwerks in den Vordergrund oder verzichteten sie gar bei ihrer Beschreibung der Sehenswürdigkeit „Kölner Dom“ ganz auf eine derartige Symbolik? Lässt sich in den Reiseführern vielleicht entgegen der Feststellung von Weihrauch eine zeitliche Abfolge für die Dominanz der einen oder anderen Wahrnehmung des Domes finden? Angesichts der insgesamt sehr zahlreich vorliegenden Reiseliteratur, deren Anzahl in die Hunderte gehen dürfte, kann eine derartige Sichtung natürlich nur einen vorläufigen Charakter haben.7 Im Mittelpunkt der Betrachtungen werden also regionale Führer zu den Sehenswürdigkeiten entlang des Rheines, speziell des Mittelrheintales, lokale auf die Stadt Köln bezogene Führer sowie solche Führer, die allein den Kölner Dom beschreiben, stehen. Auf die Hinzuziehung der bekannten literarischen Reisebeschreibungen soll dagegen verzichtet werden. Reiseführer gewannen im 19. Jahrhundert mehr und mehr an Bedeutung; ihr „Marktanteil“ unter den Neuerscheinungen übertraf die Reisebeschreibungen zum Rhein um die Mitte des 19. Jahrhunderts sehr deutlich 8: Während eine Reisebeschreibung zwar auch dem potentiellen Reisenden Informationen geben will, die für die Orientierung in einem unbekannten fremden Land unerlässlich sind, ansonsten aber stets den kulturellen und politischen Zustand eines Landes aus dem Blickwinkel des Verfassers zu einem be———— 6
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Franz-Josef Weihrauch: Geschichte der Rheinreise 1770 - 1860. Politik, Kultur, Ästhetik und Wahrnehmung im historischen Prozeß. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades des Fachbereiches Neuere Deutsche Literatur und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg. Darmstadt: Selbstverl., 1989. 554 S. – Hier Kapitel 3.3.3.7. ‚Die gotische Baukunst am Rhein: Der Kölner Dom‘, S. 214- 235. – Zitate siehe S. 214. Die 1858 erschienene ‚Bibliotheca geographica‘ von W. Engelmann verzeichnet gemäß Weihrauch für die Zeit ab 1770 120 Reisebeschreibungen, die die Darstellung einer Rheinreise zum Inhalt hatten. Bei weiter Auslegung der Textsorten, die als Reiseliteratur angesehen werden können, also z.B. unter Berücksichtigung der biografischen und autobiografischen Schriften und der Panoramenwerke sei sogar von einem Textfundus von nahezu 600 Werken auszugehen. – Ebd., S. 27. Ebd., S. 30- 31 u. S. 498.
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stimmten Zeitpunkt darstellt, setzt der Reiseführer auf eine Standardisierung der Wahrnehmung, in dem er Informationen zum Zielort systematisch und konzentriert darbietet. Die Fülle der Fakten, die zugleich mit vermittelt wird, von Eintrittspreisen über Fahrpläne der Dampfschiffe und Eisenbahnlinien bis hin zu Übernachtungsmöglichkeiten und Hotelpreisen, bedingt zugleich eine rasche Alterung dieser Informationsangebote und erzwingt eine ständige Verbesserung und Berichtigung durch Neuauflagen.9 Die Reiseliteratur zum Rhein insgesamt wandte sich im 19. Jahrhundert primär nicht mehr an die Wallfahrer vergangener Zeiten oder den jungen Adeligen, der vielleicht im Gefolge eines intellektuellen Wegbegleiters seinen Horizont durch eine Kavalierstour erweitern wollte, sondern mehr und mehr an Großbürger und Industrielle des In- und Auslandes, für die der Mittelrhein eines der frühen Ziele eines aufkommenden, der Erbauung und der Erholung dienenden Freizeitvergnügens war, in das sich das stromabwärts gut zu erreichende Köln einbeziehen ließ.10 Natürlich konnte dabei der Besuch des Kölner Domes und anderer Kölner Kirchen immer auch aus religiösen Motiven heraus geschehen. Und für die Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts galt generell wie für die heutigen Erzeugnisse dieser Sachbuchgattung: Reiseführer ließen sich, je nach Art der Darstellung und ihres Inhalts bevorzugt zur Vorbereitung, Durchführung und Betrachtung vor Ort oder zur Nachbereitung einer Reise verwenden. Sie waren ebenso Begleiter auf tatsächlich durchgeführten Reisen als auch Hilfsmittel für eine gedachte Reise im Kopf des Lesers oder der Leserin; letzteres traf natürlich in besonderer Weise für Reisebeschreibungen und -schilderungen bekannter Persönlichkeiten und für die zahlreichen großformatigen Ansichten- und Panoramenwerke zu, die nach der Erfindung des Stahlstichs um 1820 massenhaft als Erinnerungsstücke zur Rheinreise Verbreitung fanden. Beginnend im ausgehenden 18. Jahrhundert und verstärkt nach dem Ende der napoleonischen Ära gehörte der Mittelrhein 11 zu den frühen Zielen einer einsetzenden Reisetätigkeit, die aus heutiger Sicht in der Literatur mitunter
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Ebd., Kap. 4.6., S. 448 - 461. – Die von ausländischen Autoren verfassten, französischen und in größerer Zahl erschienenen englischen Reisewerke (ebd., S. 38 - 39), die möglicherweise für ihr Klientel nochmals eine andere Sichtweise auf den Kölner Dom lieferten, sollen hier nicht berücksichtigt werden, da sie den Rahmen dieses Beitrages vollends sprengen würden. Vgl.: Horst Joh[anne]s Tümmers: Rheinromantik. Köln: Greven, 1968. 165 S., zahlr. Ill. – Hier S. 116. Damit konnte je nachdem das Gebiet entlang des Rheinlaufes von Mainz stromabwärts bis nach Koblenz, Köln oder Düsseldorf gemeint sein.
Der Kölner Dom im Spiegel zeitgenössischer Reise- und Domführer
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bereits mit dem Begriff Massentourismus belegt wird.12 Vorreiter waren Dichter, Schriftsteller und Maler, die die Romantik zum Rhein brachten.13 Während die Maler und Dichter in der Zeit der Romantik den Menschen die Augen für die Schönheit und die Sehenswürdigkeiten der Rheinlandschaft zu öffnen versuchten, suchten die Touristen die Romantik am Rhein. Neben deutschen Reisenden, bei deren Besuch der Rheinlande oft auch patriotische Gefühle mitschwangen, waren es vor allem auch die ohnehin reisefreudigen Engländer, die sich durch ihre traditionellen antiquarischen Interessen und durch einen ausgeprägten Sinn für die Schauerromantik alter Gemäuer an den Rhein locken ließen.14 Verbesserte Transportmittel, zunächst durch zuverlässige Postkutschenverbindungen entlang des Rheines, dann ab 1827 durch die aufkommende Dampfschifffahrt im Linienverkehr auf dem Mittelrhein und schließlich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Ausbau stromparalleler Eisenbahnverbindungen erleichterten zunehmend die Erreichbarkeit dieses touristischen Zielgebietes und beschleunigten den Reiseverlauf.15 Die Popularisierung des Reisezieles hatte zudem eine Ausweitung der Rheinreise auf weitere gesellschaftliche Kreise zur Folge.16
II. „Eines der herrlichsten Werke altdeutscher Baukunst“: Der Kölner Dom – Beeindruckendes Monument vergangener Zeiten und Größe Jahrzehnte vor Ennen ist in Reisebeschreibungen Kölns und seiner mächtigen Kathedrale, die in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts entstanden ———— 12
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Für die ersten Jahre der preußischen Rheinlande schätzt Weihrauch, dass die Zahl der Rheinreisenden, die mit der Postkutsche oder dem Segelschiff unterwegs waren, bei 18.000 - 20.000 pro Jahr liegen dürfte. Bereits im ersten Jahr der Aufnahme der regelmäßigen Dampfschifffahrt auf dem Rhein, also 1827, reisten allein 18.000 Personen mit diesem neuen Verkehrsmittel. 1834 lag die Zahl der beförderten Personen bereits über 100.000, 1843 über 800.000 und 1856 wurde erstmals die Millionengrenze überschritten. 1844 wurden auf der neuen Eisenbahnstrecke zwischen Bonn und Köln mehr als 537.000 Fahrgäste befördert. – Die Zahlen belegen nachdrücklich den enormen Anstieg der Reisetätigkeit entlang des Rheins, wobei natürlich längst nicht jeder, der hier reiste, als Tourist unterwegs war. – Vgl. Weihrauch, Geschichte der Rheinreise ... (Anm. 6), S. 20 - 22. Tümmers, Rheinromantik ... (Anm. 10), S. 116. Ebd. Angelika Riemann: Reisebilder vom Rhein zur Zeit der Romantik. In: Malerische Ansichten des Rheins. Rheinreisen im 19. Jahrhundert. Eine Ausstellung aus Beständen der Westdeutschen Landesbank und der Universitätsbibliothek Düsseldorf 2. Mai - 15. Juli 1988. Ausstellungsorganisation u. Katalog: Rudolf Schmitt-Föller. (Schriften der Universitätsbibliothek Düsseldorf, 4). – Düsseldorf: Universitätsbibliothek Düsseldorf, 1988. 52 S., Ill. – S. 7-19. – Hier S. 8 - 10. Tümmers, Rheinromantik ... (Anm. 10), S. 117.
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sind, von einer solchen auf einer nationalen Gesinnung fußenden Deutung des Kölner Doms wenig zu spüren. Autoren, die Reiseführer verfassten, zeigten sich zumeist tief beeindruckt von den schieren Ausmaßen des unvollendeten Gebäudes und bedienten sich nicht ungern in ihren Beschreibungen der Bildersprache der Romantik. Nahezu unbestritten galt der Dom als die Hauptsehenswürdigkeit in der Stadt und wurde häufig an erster Stelle beschrieben. Die veränderte ästhetische Einschätzung dieser Zeit hatte zu einer Aufwertung der gotischen Baukunst geführt und auch dem Unvollendeten wurde ein Wert beigemessen.17 Reiseschriftsteller beriefen sich in ihren Darstellungen dabei gerne auf andere, bekannte und sich für den Dom engagierende Autoren der Literatur und Kunst, wobei sie sich teilweise und nuanciert eine Sichtweise zu eigen machten, die den Dom zugleich als ein Monument vergangener Größe und besserer Zeiten hochstilisierte und die gotische Baukunst als „altdeutsch“ vereinnahmte.18 Aufklärerisches Gedankengut, das in dem unvollendeten Dom ein Relikt überkommender Zeiten sah, wird man in der Reiseliteratur dieses Zeitraumes fast vergeblich suchen. Vielleicht trug dieser neue Blick auf die Hauptsehenswürdigkeit der Stadt sogar mit dazu bei, dass in diesen Führern von der im 18. Jahrhundert und auch noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts häufig geäußerten Kritik an der Rückständigkeit der Stadt Köln nichts mehr zu finden ist.19 Aber auch die generelle religiöse Bedeutung des Bauwerkes als der Kathedralkirche eines bedeutenden und traditionsreichen, nun wieder errichteten Bistums kam trotz detaillierter Beschreibungen der sehenswerten Objekte und der religiösen Schätze des Domes, wie etwa des Dreikönigsschreines, nur selten zur Sprache. Auf seinen Reisen durch das französische Roerdepartement in den beiden letzten Jahren der französischen Territorialherrschaft über die linksseitigen Rheinlande im Jahre 1813 und 1814 besuchte der damalige Präfekt des
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Vgl. Weihrauch, Geschichte der Rheinreise ... (Anm. 6), S. 216 - 218. So etwa der Literaturhistoriker und Philosoph Friedrich Schlegel (1772- 1829) in seiner 1806 verfassten Reisebeschreibung. – Vgl.: Weihrauch, Geschichte der Rheinreise ... (Anm. 6), S. 224- 225. Ein Beispiel der Abwertung des Domes aus der Zeit der Spätaufklärung findet sich in: Heinrich Sander: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien in Beziehung auf Menschenkenntnis, Industrie, Litteratur und Naturkunde insonderheit. Th. 1- 2. Leipzig 1783 -1784. – Vgl. Weihrauch, Geschichte der Rheinreise ... (Anm. 6), S. 214 - 215. – Zur Kritik an der Rückständigkeit der Stadt Köln in Reisebeschreibungen des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts vgl.: Cornelius Neutsch: Reisen um 1800. Reiseliteratur über Rheinland und Westfalen als Quelle einer sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Reiseforschung. (Sachüberlieferung und Geschichte. Siegener Abhandlungen zur Entwicklung der materiellen Kultur, 6). St. Katharinen: Scripta Mercurae Verl., 1990. 473 S., Ill. – Hier insbesondere S. 294 - 314.
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Departements, Jean Charles François Baron de Ladoucette 20, natürlich auch Köln. Im Mittelpunkt seiner zu einzelnen Briefen zusammengefassten Dienstreisen durch den Distrikt standen Beobachtungen zum Stand der Verwaltung und zu dem wirtschaftlichen Entwicklungspotential der bereisten Region. Eher beiläufig kam er daher in seinem achten, der Geschichte, Topographie und den Baudenkmälern Kölns gewidmeten Brief auf den Kölner Dom zu sprechen: „Die Stadt hatte früher soviele Glockentürme wie das Jahr Tage hat. Eine große Anzahl ist abgerissen worden. An die Spitze der Kirchen, die meine Aufmerksamkeit erregen, muss ich die Kathedrale stellen, die man Dom nennt. Sie wird ein Wunder sein, wenn man ihre beiden Türme auf die geplante Höhe von 580 Fuß gebracht hat. Der höchste hat nur 251 Fuß ab dem Erdboden; man genießt von da einen umwerfenden Blick. Die Kathedrale ist 400 Fuß lang; die Seite gegenüber des großen Turms ist unvollendet geblieben; man unterhält dort ständig einen Kran, der seit mehr als vier Jahrhunderten auf die Materialien wartet, die dazu bestimmt sind, das gewaltige Monument zu vollenden.“ 21 In seiner eher nüchternen und formalen Beschreibung hielt der Autor einen späteren Fortgang der Arbeiten an einem auch in seinem jetzigen Zustand Aufmerksamkeit erregenden Bauwerk somit zumindest unterschwellig für möglich. „So stände nun, wenn es ausgebauet worden wäre, eines der höchsten, geräumigsten, vollkommensten Gebäuden der Welt hier in Cöln, an einem der erhabensten Punkte der Stadt, über alle ihre Tempel und Thürme und über Menschenwohnungen majestätisch hervorragend. Keine Beschreibung, sagt unser verdienstvolle [!] Professor Walraf, glich sich aus mit diesem Wunder; keine Berechnung mit den daran verwendeten Mitteln von Ideen und Kraft! Aber auch gestört in seiner Vollendung ist es der Pharus des Rheinstroms, der Berg Gottes im Lande, und – wird bewundert. ... Jedem für Kunst und Wissenschaft Sinn habenden, und überhaupt jedem, nur einigermassen gebildeten Fremden, der dieses Wundergebäude zum erstenmale ansieht, wird sich ganz unwillkührlich die Frage aufdringen: warum ist der Bau dieses Tempels nicht ganz ausgeführt worden.“ – Der Dom, der bereits heute in seiner Nicht-Vollendung als Leuchtturm am Rhein Bewunderung findet, könnte bei einer Fertigstellung zu einem der ———— 20
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Jean Charles François Baron de Ladoucette (1772 - 1848) war Präfekt des Roerdepartements von 1809 an bis zu seiner Auflösung im Jahre 1814. Nach der Niederlage Napoleons bei Waterloo wurde er 1815 aus dem Staatsdienst entlassen. Jean Charles François le Baron de Ladoucette: Voyage fait en 1813 et 1814 dans le pays entre Meuse et Rhin. Suivi de notes. Avec une carte géographique. Paris [u.a.] 1818. [Dt. Übersetzung unter dem Titel: Reise im Jahre 1813 und 1814 durch das Land zwischen Maas und Rhein. Ergänzt durch Noten. Mit einer geografischen Karte. Dt. Erstausgabe. Mönchengladbach: Antiquariat am St. Vith, 2009. 435 S. – Zitat S. 123 - 124.] – Rez. des Titels mit weiteren biographischen Notizen zu Ladoucette von Axel Heimsoth in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 213 (2010) S. 288 - 290.
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bedeutendsten Gebäude der Welt werden, so die Einschätzung von Anton Engelbert d’Hame 22 unter Rückgriff auf die Darstellungen von Ferdinand Franz Wallraf 23 in seiner wenige Jahre später publizierten Historischen Beschreibung der berühmten Hohen Erz-Domkirche zu Cöln am Rhein.24 Auch dieser Autor enthielt sich bei der Würdigung des Doms eines nationalen Pathos, obwohl er angesichts der Kulturverluste, die während der französischen Herrschaft im Rheinland zu beklagen sind, an sich anti-französisch gestimmt war.25 Eine sehr sachliche, nicht pathetisch patriotisch zugespitzte Darstellung der Baugeschichte des Domes bis in die Gegenwart des Jahres 1834 bietet das Werk Der Dom zu Köln. Historisch-archäologische Beschreibung desselben von Matthias Joseph [Josef] DeNoël [de Noël].26 Der detaillierten Beschreibung der Ausstattung des Domes und seiner Kapellen im Westchor (Wanderung im Innern des Domes), die rund drei Viertel des Textes ausmacht, sind zwei allgemeine Abschnitte vorangestellt. ———— 22 23
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Der Autor gehörte zur Szene der Kölner Kunstsammler. Vgl. den Beitrag Der Dom zu Köln in der Aufsatzsammlung von Ferdinand Franz Wallraf: Beiträge zur Geschichte der Stadt Köln und ihrer Umgebungen. (Sammlung von Beiträgen zur Geschichte der Stadt Köln und ihrer Umgebungen, 1). – Köln: DüMont-Schauberg, 1818. – VIII, 221 S., [2] Bl., [3] gef. Bl., Ill. – Hier S. 184- 199; Zitat S. 197. – Der aus einfachen Verhältnissen stammende Schneidersohn Ferdinand Franz Wallraf (1748-1824) stieg zu einer der führenden und hoch angesehenen städtischen Persönlichkeiten der Franzosenzeit und des ersten Jahrzehnts der Herrschaft der Preußen in Köln auf. Er war u.a. letzter Rektor der alten Kölner Universität und engagierte sich in vielfältiger Weise für seine Heimatstadt, so auch für den Erhalt des Kölner Domes. Der Nachwelt ist er vor allem durch seine umfangreiche Kunstsammlung, die er testamentarisch der Stadt Köln vermachte, in Erinnerung geblieben. A[nton] E[ngelbert] d‘H[ame]: Historische Beschreibung der berühmten Hohen Erz-Domkirche zu Cöln am Rhein nebst ihren Denkmälern und Merkwürdigkeiten mit Vaterländischen Geschichten der Vorzeit begleitet. Köln: Heberle, 1821. 570 S., Ill. – Zitat auf S. 33-34. „ An einem einzigen Tage wurden die hölzernen verzierten Schilder und Wappen mit ihren daran gehefteten Inschriften, die sich in dieser Domkirche bei den Gräbern der Kurfürsten, Vornehmen, Edlen und ausgezeichneten Verstorbenen, so wie auch jene, welche fast in allen andern hiesigen Kirchen sich vorfanden, hinweggenommen und bei einem französisch-republikanischen Feste hier auf dem Neumarkt öffentlich verbrannt. ... Der revolutionaire Vandalism schonte nichts als seine eigene Schellenkappe, und die noch lebenden wenigen Zerstörer sind jetzt, um ihre frühere [!] Versündigungen an Kunst, Geschichte etc. abzubitten, bis zum lächerlichsten Pietismus herabgesunken.“ – Ebd., S. VIII-IX. Matthias Josef de Noël: Der Dom zu Köln, historisch-archäologische Beschreibung desselben. Köln: DüMont-Schauberg, 1834. 127 S., Ill. – Der zeitweilig als Warenmakler tätige Künstler und Kunstsammler Matthias Joseph DeNoël (1782 - 1849) zählte zum Freundeskreis von Ferdinand Franz Wallraf und betreute ab 1824 als Konservator die Sammlung Wallraf. Er gehört außerdem zu den Mitbegründern des Kölner Karnevals von 1823. – Vgl.: Kölner Autoren-Lexikon 1750- 2000. Nach Vorarbeiten von Gertrud Wegener unter Mitwirkung von Heribert A. Hilgers bearb. von Enno Stahl. Bd. 1: 1750 -1800. (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, 88). Köln: Emons, 2000, S. 75 - 77.
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DeNoël schilderte in seinem ersten, Vorbericht überschriebenen Kapitel bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück gehend die Bemühungen um einen Erhalt und eine Ausbesserung der Bausubstanz des Domes. Auch die zwanzig Jahre der französischen Herrschaft in Köln, die in späteren Darstellungen oft geradezu metapherhaft als Zeit des eigentlichen Verfalls der Domkirche herhalten müssen, um dann umso stärker die Leistungen Preußens an der Rettung und Vollendung des Domes herausstellen zu können, wurden hier deutlich differenzierter dargestellt. Zwar vertrat der Autor die sicher nicht von der Hand zu weisende Auffassung, dass die Herabstufung des Domes zu einer gewöhnlichen Pfarrkirche im Zuge der Säkularisation 1802 allein schon deshalb längerfristig den gänzlichen Verfall des Bauwerkes zur Folge gehabt hätte, da der Erhalt des kolossalen Bauwerkes die finanziellen Möglichkeiten der Gemeinde und der Stadt bei weitem überstiegen hätte. Aber: „ Auch hatte bereits unter der französischen Herrschaft der verwahrlosete Zustand des Domes durch die kräftige Verwendung seines Kirchenvorstandes so viel Theilnahme gefunden, daß das Blei, welches während der Epoche, in der er zum FourageMagazin gedient hatte (1796-97), den Rinnen entnommen worden war, in den letzten Jahren der napoleonischen Regierung aus Staats-Mitteln wieder ersetzt wurde, und im Jahr 1813 war bereits dieses Hauptbedürfniß erledigt.“ 27 Weiterhin würdigte DeNoël in diesem Abschnitt dann insbesondere die Verdienste des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. und seines kunstsinnigen Kronprinzen an den schon geleisteten kostspieligen Maßnahmen zur Sicherung und zum Erhalt des Bauwerkes, ohne die Verdienste anderer, die durch ihre Schriften oder ihre Taten an der Rettung des Bauwerkes beteiligt waren, dabei zu übersehen. DeNoël stellte schließlich auch die eigentliche kirchliche Bestimmung des Gebäudes klar heraus: „ Mehr noch des Heilbringenden hatte des Königs Majestät für den Dom sich vorbehalten, und im J. 1825 ging der Wiederbelebungs-Act des kölnischen Erzbisthums in Erfüllung. Am 11. Juni desselben Jahres nämlich hatte die feierliche Weihe unsers dermaligen Hochwürdigsten Herrn Erzbischofes, Ferdinand August Spiegel, Grafen zum Desenberg und Canstein, und dessen Einführung in den Dom Statt, wodurch der Dom nun auch die alte Würde einer Metropolitankirche und sein Domstift wieder erhielt.“ 28 Im sich anschließenden Kapitel Zur Geschichte des Domes griff DeNoël in seiner Darstellung der älteren Baugeschichte des Domes bis zur Einstellung der Arbeit ganz auf den Textband des Domwerkes des Kölner Kaufmanns, Kunstsammlers, Kunstschriftstellers und engagierten Vorkämpfers für den Weiterbau des Kölner Doms, Sulpiz Boisserée, aus dem Jahre 1823 zurück, ———— 27 28
Ebd., S. 6 - 7. Ebd., S. 8 - 9.
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aus dem er seitenweise wörtlich zitiert.29 In gleicher Weise verfuhr er hinsichtlich der Würdigung der architektonischen und kunsthistorischen Bedeutung der Domkirche im Rückgriff auf die auch von d’Hame herangezogene Schrift Ferdinand Wallrafs, des anderen schon in der Franzosenzeit aktiven Streiters für den Kölner Dom.30 Vorangestellt ist hier ein offensichtlich von DeNoël selbst verfasstes, längeres Lobgedicht auf den Dom.31 Auch in diesem Lobpreis auf den Kölner Dom wurde das Gebäude nicht als Nationaldenkmal gesehen sondern als Colonias Dom und Zion des Rheinlandes tituliert. Die Sehnsucht nach einem Retter, der die Vollendung des Unvollendeten herbeiführt, fand hier ihren Ausdruck. Eine solche Rettung könne überhaupt nur in Zeiten des Friedens und der Einigkeit möglich sein, wie einstmals zu Zeiten des Baubeginns im Mittelalter. Ein Beispiel für einen Stadtführer, in dem der Kölner Dom nicht an erster Stelle genannt wird, bildet das 1828 im Kölner Bachem-Verlag anonym erschienene Werk Köln und Bonn mit ihren Umgebungen.32 Der Titelzusatz Für Fremde und Einheimische deutet an, dass sich dieser Führer nicht nur an Touristen sondern auch an Kenner und Einwohner der beiden Städte wandte. Die Sehenswürdigkeiten der Stadt wurden hier nach den vier Stadtbezirken topographisch geordnet, so dass der Dom erst in der Mitte des Abschnittes zur vierten Sektion seine ausführliche Beschreibung erhielt, in die auch das baulich schwierige Umfeld mit einbezogen wurde: „Die Umgebung ist freilich eben nicht die günstigste und die Ansicht weder vom Domhofe noch von der Trankgasse ———— 29
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Sulpiz Boisserée: Geschichte und Beschreibung des Doms zu Köln. Nebst Untersuchungen über die Kirchenbaukunst als Text zu den Ansichten, Rissen und einzelnen Teilen des Doms von Köln. Stuttgart 1823. – IV, 50, 38 S.: Ill. – Zu Sulpiz Boisserée (1783- 1854) vgl. u.a. den von Susanne Kiewitz verfassten Eintrag in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 15 (1999), Sp. 246- 250. – Ferner: Renate Eichholz: Sulpiz Boisserée und der Dom zu Köln. In: Der Kölner Dom im Jahrhundert seiner Vollendung. Bd. 2: Essays zur Ausstellung der Historischen Museen in der Josef-HaubrichKunsthalle Köln 16. Oktober 1980 bis 11. Januar 1981. Hrsg. von Hugo Borger. Köln: Historische Museen der Stadt Köln, 1980. 393 S. – Hier S. 17 - 23. Vgl. Anm. 16. Matthias Josef de Noël: Der Dom zu Köln ... (Anm. 26), S. 15-16. Köln und Bonn mit ihren Umgebungen. Für Fremde und Einheimische. Aus den besten, und vorzüglich aus noch unbenutzten, Quellen bearbeitet. Köln: Bachem, 1828. 330 S., 1 Kt. – Das Werk gilt als der erste moderne und ausführliche Stadtführer zu Köln und der Text war für einige Jahrzehnte der ausführlichste und gehaltvollste, der zur Verfügung stand. Als Autoren des Buches gelten neben Matthias Joseph DeNoël (vgl. Anm. 26) für die Beschreibung der Bauten und Sammlungen, der aus Halle an der Saale stammende und zu dieser Zeit am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium als Oberlehrer tätige Philologe und Historiker Karl Georg Jacob (1796 -1849) für die historischen Abschnitte und der Bonner Mineraloge und Geologe Johann Jakob Nöggerath (1788- 1877) für die Erörterung naturwissenschaftlicher Fragestellungen. – Vgl.: Der erste Kölner Stadtführer aus dem Jahre 1828. Bearbeitet und kommentiert von Uwe Westfehling. Köln: Bachem, 1982. 291 S. – Siehe S. 9, 13 u. 18- 20.
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her frei und unverdeckt. ... Von einem nach dem Rheine zu gelegenen Hügel, wo die Mariengredenkirche bis zum Jahre 1817 stand, stellt sich der erhabene Bau in seiner ganzen Majestät und Pracht am vortheilhaftesten dar.“ 33 Im Hinblick auf ein möglicherweise sachkundiges Lesepublikum bemerkte der Autor: „ Es fällt schwer den Dom würdig zu beschreiben. Eine solche Beschreibung fordert einen Zusammenhang mannigfaltiger Kenntnisse aus dem Gebiete der Architectur und Kunst.“ 34 Gewürdigt wurde der Dom ansonsten mit dem zu dieser Zeit üblichen Vokabular, teilweise im Rückgriff auf vorangegangene und weit verbreitete literarische Reisebeschreibungen: Der Dom sei das herrliche Werk altdeutscher Baukunst, vielleicht das größte und schönste Gebäude der Welt, wenn es vollendet worden wäre. Aber auch unter den gegebenen Umständen ist der Anblick der kühnen Wölbungen und zierlichen Bogen ... höchst herrlich und ergreifend. Egal von welcher Stelle aus man den Dom betrachte, man kann nicht Herr werden über die schmerzliche Empfindung, daß ein ungeheurer Gedanke hier nicht zur Ausführung gekommen ist.35 Ausführlich und sachkundig schilderte der Verfasser außerdem die Sehenswürdigkeiten im Inneren der Domkirche und den Stand der Renovierungsarbeiten am Dom. Wenden wir uns nun nach diesen Dom- und Stadtführern zwei frühen und erfolgreichen Rheinführern zu, zum einen Aloys Schreibers Handbuch für Reisende am Rhein 36 und zum anderen der von Johann August Klein 1828 in Koblenz verlegten Rheinreise von Mainz bis Köln, die ganz auf den mit dem modernen Dampfschiff Reisenden ausgerichtet ist und deshalb auf dem Buchumschlag den treffenden Titelzusatz Ein Handbuch für Schnellreisende trägt.37 Kleins Reiseführer wurde einige Jahre später von dem Koblenzer Verleger Karl Baedeker aufgekauft und erschien in einer überarbeiteten Fassung als erster der berühmten „Baedeker-Reiseführer“. Die „Baedeker“ wurden für Generationen von Reisenden in Deutschland zum wichtigsten Informationsmittel für ihre Unternehmungen.38 Schreibers Werk, das unter verschiedenen Titeln zwischen 1816 und 1841 in insgesamt fünf Auflagen ———— 33 34 35
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Ebd., S. 142. Ebd., S. 143. Ebd., S. 142. – Namentlich erwähnt werden Johann Wolfgang von Goethes Notizen zur Rheinreise und Georg Forsters 1790 publiziertes und zeitweilig sehr populäres Werk Ansichten vom Niederrhein. Aloys Schreiber: Handbuch für Reisende am Rhein von Schafhausen bis Holland in die schönsten anliegenden Gegenden und in die dortigen Heilquellen. Heidelberg: Engelmann, 1816. XX, 528 S., 1 Kt. – Ders.: 3. verbesserte Aufl. Heidelberg: Engelmann, 1832. XXII, 528 S., 1 Kt. Johann August Klein: Rheinreise von Mainz bis Köln. Historisch, topographisch, malerisch bearb. Koblenz: Röhling, 1828. 378 S., Ill. Der in Essen geborene Karl Baedeker (1801-1859) gründete 1827 in Koblenz seine Verlagsbuchhandlung. – Vgl.: 2000 Jahre Koblenz. Geschichte der Stadt an Rhein und Mosel. Neu hrsg. von Hans Bellinghausen. Boppard: Boldt, 1971. 502 S., Ill. – Hier S. 270.
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erschien und auch ins Englische und Französische übersetzt wurde, gilt ebenfalls als ein früher Vorläufer der späteren Baedeker.39 Schreiber stellte den Dom nach einem historischen Abriss zur Stadtgeschichte als erste Sehenswürdigkeit vor, die obgleich unvollendet, eines der herrlichsten Werke altdeutscher Baukunst ist. Auf dem unvollendeten Turm, einer gewaltigen, steinernen Masse steht noch der Krahnen, mit dem man die Steine hinauf zog. Er bietet eine interessante Aussicht. „Die ganze große herrliche Stadt dehnt sich vor dem überraschten Blicke aus.“ Für die Beschreibung des fertiggestellten Chores mit seinen anliegenden Kapellen bediente sich Schreiber der in der Romantik gängigen Waldmetapher: „In ungeheurer Höhe stehen die Gruppen schlanker Säulen da, wie die Bäume eines uralten Forstes; nur am höchsten Gipfel sind sie in eine Krone von Aesten gespalten, die sich mit ihren Nachbaren in spitzen Bögen wölbt, und dem Auge, das ihnen folgen will, fast unerreichbar ist. Die Säulen der Unterkirche sind mit Brettern überwölbt.“ 40 Auf die Beschreibung des Inneren des Domes und seiner Sehenswürdigkeiten 41 folgten weitere Kirchen, Profanbauten, Sammlungen, Information zu Kunst, Gewerbe, Industrie und Handel, einige kurze Hinweise auf Gasthöfe und Vergnügungsmöglichkeiten der Kölner und auf Deutz und Bensberg als Reiseziele im Kölner Umland.42
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Zur Person und zum Lebenswerk des keineswegs nur als Reiseschriftsteller tätigen Aloys Schreiber (1761-1841) vgl. auch: „Weder Kosmopolit noch Spießbürger“. Der badische Dichter und Heidelberger Professor der Ästhetik Aloys Schreiber (1761-1841). Begleitheft zur Ausstellung im Universitätsmuseum Heidelberg vom 7. Juni bis 15. Juli 2006 ... (Schriften/Archiv und Museum der Universität Heidelberg, 10). Heidelberg: Verl. Regionalkultur, 2006. 72 S., Ill. – Insbesondere: Hans Joachim Räther: Aloys Schreiber (1761-1841). In: Ebd., S. 9 -14 sowie Julia Scialpi: Aloys Schreiber als Reiseschriftsteller. In. Ebd., S. 54-58. Schreiber: Handbuch für Reisende ... (Anm. 36), S. 320 -321. Hier fand auch die zu diesem Zeitpunkt verlorene Dombibliothek Erwähnung: „ An der linken Seite des Chors, beym achten Pfeiler, führt eine Treppe zur Dombibliothek und in die goldene Kammer. Diese vormals hier aufgestellte, äußerst merkwürdige Sammlung, reich an Handschriften aus Karls des Großen Zeit, ist im Revolutionskriege abhanden gekommen. Ein Katalog darüber wurde im J. 1752 zu Köln gedruckt.“ – Ebd., S. 327. Auch in seiner 16 Jahre später erschienenen 3. Auflage bediente sich Schreiber für seine Dombeschreibung der gleichen Worte und Bilder. Jedoch fanden auch neue und zusätzliche Informationen ihre Berücksichtigung, etwa dass die Zeichnungen der Hauptfassade des Doms wiederaufgefunden worden seien und eine mit Kupferstichen ausgestattete Dombeschreibung von Sulpiz Boisserée erscheine. Zum Verbleib der Dombibliothek (vgl. Anm. 41) hieß es genauer: „ Diese, zu Karls des Großen Zeit gestiftete, aus lauter (meist theologischen, juristischen und historischen) Manuscripten bestückte Sammlung wurde, bey Auswanderung des Domkapitels, gleichfalls nach Arensberg gebracht, und kam nicht wieder zurück.“ Und am Schluss seiner Dombeschreibung rügte er die sicher auch einer wachsenden Touristenzahl geschuldete Praxis, für die Besichtigung Geld zu verlangen: „ Bey dieser Gelegenheit verdient die Betteley gerügt zu werden, welche bey Vorzeigung der Sehenswürdigkeiten im Dom seit einiger Zeit statt findet. Zumal an Geistlichen fällt so etwas sehr auf. “ – Schreiber, Handbuch für Reisende ... (Anm. 36), 3. Aufl. 1832, S. 317 u. 323.
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Kleins Landschaftsbeschreibungen sind ebenfalls durch und durch von romantischen Empfindungen geprägt.43 Dem von der Rheinseite Kölns anreisenden Besucher bot der Führer zunächst einige Notizen zur Stadtgeschichte, ehe als erste Sehenswürdigkeit der Dom beschrieben wurde. Es folgten ähnlich wie bei Schreiber beginnend mit Maria im Kapitol weitere bedeutende katholische Gotteshäuser, zwischendurch fand auch die evangelische Gemeinde, der seit 1802 die Antoniterkirche zugewiesen ist, Beachtung. Zuletzt fanden bedeutende Profanbauten Erwähnung und es wurden Notizen zu Wirtschaft und Handel, Bildung und zu kulturellen Einrichtungen der Stadt dargeboten. Klein vermied in seinen Angaben zum Dom jeglichen Versuch, dem Bauwerk eine tiefere Symbolik beizumessen. Das Gebäude sprach quasi für sich. Denn in seiner insgesamt eher knappen Darstellung, die auch einige Daten zur Baugeschichte enthielt und in der die wichtigsten Sehenswürdigkeiten des Kirchenraumes vorgestellt wurden, setzte er den als altdeutsch apostrophierte Baustil der Gotik über andere antike Stilrichtungen, die zu seiner Zeit im Klassizismus ihren Widerhall gefunden hatten, und brachte dem ganzen Bau romantisierend bewundernde Begeisterung entgegen: „Wenn man von außen die kühnen Bogen, die unzähligen Säulen und Säulchen, Figuren und Blumen, Knospen und Früchte etc. sieht, jedes für sich und alle so meisterhaft ausgeführt: dann fühlt man recht lebhaft, wie gelungene Kunstgebilde mit Bewunderung erfüllen können, gleich erhabenen Naturschöpfungen. Wie wird man vollends ergriffen, wenn im Innern der erstaunte Blick dem Säulenwalde zur fast unerreichbaren Höhe nachstrebt und die kunstvollen Glasfenster mit ihrer herrlichen Farbenwelt einen Himmel in die Seele herabstrahlen! ... Welche Geister waren es, die ein solches Unternehmen zu denken, zu beginnen, fortzuführen wagten? In Erstaunen setzen kann auch ein römisches Pantheon, ein atheniensischer Minervatempel, aber den Menschen begeistern, ihn religiös erheben, der Gottheit näher bringen, wahrlich, dies können keine Bauwerke in einem solchen Grade, als diese altdeutschen. Einen wohltuenden Eindruck macht der noch stehende Krahnen auf dem einen Thurme. Die Enkel haben also den Gedanken der Vollendung wenigstens fortgedacht.“ 44 ———— 43
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Vgl. Angelika Riemann: Reisebilder ... (Anm. 15), S. 16. – So wurde Köln etwa am Schluss der Stadtbeschreibung wie folgt gepriesen: „Vorzüglich herrlich ist der Anblick am Morgen, wenn die Sonne über dem fernen Gesichtskreise aufsteigt. Die Kuppeln und Thurmspitzen zahlreicher Kirchen, vor allen der hervorragende Dom, die hohen Giebel und Dächer von Hunderten amphitheatralisch hintereinander sich erhebender Häuser leuchten im Goldglanze. Frische Morgenluft schwellt die ausgebreiteten Segel hochmastiger Fahrzeuge, freundlicher Jachten, bunter Kähne, welche die Wasserfläche durchschneiden. Strom auf- und abwärts fliegen menschenbedeckte Dampfschiffe, an deren Räder silberweißer Schaum sich bricht. Alles bewegt sich rings in der frohen Lebensthätigkeit einer bedeutenden Handelsstadt.“ – Klein: Rheinreise ... (Anm. 37), S. 357. Klein, Rheinreise ... (Anm. 37), S. 327-328.
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Schließlich ging Klein in seiner Dombeschreibung auf den schlechten baulichen Zustand des Gebäudes ein, dem in der jüngsten Vergangenheit dank der ansehnlichen Zuwendungen des preußischen Königs abgeholfen werden konnte: „Die Grundlage des Domes besteht aus mächtigen Basaltblöcken, der Unterbau leider aus leichtverwitterndem Drachenfelser Steine. Daher eine Menge zahlreicher schadhaften [!] Stellen, die längst dem Ganzen den Untergang drohten. Nur die ansehnlichen Summen, welche der erlauchte König von Preußen zur durchgreifenden Reparatur großmüthig gab, konnten den Meisterbau vor baldigem Zusammensturze retten. Seitdem sind zahlreiche Wiederherstellungsarbeiten in thätigem Gange, und künftig gleichfalls anderweitige Hilfsquellen geöffnet.“ 45 Am Schluss seiner Beschreibung der sehenswerten Kölner Kirchen beklagte Klein den Verlust weiterer bedeutsamer Bauwerke, ohne dass er die Franzosen oder die politischen Umwälzungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts hierfür ausdrücklich verantwortlich machte. Vielmehr sah er den um seinen wirtschaftlichen Vorteil bedachten Einzelnen als Hauptursache für den Abbruch etlicher Kirchgebäude an: „Dies die merkwürdigsten der achtzig bis neunzig größern Kirchen, deren Goldkreuze vormals über Köln funkelten und ihm durch die ganze Christenheit den Namen der ‚heiligen‘ Stadt erwarben. Ein Theil wurde zu Magazinen, Fabriken etc. verwendet, ein anderer abgebrochen. Manche Kirchen, geschichtlich und architektisch [!] merkwürdig, hätten ein besseres Loos verdient. Man bedurfte weder der Räume noch der Baustoffe. Hier im Rheinlande zerstörte damals nicht so wohl roher Vandalismus, als schonungslose Privatspeculation! Oft berechnete man nur den Wert der Steine.“ 46 Die neuen Möglichkeiten mit dem Dampfschiff oder mit der Eisenbahn durch die Rheinlande zu reisen, wurden von etlichen Reiseführern aufgegriffen, die sich primär am jeweiligen Verkehrsmittel orientierten und die Abfolge und die Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten entlang der Reisestrecke diesem unterordneten. Ein auf die Schifffahrt bezogenes und sich auch an ein internationales Publikum wendendes Beispiel ist das 1836 verlegte Handbuch, für Reisende mit Dampfschiffen von London bis Strasburg.47 Der Autor, auf dem Titelblatt als Kreis-Sekretär a.D. und Kontroleur bei der Rheinischen Dampfschiffahrts-Direkzion ausgewiesen, bot den Reisenden alle notwendigen Informationen für eine Reise mit dem Dampfschiff auf dem Rhein. Dazu gehörten nach einer kurzen Geschichte der noch jungen Dampfschifffahrt zunächst Fahrpläne und Anschlussverbindungen, Verhaltensregeln für ———— 45 46 47
Ebd., S. 328 - 329. Ebd., S. 340 - 341. Friedrich Ludwig Lachenwitz: Handbuch, für Reisende mit Dampfschiffen von London bis Strasburg. Köln: Selbstverl., 1836. 192 S., 1 Kt.
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Passagiere, Zoll- Fracht- und Einfuhrbestimmungen sowie die Bewirtung auf den Schiffen. Etwa die Hälfte des Werkes war knappen Informationen zu den Orten, an denen die Schiffe anlegten, vorbehalten. Dabei verfolgte der Autor nicht die Absicht, „ ... die schon sehr angewachsene Literatur für die Unterhaltung der Rhein-Reisenden zu vermehren.“ 48 Köln wurde auf rund acht Seiten knapp beschrieben, wobei Reiseverbindungen, Transport-, Bade- und Übernachtungsangebote ein gutes Drittel dieses Platzes einnahmen. Nach einer kurzen aktuellen Würdigung der Stadt und ihrer Einrichtungen wurde auch hier unter den Sehenswürdigkeiten der „in seiner Unvollendetheit so gross als ehrwürdig dastehende(n)“ Dom an erster Stelle genannt. Eine weitere allgemeine Beschreibung der Kirche unterblieb hier mit Verweis auf die Werke von DeNoël und Boisserée 49 völlig; lediglich der Dreikönigsschrein, das Dombild, der Hochchor mit seinen Grabmälern und die Glasfenster wurden als Sehenswürdigkeiten des Kircheninneren knapp beschrieben.50 Für den Eisenbahnreisenden auf der 1839 bis 1841 von der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft errichteten Route Köln – Aachen wurde im Jahr der Inbetriebnahme der Gesamtstrecke die Malerische Beschreibung der Eisenbahn zwischen Köln und Aachen publiziert. Als Verfasser des anonymen Werkes gilt der Kölner Buch- und Musikalienhändler Johann Paul Mathieux.51 Das Schlusskapitel dieses Werkes ist auf 12 Seiten einer Beschreibung von Köln und seinen Merkwürdigkeiten vorbehalten. Nach einer stark historisch geprägten Stadtbeschreibung fand sich auch hier der Dom im Rang der erstgenannten Sehenswürdigkeit und wurde von Mathieux ebenfalls ganz im Sprachstil und der Bildsymbolik der Romantik gewürdigt: „Wir wenden uns zuerst zu seinem weltberühmten Dome, welcher obgleich unvollendet das herrlichste Werk altdeutscher Baukunst ist. Auf einem Hügel ragt er empor in erhabener Majestät, und wäre vielleicht der größte und schönste Tempel der Welt, wäre er vollendet worden.“ 52 Mathieux scheute sich nicht, zur Dombeschreibung ganze Passagen aus Kleins Rhein-
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Ebd., S. 7. Vgl. Anm. 26 und 29. Lachenwitz, Handbuch, für Reisende mit Dampfschiffen ... (Anm. 47), S. 133 u. 134. Johann Paul Mathieux: Malerische Beschreibung der Eisenbahn zwischen Köln und Aachen und der von ihr durchschnittenen Gegend. Deren Sagen und geschichtliche Erinnerungen, nebst einem Führer durch Aachen und Köln und einer Spezial-Karte des Schienenweges. Köln: Mathieux, 1841. V, 114 S., 1 gef. Bl., Kt. – Mathieux (*1803) betrieb in Köln eine Musikalien- und Buchhandlung und publizierte 1845 eine Geschichte der Stadt Köln. Zwischen 1832 und 1840 war er mit Johanna Kinkel (1810 -1858), einer der profiliertesten Komponistinnen und Schriftstellerinnen des Vormärz, verheiratet. Ebd., S. 106.
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reise wörtlich zu übernehmen.53 Eine gewisse Aktualität ergab sich bei dieser Beschreibung dadurch, dass Mathieux auf die bald abgeschlossenen Sanierungsarbeiten am Chor und den beabsichtigten Weiterbau des Domes hinwies: „Doch die Vollendung fehlt; der untere unvollendete Theil der Kirche ist kaum 100 Fuß hoch und mit Brettern überwölbt; an diesem Theile wird jetzt zunächst der eigentliche Fortbau statt finden, nachdem die seit 16 Jahren begonnenen Reparaturen am Chore beinahe vollendet sind.“ 54
III. „Und Preußens Adler flog zum Rheine, dort Wache zu halten“: Reiseführer zum Kölner Dom unter dem Eindruck des Dombaufestes von 1842 In der Geschichte der Bemühungen um den Weiterbau des Kölner Domes markieren die Jahre 1840 bis 1842 eine einschneidende Zäsur. An die Stelle der von Dichtern und Schriftstellern gepflegten romantisch nationalen Kunstbegeisterung für das eindrucksvolle altdeutsche, gotische Bauwerk und des Engagements einzelner kunstsinniger Bürger für den Erhalt des Domes rückten Ereignisse, die auf eine baldige Vollendung der Kathedrale hoffen ließen. Zu nennen sind der Thronwechsel in Preußen, durch den der schöngeistige und schon lange für den Kölner Dom Begeisterung empfindende Kronprinz Friedrich Wilhelm IV. zum Regenten des Preußenstaates aufstieg, der sich in den Jahren 1840 und 1841 konstituierende überkonfessionelle Dombauverein, der die Bemühungen der Dombaufreunde bündelte und dessen vorrangiges Ziel die Beschaffung von Mitteln für den Dombau war und eine nicht zuletzt durch erneute französische Ansprüche im Jahre 1840 auf die Rheingrenze genährte öffentliche Stimmung für den Dom als nationales, deutsches Bauwerk und Bollwerk am Rhein. Kulminationspunkt dieser Anstrengungen war sicherlich das erste Kölner Dombaufest am 4. September 1842. Nicht wenige Katholiken sahen in diesem Fest zugleich den ernsthaften Versuch Preußens, das seit dem ‚Kölner Ereignis‘ des Jahres 1837 und der Inhaftierung des Erzbischofs Clemens August Freiherr von Droste zu Vischering tief zerrüttete Verhältnis zur Katholischen Kirche ———— 53
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Auch hier lesen wir: „Wenn man von außen die kühnen Bogen, die unzähligen Säulen und Säulchen, Figuren und Blumen, Knospen und Früchte sieht, jedes für sich und alles im ganzen so meisterhaft ausgeführt, dann fühlt man recht lebhaft, wie gelungene Kunstgebilde mit Bewunderung erfüllen, gleich erhabenen Naturschöpfungen. Wie wird man vollends ergriffen, wenn im Innern der erstaunte Blick dem Säulenwalde zur fast unerreichbaren Höhe nachstrebt, und die kunstvollen Glasfenster mit ihrer herrlichen Farbenwelt einen Himmel in die Seele herabstrahlen. ... Welche Geister waren es, die ein solches Unternehmen zu denken, zu beginnen wagten! “ – Ebd., S. 106 -107. Ebd., S. 106.
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in den Rheinlanden auszusöhnen. Auf dem Dombaufest legte der preußische König den Grundstein für den Weiterbau des Domes und hielt eine im Festprogramm nicht vorgesehene Rede, die zeitgenössisch auf ein großes Echo stieß. In dieser Rede beschwor Friedrich Wilhelm IV. den Dombau als Werk des Brudersinnes aller Deutschen, aller Bekenntnisse, die zu errichtenden bzw. fertig zu stellenden beiden Domtürme sollten für Deutschland durch Gottes Gnade Thore einer neuen, großen, guten Zeit werden, er beschwor die Einigkeit deutscher Fürsten und Völker sowie den Frieden der Confessionen und der Stände und erinnerte an die Befreiungskriege gegen Napoleon, die aus dem selben Geist deutscher Einigkeit und Kraft zu einem siegreichen Ende geführt wurden.55 Alle diese Ereignisse konnten eigentlich nicht folgenlos bleiben für Reiseschriftsteller und Autoren von Reiseführern, die in den kommenden Jahren in ihren Werken den Kölner Dom beschrieben. Im Folgenden soll daher nachgespürt werden, ob und inwieweit diese national gesinnte Initialzündung ihren Niederschlag in der Reiseliteratur fand. Dabei zeichnet sich keineswegs ein einheitliches Gesamtbild ab. Geradezu überschwänglich wurde Preußens Rolle beim Weiterbau des Kölner Domes in dem ein Jahr nach dem Dombaufest, 1843, von Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio unter dem Pseudonym Wilhelm von Waldbrühl publizierten Domführer Der Führer im Dom zu Köln gewürdigt.56 In seiner einleitenden geschichtlichen Darstellung zum Dombau übte der Autor harsche Kritik an den Renovierungs- und Umbauarbeiten unter der Ägide des alten Domkapitels im 18. Jahrhundert, wobei die Franzosen dem ———— 55
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Vgl. zu den hier genannten Entwicklungen und Ereignissen u.a.: Norbert Trippen: Das Kölner Dombaufest 1842 ... (Anm. 4). – Ferner: Kirsten John: Das Kölner Dombaufest von 1842 – eine politische Demonstration König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen. In: Das Kölner Dombaufest von 1842 ... (Anm. 5), S. 63 - 84. – Christian Brylak, Gerlinde Lütke Notarp: Das Kölner Dombaufest von 1842 – Ausgleich zwischen Kirche und Staat. In: Ebd., S. 85-110. – Inken Harnisch: Die Bedeutung des Kölner Dombauvereins für den Weiterbau des Kölner Doms. In: Ebd., S. 111-132. – Leo Haupts: Die Kölner Dombaufeste 1842- 1880 zwischen kirchlicher, bürgerlich-nationaler und dynastisch-höfischer Selbstdarstellung. In: Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Dieter Düding. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 1988, S. 191- 211. – Ursula Rathke: Die Rolle Friedrich Wilhelm IV. von Preußen bei der Vollendung des Kölner Doms. In: Kölner Domblatt. T. 1 47(1982) S. 127-160. T. 2 48(1983) S. 27- 68. Wilhelm von Waldbrühl [Pseud., d.i. Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio]: Der Führer im Dom zu Köln. Köln: Feilner, 1843. 54 S., Ill. – Der in Waldbröl geborene Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio (1803-1869) war die überwiegende Zeit seines Lebens als Privatlehrer tätig. Seiner Nachwelt ist er vor allem als Dichter und Komponist, Heimatschriftsteller und Volksliedforscher bekannt. – Vgl.: Lemma ‚Zuccalmaglio, Anton Wilhelm Florentin von‘ [verfasst von Jak. Schnorrenberg] in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 45. Leipzig: Duncker u. Humblot, 1900, S. 467- 469. – Ferner: Alfred Fritz Tryzna: Lebensbeschreibung des Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio. In: Beiträge zur oberbergischen Geschichte 4 (1993) S. 157-173.
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sinnlosen Streben des Kapitels die Krone aufgesetzt haben. „Dann ward der Dom, nachdem er fünfhundert Jahre ein Haus des Herrn gewesen, zum Heuboden des französischen Heeres umgeschaffen ... . Unter Napoleons eisernem Herrscherstabe wurde zwar das heruntergerissene Blei der Dachrinnen wieder ersetzt, aber dennoch ließ der damalige Bischof Berdolet schon Pappeln um das Gebäude anpflanzen, damit dieselben, in Verbindung mit dem bald fertigen gothischen Trümmerhaufen, eine landschaftliche Wirkung hervorbringen sollten.“ 57 Umso glanzvoller setzte von Waldbrühl sodann die Preußen als Retter des Kölner Domes in Szene: „Dank dem Herrn, es kam anders, der Stern des Welteroberers sank. Deutschland erhob sich, und Preußens Adler flog zum Rheine, dort Wache zu halten. Mit dem Friedensjahr 1815 kam der Heldenjüngling, der nach einer dunklen Sage den Bau vollenden soll, kam der Sohn Friedrich Wilhelm’s III. zum erstenmale in den Wunderbau und gelobte seinen königlichen Vater zu bewegen, daß wenigstens das herrliche Werk, wie es von der Zeit überliefert worden, der Nachwelt erhalten werde.“ 58 Im Folgenden wurden dann die bisherigen Verdienste des preußischen Königshauses um den Erhalt und den Weiterbau der Kathedrale breit herausgestellt. Friedrich Wilhelm IV. wurde zum eigentlichen Motor des Weiterbaus stilisiert, er habe erklärt, „Deutschland müsse die von den Vätern übererbte heilige Schuld jetzt rein abtragen, und das Kunstwerk, das Sinnbild seines Lebens und Strebens, ganz im erstbeabsichtigen Sinne hinstellen können.“ Dem Dombauverein kam dagegen in den Ausführungen nur eine untergeordnete Rolle zu. Die Darstellungen gipfelten in der wörtlichen Wiedergabe der Rede Friedrich Wilhelm IV. anlässlich der Grundsteinlegung zum Weiterbau des Domes während des Dombaufestes des Jahres 1842.59 Mit viel Pathos und unter Rückgriff auf manche Legende und Sage beschrieb der Autor in den weiteren Kapiteln seines Buches das Äußere und das Innere der Domkirche und ließ diese Ausführungen im Schlussabschnitt mit der Vision eines vollendeten Domes enden.60 Im allgemeinen wurde Preußens Rolle für den Erhalt und den Weiterbau des Kölner Domes in der Reiseliteratur der darauf folgenden Jahre zwar ebenfalls gewürdigt, insgesamt aber weitaus sachlicher dargestellt: Geradezu ausgewogen im Vergleich zu von Waldbrühls Lobeshymnen erscheinen die Schilderungen in dem von Heinrich Müller Malten verfassten Begleittext zu ———— 57 58 59 60
Ebd., S. 10. Ebd., S. 10 -11. Ebd., S. 11-14. Ebd., S. 43- 47. – Deutliche Kritik übte er dabei an dem baulichen Umfeld der Kathedrale: „Leider haben die vergangenen Jahrhunderte alles gethan, die schöne Lage ganz zu verwaschen, hat selbst die jüngstvergangene Zeit manche Gelegenheit verstreichen lassen, um den Dom herum so aufzuräumen, daß er von allen Seiten umgangen und gehörig ins Auge gefaßt werden konnte.“ – Ebd., S. 15.
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Ludwig Langes Panoramawerk Der Rhein und die Rheinlande in malerischen Original-Ansichten.61 Nachdem Müller Malten die Topographie, die Geschichte und die wichtigsten Plätze und Straßen der Stadt vorgestellt hatte, kam er in einer etwas relativierenden Art auf den Dom zu sprechen, der für eine Bischofsstadt selbstverständlich das wichtigste Bauwerk sei und über den schon sehr viel geschrieben worden sei: „Unter den merkwürdigen Gebäuden und Denkmälern der Stadt nehmen in der früheren erzbischöflichen Residenz wie begreiflich, die Kirchen die erste Stelle ein, von ihnen aber ist der Dom dasjenige Bauwerk des gesammten Mittelalters, über welches in der jüngsten Zeit am meisten geschrieben und gesprochen ward, dergestalt, daß sich eine Dombauliteratur aufstellen ließe, wie man schon ein Domblatt besitzt.“ 62 In dem sich daran anschließenden Abriss zur Geschichte des Dombaues wurden sodann die tatsächlichen und die geplanten Veränderungen des 18. Jahrhunderts („ Ja man hatte sogar den närrischen Einfall, den nördlichen Thurm ganz wegzubrechen, damit man bequemer am Dom vorfahren könne“ 63) sowie die Zweckentfremdung und Vernachlässigung der Kathedrale während der Franzosenzeit ebenfalls sehr deutlich kritisiert. „Unter preußischer Herrschaft befahl sogleich der König und Kronprinz, dies herrliche Denkmal altdeutscher Baukunst der Nachwelt zu erhalten.“ 64 Doch nicht nur Friedrich Wilhelm III. und sein Nachfolger, der „... jetzige König ..., der schon als Kronprinz den lebhaftesten Eifer für Bewahrung alter Bau- und Kunstwerke bethätigte, [und] den Entschluß faßte diesen Bau zu vollenden“ wurden gewürdigt, sondern es wurde auch das Engagement des königlich-preußischen Architekten und Oberlandesbaudirektors Karl Friedrich Schinkel, des Kölner Erzbischofs Ferdinand August Graf von Spiegel, des ersten Dombaumeisters Ernst Friedrich Zwirner und des Dombauvereins für den Erhalt und Weiterbau des Domes hervorgehoben.65 Die Historie des Dombaus schloss ab mit dem für die ———— 61
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Ludwig Lange: Der Rhein und die Rheinlande dargestellt in malerischen Original-Ansichten. Von Ludwig Lange und in Stahl gestochen von Johann Poppel im Vereine mit Deutschlands bekanntesten Stahlstechern. Von einem historisch-topographischen Text begleitet. Darmstadt: Lange, 1853. 346 S., Ill. – [Nachdruck des Textbandes: Bd. 1. Beschreibung der Orte von Heinrich Müller Malten. Köln: Scriba, 1977]. – Das erfolgreiche, von dem in Darmstadt geborenen und später in München lehrenden Architekturprofessor und Architektur- und Landschaftszeichner Ludwig Lange (18081868) konzipierte Panoramawerk erschien erstmals 1842 und wurde in den nächsten drei Jahrzehnten verschiedentlich neu aufgelegt. Ebd., S. 296. Ebd., S. 298 - 299. Ebd. Ebd. – Zu den Beiträgen, die die verschiedenen hier genannten Protagonisten zur baulichen Leistung der Vollendung des Kölner Domes beigetragen haben, vgl. aus heutiger Sicht im Überblick: Arnold Wolff: Die Baugeschichte des Kölner Domes im 19. Jahrhundert. – In: Der Kölner Dom im Jahrhundert seiner Vollendung ... (Anm. 29), S. 24 - 35. – Ferner: Das Kölner Dombaufest von 1842 ... (Anm. 5)
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Zeit bemerkenswert neutralen Fazit: „Die Poesie und Literatur verherrlichte den Gedanken eines Ausbaues durch einige gelungene Schriften; man sah in der Vollendung des Kölner Doms eine deutsche Nationalangelegenheit. Auf der andern Seite erhoben sich auch einige, obschon nur wenige Stimmen, die eine Nichtvollendung für ein Zeichen der Zeit und ihres Geistes ausschreien wollten.“ 66 Ausführliche Beschreibungen des Äußeren und des Inneren des Domes folgten, die in den kunsthistorischen Darstellungen weitgehend frei waren von den Metaphern der Rheinromantik, auf die frühere Autoren so gerne zurückgegriffen hatten. Lediglich das in der Höhe unvollendete Hauptschiff wurde als ergreifender und einzigartiger Säulenwald charakterisiert.67 Zuverlässig, sachlich-beschreibend und vor allem auf die Sehenswürdigkeiten in der Domkirche hin konzentriert ist die Darstellung des Kölner Domes in der 1849 erstmals unter eigenem Namen publizierten Ausgabe des aus der Klein’schen Rheinreise hervorgegangenen Baedekers abgefasst.68 In der Physiognomie der Kathedrale wurde besonders der Südturm hervorgehoben: „Kein Theil des ganzen Baues hat gleich von unten auf eine so reiche harmonische Gliederung und strebt in so klarer Gesetzmäßigkeit und fester Ordnung empor, als gerade der Thurm. Mit Recht erscheint er als eines der höchsten Wunder der Baukunst, wie überhaupt der Kölner Dom das vollendetste Meisterwerk gothischer Baukunst zu nennen ist.“ 69 Da der Baufortschritt bis zum Dombaufest im August 1848 skizziert wurde, gewannen die Ausführungen eine hohe Aktualität.70 Die Leistungen der preußischen Könige und der Dombauvereine für den Erhalt und Weiterbau wurden vor allem quantifiziert und in einen Gegensatz zur Vernachlässigung der Kathedrale in französischer Zeit gesetzt: „Die Franzosen hatten ihn in ein Heumagazin verwandelt und durch die Entwendung des Bleies von der Bedachung seinen Verfall beschleunigt. Als die Rheinlande im J. 1816 an die Krone Preußen kamen, war der Dom in einen solchen Zustand gerathen, daß der Einsturz des ———— 66
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sowie Adolf Klein: Der Dom zu Köln. Die bewegte Geschichte seiner Vollendung. Köln: Wienand, 1980. 283 S. Ebd., S. 299-300. – Zu den Lyrikern, die auf die Instrumentalisierung des Kölner Domes für die nationale Frage mit Ablehnung und Empörung reagierten, gehörten u.a. Annette von DrosteHülshoff und Heinrich Heine. Vgl.: Walter Hinck: Krone auf dem Haupt Germanias ... (Anm. 5); hier S. 107-110. Ebd., S. 301. Karl Baedeker: Rheinreise von Basel bis Düsseldorf mit Ausflügen in das Elsaß und die Rheinpfalz, das Murg- und Neckarthal, an die Bergstraße, in den Odenwald und Taunus, in das Nahe-, Lahn-, Ahr-, Roer-, Wupper- und Ruhrthal und nach Aachen. Sechste, verbesserte und vermehrte Auflage der Klein’schen Rheinreise. Koblenz: Baedeker, 1849. 376 S., Ill., Kt. – Vgl. auch Anm. 37 und 38. Ebd., S. 315. Ebd., S. 314-315: „ Die Herstellung des Chores ist vollendet, das Langhaus mit den beiden Querschiffen ist am 14. Aug. 1848, dem 600jährigen Jahrestage der Grundsteinlegung, zum Gottesdienst eingeweiht worden. Am Ausbau des südlichen und nördlichen Portal wird eifrig gearbeitet.“
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hohen Chores den Untergang des Ganzen drohte [!]. ... Die Könige von Preußen Friedrich Wilhelm III. und IV. haben den Meisterbau vor völliger Vernichtung bewahrt. Der erstere ließ von 1817 bis zu seinem Todesjahr 1840 über 200.000 Thaler, ... verwenden, wozu noch etwa 125.000 Thaler an Cathedralsteuer und Geschenken kamen. Seit dem Regierungsantritt des letztern ist bis Ende 1848 fast eine Million Thaler für den Bau verausgabt worden, wovon der König drei Viertheile bewilligte, ein Viertel aber von den verschiedenen Dombau-Vereinen aufgebracht worden ist.“ 71 Die Leseinteressen der Bildungsbürger als Hauptadressaten seines Reisewerkes bediente Baedeker zugleich geschickt durch Verwendung je eines längeren Zitates aus den einschlägigen von der Romantik geprägten literarischen Dombeschreibungen in den inzwischen fast ein halbes Jahrhundert alten Werken Ansichten vom Niederrhein von Georg Forster und Reise nach Frankreich von Friedrich Schlegel. Seine mehr als sechs Seiten umfassende Beschreibung des Kölner Domes leitete er mit Auszügen aus dem wohl 1814 entstandenen Gedicht Der Dom zu Köln von Max von Schenkendorf ein. Damit imaginierte er bei seinen Lesern zur Einstimmung auf die Kathedrale die romantischen Topoi der Naturbetrachtung und der Sehnsucht nach dem Unendlichen.72 Ein Beispiel für einen wenig bekannten, kompakten Rheinreiseführer, der in etwa zur gleichen Zeit entstanden ist wie die 6. Auflage des Baedeker, ist der von Edwin Müller verfasste und 1852 in Berlin verlegte Titel Der Rheinreise von Düsseldorf bis Basel 73; etwa zwei Drittel des Textes sind auch hier der Strecke von Düsseldorf bis Mainz vorbehalten. Die Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten sind jeweils sehr knapp gehalten. Modern gesprochen liegt hier ein leichter und handlicher Führer im Taschenformat für die Mitnahme auf der Reise vor. Der Text zum Kölner Dom lehnte sich in einzelnen Passagen eng an die Beschreibung im Baedeker an, ohne dem Nutzer allzu viel Bildung oder Vorwissen zuzumuten: So wurde etwa der Chor des weltberühmten Dom(es) als „Muster der höchsten Vollendung aus der Blüthezeit der ———— 71
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Ebd., S. 314. – Dass die Franzosen in ein so negatives Licht gerückt werden, mag auch Ausdruck einer zunehmend antifranzösischen Stimmung im Rheinland sein. Vgl. Sophie du Boisson, Sylvia Simon: Der Kölner Dom in der Dichtung. In: Das Kölner Dombaufest von 1842 ... (Anm. 5), S. 162. – Max (eigentlich Gottlob Ferdinand Maximilian Gottfried) von Schenkendorf (1783-1817) gilt als einer der wichtigsten Freiheitsdichter und Lyriker der napoleonischen Befreiungskriege. Er verstarb als Regierungsrat in Koblenz. – Vgl.: Wolfgang Schütz: Koblenzer Köpfe. Personen der Stadtgeschichte. 2. überarb. und erw. Aufl. Mühlheim-Kärlich: Verl. für Anzeigenblätter, 2005. 623 S. – Hier S. 464 - 465. Edwin Müller: Die Rheinreise von Düsseldorf bis Basel. Der sichere und kundige Führer auf der Reise durch die Städte, Burgen, Bäder, Gebirge und Thäler sämmtlicher deutschen und französischen Rheinlande. Berlin: Grobe, 1852. 186 S., Kt.
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Kunst“ charakterisiert 74, ein Hinweis auf die Gotik als Stilepoche unterblieb somit. Auch hier wurde die Rolle der preußischen Könige als Retter des Bauwerkes gewürdigt: „... Der Riesentorso (war) dem Untergang verfallen ..., wenn ihn nicht Preußens König gerettet hätte, dem auch die Wiederherstellung des Chors verdankt wird. Den großen Gedanken des Aufbaues faßte erst Friedrich Wilhelm IV., der als Schutzherr des Dombauvereins am 4. September 1842 den Grundstein zum Bau der Seitenportale und damit zur Ausführung des ganzen legte.“ Im weiteren Text wurden ebenfalls der finanzielle Beitrag der beiden preußischen Könige und des Dombauvereins sowie die Steuereinnahmen und die Schenkungen zur Sicherung und zum Weiterbau des Domes quantifiziert, ehe sich der Autor nach einer kurzen, die Größe des Bauwerkes in Blick nehmenden Beschreibung den Sehenswürdigkeiten im Inneren der Domkirche zuwandte.75 Auf eine Würdigung der Kathedrale im Geiste der Romantik oder als deutsches Nationalsymbol verzichtete Müller dagegen völlig. Naturgemäß viel ausführlicher wurden die jüngere Baugeschichte und die Verdienste und Leistungen einzelner Beteiligter am Erhalt und Weiterbau des Kölner Domes in der Neueste(n) Beschreibung des Domes zu Köln von Franz Carl Eisen dargestellt.76 Das Titelblatt belegte die Kompetenz des Autors für diesen Führer mit dem Hinweis Vorstands-Mitglied und Bibliothekar des CentralDombau-Vereins zu Köln.77 Der für diese Zeit maßgebliche Domführer erschien 1857 in einer zweiten Auflage und wurde auch in das Französische übersetzt. Der Führer war in seinen Beschreibungen sehr detailreich, gab dabei auch praktische Hinweise zur Dombesichtigung und legte Rechenschaft über die Organisation, Tätigkeit und Einnahmen des ZentralDombauvereins und der mit diesen assoziierten Dombauvereine in anderen deutschen Ländern und Städten ab.
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Ebd., S. 97-98. Ebd., S. 98- 100. – Zitat S. 98. Franz Carl Eisen: Neueste Beschreibung des Domes zu Köln. Mit Benutzung der Quellenwerke und des Archivs des Central-Dombau-Vereins, sowie nach eigener Anschauung; mit einem Grundrisse des Domes. Köln: Eisen, 1856. 132 S., [1] Bl., Ill. Der in Adenau geborene Franz Carl Eisen (1812 - 1861) betrieb in Köln ab 1835 eine Buch- und Kunsthandlung und zeitweilig auch einen eigenen Verlag. Sein Geschäft lässt sich zum Zeitpunkt des Erscheinens des Führers (ebd., S. 130) nahe bei dem Dom (Domhof 13) sowie im Zentrum des damaligen Tourismus an den Landungsbrücken der Dampfschifffahrtslinien (Friedrich-Wilhelmstr. 2) verorten. Eisen gilt außerdem als Herausgeber des ersten deutschen Fotobuches, in dem Glasgemälde des Kölner Domes gezeigt wurden. (Johann Franz Michiels: Die neuen Glasgemälde im Dom zu Köln, Weihegeschenk Seiner Majestät des Königs Ludwig I. von Bayern. Photographien. Köln: Eisen, 1854. 5 Bl.)
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Für Eisen war der noch zu vollendende Dom ein Symbol deutscher Einigkeit und Stärke, mithin von nationaler Bedeutung 78, gleichwohl nahm er bei der Betrachtung des Baustils von der zur Zeit der Romantik üblichen Gleichsetzung der Gotik mit der so genannten altdeutschen Baukunst Abstand und räumte in Kenntnis der inzwischen geführten Fachdebatte ein: „Der Spitzbogen- oder wie man ihn unrichtig nennt, der gothische Styl hat sich aus dem Rundbogenoder romanischen Style ... um das Jahr 1200 in Nordfrankreich entwickelt, sich aber bei gleichem Bedürfnisse fast augenblicklich über die Nachbarländer, England und Deutschland verbreitet, so daß am Rheine bereits wenige Jahre später ... einzelne Kirchen im reinsten Spitzbogenstyle erscheinen.“ 79 In der Schilderung der bis zum Juni 1856 fortgeführten jüngeren Baugeschichte wurde eingangs der bereits mehrfach erwähnte Gegensatz zwischen dem schlechten baulichen Zustand der Domkirche in der Franzosenzeit, in der „ ... ein immer größere Gefahr drohender Verfall an allen Theilen des kolossalen Ganzen sichtbar wurde “ 80 und der Rettung durch die preußischen Könige, die hier mit dem Deutschtum gleichgesetzt wurden, als Topos wiederum verwendet, nachdem zuvor der vorangegangene patriotische Einsatz der Gebrüder Boisserée und der „... Männer, wie Fr. von Schlegel, Göthe, Wallraf und Görres ... als Schützer des hehren Werkes“ gewürdigt wurde: „Doch es bedurfte eines noch höhern Impulse, um zur rettenden That zu schreiten. Im Jahre 1814 sah der Dom wieder deutsche Fahnen auf seinen Mauern wehen und an der Hand des deutschen Waffenglücks sollte die deutsche Kunst eine neue Aera in der Geschichte bilden.“ 81 Auf den folgenden Seiten ging Eisen ausführlich auf die einzelnen Etappen des Baufortganges, die dafür verwendeten Mittel und die Initiatoren und Geldgeber ein. Im Unterschied zu älteren Führern endete die Darstellung mit der Aussicht und der Hoffnung auf eine baldige Fertigstellung der Domkirche. Zu diesem Zwecke zitierte Eisen die Rede des Präsidenten des ZentralDombauvereins, Ferdinand Esser, die dieser vor den Vereinsmitgliedern Anfang Mai 1856 gehalten hatte und in der eine Vollendung der Kathedrale in nur zwölf Jahren in Aussicht gestellt wurde, sofern die hierzu erforderlichen Mittel in ausreichender Höhe zur Verfügung stünden: „In der That fragen wir nicht mehr, ob der Dom werde vollendet werden; schon ist es der Zeitpunkt der ———— 78
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„ Kaum ist ein Decennium verflossen, daß man die seit einem halben Jahrtausend bestandene große Lücke zwischen dem südlichen Domthurme und dem hohen Chore als das Zeichen der Zwietracht ansah ... und heute schon sehen wir diese Lücke nicht nur gefüllt, sondern auch schon manchen Stein bereit liegen zum Fortbaue und zur Vollendung dieses Symbols deutscher Einigkeit und Stärke, wie es früher solches deutscher Zwietracht und Ohnmacht war “, ebd. S. 18 -19. Ebd., S. 15. Ebd., S. 5. Ebd.
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Vollendung, mit dem wir uns gegenwärtig zu beschäftigen beginnen. ... Die kühnsten Erwartungen wären übertroffen, wenn nach zwölf Jahren das Vollendungs- und Dankfest die Genossen im Dome vereinigte: die schönsten Hoffnungen erfüllten sich, wenn dieses Feste unter dem Vortritte des Königlichen Protectors, Allerhöchstdessen Liebe und Fürsorge dem Werke durch Gottes Gnade erhalten bleiben möge, begangen würde.“ 82 Und der Verfasser des Domführers beeilte sich selbst hinzuzufügen: „Was wir hoffen und wünschen, den Kölner Dom vollendet zu sehen, kann und wird aber nur zur Wahrheit werden durch unsere Eintracht und Ausdauer.“ 83
IV. „Zwar wesentlich ein Werk der Neuzeit ...“: Der vollendete Kölner Dom – Symbol für nationale Einheit und Größe am deutschen Rhein? Im Grunde genommen nahm Franz Carl Eisen mit seiner Charakterisierung des Kölner Domes als Symbol deutscher Einheit und Stärke die fünfzehn Jahre später entstandene nationale Instrumentalisierung des Kölner Domes im Domführer von Leonard Ennen als gerechter Stolz des deutschen Volkes und erhabenstes Denkmal deutschen Geistes vorweg. Zumindest diese beiden Domführer waren also ganz von einer vaterländischen Gesinnung durchdrungen, die den Dom zum Nationalsymbol stilisierte. Gehen wir nun exemplarisch der Frage nach, ob sich dieser Patriotismus auch in Dom- und Reiseführern finden lässt, die in den Jahrzehnten rund um die Vollendung des Kölner Domes im Jahre 1880 entstanden sind. Hierbei sind zwei weitere Entwicklungslinien als Grundvoraussetzungen in den Blick zu nehmen: Politisch gesehen hatte die auf Einheit des Volkes und der Kirchen hin ausgerichtete Grundstimmung des Dombaufestes von 1842 mitsamt den idealistischen Vorstellungen des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. allenfalls bis 1848 Bestand. Die weitere Fertigstellung des Domes vollzog sich unter den Vorzeichen wachsender Spannungen eines preußisch-deutschen Nationalismus und einer dem Papsttum verpflichteten wiedererstarkten katholischen Kirche in Deutschland. Die Begeisterung für das Werk in der katholischen Bevölkerung schwand, da diese in der Fertigstellung der Kathedrale ein Propagandamittel einer kirchenfeindlichen Re-
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Ebd., S. 12- 13. Tatsächlich sollten noch 24 Jahre vergehen, ehe der Dombau 1880 vollendet wurde. Ebd., S. 11.
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gierung und ein Prestigeobjekt sah, das von dem Aufstieg der Hohenzollernmonarchie kündete.84 Aber auch die Veränderungen auf dem Buchmarkt für Reisewerke müssen berücksichtigt werden. Spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Rheinreise nicht länger die Individualreise eines von romantischen Gefühlen beseelten wohlhabenden Adeligen oder Bildungsbürgers, der ein idyllisches Landleben, pittoreske Landschaften und Kulturdenkmäler einer großen Vergangenheit im Vorgriff auf ein eigenes besseres Leben erfahren wollte 85, sondern vornehmlich eine standardisierte, dank eines sich verdichtenden Eisenbahnnetzes und einer Vielzahl von Dampfschiffverbindungen leicht durchzuführende Vergnügungsreise für ein Massenpublikum. Die Zahl der jährlichen Reisenden stagnierte dabei auf einem hohen Niveau. Auf dem Buchmarkt wurden deren Interessen weiter durch eine zwar geringere Titelzahl an Reiseführern bedient, die allerdings vermehrt in zahlreichen Neuauflagen erschienen. Literarische und politisch-kulturelle Reiseschilderungen und -erzählungen einzelner Reisender hatten dagegen sehr stark an Bedeutung verloren.86 Illustrierte Reisewerke zum Rhein waren noch über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus beliebt: Sie bedienten dabei zunehmend den Wunsch nach einer idealen, von der Veränderung des Rheintales durch die Industrialisierung unberührten Landschaft, wie sie spätestens nach dem Bau der rechtsrheinischen Eisenbahnstrecke entlang des Mittelrheintales ab 1844 so nicht mehr vorzufinden war. Deshalb wurden vermehrt Werke mit teils Jahrzehnte alten Rheinansichten, die das Klischee vom romantischen Rhein bewahrten, nachgedruckt. Für die Zeit ab 1860 lässt sich allerdings generell ein nachlassendes Interesse auch an illustrierten Werken zum Rhein feststellen. Die Titelproduktion sank, ältere Schriften wurden nicht mehr aufgelegt, die zugehörigen Ansichten bestenfalls als Alben angeboten.87 ———— 84
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Vgl. Trippen, Das Kölner Dombaufest 1842 ... (Anm. 4), S. 115 sowie Adolf Klein, Der Dom zu Köln ... (Anm. 65), S. 137ff. Ferner: Rudolf Lill: Der Kölner Dom und der deutsche Katholizismus im 19. Jahrhundert. In: Religion – Kunst – Vaterland ... (Anm. 3), S. 96 -108, hier insbesondere S. 103ff.; Arnold Wolff: Der Kölner Dombau und das Wiedererwachen des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert. In: Ortskirche im Dienst der Weltkirche. Das Erzbistum Köln seit seiner Wiedererrichtung im Jahre 1825. Festgabe für die Kölner Kardinäle Erzbischof Joseph Höffner und AltErzbischof Josef Frings. Hrsg. von Norbert Trippen und Wilhelm Mogge. Köln: Bachem, 1976. 215 S., S. 45- 58. – Siehe S. 53 - 58. Vgl. Weihrauch, Geschichte der Rheinreise ... (Anm. 6), S. 481- 487 u. S. 491. Vgl. ebd. S. 33. – Ferner: Michael Schmitt: Die illustrierten Rhein-Beschreibungen. Dokumentation der Werke und Ansichten von der Romantik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. (Städteforschung: Reihe C, Quellen. Bd. 7). Köln: Böhlau, 1996. LII, 716 S., Ill. – Hier S. XXXV sowie Gisela Albrod: Der Rhein im illustrierten Reisebuch des 19. Jahrhunderts. Aachen: Techn. Hochsch., Diss., 1984. 213 S., Ill. – Hier S. 50 - 56. Schmitt, Die illustrierten Rhein-Beschreibungen ... (Anm. 86), S. XXXVIII u. XL.
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Zwei Domführer, die aus Anlass der Vollendung des Kölner Domes im Jahre 1880 erschienen sind, hielten sich, was die gegenwärtige Rolle Preußens bei der Fertigstellung der Kathedrale anbelangte, deutlich zurück. Zugleich erinnerten sie nachdrücklich an das Domfest des Jahres 1842 und den vorangegangenen Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV., der den Katholiken am Rhein zu dieser Zeit im Rückblick sicher als besonders kirchenfreundlich erschien: Anton Fahnes Werk Der Kölner Dom 88 zitierte einleitend ausführlich die Rede des 1861 verstorbenen Preußenkönigs auf dem Dombaufest 1842 und konzentrierte sich ansonsten in seiner Geschichte des Dombaus weitestgehend auf das Mittelalter. Auch die im zweiten Hauptteil vorgestellten Dombaumeister des 19. Jahrhunderts wurden in die Jahrhunderte zuvor wirkenden Vorgänger eingereiht, ehe Fahne in einem dritten Abschnitt Der Dom in seiner heutigen Vollendung das Bauwerk beschrieb und durch das Innere führte. Auf diese Weise vermied er es völlig, auf den aktuellen Konflikt zwischen Preußen und der katholischen Kirche einzugehen. Wohl würdigte Fahne an verschiedenen Stellen den Dom, der „... unstreitig in seiner heutigen Vollendung ... das gewaltigste, erhabenste und schönste Werk gothischer Baukunst (ist)“ 89 als Monument deutscher (nicht preußischer) Einheit und Stärke: „Der grosse Gedanke eines einigen und einheitlichen Deutschlands ist inzwischen zur Wahrheit geworden und ebenso das erhabene Denkmal vollendet, welches einer grossen Vorzeit würdig, der Gegenwart zum Ruhm und der Nachwelt bedeutenden Vorbilde deutschen Kunstsinns, wie deutscher Frömmigkeit, Eintracht und Thatkraft gereichen soll.“ 90 Geradezu pathetisch fiel sein Schlussappell an die Treue, die Einfachheit, den Rechtssinn und die Arbeitskraft als Tugenden des deutschen Volkes aus. Hier verknüpfte er das Schicksal des Domes mit dem der Nation: „Solange Du sie pflegst und grossziehst, solange Du feststehst auf ihrer ehernen unverrückbaren Basis, solange wird auch der hehre Dom, der nun mit seinen himmelanstrebenden Thürmen die grosse schöne Metropole des Rheinlandes schmückt, weit hinaussschauen über Deutsche Gauen, ein Wahrzeichen sein und bleiben Deutschen ———— 88
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Anton Fahne: Der Kölner Dom. Seine Beschreibung und geschichtliche Entwickelung auf Grund authentischer Quellen. Gedenkschrift zur Feier der Vollendung desselben am 15. October 1880. Düsseldorf: Schaub, 1880. [2] Bl., 60 S., Ill. – Anton Fahne (1805 -1883) war ein Jurist, dessen historische und genealogische Schriften wegen des Verdachtes häufiger Fälschungen schon zu Lebzeiten nicht unumstritten waren. Heinz Finger charakterisierte Fahne einmal als einen zwar geistig sehr regsame(n) aber dilettantische(n) Historiker. Vgl. Heinz Finger: Anton Josef Binterim, der „Geistige Vater“ des Historischen Vereins für Niederrhein. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 207 (2004) S. 33 - 62. – Zitat S. 61. Ebd., S. 43 Ebd., S. 3.
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Fleises, Deutscher Tüchtigkeit und allen Menschen ein Gotteshaus der Religion, die da ist der Friede, die Versöhnung und die wahre, die allumfassende Liebe.“ 91 Erstmals 1880 und in den nächsten 25 Jahren stark erweitert in vier weiteren Auflagen erschien der Domführer von Franz Theodor Helmken Der Dom zu Coeln.92 Im einführenden, der Beschreibung der Domkirche vorangestellten Abschnitt wurde die Baugeschichte, vor allem die des 19. Jahrhunderts, breit dargestellt und unter den Preußenkönigen nur die Rolle Friedrich Wilhelm IV. eingehender gewürdigt. Helmken zitierte dabei ebenfalls aus der Rede des Königs während des Dombaufestes 1842.93 Ansonsten hielt sich Helmken hinsichtlich der Leistungen Preußens für den Weiterbau und die Vollendung des Domes äußerst zurück. Für ihn war dieses Werk vor allem ein durch Sulpiz Boisserée und andere Freiheitskämpfer angestoßenes Verdienst der Kölner Erzbischöfe, des Zentral-Dombauvereins, der Dombaumeister und der Dombauhütte. Hinsichtlich der aktuellen Situation stellte sich Helmken ganz eindeutig auf die Seite der katholischen Kirche, denn für ihn versinnbildlichte der Dom zwar ein einheitliches, jedoch kein einiges Deutschland: „So steht der Kölner Dom vollendet da; nur noch kurze Zeit und die ihn umhüllenden Gerüste sind ebenfalls gefallen. ... Der Dom, der so lange als Symbol Deutschlands in seinen Ruinen dagestanden, hat auch mit der Wiederherstellung des Reiches seinen endlichen Ausbau gefunden. Zehn Jahre nach dem gewaltigen Ringkampf mit Frankreich sieht er vollendet auf ein einheitliches Deutschland. Aber leider ist mit der Einheit die Einigkeit nicht zurück gekehrt. Die Zwietracht, die an seiner Wiege gestanden und seinen Ausbau Jahrhunderte lang verhinderte, hat auch nach dem Kampfe von 1870/71 ihr Haupt erhoben und wirft ihre Schatten auf die Vollendungsfeier des 15. October.“ Diese „ ... wurde in Gegenwart des Kaisers Wilhelm, der Kaiserin Augusta, der Mitglieder des königlichen Hauses, des Weihbischofs, Domdechanten Dr. Baudri, des Domcapitels, und vieler Grossen und Würdenträger des Reiches ———— 91 92
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Ebd., S. 59- 60. Franz Theodor Helmken: Der Dom zu Coeln. Seine Geschichte, Construction, bildliche Ausschmückung und Kunstschätze. Aus der geschichtlichen und beschreibenden Literatur, sowie den amtlichen Bauberichten kurz zusammengetragen. Festbüchlein zur Vollendungsfeier des Domes 15. Oktober 1880 und Führer für den Besucher. Köln: Boisserée u. Helmken, [1880]. 64 S., Ill. Weitere Auflagen erschienen 1887, 1894, 1899 und 1905. Für das Jahr 1884 ist außerdem eine englische Übersetzung belegt. – Der aus Münster stammende Kölner Buchhändler Franz Theodor Helmken (1830 ca. 1904) stieg 1862 als Geschäftsführer in die von den Neffen von Sulpiz Boisserée gegründete Buchhandlung ein und war ab 1888 Alleinbesitzer dieser Firma. – Vgl.: Rudolf Schmidt: Deutsche Buchhändler, Deutsche Buchdrucker. Beiträge zu einer Firmengeschichte des deutschen Buchgewerbes. Bd. 1 Abel-Dyck. Berlin: Weber, 1902, S. 73-74. - Helmken trat 1871 dem Historischen Verein für den Niederrhein bei und war für etliche Jahre bis zu seinem Ausscheiden 1804 als Schatzmeister des Vereins Mitglied des Vorstands. Ebd., S. 5 - 8.
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begangen, – aber leider in Abwesenheit des hochverehrten Oberhirten der Kölner Erzdiöcese, des Erzbischofs Paulus Melchers, der ein Opfer des im letzten Jahrzehnts entbrannten Kampfes zwischen Staat und Kirche, im Exil lebte ... .“ 94 In der 1887, also sieben Jahre später erschienenen gründlich überarbeiteten und deutlich erweiterten zweiten Auflage dieses Führers 95 zum „... bedeutsamste(n) und grossartigsten(n) Denkmal des deutschen Volkes und seiner Geschicke“ 96 wird die Baugeschichte des Domes bei gleicher Gesamttendenz wesentlich ausführlicher geschildert. Weiterhin symbolisierte der Dom für Helmken zwar die deutsche Einheit, nicht jedoch die Einigkeit der Nation. Vielmehr habe die Zwietracht „ ... nach dem französischen Kriege von 1870 und 1871 auf kirchen-politischem Gebiete ihr Haupt erhoben und in den sogenannten Maigesetzen des Jahres 1873 ihren legislatorischen Ausdruck gefunden.“ 97 Distanziert schilderte er den Ablauf des Festes der Domvollendung, das „... in Folge kaiserlichen Befehls auf den 15. October 1880 festgesetzt (wurde)“ und das von der katholischen Bevölkerung im Rheinland mit gemischten Gefühlen begangen wurde: „Wohl waren die Bewohner Kölns und der Rheinlande freudig erregt von der so lange ersehnten Vollendung des Domes, aber der grösste Theil sah unter dem Eindruck dieser Verhältnisse mit gemischten Gefühlen dem Tage entgegen, der den Schlussstein einfügen sollte in die Kreuzblumen der Thürme. Für die Katholiken Kölns und Deutschlands waren die Kreuzblumen nicht Zeichen des Triumphes, sondern Dornenkronen christlichen Duldens und Kämpfens geworden.“ 98 Vom selben Autor wurde auch ein populärer Köln-Führer, Köln und seine Sehenswürdigkeiten, verfasst, der zwischen 1870 und 1904 in insgesamt 20 Auflagen erschien. Wirft man beispielhaft einen Blick in die 3., 1883 und die 7., zehn Jahre später erschienenen Auflagen 99, so ergibt sich der Befund, dass die Beschreibung der Baugeschichte, die Gesamtwürdigung des Domes und die Darstellung seiner Sehenswürdigkeiten unter Verwendung einiger Kürzungen wortgleich aus dem Dom- in den Stadtführer übernommen wurde. Somit vermittelte Helmken auch den Besuchern der Stadt seine der katholischen Kirche gegenüber freundliche und den Preußenkönigen gegen———— 94 95
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Ebd., S. 15. Franz Theodor Helmken: Der Dom zu Coeln. Seine Geschichte und Bauweise, Bildwerke und Kunstschätze. 2., umgearb. u. erw. Aufl. Köln: Boisserée, 1887. 154 S., Ill. – Diese Einschätzung behielt Helmken auch noch in der 1899 erschienenen 4. Aufl. des Domführers bei. Ebd., S. 2. Ebd., S. 44. Ebd., S.44- 45. Franz Theodor Helmken: Köln und seine Sehenswürdigkeiten. Ein Führer für Fremde und Einheimische. Mit Plan und Abbildungen. 3., umgearb. Aufl. Köln: Boisserée, 1883. XX, 131 S., Kt., Ill. – Ders.: Köln und seine Sehenswürdigkeiten ... 7., durchgesehene Aufl. Köln: Boisserée, 1893. XXXVI, 144 S., Kt., Ill.
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über eher distanzierte Haltung in seinen Darstellungen zum Kölner Dom, wenn er etwa stets berichtete, dass Erzbischof Paulus Melchers ein Opfer des im letzten Jahrzehnts entbrannten Kampfes zwischen Staat und Kirche, im Exil lebte und nicht an der Feier der Vollendung des Domes teilnehmen konnte. In einem Beispiel wurde die Bedeutung Preußens für den Dom im KölnFührer gegenüber dem Domführer weiter zurückgenommen. Während in der zweiten Auflage des Domführers zu lesen ist: „Verlassen von seinen Werkmeistern und Gesellen sieht der Dom, eine traurige Ruine, das Elend und die Ohnmacht des deutschen Volkes, bis es endlich nach jahrhundertelanger Demüthigung unter Führung des Hohenzollernschen Herrscherhauses in frischer Kraft sich erhebt und seine Einheit neu begründet und mit dieser den Ausbau des Kölner Domes vollendet, der in seinen Ruinen so lange das treue Bild seiner zerrissenen Zustände gewesen war“ 100 fehlt der Einschub unter Führung des Hohenzollernhauses in den beiden vorerwähnten Auflagen des Führers zur Stadt Köln.101 Wie wurde der Dom in dem in diesen Jahrzehnten bedeutendsten Rheinreiseführer, im Baedeker, behandelt? Exemplarisch sollen hier die 1860 erschienene 11. Auflage, die unmittelbar nach der Vollendung des Kölner Domes erschienene 21. Auflage (1881), die letzte Auflage im 19. Jahrhundert (28. Aufl., 1899) und als Ausblick die 1909 erschienene 31. Auflage betrachtet werden. In der Gesamtbeurteilung wurde der noch unvollendete Dom als Bauwerk 1860 mit einem Baedeker-Stern versehen, 1880 und 1899 erhielt er zwei Sterne und 1909 war er wieder auf einen Stern herabgestuft worden; für das Innere gab es auch 1909 zwei Sterne.102 Diese Herabstufung spiegelt sich in der einleitenden, den Kölner Dom als Ganzes charakterisierenden Formulierung wider. 1881 hieß es: „ Der Dom** ..., das grossartigste Werk gothischer Baukunst, zu welchem jeder Reisende zuerst seine Schritte lenkt, erhebt sich ... unweit des Centralbahnhofs.“ 103 1909 wurde die Beschreibung der Kathedrale dagegen wie folgt präzisiert und relativiert: „Beim Hauptbahnhof, gegenüber der festen Rheinbrücke, erhebt sich ... der Dom* ... Zwar wesentlich ein Werk der Neuzeit, aber mit Benutzung des alten Chors und des ———— 100 101
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Franz Theodor Helmken: Der Dom zu Coeln ... (Anm. 95), S. 3. Franz Theodor Helmken: Köln und seine Sehenswürdigkeiten ... (Anm. 99), 3. Aufl. u. 7. Aufl., jeweils S. 24. Karl Baedeker: Die Rheinlande von der Schweizer bis zur Holländischen Grenze, Schwarzwald, Vogesen, Haardt, Odenwald, Taunus, Eifel, Siebengebirge, Nahe, Lahn, Mosel, Ahr, Wupper, und Ruhr. Handbuch für Reisende. 11. verb. Aufl. Koblenz: Baedeker, 1860. XXIV, 330 S., Ill., Kt. – Ders.: Die Rheinlande von der Schweizer bis zur Holländischen Grenze. Handbuch für Reisende. 21. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1881. XXXII, 412 S., Ill., Kt. – Ders.: Die Rheinlande ..., 28. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1899. XXX, 522 S., Ill., Kt. - Ders.: Die Rheinlande. Schwarzwald, Vogesen. Handbuch für Reisende. 31. Aufl. Leipzig: Baedeker, 1909. XXXII, 560 S., Ill., Kt. Beadeker, Die Rheinlande ..., 21. Aufl. 1881 (Anm. 102), S. 344.
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unvollendet gebliebenen Langhauses z.T. nach erhaltenen Aufrissen ... erbaut, kann er gleichwohl als das großartigste Beispiel der deutschen Hochgotik gelten.“ 104 In der sich anschließenden knappen Baugeschichte wurde die führende Rolle der preußischen Könige stets betont und quantifiziert, ohne dass der Autor des Führers auf die Spannungen, die zeitweilig zwischen der katholischen Kirche und dem preußischen Königshaus bzw. dem Deutschen Kaiser bestanden, in irgend einer Weise einging. Nach wie vor setzte der Baedeker die Leistung der Preußenkönige in einen Gegensatz zum Verfall der Domkirche in der Franzosenzeit: „... die Arbeit wurde aber im Beginn des 16. Jahrh. gänzlich eingestellt. Seitdem gerieth das unfertige Gebäude mehr und mehr in Verfall. Die Franzosen hatten es 1796 in ein Heumagazin verwandelt und durch Entwendung des Bleies von der Bedachung den Verfall beschleunigt. Die Könige von Preussen, Friedrich Wilhelm III. und IV. retteten den Meisterbau vor völliger Vernichtung.“ 105 In der Ausgabe von 1899 ist dieser Gegensatz in abgeschwächter Form ebenfalls nachzulesen: Die „Untaten“ der Franzosen beschränkten sich nunmehr auf die Einrichtung des Heumagazins.106 Auch 1909 wurde das Heumagazin als Metapher für die Vernachlässigung des Domes in der Franzosenzeit weiterhin bemüht, die Rolle der beiden vorgenannten Preußenkönige dann unter Berücksichtigung anderer, die sich um den Erhalt des Domes verdient gemacht hatten, allerdings sofort präzisiert, ohne dass diesen weiterhin explizit das Verdienst der Rettung der Domkirche vor völliger Vernichtung zugeschrieben wurde: „Sie [die Kirche] wurde um 1508 mit einem Nothdach versehen und im XVII.-XVIII. Jahrhundert im Stil der Zeit ausgeschmückt. 1796 legten die Franzosen ein Heumagazin darin an. König Friedrich Wilhelm III. von Preußen ließ auf Sulpiz Boisserées Anregung 1816 das Gebäude von Schinkel untersuchen und befahl, ‚das Vorhandene zu erhalten‘. Schinkels Schüler, der Schlesier Ernst Friedr. Zwirner ... schwang sich zu dem Gedanken eines völligen Ausbaues auf. Unter allgemeiner Begeisterung legte König Friedrich Wilhelm IV. 1842 den Grundstein dazu.“ 107 ———— 104 105
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Baedeker, Die Rheinlande ..., 31. Aufl. 1909 (Anm. 102), S. 243. Baedeker, Die Rheinlande ..., 11. Aufl. 1860 (Anm. 102), S. 274- 275. – Grundlage für diese Formulierung waren also Textpassagen, die bereits 1849 verwendet worden waren (vgl. Anm. 71). „ Das Gebäude wurde mit einem provisorischen Dach versehen, im XVII. und XVIII. Jahrhundert, z.T. im Zopfstil ausgeschmückt (Hochaltar) und gerieth nach und nach in Verfall. 1796 legten die Franzosen ein Heumagazin darin an. Die Könige von Preußen Friedrich Wilhelm III. und IV. retteten den Meisterbau vor völliger Vernichtung.“ – Baedeker, Die Rheinlande ..., 28. Aufl. 1899 (Anm. 102), S. 433- 434. Baedeker, Die Rheinlande ..., 31. Aufl. 1909 (Anm. 102), S. 245. – Auch in den Auflagen von 1881 und 1899 wurde der weitere Hergang der Bausicherung und -vollendung dann bereits in ähnlicher Weise wie 1909 beschrieben.
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Stets teilte „der Baedeker“ seiner Leserschaft die enormen Kosten für den Weiterbau, die Vollendung und 1909 schließlich auch für den Unterhalt der Domkirche seit der Fertigstellung 1880 mit, wobei die „Staatsleistung“ besonders herausgestellt wurde und der Zentral-Dombauverein kaum berücksichtigt wurde. So hieß es 1881: „ Am 4. Sept 1842 wurde der Grundstein zum Fortbau gelegt, auf den in der Folge jährlich über 300.000 M verwendet wurden, davon die grössere Hälfte aus Staatsmitteln, die kleinere aus Beiträgen von Vereinen, Privaten und seit 1863 auch durch die Dombau-Lotterie. Die Summe der 1842-80 verwendetem [!] Beträge beläuft sich auf 18.427.522 M.“ 108 Und 1909 konnte man lesen: „Die Kosten beliefen sich auf nahezu 18 ½ Mill. M, die zur größeren Hälfte aus Staatsmitteln flossen, zur kleineren durch Vereine, Private und eine Dombaulotterie aufgebracht wurden. Seitdem sind weitere 9 Mill. für Herstellungsarbeiten ausgegeben worden, die auch jetzt wieder im Gange sind.“ 109 Man mag diese Zahlen als Sinnbild für den Aufwand und für die dahinter stehende Leistung sehen, die mit der Errichtung der Kathedrale verbunden waren. Zu einem Baudenkmal von nationaler Bedeutung wurde der Dom allerdings in keiner der hier untersuchten Auflagen hochstilisiert. Die Tatsache, dass der Dom 1909 nur noch einen „Baedekerstern“ trug und wesentlich als „ein Werk der Neuzeit“ charakterisiert wurde, kann aber auch als Widerhall einer generell schwindenden Symbolkraft der Domkirche nach ihrer Vollendung 1880 für die deutsche Nation interpretiert werden.110 Ein weiterer Aspekt der Gesamtwürdigung des Kölner Domes im Baedeker war seine enorme Größe und Höhe, ein Gesichtspunkt, der die Leserschaft der wilhelminischen Zeit, die stets mit neuen technischen und industriellen Errungenschaften und Leistungen in Berührung kam, sicherlich beeindruckte und dem Zeitgeist entsprach.111 Passagen, die das Gebäude im Geiste der Romantik beschrieben und verklärten, wurden dagegen sukzessive aus den Texten herausgenommen: Nur ein längeres wörtliches Zitat aus Georg Forsters Reiseschilderung aus dem Jahre 1790, Ansichten vom Nieder———— 108 109 110
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Baedeker, Die Rheinlande ..., 21. Aufl. 1881 (Anm. 102), S. 345. Baedeker, Die Rheinlande ..., 31. Aufl. 1909 (Anm. 102), S. 245. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, nach Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Besetzung der Rheinlande und des Ruhrgebietes durch britische, französische und belgische Truppen, erlebte die politische Indienstnahme des Kölner Domes für die Deutsche Nation noch einmal eine Renaissance. – Vgl.: Hans-Georg Lippert: Der politische Kölner Dom. In: „Deutscher Rhein – fremder Rosse Tränke?“ Symbolische Kämpfe um das Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Dieter Breuer u. Gertrude Cepl-Kaufmann. (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, 70). Essen: Klartext Verl., 2005, S. 113 -128. Z.B. 1909: „ Die Westtürme waren mit 157m Höhe bei ihrer Vollendung die höchsten Steinbauten der Erde; seit 1884 werden sie vom Washington-Obelisk in Washington (169m) und seit 1890 vom Münsterturm in Ulm übertroffen.“ – Baedeker, Die Rheinlande ..., 31. Aufl. 1909 (Anm. 102), S. 245.
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rhein, in dem der Hochchor mit seinen Gruppen schlanker Säulen charakterisiert wurde, die wie Bäume eines uralten Forstes dastehen, wurde bis 1899 stets abgedruckt.112 1909 wurde eine Reduzierung auch dieses Zitates auf einen Nebensatz vorgenommen.113 Mit mehr als 10 Seiten wurde der Kölner Dom auch in einem mit dem Baedeker konkurrierenden Rheinlandführer aus dem Leipziger Verlag ‚Bibliographisches Institut‘ beschrieben. Der Führer unter dem Titel Rheinlande erschien zwischen 1868 und 1896 in insgesamt acht Auflagen und wurde von Ferdinand Hey’l verfasst, dem man wohl eine national-patriotische Gesinnung nachsagen kann.114 Jedenfalls charakterisierte Hey’l in seiner einführenden Würdigung den Dom als nationales Monument und griff dabei u.a. auf Ennens Domführer zurück, wenn er in der fünften, 1884 erschienenen Auflage verkürzend schrieb: „Der Kölner Dom ist der gerechte Stolz des deutschen Volkes, das erhabenste Denkmal deutschen Geistes, die höchste Blüte deutscher Kunstthätigkeit.“ 115 Bildhaft erwähnte er in der sich anschließenden Baugeschichte ebenfalls den Tiefpunkt des Bauzustandes des Domes während der Franzosenzeit, ohne dabei einen unmittelbaren Gegensatz zwischen Frankreich und Preußen zu konstruieren: „ Als während der Revolutionskriege die Franzosen 1794 Köln besetzten, sanken die hehren Hallen sogar zum Heumagazin herab. Erst mit dem Erwachen Deutschlands im 19. Jahrh. erwachte auch neue Wärme in einzelnen begeisterten Männern für die Vollendung des größten deutschen Tempels.“ 116 In seiner durchaus ausführlichen Würdigung der Verdienste derjenigen, die für den Weiterbau verantwortlich waren, blieb Kaiser Wilhelm I. allerdings namentlich unerwähnt: „ Mit der Aufrichtung der mächtigen Kreuzblume auf dem südlichen dieser Türme am 14. Aug. 1880 (Vollendungsfeier mit historischem Festzug am 15. Oct. 1880) ist der Dom vollendet, 692 Jahre nach der Grundsteinlegung.“ 117 Die weitere Gesamtbeschreibung des Bauwerks wurde ———— 112 113
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Vgl.: Baedeker, Die Rheinlande ..., 28. Aufl. 1899 (Anm. 102), S. 436. „ 56 Pfeiler, ‚wie die Bäume eines uralten Forstes himmelan strebend und oben in eine Krone von Ästen gespalten‘ (Georg Forster, 1790) tragen die spitzbogigen Gewölbe.“ – Baedeker, Die Rheinlande ..., 31. Aufl. 1909 (Anm. 102), S. 246. Ferdinand Hey’l: Rheinlande: 5. Aufl. (Meyers Reisebücher). Leipzig: Bibliographisches Institut, 1884. X, 332 S., 52 S., Ill. Kt. – Weiterhin: 2. Aufl. 1872, 3. Aufl. 1874, 4. Aufl. 1879, 6. Aufl. 1888, 7. Aufl. 1893 u. 8. Aufl. 1896. – Der Führer erschien erstmalig 1868 unter dem Titel WestDeutschland. – Ferdinand Hey’l (1830-1897) war von 1873 an Kurdirektor in Wiesbaden. Von ihm stammte der Vorschlag, das Denkmal zur Erinnerung an den siegreichen Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 am Standort Niederwald bei Rüdesheim zu errichten. Ebd., S. 247. Ebd., S. 248. Ebd. – Die hier zitierten Passagen finden sich im gleichen Wortlaut auch in der 8. Auflage des Reiseführers.
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dann auch bei Hey’l des Öfteren mit Vergleichen, Größenangaben und Zahlen zu den Baukosten belegt.118 Werfen wir nun abschließend einen kurzen Blick in einige andere Rheinreiseführer dieser Zeit: Joseph Steinbachs 1884 in zweiter Auflage erschienenes Werk MittelRheinland 119 verstand sich als Begleiter für eine Reise mit der rechts- oder linksrheinischen Eisenbahn oder dem Dampfboot entlang des mittleren Rheinlandes. Seiner Leserschaft wollte der Autor ein plaudernder Gesellschafter sein, der die ganze Sagen- und Geschichtspoesie von Düsseldorf bis MainzFrankfurt erzählte.120 Einzelne Sehenswürdigkeiten wurden daher nur sehr knapp beschrieben. Steinbach erweist sich als ausgesprochen preußenfreundlich, wenn er etwa die beiden Reiterstandbilder auf der heutigen Hollenzollernbrücke ausführlich berücksichtigte und abschließend zum Kölner Dom schrieb: „Ja der Dom trägt seine Schlussblume und Kaiser Wilhelm seine Kaiserkrone, ein grosses Jahrhundert! “ 121 Ein sehr handlicher, immer wieder neu aufgelegter Führer für Rheintouristen, die wohl nicht zum Bildungsbürgertum gehörten, war das von Adolf Lesimple in Leipzig verlegte Werk Illustrierter Führer durch die Rheinlande nebst Bergstrasse, Odenwald und Taunus.122 Obwohl insgesamt in der 9. Auflage nur 116 Seiten umfassend sind dem Kölner Dom in diesem Werk drei Seiten vorbehalten. Auch für diesen Autor bot der Dom „... das grossartige Werk deutscher Baukunst ... allein schon Anregung genug, die Metropole des Rheines zu besu———— 118
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Ein Beispiel hierzu: „ Der bebaute Flächenraum beträgt 6166 qm. Vergleiche. Der Mailänder Dom hat 8406 qm, der Ulmer (einschließlich der Pfeiler und des Mauerwerks) 8456 qm, der Antwerpener 4969 qm, der Dom zu Speier 4470 qm, das Strasburger Münster 4087 qm, der Dom zu Mainz 3675 qm“, ebd., S. 248 - 249. Joseph Steinbach: Mittel-Rheinland. Mit Holzschnitten, Karte und Anhang, enthaltend: Führer zum Niederwald-Denkmal, sowie Notizen über Gasthöfe. 2. Aufl. Neuwied a. Rh.: Heuser, 1884. XII, 203 S., [19] gef. Bl., Ill., Kt. – Die erste Auflage erschien 1882 unter dem Titel Der Reise-Begleiter auf der links- und rechtsrheinischen Eisenbahn und auf dem Dampfboot von Düsseldorf nach Frankfurt und von Frankfurt nach Düsseldorf. Von Steinbach erschien außerdem zwischen 1880 und 1900 in jeweils mehreren Auflagen ein Führer durch das Siebengebirge an der Hand der Sage und Geschichte und ein Führer zum Laacher See an der Hand der Sage und Geschichte. – Joseph Steinbach (1833-1886) stammte aus Hennef an der Sieg und führte ein recht unstetes Leben in unterschiedlichen Berufen in Köln und ab den 70er Jahren in Sinzig. Neben seiner beruflichen Tätigkeit fand Steinbach auch Muße zur Schriftstellerei. – Vgl.: Helmut Poppenreuter: Joseph Steinbach (1833-1886). Ein Heimatschriftsteller und Dichter. In: HeimatJahrbuch Kreis Ahrweiler 53 (1995), S. 160 - 161. Ebd., S. VII. Ebd., S. 26. Hier zitiert nach der 9. Auflage 1902: Adolf Lesimple: Illustrierter Führer durch die Rheinlande nebst Bergstraße, Odenwald und Taunus. 9. Aufl. (Lesimple’s Reisebücher). Leipzig: Lesimple, 1902. VIII, 116 S., [5] Bl., [1] gef. Bl., Ill., Kt. - Der Führer findet sich heute nur noch in wenigen Exemplaren in den Beständen wissenschaftlicher Bibliotheken in Deutschland; die dritte Ausgabe erschien 1876 und die 5. Auflage 1881.
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chen.“ 123 In seiner knappen Darstellung der Baugeschichte spitzte der Autor ansonsten den auch anderen Ortes zu dieser Zeit gern bemühten Gegensatz des Verfalls unter den Franzosen und der Rettung durch die Preußen in besonderer Weise und teilweise sachlich falsch zu: „So gerieth das unvollendete Werk mehr und mehr in Verfall. Mit dem Einzuge der Franzosen sollten noch härtere Schläge kommen. Der Gottesdienst wurde eingestellt, die Kirche als Magazin benutzt, das Blei des Nothdaches zu Kugeln gegossen und die werthvollen Schätze nach Paris gebracht. Nachdem 1813-15 durch Einigkeit die Eindringlinge vom deutschen Boden zurückgeworfen waren, kehrte auch wieder neues Leben für die schönen Künste ein und durch die Bemühungen des damaligen Kronprinzen gelang es, den König Friedrich Wilhelm III. für den Fortbau zu gewinnen und die erforderlichen Geldmittel zu erhalten.“ 124 Manche Reiseführer dieser Zeit konzentrierten ihr gut strukturiertes Textangebot auch ganz auf praktische Reise- und Besichtigungstipps, die natürlich beispielsweise im Baedeker auch angeboten wurden, aber dort mit vielerlei Hintergrundinformationen durchsetzt waren. Längere Textpassagen, die etwa die Baugeschichte eines Kunstdenkmales schilderten oder seine Bedeutung würdigten, entfielen damit ganz. Ein Beispiel für einen solchen praxisorientierten Führer ist das 1906-07 im Berliner GriebenVerlag erschienene Werk Kleiner Führer für die Rhein-Reise von Köln bis Frankfurt.125 In diesem Kurzführer im Taschenformat beschränkte sich die Charakterisierung und äußere Beschreibung des Kölner Doms auf die wenigen Sätze: „Der weltberühmte katholische **Dom ..., dessen gewaltige Masse die Stadt hoch überragt, gilt als das vollendetste Meisterstück der gotischen Baukunst. Der Grundriß zeigt klar ausgeprägte Kreuzform; fünf Langschiffe, von drei Querschiffen durchschnitten, der Hochchor siebenseitig, mit sieben Kapellen, zu einem Kranze verbunden. Die beiden Haupttürme sind 156 m hoch (Münster-Turm in Ulm 161 m).“ 126 Bei einer solch knappen, sachlich-funktionalen und auf das Objekt reduzierten Beschreibung blieb kein Raum mehr für politische, historische oder literarische Exkurse und Deutungen zur Würdigung des Sehenswerten. ———— 123 124
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Ebd., S. 6 Ebd., S. 6 -7. – Ähnlich zugespitzt und ebenfalls in der Sache unwahr bzw. verkürzend ist die Gegenüberstellung „ Napoleon I. wollte die Dom-Ruine niederreissen lassen, aber unter der Regierung König Wilhelm’s von Preußen wurde 1842 der Weiterbau begonnen“, die die Mitglieder und Teilnehmer der Kölner General-Versammlung der Görres-Gesellschaft in einem kleinen Köln-Führer nachlesen konnten, der aus Anlass dieser Zusammenkunft 1889 verlegt wurde. Vgl.: Wilhelm Koch: Illustrierte r [!] Wegweiser zu den Sehenswürdigkeiten Köln’s. Köln: Bachem, 1889. 52 S., Ill., Kt. – Zitat S. 14. Kleiner Führer für die Rhein-Reise von Köln bis Frankfurt. Nach der fünfundzwanzigsten Auflage des größeren Reisehandbuches ‚Der Rhein‘. (Griebens Reiseführer, 75). Berlin: Goldschmidt, 1906/07. 121 S., Kt. Ebd., S. 12.
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V. Zusammenfassung Das Bild, das in zeitgenössischen Dom- und Reiseführern zum Kölner Dom gezeichnet wurde, unterlag im 19. Jahrhundert einem mehrfachen Wandel: Bis etwa 1840 war dieses recht einheitlich und die Autoren lehnten sich in ihren Darstellungen an die dominierenden literarischen Beschreibungen der Kathedrale aus der Rheinromantik an. Allgemein wurde der Dom trotz seiner Nichtvollendung als ein beeindruckendes Monument vergangener Zeiten und Größe wahrgenommen. Der unfertige Bauzustand wurde zumeist als gegeben hingenommen, allenfalls wurde die Vorstellung imaginiert, wie großartig der Dom hätte sein können, wenn er vollendet worden wäre. Für die nähere Charakterisierung des Kirchenbaues bedienten sich die Autoren gerne der Bildsprache der Romantik. Dabei war die Wald-Metapher als Umschreibung für die Säulen im Kirchenschiff ein häufig benutztes Bild. Mit dem Domfest des Jahres 1842 und der nun begonnenen Fertigstellung der Domkirche veränderten sich auch die Darstellungen zum Kölner Dom in den verschiedenen Führern. Es lassen sich, je nach Interessenlage der Autoren und des Lesepublikums, für den der Führer vornehmlich verfasst wurde, unterschiedliche Akzentsetzungen beobachten.127 Teils enthusiastisch, teils aber auch eher sachlich beschreibend und abwägend zu den Verdiensten anderer, die sich um den Erhalt und den Weiterbau der Kathedrale mühten, wurden die Leistungen der preußischen Könige Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV. gewürdigt. Stets waren die Autoren bemüht, ihrer Leserschaft ein aktuelles Bild vom Stand des Weiterbaues des Domes zu bieten. Zunehmend aber keineswegs durchgängig gewann der Gedanke, im Dom ein nationales Symbol deutscher Einheit, Einigkeit und Stärke zu sehen, in den Reise- und Domführern an Bedeutung, wie er exemplarisch sehr deutlich in der eingangs zitierten Würdigung des Kölner Domes durch Leonard Ennen als gerechter Stolz des deutschen Volkes und erhabendstes Denkmal deutschen Geistes ausgedrückt wurde. Vermehrt fand auch der Gegensatz zwischen einer Vernachlässigung des Kölner Domes in der Zeit der Herrschaft der Franzosen in den Rheinlanden und der Rettung der Domkirche durch die Bemühungen der Preußen Eingang in diese Literatur. Die Bildsprache der Romantik wurde hingegen immer weniger berücksichtigt. ———— 127
So darf man wohl spekulieren, dass Waldbrühl in seinem Domführer (vgl. Anm. 56) seine Sagen und Legenden für schlichtere Bedürfnisse und Gemüter verfasste, wohingegen Müller Malten mit seinen Texten zu Langes Panoramawerk (vgl. Anm. 61) sich eher an ein finanzstarkes, gehobenes Publikum wandte.
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Sehr uneinheitlich in Bezug auf die Rolle Preußens für die Fertigstellung des Kölner Domes war das Bild, das die Dom- und Reiseführer im zeitlichen Umfeld der Vollendung der Kathedrale im Jahre 1880 vermittelten. Die mit dem Schlagwort ‚Kulturkampf ‘ umschriebenen Auseinandersetzungen zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche fanden verschiedentlich ihren deutlichen Eingang in die Beurteilung der Verdienste des Hauses Hohenzollern, so dass durchaus zwischen preußenfreundlichen und für die katholische Seite Partei ergreifenden Darstellungen unterschieden werden kann. Rückblickend wurden dabei besonders die Leistungen Friedrich Wilhelm IV. um den Erhalt und den Weiterbau des Domes hervorgehoben. Das weiterhin gern bemühte und teils überzeichnete Bild der Verdienste der Preußen um die Rettung der Kirche vor dem Verfall unter den Franzosen bediente verbreitete antifranzösische Ressentiments. Bald nach seiner Vollendung hatte ansonsten der Dom als Nationalsymbol in den Reise- und Domführern weithin ausgedient. Stattdessen rückten Beschreibungen in den Vordergrund, die ohne Pathos die Dimensionen des Gebäudes im Vergleich zu anderen Bauwerken und die finanziellen Anstrengungen für den Aufbau und Erhalt der Kirche thematisierten. Je nach Ausrichtung und Zielsetzung der Führer blieb ohnehin in den handlichen und praxisorientierten Werken oft nur noch wenig Raum für eine tiefergehende Deutung des Schauobjektes Kölner Dom. In den allgemeinen Beschreibungen der touristischen Sehenswürdigkeit Kölner Dom spielte eine einleitende religiöse Charakterisierung des Bauwerkes als katholisches Gotteshaus und Bischofskirche fast keine Rolle. Ansatzweise mag man diese im Rheinland-Führer des Grieben-Verlages, der vom weltberühmten katholischen Dom 128 sprach oder in einer Auflage der hier betrachteten Baedeker-Führer, der einleitend den Dom als dem h. Petrus geweiht 129 beschrieb, erkennen. Den Touristen wurde der Dom ansonsten zunächst nahezu immer als großartiges oder vollendetes Meisterwerk der deutschen bzw. gotischen Baukunst präsentiert.130 Fragt man abschließend nach der Bedeutung, die die Reise- und Domführer hatten, so bleibt festzuhalten, dass die Domdarstellungen hier in aller Regel nicht originär und Stil prägend waren, sondern sich an den jeweils ———— 128 129 130
Vgl. Anm. 120. Baedeker, Die Rheinlande ..., 28. Aufl. 1899 (Anm. 102), S. 433. Dass der Kölner Dom als Symbol der Kirche, d.h. eines nach Säkularisation und Staatskirchentum wiedererstarkten Katholizismus wahrgenommen wurde, lässt sich für die hier betrachteten Reiseund Domführer nicht feststellen. – Vgl. hierzu: Rudolf Lill: Der Kölner Dom und der deutsche Katholizismus ... (Anm. 84), S. 96.
Der Kölner Dom im Spiegel zeitgenössischer Reise- und Domführer
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vorherrschenden Stimmungen und Meinungen orientierten, die je nach Geschmack und Bedürfnislage der Autoren und Charakter und Anspruch der Führer Eingang in diese Formen der Reiseliteratur fanden. Dennoch sollte der Einfluss dieser sekundären Darstellungen auf die Leserschaft nicht gering geschätzt werden. Denn die massenhafte Verbreitung und Nutzung dieser Literatur durch die zahlreichen Touristen, die das Rheinland bereisten und die Stadt Köln und den Dom besuchten, hat sicherlich dazu beigetragen, dass die oftmals aus anderer Quelle übernommenen Akzentsetzungen der einzelnen in den jeweiligen Führern präsentierten Bilder vom Kölner Dom von weiten Bevölkerungskreisen rezipiert und gerade durch die mit der Lektüre verbundene Besichtigung der Kathedrale auch bleibend verinnerlicht wurden.
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Veränderung im liturgischen Zentrum des Kölner Domes im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts von Barbara Schock-Werner
Nach der Entfernung der um 1300 errichteten Chor-Trennwand im Jahre 1863 ist die Frage nach der liturgisch sinnvollsten Ordnung des Innenraumes nicht zur Ruhe gekommen 1, schrieb Dombaumeister Arnold Wolff 1985 in einem für das Domkapitel bestimmten Manuskript, in dem er selbst Vorschläge für die Umgestaltung des Innenraumes des Domes zusammengefasst hat. Nichts könnte die ständige Diskussion um das liturgische Zentrum im Kölner Dom besser beschreiben als diese Feststellung Wolffs. Im Folgenden soll deshalb versucht werden, die Veränderungen die das liturgische Zentrum im 19. und 20. Jahrhundert erlebt hat, und die im Einzelnen teilweise ausführlich dargestellt worden sind, zusammenfassend zu schildern. Die baulichen Veränderungen belegen sowohl die jeweils aktuellen ästhetischen Vorstellungen über einen gotischen Kirchenraum, als auch und vor allem die jeweils herrschenden theologischen Vorstellungen von Liturgie. Aber auch unter dem Gesichtspunkt der kirchlichen Denkmalpflege macht eine solche Übersicht durchaus Sinn. Sie veranschaulicht wie sehr und manchmal auch wie schnell sich Vorstellungen über Zelebration und Liturgie verändern. Wir können daraus lernen, dass nahezu jede Generation von Geistlichen andere Vorstellungen hat und natürlich das Recht, diese auch im Kirchenraum umzusetzen. Die logische Konsequenz ist freilich, dass alle diese Veränderungen so ausgeführt sein müssen, dass sie revidierbar sind, also ohne Schaden am und im Gebäude zu hinterlassen, wieder entfernt werden können, damit auch die nächste Generation einen ihr angemessenen Ort gestalten kann. Der Hochaltar des gotischen Doms war trotz der Mariendarstellungen dem Heiligen Petrus geweiht, wie Renate Kroos sicher nachweisen konnte.2 Sie sieht aber auch die Möglichkeit, dass Marien- und Petruspatrozinium auf den Hochaltar vereint waren. Sicher ist, dass zwar die Mensa dieses zwischen 1310 und 1320 errichteten Altars reich mit Figuren geschmückt war, ———— 1
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Arnold Wolff: Vorschläge zur Umgestaltung wichtiger Bereiche im Inneren des Kölner Domes. 9. September 1985, S. 10, Die Gestaltung des Innenraumes, Vierung und Hochaltar. Dombauarchiv Köln, Aktenarchiv nach 1945, 124. Renate Kroos: Liturgische Quellen zum Kölner Domchor. In: Kölner Domblatt 44/45, Köln 1979/80, S. 63 - 69.
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ein Retabel aber fehlte. Ob darauf mit Rücksicht auf den Durchblick auf den Dreikönigenschrein verzichtet wurde, wird von Renate Kroos in Frage gestellt. Die bis 1767 den Chorschluss umgebenden Schranken könnten geschlossen gewesen sein, damit war ein Durchblick auf jeden Fall unmöglich. Kroos bezieht sich auf eine mündliche Äußerung Arnold Wolffs, der meinte, dass in den Falzen der erhaltenen Pfosten auch Steintafeln gesessen haben könnten.3 In den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts wurde die gotische Mensa mit einem barocken Hochaltar umbaut. Zu dieser aufwendigen Ausstattung gehörten auch die beiden Seitenaltäre, von denen einer heute in der Sakramentskapelle steht, der zweite wieder in der Hubertuskapelle aufgestellt werden soll. Das Chorgestühl war zu diesem Zeitpunkt vermutlich weiß gestrichen, vor den Chorschranken hingen die Rubensteppiche, auch das übrige Chorinnere war in Weiß gefasst.4 Während die Rubensteppiche schon 1842 entfernt worden waren und in dieser Zeit auch die Weißfassung rückgängig gemacht worden ist, der barocke Baldachin über der Mailänder Madonna 1856 dem neugotischen Altar Zwirners weichen musste, blieben die barocken Altäre bis 1895 im Hochchor. (s. Abb. 1) Nach dem Abbau dieses Hochaltars, dessen Teile man immerhin sorgfältig verwahrte, wurde der Klarenaltar hinter dem Hochaltar aufgestellt. Seine bis dahin nicht gestaltete Rückseite, wurde von Wilhelm Mengelberg 1905 bemalt.5 1863 wurde die um 1300 errichtete Chor-Trennwand entfernt. Zum ersten Mal war der gesamte Dom als einheitlicher Raum erlebbar. Dieses lange herbei gesehnte und hoch gefeierte Ereignis war für viele Kunstfreunde eine Enttäuschung.6 So schrieb Ferdinand von Quast 1873: Ich bin wohl nicht der einzige, der es empfunden hat, dass der Gesamteindruck des Inneren nach der Vollendung und, nachdem die Trennwand zwischen Schiff und Chor gefallen ist, nicht der Vorstellung entsprach, die man sich von der Großartigkeit der Erscheinung gebildet hatte [...].7 Auch ergab sich mit dem Wegfall die Frage, wie dieser Gesamt———— 3
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Die Fragmente dieser Schranken, die im Fundament des Nordturmes gefunden worden sind, sollen demnächst untersucht werden. Paul von Naredi-Rainer: Kunstvolles im Dienste des Höchsten, zur Ausstattung des Kölner Domes seit der Barockzeit. In: Der gotische Dom in Köln, Hrsg. Arnold Wolff, Köln 1986, S. 79. Ingo Matthias Deml: Der Hochaltar des Kölner Domes im 17. und 18. Jahrhundert. In: Zurückgewonnen für den Kölner Dom. Die heilige Katharina vom Hochaltar und ein Pleurant vom Grabmal des Erzbischofs Wilhelm von Gennep. Köln 2008, S. 31- 47. Siehe Anmerkung 4. F.W. Lohmann: Pläne zur Dom-Ausstattung. Eine geschichtliche Erinnerung. In: Der Dom zu Köln. Festschrift zur Feier der 50. Wiederkehr des Tages seiner Vollendung am 15. Oktober 1880. Hrsg. Erich Kuphal, Köln 1930, S. 312 - 332. Vollständig zitiert bei Lohmann, s. Anm. 6, S. 314.
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raum liturgisch sinnvoll genutzt werden soll. Zunächst ging man davon aus, dass der 1322 geweihte Altar weiterhin Zentrum des Geschehens sein sollte. Das Domkapitel entwickelte aber auch die Vorstellung, dass vor einem neu zu errichtenden Lettner ein Volksaltar für den Gemeindegottesdienst aufgestellt werden sollte. Es wurden vier Künstler eingeladen, für Schrein und Hochaltar einerseits und Lettner mit Volksaltar andererseits Entwürfe einzureichen.8 Die Umsetzung wurde wohl in der Folge des Kulturkampfes und weil man sich nicht auf eine wirklich überzeugende Lösung einigen konnte, zuerst verschoben und dann ganz aufgegeben. Er scheiterte letztlich an der Einsicht, dass die aktive Teilnahme der Gläubigen auf diese Weise stärker beeinträchtigt als gefördert werde. Man stellte fest, dass das Laienpublikum an den gottesdienstlichen Handlungen, an denen der Bischof fungierte, mehr teilnimmt als das früher der Fall war.9 In fast allen Entwürfen wurden die barocken Gitter, die den Chorumgang vom Binnenchor trennen, wieder durch steinerne Schranken ersetzt. Es wäre also eine noch stärkere Isolierung des liturgischen Zentrums erfolgt. Das Mittelschiff bot sowieso zu wenige Plätze für die Gläubigen, die an Gottesdiensten teilnehmen wollten. Die Aufstellung eines Lettners hätte aber die zusätzliche Einbeziehung der beiden großflächigen Querhausarme verhindert. Um dies möglich zu machen, wurde deshalb bereits um die Jahrhundertwende ein „Volksaltar“ an die Ostgrenze der Vierung gestellt, wodurch natürlich wiederum der Blick auf den Hochaltar beeinträchtigt wurde. Dieser hölzerne Altar hatte einen stufenförmigen Aufbau mit einem Kreuz und war mit einer neugotischen Hölzernen Schranke umgeben, die leicht nach Westen vorgezogen war und als Kommunionbank diente. (s. Abb. 2) 1905 oder 1909 wurde hinter dem Hochaltar der Klarenaltar aufgestellt. (s. Abb. 3) Ob der schöne, neugotische Baldachin über der Cathedra, der auf allen Aufnahmen zu sehen ist, die diese Situation zeigen, zur selben Zeit errichtet wurde, war nicht herauszufinden. Die Cathedra mit Baldachin stand an der Nordseite direkt auf den drei Stufen, die den Bereich um den Hochaltar erhöhen. Als Sessel für den Bischof diente der noch immer existente Scherenstuhl, die Rückseite war mit einem Teppich bespannt, der das bischöfliche Wappen trug. Für die Conzelebranten standen barocke Sessel rechts und links neben dem vom Baldachin überspannten Raum. Gegenüber, vor dem südlichen Gittern des Binnenchores standen Tische zur Gabenbereitung. Auf dem Hochaltar, vor dem Retabel stand ein kleiner, querrechteckiger wohl metallener Tabernakel. ———— 8 9
Der ganze Vorgang ausführlich geschildert bei Lohmann, s. Anm. 6. Lohmann s. Anm. 6, S. 331.
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Die Dombaumeister Bernhard Hertel (tätig 1903-1927) und Hans Güldenpfennig (tätig 1928-1944) waren in den 20er und 30er Jahren vollauf damit beschäftigt der katastrophalen Gesteinsverwitterung Herr zu werden, schreibt Hannes Roser in seiner ausführlichen Darstellung der Nachkriegsentwicklung der Verhältnisse in der Vierung.10 Seine Aussage schildert die Situation grundsätzlich richtig, übersieht aber, dass es offenbar doch auch im Inneren Veränderungen gegeben hat. Noch immer empfand man die liturgische Situation als unbefriedigend. 1930 berichtet Lohmann von geplanten und versuchten Schritten zur Umgestaltung forderte eine solche, die ‚mehr Wohnlichkeit und anziehende Stimmung’ geben sollte‘ ausdrücklich.11 Verändert wurde die Beleuchtung, 1909 wurde sie erstmals elektrifiziert. Die zwischen die Figurenbaldachine und in die Chorkapellen gehängten Straßenlampen erscheinen uns heute eher seltsam. (s. Abb. 4) 1913 hat man in den Akten vermerkt, dass jetzt auch die Altäre elektrisch beleuchtet seien. An den Chorpfeilern wurde oberhalb des Chorgestühls ein Ring befestigt, an dem jeweils fünf nach unten strahlende Glaslampen befestigt waren. Gleichzeitig wurden auch für die vordere Reihe des Chorgestühls stehende Leuchter mit je drei Lampen aufgestellt. Die Begeisterung für die neuen Möglichkeiten hat dann offenbar auch zu einer Chorbeleuchtung geführt, die wir heute mit Faszination und Schrecken sehen. An allen Profilen und um die Bögen der Chorarkaden und des Triforiums wurden Glühbirnenketten gezogen. Auf dem Hochaltar steht eine leuchtende und mit Zackenkranz umgebene Mandorla in deren Mitte eine Marienfigur zu stehen scheint. (s. Abb. 5) Ob diese ‚Festbeleuchtung’ nur für einen speziellen Anlass angeschafft wurde, war leider nicht herauszufinden, da wir nur ein undatiertes Foto dieser Lichtinstallation haben. Da der Aufwand der Anbringung erheblich gewesen sein muss – noch heute entfernen wir die zahlreichen Haken – ist es nicht wahrscheinlich, dass die Lichterketten nur für ein ganz bestimmtes Fest installiert wurden. Andererseits zeigt ein mit Januar 1931 datiertes Foto den Binnenchor mit Weihnachtsdekoration aber ohne diese Lichterketten. (s. Abb. 6) Auch eine andere technische Neuerung zog in den Dom ein. 1927 wurde die eine Lautsprecheranlage der Firme Siemens und Halske installiert. Nach einem Zeitungsartikel war diese Technik so weit fortgeschritten, dass eine Verbesserung kaum noch erwartet wurde.12 Insgesamt ist diese Zeit in ———— 10
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Hannes Roser: „ ... das heilige liturgische Wechselspiel ...“ zur Aufwertung der Vierung des Kölner Doms in der Nachkriegszeit. In: Kölner Domblatt 65, Köln 2000, S. 153 -182. F. W. Lohmann, S. Anm. 6, S. 332. Dombauarchiv, Akte CRVI 18 vol. IX. (Akten des Generalvikariats Dombau, in Kopien im Dombauarchiv).
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den Quellen schlecht dokumentiert, man muss sich an den wenigen erhaltenen Fotos orientieren. Die Bänke im Langhaus waren ganz an die Pfeiler gerückt und ließen einen breiten Mittelgang frei. Nur der Block auf der Südseite war bis zum westlichen Vierungspfeiler vorgezogen. Die Bänke auf der Nordseite endeten schon ein Joch weiter westlich. (s. Abb. 2) Ganz offenbar geschah dies mit Rücksicht auf ein vor dem nordöstlichen Vierungspfeiler aufgestelltes Marienbild, vor dem eine Kniebank stand. Die Marienfigur auf dem Foto sieht aus wie die Mailänder Madonna. Es ist nicht bekannt, wann sie dort aufgestellt wurde und wie lange sie dort blieb. Paul Clemen beschreibt diesen Aufstellungsort auch in seinem Inventarband von 1938.13 Das Foto muss nach 1921 entstanden sein, denn es zeigt im Langhaus schon das 1921 aufgestellte Kriegerdenkmal von Georg Grasegger 14, allerdings auch die noch provisorische Beleuchtung mit den Hängelampen, die einige Jahre später durch Glaslampen an den Pfeilern ersetzt wurde. (s. Abb. 7) Der Gottesdienst in der Marienkapelle scheint von erheblicher Bedeutung gewesen zu sein und viele Gottesdienstbesucher angezogen zu haben, denn die Bänke, die auf den Marienaltar ausgerichtet waren, zogen sich durch die gesamte Vierung. (s. Abb. 8) Auf dem Altar der Marienkapelle stand der von Zwirner entworfene Altar, dessen plastischen Schmuck Christian Mohr entworfen hat und dessen Altarbild ‚Die Himmelfahrt der Jungfrau‘ ein Hauptwerk Friedrich Overbecks ist, das 1854 als Geschenk des Düsseldorfer Kunstvereins in den Dom gekommen war.15 Hinter dem Altar sieht man noch das später entfernte Wandgemälde, das Wilhelm Mengelberg 1909 geschaffen hatte. (s. Abb. 9) Auf dem Foto kann man auch eine an der Südwand stehende einfache Kanzel erkennen. Parallel dazu war auch im Nordquerhaus ein Bankblock aufgestellt, der nach Osten ausgerichtet war und eigentlich nur für Gottesdienstbesucher gedacht gewesen sein kann, die an den Messen am Kreuzaltar teilnehmen wollten. Die Kreuzkapelle war ja vor der Errichtung der Orgelempore nicht so abgeschlossen, wie wir sie heute erleben.16 Diese Ordnung im liturgischen Zentrum wurde schon vor Beginn des zweiten Weltkriegs zerstört. Teile wurden ausgebaut und in dem nach ———— 13 14
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Paul Clemen: Der Dom zu Köln, Düsseldorf 1938, S. 251. Leonie Becks: Das Kriegerdenkmal von Georg Grasegger im Kölner Dom. In: Kölner Domblatt 72, Köln 2007, S. 323 - 348. Paul Clemen: Der Dom zu Köln, Düsseldorf 1938, S. 248. Diese Bankaufstellung ist in einem Domführer zu sehen, der 1928 im Langewiesche Verlag erschienen ist und mit einem Text von Wilhelm Pinder versehen war.
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Kriegsbeginn in der Nordturmhalle errichteten Bunker in Sicherheit gebracht.17 Wichtige Ausstattungsstücke wurden durch Einhausungen an Ort und Stelle geschützt. In der Vierung blieb eine schmucklose Altarmensa zurück, die mit fünf Stufen erhöht war.18 Nach dem Krieg begannen die Entschuttung und die rasche Herrichtung des Chores. Der westliche Teil des Langhauses war noch bis in die 50er Jahre gesperrt. Der Dreikönigenschrein wurde im August 1948 aus den Kisten, in denen er für die Dauer des Krieges verwahrt worden war, geholt, vorläufig repariert, gereinigt und wieder zusammengesetzt.19 Anlässlich des Domjubiläums am 15. August 1948 führte eine großartige Schreinsprozession auch den Dreikönigenschrein zurück in den Dom. Er wurde auf einen hohen Aufbau hinter dem mit Gladiolen geschmückten Hochaltar gesetzt. Links seitlich stand der Thron des Kardinallegaten Micara mit einem Baldachin aus leuchtendem weißem und mit Blühten(?) versehenen Stoff. Rings um den Hochaltar haben weitere Throne die Kardinäle aufgenommen, die Äbte und Bischöfe haben sich mit dem höheren Klerus im Langchor vor dem alten Chorgestühl niedergelassen.20 Der helle, geraffte Stoffbaldachin über der Kathedra blieb auch nach dem Jubiläumsfest erhalten. Wer ihn entworfen und gefertigt hat, ist nicht überliefert, er dürfte aber auf Dombaumeister Willy Weyres zurückgehen. Eine Aufnahme zeigt den Binnenchor mit der Kathedra am alten Ort aber mit neuem Baldachin. (s. Abb. 10) Die vordere Reihe des Chorgestühls ist noch abgebaut, dafür füllen eng gestellte Bänke für die Gläubigen das Chorinnere. Sie reichen bis ans Ostende des Chorgestühls. Der Dreikönigenschrein ist noch ohne Vitrine. Die Werktagsgottesdienste wurden am Kreuzaltar gefeiert. Die Betonpilze der neuen Orgelempore hatten diesen Bereich stärker abgeschirmt, so dass er als geschlossener liturgischer Raum empfunden wurde. Bis 1956 trennte eine provisorische Wand in der Achse der zweiten Langhauspfeiler westlich der Vierung den größeren Teil des Langhauses ab. Den Pfarraltar in der Vierung hielt man für bestimmte Gelegenheiten bei. Zuerst wurde eine Notkanzel am südöstlichen Vierungspfeiler aufgestellt, nach einigen Jahren wurde die vorher im Langhaus stehende Renaissancekanzel dorthin ver———— 17
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Niklas Möring: Kriegsschutzmaßnahmen am Kölner Dom im zweiten Weltkrieg. In: Kölner Domblatt 74, 2007, S. 1145 -192. Siehe Roser (Anm. 10) Abb. 8. Zu dieser Arbeit war die berühmte Kölner Goldschmiedin Elisabeth Treskow herangezogen worden, sie verfasste auch den Bericht. Zur Wiederherstellung des Dreikönigenschreins. In: Kölner Domblatt 3, 1949 S. 192-194. Hans Stöcker: Kölner Domjubiläum. Das ‚Kölner Ereignis‘ des 20. Jahrhunderts. In: Kölner Domblatt 3, 1949 S. 17/18.
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setzt.21 Orgel, Altar und Kanzel standen in einer Reihe und waren von allen Gläubigen gut zu sehen. So ist eine vollendete Querhauskirche entstanden, schreibt Prälat Hoster in seinem Bericht über die Situation im Dom nach dem Krieg.22 Die Pontifikalämter wurden weiter am Hochaltar gefeiert und man ließ die Gläubigen, um die Distanz zu überwinden, in den mittleren Bereich bis zu den Stufen des Hochchores Platz nehmen (s. Abb. 11) Diese Situation zeigt die Aufnahme eines Weihnachtsgottesdienstes, sie muss nach 1950 entstanden sein, aber vor 1956. Allerdings ist auf dieser Aufnahme kein Altar in der Vierung zu sehen. Die Gläubigen stehen dort dichtgedrängt. In der westlichen Hälfte des Binnenchores, in dem auch die vordere Reihe des Chorgestühls wieder steht, sind nach Osten ausgerichtete Bänke für die Gläubigen aufgestellt. Der Schrein hat seine Vitrine. Die Kathedra steht noch immer am selben Platz an der Nordseite im Chorschluss, der luftig geraffte Stoffbaldachin ist aber einem anderen, schräg aufgehängten, etwas sachlicheren gewichen. Auch von ihm ist nicht bekannt, wer ihn entworfen hat und wie lange er an dieser Stelle angebracht war. Doch die Zahl der Gläubigen, die bei dieser Aufstellung Platz finden konnten, war zahlenmäßig zu beschränkt. So ist denn der Gedanke aufgekommen, nicht nur den Pfarrgottesdienst, sondern auch den Pontifikalgottesdienst an einem Altar an oder in der Vierung zu halten. Dort würden bedeutend mehr Gläubige der heiligen Handlung auch mit den Augen folgen können – ein zunächst bestechender Gedanke, der Licht auf unsere liturgische und kirchengeschichtliche Situation wirft, schrieb Hoster schon 1949.23 Diese Idee wurde versuchsweise umgesetzt. Für ausgewählte Gottesdienste wurde ein Altar in der Vierung aufgestellt, der Thron des Erzbischofs am nordöstlichen Vierungspfeiler. So ergibt sich, wie Hoster weiter darlegt, eine ganz moderne Raumgliederung. Die Gläubigen können alle die Liturgie sehen, verfolgen und innerlich und äußerlich teilnehmen. Es stellte sich nur die Frage, ob der Altar nicht um mehrere Stufen erhöht werden sollte, was Hoster eindeutig befürwortet. Er sieht jedoch das Problem, dass dann der östliche Teil des Hochchores nur noch Raumkulisse wäre. Deshalb plädiert er dafür, den Hochaltar als Hauptaltar beizubehalten und den Altar in der Vierung nur gelegentlich aufzustellen. Er meinte, dass sich das für den Einzelfall rechtfertigen ließe. Der Dreikönigenschrein blieb auch ———— 21
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Barbara Schock-Werner: Der Ort der Predigt im Kölner Dom. In: Rheinisch – Kölnisch – Katholisch, Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte 25, Festschrift für Heinz Finger, Köln 2008, S. 404 - 426. Joseph Hoster: Neue Raumprobleme im Kölner Dom. In: Kölner Domblatt 2/3, 1949 S. 52 - 61. Siehe Anmerkung 5.
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nach dem Domjubiläum hinter dem Hochaltar stehen. Aus der Bemerkung Weyres’ 1949, der Dreikönigenschrein stehe hinter der Mensa des Hochaltars an Stelle des noch beschädigten Klarenaltars, kann man schließen, dass an die dauerhafte Aufstellung des Schreines an dieser Stelle zuerst nicht gedacht war. Der neu gefundene Platz für den Schrein war aber offenbar so überzeugend, dass relativ rasch beschlossen worden ist, ihn an diesem Platz stehen zu lassen. 1950 wurde für diesen Standort eine Vitrine gefertigt.24 Nördlich des Hochaltars stand der neue, von Willy Weyres entworfene Bischofsthron. Im selben Jahr wurden auch die vorderen Reihen des Chorgestühls wieder aufgestellt, das Dombild wurde nach Abbruch des unbeschädigten! Altars von Zwirner in der Marienkapelle errichtet. Ein provisorischer Altar wurde am nordöstlichen Vierungspfeiler errichtet und über diesem die Kreuzigungsgruppe aufgehängt, die vor dem Krieg unter der Orgeltribüne am Nordende des Querschiffs angebracht war. Wann und wie oft diese Lösung umgesetzt wurde, erfahren wir nicht. Willy Weyres sehr knappen Dombauberichten der nächsten Jahre enthalten nichts über Umgestaltungen im liturgischen Bereich. Im Zusammenhang mit dem 1956 stattfindenden Katholikentags wurde das gesamte Langhaus für den Gottesdienst wieder geöffnet und das erste bedeutende Hochamt in der Vierung gefeiert. Dafür wurde der Altar auf ein provisorisches Podest gestellt. Hier zelebrierte der päpstliche Gesandte Kardinal Adeodato Piazza 25 dem Volke zugewandt. (s. Abb. 12) Aus dieser Lösung entwickelte Willy Weyres für das 50 jährige Priesterjubiläum von Kardinal Frings eine anspruchsvollere und dauerhaft gedachte Lösung. In die Vierung wurde ein hölzernes, an den Seiten geschwungenes Podest gestellt. Der Altar selbst stand, wiederum um drei Stufen erhöht, in dessen Mitte. (s. Abb. 13) Elmar Hillebrand schuf dafür eine neue Mensa. Die Oberfläche des Podestes war mit verschiedenen Hölzern auffällig gemustert. Seitlich des Podestes war das Bodenmosaik zu sehen. Die Ausstattung der Vierung wurde durch Kommunionbänke, Stelen für Blumenvasen, Leuchtern und Ambonen nach und nach ergänzt. 1964 wurde am nordöstlichen Vierungspfeiler ein Sakramentshaus nach Entwürfen von Elmar Hillebrand aufgestellt. Durch eine von Willy Weyres entworfene Lichtkrone aus weißen Putzler-Leuchten wurde die Vierung zusätzlich erhellt und hervorgehoben. ———— 24
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Willy Weyres: Die Instandsetzung des Kölner Domes seit dem Domjubiläum. In: Kölner Domblatt 3, 1949, S. 58. – Leonie Becks: Der Hochaltar des Kölner Domes im 19. und 20. Jahrhundert. In: Zurückgewonnen für den Kölner Dom. Die heilige Katharina vom Hochaltar und ein Pleurant vom Grabmal des Erzbischofs Wilhelm von Gennep. Köln 2008, S. 49-68. Roser (Anm. 10) S. 168.
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Doch auch an dieser Lösung wurde ständig gearbeitet. Das Sakramentshaus wurde 1969 an den nordwestlichen Pfeiler gesetzt, an seinem ersten Standort wurde die Kathedra aufgestellt. 1985 legte Arnold Wolff die Vorschläge zur Umgestaltung des Innenraumes vor, aus denen anfangs schon zitiert wurde.26 Der zu diesem Zeitpunkt noch existierenden Weyresschen Lösung wurden von Arnold Wolff zwei Schwächen nachgewiesen. Das Podest sei zu niedrig, entfernt stehende Gläubige könnten den oder die Zelebranten kaum sehen und der inzwischen dort ausgelegte Belag aus Nadelfilz sei einer Kathedrale unwürdig. Wolff schlägt vor ein höheres Podest aus Naturstein zu bauen und den Schrein der Heiligen drei Könige im Osten des Zelebrationsaltares auf das Podest in eine säulengetragene Vitrine zu stellen. Damit der Hochaltar nicht ganz hinter diesem neuen liturgischen Zentrum versinke – optisch wie in der Bedeutung – sollte auf dem alten Hochaltar der barocke Aufbau wieder aufgestellt werden, dessen Einzelteile sich bis heute in den Depots des Dombauarchives erhalten haben. Zur Ausführung dieses Planes kam es nicht. Eine neue Variante nach Wolffschem Entwurf wurde 1992 in der Vierung ausprobiert 27 und dem Domkapitel zur Genehmigung vorgeschlagen. Die Hauptebene wurde um drei Stufen angehoben, gegenüber der Kommunionsbank blieb ein Streifen unbedeckt. In der Mitte erhob sich eine runde Fläche, eine weitere Stufe erhöht. Auf ihr stand die Altarmensa. Zugleich wollte der Dombaumeister das bisher von den Podesten verdeckte Mosaik der Vierung anheben und auf das neue Podest verlegen. Aus der Form des Mosaiks ergab sich auch die runde Fläche um den Vierungsaltar. Bei der Feier des sonntäglichen Hochamtes zeigten sich schnell erhebliche Mängel. Die Hauptebene erschien zu hoch, und die Gänge entlang der Kommunionbank waren durch den Gabentisch und das Sakramentshaus an den westlichen Vierungspfeilern unterbrochen.28 Das Podest wurde deshalb noch einmal umgebaut. Der Stufenbau wurde von vier auf drei Stufen verringert. Das Sakramentshaus von Elmar Hillebrand wurde abgebaut und im Chorschluss in der Nähe des Hochaltares wieder aufgerichtet, genau dort, wo das mittelalterliche Sakramentshaus gestanden hatte. Der Gabentisch wurde in das Innere des Chores verlegt. (s. Abb. 14) Diese Lösung wurde auf einem Kolloquium am 14. April 1993 einem hochrangigen Expertenkollegium vorgestellt. Das Protokoll dieses Kolloquiums, bei dem neben der Neugestaltung der Vierung auch das Thema ‚Orgel‘ behandelt wurde, hat sich im ———— 26 27 28
Siehe Anmerkung 1. Arnold Wolff: 34. Dombaubericht. In: Kölner Domblatt 58, Köln 1993, S. 45- 47. Siehe Anmerkung 4, S. 46.
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Dombauarchiv erhalten.29 Nach ausführlicher Diskussion kamen die Experten zum Ergebnis, dass das Mosaik nicht angetastet, also nicht gehoben werden sollte, weil im Chorbereich, wie es Prof. Udo Mainzer ausdrückte, nichts so dauerhaft ist wie die Veränderung. Deshalb müsse, was immer in der Vierung gebaut werde, auf jeden Fall reversibel sein. Der Würde des Ortes entsprechend sprach sich die Mehrheit doch eher für Stein, insbesondere für Marmor aus. Das zweite Problem sah man weiterhin darin, dass hinter einem deutlich erhöhten Zelebrationsraum in der Vierung, der Binnenchor mit dem Hochaltar völlig abgehängt wäre. Prof. Walter Haas argumentierte, dass Kathedralen nie einen einheitlichen Gottesdienstraum gehabt hätten und dass diese Forderung des Trienter Konzils nicht wirklich umgesetzt werden könnte. Er wandte sich deshalb dagegen, den Schrein der Heiligen Drei Könige in die Vierung zu holen. Dann sei der Chor völlig ohne Inhalt. Seiner Meinung, dass es besser sei, zwei Gottesdiensträume zu haben, schloss sich in der folgenden Diskussion die Mehrheit der Anwesenden an. Im nächsten Jahr wurden aber zuerst einige der Kirchenbänke verlängert, so dass in den Bereichen zwischen den Pfeilern elf statt sieben Personen in einer Bank Platz finden konnten. Die Planungen für den Umbau des Vierungspodests gingen aber weiter. Der Bildhauer Elmar Hillebrand, der schon Altar, Leuchter, Lesepult, Schranken und Sakramentshaus entworfen hatte, wurde mit einem Entwurf beauftragt. Er bemühte sich, viel von dem Mosaikboden sichtbar zu lassen. Sein Entwurf hätte jedoch erfordert, dass der Altar genau in die geometrische Mitte der Vierung gestellt hätte werden müssen, das hätte aber den Achsenknick zwischen Langhaus und Chor deutlicher hervorgehoben. Aus den geschwungenen Seiten des Weyresschen Entwurf von 1960 entwickelte der Architekt Georg Lippert von der Dombauverwaltung den Entwurf, der das Podest von zwei auf vier Stufen erhöhte. Wiederum wurde in der Vierung erst ein Modell gebaut. (s. Abb. 15) Das Domkapitel beschloss, diese Lösung für ein Jahr zu probieren und erst dann zu entscheiden.30 1998 berichtete Dombaumeister Arnold Wolff, dass diese Lösung ebenfalls nicht befriedigt hatte. Nicht nur die räumliche Trennung des Erzbischöflichen Thrones vom Vierungspodest gefiel nicht, auch die ———— 29
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Dombauarchiv Köln, Aktenarchiv nach 1945, 124. Von denkmalpflegerischer Seite waren Prof. Dr. Georg Mörsch, Prof. Dr. Udo Mainzer und Dr. Ulrich Krings beteiligt, als Kunsthistoriker Prof. Dr. Georg German, Prof. Dr. Walter Haas, Prof. Dr. Dethard von Winterfeld, Prof. Dr. Peter Springer. Fast das gesamte Domkapitel nahm teil und als Gast zumindest teilweise auch Erzbischof Joachim Kardinal Meisner. Arnold Wolff: 37. Dombaubericht. In: Kölner Domblatt 61, Köln 1996, S. 35- 37.
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Überschneidungen der gebogenen Kanten mit den Bildern des Mosaiks waren optisch unbefriedigend. Als richtig hatte sich aber erwiesen, eine große Fläche um vier Stufen anzuheben. Damit hatte man vielfältige Möglichkeiten einer liturgischen Nutzung. Dombaumeister Arnold Wolff wurde vom Domkapitel wiederum mit einem neuen Entwurf beauftragt. Seine neue Lösung sah vor, ein hölzernes Podest so in die Vierung zu stellen, dass es wie ein Möbel wirkte und nicht wie ein Teil des gebauten Domes. Er löste das Vierungspodest völlig von der Kommunionbank, so dass hier ein Gang zum Austeilen der Kommunion entstand. Alle Ausstattungsgegenstände einschließlich Kathedra, Altar und Kanzel wurden auf die Fläche gestellt, so dass ein einheitlicher ‚Aktionsraum‘ vorhanden ist. Die Ausführung wurde in dem rötlichen Holz der Afzelie durchgeführt. Die Bereiche vom Bischofsthron und Sedilien wurden mit einem Geländer versehen, das der von Elmar Hillebrand gestalteten der Kommunionbank entspricht. Am 19. Juni 1998 fand die Priesterweihe auf dem Podest statt, damit hatte die neue Lösung ihre Bewährungsprobe bestanden.31 (s. Abb. 16) Damit war die Lösung gefunden, die bis heute, 13 Jahre danach noch Gültigkeit hat. Die Vierung wurde nur noch optisch ergänzt indem im Jahr 2007 das Teppichensemble nach den Entwürfen von Prof. Hanns Herpich ausgelegt wurde. Die Teppiche sollen die Würde des Orts betonen und die große Holzfläche gliedern.32 Die neue Beleuchtung setzt seit 2008 Zelebrationsaltar und Vierung zudem ins rechte Licht. Parallel zu diesen Wechseln in der Vierung fand auch im Hochchor eine deutliche Veränderung statt. Der Schrein der Heiligen Drei Könige bekam eine neue Vitrine. Diese übernahm zwar den Standort, lies sich aber durch vier Elektrospindeln höher und tiefer positionieren. Diese technische Neuerung ergab die Chance, dass Pilger den Schrein unterschreiten können. Diese Möglichkeit des Pilgerns hat zwar in anderen Orten Tradition, war aber beim Dreikönigenschrein nie möglich gewesen. Der Zug der Pilger unter dem Schrein ist seither fester Bestandteil der Liturgie geworden.33 Damit ist die Gestaltung des liturgischen Zentrums im Kölner Dom vorerst zu einem Ende gekommen. Aber die nächste Generation von Geistlichen wird kommen und damit auch die nächste Generation von Gestaltern. Sie werden ihre Vorstellungen und Ideen im Dom verwirklichen wollen und natürlich hoffen wir alle, dass dies noch viele Jahrhunderte möglich sein wird! ———— 31 32 33
Arnold Wolff: 39. Dombaubericht. In: Kölner Domblatt 63, Köln 1998, S. 54- 58. Barbara Schock-Werner: 48. Dombaubericht. In: Kölner Domblatt 78, Köln 2007, S. 429. Barbara Schock-Werner: 45. Dombaubericht. In: Kölner Domblatt 69, Köln 2004, S. 33 -34.
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Literatur: F.W. Lohmann: Pläne zur Dom-Ausstattung. Eine geschichtliche Erinnerung. In: Der Dom zu Köln. Festschrift zur Feier der 50. Wiederkehr des Tages seiner Vollendung am 15. Oktober 1880. Hrsg. Erich Kuphal, Köln 1930, S. 312 - 332. Ingo Matthias Deml: Der Hochaltar des Kölner Domes im 17. und 18. Jahrhundert. In: Zurückgewonnen für den Kölner Dom. Die heilige Katharina vom Hochaltar und ein Pleurant vom Grabmal des Erzbischofs Wilhelm von Gennep. Köln 2008, S. 31- 47. Leonie Becks: Der Hochaltar des Kölner Domes im 19. und 20. Jahrhundert. In: Zurückgewonnen für den Kölner Dom. Die heilige Katharina vom Hochaltar und ein Pleurant vom Grabmal des Erzbischofs Wilhelm von Gennep. Köln 2008, S. 49 - 68. Hannes Roser: Das spätgotische Sakramentshaus im Kölner Dom und sein vermutlicher Schöpfer Franz Maidburg. Kölner Domblatt 72, Köln 2007, S. 161-182. Barbara Schock-Werner: Willy Weyres und der Kölner Dom. In: Kölner Domblatt 69, Köln 2004, S. 265 - 288. Ingo Matthias Deml: Das barocke Dreikönigenmausoleum im Kölner Dom. In: Kölner Domblatt 68, Köln 2003, S. 209 - 290. Hannes Roser: „ ... das heilige liturgische Wechselspiel ...“ zur Aufwertung der Vierung des Kölner Doms in der Nachkriegszeit. In: Kölner Domblatt 65, Köln 2000, S. 153-182. Barbara Schock-Werner: Der Ort der Predigt im Kölner Dom. In: Rheinisch – Kölnisch – Katholisch, Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte 25, Festschrift für Horst Finger, Köln 2008, S. 404-426.
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Abb. 1: Binnenchor mit den barocken Altären. Historische Aufnahme (J.H. Schönscheidt) Dombauarchiv Köln
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Abb. 2: Volksaltar an der Ostseite der Vierung mit einer neugotischen Kommunionbank. Der Bankblock in der Südseite des Langhauses reicht bis an die Vierung, der an der Nordseite endet weiter westlich. Erste Hälfte des 20. Jahrhundert. Rheinisches Bildarchiv Köln
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Abb. 3: Der Klarenaltar hinter dem Hochaltar und der neugotische Baldachin über der Kathedra an der Nordseite des Binnenchores. Aufnahme 1940. Rheinisches Bildarchiv Köln
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Abb. 4: Bei der ersten 1909 installierten elektrischen Beleuchtung hingen Straßenlampen an den zwischen den Figurenbaldachinen gespannten Kabeln. Dombauarchiv Köln
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Abb. 5: Festbeleuchtung mit Glühbirnenketten im Binnenchor, nach 1913. Dombauarchiv Köln
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Abb. 6: Der Binnenchor Weihnachten 1931. Rheinisches Bildarchiv Köln
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Abb. 7: Langhaus, Vierung und Binnenchor nach 1921. Am nordwestlichen Vierungspfeiler steht die Mailänder Madonna. Dombauarchiv Köln
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Abb. 8: Querhäuser und Vierung vor 1939. Die Bänke der Marienkapelle ziehen sich durch die gesamte Vierung. Die neugotische Kommunionbank springt in die Vierung vor. Dombauarchiv Köln
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Abb. 9: Die Marienkapelle vor 1945 mit dem von Ernst Friedrich Zwirner entworfenen Marienaltar. An der Südwand steht eine Kanzel. Dombauarchiv Köln
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Abb. 10: Der Binnenchor zwischen 1948 und 1950, der Dreikönigenschrein hat noch keine Vitrine und über der Kathedra hängt ein Baldachin aus hellem, leichten Stoff. Dombauarchiv Köln
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Abb. 11: Pontifikalamt zwischen 1950 und 1956. Die Kanzel steht an südöstlichen, ein Kreuzaltar am nordöstlichen Vierungspfeiler. Dombauarchiv Köln
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Abb. 12: Für den Katholikentag 1956 wurde in der Vierung ein niedriges Podest gebaut, die Altarmensa hat einen dreistufigen Unterbau. Foto Lambertin, Dombauarchiv Köln
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Abb. 13: Das aus edlen Hölzern gebaute Podest mit geschwungenen Seiten. Willy Weyres hat es 1960 entworfen. Dombauarchiv Köln
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Abb. 14: Modell für ein Podest in der Vierung 1992. Die hellen Flächen sollten das Fußbodenmosaik aufnehmen, das vom Boden gelöst und höher wieder verlegt werden sollte. Dombauarchiv Köln
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Abb. 15: Das von Hans-Georg Lippert entworfene 1996 aufgestellte Podest mit einer Separierung von Kathedra und Kanzel. Dombauarchiv Köln
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Abb. 16: Vierungspodest seit 1998, auf dem hölzernen Podest sind alle Elemente zusammengefasst. Dombauarchiv Köln
Kardinal Karl Joseph Schulte und die Anfänge des Ansgariuswerkes in der Erzdiözese Köln von Klaus-Peter Vosen
1. Einleitung Als der Münchner Domkapitular Johann Evangelist Müller Ende 1922 zum Apostolischen Vikar in Schweden und zum Titularbischof von Lorea ernannt und am 7. Januar 1923 im Liebfrauendom in München von Nuntius Eugenio Pacelli konsekriert worden war 1, sah er sich vor die Aufgabe gestellt, ein Netzwerk von Förderern für die zahlenmäßig geringe und materiell arme katholische Diasporagemeinde Schwedens zu knüpfen. Hierbei wollte er sich nicht allein auf einen in seiner Heimatdiözese schnell gewonnenen Freundeskreis stützen, der als der Beginn der systematischen Förderung der Diaspora Skandinaviens durch deutsche Katholiken angesehen werden muss und sich als St. Ansgarius-Werk München etablierte.2 Das Hilfswerk zur Unterstützung der katholischen Kirche in Schweden, das sich also der Initiative Bischof Müllers verdankt, konnte an einem älteren Vorstoß holländischer Katholiken zum gleichen Anliegen Maß nehmen.3 ———— 1
2 3
NB: Die verwendeten Archivalien stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus dem Bestand: HAEK Gen. 23,50. Jb = Jahrbücher des St.-Ansgarius-Werkes. Johannes Evangelist Müller, geboren in Gründholm, Erzdiözese München und Freising, 14.11.1877; zum Priester geweiht in Freising 29.6.1903, arbeitete in verschiedenen Funktionen im Dienst seiner Heimatdiözese, 8.10.1922 (damals Fest der hl. Birgitta von Schweden) Apostolischer Vikar für Schweden, 9.10.1922 Titularbischof von Lorea, 7.1.1923 Bischofsweihe durch Nuntius Erzbischof Eugenio Pacelli in München, nahm bei seiner Bischofsweihe zusätzlich den Namen Erik (nach dem heiligen Märtyrerkönig Erich von Schweden) an. Mit der Errichtung des Bistums Stockholm am 8.11.1953 dessen erster Bischof. 1.11.1957 Titularerzbischof von Pompeiopolis in Cilicia (Resignation auf das Bistum Stockholm). Gestorben 1965. Vgl. Annuario Pontificio 1965, S. 648; biographische Notiz zu Müller im Nachlaß Dr. Louis im Besitz des Kölner St. Ansgariuswerkes (2. Ordner, G -M). – Vgl. Peter Louis, 25 Jahre St. Ansgarius-Glaubenswerk für die nordischen Kirchen: Jb 1950, S. 7-10, hier: S. 7. Vgl. Louis (wie Anm.1), S. 7. Die Erforschung der Genese dieser Initiative Bischof Diepens von s’Hertogenbosch ist Desiderat. – Arnold Frans Diepen, geboren in s’Hertogenbosch 12.3.1860, zum Priester geweiht 7.6.1884; Domkapitular in seiner Heimatdiözese, 27.7.1906 Päpstlicher Hausprälat. 11.2.1915 Titularbischof von Danaba, konsekriert 7.3.1916, Koadjutor, 22. bzw. 24.12.1919 Bischof von s’Hertogenbosch; 27.5.1923 Päpstlicher Thronassistent. Gestorben am 18.3.1943 in s’Hertogenbosch. Vgl. Annuario Pontificio 1927, S. 92; vgl. Hierarchia Catholica, Bd. IX (2002), S. 97. Diepen wurde am 6.3.1920 zum Apostolischen Visitator für Dänemark, Schweden und Norwegen ernannt, am 15.6.1920 zum
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Das Patronat des heiligen Ansgar war vom Ansgar-Jubiläum 1926 angestoßen: Genau 800 Jahre zuvor hatte der spätere Erzbischof von HamburgBremen und „Apostel des Nordens“ nach der Taufe des dänischen Königs Harald seine Missionstätigkeit im Norden Europas begonnen.4 Wenn es nun darum ging, über die Erzdiözese München-Freising hinaus Unterstützung für die katholische Diaspora Skandinaviens zu gewinnen, so war diese sicher am ehesten aus anderen mehr oder weniger geschlossen katholischen Gebieten Deutschlands zu erwarten. Bischof Müller wandte sein Augenmerk dem Rheinland zu, auch weil er hier auf die Hilfe einer Priesterpersönlichkeit zurückgreifen konnte, die ihren Eifer gerade in missionarischen Belangen bereits unter Beweis gestellt hatte und ihm von hierher auch näher bekannt war: Es handelte sich um den Kölner Priester Dr. Peter Louis (1886-1956), 1917 zum Generalsekretär im Verwaltungsrat des Franziskus-XaveriusVereins in Aachen, 1920 zum Direktor der Aachener Xaverius-Zentrale ernannt und ab 1926 – nach einem kurzen Intermezzo als Deutschenseelsorger in Holland – Pfarrer in (Leverkusen-)Bürrig.5 Louis selbst schreibt über den Beginn des Ansgariuswerkes in der Erzdiözese Köln in einem Beitrag zum Ansgarius-Jahrbuch 1950: „In Westdeutschland fand die Anregung [zur Gründung eines überdiözesanen Hilfswerk für die Diaspora Schwedens] fruchtbaren Boden. Kardinal Joseph Schulte, Erzbischof von Köln, kam den Wünschen des schwedischen Oberhirten gerne entgegen und beauftragte den Schreiber dieses mit der Führung des Werkes und der Fürsorge für die Angelegenheiten der nordischen Kir———— 4 5
Apostolischen Visitator für Finnland. Vgl. Personalkartei des Bistums s’Hertogenbosch: Diözesanarchiv s’Hertogenbosch. Vgl. J. Metzler, art. Ansgar: LThK 1 ( 11930), Sp. 471/472, hier: Sp. 471. Peter Joseph Louis, geboren 2.2.1886 in (Bonn-Bad-)Godesberg-Rüngsdorf; zum Priester geweiht in Köln 19.02.1910, 26.2.1910 Hausgeistlicher in (Köln-) Wahn, 8.6.1910 Assistent am Collegium Marianum in Neuss, 7.4.1914 Religionslehrer am Lyzeum und Subsidiar an der Klosterkirche der Schwestern vom Armen Kinde Jesus in Neuss, 22.2.1916 Dr. theol., 1.5.1917 Generalsekretär des Verwaltungsrates des Franziskus-Xaverius-Vereins und Subsidiar Aachen (Hl. Kreuz), 1920 Direktor der Xaverius-Zentrale Aachen, 5.3.1926 Seelsorger für die Deutschen in Holland, 24.8. (nicht 28.9. !)1926 bis zu seinem Tod Pfarrer in (Leverkusen-) Bürrig. Generalprokurator, 25.6.1955 Präsident des St.-Ansgarius-(Glaubens-)Werkes für die nordischen Kirchen. 1928 Generalpräses des Zentralverbandes der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften, 7.10.1942 Geistlicher Rat ad hon. des Apostolischen Vikariates Finnland, 1948 Geistlicher Rat ad hon. des Apostolischen Vikariates Schweden, 18.12.1948 Geistlicher Rat ad hon. von Köln, Februar 1950 Geistlicher Rat des Apostolischen Vikariates Dänemark, 18.3.1950 Geistlicher Rat des Apostolischen Vikariates Oslo. Gestorben 16.10.1956 Köln: Vgl. Handbuch des Erzbistums Köln 24. Ausgabe (1954), S. 959; vgl. Ernennungsurkunde (Kopie) zum Pfarrer in Bürrig: HAEK GVA Leverkusen-Bürrig 4; vgl. von Kardinal Frings unterzeichnetes Ernennungsschreiben an Louis zum Präsidenten des St.-AnsgariusWerkes vom 25.6.1955: Kölner St.-Ansgarius-Werk Aktenstück 770 I. 52 (Bl. 240).
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chen“.6 In Wahrheit waren die Anfänge des Ansgariuswerkes in der Erzdiözese Köln wesentlich verwickelter und turbulenter als die vergleichsweise harmlose Formulierung des Zitates es erahnen lässt. Und wenn Louis als Gründungsdatum des Ansgariuswerkes (offenbar Köln einbegreifend) den 25. März 1926 angibt 7, so ist dieser Zeitpunkt wenigstens zum Teil Element einer Gründungslegende – noch 1927 streitet Bischof Müller die Existenz eines (deutschlandweiten, Köln einbeziehenden) „Ansgariusvereins“ rundheraus ab! Welches war der genaue Gang der Ereignisse?
2. Die Initiative des Aachener Fabrikanten Albert Schwinges Vom 26. Oktober 1921 ist ein Brief des Aachener Maschinen- und Textilfabrikanten Albert Schwinges an Kardinal Schulte datiert, in dem er, anknüpfend an seine Eindrücke von einer Reise nach Finnland, die Notwendigkeit der Förderung der skandinavischen Diaspora unterstreicht und hierzu eine eigene „Vereinigung“ vorschlägt, „und zwar unter der Schutzherrschaft von Euer Eminenz“.8 Wenngleich Schwinges die Bedürftigkeit der katholischen Kirche Finnlands sowohl in personeller wie in materieller Hinsicht betont, soll sich das von ihm vorgeschlagene Hilfswerk bald möglicherweise nicht auf ein Land Skandinaviens beschränken.9 Was die Aussichten eines solchen Projektes angeht, ist Schwinges zuversichtlich: „Es dürfte nicht so schwer sein, im Anschluss an unseren bewährten FranziskusXaverius-Missionsverein, unter geeigneter Unterstützung mit Rat und Tat durch Männer, die Land und Leute und die Verhältnisse kennen, eine derartige Stelle zu gründen“.10 Schwinges erklärt sich auch selbst zur Hilfe in dem ———— 6
7 8 9 10
Louis (wie Anm. 1), S. 7. – Karl Joseph Schulte, geboren auf Haus Valbert bei Oedingen (Kreis Meschede) 14.9.1871, Theologiestudium in Bonn, Münster und Paderborn; zum Priester geweiht 22.3.1895, Vikar und nebenamtlicher Religionslehrer in Witten / Ruhr. 1901 Repetent am Theologenkonvikt Paderborn, später Repetent am Priesterseminar. 3.3.1903 Dr. theol., 1905 Professor für Apologetik und Kirchenrecht. 30.11.1909 Wahl zum Bischof von Paderborn, 7.2.1910 päpstlich bestätigt, 19.3.1910 Konsekration durch Kardinal Fischer im Paderborner Dom. 12.4.1910 zugleich Administrator des Apostolischen Vikariates Anhalt.15.1.1920 Wahl zum Erzbischof von Köln, 8.3.1920 präkonisiert. Gestorben 10.3.1941 in Köln. Vgl. Ulrich von Hehl, art. Schulte, Karl Joseph: Erwin Gatz (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon (Berlin 1983), S. 680 - 682. Vgl. In obsequium Christi. Gedenkausstellung des Historischen Archivs des Erzbistums Köln zum 50. Todestag von Karl Joseph Kardinal Schulte am 10. März 1991. Katalog (Köln 1991), S. 112-115 (Zeittafel). Vgl. Louis, art. St.-Ansgar-Werk: LThK1 ( 11930), Sp. 472. Vgl. Schwinges an Schulte, 26.10.1921; Zitate Bl. 2. Vgl. ebd., Bl. 1- 3. Ebd., Bl. 2.
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ihm möglichen Rahmen bereit; aufgrund von Zeitmangel denkt der Fabrikant vor allem an finanzielle Opfer, die er aufbringen will.11 Beigeschlossen ist Schwinges’ Brief ein Schreiben des finnischen Monsignore Adolf Carling aus Terijoki vom 21. Oktober 1921, in welchem dieser um heilige Öle, Messwein, Kerzen und Andachtsbücher bittet.12 Man würde den Brief des Geschäftsmannes aus Aachen nicht zureichend erklären, wenn man nur sein „Armutserlebnis“ bei der kleinen Diasporakirche Finnlands als Motiv ansähe. Es handelt sich auch nicht um den rein religiös begründeten Impuls eines Katholiken, der aus einer Stadt stammt, die eine bedeutende missionarische Tradition und ein auf die Verbreitung des katholischen Glaubens bedachtes Bewusstsein besaß, das durch das Missionsschreiben „Maximum illud“ Papst Benedikts XV. von 1919 noch einmal geschärft worden war.13 Eigenartig ist vielmehr Schwinges’ patriotische Motivation für seinen Vorschlag. Die Katholiken Deutschlands sollen sich gerade aus nationalem Interesse um die Belange etwa ihrer finnischen Brüder und Schwestern kümmern, so durch Entsendung deutscher Ordensleute, außerdem seien deutsche Geistliche für den Dienst in der Seelsorge dort besser geeignet als holländische, die dort schon tätig waren. Schwinges schreibt: „Unsere hl. Kirche kennt keine Grenzen; aber wie es an sich nicht gleichgültig für unser Vaterland ist, besonders in dieser schweren Zeit, ob deutsche Ordensleute draussen in den Missionen sind oder nicht, so ist es auch gerade für Finland [sic!] nicht gleichgültig, wer dort Priester ist. Aus verschiedenen Gründen halte ich die Holänder [sic!] nicht so sehr für geeignet, obschon sie in Skandinavien in der letzten Zeit immer mehr neben unseren deutschen Herren der S.J. auftreten. Der deutsche Ordenspriester hat meiner Erfahrung nach eine ganz andere Auffassung der ———— 11 12
13
Vgl. ebd., Bl. 3. Carling an Schwinges, 21.10.1921. – Adolph Carling, geboren 22.11.1882, Finne, 14.9.1904 zum katholischen Glauben konvertiert, 1906 Eintritt in das Priesterseminar in St. Petersburg. Studium dort und als Alumne des Collegium Germanicum in Rom. Zum Priester geweiht 6.9.1911. Pfarrer in Viipuri ab 1.11.1911, daneben Pfarrer von Helsinki 4.7.1920 bis Juli 1921. 1921 Päpstlicher Geheimkämmerer. 1927-1945 Pfarrer in Terijoki (das zuerst zur Pfarrei Viipuri gehörte). 1939-1942 in Helsinki (während des Winterkrieges), ebenso nach dem [2. Welt-] Krieg dortselbst priesterliche Tätigkeit. 1943-1944 Militärgeistlicher. Gestorben in Helsinki am 9.6.1966. Bekannt auch durch seine literarische Tätigkeit. Vgl. auch Kalevi Vuorela, Finlandia Catholica. Katolinen kirkko Suomessa 1700 luvulta 1980 luvulle (Helsinki 1989): vgl. ders., Monsignore Adolf Carling. Suomalainen pappi ja pattriooti (Padasjoki 1993). Frdl. Auskunft der Bischöflichen Kurie in Helsinki, 28.9.2010. Carling oblag in Finnland zeitweise auch die Vertretung der Interessen des Hl. Stuhls: Vgl. Schwinges an Schulte (wie Anm. 8), Bl. 1; vgl. Carling an Schwinges (wie oben), Bl. 1 (im Briefbogen ist eingedruckt: „Mission Diplomatique du Saint-Siège en Finlande“). Papst Benedikt XV., Apostolisches Schreiben „Maximum illud“ v. 30.11.1919: AAS 11 (1919), S. 440 - 455.
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Tätigkeit dort oben, die bei den sehr ernst angelegten Völkern des Nordens viel besser angebracht ist. Dazu kommt noch, daß wir in Finland [sic!] einen ganz besonders treuen und dankbaren Freund haben, da doch Deutschland im Verein mit dem treuen finnischen Bürgertum als der Befreier von der Russischen [sic!] Gewaltherrschaft und dem drohenden Bolschewismus gilt.“ 14 Dergleichen Gedankengänge werden nur dem verständlich, der sich die in der Tat sehr schwierige außenpolitische Lage Deutschlands nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg vergegenwärtigt. Die Ächtung seines Vaterlandes durch die anderen Nationen hat bei Schwinges in einer Art Überkompensation zu der Auffassung geführt, dass auch in geistlicher Hinsicht „am deutschen Wesen noch einmal die Welt genesen“ werde! Möglicherweise hat Schwinges aber durch seine patriotische Argumentation sehr geschickt auch eine Seite im Herzen des als stark national bekannten Kölner Kardinals zum Klingen zu bringen versucht.15 Nun war andererseits schnell aufflammende Begeisterung die Sache des Sauerländers Schulte nicht. So ließ er auch Bedachtsamkeit walten. Es gibt kein Anzeichen, dass es zu einer Begegnung des Kölner Erzbischofs und dem Aachener Fabrikanten in der hier in Rede stehenden Angelegenheit jemals gekommen wäre, zu der Schwinges sich in seinem Brief gerne bereiterklärt hatte.16 Schulte behielt sich die Behandlung der Sache auch keinesfalls selbst vor, sondern delegierte sie an seinen Generalvikar Dr. Joseph Vogt.17 Dieser wandte sich seinerseits an Dr. Peter Louis als Generalsekretär des Franziskus-Xaveriusvereins „mit der Bitte um Prüfung, ob die Vorschläge des Herrn Schwinges durchführbar sind, und um Unterstützung von ———— 14 15
16 17
Schwinges an Schulte (wie Anm. 8), Bl. 2. Zu Schultes Patriotismus, der sich gerade angesichts der französischen Besetzung des Rheinlandes und dortiger separatistischer Tendenzen zeigte, vgl. Ulrich von Hehl, Karl Joseph Kardinal Schulte, Erzbischof von Köln (1871.1920.1941): In obsequium Christi (wie Anm. 6), S. 13-27, hier: S. 18. Vgl. Schwinges an Schulte (wie Anm. 8), Bl. 3. Joseph Vogt, geboren 8.9.1865 in Schmidt bei Monschau (Eifel), Theologiestudium in Bonn, Eichstätt und Köln; zum Priester geweiht 19.8.1888; Kaplan in (Wuppertal-)Elberfeld, St. Laurentius. 1889 Kaplan an der Anima in Rom, 1891 Dr. theol. et iur. can.; 1891 Domvikar in Köln, 1893 1899 Geheimsekretär von Kardinal Philippus Krementz. 1898 zugleich Professor am Kölner Priesterseminar (für Liturgik und Rubrizistik, seit 1899 für Kirchenrecht). 1900 Defensor matrimonii, 1905 Untersuchungsrichter beim Offizialat. 1914 Subregens, 1916 Domkapitular und Generalvikariatsrat. 1.6.1918 -1931 Generalvikar in Köln. 1922 Domdechant, 1930 Dompropst. 10.12.1930 Wahl zum Bischof von Aachen, 30.1.1931 päpstlich bestätigt. 19.3.1931 Konsekration im Kölner Dom. Gestorben am 5.10.1937 in Monschau. Vgl. Erwin Gatz, art. Vogt, Joseph: ders. (wie Anm. 6), S. 779. Vgl. Handbuch des Erzbistums Köln, 26. Ausgabe (1966), Bd. I. Geschichtlicher Teil, S. 67.
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Msgr. Carling durch Zuweisung von Meßwein, Kerzen usw. durch irgend einen [sic!] Wohltäter“ (7.11.1921).18 Louis ließ sich mit der Antwort viel Zeit. Sein direkt an Kardinal Schulte gerichtetes Schreiben datiert erst vom 6. Februar 1922. Vermutlich ist es aber sogar noch einen Monat später verfasst worden, denn es kam im Sekretariat des Kölner Erzbischofs erst am 11. März 1922 an.19 Wenn man Louis’ Zeilen sieht, tritt einem ein wohl nicht nur in der Kirche vorhandenes Phänomen vor Augen: Mag jemand auch für einen großen, manchmal vielleicht von ihm selbst sogar als übergroß empfundenen Aufgabenbereich zuständig sein, so ist seine Reaktion angesichts einer auch nur von ferne und als Möglichkeit sich anbahnenden Verkleinerung dieses Bereiches oder der Verringerung seiner Kompetenzen dennoch oft die der Abwehr. Hierfür werden dann freilich Sachargumente namhaft gemacht – die unter Umständen durchaus auch ihre Berechtigung haben. Louis teilt zuerst mit, dass er den neuernannten Apostolischen Präfekten (Administrator) von Finnland, Msgr. Buckx, im Sommer des zurückliegenden Jahres vor dessen Abfahrt in sein Bestimmungsland habe sprechen können.20 So stellt er sich als ausgezeichnet informiert dar. Dann schließt er an: „Die finnische Kirche empfängt Unterstützungen in der holländischen Vereinigung für die Nordischen Missionen (unter dem Protektorat des hochwürdigsten Herrn Bischofs von s’Hertogenbosch, Msgr. Diepen) und von der Propaganda. Der Franziskus-Xaverius-Missionsverein spendete 1921 auch M 15.100.- an Finnland. Ausserdem unterstützt die holländische Provinz der Priester vom hl. Herzen Jesu, der Msgr. Buckx angehört, die Präfektur und bestellte bei uns in Aachen noch vor kurzem für M 3.000.theologische Literatur, die wir nach Finnland sandten.“ 21 So ergibt sich für Louis die Folgerung: „Wenn sich ... Laien, wie Herr Albert Schwinges, für ———— 18 19
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Vogt an Louis, 7.11.1921 (Notiz auf dem Schreiben Schwinges’ [wie Anm. 8] an Schulte, Bl. 1). Louis an Schulte, 6. Februar [März] 1922. Der Datierungsmonat des Schreibens ist dort auf S. 1 mit einem Fragezeichen versehen. Vgl. ebd., S. 1. – Johannes Michael Buckx SCJ, geboren in Born, Diözese Roermond, 6.8.1881. 1899 Eintritt in das Noviziat der Herz-Jesu-Priester, Studium in Bergen op Zoom, Löwen und Rom. Zum Priester geweiht in Rom 9.6.1906. Doktor der Theologie; Seminarlehrer in den Niederlanden. 19091911 Tätigkeit in der Pfarrei Viipuri / Finnland; 1911-1916 in Schweden, einige Zeit in St. Petersburg. Lehrtätigkeit und Wirken als Rektor in Bergen op Zoom; Provinzial der holländischen Provinz der Herz-Jesu-Priester. 17.3.1921 Apostolischer Administrator von Finnland. 23.5.1923 Titularbischof von Doliche und Apostolischer Vikar von Finnland, 15.8.1923 in Helsinki konsekriert. Resignation 1933, verließ Finnland 1934. Danach bis 1942 Professor in Nijmegen. Gestorben am 22.9.1946. Vgl. Kalevi Vuorela, Finlandia Catholica (wie Anm. 12). Frdl. Auskunft der Bischöflichen Kurie in Helsinki, 28.9.2010. Vgl. auch Annuario Pontificio 1927, S. 290. 371. Louis an Schulte (wie Anm. 19). S. 1.
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die nordischen Kirchen interessieren, mögen Sie [sic!] ihre Gaben dafür an den Franziskus-Xaverius-Missionsverein abgeben, der jährlich Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland in seiner Gabenverteilung berücksichtigt.“ 22 Dessen Zentrale, die über das notwendige Know How beim Versand verfüge, sei „gerne bereit“, das für Finnland konkret und aktuell Gewünschte nach dort zu expedieren, jedoch, wie mit ein wenig Pedanterie angefügt wird, am besten an die Apostolische Präfektur in Finnland 23 – und nicht an Carling, letzteres offenbar um eine gerechte Verteilung zu ermöglichen, die oberste kirchliche Behörde in dem nordischen Land nicht zu umgehen und den Eindruck zu vermeiden, dass eine Einzelperson begünstigt werde. Der in ruhigem, sachlichen Ton gehaltene Brief Louis’ kreist im Grunde um einen einzigen zentralen Satz: „Ein eigener Verein für die nordischen Missionen in Deutschland dürfte kaum lebensfähig sein.“ 24 Der ganze weitere Brieftext unterstreicht, dass eine solche Vereinsgründung auch unnötig sei. Der Generalsekretär des Franziskus-Xaverius-Vereins hatte also gleichsam sein Revier verteidigt. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass der spätere langjährige Leiter des Ansgariuswerkes, der so stolz auf diese Initiative war, zunächst einmal alles getan hat, um ihre Realisierung zu verhindern. Der Generalvikar antwortete Albert Schwinges am 16. März 1922 unter fast wörtlicher Übernahme von Louis’ Ausführungen im Brief, der wahrscheinlich am 6. März verfasst worden war.25 Ganz offensichtlich hatte man in Köln kein Interesse, bestehende Vereine durch Neugründungen in ihrer Tätigkeit zu beeinträchtigen.
3. Bischof Johannes E. Müllers Bitte an Kardinal Schulte um Hilfe für die Diaspora Schwedens und die Beauftragung von Dr. Peter Louis Nach dem hier untersuchten Briefwechsel setzt die Aktenüberlieferung zum Kölner Ansgariuswerk erst vier Jahre später wieder ein. Am 3. April 1926 schreibt Bischof Müller an Kardinal Schulte, um sich für eine Überweisung ———— 22 23 24 25
Ebd., S. 1. Vgl. ebd., S. 1/2; Zitat: S. 2. Ebd., S. 1. Vgl. Vogt an Schwinges, 16.3.1922, Entwurf (auf dem Schreiben Louis’ an Schulte [wie Anm. 19], S. 1-2).
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von 2.000 RM von Seiten der Unio Cleri pro Missionibus zu bedanken.26 Dann bittet er den Kardinal um seine Erlaubnis, eine Predigtreise durch das Rheinland und Westfalen unternehmen zu dürfen, um auf diese Weise Geld für seinen Wirkungsbereich in der nordischen Diaspora sammeln zu können.27 Erklärend führt der Apostolische Vikar von Schweden aus: „Eminenz kennen die Lage meines Vikariates von meinen früheren Schilderungen, namentlich auch den ungeheuren Schaden, den das Vikariat durch die völlige Entwertung der 1917 in deutschen Papieren angelegten Stiftungsgelder und der ganzen angesammelten Summe für den Bau einer Birgitta-Kirche in Stockholm (zusammen mehr als 700.000 schwed. Kronen) erlitten hat. Dazu all die Reparationen der z.T. baufälligen Einrichtungen, an denen nichts mehr in den letzten Jahren geschehen ist, und die zahlreichenden [sic!] dringenden Bedürfnisse nach Verbesserung bes. für Schulen und Heime, nach Vermehrung von Stationen und Priestern.“ 28 Man erfährt, dass Müller offenbar im Jahr zuvor ebenfalls eine solche Serie von „Bettelpredigten“ in den Diözesen Köln und Trier gehalten habe, die einen Ertrag von 12.000 RM erbrachte. Der schwedische Bischof scheint mit sich im Umfeld des Kölner Erzbischofs oder unter den Präsides der großen katholischen Vereine erhebenden Einwänden zu rechnen, die 1922 dazu geführt hatten, dass die Initiative von Fabrikant Albert Schwinges nicht weiter verfolgt wurde. Deswegen schreibt er: „Dem Charakter meiner Predigten entsprechend, werden diese missionierend auf die Gemeinden wirken und so anderen Zwecken nicht schaden, sondern nützen.“ 29 Hier wird sehr deutlich, dass dem Widerstand gegen Vereinsneugründungen auch ein finanzielles Motiv innewohnte: Je mehr Vereine an den Geldbeutel der deutschen Katholiken Ansprüche zu stellen begannen, umso stärker musste der einzelne Verein – zumal in einer wirtschaftlich angespannten Zeit – um das ihm zufließende Spendenaufkommen fürchten. Weiter ist aus dem Brief Müllers an Kardinal Schulte eine Tatsache ersichtlich, die angesichts der Angelegenheit Schwinges überraschen mag: Dr. Peter Louis wird als Organisator von Bischof Müllers Predigtreise genannt! 30 Doch ist hier zu bedenken, dass der Kölner Priester sich als Generalsekretär des Franziskus-Xaverius-Vereins ja ohne weiteres auch der skan———— 26
27 28 29 30
Vgl. Müller an Schulte, 3.4.1926, S. 1. Über die Unio Cleri pro missionibus, bei der Louis zeitweise als Generalsekretär (für Deutschland) amtierte: vgl. Gottfried Dossing, art. Päpstliche Werke 5. Päpstliche Missionsvereinigung des Klerus: LThK 8 ( 21963), Sp. 54. Vgl. ebd., S. 1/2. Ebd., S. 2. Ebd., S. 2. Vgl. ebd., S. 1.
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dinavischen Diaspora angenommen und nur gegen eine Neugründung ausschließlich zum Zweck von deren Unterstützung aufgetreten war. Andererseits fragt man sich angesichts des zu Beginn dieser Arbeit Mitgeteilten, ob Bischof Müller Louis nichts davon gesagt habe, dass er an der Gründung eines Netzwerkes mit dem Charakter eines Vereins denke. Das erscheint als recht unwahrscheinlich. So findet man Dr. Peter Louis hier also doch in einer gegenüber 1922 deutlich veränderten Positionierung. Diese hat ihren Grund unter anderem darin, dass Louis im Frühjahr 1926 keine Verantwortung für den Franziskus-Xaverius-Verein mehr trug. Seit dem 5. März 1926 amtierte er als Deutschenseelsorger in Holland. Hinzu trat die Tatsache, dass Louis’ Ablösung vom Amt des Generalsekretärs im Franziskus-Xaverius-Verein wohl nicht ganz freiwillig erfolgt war.31 Louis’ Interesse an einem vorwärtsdrängenden, überregionalen Einsatz für die Ausbreitung des Reiches Gottes war aber nicht erloschen, und der Auffassung seiner Generation nach bedurfte es hierzu eines Vereins.32 Deswegen war es folgerichtig, dass er sich für Müllers Idee eines Ansgariuswerkes zu engagieren begann. Für die Gründungschronologie des (über die Erzdiözese MünchenFreising hinauswirkenden) Werkes ist eine weitere Beobachtung zu Müllers Schreiben an Kardinal Schulte in höchstem Maße aufschlussreich: Offensichtlich war eine „Missionstagung“ in Würzburg die Initialzündung für Dr. Peter Louis, sich in neuer Weise die Anliegen Bischof Müllers und seines Apostolischen Vikariates auf die Fahnen zu schreiben. Viel später, 1957, führt der schwedische Bischof aus: „[Louis’] Interesse für die Kirche im Norden wurde erstmalig geweckt, als er Generalsekretär des Päpstlichen Werkes der Glaubensverbreitung [Generalsekretär im Franziskus-XaveriusVerein] war. ... Die Diasporamission fristete ein armseliges Dasein, von der katholischen Welt allzu unbeachtet und vergessen. Dieser Eindruck wurde bei ihm noch verstärkt auf einer gemeinsamen Reise, die er mit mir und dem resignierten Erzbischof Fallize von Norwegen 1925 von Dresden nach ———— 31
32
Vgl. Günter Assenmacher, Nach Norden zu. Die deutschen Ansgarwerke und ihr Beitrag zur Diasporahilfe: Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken (Hg.), Diaspora: Zeugnis von Christen für Christen. 150 Jahre Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken (Paderborn 1999), S.167-181, hier: S. 172. Vgl. hierzu die Übersicht über das katholische Vereinswesen im Deutschland jener Zeit in der Finalrelation von Nuntius Eugenio Pacelli über die Lage der deutschen Kirche vom 18.11.1929: Eugenio Pacelli, Die Lage der Kirche in Deutschland 1929 (bearb. v. Herbert Wolf und Klaus Unterburger) = Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen, Bd. 50 (Paderborn-München-Wien-Zürich 2006), S. 172 -187. Pacelli nennt die Vereine in ihrer Gesamtheit „una bella dimostrazione della buona volontà e della viva operosità die cattolici della Germania“, das er als „paese classico dei Vereine “ erkennt (ebd., S. 172; Hervorhebung von Pacelli).
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Breslau [!] zum dortigen Franziskus-Xaverius-Missionstag unternahm, und ebenso bei unserer gemeinsamen Teilnahme am Deutschen Katholikentag in Breslau 1926. Bei diesen beiden Gelegenheiten konnte er sich hinreichend über die nordischen Verhältnisse orientieren, zumal ich eingehende Vorträge über die kirchlichen Verhältnisse in Schweden vor dem Missionsbund katholischer Frauen und Jungfrauen und vor den Jungmännern zu halten hatte und er mich außerdem teilweise auf einer Predigtreise in verschiedenen Städten Oberschlesiens begleitete. ... So vorbereitet ist im Jahre 1925 auch auf Wunsch und Bitten des Unterzeichneten durch Dr. Peter Louis das St.Ansgar-Glaubenswerk entstanden.“ 31 Jahre vor dieser – auch sonst durch mehrere „Fehlerinnerungen“ charakterisierten Aussage (die Missionstagung hat sich von Würzburg nach Breslau verschoben, Louis ist nur Teilnehmer, nicht Organisator der Predigtreise), gibt Müller dem Kölner Oberhirten indes keinen Hinweis auf die laut Louis’ späterer Angabe in der ersten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche am 25. März 1926 in Aachen angeblich stattgehabte Gründung des überörtlichen Ansgariuswerkes! 33 Wenn eine solche wirklich und förmlich erfolgt wäre, so hätte der Stockholmer Bischof Kardinal Schulte in einem nur Tage später verfassten Brief unzweifelhaft davon Mitteilung gemacht. Auch wenn für die Gründung ein privater Charakter postuliert wird, so konnte Müller keinesfalls daran gelegen sein, dass der Kölner Erzbischof von einer in seiner Diözese erfolgten Initiative vielleicht später höchstens auf Umwegen erfuhr. Wie sehr er auf Schultes Wohlwollen bedacht war, offenbart ja gerade sein hier untersuchter Brief ! Von hierher liegt der Gedanke nahe, dass Louis eine vielleicht wirklich in Aachen an Mariä Verkündigung 1926 erfolgte Besprechung zu einer „Gründungsversammlung“ nachträglich überhöht hat, wenn nicht die Angabe des Gründungstages mit dem 25. März auf einen geistlichen Wunsch zurückzuführen ist, das neue Werk unter den besonderen Schutz der Gottesmutter zu stellen.34 Kardinal Schulte, der seine Genehmigung von Müllers PredigtreiseGesuch am 14. April mit dem knappen Bemerken „Beantw. affirm(ative)“
———— 33
34
Vgl. Müller an Schulte (wie Anm. 26), S. 1. Johannes Erik Müller, Dr. Peter Louis †. Der Gründer und Präsident des St. Ansgarius Werkes: Jb 1957, S. 6 -10; hier: S. 7/8. – Johannes Olav Fallize, geboren in Betlingen, Luxemburg, 9.11.1844; 1871 Priester, 1887 Apostolischer Präfekt, später 1. Apostolischer Vikar für Norwegen und (1913) Spitzbergen, 1922 Titularerzbischof. Gest. am 23.10.1933 in Luxemburg. Vgl. Franz Baeumker, art. Fallize, Johannes Olav: LThK 4 ( 21960), Sp. 5. Das heutige Hochfest Verkündigung des Herrn gilt erst nachkonziliar als Herrenfest; vorher wurde es als Fest der Gottesmutter begangen.
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vermerkt 35, hatte damit aber auch Louis’ Bemühungen zum Wohl des Apostolischen Vikariates Schweden stillschweigend gebilligt, ohne zu ahnen, welche Richtung und welche Dimensionen dieses Engagement bald annehmen sollte. Für den weiteren Gang der Ereignisse sind wir auf eine Chronologie in einem späteren Schreiben von Dr. Peter Louis an Generalvikar Dr. Vogt angewiesen.36 Sie trägt rechtfertigenden Charakter, ist aber von Seiten des Kölner Generalvikariates, soweit wir sehen, in ihrer Wahrhaftigkeit nie bestritten worden. Offenbar im Kontext seiner Predigtreise durch das Rheinland machte Bischof Müller Kardinal Schulte einen Besuch in Großkönigsdorf bei Köln, wo der Erzbischof sich gerade aufhielt. Man schrieb Samstag, den 22. Mai 1926. Müller trachtete danach, einen Sachwalter für die Interessen der katholischen Kirche Schwedens in der Erzdiözese Köln zu gewinnen und hierzu das schon bewiesene Interesse Louis’ in ein überschaubares, aber dauerhaftes Engagement zu überführen. Dazu bedurfte es Schultes Zustimmung. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der von Müller nun hierzu unternommene Vorstoß beim Kölner Kardinal mit Louis abgesprochen oder von diesem sogar angeregt war, denn man hat davon auszugehen, dass der Kölner Priester die Stelle eines Deutschenseelsorgers in Holland nicht als den Endpunkt seiner priesterlichen Laufbahn ansehen wollte, vielmehr sich fähig fühlte, der Kirche auf einem „bedeutenderen“ Posten zu dienen. Wir wissen nicht, ob es Bischof Müller im Gespräch mit dem Kölner Kardinal in Großkönigsdorf nur um diesen einen Punkt ging. Jedenfalls hält Louis das für ihn selbst Wesentliche fest: „Dort fragten Se. Bischöfliche Gnaden [Müller] den Herrn Kardinal, ob es hochdemselben recht wäre, dass ich mich etwas um die Mission in Schweden bemühe. Se. Eminenz sagten ohne weiteres und ohne jede Einschränkung zu.“ Angesichts dieses Befundes wird man nicht sagen können, dass Dr. Peter Louis sich hinsichtlich des Engagements für die Kirche in Schweden Kompetenzen angemaßt hätte, die ihm nicht zustanden. Doch ist auch hier ein Ansgariuswerk noch nicht erwähnt. Am 23. Mai 1926, dem Tag nach der Unterredung zwischen Schulte und Müller, kam es zu einem Treffen zwischen letzterem und Louis, dem der ———— 35
36
Notiz von Schulte, 14.4.1926 (auf dem Schreiben Müllers an ihn [wie Anm. 26], S. 1). Man wird zu vermuten haben, daß Müller für seine geplanten Predigtauftritte in den von ihm genannten Orten außerhalb der Erzdiözese Köln die dortige kirchliche Autorität noch gesondert um Genehmigung gebeten hat. Vgl. Louis an Vogt, 28.3.1927, S. 2.
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schwedische Diasporabischof das Einverständnis des Kardinals übermittelte. Bei einer Audienz, die Louis in Sache der Deutschenseelsorge in Holland zwei Tage später beim Kölner Erzbischof hatte, wiederholte dieser seine Zustimmung zu Müllers Bitte auch noch einmal persönlich: „Bei dieser Gelegenheit sagte mir Seine Eminenz, dass der Bischof von Schweden bei ihm angefragt habe, ob ich mich etwas um die Mission in Schweden bemühen dürfe. Er habe dazu gerne seine Zustimmung gegeben. Der Bischof sei sehr arm, und er freue sich, wenn etwas für ihn geschehen könne.“ Bis zu diesem Punkt scheint also alles in bestem Einvernehmen zwischen Schulte, Müller und Louis gelaufen zu sein, nicht der Hauch einer Irritation ist spürbar. Dies blieb vermutlich auch während der ganzen restlichen Monate des Jahres 1926 so, wobei Louis zunächst wohl auch nicht viel Zeit für die nordische und schwedische Diaspora erübrigte. Müller ernannte ihn aber auf der Grundlage des Gesprächs mit Schulte zu seinem Prokurator im außerbayrischen Deutschland und bat ihn, noch eine nicht unwichtige Frage in diesem Zusammenhang mit dem Kardinal zu klären: „ob diese Beauftragung [als Prokurator] der Bischofskonferenz in Fulda mitgeteilt werden müsse“. Hierauf antwortete der Erzbischof in einem weiteren persönlichen Gespräch mit Louis am 20. Juli 1926 verneinend. Als Begründung gab Schulte an, Louis „werde doch wenig für diese Mission tun können“. Vermutlich hieße es, Dinge in die Aussage Schultes hineinzulesen, die nicht in seiner Absicht lagen, wollte man in ihr schon eine Art „Zurückrudern“ des rheinischen Metropoliten erkennen, so als gehe es ihm jetzt darum, nachdem er aus Courteoisie und Mitbrüderlichkeit einem anderen Bischof eine Bitte nicht schicklich hätte abschlagen können, die Reichweite von dessen Projekt doch zu begrenzen, um möglichst keinen „Schaden“ für bestehende Vereinsinitiativen entstehen zu lassen. Natürlich musste letzteres Schulte ein Anliegen sein, aber vermutlich sah er in Müllers Initiative tatsächlich noch nichts für irgendjemanden Gefährliches oder Beeinträchtigendes. Sie scheint Schulte über einen privaten Freundeskreis mit missionarischem Anliegen nicht weit hinauszugehen. Freilich zeigt sich bereits hier auch, dass der Kölner Oberhirte in der ganzen Angelegenheit des Ansgariuswerkes keinesfalls der große Impulsgeber, Anreger oder sogar bischöfliche Mitorganisator gewesen ist, der ein an ihn herangetragenes Anliegen zu seinem eigenen gemacht hätte, wie dies in anderen Punkten seiner über 20-jährigen bischöflichen Wirksamkeit in Köln sehr wohl der Fall war. Zu keinem Zeitpunkt trat Schulte aus dem Status eines freundlichwohlwollenden, doch im Übrigen passiven „Ermöglichers“ heraus. Selbst
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das bis dahin bewiesene Wohlwollen zu bewahren, fiel dem Kardinal spätestens ab 1927 zeitweise schwer. Denn das später unter dem Namen „Ansgariuswerk“ firmierende Projekt von Bischof Müller hätte in dem von Kardinal Schulte gewünschten Rahmen verbleiben können, wenn nicht ausgerechnet Dr. Peter Louis der Prokurator des schwedischen Oberhirten gewesen wäre. Dieser ambitionierte und auf Öffentlichkeitswirkung seiner Arbeit bedachte Priester hatte in der Leitung eines missionarisch orientierten, großen katholischen Vereins reiche Erfahrungen und Verbindungen gesammelt und wusste oder glaubte zu wissen, wie Projekte zur Glaubensverbreitung auf den Weg gebracht werden mussten. Eifer, Ehrgeiz, Bedachtsein auf Publicity, Kontakte und KnowHow – all das legte Louis von Anfang an in sein neues Engagement für Skandinavien in reichem Maße hinein. Seine Initiativfreudigkeit war kaum zu zügeln. Und so musste sein Engagement mit Schultes Vorstellungen kollidieren. Der Konflikt wurde dadurch mitverursacht, dass Louis sich Gegner schaffte beziehungsweise als Generalsekretär des FranziskusXaverius-Vereins sie sich schon geschaffen hatte; an einer für Louis charakteristischen Stelle brach er aus.
4. Die Irritationen von 1926/27 um „Ansgarverlag“ und Zeitschrift Es scheint, dass Rektor Karl Baums, Mitarbeiter beim Franziskus-XaveriusVerein, von einer Druckerei, bei welcher auch das von der mit dieser Gruppierung verbundenen „Unio Cleri pro Missionibus“ herausgegebene Periodikum „Priester und Mission“ hergestellt wurde, um die Jahreswende 1926 den Hinweis erhielt, Louis plane „eine Zeitschrift für die nordischen Missionen“, die allerdings in der Druckerei Kühlen in Mönchengladbach gedruckt werden solle.37 Der Informant, ein Herr Metz, war im August oder ———— 37
Notiz: „Betrifft Zeitschrift für die nordischen Missionen“ („für die Richtigkeit: Metz“), ohne Datum. Baums als Adressat wird durch die auf derselben Seite stehende „Notiz für Hochw. Herrn Rektor Baums“ nahegelegt. Aus der Notiz: „Betrifft Zeitschrift ...“ auch die folgenden Zitate. – Karl Joseph Franz Baums, geboren 22.9.1886 in Rheindahlen (heute Diözese Aachen); zum Priester geweiht 19.2.1910 in Köln, 26.2.1910 Kaplan in Düsseldorf, St. Elisabeth; 25.1.1916 Vizepräses des Katholischen Gesellen-Vereins Köln und Kaplan an der Minoritenkirche. Assistent am Generalvikariat. 19.5.1927 Rektor am Marienheim in Aachen (zugleich bei der Verwaltung des Franziskus-XaveriusVereins). 24.10.1929 Pfarrer in Düsseldorf-Eller, St. Gertrud, 1.10.1932 Diözesanpräses der Hausgehilfinnenvereine. Gestorben am 23.3.1937. Vgl. Handbuch des Erzbistums Köln, 23. Ausgabe (1933), S. 719; vgl. Handbuch des Erzbistums Köln, 24. Ausgabe (1954), S. 1039.
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September 1926 mit Louis zusammengetroffen und zwar gelegentlich einer Rücksprache über Korrekturen zu „Priester und Mission 1926“. Möglicherweise hatte Louis die entsprechende Betreuung des Jahrbuchs für 1926 noch zugesagt. Eher beiläufig scheint man dann auf die andere Zeitschrift, die für die nordische Diaspora, zu sprechen gekommen zu sein. Metz schreibt in einer Aktennotiz: „Auf meine Bitte hin, die Zeitschrift [für die Diaspora im Norden] bei uns drucken zu lassen, wollte er [Louis] nicht eingehen.“ Vielleicht war eine gewisse Verärgerung des Druckereimitarbeiters darüber der Auslöser, die Angelegenheit am nächsten Tag mit seinem Vorgesetzten, Direktor Vogtmann, zu besprechen. Metz schreibt: „Herr Vogtmann war der Ansicht, ein Drucken der Zeitschrift in unserem Betriebe wäre nicht angebracht. Die Angelegenheit fand hiermit ihre Erledigung und von beiden Seiten galt die Sache als erledigt“. Letzteres darf bezweifelt werden. Vogtmann wollte offenbar die Interessen eines wichtigen Kunden, der „Unio Cleri“ beziehungsweise des Franziskus-Xaverius-Vereins, nicht dadurch gefährden, dass er den Druck einer Zeitschrift übernahm, die zu deren Publikationen und Anliegen konkurrierend auftrat. Vielleicht ging diese Loyalität dann aber soweit, dass sie die Mitteilung an Baums veranlasste. In einer weiteren „Notiz für Hochw. Herrn Rektor Baums“ notierte der eifrige Metz, vielleicht auf Geheiß Vogtmanns, zusätzliche „Vergehen“ Louis’ mit fast kriminalistischer Akribie. Der an diesem Punkt arglose Priester, der am 12. Dezember 1926 als Pfarrer an St. Stephanus in LeverkusenBürrig eingeführt worden war, nutzte weiter seine Geschäftskontakte zu der Aachener Druckerei, der er suspekt geworden war. Metz hält fest: „Am 26. Dezember 1926 bestellte Herr Dr. P. Louis 1.000 4o Briefbogen, 1.000 8o Briefbogen, 500 Schreibmaschinenkarten, 1.000 4o Briefumschläge, 500 gelbe Aktenumschläge, 100 längliche Aktenumschläge. Die Drucksachen waren zum Teil für die Kath. Kirchengemeinde Bürrig und zum Teil für die nordischen Missionen bestimmt.“ 38 Dass es sich hier um Bestellungen von bedrucktem Papier, mindestens mit entsprechenden Briefköpfen, vielleicht aber auch mit Propagandatexten handelte, wird noch einmal bestätigt durch den von Seiten der Druckerei erfolgten ablehnenden Bescheid an Louis vom 4. Januar 1927, den Metz Baums ebenfalls abschriftlich mitteilt. Darin heißt es: „Beifolgend sende ich Ihnen [Louis] die Manuskripte für die Drucksachen zurück, da es nicht möglich ist, Drucksachen für auswärts in unserer Druckerei herzustellen“.39 ———— 38
39
„Notiz für Hochw. Herrn Rektor Baums“ (das „für die Richtigkeit: Metz“ wird sich auch hierauf beziehen), ohne Datum. Ebd.
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Da sich Metz’ Notizen in den Akten des Kölner Generalvikariates finden, dürften sie von Baums dort eingehändigt worden sein. Ein Beischreiben hat sich nicht erhalten, aber offenbar fürchtete Baums – wie Louis fünf Jahre zuvor! – um den Einflussbereich des Franziskus-Xaverius-Vereins. Außerdem hat er wohl auch Louis’ Tun insgesamt kritisch betrachtet, nachdem dessen Wirken in Aachen auch die Grenzen dieses Priesters offenbart hatte. Die Herausgabe einer neuen Zeitschrift zur Unterstützung der nordischen Diaspora, überhaupt eine schriftliche Werbung im größeren Stil in diesem Anliegen, war nun genau die Art von Propaganda, die von Kardinal Schulte und der Kölner Kurie mit Rücksicht auf schon vorhandene Vereinsinitiativen nicht gewollt war. Umgekehrt ist es bezeichnend, dass Louis seine Tätigkeit als Prokurator gerade mit der Herausgabe von gedruckter Werbung beginnen wollte; sie besaß nach seiner Auffassung einen schlechthin unersetzbaren Wert. Er mochte sich in seinem Tun durch die mündliche, umfassende Zusage des Kölner Erzbischofs gedeckt sehen, die Louis’ Einsatz für Schweden keine Beschränkungen auferlegte. Schulte war davon ausgegangen, dass es sich darum handelte, „etwas“ für Schweden zu tun, um eine bescheidene Hilfsmaßnahme also; Louis pflegte seinen Einsatz für die nordische Diaspora – mit ein wenig Understatement – ebenfalls als „bescheiden“ zu charakterisieren. Die Definitionen von Bescheidenheit gingen aber zweifellos weit auseinander. Obwohl ein Konflikt auf Dauer erahnbar gewesen wäre, scheint es Louis wie einen Blitz aus heiterem Himmel getroffen zu haben, als ihn unter dem 24. Januar 1927 zwei Schreiben des Erzbischöflichen Generalvikariats Köln erreichten. Das eine von ihnen, unterzeichnet von Prälat Otto Paschen, bestand nur aus einem einzigen Satz: „Ew. Hochwürden untersagen wir stricte im Auftrag S. Eminenz, die Gründung eines Ansgarverlages oder eines ähnlichen Unternehmens einzuleiten.“ 40 In dem anderen wurde Louis die Weisung erteilt, nicht in die Deutschenseelsorge in Holland mehr einzu———— 40
Paschen an Louis, 24.1.1927. – Joseph Otto Klemens Paschen, geboren 27.7.1873 Düren (heute Diözese Aachen); zum Priester geweiht 2.7.1896 in Köln. 7.7.1896 Kaplan in (Wuppertal-) Elberfeld, St. Laurentius; 26.6.1899 Religionslehrer und 1.6.1900 Oberlehrer am Kaiser-Karl-Gymnasium in Aachen; 13.10.1903 Direktor des Collegium Leoninum, 27.8.1907 Direktor des Collegium Albertinum in Bonn. 21.8.1912 Pfarrer in Aachen, St. Adalbert. 2.2.1918 Stiftsherr am Liebfrauenmünster in Aachen; 24.9.1920 Generalvikariatsrat in Köln, 30.9.1920 Prosynodalrichter. 28.3.1921 Domkapitular, 11.1.1922 Großpönitentiar. 31.5.1923 Päpstlicher Hausprälat. 17.5.1930 Domdechant, 13.3.1931 Dompropst. Apostolischer Protonotar. Gestorben am 26.9.1947. Vgl. Hdb Köln 1933, S. 801; Hdb Köln 1954, S. 1047.
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greifen.41 Zugleich erging ein Schreiben des Generalvikariats an Bischof Müller in Stockholm, das folgenden bezeichnenden und erhellenden Inhalt hat: „Ew. Bischöfl. Gnaden bitten wir im besondern [sic!] Auftrag Sr. E. d.(es) H. H. K.(ardinals) u. Eb.(Erzbischofs) v. Köln ehrerbietigst und dringendst, sich des Herrn Pfarrers Dr. Louis in Bürrig für die Propaganda der schwedischen Missionen nicht mehr bedienen zu wollen. S. Eminenz haben die begründete Furcht, das [sic!] der modus procedendi, den Herr Dr. Louis wahrscheinlich anwende, zu schweren Unstimmigkeiten mit den bestehenden Missionsvereinen führen werde.“42 Es ist schon aus zeitlichen Gründen klar, dass das Projekt der Zeitschrift für die nordische Diaspora, das Louis plante, beziehungsweise vermutlich eine Beschwerde von Rektor Baums, der Auslöser für den bedeutenderen Teil der massiven Rüge des Kölner Priesters seitens des Kölner Ordinariates war. Was die kirchliche Behörde zu dem Rüffel hinsichtlich eines angeblichen Einmischen Louis’ in die deutsche Seelsorge in Holland nach seinem Weggang veranlasst hat, ist hier nicht Thema, doch scheint auch in diesem Fall ein Hinweis von Baums zugrundegelegen zu haben, der, als Louis, seiner eigenen Unschuld sicher, um eine Erklärung bittet, von Köln gebeten wird, dem Ordinarius Aufschluss zu geben. In einem Brief an das Generalvikariat in Köln vom 30. Januar 1927 bringt Louis sein völliges Unverständnis hinsichtlich der beiden gegen ihn erhobenen Vorwürfe bezüglich des angeblichen Gründungsvorhabens eines Ansgarverlages und Einmischung in die Deutschenseelsorge in Holland zum Ausdruck und schließt mit der lapidaren Bemerkung: „Mir ist von allen diesen Dingen nichts bekannt“.43 Den Briefstil Louis’ wird man hier korrekt, aber keineswegs unterwürfig nennen können; man gewinnt den Eindruck eines Menschen, der von einer Rüge, die er nicht verdient hat, völlig überrascht ist, andererseits aber im Umgang mit seiner vorgesetzten Behörde bereits einige Erfahrungen gesammelt hat. Seltsam mutet es an, dass die Beantwortung von Louis’ Schreiben dem Generalvikariat Schwierigkeiten bereitete. Der Prokurator Bischof Müllers hatte nachgefragt, wo er sich konkret schuldig gemacht habe. Es dauerte über zwei Wochen, bis am 16. Februar Generalvikar Dr. Vogt Rektor Baums vertraulich bat, Louis’ Fragen „uns baldigst beantworten zu wollen“.44 Bis zu ———— 41 42 43 44
Der Text dieses Schreibens – J. Nr. 314 – hat sich nicht erhalten. Paschen an Müller, 24.1.1927. Louis an Generalvikariat Köln, 30.1.1927. VOGT an Baums, 16.2.1927 (Notiz auf dem Schreiben Louis’ an Generalvikariat [wie Anm. 43]); vgl. Louis an Generalvikariat (wie Anm. 43).
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diesem Zeitpunkt hatte man in Köln von Baums offensichtlich nur mündliche Mitteilungen erhalten; vielleicht sind nun erst Metz’ Aktennotizen an das Generalvikariat eingesandt worden und dienten als Grundlage für ein Erwiderungsschreiben Vogts an Louis, das nach zwei weiteren Wochen erst, am 2. März, dafür aber in umso schärferer Form erging, wobei die Begründung dürftig blieb. Vogt schreibt: „Auf die Ihnen unter dem 24. Jan. d.J. im Auftrag Sr. Eminenz erteilten Weisungen, die Gründung eines Ansgarverlages nicht einzuleiten u. sich jeder Art des Eingreifens in die Deutschen Seelsorge [sic!] in Holland zu enthalten, glaubten Sie, uns erwidern zu müssen, daß Ihnen von all diesen Dingen nichts bekannt sei. Wir sind entrüstet über Ihr Schreiben vom 30. Januar d.J., da S. Eminenz auf gute Gründe Ihnen die Mahnungen vom 24. Jan. d.J. übermitteln ließ.“ 45 Im Grunde steht hier Entrüstung anstelle einer sachlich orientierten Zurechtweisung. Erachtete man das von Baums gelieferte Material doch als für nicht ganz durchschlagend oder hatte, was wahrscheinlicher ist, Baums gebeten, ihn Louis gegenüber als Informanten nicht preiszugeben, weil dieser im Umfeld des Franziskus-Xaverius-Vereins möglicherweise noch Freunde besaß, mit denen Baums es sich nicht verderben konnte? Die „guten Gründe“ von Kardinal Schulte wurden jedenfalls nicht offengelegt. Allerdings waren dem Generalvikariat der Entwurf zu Titelblatt und Inhaltsverzeichnis einer Publikation „Credo. Jahrbuch der katholischen Kirche Nordeuropas“ nachträglich noch zugespielt worden. Es war über den späteren Münchner Domkapitular und Weihbischof Neuhäusler an den nunmehrigen Generalsekretär des Franziskus-Xaverius-Vereins Johannes Joseph van der Velden gelangt „unter der Mitteilung, daß Bischof Müller das Manuskript des Jahrbuchs an Neuheusler [sic!] geschickt habe“.46 Sah Neuhäusler ———— 45 46
Vogt an Louis, 2.3.1927 (Entwurf). Titelblatt und Inhaltsverzeichnis. Auf dem Titelblatt die handschriftliche Notiz: „Blatt geschickt von Neuheusler [sic!] – München an J.van d.Velden unter der Mitteilung, daß Bischof Müller das Manuskript des Jahrbuches an Neuheusler [sic!] geschickt habe.“ Die nachfolgenden Zitate beziehen sich auf das Titelblatt. – Johannes Neuhäusler, geboren 27.1.1888 in Eisenhofen / Pfarrei Hirtlbach (Landkreis Dachau); Philosophiestudium in Freising, Theologiestudium in München; zum Priester geweiht 29.6.1913 in Freising; Koadjutor in Oberaudorf / Inn; 1917 zweiter Präses im Zentralgesellenhaus München, 1918 Zentralsekretär und -kassierer des Ludwig-Missions-Vereins in München, 1923 dessen Präsident. Präsident des Landeskomitees für Pilgerfahrten. 1932 Domkapitular, 1933 kirchenpolitischer Referent. 1933 und 1941-1945 von den Nationalsozialisten inhaftiert. 8.2.1947 Titularbischof von Calydonien und Weihbischof in München und Freising. 20.4.1947 in München, Ludwigskirche, konsekriert. 1955 -1972 Dompropst, 1961-1962 Generalvikar. Päpstlicher Thronassistent. Gestorben am 14.12.1973 in München. Vgl. Anton Landersdorfer, Neuhäusler, Johannes: Erwin Gatz (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945 - 2001. Ein biographisches Lexikon (Berlin 2002), S. 398/399. – Johannes Joseph van der Velden, geboren 7.8.1891 in Übach
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sich verpflichtet, van der Velden zu warnen – selbst auf die Gefahr hin, einem Mitbruder, der derselben Diözese wie er entstammte, eben Bischof Müller, Schwierigkeiten zu bereiten? Wenn man bedenkt, dass Neuhäusler Präsident des Ludwig-Missions-Vereins in München war, gewinnt die Theorie einer von seiner Seite erfolgten kollegialen Warnung der Verantwortlichen des Franziskus-Xaverius-Vereins stark an Wahrscheinlichkeit. Es gehört angesichts des Argwohns des Franziskus-Xaverius-Vereins bezüglich der Initiativen von Dr. Peter Louis für die nordische Diaspora nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, dass der Münchner Ansatz eines Hilfskreises für Bischof Müller dortige für die Unterstützung der Mission Verantwortliche beunruhigt hat, die, populär gesprochen, um ihre „Erbhöfe“ bangten. Van der Velden gab den Entwurf zum „Credo“-Jahrbuch jedenfalls an das Kölner Generalvikariat weiter. Er war aufschlussreich und in der Tat geeignet, in Köln die Alarmglocken zum Klingen zu bringen. Das „Credo“-Jahrbuch sollte als Untertitel haben: „Lage, Geschichte und Entwicklung der katholischen Kirche in Island, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und den baltischen Staaten. 1927.“ Dann fanden sich weiter die Angaben: „Unter Gutheissung und Mitwirkung des Apostolischen Vikars von Schweden Bischof Dr. Johannes Eric Müller herausgegeben von Dr. Peter Louis, Pfarrer, Prokurator für das Apostolische Vikariat Schweden.“ Im unteren Bereich der Titelseite stand zu lesen: „Das Jahrbuch ist zugleich Organ des St. Ansgariusvereins. Verlags des St. Ansgariusvereins in Küppersteg-Bürrig. Druck der Kunstanstalt B. Kühlen, München-Gladbach [sic!].“ Generalvikar Dr. Vogt konnte in seinem Brief an Louis vom 2. März anklagend zumindest auf all dies hinweisen. Hier stand ihm endlich verwertbares Kanonenfutter zu Gebote, das ihm Louis’ Beteuerungen vom 30. Januar, er habe die Gründung eines Ansgariusverlages nicht betrieben, als blanke Lüge erscheinen ließ. So schließt Vogt seine Philippika an Louis mit der schneidenden Schlussbemerkung: „Sie werden unter diesen Umständen ———— (Kreis Geilenkirchen), Theologiestudium in Bonn und Köln; zum Priester geweiht 24.6.1915 in Köln; Kaplan in Frielingsdorf; 1916 Kaplan in Mönchengladbach, St. Bonifatius; 1920 Rektor in Rheydt, St. Franziskus; 1926 Generalsekretär des Päpstlichen Werkes der Glaubensverbreitung, Aachen; 1929 Generaldirektor des Volksvereins für das katholische Deutschland, Mönchengladbach; 1933 wieder Generalsekretär des Päpstlichen Werkes der Glaubensverbreitung, im selben Jahr dessen Vizepräsident. 1938 Regens in Aachen. 26.7.1943 Wahl zum Bischof von Aachen, 7.9.1943 päpstlich bestätigt, 10.10.1943 Konsekration im Aachener Dom. Gestorben 19.5.1954, Krefeld. Vgl. Erwin Gatz, art. Velden, Johannes Joseph van der: ders. (wie Anm. 6), S. 771-774. – „Credo“ ist nicht zu verwechseln mit dem späteren gleichnamigen katholischen Periodikum in Schweden: vgl. Peter Louis, Der Stand der katholischen Kirche im Norden 1956: Jb 1956, S. 3- 4, hier: S. 3.
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verstehen, daß bei uns Zweifel an Ihrer Wahrhaftigkeit wachgerufen wurden.“47 Man hat anzunehmen, dass Vogt den Wortlaut seines Briefes mit Kardinal Schulte abgestimmt hat, wie es ja auch in den Briefen vom 24. Januar um Übermittlung von „im Auftrage Sr. Eminenz erteilten Weisungen“ gegangen war. Das „Wir“ in der Entrüstungskundgabe Vogts scheint auch die Stimmungslage des Kölner Erzbischofs mit einzuschließen. Der Kölner Groll betraf aber nicht nur Pfarrer Dr. Peter Louis. Er drohte auch Bischof Müller mit einzubeziehen, der letzteren ja mit der Wahrnehmung der Prokuratur für Schweden beauftragt hatte. Verschnupft registrierte Vogt unter gleichzeitiger Kenntnisgabe des Schreibens an Louis am 2. März Müller gegenüber, dass der Stockholmer Bischof bislang auf das an ihn gerichtete Schreiben vom 24. Januar noch nicht geantwortet hatte, in welchem Müller im Grunde um Entzug der Prokuratur für Louis gebeten worden war.48 Wie ein Donnergrollen des Verdachtes, Müller könnte mit dem Bürriger Pfarrer unter einer Decke stecken, klang es, wenn Vogt jetzt an den nordischen Bischof schrieb: „Wir wären Ew. Bischöfl. Gnaden zu Dank verpflichtet, wenn Sie die Güte hätten, uns über den Verlag des St. Ansgariusvereins u. über das angeblich von Dr. Louis unter Ew. Gnaden Gutheißung vorbereitete Jahrbuch ‚Credo‘ eine Aufklärung zu geben.“ 49 Es zeugt von ausgeprägtem Selbstbewusstsein des Kölner Generalvikariats, dass hier ein auswärtiger Bischof, der nicht einmal der Kölner Kirchenprovinz zugehörte, wenn auch in milder, so doch deutlicher Form gleichsam zur Rechenschaft gezogen wurde, dazu in einer Angelegenheit, nämlich der Förderung der Diasporakirche Schwedens, in der dieser Bischof und sein Sachwalter von Kardinal Schulte gleichsam eine Blankovollmacht erhalten hatten – freilich unter der Annahme, dass ihre Aktivitäten über ein gewisses Maß nicht hinausgingen. Bischof Müller konnte sich Köln gegenüber eine entschiedenere Entgegnung nicht leisten; er war darauf angewiesen, dass ihm aus dem katholischen Rheinland Fördermittel zuflossen. Insofern blieb ihm nur ein Mittel, das er auch in späteren Jahren geschickt zu handhaben wußte 50: den geplagten Missionsbischof darzustellen, der in hohem Maße der Unterstützung bedurfte und sich deswegen zu Bitten, ja Forderungen berechtigt sah. Da die ———— 47 48 49 50
Vogt an Louis (wie Anm. 45). Vgl. Vogt an Müller, 2.3.1927 (Entwurf). Ebd. Der Brief wurde per Einschreiben abgesandt. Vgl. z.B. Klaus-Peter Vosen, Zusammenspiel für die Kirche im Norden. Pfarrer Dr. Peter Louis, Gründer und „Generalprokurator“ des Kölner Ansgariuswerkes im Briefwechsel mit Bischof Johannes Erik Müller. 1937-1951: Jb 2008, S. 15 - 27.
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Not der nordischen Diaspora Faktum war, verbargen sich hinter aller Rhetorik aber durchaus Bestände von Müllers innerster Überzeugung. Im Verlauf seiner Darlegungen wies der Bischof aus Stockholm dabei übrigens durchaus darauf hin, wo die Kölner erzbischöfliche Behörde seiner Ansicht nach falsch lag. Jetzt war Müller jedenfalls auf eine schnelle Beantwortung von Vogts Schreiben bedacht. Seine ausführliche Erwiderung stammt vom 8. März 1927.
5. Müllers Kampf um Louis als Prokurator und Herausgeber Nachdem er das bisherige Ausbleiben seiner Antwort krankheits- und dienstbedingt erklärt hat, außerdem mit der „Schwierigkeit, die Sache von hieraus zu beurteilen und zu einer klaren Auffassung zu kommen“51 – ein Hinweis darauf, dass er sich in der Zwischenzeit über die Angelegenheit mit Louis vielleicht brieflich hatte austauschen wollen – geht der Apostolische Vikar von Schweden sofort in medias res. Enttäuschung, Traurigkeit, Betroffenheit ist den überlangen Sätzen gerade am Anfang von Müllers Schreiben zu entnehmen. Dort heißt es: „Ich hatte mich sehr gefreut, nach dem Gedankenaustausch mit Sr. Eminenz Kardinal Schulte im Mai voriges [sic!] Jahres, wo ich ein so wohltuendes Verständnis für meine Lage und Bedürfnisse fand, in H. H. Dr. Louis eine geeignete Person gefunden zu haben, der ich eine Procura für die kath. Mission in Schweden geben kann, mit der Aufgabe das Interesse für diese wichtige und hoffnunggebende Mission zu wecken und in bescheidenem Maße und ohne andere berechtigte Interessen zu verletzen, Mittel zu gewinnen, die mir helfen, die schreienden Bedürfnisse meiner Mission einigermaßen zu befriedigen und ihre Einrichtungen so zu unterhalten und zu fördern, wie es Zeit und Umstände, die Zivilisation des Landes und das Ansehen unserer Kirche erfordern, überhaupt meinem Missionsund Diasporaland das zu sein, was alle Missionsgesellschaften und wohl alle Apost. Vikare, außer mir, in ihrer Prokura haben, ein Herz, das in der Heimat an sie denkt und für sie sorgt, auch wenn sie draußen in der Ferne weilen und wirken. Daher kommt mir nun die Bitte mich des Herrn Pfarrers Dr. Peter Louis in Bürrig nicht mehr für die Propaganda der schwedischen Mission zu bedienen, als schmerzliche Überraschung und neue Prüfung, jetzt wo er beginnen sollte.“ 52 ———— 51 52
Müller an Generalvikariat Köln, 8.3.1927, S. 1. Ebd., S. 1/2.
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Müller lässt hier unbegrenztes Vertrauen zu Louis erkennen, den er für seine Prokuratorenaufgabe für „geeignet“ hält. Übrigens erscheint der Umfang der Prokura, das, was sich der schwedische Bischof als Ausmaß von Louis’ Tätigkeit vorstellt, hier doch recht bedeutend. Köln kann seinen Verdacht bis zu einem gewissen Grade genährt sehen, dass so die Interessenssphären anderer Vereinigungen sehr wohl berührt werden, trotz gegenteiliger Beteuerungen und wohl auch ehrlicher Absichten Louis’. Klar wird dem Kölner Generalvikariat Kardinal Schultes an dieser Stelle aber auch geworden sein, dass Louis mit seinem Expansionsdrang sich durchaus auf ein Einverständnis mit Müller berufen konnte. Müller zeigt sich durch die gegen Louis erhobenen Vorwürfe auch selbst getroffen. Er hätte sich sehr wohl, lässt der Bischof durchblicken, in der Lage gesehen, diesem bei unguten Verhaltensweisen als sein Vorgesetzter in der Prokuratur in die Schranken zu weisen: „Ich brauche wohl nicht zu versichern, daß ich, dem an immer vertrauensvollen Zusammen-Arbeiten mit den bestehenden verdienten, von mir so hochgeschätzten Missionsvereinen überaus gelegen ist und gelegen sein muß, Alles [sic!] aufgeboten hätte, um Dr. Louis zu einem loyalem [sic!], korrektem [sic!], untadeligem [sic!] Arbeiten anzuhalten.“ 53 Mit diesen klaren Stellungnahmen zur Personalangelegenheit Louis hat Müller deutlich gemacht: Es gibt für ihn nicht den geringsten Grund, sich von dem Bürriger Pfarrer zu trennen. Louis erfährt hier, am Beginn ihrer Zusammenarbeit, von dem schwedischen Bischof eine so vollständige Loyalität und Solidarität, wie sie ihm in späteren Jahren oft erwünscht gewesen wäre. Der Apostolische Vikar von Schweden ist sich freilich bewusst, dass Louis Kölner Diözesanpriester ist, damit Kardinal Schulte zuerst untersteht, und er, Müller, nicht im Gegensatz zum Kölner Erzbischof, gegen dessen erklärte „Bitte“, auf einer Tätigkeit des Bürriger Pastors für die schwedische Diaspora bestehen könnte. So bringt er in einem klugen Schachzug seinen Willen zum Ausdruck, auf Louis zu verzichten, falls das Kölner Generalvikariat trotz aller Gegenargumente darauf bestehe, knüpft daran jedoch eine für Köln auf die Schnelle kaum zu erfüllende Bitte: „Wenn aber das Erzbischöfl. Ordinariat ihn [Louis] dauernd für hierzu [zum untadeligen Einsatz für die schwedische Diaspora] ungeeignet halten sollte, so bin ich selbstverständlich gerne bereit von Herrn Dr. Louis trotz seines warmen Interesses für die nordischen Missionen und seiner Gewandtheit in ein———— 53
Ebd., S. 2.
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schlägiger Arbeit abzusehen, möchte aber das hochwürdigste Generalvikariat ergebenst und vertrauensvollst bitten, es möchte mir zum Ersatz einen anderen eifrigen und geeigneten Priester als Prokurator in Deutschland (ausser [sic!] Bayern) gewinnen.“ Müller betont die besondere Notwendigkeit einer solchen Prokura für die schwedische Diaspora. Wenn durch die Prokura in Deutschland nicht ungefähr 15.000 RM für die Arbeit der katholischen Kirche in Schweden aufgebracht würden, sei die Arbeit des Apostolischen Vikars im Grunde unmöglich gemacht. „Ich müßte“, schreibt Müller „[in diesem Fall] daran denken, mein Amt, das ich seinerzeit aus Liebe zur Kirche unter großen persönlichen Opfern übernommen habe, in die Hände des Hl. Stuhles zurückzulegen, damit an meiner Stelle ein Apostol. Vikar ernannt wird, der in seiner Heimat oder in seinem Ordens- oder Missionshause eine Stelle hat, die seine Tätigkeit stützt und ihm die Mittel zur Verfügung stellt, welche der Verein der Glaubensverbreitung nicht geben kann.“ 54 Im Kölner Generalvikariat dürfte man sich ob dieser Briefpassage massiv unter Druck gesetzt gefühlt haben. Warum sollte ausgerechnet das Erzbistum Köln Müller den gewünschten Prokurator stellen? Konnte sich der skandinavische Oberhirte nicht an ein anderes deutsches Bistum wenden? Es war anzunehmen, dass er das pikanterweise nicht beabsichtigte, weil Köln ihm von seiner Finanzkraft her die verlockendste Option war und weil nach hierher schon Kontakte bestanden, die andererseits grundsätzlich aber auch nach Münster oder Trier geknüpft werden konnten, wenn es denn unbedingt ein westdeutsches Bistum sein musste, das der schwedischen Diaspora auf die Beine half. Andererseits konnte man von Seiten des Kölner Metropolitansitzes einen deutschen Diasporabischof, mochte man ihm auch grollen, nicht einfach im Regen stehen lassen, wobei man dann unter Umständen noch an seinem Rücktritt vom Bischofsamt – Müllers schwerste Drohung! – mitschuldig wurde. Wenn man einen Eklat vermeiden wollte, blieb nichts anderes übrig, als ihm einen Prokurator zu stellen. Wo aber sollte man diesen hernehmen, wenn man Louis, wie es Schultes und Vogts Absicht war, sofort aus der Prokuratur entlassen sehen wollte? Köln konnte auch einen Prokurator im Rahmen des ausgedehnten Tätigkeitsprofils, das Müller für nötig erklärt hatte, nicht wünschen. Dieser hatte ja zudem in unverhüllter Form noch einmal deutlich gemacht, worum es bei der ganzen Angelegenheit im tiefsten ging: Die Förderung, die das Apostolische Vikariat Schweden vom „Verein der Glaubensverbreitung“, gemeint ist hier der Franziskus-Xaverius-Verein, empfing, wurde von Müller als nicht ———— 54
Ebd., S. 2/3.
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ausreichend angesehen, weswegen es ihm um ein Fundraising speziell für die nordische Diaspora ging, das aber tendenziell natürlich in der Gefahr stand, anderen missionarisch orientierten katholischen Vereinen Geldquellen zu entziehen. War es angesichts dieser schwierigen und delikaten Situation nicht das Beste, Louis zunächst einmal in seinem Amt zu belassen, vielleicht mit einer scharfen Erinnerung, in allem auf ein möglichst konkurrenzfreies Miteinander mit den anderen Missionsvereinen bedacht zu sein? Denn Müllers Aussage, dass er „gerne“ auf seinen Prokurator Louis verzichten wollte, wenn dies der Wunsch des Kölner Generalvikariats sei, wie er im Brief angab, musste jedem bei ernsthafter Lektüre des Briefes als das erscheinen, was sie wirklich war: ein bloßes taktisches Manöver, eine rhetorische Figur. Dies wurde noch einmal bestätigt durch die sich anschließende Bemerkung über das Jahrbuch „Credo“, das Geschichte und Tätigkeit der katholischen Kirche in Nordeuropa fokussieren sollte. Müller schreibt bezüglich des dem Generalvikariat von van der Velden eingehändigten Titelblattes: „Überrascht bin ich zu vernehmen, es sei dem Generalvikariate, das Titelblatt eines Manuskriptes ’ ... übermittelt worden ... Dr. Louis hatte mir nur im Monate Oktober einmal ein Titelblatt entworfen und zur Äußerung an mich geschickt als unverbindlichen Entwurf, als erster [sic!] Gedanke, der ihm in der Sache kam (offenbar handelt es sich bei dem Erzbischöfl. Generalvikariat vorliegenden Schriftstücke um diesen Entwurf, aber keineswegs um ein Titelblatt des Manuskriptes). Nur in dieser Form hatte Dr. Louis – als ganz unverbindlichen Gedanken – von einem solchen Verlag gesprochen, ohne jede Erklärung oder nähere Eingaben, und weder ich habe jemals dazu mit einem Worte Stellung genommen oder einen solchen Verlag gutgeheißen, noch kam er jemals mehr auf einen derartigen Verlag zu sprechen, als einmal mit einem kurzen Satze, dass er an der Gründung eines Verlages des Ansgarvereins nicht denke. Es kann wohl auch kein Verlag des Ansgarvereins gegründet werden, solange der Verein nicht besteht.“ 55 In der in die bezeichnende, für die Gründungschronologie des Ansgariuswerkes höchst relevante und bereits erwähnte Schlussbemerkung ausmündenden Stellungnahme zum „Credo“-Projekt nimmt Müller Louis also auch in Schutz, indem er das Entwurfhafte des Titelblattes betont. Andererseits muss Müller an anderer Stelle des Briefes durchaus zugeben, dass eine Reihe von Beiträgen für das Jahrbuch schon vorliegen und an die Herausgabe des Buches ernstlich fest gedacht ist, wobei die Verlagsfrage noch offenstehe.56 ———— 55 56
Ebd., S. 4/5. Vgl. ebd. S. 4. Daß er auch bereits vorliegendes Material zum Jahrbuch an Neuhäusler geschickt hat, mag ihm hier entfallen sein.
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Hinsichtlich des Jahrbuches hat Bischof Müller übrigens eine klare Option für Louis’ verantwortliche Tätigkeit getroffen. Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass er für Schweden einen anderen Prokurator erhielte, „kann“, so schreibt er, „ich H. Herrn Pfarrer Louis augenblicklich wohl nicht mehr die Redaktion und Druckbesorgung des in Vorbereitung befindlichen ‚Credo Jahrbuch der kath. Kirche in den Ländern Nordeuropas‘ aus der Hand nehmen, ohne ihm selbst unverdienter Weise schwer wehe zu tun und ohne die Herausgabe des Buches selbst zu gefährden, an der ich aber aus wichtigsten Gründen – u.a. schon deshalb, weil ich den nordischen Bischöfen und Mitarbeitern gegenüber gebunden bin – unbedingt festhalten muß. Die Redaktion dieses Jahrbuches dürfte auch doch wohl in keiner Weise Anlaß zu Unstimmigkeiten mit den bestehenden Vereinen führen [sic!].“ 57 Müller offenbart, was Letzteres betrifft, dass er die Tendenzen zur Revierverteidigung, die es im deutschen katholischen Vereinswesen, wie wir sahen, durchaus gab, in ihren Dimensionen keineswegs angemessen einzuschätzen vermag. Andererseits tritt in seinem Verhalten Louis gegenüber hier eine angenehm menschliche Note zutage, die im Schriftwechsel des Kölner Generalvikariats etwa mit dem Bürriger Pastor selbst, aber auch mit Müller oder Schwinges keine Parallelen findet. Selbst wenn man ihm Louis sonst als Mitarbeiter entzieht, die Schriftleitung des Jahrbuchs soll dieser Müller zufolge behalten; damit bliebe Louis ein wesentlicher Aspekt, vielleicht der wesentliche Aspekt seines Einsatzes für Skandinavien in jedem Fall garantiert, auch wenn er den Titel eines „Prokurators“ möglicherweise nicht mehr führte. Selbst wenn es zunächst nur um die Herausgabe eines Bandes zu gehen scheint, impliziert doch der Titel „Jahrbuch“, dass diesem ähnliche Publikationen in weiteren Jahren folgen werden – und Louis so wohl durchaus eine dauerhafte Chefredaktion zugedacht sein könnte. Wenn man bedenkt, dass in späteren Vereinssatzungen des Ansgariuswerkes die Verbreitung „geeigneter Schriften über die religiösen Bewegungen im Norden und über die Entwicklung der dortigen katholischen Kirche“ unmittelbar nach der „Mitwirkung im Gebete“ als zweite Haupttätigkeit der Vereinigung genannt war 58, wenn man ferner sich an Louis’ 1950 in einer Reminiszenz an die Gründungsphase des Ansgariuswerkes formulierte Überzeugung erinnert: „Wenn ein solches Glaubens-Werk zur vollen Entfaltung gebracht werden soll, muß es auch und nicht zuletzt auf literarischem Gebiete hervortreten. Zeitungsnotizen und Zeitschriftenartikel genü———— 57 58
Ebd., S. 3/4. Aus den „Satzungen des ‚St.-Ansgarius-Glaubens-Werkes für die nordischen Kirchen‘ “: Jb 1950, [1. Innenseite].
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gen nicht“ 59, ist erkennbar, welche Bedeutung für Louis der publizistische Einsatz für die Diaspora hatte. Sicher hatte er seine diesbezügliche Sicht der Dinge Müller mitgeteilt, der sie damals mindestens partiell zu teilen schien. Müller plädiert am Ende seines Briefes an das Kölner Generalvikariat noch einmal herzlich und eindringlich für die Erhaltung des Status quo: „Es ist unter diesen Umständen mein dringender sehnsüchtiger Wunsch und meine ergebenste Bitte an das Hochwste (Hochwürdigste) Generalvikariat wie mein Gebet zum Herrn, es möchte die ganze Angelegenheit, die mir etwas aufgebauscht erscheint, im Frieden des Herrn so erledigt werden, daß Niemand [sic!], vor Allem [sic!] nicht mein unschuldiges Vikariat Schaden leidet.“ 60 Auch Louis und seine, Müllers, Zusammenarbeit mit diesem möchten vom „Schaden“ ausgenommen sein – dieser Wunsch Müllers schwingt unausgesprochen mit.
6. Weiteres Vorgehen des Kölner Generalvikariates In den Aktenstücken des Kölner Generalvikariats findet sich kein Erwiderungs-schreiben an Bischof Müller. Offenbar entschied man sich aus den dargestellten Gründen zunächst dazu, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Müllers Parteinahme für Louis war dem Ordinariat Schultes unangenehm, aber nicht zu ändern. Die Fürsprache des nordischen Bischofs umgab den unter scharfer Beobachtung seiner kirchlichen Vorgesetzten stehenden Bürriger Pfarrer mit einem gewissen Schutzschild. Wenn man den Apostolischen Vikar von Schweden auch zur Rede zu stellen versucht hatte wie einen in die Irre gegangen Kaplan des Kölner Erzbistums – die Korrespondenz zwischen ihm und Köln war, für heutige Verhältnisse undenkbar, nicht einmal auf bischöflicher Ebene, von Kardinal Schulte direkt ausgehend, geführt worden – so scheint von Seiten des Generalvikariats aus nun ein gewisses Einlenken erfolgt zu sein, das Härten zu vermeiden suchte und die Dinge nicht auf die Spitze trieb. Immerhin kam es zunächst aber auch nicht zu einer förmlichen Rehabilitation des von seiner vorgesetzten kirchlichen Behörde kritisch beargwöhnten Prokurators Dr. Peter Louis. Das wird aus dem Procedere ersichtlich, das bei der Organisation einer neuerlichen Predigtreise für Bischof Müller im Jahre 1927 seitens des Generalvikariats angewandt wurde. Louis hatte bereits erste Verhandlungen mit Pfarrgeistlichen an einzelnen Orten geführt, ———— 59 60
Louis (wie Anm. 1), S. 8. Müller an Generalvikariat Köln (wie Anm. 51), S. 5/6.
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die Müller besuchen sollte, als die weitere Ausarbeitung der Predigtstationen von Kardinal Schulte in die Hände von Johannes Joseph van der Velden, Generalsekretär des Franziskus-Xaverius-Vereins, gelegt wurde. Dieser konnte seinem Ordinariat am 23. Mai berichten: „Auf Grund eines Auftrages Sr. Eminenz, der mir durch Geheimsekretär Dr. Corsten übermittelt ward, habe ich anstelle des Herrn Dr. Louis übernommen, für den hochwürdigsten Herrn Bischof von Schweden zu sorgen. Ich habe die Angelegenheit dem hiesigen Verwaltungsrat vorgelegt, und mit seiner Genehmigung für dieses Jahr die teilweise schon vorliegenden Abmachungen für Predigtorte von Herrn Dr. Louis übernommen. Demnach besteht die Möglichkeit, dass der hochwürdigste Herr Bischof Dr. Müller an folgenden Orten predigt: M.-Gladbach, Neuss, Wipperfürth, Opaden [sic!], Bürrig, Wiesdorf, Rheindorf, Manfort, Schlehbusch [sic!], Immigrath, Reusrath, Hittorf [sic!], Monheim, Baumberg, Düsseldorf, Neviges, Burscheid, Lützenkirchen, Richrath, Steinbüchel, ausserdem mehrere [sic!] Orte in Baden. Indem ich dem hochwürdigsten Erzbischöflichen Generalvikariat dies zur Kenntnis bringe, bitte ich gütigst, diese Vorschläge genehmigen zu wollen.“ 61 Man könnte zu der Auffassung gelangen, dass van der Velden nun nach Kardinal Schultes Willen der neue Prokurator für Schweden sein solle, da das Aufgabenfeld: „für den ... Bischof von Schweden zu sorgen“ grundsätzlich umfassend und ohne Zeitbegrenzung verstanden werden kann. Andererseits legt sich im genauen Kontext des Briefes van der Veldens nicht der Eindruck nahe, seine Aufgabe könnte in etwas anderem als in der jährlichen Verabredung von Orten für die ertragverheißenden Bettelpredigten des schwedischen Bischofs bestehen. Und selbst hier ist die Frage, ob auch für die folgenden Jahre Predigtreisen Müllers im Rheinland als erwünscht angesehen werden. Van der Velden sieht sich engstens an den Verwaltungsrat „seines“ Missionsvereins rückgebunden, ihm legt er die ihm zuteil gewordene Aufgabe, für Bischof Müller zu sorgen, vor, die dann sofort als Organisation der Predigttour gleichsam erklärt wird. Die Genehmigung, die der Rat ausspricht, kann sich mit der Betonung „für dieses Jahr“ darauf beziehen, dass man nur für 1927 noch Louis’ Abmachungen zu den Predigtorten akzeptieren will (die Beobachtung, wie viele dieser Orte im Umkreis von Louis’ Wirkungsstätte als Pfarrer liegen, zeigt, dass die Reise wirklich zum größten Teil von ihm zusammengestellt worden ist), wie auch darauf, dass ———— 61
Van der Velden an Generalvikariat Köln, 23.5.1927. Hervorhebung von van der Velden.
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man nur noch für 1927 Müllers Bettelreisen seitens des FranziskusXaverius-Vereins fördern will. Dass Kardinal Schulte van der Velden den genannten Auftrag übertrug, zeigt noch einmal seine Linie und die seiner Kurie bezüglich des „Ansgariuswerkes“ an: Ein eigenes, selbständiges Hilfswerk war unerwünscht, die bestehenden Vereine sollten die „Lufthoheit“ über Mission und Diaspora behalten; was über eine im Grunde im privaten Bereich sich abspielende Werbung zur Unterstützung der Katholiken Nordeuropas hinausging, lag nicht in Schultes Interesse. Auf einem an Schulte persönlich gerichteten Schreiben van der Veldens, ebenfalls vom 23. Mai 1927, notierte Geheimsekretär Corsten zwei Tage später Schultes Einverständnis mit dem ihm vom Aachener Generalsekretär Unterbreiteten und die entsprechend erfolgte Antwort an diesen.62 Dr. Peter Louis, dem Bischof Müller vermutlich Mitteilung von seinem eigenen Schreiben an das Kölner Generalvikariat vom 8. März gemacht hatte und der also wusste, dass der Apostolische Vikar von Schweden, zumal für das Jahrbuch, auf seine Mittätigkeit am Werk der Förderung der Diaspora in seinem Land nicht verzichten wollte, trug in der Zwischenzeit trotzdem schwer an der kritischen Einstellung des Kölner Erzbischofs und seines Generalvikariates zu seiner, Louis’ Person und bisherigen Tätigkeit für den Norden. Er fühlte sich missverstanden und insbesondere durch die Tatsache, dass Generalvikar Dr. Vogt ihn der Unwahrhaftigkeit ziehe, schwer verletzt. Louis entschied sich, seinerseits noch einmal an Vogt zu schreiben und dessen Vorwürfe in für damalige Verhältnisse sehr mutiger und entschiedener Weise abzuwehren.
———— 62
Notiz Corstens auf Schreiben von van der Velden an Schulte, 23.5.1927. – Wilhelm Corsten, geboren 20.7.1890 Keyenberg (heute Diözese Aachen), zum Priester geweiht 7.3.1914 in Köln, 4.4.1914 Assistent am Collegium Marianum in Neuss, 10.4.1916 Assistent am Collegium Hermanninum in Rheinbach, 19.8.1921 bis 1934 Erzbischöflicher Kaplan und Geheimsekretär von Kardinal Schulte in Köln. 1.8.1928 Stellvertreter des Defensor matrimonii beim Kölner Offizialat, 14.11.1932 Promotor iustitiae für Ehesachen. 27.7.1934 Generalvikariatsrat, 10.6.1939 Domkapitular. 24.9.1931 Päpstlicher Geheimkämmerer, 21.9.1941 Päpstlicher Hausprälat. Gestorben 3.3.1970. Vgl. Handbuch des Erzbistums Köln, 26. Ausgabe (1966), Bd. II. Realer und personaler Teil, S. 763. Vgl. Directorium für das Erzbistum Köln 2010, S. 30.
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7. Louis’ Rechtfertigungsschreiben an Generalvikar Dr. Joseph Vogt vom 28. März 1927 Zuerst kommt Louis auf Vogts Rüge zurück, er habe sich auch nach seinem Amtsantritt in Bürrig noch mit Angelegenheiten der Deutschenseelsorge in Holland beschäftigt. Bei diesem Vorwurf war ja unklar, in welcher Beziehung er zu Louis’ ebenfalls kritisierten Aktivitäten für das spätere Ansgariuswerk stand, doch wäre Kölns Vorgehen gegen den Priester wegen letzterer möglicherweise weniger scharf ausgefallen, wenn nicht gleichzeitig die holländische Affäre hinzugekommen wäre. Louis nimmt in einer Weise in dieser Angelegenheit Stellung, die selbst vor einer Kritik an Kardinal Schulte nicht haltmacht – ein Zeichen nun von seiner Seite, wie angeschlagen beider Verhältnis zu jenem Zeitpunkt war: „Noch einmal betone ich, dass ich mich seit meinem Fortgang aus Den Haag jeglicher Einmischung in die Seelsorge in Den Haag und in Holland überhaupt enthalten habe. ... Wenn Seine Eminenz glaubt, mir diesbezüglich Weisungen auf, gute Gründe’ erteilen zu müssen, so dürfte meinerseits der Wunsch nicht unbescheiden sein, dass man mir diese guten Gründe mitteilen möchte. Die Weisung Seiner Eminenz überraschte mich vollständig, da ich gar nicht daran dachte, mich noch weiter um die Seelsorge in Holland zu bekümmern. Aber was ich auf Umwegen über die guten Gründe Seiner Eminenz gehört habe, ist derart, dass ich es meiner Ehre schuldig bin, nach diesen Gründen zu fragen.“ 63 Der unverkennbare Schimmer der Ironie, der hier im Spiel mit dem Begriff der „guten Gründe“ mitschwingt, entsprach keinesfalls dem üblichen Verkehrston, dessen sich ein Priester im Jahre 1927 im Zusammenhang mit seinem Bischof bedienen dufte, dazu noch dessen Generalvikariat gegenüber. In welcher Weise Louis sich in die Deutschenseelsorge in Holland eingemischt haben soll, als sie nicht mehr sein Tätigkeitsfeld bildete, was er als Inhalt der entsprechenden Beschwerde an den Kardinal „auf Umwegen“ näherhin hat in Erfahrung bringen können, offenbart er nicht, jedenfalls sind es aber ihm zur Last gelegte Tatbestände ehrverletzenden Charakters, die der Kardinal offenbar zu unkritisch für bare Münze genommen habe. Diese Ehrverletzung begründet Louis’ bitter ironischen Ton. Ob dieser seinem Anliegen indessen gedient hat, darf mit Recht bezweifelt werden. Sein Kampf mit offenem Visier, der in einem autoritätsbewussten Zeitalter freilich als Respektlosigkeit aufgefasst werden konnte, war mit dazu angetan, den Bürriger Pfarrer dem Kölner Ordinariat gegenüber in die Position eines ———— 63
Louis an Vogt (wie Anm. 36), S. 1.
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unangenehmen und verdächtigen Außenseiters hineinzumanövrieren, in die er sich über Jahre hindurch versetzt sah. Sodann geht Louis auf das Problemfeld „Ansgarverlag“ über, das den zweiten großen Kölner Kritikpunkt bildet, der damals gegen ihn erhoben wird. Im Wesentlichen wiederholt er Müllers Aussage in seinem Brief an das Generalvikariat vom 8. März, ruft diesen auch als Zeugen für die Wahrheit seiner Worte an. Man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, dass Louis seinen Brief mit Müller abgestimmt hat, vielleicht aber nach dessen Schreiben bewusst drei Wochen bis zu seiner eigenen Rückäußerung an das Generalvikariat abwartete und dann noch die Kölner Behörde mit Bedacht zur Anfrage bei Müller förmlich aufrief, obwohl er wusste, dass dieser in Wahrheit alles Nötige bereits gesagt hatte – um den Eindruck einer zwischen ihm und Bischof Müller abgekarteten Sache zu vermeiden. Ähnlich Müller betont Louis: „Das von Ihnen angezogene Manuscript mit dem Titelblatt ‚Credo‘ beweist nicht die Absicht der Gründung eines Ansgariusverlages. Eine solche Gründung wäre in meinen Augen eine Torheit, und ich muss die Unterstellung eines solchen Gründungsplanes noch einmal ablehnen. Damit lehne ich auch die verletzende Schlussbemerkung Ihres Briefes vom 2. März ab. Der Titel des Manuscripts ‚Credo‘ war ein Entwurf.“ 64 Dieser Aussage war seitens des Generalvikariates schwerlich Entscheidendes entgegenzuhalten. Freilich konnte man die Frage stellen, ob das Titelblatt als Entwurf dann nicht hätte kenntlich gemacht sein müssen, konnte darauf verweisen, dass auch Neuhäusler in München in der ganzen Angelegenheit eine Sache gesehen hatte, die über das Entwurfsstadium schon hinausgewachsen war. Doch wenn Müller und Louis bei ihrer Aussage blieben, war ihnen ernstlich nicht beizukommen. Wenn der Bürriger Pfarrer sich in Bezug auf die Beurteilung der Vorgehensweise von Kardinal Schulte fast unklug furchtlos gezeigt hatte, so war er es hier erst recht Generalvikar Dr. Joseph Vogt gegenüber: Louis war nicht bereit, sich als Lügner bezeichnen zu lassen und äußerte das auch vehement. Dann folgt in maßvoller, sachlicher Sprache die historische Übersicht über die Anfänge von Bischof Müllers Projekt in der Erzdiözese Köln, aus der wir zu zitieren schon Gelegenheit hatten. Louis legt in hohem Maße Wert darauf, dass sein eigenes Mittun in der ganzen Angelegenheit auf einem Agreement zwischen Müller und Schulte beruht, dass der Kardinal seiner, Louis’ Tätigkeit, keine Beschränkungen auferlegt habe, dass er selbst stets bemüht gewesen sei, in Absprache mit Kardinal Schulte zu handeln, ———— 64
Ebd., S. 1. vgl. auch S. 1/2.
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und man sich immer einig gewesen sei, dass es bei der Hilfsmaßnahme für Schweden nur um ein kleineres Projekt gehen könne. Louis zieht schließlich folgendes Fazit: „Wenn Sie, Herr Generalvikar glauben, dass diese Angelegenheit korrekter hätte behandelt werden können, dann bitte ich ergebenst um Aufklärung. Nachdem Se. Eminenz mir sua sponte die ausdrückliche Ermächtigung gegeben hatte, mich der Not des Bischofs von Schweden anzunehmen, war ich mit dem hochwürdigsten Herrn Bischof Dr. Müller darin einig, dass dies in recht vorsichtiger, bescheidener und unauffälliger Weise geschehen müsse.“ Besondere Rücksicht habe man auf die päpstlichen Missionswerke nehmen wollen, die seiner, Louis’ Ansicht nach, eine Priorität in der Berücksichtigung verdienten. Louis schreibt: „Für die Mission in Schweden lässt sich ein kleiner Freundeskreis schaffen, ohne irgendwelche Interessen zu verletzen. Auch brauche ich wohl nicht eigens zu erwähnen, dass mir in meiner jetzigen Stellung als Pfarrer wenig, sehr wenig Zeit zu anderen Arbeiten bleibt. Mir ist deshalb Ihr ganzes Vorgehen in dieser Sache ein wahres Rätsel.“ 65 Wenn Generalvikar Dr. Vogt auf Louis’ hier analysiertes Schreiben geantwortet hat, so hat sich die Antwort jedenfalls nicht als Entwurf oder Kopie in den Beständen des Kölner Generalvikariats erhalten. Deswegen ist eigentlich von einer Beantwortung nicht auszugehen – wollte man sie nicht in indirekter Form darin sehen, dass mit der letzten Ausarbeitung der Predigttournee 1927 für Bischof Müllers seitens des Ordinariates des Kölner Kardinal Johannes Joseph van der Velden und nicht Dr. Peter Louis beauftragt wurde. Dann hätte Louis’ Schreiben an Vogt vom 28. März 1927 den wünschenswerten Zweck verfehlt, Köln zu einer Revision seiner Einstellung zu dem von Müller und Louis gewünschten Ausmaß des Diasporaprojekts für Schweden wie auch zu einer veränderten Haltung des Generalvikariats Louis persönlich gegenüber zu veranlassen. Man hat, wenn man Louis Zeilen auf sich wirken lässt, durchaus das sichere Gefühl, dass hier ein Mensch nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit sagt. Sicher formuliert er sie gleichsam „pro domo“, das heißt so, dass er selbst in denkbar günstigstem Licht dasteht. Aber man hat keinesfalls den Eindruck bewusster Lüge, selbst da nicht, wo Louis etwa behauptet, für ihn seien die großen Missionsvereine stets an erster Stelle förderungswürdig gewesen. Wenn auch seine Einstellung zum Franziskus-Xaverius-Verein nach seinem Abschied von dort vermutlich nicht mehr von derselben Glut und Anhänglichkeit gewesen ist wie vorher, wenn er sich nun auch freier ———— 65
Ebd., S. 2/3.
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fühlen konnte, Initiativen außerhalb dieser Vereinigung zu unterstützen, so hätte Louis doch vermutlich stets vehement protestiert, wenn ihm jemand vorwarf, er habe etwas dem großen Missionsverein weniger Förderliches unternommen. Ein wenig die Wahrheit in seinem Sinne zu „schönen“, scheint Louis bei seiner Rede von dem „kleinen“ Freundeskreis, der der schwedischen Mission gewonnen werden soll, vertretbar und wie der weitere Verlauf der Dinge zeigen sollte, bot ihm seine relativ überschaubare Pfarrstelle in Bürrig, in der er bei der Seelsorge stets noch von einem Kaplan unterstützt wurde, sehr wohl ausgedehnte Möglichkeiten des Einsatzes für Ansgariuswerk und Schützenbruderschaften, die von ihm auch selbstverständlich einschlägig genutzt wurden.66 Das mag ihm Anfang 1927, zu Beginn seiner Tätigkeit in Bürrig, noch nicht hinreichend klar gewesen sein. Aber mit Blick darauf, welche Erwartungen er und Bischof Müller von vorneherein an das Jahrbuch knüpften, wird deutlich, dass an ein FundraisingNetzwerk gedacht war, das vielleicht nicht die Dimensionen der größten katholischen Hilfswerke erreichte, aber das andererseits als „klein“ zu bezeichnen die gedanklichen Möglichkeiten mindestens der Kölner Kurie doch bei weitem überstieg.
8. Zusammenfassende Deutung der Positionen von Müller/Louis und des Kölner Ordinariates Wird man also als auslösenden Grund der Konflikte zwischen Louis (und Müller) einerseits und Kardinal Schulte und seinen Mitarbeitern andererseits, die die erste Hälfte des Jahres 1927 einnahmen, im letzten eine Art „doppelte Wahrheit“, von der zu sprechen in ordine cognoscendi sicher statthaft ist, benennen können? Für Müller und Louis galt offenbar das als klein und bescheiden, was als kirchliches Hilfswerk unterhalb des Niveaus etwa des Franziskus-Xaverius-Vereins blieb, für Kardinal Schulte und seine Mitarbeiter hingegen ein eher privater Kreis, der ohne zu lautstark und propagandistisch aufzutreten, Spenden für die nordische Diaspora acquirierte, deren Höhe man vielleicht noch durch die Gestaltung einer jährlichen Predigtreise von Bischof Müller steigern mochte, aber keinesfalls in zahlenmäßigen Regionen sehen wollte, die den Neid anderer Initiativen auslöste. Es ist in verschiedenen Gesprächen, bei denen offenkundig vieles unausgesprochen ———— 66
Vgl. zu Louis’ Tätigkeit auf dem Gebiet des Schützenwesens: Richard Baumann, 75 Jahre Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften e.V. 1928- 2003 (Leverkusen-Opladen o.J. [2004]), S. 20 - 71.
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blieb, nie zu einem ehrlichen Abgleich der unterschiedlichen Erwartungen und Ziele gekommen. Der Konflikt wurde weiter angeheizt und ist in seinen Ausmaßen nur dann erklärbar, wenn man sich zu der Feststellung durchringt, dass Louis und Müller die Haltung der bestehenden katholischen Missionsvereine zu eventuellen Neugründungen zu naiv als unproblematisch beurteilten und so völlig falsch eingeschätzt haben. Es kann sein, dass dem auf kargem Niveau agierenden Apostolischen Vikar von Schweden das nach der Inflationskatastrophe von 1923 nun wieder im wirtschaftlichen Aufstieg befindliche Deutschland als ein „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ erschien, wo die Etablierung einer Hilfsorganisation mehr oder weniger keine Probleme bereiten würde. Louis, der lange Zeit im katholischen Vereinswesen leitend tätig gewesen war, wäre eine solche Sichtweise weniger zu verzeihen, denn er wusste, hatte es vielleicht am eigenen Leib erfahren, dass es Einflussbereiche, Machtstrukturen, Verletzlichkeiten auch auf dem Gebiet der organisierten Nächstenliebe gibt, ja er selbst hatte ja 1921 das Aufkommen eines Hilfswerks für den Norden wohl aus ähnlichen Gründen verhindert, wie sie jetzt gegen sein und Müllers Projekt namhaft gemacht wurden. Letztlich bleibt unklar, wie Louis 1926/27 zu seiner Fehleinschätzung kam, es sei allgemein bejaht, dass auf dem Sektor der Mission- und Diasporainitiativen „Platz für alle“ und auch für „Newcomer“ sei. Hat er es bewusst auf einen Konflikt ankommen lassen, vielleicht auch um sich an einigen Repräsentanten im Franziskus-Xaverius-Verein, die ihm bittere Stunden bereitet haben mögen, zu rächen? Hat er diesen Konflikt gewagt in dem Bewusstsein, nun durch die Autorität eines Bischofs, nämlich Müllers, vollkommen gedeckt zu sein? Letztlich verbleibt man hier im Bereich der Spekulationen. Hätte Louis aber tatsächlich den Schutz Müllers für genügend gehalten, um selbst gleichsam unverletzlich zu werden, so wäre er schnell durch das Verhalten des Kölner Generalvikariates Müller und ihm selbst gegenüber in schmerzlicher Weise eines Besseren belehrt worden. Speziell das Vorgehen Generalvikar Dr. Vogts gegen Louis erklärt sich in seiner ganzen Schärfe wohl nur, wenn in Rechnung gestellt wird, dass sein Ansehen im Generalvikariat – weniger beim Kardinal selbst – auch durch seinen Abgang vom Franziskus-Xaverius-Verein bereits zuvor gelitten hatte.
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9. Zur Gründungschronologie des Ansgariuswerkes Für die Chronologie der Gründung des Ansgariuswerkes als ein die Grenzen der Münchner Erzdiözese übersteigendes Projekt hat unsere Untersuchung das interessante Ergebnis zutage gefördert, dass noch im Frühjahr 1927 nicht von einem förmlich errichteten Hilfswerk gesprochen werden kann. Der Terminus „Ansgarverein“ taucht zwar in den Generalvikariatsakten von Köln erstmals im Brief Generalvikar Vogts an Louis vom 2. März 1927 auf, doch findet sich seine Existenz von Bischof Müller noch am 8. März desselben Jahres bestritten, während Louis in seinem rechtfertigenden Schreiben vom 28. desselben Monats zwar zum Thema „Ansgarverlag“ (negativ), nicht aber zum Thema „Ansgarverein“ Stellung nimmt. Kann hieraus etwa gefolgert werden, dass die Gründung des Vereins oder Werkes in der Zwischenzeit geschehen ist, dass, wenn Louis später den 25. März 1926 als Gründungsdatum angibt, die Jahreszahl fälschlich für 1927 steht? War der Gründungstag der 25. März 1927? Man muss sich hier wohl vor übereilten Schlüssen hüten. Wir haben schon festgestellt, dass der 25. März 1926 eine „ideologisch“ motivierte, gewollte, nachträgliche Zahlenangabe gewesen sein kann, und auch die Ansetzung auf 1927 scheint nicht durchschlagend zu begründen zu sein. In einem Brief vom 16. August 1949 trifft Louis Müller gegenüber aus der Rückschau über ein Vierteljahrhundert hinweg die interessante Feststellung: „Die Münchner Gruppe [des Ansgariuswerkes] ist wohl im Sommer 1925 zustande gekommen. Aber ich habe in Aachen schon 1924 die Hilfeleistung für Schweden begonnen und schon 1923 als Generalsekretär der Unio cleri pro missionibus die Zuwendungen für die nordischen Kirchen durchgesetzt.“ 67 Der späte Louis, der in der Gefahr stand, unausgesprochen nach der Devise zu handeln „Das Ansgariuswerk bin ich“, knüpfte also den Beginn von dessen Tätigkeit an einzelne Aktionen, die er, Louis, selbst durchgeführt hatte. Bischof Müller folgte, wie wir sahen, in späteren Jahren der „Frühdatierung“ der Gründung, wenngleich mit gewissen Unterschieden. Insgesamt hat er wohl Daten, die die Vorgeschichte des Münchner Ansgariuswerkes betrafen, später auf die Gründung des Gesamtwerkes angewandt. Gültige Daten, wann das Werk als solches konstituiert wurde, lassen sich so nicht gewinnen. Mit einiger Sicherheit kann nur gesagt werden: Bis zum Frühjahr 1927 bestand es als eine über die Erzdiözese München und Freising hinausgehende Institution mit einiger Sicherheit noch nicht. ———— 67
Louis an Müller, 16.8.1949 (Durchschlag) [S. 1]: St. Ansgarius-Werk Köln, Nachlaß Dr. Louis, 2. Ordner (G-M).
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„Legendenbildung“ wurde von Louis später auch hinsichtlich der „Reichweite“ des Ansgariuswerkes betrieben. Es war für die Unterstützung der Diaspora Schweden gegründet worden, nur darum war es in seinen Gesprächen mit Kardinal Schulte gegangen, und noch in der ersten Auflage des „Lexikons für Theologie und Kirche“ hatte Louis Schweden als einziges Land genannt, dem die Unterstützung seitens des Ansgariuswerkes gelte. 1950 gab er an, von Kardinal Schulte mit der Fürsorge für alle „nordischen Kirchen“ betreut worden zu sein. Deutlich wird aus der Betrachtung des Zeitraums, der noch vor der Etablierung des Ansgariuswerkes in Deutschland – mit einem seiner Schwerpunkte in Köln – liegt, dass ein weiter Weg zurückzulegen war bis zur Anerkennung und Wertschätzung der „Prokuratoren“-Tätigkeit von Dr. Peter Louis durch den Kölner Erzbischöflichen Stuhl. Solche Anerkennung konnte später etwa darin gesehen werden, dass Louis’ Studienfreund Kardinal Joseph Frings seinen ehemaligen Mitstudenten mit dem Ehrentitel eines Geistlichen Rates auszeichnete- doch erst nachdem vorgängige Ehrung Louis’ von Skandinavien her den Kölner Oberhirten unter einen gewissen Zugzwang gesetzt hatte. Frings’ grundsätzliches Wohlwollen hat Louis dann in den 50er Jahren, als er wegen seines Finanzgebarens im Ansgariuswerk in große Schwierigkeiten geriet, auch vor dem Schlimmsten, einer unehrenhaften Absetzung, bewahrt, wenngleich Frings manchen Verhaltensweisen an Louis nicht unkritisch gegenüberstehen konnte.68 Unter der Regierungszeit von Kardinal Karl Joseph Schulte hatte Peter Louis es – auch wegen anderer Tatbestände, die man ihm bezüglich der Wahrnehmung seiner holländischen Aufgabe, dann der Verwaltung seines Pfarramtes und seiner Tätigkeit als „Generalpräses“ der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaften meinte zur Last legen zu können – schwer. Von Vorbehalten gegen Louis aus anderen Zusammenhängen nicht unbeeinflusst waren die Unstimmigkeiten vor Beginn der eigentlichen Tätigkeit des Ansgariuswerkes in der Erzdiözese Köln, obwohl diese, wie wir sahen, tiefreichende Wurzeln hatten. Neid von wirklichen oder angeblichen „Konkurrenzvereinen“ und bischöfliche Vorsicht führten dazu, dass das Ansgariuswerk in den Status eines privaten Hilfswerks hinabgedrückt wurde, das als solches natürlich dann andererseits eine große Unabhängigkeit besaß. Erst spätere Entwicklungen, die Notwendigkeit einen finanziellen Skandal zu verhindern, brachten es Mitte der 50er Jahre mit sich, dass die Kölner Erzdiözese dem Ansgariuswerk höhere Beachtung schenkte – und einen Rechtsrahmen ver———— 68
Vgl. Klaus-Peter Vosen, „Fort mit dem Kerl“ – Dr. Peter Louis’ Entmachtung als Leiter des Kölner Ansgariuswerkes und dessen Neuordnung in den Jahren von 1952 bis 1955: Jb 2010, S. 17-37.
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lieh, der von der gewachsenen Bedeutung des Werkes zeugen mochte, andererseits Dr. Peter Louis (von ihm selbst schmerzlich empfunden) in seinen Aktivitäten „an die Kette“ legte.69
10. Kardinal Schulte und das Ansgariuswerk Kardinal Karl Joseph Schulte ist ganz klar nicht der gewesen, als den Louis ihn zum 25-jährigen Jubiläum des St.-Ansgarius-Werkes zeichnete – der begeisterte Förderer des Werkes in der Erzdiözese Köln in dessen Anfangszeit. Er begegnete dem Anliegen einer stärkeren Unterstützung der nordischen Diaspora nicht unfreundlich, machte die Angelegenheit aber nicht zur Chefsache, sondern beauftragte mit Sondierungen und Untersuchungen Mitarbeiter, vor allem seinen Generalvikar. Müller und Louis wurden wohl vom Kölner Erzbischof fallweise empfangen und erfuhren für ihr Engagement ein gewisses positives Interesse, doch blieb es dabei auch schon. Man kam in wesentlichen Dingen nicht zu Vereinbarungen, die Louis und Müller unzweifelhaft geholfen hätten, in einer Weise vorzugehen, die dann weniger das erzbischöfliche Missfallen ausgelöst hätte; vielleicht haben die beiden Protagonisten des späteren Ansgariuswerkes auf solche Vereinbarungen aber auch nicht gedrungen, um nicht festgelegt zu sein. Schultes „Entrüstung“ kundzugeben, war in jedem Fall aber dann wieder Sache seines „alter ego“, Generalvikar Dr. Vogt, nicht etwa Inhalt einer Audienz oder Unterredung, die der Kölner Oberhirte Louis oder Müller gewährte. Schulte verharrte in der Distanz, möglicherweise bedingt durch seine Herzkrankheit, die ihm ab 1927 zu schaffen machte und ihn zu einer noch zurückgezogeneren Existenz veranlasste, als sie dem Naturell des Kardinals ohnehin schon entsprach.70 Die große Behutsamkeit und Vorsicht Kardinal Karl Joseph Schultes 71 verhinderte es mit den Jahren offenbar immer stärker, dass er um eines neuen Gedankens willen, dessen Erfolgsaussichten noch unsicher waren, Altes, Bestehendes, das sich in seinen Augen bewährt hatte, Gefahren hätte aussetzen wollen, gleich, wie hoch man diese zu veranschlagen hatte. Diese Haltung des Kölner Erzbischofs entsprang wohl nicht nur seinem Naturell, sondern auch der Zeitsituation: Menschen, die wie Schulte manches Bestehende, an dem sie gehangen hatten, durch den ———— 69
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Vgl. ebd., passim; vgl. Klaus-Peter Vosen, „Als gäbe es keine Dankbarkeit mehr“. Die Krise im Kölner St. Ansgarius-Werk in den Jahren 1951/52: Jb 2009, S. 17-32. Vgl. von Hehl (wie Anm. 6), S. 681. Vgl. ebd., S. 681.
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Umsturz von 1918 hatten fallen sehen, fühlten sich aufgerufen, einer Veränderung zu wehren, die den Charakter einer Zerstörung von Bewährtem annehmen konnte.72 Hierdurch ist Kardinal Schulte dem Ansgariuswerk aber dann gerade nicht zu der richtunggebenden Leitfigur des Anfangs geworden, die er dieser Initiative hätte werden können und als die spätere verklärende Darstellung ihn vielleicht erscheinen lassen möchte: Das Ansgariuswerk ist sogar, insofern es über die Münchner Erzdiözese hinausging und von Köln aus künftig eine große Wirkung entfalten sollte, nicht durch oder dank Kardinal Schulte, sondern trotz Kardinal Schulte entstanden.
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Schultes Haltung zur Revolution von 1918 unterschied sich aber immerhin in bedeutsamer Weise von der seines Münchner Amtsbruders Faulhaber: vgl. von Hehl (wie Anm. 15), S. 20/21.
Kölner Kollekten für die Nordischen Missionen (1866-1930) und ein Bistum Hamburg von Reimund Haas
Die meisten Zeitgenossen verbinden wahrscheinlich mit dem Erzbistum Köln den Kölner Dom und das Faktum, dass das Erzbistum Köln finanziell reich ist. Für die Epoche seit der Einführung der Diözesankirchensteuer seit dem Jahre 1950 mag der finanzielle Aspekt wohl gelten. So wird für die fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts dem damaligen Generalvikar Prälat Dr. h. c. mult. Joseph Teusch (†1976) nachgesagt, dass er persönlich sehr bescheiden war, aber für die bekannten kirchlichen Hilfswerke wie Misereor und Adveniat beachtliche Gelder organisieren konnte. So ist den Zeitgenossen mit dem 1961 von Prälat Teusch initiierten „Hilfswerk für die Kirche in Lateinamerika“ die „Weihnachtskollekte für Adveniat“ bekannt.1 Sein Nachfolger in den siebziger bis neunziger Jahren, Prälat Dr. jur. h. c. Norbert Feldhoff, war sich zwar der Finanzkraft des Erzbistums Köln in den „fetten Jahren“ der Kirchensteuern bewusst, aber er hat – wie der Autor selbst erlebt hat – als guter Hausvater sich schon früh Begehrlichkeiten von anderen Diözesen und Missionsgebieten der Weltkirche entgegengestellt, weil er die zurückgehenden Finanzquellen für das Erzbistum Köln frühzeitig erkannt hatte.2 Und der seit 2004 als Generalvikar amtierende Prälat Dr. Dominik Schwaderlapp grüßt nun unter dem Titel „Zukunft heute“ vom Rhein mit der Unternehmensberatung McKinsey und einem 90 Millionen Euro-Sparprogramm sowie einer Gemeindezusammenlegung von 800 Pfarreien auf 180 Seelsorgebereiche.3 Und infolge der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise sind die Zukunftsprognosen auch im Erzbistum Köln nicht positiv.4 Da ———— 1
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Vgl. Norbert Trippen: Joseph Teusch (1902-1976), In: Franz-Josef Heyen (Hg.): Rheinische Lebensbilder Bd. 15. Köln 1995, 223-246; Ders.: Josef Kardinal Frings (1887-1978), (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 94 und 104), 2 Bde., Paderborn 2003/2005, bes. Bd. 2, 162 - 209. Vgl. Norbert Feldhoff: Zur Finanzlage des Erzbistums Köln. Bericht des Generalvikars vor dem Priesterrat am 24.11.1993. Köln 1993. – Ders.: Kirchenfinanzen. Womit die Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen in Zukunft rechnen müssen. Vortrag auf dem 3. Forum für Katholische Fundraiser. Katholisch-Soziales Institut. Bad Honnef. 28. Januar 2004. Köln 2004. Vgl. Dominik Schwaderlapp: 10 Kernaussagen des Projektes „Zukunft heute!“. Statement des Generalvikars für die Pressekonferenz am 1. Oktober 2004. PEK-Skript, Köln 2004. Vgl. Evangelischer Pressedienst (epd) 01.04.2009: Erzbistum Köln: Kirchensteuern sinken um rund 85 Millionen Euro.
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diese aktuelle Entwicklung noch voll im Gange ist und die archivalischen Quellen dazu nicht vollständig zugänglich sind, kann ein Kirchenhistoriker nach einem 25-jährigen 5 Vereins-Jubiläums nun zu einem 75. Geburtstag erstmals mit Kölner Archiv-Quellen auf die Anfänge der Kölner Unterstützung der Nordischen Missionen im 19. Jahrhundert zurückblicken. Denn die dem Kirchenhistoriker für das Frühmittelalter vertrauten Beziehungen von Köln zu Hamburg-Bremen als Suffraganbistum, wie sie vermutlich vom Jahre 831 bis 864 gegeben waren 6, spielten im kirchlichen Leben des 19. Jahrhunderts zunächst überhaupt keine Rolle mehr. Ebenso hatte das 1667 gegründete Apostolische Vikariat der Nordischen Missionen den Kölner Nuntien unterstanden und wurde ab dem Jahre 1841 den exemten Bischöfen von Osnabrück bis zum Jahre 1930 unterstellt.7 Als nämlich nach der großen Säkularisation von 1803 nach dem Jahre 1821 in Preußen das Erzbistum Köln wiedererrichtet wurde, waren die Nordischen Missionen noch kein Thema in Köln. Über den aus Münster im Jahre 1825 nach Köln transferierten Erzbischof Ferdinand August Graf von Spiegel (1825-1835) haben wir eine gute Biographie von Walter Lipgens, in der keine Spur von Förderung der Nordischen Missionen entdeckt werden konnte.8 Auch sein Nachfolger, der in den „Kölner Wirren“ berühmt gewordene Clemens August Droste zu Vischering (1836-1845), war zuvor zwar Weihbischof in Münster gewesen, dann aber in Köln nur kurze Zeit im ———— 5
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Vgl. Dietrich Blaufuss / Thomas Scharf-Wrede: Territorialkirchengeschichte. Handbuch für Landeskirchen- und Diözesangeschichte (Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft der Archive und Bibliotheken in der evangelischen Kirche 26). Neustadt an der Aisch 2005, 261-263. Ausgangspunkt dieses Beitrages war der gleichnamige Vortrag auf der von Msgr. Peter Schmidt-Eppendorf geleiteten 5. Internationalen Tagung für Kirchengeschichte in Norddeutschland und Skandinavien „Kirche in der Diaspora des Nordens“ am 7. Februar 2009 in der Katholischen Akademie des Erzbistums Hamburg. Vgl. Martin Colberg – Reimund Haas, Kirchengeschichts-Forschung in der Diaspora des Nordens, in: St. Ansgar. Jahrbuch des St. Ansgarius Vereins 2009, 9-12. Vgl. Friedrich Wilhelm Oediger: Das Bistum Köln von den Anfängen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (Geschichte des Erzbistums Köln, Bd. 1). Köln 31991, 97f. Vgl. Helmut Holzapfel: Die „Nordischen Missionen“ von 200 Jahren, In: Priesterjahrheft vom Generalvorstand des Bonifatiuswerkes. Paderborn 1974, 56-68. – Hans-Georg Aschoff: Kirchliche Organisation, Pastoral und Glaubenspraxis in der norddeutschen Diaspora im Kaiserreich, In: Beiträge und Mitteilungen des Vereins für katholische Kirchengeschichte in Hamburg und Schleswig-Holstein 8, 2003, 121-136. – Ders.: Das Apostolische Vikariat der Nordischen Missionen, In: Erwin Gatz (Hg.): Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches von ihren Anfängen bis zur Säkularisation. Freiburg 2003, 498502. – Ders.: Bistum Osnabrück und Apostolisches Vikariat der Nordischen Missionen, In: Erwin Gatz (Hg.): Die Bistümer der deutschsprachigen Länder von der Säkularisation bis zur Gegenwart. Freiburg 2005, 547-565. Walter Lipgens: Ferdinand August Graf Spiegel und das Verhältnis von Kirche und Staat 1789-1835. Die Wende vom Staatskirchentum zur Kirchenfreiheit (Veröffentlichungen der Historischen Kommission Westfalens XVII, Westfälische Biographien IV), 2 Bde., Münster 1965.
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Amt. So enthält die Totalbiographie von Markus Hänsel-Hohenhausen über ihn weder das Stichwort Hamburg noch das der Nordischen Missionen.9 Auch der dritte Kölner Erzbischof des 19. Jahrhunderts, Johannes Kardinal von Geissel (1854-1864), der zuvor Bischof von Speyer gewesen war, ist durch eine ältere zweibändige Biographie von dem Jesuitenpater Otto Pfülf aus dem Jahre 1896 grundlegend erforscht. Auch in ihr und den nachfolgenden Studien über „den bedeutendsten deutschen Erzbischof des 19. Jahrhunderts“ finden sich weder Hamburg noch die Nordischen Missionen.10 Wer in den fünften Band der Kölner Bistumsgeschichte von Eduard Hegel blickt, wird nach dem Stichwort Hamburg für die Zeit von 1815 bis 1962 vergeblich suchen. Auch zur Nordischen Mission wird nur einmal unter dem vierten Kölner Erzbischof im 19. Jahrhundert, Paulus Melchers, darauf verwiesen, dass er zuvor als Bischof von Osnabrück am 19. Februar 1858 auch zum Apostolischen Provikar der Nordischen Missionen und Dänemarks bestellt worden war.11 Auch wenn es über diesen Kölner Erzbischof und späteren Kardinal Paulus Melchers (1866-1885) keine hinreichende Biographie gibt 12, so hat doch schon Pater Johannes Metzler S. J. (†1946) in seinem Standardwerk von 1919 über die Vikariate des Nordens dies ausführlich beschrieben. Seinen Abschnitt über die achtjährige Tätigkeit des Osnabrücker Bischofs Melchers als Apostolischer Vikar des Nordens leitet Metzler mit dem bezeichnenden Satz ein: „Nur wenige Apostolische Vikare haben ein so tiefes Verständnis für die Bedeutung und ein so tatkräftiges Interesse für die Entwicklung der Nordischen Missionen gezeigt, wie Bischof Melchers.“ 13 Durchaus detailreich beschreibt Metzler dann die mühevollen Bemühungen von Bischof Paulus Melchers um die Verbesserung der Glaubensfreiheit der Katholiken in den verschiedenen nördlichen Territorien von Dänemark über Schleswig-Holstein bis Mecklenburg. Auch ist zum 150-jährigen Gedenken der letzten Kölner (und deutschen) Provinzial———— 9
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Markus Hänsel-Hohenhausen: Clemens August Freiherr Droste zu Vischering. Erzbischof von Köln 1773-1845. Die moderne Kirchenfreiheit im Konflikt mit dem Nationalstaat, 2 Bde., Egelsbach bei Frankfurt 1991. Otto Pfülf: Cardinal von Geissel. Aus seinen handschriftlichen Nachlaß geschildert, 2 Bde. Freiburg 1895/96. – Mikroedition DHS-AR, Frankfurt 1993. Eduard Hegel: Das Erzbistum Köln zwischen der Restauration des 19. Jahrhunderts und der Restauration des 20. Jahrhunderts (1815 - 1962) (Geschichte des Erzbistums Köln, Bd. 5), Köln 1987, 82. Erwin Gatz: Paulus Melchers als Seelsorger, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 177 (1975). 144-163. Josef van Elten / Joachim Oepen: Kölner Erzbischöfe im Konflikt mit dem preußischen Staat. Clemens August Freiherr Droste zu Vischering (†1845). Paulus Kardinal Melchers (†1895). Gedenkausstellung des Historischen Archivs des Erzbistum Köln, Köln 1995, 19- 40. Johannes Metzler: Die Apostolischen Vikariate des Nordens, Paderborn 1919, 193.
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synode daran zu erinnern, dass Bischofs Melchers dazu sich bereits vom März bis Mai 1860 in Köln aufgehalten hatte.14 Schon im Jahre 1865 und noch als „Bischof von Osnabrück und Apostolischer Provikar der Nordischen Missionen von Deutschland und Dänemark“ begann Bischof Paulus Melchers mit der gezielten Spendensammlung für die Bedürfnisse der „weitläufigen Bezirke der Nordischen Missionen“. Im „Katholischen Kirchenblatt für die Nordischen Missionen“ veröffentlichte Bischof Melchers „einen Erlass“ vom 4. Dezember 1865, der „am Sonntag vor Weihnachten von allen Kanzeln zu verlesen“ war. Angesichts der drohenden Entfremdung und des „religiösen Indifferentismus“ für „die Nachkommen der in der Diaspora lebenden Katholiken“ bedurfte es einer „Anstalt, wodurch diesem verderblichen Übelstand Abhülfe geleistet werden kann“. Gemäß einem Beschluss der im Herbst des Vorjahres in Hamburg gehaltenen „Konferenz der Missionspriester“, sollte eine „solche Anstalt zu Altona oder in dessen Nähe“ errichtet und „einer religiösen Genossenschaft übergeben“ werden, „sobald die erforderlichen Mittel vorhanden“ waren. Nachdem ein ,Startkapital’ von 2.000 Thalern bereits vorhanden war, sollte „durch die Veranstaltung einer öffentlichen Sammlung Allen dazu Gelegenheit“ geboten werden, „die hinErzbischof Paulus Melchers (1813-1866-1885-1895) sichtlich ihres Glaubens u.a. Begründer der Kölner Weihnachtskollekte für gefährdeten Kinder kadie Nordischen Missionen ———— 14
Vgl. Reimund Haas, „ ... und an die geistlichen Personen und gläubigen Laien unserer Provinz. 150 Jahre Kölner Provinzialkonzil von 1860“, In: Pastoralblatt 63 (2011), 121-125.
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tholischer Eltern in den Missionen zu retten und ihnen die unschätzbaren Wohltaten unserer h[eiligen] Religion zuzuwenden“. Deshalb ordnete der Bischof und Provikar an, „dass am h[eiligen] Weihnachtsfest d[iesen] J[ahres] unter dem Hochamt in allen Kirchen der Diöcese Osnabrück under unserer Obsorge anvertrauten Nordischen Missionen eine Collecte für die in besagter Weise zu errichtende Communikanten- oder Rettungs-Anstalt gehalten“ werden sollte. Bei der Verwendung dieser über „die Herren Landdechanten“ einzusendenden Erträge wollte Bischof Melchers bis „zur wirklichen Eröffnung der Anstalt“ einen Teil auch für die Vorbereitung auf die hl. Kommunion von „bedürftigen Kindern“ gemäß „den statutenmäßigen Bedingungen“ des „katholischen Waisenhauses zu Hamburg ... verwenden zu dürfen“.15 Damit hatte Bischof Melchers den Prototyp einer „Weihnachtskollekte für die Nordische Mission“ vorgelegt, die er mit nach Köln nehmen und dort zur weiteren Entfaltung bringen sollte. Gegen seinen Willen wurde Bischof Paulus Melchers am 8. Januar 1866 von Papst Pius IX. (1846 -1878) dann als Nachfolger von Kardinal Geissel zum Kölner Erzbischof berufen.16 Johannes Metzler schließt seinen Abschnitt über den Apostolischen Vikar Paulus Melchers mit der allgemeinen Formulierung: „Aber auch als Erzbischof blieb Melchers ein warmer Freund und Förderer der Nordischen Missionen, indem er Jahr für Jahr ihren stets wachsenden Bedürfnissen tatkräftig zu Hilfe kam und selbst in seinem Testament noch für sie sorgte.“ 17 Ist nun diese Formulierung von Pater Johannes Metzler nur ein gelungener, aber inhaltsleerer Schluss-Satz oder wusste Metzler mehr über den dahinterstehenden Sachverhalt und hat diesen Absatz nur allgemein ausklingend umschrieben? Oder lässt sich diese Aussage über den Kölner Erzbischof Melchers überprüfen und gar entfalten bzw. ist sie differenzierter zu belegen? Für diese Themenfragen soll der letzte Satz von Johannes Metzler zum Ausgangspunkt genommen werden für die Auswertung einer einschlägigen Verwaltungs- und Finanz-Akte im Bestand Generalia I des Historischen Archivs des Erzbistums Köln. Der Aktentitel, der ursprünglich für die The———— 15
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Katholisches Kirchenblatt für die Nordischen Missionen 5, 1865, 402f. Herrn Dr. Bernhard Wessels (Bremerhaven) gilt der verbindliche Dank für den Hinweis auf diesen Erlass. Vgl. grundlegend Norbert Trippen: Das Domkapitel und die Erzbischofswahlen in Köln 1821-1929 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte, Bd. 1), Köln/ Wien 1972. Metzler: Die Apostolischen Vikariate des Nordens, 196. Dazu Josef van Elten / Joachim Oepen: Kölner Erzbischöfe im Konflikt mit dem preußischen Staat. Clemens August Freiherr Droste zu Vischering († 1845), Paulus Kardinal Melchers († 1895). Gedenkausstellung des Historischen Archivs des Erzbistums Köln vom 19. Oktober – 15. Dezember 1995 im Foyer der Erzbischöflichen Diözesanund Dombibliothek zu Köln, Begleitheft. Köln 1995, bes. 39.
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maformulierung Pate gestanden hat, lautet: „Kollekten und Schenkungen für die Nordischen Missionen, d.h. die norddeutschen Missionen, Seelsorge daselbst überhaupt, auch Errichtung eines Bistums daselbst, z.B. Hamburg“.18 Während der erste Teil der archivarischen Titelaufnahme dem Inhalt der Akte entspricht, muss der zweite Teil der Titelaufnahme betr. „ein Bistum Hamburg“ im Schlusskapitel (2.2) kritisch bewertet werden. Da eine kommentierte Auswertung der ganzen Akte mit über 400 Schreiben den vorgegebenen Vortragsrahmen überschreiten würde, wurden zum einen die Finanzergebnisse in drei Tabellen (Tab. 1-3) zusammengestellt und exemplarisch kommentiert. Zum anderen wurde diese Auswertung auf die beiden thematischen Auswertungsschwerpunkte der Kölner Weihnachtskollekte (1.) und der Einzelspenden (2.1) für die Nordischen Missionen beschränkt. Weitere Untersuchungsaspekte über die Zustände in den einzelnen Missionsstationen, wie sie aus den Anträgen und Dankesschreiben gut zu rekonstruieren sind, konnten in diesem Rahmen nicht näher berücksichtigt werden und sollen nur mit folgendem Beispiel exemplarisch vorgestellt werden. Das von einem Aktenvermerk abgesehen letzte Schreiben dieser Akte ist ein handschriftliches Dankesschreiben des Apostolischen Vikars von Dänemark, Johannes von Euch (1834 -1922) 19, das er am 20. Juli 1916 an den damaligen Kölner Erzbischof Felix Kardinal von Hartmann (1913-1919) adressierte. In Köln am 28. Juli 1916 eingegangen, wurde es dem Domkapitular Dr. Franz Düsterwald (†1920) vorgelegt, trägt keinen Sichtvermerk des Erzbischofs und scheint keine weitere Veranlassung ergeben zu haben. In der Zeit des Ersten Weltkrieges bedankte sich der Apostolische Vikar aus Kopenhagen für die „eingetroffenen Subsidien: vom Schutzengelverein 6.000 Reichsmark und aus der Kölner Weihnachtskollekte auch 6.000 Reichmark. Es ist dadurch wieder den nächsten dringendsten Bedürfnissen abgeholfen“. Johannes von Euch gibt einen durchaus positiven Bericht über die katholische Kirche in dem vom Krieg verschonten Dänemark, der auszugsweise für diese vielen Situationsberichte aus der nordischen Mission in dieser Finanzakte zitiert werden soll: „Unsere Missionsorganisation ist noch keineswegs fertig und hinreichend gesichert, aber sie ist auf gutem Wege dahin. Die Kirche hat eine schöne Zukunft in diesem Lande und bildet das Fundament zu der späteren Entwicklung in ganz Skandinavien, in Norwegen und Schweden. ———— 18 19
Historisches Archiv des Erzbistums Köln (AEK): Generalia I (Gen I) 15.29. Zu Johannes van Euch (21.1.1834-18.3.1922) vgl. Metzler: Die Apostolischen Vikariate des Nordens, 265272, jetzt auch http://www.catholic-hierarchy.org/bishop/bvoneuch.html (1.7.2009).
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Eben ist der Streit zwischen der lutherischen Kirche und dem lutherischen Staat aufs schärfste ausgebrochen und droht mit vollständiger Trennung von Kirche und Staat zu enden. Der von der Regierung begünstigte Rationalismus treibt die Orthodoxen aus dem bisherigen Verband heraus und nötigt sie, sich auf eigene Füße zu stellen. Eben dadurch wird uns Bewegungsfreiheit gesichert und unser Kirchen- und Schulwesen kann sich in ungehinderter Weise entwickeln. Zurzeit besuchen circa 400 protestantische Kinder unsere höheren von Ordensleuten für Knaben und Mädchen geleiteten Schulen. Die größte pastorale Schwierigkeit bereitet uns die zahlreiche Einwanderung der Polen in ihrer Zerstreutheit im ganzen Lande. Da gilt es einzugreifen, daß die vielen Kinder nicht der Kirche entrissen werden. Hier findet die Gabe des Schutzengelvereins eine so gute Verwendung.“ 20 Soweit aus dem relativ positiven Beispiel-Bericht aus der nordischen Mission in der schwierigen Zeit des Ersten Weltkrieges. Der Weg bis dahin war jedoch für die Katholiken in den Nordischen Missionen lang und schwierig.
1. Die Kölner Weihnachtskollekten für die Nordischen Missionen (1866 -1930) Die vorgestellte Akte beginnt mit dem handschriftlichen Konzept eines grundlegenden Hirtenbriefes des Kölner Erzbischofs Paulus Melchers vom 12. Dezember 1866. Als Eröffnungshirtenbrief der Kölner Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen hat Erwin Gatz dies im einschlägigen Kapitel des dritten Bandes seiner Geschichte des kirchlichen Lebens im Jahre 1994 nur knapp mit einem Satz erwähnt.21 Wir können hier zumindest die Kernaussagen seines Hirtenbriefes erstmals zitieren. Aus seiner Zuständigkeit und Kenntnis der Nordischen Missionen von Deutschland und Dänemark wusste der nunmehrige Kölner Erzbischof von einer „Reihe sehr bedürftiger und bedrängter katholischer Gemeinden“ und von „katholischen Familien, welche ohne fremde Unterstützung gar nicht in der Lage sind, ihre religiösen Bedürfnisse befriedigen zu können.“ Im zweiten Abschnitt seines Hirtenbriefes nannte Erzbischof Melchers für die Beschaffung der notwendigen Mittel ganz konkrete Projekte: ———— 20
21
Johannes von Euch an Erzbischof Felix von Hartmann, Kopenhagen 20.6.1916, AEK Gen I 15.29, 399f. Erwin Gatz (Hg.): Katholiken in der Minderheit. Diaspora – Ökumenische Bewegung – Missionsgedanke. (Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die katholische Kirche, Bd. 3), Freiburg 1994, 139.
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- die arme katholische Gemeinde zu Flensburg - die Errichtung eines Communikanten- oder Rettungshauses für die Vorbereitung von Kindern auf die ersten heilige Kommunion in Altona - die Vollendung der im Bau begriffenen katholischen Kirchen zu Bremerhaven und Nordstand - die dringend notwendige Erweiterung des katholischen Hospitals zu Hamburg - die Errichtung einer zweiten katholischen Kirche und Schule in Kopenhagen. Mit dem bekannten Zitat aus dem Matthäusevangelium (Matth. 25.40) appellierte der Kölner Erzbischof sodann an „die Pfarr-Gemeinden, die sich im Vollgenuss der kirchlichen Segnungen finden und recht viele wohlhabende und zur Wohltätigkeit neigende Gläubige haben“, „ein Opfer der Gegenliebe für die bedürftigen nordischen Glaubensbrüder“ zu bringen. Um diese Verheißung des Jesus-Wortes „am Tage des Weltgerichtes aus seinem Munde“ als Trost zu vernehmen, sollte am „hohen Weihnachtsfeste im gegenwärtigen sowohl als in den nächst folgenden Jahren bis zum Widerruf in allen Kirchen der Erzdiözese eine Sammlung freiwilliger Gaben für die Nordischen Missionen veranstaltet“ werden.22 Mit dem Weihnachtsfest hatte die Kollekte für die Nordischen Missionen gemäß der besonderen Wertschätzung durch Erzbischof Melchers einen bevorzugten Platz im Kirchen- bzw. Spenden-Jahre erhalten. Die damit grundgelegte Kölner Weihnachtskollekte wurde in den folgenden Jahren unter Erzbischof Melchers jeweils am 4. Advent-Sonntag durch die Verlesung eines aktualisierten Hirtenbriefes fortgeführt. Die nach 45 Kölner Dekanaten aufgelisteten Erträge der Kollekten-Gelder wurden jeweils im nächsten Frühjahr im kirchlichen Anzeiger aufgelistet und bekannt gegeben. Unter Erzbischof Melchers wurde auch die Verteilung an die nordischen Missionsstation in einer eigenen Bekanntmachung 23 oder im nächsten Hirtenbrief ebenfalls im Kirchlichen Anzeiger veröffentlicht.24 In drei Fällen wurden Erträge dieser Kollekte für zwei Diaspora-Gemeinden (Gevelsberg [heute Bistum Essen] und Wolmirsleben [heute Bistum Magdeburg]) im Bistum Paderborn überwiesen.25 ———— 22
23
24
25
Paulus Melchers 12.12.1866, In: AEK Gen I 15.29, 1f.; Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiöcese Köln (KA) 15 1866 Nr. 25, 15.12., 137f. KA 16 1867 Nr. 7/44, 43f.; KA 17 1868 Nr. 9/60, 55; Nr. 11/66, 63; KA 18 1869 Nr. 5/33, 33; 8/55, 48; Nr. 10/63, 55; KA 19 1870 Nr. 6/42, 32; Nr. 7/49, 36; KA 20 1871 Nr. 6/35, 36f. KA 16 1867 Nr. 24, 125f.; KA 17 1868 Nr. 24, 121f.; KA 18 1869 Nr. 24, 123f.; KA 19 1870 Nr. 24, 135f.; KA 20 1871 Nr. 24/147, 137f. An Gevelsberg 1871 250 Thaler sowie an Volmirsleben 300 Thaler im Jahr 1872 und 1.200 Mark im Jahr 1875, vgl. KA 20 1871 Nr. 35, 37 sowie KA 21 1872 Nr. 30, 36 und 24 1875 Nr. 24, 111.
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Diese erste Phase der Kölner Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen wurde abrupt durch den Kulturkampf in Preußen unterbrochen. Der letzte ordentliche Hirtenbrief von Erzbischof Paulus Melchers zur Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen erschien am 8. Dezember 1874 und begann mit dem Rückblick auf die Zuwendungsorte des Vorjahres, den er mit der Dankesformel schloss: „Die betreffenden Missions-Gemeinden haben die reichen Gaben Euerer Liebe mit dem Ausdruck großer Freude und innigen Dankes in Empfang genommen und es nicht unterlassen, durch die ihnen empfohlene Fürbitte für ihre Wohltäter ihre Dankbarkeit zu betätigen.“ Die neue Bitte für die Weihnachtskollekte leitete der Kölner Erzbischof mit Bezug auf die anstehenden Bedürfnisse mit den Worten ein: „Insbesondere müssen dort die erforderlichen Mittel beschafft werden, um mehrere neue Kirchen zu bauen, eine schwere Schuldenlast zu tilgen und zahlreiche Kinder katholischer Eltern, welche in ihrer Heimat keine Gelegenheit haben, den nötigen Unterricht in der katholischen Religion und zum Empfange der hl. Sakramente die gehörige Vorbereitung zu erhalten, in den jüngst errichteten CommunicantenAnstalten unentgeltlich eine Zeit lang zu unterhalten.“ Nach dem Bibelzitat von den „seligen Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Matth. 5.7) nannte der Erzbischof abschließend die konkreten Ziele für die diesjährige Kollekte: „Aus dem Ertrage soll auch dies Mal der Communicanten-Anstalt zu Christina, so wie einer sehr dürftigen MissionsGemeinde einer benachbarten Diözese eine Unterstützung zugewendet werden“.26 In der Hochphase des Kulturkampfes scheint dieser Appell des Kölner Erzbischofs nicht ohne Wirkung geblieben zu sein, wenn man die fast erreichte Verdreifachung der Kollekten-Summe von 1873 auf 1874 betrachtet. Am 7. Dezember 1875 konnte Erzbischof Melchers aus dem Exil nur noch mit einem Erlass zur Weihnachts-Kollekte aufrufen. Trotz der „bedrängten Lage“, in der sich „nicht Wenige der Erzdiöcesanen“ befanden, bat er „zur Unterstützung der Missionen Opfer darzubringen“. Mit der Wiederholung des pastoralen Anliegens „mitzuwirken, daß die in der Diaspora lebenden Glaubensgenossen sich an den Segnungen der Kirche beteiligen“ können 27, brachte die Weihnachts-Kollekte 1875 letztmalig dokumentiert das zweithöchste Sammelergebnis der damit endenden ersten Phase der Kölner Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen. ———— 26
27
KA 23 1874 Nr. 24, 111f. Zur Gemeinde-Entwicklung vgl. beispielhaft die Studie von Holger Wilken: Katholische Bevölkerung und katholische Gemeinde im Raum Hamburg. Größe und Zusammensetzung 1750-1866, in: Beiträge und Mitteilungen 5, 1995, 243- 259. KA 24 1875 Nr. 24/108, 111.
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Denn nach seiner ersten Gefängnisstrafe im Kölner Gefängnis Klingelpütz bis zum 9. Oktober 1874 entzog sich der Erzbischof Melchers einer drohenden zweiten Verhaftung durch die Flucht nach Holland, von wo aus er versuchte, die Diözese durch „Geheimlegaten“ weiter zu leiten, während der Generalvikar und Weihbischof Johann Baudri (†1893) bis zur Auflösung des Kölner Generalvikariates am 28. Juni 1876 die Verwaltungsgeschäfte noch weiter fortführte. Von daher erklärt sich die Lücke in der Übersichtstabelle von 1876-1884. Dazu ist noch weiter zu erforschen, wie die seit dem 16. August 1876 amtierende staatliche Verwaltung des Bistums- und Pfarrvermögens mit den Diözesankollekten wie der für die Nordischen Missionen umgegangen ist.28 Denn erst am 15. Dezember 1885 wurde der Ermländische Bischof Philippus Krementz (1885-1899) als neuer Kölner Erzbischof eingeführt. So sind im April 1886 erstmals wieder „Collecten-Gelder für die Nordischen Missionen pro 1885“ in Höhe von über 14.265 Talern dokumentiert.29 In dieser zweiten Phase gibt es in der Regel keine speziellen Aufrufe des Kölner Erzbischofs mehr für die Weihnachtskollekte und es wurden auch keine speziellen Zuweisungen für die Missionsgemeinden mehr im kirchlichen Anzeiger veröffentlicht. Im Dezember des Jahres 1886 berichtet das Erzbischöfliche Generalvikariat in einem „Erlass“ allgemein von der Verteilung der „sehr erfreulichen Erträge“ der Weihnachtskollekte 1885 und bat um die Fortsetzung der „fernerhin noch dringend nötigen Unterstützung für den Unterhalt der dortigen Missionare, für Kirchen- und Schulbauten, für welche durch die zunehmende Zahl der Katholiken, wie durch die Gründung neuer Missionsstationen, die Anforderungen sich vermehren“.30 Ab dieser zweiten Periode wurden die Erträge der Kölner Weihnachtskollekte in der durch wenige Beispiele belegten Regel pauschal zu 2/3 an die Bischöfe von Osnabrück überwiesen, die seit 1841 auch als Apostolische Vikare der Nordischen Missionen wirkten.31 Dadurch, dass im Jahre 1868 das eigenständige Apostolische Vikariat Dänemark gegründet und das Apostolische
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Vgl. bisher nur Hegel: Geschichte des Erzbistums Köln Bd. 5, 569. KA 26 1886 Nr. 9/42, 63f. KA 26 1886 Nr. 41/141, 127. Dies waren für die Nordischen Missionen und Schleswig-Holstein die Osnabrücker Oberhirten: Bischof Johann Heinrich Beckmann (1866 -1878), interimistisch 1869-1882 Kaspar Anton Kohues, die Bischöfe Bernhard Höting (1882 -1898), Dr. Hubert Voß (1889-1914), Dr. Wilhelm Berning (1914 1930).
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Vikariat der Nordpolmission 1869 aufgelöst worden war 32, erklärt sich die ab der zweiten Phase belegte regelmäßige und pauschale Überweisung von 1/3 der Jahreseinkünfte der Kölner Weihnachtskollekte an den Apostolischen Vikar für Dänemark.33 Im November 1888 veröffentlichte das Kölner Generalvikariat die Termine der „jährlich abzuhaltenden Kirchenkollekten“. Dabei nahm die für die nordischen Missionen am Weihnachtsfest unter insgesamt vier allgemeinen Kollekten noch die dritte Stelle ein.34 Doch diese gesicherte Position für die Nordischen Missionen sollte schon unter Erzbischof Krementz vermindert werden. Denn in der gesellschaftlichen und kirchlichen Blütephase nach der Beendigung des Kulturkampfes nahm die Zahl der KollektenAnlässe und damit die innerkirchliche Konkurrenz stark zu, sei es für neue Kirchenbauten besonders in den wachsenden Ballungsräumen des rheinisch-westfälischen Industriegebietes oder des Bergischen Landes, sei es für andere gesamtkirchliche Anlässe. Nachdem im Jahre 1886 nur das DiözesanKommitee des Bonifatius-Vereins der Kölner Erzdiözese seine Ausgabe auch für die Nordischen Missionen veröffentlicht hatte 35, kamen 1889 der St. Raphael-Verein zum Schutz katholischer deutscher Auswanderer 36 hinzu und im Jahre 1892 auf päpstliche Empfehlung die Afrikanischen Missionen.37 Diese Konkurrenz-Entwicklung wurde schon im Jahre 1891 unter Erzbischof Kardinal Krementz erkennbar. Bereits eine neue Auflistung der „jährlich abzuhaltenden Kirchenkollekten“ vom 4. August 1891 führte nun an fünfter Stelle für das Weihnachtsfest die Kollekte für die Nordischen Missionen und den St. Josephsverein auf.38 Da die Kollekten-Sonntage im Kirchenjahr knapper wurden, überrascht es nicht, dass ein neuer „Spenden-Sammel-Verein“ ———— 32
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Alois Arndstein Brodersen: Die Nordpolmission. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Missionen in den nordischen Ländern im 19. Jahrhundert (Forschungen zur Volkskunde. Heft 52). Münster 2006. Johann Theodor von Euch ab 1892, wie in Anm. 19. KA 28 1888 Nr 23/156, 137. 1. Für das Hl. Grab (an Karfreitag), 2. Bonifatius-Verein (Sonntag nach dem Bonifatius-Fest, 5.6.), 4. Erwerbung von Kirchenbauplätzen (vierteljährlich und an Festtagen). KA 26 1886 Nr. 17/96, 97- 99, 98: Altona, zur Unterhaltung der Schule (600), Hamburg, zur Unterhaltung eines Schulvikars in St. Georg (1050), Heide, Gehalt des Missionars (900), Schleswig, Gehalt des Missionars (900). Vgl. 80 Jahre St. Raphaels-Verein 1871-1951. Osnabrück 1951; Lutz-Eugen Reutter: Katholische Kirche als Fluchthelfer im Dritten Reich. Die Betreuung von Auswanderern durch den St. RaphaelsVerein. Recklinghausen-Hamburg 1971. – Erwin Gatz: Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Bd. II Kirche und Muttersprache. Freiburg 1992, 67-75. KA 31 1891 Nr. 1/1, 1- 5. Karl Theodor Dumont (Hg.): Sammlung kirchlicher Erlasse, Verordnungen und Bekanntmachungen für die Erzdiözese Köln. 2. Aufl. Köln 1891, Nr. 504, 630f.
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hinzugekommen war, als sich Erzbischof Krementz am 13. Dezember 1891 zur Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen wieder mit einem Hirtenbrief meldete und damit eine dritte Phase der Kölner Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen einführte, nun zusammen mit dem St. Josephsverein. Erzbischof Philippus Krementz bilanzierte darin für die seit dem Jahre 1866 durchgeführte Weihnachtskollekte, dass dadurch „möglich geworden war, unseren Glaubensbrüdern in den nordischen Missionsgemeinden eine namhafte Hülfe zu bringen“. Der Erzbischof beabsichtigte von nun an auch die „Katholiken in deutschen Missionen in England, Frankreich und Belgien“ an dieser ertragreichen und stabilen Weihnachtskollekte teilnehmen zu lassen. „Der Ertrag der Weihnachts-Kollekte“ sollte fernerhin „zum Teil, wie bisher, für die nordischen Missionen, zum Teil für die Zwecke des St. Josephsvereins“ verwendet werden.39 Dieser zusätzliche Kollektenzweck des St. Josephsvereins erklärt das ab dem Jahre 1891 zunächst um 2.500 Taler gestiegene Gesamtergebnis der Kölner Weihnachtskollekte. Auch wenn in den folgenden Jahren der St. Josephsverein in den Inhaltsübersichten nicht immer eigens genannt wurde, war er immer einbezogen. Dies belegen auch die ab dem Jahre 1903 unter Erzbischof Antonius Kardinal Fischer (19031912) vorliegenden Direktorien des Erzbistums Köln, die regelmäßig und kontinuierlich bis 1931 vor den Angaben zum 4. Adventsonntag die Formulierung angegeben haben: „Cras publicetur collecta in Nativitate Domini pro missionibus septemtrionalibus et pro associatione Sancti Joseph“.40 Außer diesem oft genannten St. Josephsverein gibt es in dieser dritten Phase der Kölner Weihnachtskollekte belegte Beispiele dafür, dass größere Pauschalbeträge davon über den Aachener Schutzengelverein den Nordischen Missionen zugute kamen. Das Verfahren der Verkündigung des Spendenaufrufes bei diesen „Diözesan-Kollekten“ wurde auf der Kölner Diözesan-Synode von 1922 genau beschrieben. Darin heißt es u.a.: „1. Diözesan-Kollekten werden oberhirtlich für ganz dringende Fälle nach sorgfältiger Prüfung der Sachlage angeordnet. Alle Diözesan-Kollekten werden rechtzeitig im Kirchlichen Anzeiger bzw. die jährlich wiederkehrenden Diözesan-Kirchenkollekten im Direktorium angekündigt. 2. Am Sonntag vor dem Fälligkeitstermin wird jede Kollekte von der Kanzel mit einer besonderen Empfehlung in allen heiligen Messen bekannt ———— 39 40
KA 31 1891 Nr. 24/177, 157. D.h.: Morgen soll die Kollekte verkündet werden, die am Weihnachtstag für die Nordischen Missionen und den St. Josephsverein abgehalten wird.
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gemacht. Diese Bekanntmachung und Empfehlung ist am Tage der Abhaltung selbst zu wiederholen in der kurzen Form: Heute ist die vorgeschriebene Kollekte für ..., die den Gläubigen warm empfohlen wird“.41 Während für andere Vereins- und Kollektenzwecke sich vielfältige Aufrufe und Appelle in diesen Jahren im Kirchlichen Anzeiger finden, konnte keine weitere Werbung speziell für diese Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen ermittelt werden. Auch wurden keine Rechenschaftsberichte mehr im Kirchlichen Anzeiger gedruckt und in der Akte finden sich nur vereinzelte Angaben zur Verwendung der Kollektengelder. So blieb das Kollektenaufkommen der Kölner Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen und den St. Josephsverein nach einem ersten Höhepunkt im Jahre 1899 bis zum Jahre 1913 auf relativ hohem Niveau. Auffallend ist sodann auch, dass in den ersten vier Jahren des Ersten Weltkrieges das nominelle Aufkommen ohne Berücksichtung von Währungsveränderungen und Inflation sogar noch anstieg. Der letzte Nachweis im Kölner Amtsblatt „der in den Kirchen des Erzbistums Köln eingegangenen Kollekten-Gelder für die Nordischen Missionen und St. Josephsverein“ datiert vom 13. August 1918 und weist die Höchstsumme von 34.391 Goldmark aus der Weihnachtssammlung 1917 auf, womit die dritte Phase dieser Kölner Sonderkollekte beendet war. Das letzte Mal tauchen die „Kollekte für die nordische Missionen“ sowie für den St. Josephsverein im Kirchlichen Anzeiger zusammen am 8. Dezember 1920 mit der Vermeldung auf, dass sie in dem Jahr ausfallen sollten und zwar zugunsten einer „an beiden Weihnachtstagen abzuhaltenden Kollekte für die notleidenden Kinder“. Aber es wird weiter versichert, dass die Erzbistumskasse einen „der vorjährigen Weihnachtskollekte entsprechenden Betrag den nordischen Missionen usw. zuführen werden wird“.42 Auch wenn die Weihnachtskollekte im folgenden Jahrzehnt traditionell im Direktorium vorgedruckt war 43, ist diese erste aktuelle Suspension ein erstes Alarmzeichen für die Frage ihrer weiteren Legitimität. Die Änderung steht wohl auch im Zusammenhang mit dem neuen Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Schulte (1920-1941), der als vorheriger Paderborner Bischof den Bonifatiusverein nicht nur gut kannte, sondern auch im Erzbistum Köln besonders förderte. ———— 41
42 43
Wilhelm Corsten (Hg.): Sammlung kirchlicher Erlasse, Verordnungen und Bekanntmachungen für die Erzdiözese Köln, Köln 1929. Nr. 735, 821f. KA 60 1920. Nr. 251, 140. Vgl. von Directorium archidiocesis Coloniensi pro anno Domini MCMXIX. 70 bis Directorium und Personalschematismus 1930, 46.
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In der nun folgenden vierten Phase finden sich im Kirchlichen Anzeiger nur noch Hinweise für den St. Josephsverein und den neuen Reichsverband katholischer Auslandsdeutschen. Diese beiden Vereine bekamen auf Empfehlung der Fuldaer Bischofskonferenz ab 1928 zusammen den neuen Spendentermin des 25. März zugewiesen.44 Damit war die Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen, die bis 1931 gemäß dem Direktorium angekündigt wurde 45, ihres „letzten Bündnispartners“ beraubt und es brauchte nur noch eines wichtigen Anlasses unter Erzbischof Kardinal Schulte, um die Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen einem anderen Zweck zuzuführen. Dieser war im Jahre 1931 vordergründig gegeben mit der stark gestiegenen Zahl der Priesteramtskandidaten und den Kosten der voll belegten beiden Kölner Theologenkonvikte Collegium Albertinum und Collegium Leoninum sowie des neu gebauten großen Priesterseminars im rechtsrheinischen Vorort Bensberg.46 Ohne den vormaligen Zweck zu nennen und unter Berücksichtung der „zunehmenden Not und Verarmung“ reduzierte der Erzbischof Kardinal Schulte am 11. Dezember 1931 die weihnachtliche Sonderkollekte auf den ersten Weihnachtstag. Erzbischof Schulte wollte die Weihnachtskollekte „für Priesterseminar und Theologenkonvikte“ von nun an „für die mit großen Kosten verbundene Erziehung unseres priesterlichen Nachwuchses“ verwendet sehen, womit die vierte und letzte Phase der Kölner Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen beendet war.47 Als Hintergrund dieser Entscheidung der Beendigung der Kölner Weihnachtskollekte für die Nordische Mission ist vor allem zu beachten, dass durch das Preußenkonkordat von 1929 die verbliebenen Kerngebiete des Apostolischen Vikariats von Schleswig-Holstein und Hamburg an das „ordentliche“ Bistum Osnabrück gefallen waren.48 Auch hatte der „Nordische Katholikentag in Hamburg“ im Sommer 1930 die Lebendigkeit der katholischen Diaspora im Norden unter Beweis gestellt. Auch wenn dies weder in der benutzten Akte noch im Kirchlichen Anzeiger thematisiert wurde, darf für diese nun beendete insgesamt 64jährige Tradition – von denen bisher neun Jahre im Kulturkampf nicht belegt sind – der Kölner Weihnachtskollekte für die Nordische Mission nicht vergessen ———— 44 45
46 47 48
KA 68 1928. Nr. 68, 33. Directorium und Personalschematismus für die Erzdiözese Köln 1931. 45 „Collecta in Nativ[itate] D[omi]ni pro missionibus septemtrionalibus & pro associatione S. Joseph“. Vgl. Handbuch des Erzbistums Köln. 23. Ausgabe 1933, 55-57. KA 71 1931. Nr. 269: Weihnachtskollekte für Priesterseminar und Theologenkonvikte. Vgl. Handbuch des Bistums Osnabrück. Bearb. von Hermann Stieglitz. hg. vom Bischöflichen Generalvikariat Osnabrück. 2. Aufl. Osnabrück 1991, 30f., 64-67.
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werden, dass bereits ab 1925 von Leverkusen bei Köln aus Pfarrer Dr. Peter Louis (†1956) als „Generalprokurator des St. Ansgarius-Glaubenswerkes für die nordische Kirche“ sein Unterstützungswerk für die nordische Diaspora begonnen hatte, selbst wenn es bis zum Jahre 1955 dauerte, bis dann das Erzbistum Köln unter Erzbischof Joseph Kardinal Frings (1942-1969) dieses Werk in seine Obhut übernahm.49
2. Zu beispielhaften Einzelstiftungen und den Plänen für ein Erz-Bistum Hamburg 2.1 Einzelspenden für die Nordischen Missionen Neben der jährlichen Weihnachtskollekte dokumentiert die ausgewertete Akte des Historischen Archivs des Erzbistums Köln auch eine größere Zahl von 16 ermittelten Einzelspenden für die Nordischen Missionen. Neben der tabellarischen Auflistung (Tab. 3) sollen die erste und letzte Spende beispielhaft und genauer erläutert werden. Als erstes Beispiel sei aus dem Jahre 1867 die testamentarische Stiftung des am 29. Juni 1866 verstorbenen Pfarrers Friedrich Wilhelm M. Schmitz aus Essen-Steele angeführt. Am 16. Oktober 1867 meldete der Definitor und Pfarrer Johann Wilhelm Franz Fischer (Essen, St. Johann Baptist) dem Kölner Generalvikariat, dass „die Stiftung für Missions-Stellen im nördlichen Deutschland 890 Taler 3 Silbergroschen und 5 Pfennige betrage.“ Nachdem zunächst 71 Thaler 10 Silbergroschen „Erbschaftsstempel“, also Erbschaftssteuer, erhoben bzw. abgezogen werden sollten, hatte Pfarrer Fischer als „Testamentsexekutor“ mit Verweis auf den Stiftungszweck dagegen Einspruch eingelegt. Denn nach dem Testament des Pfarrers Schmitz vom 18. Juli 1853 sollte „denjenigen Katholiken nördlichen Deutschlands, welche in ihrem Wohnorte keinen Gottesdienst haben und zu arm sind, eine neue Kirche zu bauen und einen Geistlichen davon zu besolden, die Wohltat gewährt werden, daß sie jeden Sonntag einen Gottesdienst im Wohnort selbst oder in einem nicht zu entfernten Orte besorgen können.“ ———— 49
Vgl. Klaus-Peter Vosen: [Biographische Beiträge über Dr. Peter Louis]. In: St. Ansgar. Jahrbuch des St. Ansgarius-Werkes 2002, 14-20. – 2003, 33-45. – 2004, 34-44. – 2005, 5-18. – 2006, 5-14. – 2007, 5-13. – Günter Assenmacher: Nach Norden zu. Die deutschen Ansgarwerke und ihr Beitrag zur Diasporahilfe. in: Günter Riße und Clemens A. Kathke (Hg.): Diaspora: Zeugnis von Christen für Christen. 150 Jahre Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken. Paderborn 1999, 167-181 sowie der Beitrag von Klaus-Peter Vosen in diesem Band.
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Das „Königliche Stempel-Fiskalat zu Düsseldorf“, also das zuständige Finanzamt, hatte am 25. September dem Einspruch stattgegeben unter der Einschränkung, „daß nur inländische Missionsstellen Zuwendungen aus dem Schmitzschen Nachlass erhalten sollen“. Diese Auflage zu beachten erklärte sich das Kölner Generalvikariat am 25. Oktober selbstverständlich bereit.50 Als letzte Einzelspende enthält die Akte die auszugsweise Testamentsabschrift des Amtsgerichts Jülich vom 23. August 1905 aus dem eigenhändigen Testament der Haushälterin Jungfrau Adelheid Düxmann aus der Pfarrei Müntz. Auf die Rückfrage des Generalvikariates bestätigte der Pfarrer Josef Metternich aus Müntz im Dekanat Jülich am 19. September 1905, dass „das Legat zu Gunsten des Nordischen Missions Vereins“ bestimmt worden sei. Nachdem „die 300 Mark für die Nordische Mission am 4. Oktober bei der Post in Grevenbroich eingezahlt worden“ waren 51, wurde der Eingang beim Kölner Generalvikariat am 5. Oktober bestätigt. Die weitere Verwendung auch dieser Einzelspende lässt sich nicht nachverfolgen, womit auch dieser Auswertungsaspekt beendet werden soll.
2.2. Zu Plänen im deutschen Katholizismus des 19. Jahrhunderts, die erst im 20. Jahrhundert realisiert wurden In der in den letzten Jahrzehnten sehr gut erforschten Geschichte des deutschen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert 52 gibt es einige bedeutsame Pläne und Projekte, die schon früh angedacht wurden, dann aber wegen der kirchenpolitischen Umstände speziell in den protestantischen Staaten des Deutschen Bundes und des Zweiten Kaiserreiches nicht realisiert werden konnten. Aus der Perspektive der dann im 20. Jahrhundert erfolgten Realisierung dieser Einrichtungen und Bistümer ist nach den Wurzeln, nach den ersten Plänen und den gescheiterten Alternativen dieser Einrichtungen zu forschen. Dabei sind manche dieser „Vorgeschichten“ heutiger katholischer Institutionen bereits gut erforscht, andere noch weniger gut, zumal eine solche „Spurensuche“ in der Regel sehr mühsam und aufwändig ist. Hierzu sollen stichwortartig nur vier Beispiele angeführt werden. Nach dem Untergang der Kölner Nuntiatur im Jahre 1794 im Gefolge der Französischen Revolution fehlte für ganz Norddeutschland ein päpstlicher Nuntius. Vor diesem Hintergrund hat es im 19. Jahrhundert verschie———— 50 51 52
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dene Vorstöße gegeben, in Berlin eine päpstliche Nuntiatur einzurichten, was natürlich für die preußische Regierung unannehmbar war. Die ersten Überlegungen dieser Art stellte bereits im Sommer des Jahres 1837 der römische Prälat Francesco Capaccini bei seiner Reise durch Deutschland an.53 Sodann wurde die Frage der „Errichtung einer Nuntiatur in Berlin“ im Rahmen der politischen Verhandlungen zur Beilegung des Kulturkampfes wieder diskutiert.54 Erst nach Gründung der Weimarer Republik wurde dann im Jahre 1920 mit Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII. (1939-1958), der Münchener Nuntius auch zum Nuntius in der Hauptstadt Berlin bestellt.55 Ein besser untersuchtes Thema sind die Jahrzehnte langen Planungen der deutschen Katholiken seit dem 19. Jahrhundert für eine Katholische Universität in Deutschland. Als dann Jürgen Brandt in seiner Habilitationsschrift diese Diskussionen nachgezeichnet hatte 56, kam es schließlich 1980 doch noch zur Gründung der einzigen Katholischen Universität für Deutschland in Eichstätt.57 Die regionalen Bemühungen um die Gründung neuer Bistümer sind auch nur zum Teil besser erforscht. Nachdem es von der Gnade Kaiser Napoleons I. von 1802 bis 1821 linksrheinisch an Stelle des Erzbistums Köln ein erstes Bistum Aachen gegeben hatte 58, wurde der Gedanke daran durch ein Kathedralkapitel und durch Persönlichkeiten der Region während des ganzen 19. Jahrhunderts wach gehalten. Als dann in der Weimarer Republik für das zu groß gewordene Erzbistum Köln Entlastungsverhandlungen anstanden, hatte die „Aachener Lobby“ die besten Einflussmöglichkeiten, so dass es durch das Preußenkonkordat von 1929 im ———— 53
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Vgl. Hubert Bastgen: Forschungen und Quellen zur Kirchenpolitik Gregor XVI. Im Anschluss an die Berichte des Prälaten Capaccini aus Deutschland im Sommer 1937 (Veröffentlichungen zur Kirchenund Papstgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Quellen des Vatikanischen Archivs, hg. von der Görres-Gesellschaft für ihr Historisches Institut in Rom, Bd. 1), 2 Bde. Paderborn 1929, im Register unter Berlin, Nunziatur. Vgl. Rudolf Lill: Vatikanische Akten zur Geschichte des deutschen Kulturkampfes. Leo XIII. Teil 1 1878-1880. Tübingen 1970. Register: Nuntiatur in Berlin, 492. Vgl. u.a. Hubert Wolf: München als Reichsnuntiatur? Aus Anlaß der vollständigen Öffnung des Archivio della Nunziatura di Monaco, In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 103, 1992, 231-242. – Stefan Samerski: Primat des Kirchenrechts. Eugenio Pacelli als Nuntius beim Deutschen Reich (19201929), In: Archiv für katholisches Kirchenrecht 170, 2001, 5-22. Jürgen Brandt: Eine katholische Universität in Deutschland? Das Ringen der Katholiken in Deutschland um eine Universitätsbildung im 19. Jahrhundert (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte Bd. 12). Köln Wien 1981. Vgl. Michael Seybold (Hg.): Katholische Universität. Wesen und Aufgabe (Extemporalia 11). Eichstätt 1993. Vgl. grundlegend Jakob Torsy: Geschichte des Bistums Aachen während der französischen Zeit 18021814. Bonn 1940.
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Jahre 1930 zur Gründung bzw. Wiedererrichtung des linksrheinischen Bistums Aachen kam.59 Auch rechtsrheinisch hatte es in napoleonischer Zeit um 1810 Pläne für die Neugründung von Bistümern gegeben und zwar für Düsseldorf und für Kassel. In der nationalstaatlichen Konkordatsära der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts wurden dann für Preußen und Hannover die Bistumsgrenzen für über 100 Jahre festgeschrieben. Wie in einer aktuellen Studie zum 50jährigen Bestehen des 1958 gegründeten Ruhr-Bistums Essen nachgewiesen wird, hatte es schon 1927 einen ersten großen Kölner Plan für ein Bistum im Ruhrgebiet gegeben, der trotz der Unterstützung des Nuntius Eugenio Pacelli an verschiedenen Umständen scheiterte bzw. dann erst 1958 mit dem Bistum Essen realisiert werden konnte.60 Dies führt zu der abschließenden Frage nach ersten Plänen für ein Bistum bzw. Erzbistum Hamburg. Dazu wird noch einmal auf den eingangs vorgestellten Verzeichnungs-Titel der ausgewerteten Akte über die Nordischen Missionen zurückgegriffen, der mit der Formulierung endet, „auch Errichtung eines Bistum daselbst, z.B. Hamburg“. Doch bei der genauen Durchsicht dieser Akte fand sich darin keine Spur von einem Plan für ein Bistum oder gar Erzbistum Hamburg. Auch konnte bisher nicht geklärt werden, wieso diese Titelformulierung im Findbuch von einer Bistumserrichtung in Hamburg entstanden ist, die sich nicht auf dem originären Aktendeckel findet. Gab es doch irgendwelche Erinnerungen an erste Pläne für ein Erzbistum Hamburg? Aus der noch zu schreibenden Geschichte der Pläne für ein Bistum Hamburg sollen hier nur neben den allseits bekannten und gescheiterten Versuchen unter Johann Theodor Laurent (†1884) in den 1840er Jahren 61 drei Beispiele angeführt werden, sofern sie innerhalb des thematisch begrenzten Untersuchungszeitraumes liegen. Auf das früheste bzw. älteste Beispiel „für ein eigenes Bistum, dem sogar die Hansestädte“ (Bremen, Hamburg, Lübeck) „zugeteilt werden sollten“, wurde zuletzt von Dominik Burkard in seiner großen Studie „Staatskirche,
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Josef Reuter: Die Wiedererrichtung des Bistums Aachen (Veröffentlichungen des Diözesanarchivs Aachen Bd. 35). Mönchengladbach 1976. Vgl. jetzt: Reimund Haas: Warum scheiterte 1928 der erste Plan für ein Ruhrbistum Essen? In: Reinhard Göllner (Hg.): Das Ruhrbistum in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 50 Jahre Bistum Essen (Theologie im Kontakt, Bd. 17), Münster 2010, 27-63. George Hellinghaussen: Kampf um die Apostolischen Vikare des Nordens J. Th. Laurent und Ch. Lüpke. Der Hl. Stuhl und die protestantischen Staaten Norddeutschlands und Dänemarks um 1840. Rom 1987.
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Bischofskirche, Papstkirche“ vom Jahre 2000 hingewiesen.62 Nachdem durch den Reichsdeputationshauptschluß von 1803 die „bisher münsterschen Ämter Vechta und Cloppenburg und das hannoversche Amt Wildeshausen“ an das Herzogtum Oldenburg gekommen waren, sollte „die unmittelbare Staatsaufsicht über die katholische Kirche“ auch in den neu erworbenen Ämtern ausgeübt werden. Dazu schlug der oldenburgische Hofrath von Olfers im Jahre 1804 vor, „die Errichtung eines Bistums Oldenburg anzustreben, dem auch die Hansestädte, das Amt Meppen und Dänemark zugeteilt werden könnten; notfalls sollte man die Einrichtung eines Generalvikariats für Oldenburg zu erreichen suchen, der Generalvikar müsse die Bischofsweihe haben, damit kein auswärtiger Bischof die Jurisdiktion über oldenburgische Katholiken ausübte“. Wie Johannes Hesse in seiner Studie von 1982 näher ausgeführt hat, wurde „der Gedanke an ein oldenburgisches Landesbistum in der Folgezeit in verschiedenen Spielarten weiterverfolgt.“ 63 Nach der kirchlichen Reorganisation des Jahres 1821 in Preußen und dem Anschluss dieser oldenburgischen Gebiete an das neu umschriebene Bistum Münster reduzierten sich die oldenburgischen Ambitionen „aus Kostengründen“ auf die Errichtung zweier oldenburgischer Ehrenkanonikate im Münsterer Domkapitel ab dem Jahre 1846.64 Der jüngste Plan für ein Bistum Hamburg findet sich in der Studie des jetzigen Aachener Bischofs Dr. Heinrich Mussinghoff vom Jahre 1992 in der Festschrift zum 85. Geburtstag des bekannten westfälischen Kirchenhistorikers Prof. Dr. Dr. Alois Schröer (†2002).65 Darin heißt es im Rahmen der Vorverhandlungen zum Preußenkonkordat von 1929 66: ———— 62
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Dominik Burkard: Staatskirche, Papstkirche, Bischofskirche. Die „Frankfurter Konferenzen“ und die Neuordnung der Kirche in Deutschland nach der Säkularisation (Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte. Supplementheft 53), Rom 2000, 117. Johannes Hesse: Staat und katholische Kirche in Braunschweig, Oldenburg , Schaumburg-Lippe und Waldeck-Pyrmont vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Gründung des Landes Niedersachsen, Osnabrück 1982, 91-94. Reimund Haas: Domkapitel und Bischofsstuhlbesetzungen in Münster 1813-1846 (Westfalia Sacra. Bd. 10), Münster 1991, 508-527. Vgl. Reimund Haas/Reinhard Jüstel (Hg.): Kirche und Frömmigkeit in Westfalen. Gedenkschrift für Alois Schröer (Westfalia Sacra. Begründet von Heinrich Börsting und Alois Schröer. hg. von Reimund Haas und Reinhard Jüstel Bd. 12) Münster 2002.– Reimund Haas: Schröer, Alois in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 21. Ergänzungsband VIII. Nordhausen 2003, 1363-1372; http://wissen.spiegel.de/ wissen/dokument-druck.html?id (30.05.2008). Reinhard Jüstel: Prof. DDr. Alois Schröer (1907-2002), In: Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte 98, 2002, 2330. – Reimund Haas: Von Georg Schreiber (†1963) zu Alois Schröer (1907-2002). Zum Forschungswandel in der religiösen Volkskunde und rheinisch-westfälischen Kirchengeschichte, In: Hermann-Josef Scheidgen / Sabine Prorok (Hg.): Kirche und Gesellschaft im Wandel der Zeiten. Festschrift für Gabriel Adriányi. Nordhausen 2011 (im Druck).
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„Der Osnabrücker Bischof Berning war immer mit Unterstützung der Bischofskonferenz und des Bistums Hildesheim für die Bildung eines eigenen Bistums aus den nordischen Missionen und der Präfektur SchleswigHolstein mit Sitz in Hamburg eingetreten. Er hätte gern die Eingliederung des oldenburgischen Teils des Bistums Münster in seine Diözese gesehen, während Bischof Poggenburg im Oldenburger Münsterland eher das katholische Hinterland für ein solches Bistum Hamburg sah. Im Gespräch mit [dem preußischen Ministerialdirektor] Trendelenburg im November 1927 entwickelte Bischof Berning den Gedanken einer den ganzen norddeutschen Raum umfassenden niedersächsischen Kirchenprovinz mit den Bistümern Osnabrück (mit Oldenburg) und Hamburg (nordische Mission und Schleswig-Holstein) mit Metropolitansitz in Hamburg oder Osnabrück.“ Heinz Mussinghoff schließt seine Ausführungen mit dem Bemerken: „Diese Ideen errichten nicht das Stadium ernsthafter Planung“. Schließlich ist es einem freundlichen Hinweis des Hamburger Archivarskollegen Martin Colberg zu verdanken, dass diese Ausführungen aus dem Kölner Diözesanarchiv doch noch mit einer Spur von den Planungen für ein Erzbistum Hamburg abgeschlossen werden können. Im nun verzeichneten Nachlass von Erzbischof Paulus Melchers findet sich ein Brief vom 12. Oktober 1894 von dem bekannten Hamburger Kaufmann und Förderer der katholischen Kirche, Emile Nölting (†1899), der fünf Jahre vor seinem Tod an den zu dieser Zeit in Rom weilenden Pastor Primarius Franz Gerhard Harling (†1919) schrieb. Darin vergleicht der Mitbegründer des St. MarienKrankenhauses Emile Nölting die relativ gute Lage der Katholiken in Dänemark mit der viel schwierigeren Lage der Katholiken in Hamburg. Zunächst fuhr Kaufmann Nölting dann fort: „Wie grundverschieden sind doch da auch die dänischen Verhältnisse von den unserigen. Ich erinnere Sie nur an das Wort, welches der selige Windthorst im Jahre 1887 bei der Leofeier, dem Goldenen Priesterjubiläum des Papstes, bezüglich des zukünftigen Erzbistums Hamburg aussprach; genügte doch dieser eine Satz, um die Presse, die Behörden und die gesamte protestantische Bevölkerung unserer Stadt dermaßen in Harnisch zu bringen, dass, wie einer der Senatoren Ihnen und Herrn Tiefenbach je persönlich gesagt hat, dieser eine Ausspruch der Hauptgrund war, das uns damals die erbetenen Plätze zur Errichtung von Notkirchen in Emsbüttel und Hammerbrook abgeschlagen wurden. Hat doch ———— 66
Heinz Mussinghoff: Die Neuordnung der Bistümer in Preußen 1929/30, In: Reimund Haas (Hg.): Ecclesia Monasteriensis. Beiträge zur Kirchengeschichte und religiösen Volkskunde Westfalens. Festschrift für Alois Schröer zum 85. Geburtstag (Geschichte und Kultur, Schriften aus dem Bistumsarchiv Münster, Bd. 7), 275-306, hier 296.
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jetzt noch weiter das [Hamburger] „Fremden-Blatt“ bei Besprechung der in der Bürgerschaft stattgehabten Verhandlungen über die unseren katholischen Schulen zu gewährende Subvention an der Stelle, wo auf die Herrschergelüste der römischen Propaganda hingewiesen ist ... bemerkt: „man sehe, wie lange das stark ausgesprochene Wort des verstorbenen Windthorst über das Erzbistum noch nachhallte“.67 Mit diesem Hinweis auf einen frühen Plan für ein Erzbistum Hamburg aus dem Nachlass des vormaligen Apostolischen Vikars der Nordischen Missionen und anschließenden Kölner Erzbischofs Paulus Melchers soll das Durchblättern Kölner Akten und des Kirchlichen Anzeigers über die Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen abgerundet und geschlossen werden. Denn in kirchen- und bistumsgeschichtlicher Perspektive sind gegenwärtig diese 64 Jahre Kölner Weihnachtskollekten für die Nordische Mission eine längere Tradition als die neuere Adveniat-Kollekte an Weihnachten, die im Jahre 2011 erst ihr 50-jähriges Jubiläum begehen kann. Wie die beispielhaft genannten Förderungsprojekte erkennen lassen, waren die Kölner Weihnachtskollekte von 1866-1930 eine wesentliche und wohl unverzichtbare Unterstützung auf dem Weg von den Nordischen Missionen zu eigenständigen Bistümern oder gar dem dann am Ende des 20. Jahrhunderts endlich errichteten Erzbistum Hamburg.68
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Das Datum der Rede war der 29.12.1887. Vgl. den ausführlichen und kommentierten Text in der Anlage 4. Vgl. Henry Fischer (Hg.): Hanse Kirche. Zur Neugründung des Erzbistums Hamburg. Hamburg 1994. – Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken (Hg.): Spurensuche im Norden. Paderborn 2004.
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Tab. 1: Die Kölner Weihnachtskollekte für die Nordischen Missionen 1866-1917 N R. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39.
JAHR ERTRAG AUSGABEN 1866 5.400 1867 2.856 5.500 1868 10.450 3.000 1869 2.450 10.450 1870 3.000 2.450 1871 4.000 2.750 1872 4.200 3.700 1873 5.605 4.200 1874 16.442 5.305 1875 15.300 16.442 1876 13.898 Kulturkampf 1885 14.265 1886 16.897 1887 13.539 1888 13.883 1889 14.121 1890 14.059 1891 16.699 J 1892 16.660 J 1893 14.963 J 1894 15.049 1895 13.688 1896 16.079 J 1897 17.932 J 1898 19.318 1899 20.383 J 1900 20.070 J 1901 19.951 J 1902 18.016 J 1903 17.836 J 1904 17.922 1905 19.609 J 1906 18.171 1907 18.585 1908 18.318 1909 18720 1910 24.327 J 1911 20.542 J
ORTE/GEMEINDEN/EINRICHTUNGEN [SIGLEN TABELLE 2] Altona, BH, Fl, Kphg, HH, Nordstrand Fl, Frdt, BH, NMS, Odense, Randers, Schlewig BH, Fl, Fra, NMS (3), Odense, Rand, SL BH, Fl, Fra, GW, Kphg, Odense, Rand, SL. BH, Fl, Fra, HB, Kphg,.NMS, Ods, OD, Rand, SL BH, Fl, Frau, Frdt, HH, Hei, NZ, Ode, Rand, SL Alt, BH, Fl, Frau, Hei, HL, NZ, Ode, Rand, HRO, SL Alt, Bgd, BH, Chr, DäMi, Fl, HL, NZ, RD, HRO, SL, SN Alt, Bgd, BH, Chr, Fl, HH, Hor, HL NZ RD. SL, SN, Thu Alt, Bgd, BH, Fl, HH, Hor, HL, NZ, RD, SL, SN, Thu
2/3 Bischof OS, 1/3 Provikar Dk, Missionsstationen 2/3 Bischof OS, 1/3 Provikar Dk, Missionsstationen 2/3 Bischof OS, 1/3 Provikar Dk, Missionsstationen 2/3 Bischof OS, 1/3 Provikar Dk, Missionsstationen: Svendborg Kolding, Odensé Verbindung/Teilung mit dem St. Josephsverein (J)
NM 4.500
Dänisches Vikariat, 5.500+ 4.500 DK 4.500, Schweden 1000, OS 4.000, AC 69 6.000 DK 4.500, Schweden 1000, OS 4.000, AC 10.000
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Auch diese Zusammenarbeit der Kölner Weihnachtskollekte nach der Jahrhundertwende mit dem seit 1846 in Aachen wirkenden „Kindheit-Jesu-Verein“ bedarf noch der weiteren Erforschung. Vgl. KarlJosef Rivinius: Die Entwicklung des Missionsgedankens und der Missionsträger, In: Gatz: Geschichte des kirchlichen Lebens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Bd. II, bes. 215-265.
Kölner Kollekten 40. 41. 42. 43. 44. 45.
1912 1913 1914 1915 1916 1917
19.466 J 20.596 J 20.831 J 23.144 J 25.157 J 34.391 J
293
DK 6000 AC 6000
Tab. 2: Zuwendungs-Beträge der Kölner Weihnachtskollekte 1867 bis 1876 ABK.
MISSIONSORT
JAHR/ZUWENDUNGSSUMME (BIS 1874 THALER, AB THALER 1875 MARK) Alt Altona 67/500, 73/300, 74/600,75/1200, 76/1200 1.400 Bgd Bergedorf 74/300, 75/600, 76/600 300 HB Bremen 71/200 200 BH Bremerhaven 67/1000, 68/500, 69/800, 69/1300, 70/500, 71/500, 5.350 72/500, 73/500, 74/650; 75/2100, 76/2100 Chr Christina /N 74/500, 75/1200 500 DäMi Dän. Mission 74/500 500 Fl Flensburg 67/2000, 68/600, 69/860, 70/400, 71/300, 72/500, 6.010 73/500 74/850 75/2192, 76/1948 Fra Fridericia 69/500,70/200, 71/150, 72/300, 73/200 1.350 Frdt Friderichstadt 68/200, 69/600, 72/300 1.100 GW Greifswald 70/400 400 HH Hamburg 67/500, 72/200, 75/600, 76/600 700 Hei Heide 71/300, 72/300, 73/300 900 Hor Horsens/Jütland 75/1500, 76/1500 Koph Kopenhagen 67/500, 70/200, 71/200 900 HL Lübeck 73/200, 74/500, 75/500, 75/1200, 76/1200 700 NMS Neumünster 68/400, 69/5255, 69/300, 69/150, 71/150 6.255 NZ Neustrelitz 72/400, 73/300, 74/250, 75/1500 950 Ndst Nordstrand 67/500, 76/1500 500 Ode Odense 68/500, 69/500, 69/600, 71/500, 70/250, 71/200, 3.550 72/500, 73/500 OD Oldesloe 71/50 50 Rand Randers Jütland 68/500, 69/1085, 70/250, 71/200, 72/200, 73/500 2.735 RD Rendsburg 71/300, 74/505 75/900, 76/900 805 HRO Rostock 73/400, 74/300 700 SL Schleswig 68/300, 69/500, 70/250, 71/500, 72/500,73/500, 2.950 74/400, 75/900, 76/900 SN Schwerin 74/250, 75/750, 76/750 250 Thu Thuine/St. 75/600, 76/600 Georg Summen 39.055
MARK 2.400 1.200
2.200 1.200
4.140
1.200 3.000 2.900 1.750 1.500 1.500
1.800
1.800 1.500 1.200 29.290
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Tab. 3: Nachgewiesene Einzelspenden NR. AEK, GEN I 15.29 1. Pfr. F.W. Schmitz (†1866), Essen-Steele 2. „Pfarrkind“ des Bruels 3. Pfarrei Gladbach/Dekanat Nideggen 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11 12. 13. 14. 15. 16.
August Matthen, Wuppertal-Ronsdorf Witwe Susanne Lersch, Aachen Gemeinde/Pfarrei Montjoie Pfarrei Gleuel Familie Wienands, Hardt/Mönchen-Gladbach Jungfrau aus Weisweiler
JAHR/SUMME 1867/890 Th. 3 Sgr 1867/5 Th. 1867/6000 Th, 300 Th jährl., Anniversarien 1869/150 Th. für 10 J. 1869/560 Th. 1869/585 Th. 1869/20+30 Th. 1871/100 Th. 1872/500 Th.
Erzb. Melchers über Bischof Beckmann Münstereifel/am Marien-Altar Pfarrer Pütz in Hillen Pfarrer Sommer, Weisweiler Pfr. Potthoff, Houverath/Münstereifel Johanna Elisabeth Hamers, Bucholz Adelheid Düxmann aus Müntz bei Jülich
1872/400 Th. 1873/10 Th. 1873/15 Th. 1874/25 Th. 1874/300 M. 1893/900 M. 1905/300 M.
ZWECK Kath. nördl. Dtld. Nordische Mission Neumünster/ Kommunikanten-Anstalt Kath. Schule in NM Nordische Mission Kirchbau Randers Lesemessen NM Messstiftung Neumünster Pastor H. Grüder, Kopenhagen Kirchbau Neustrelitz Altona-Rettungshaus Nordische Mission Nordische Mission Flensburg/Bremerh. Nordische Mission Nordische Mission
4. Emile Nölting an den Pastor primarius Harling 70, zz. Rom Hamburg, den 12. Oktober 1894 AEK, Nachlass Paulus Melchers, Nr. 528 Sehr geehrter Herr Pastor! Das Interesse, welches ich mit so vielen Hamburger Katholiken Ihrer Romreise für unser katholisches Schulwesen entgegenbringe, veranlasst mich, Sie auf den in der Anlage erfolgenden Artikel der „Germania“, welcher über die gegenwärtige Lage der katholischen Kirche in Dänemark handelt, hinzuweisen. Welch enorme Erfolge haben doch die Katholiken in Dänemark in den letzten Jahrzehnten erreicht und wie grundverschieden sind doch die dortigen Verhältnisse von den hiesigen! Dort in Dänemark spricht man öffentlich von Konvertiten, während wir hier uns sicher nicht getrauen dürfen, die über kurz oder lang notwendig werdende Errichtung einer neuen Missionsstation im Arbeiterviertel Barmbeck in der Zeitung anzuzeigen, wenn wir uns nicht ———— 70
Zu Franz Gerhard Harling (1855-1919), 1887-1896 pastor primarius in Hamburg, ab 1896 Domkapitular, dann Generalvikar in Osnabrück vgl. Bernd Holtmann, In: Erwin Gatz (Hg.): Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon. Berlin 1983, 284f. – Handbuch des Bistums Osnabrück 1991. Register.
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der Gefahr aussetzen wollen, sowohl die Behörden als auch die ganze protestantische Bevölkerung in die größte Aufregung zu versetzen. Wir dürfen eben nicht vergessen, wie sehr wir Katholiken hier in der Minorität sind, wie unsere protestantischen Mitbürger alles, was mit der Katholischen Religion zusammenhängt, nicht nur mit Hass ansehen, sondern es sich auch nicht nehmen lassen, gegen uns zu hetzen, indem sie alles aufzubieten sich bestreben, um uns mit den Behörden in Konflikt zu bringen, da sie nur zu gern sehen würden, dass der Senat uns noch größere Schwierigkeiten mache. Und er könnte uns auch noch größere Schwierigkeiten machen, wenn er z.B. den Unterricht durch die Schulschwestern untersage. Wenn ich nun weiter keinen Vergleich zwischen Dänemark und Hamburg ziehe, so möchte ich nicht unterlassen, auf die großen Vorteile hinzuweisen, die Dänemark bzw. die katholische Kirche in Dänemark dadurch hat, dass dort Ordensleute, ja sogar Jesuiten, eingesetzt nicht nur in der Seelsorge, sondern sogar in der Schule wirken können, durch welchen Umstand es der dänischen Gemeinde vergönnt ist, für wenig Geld tatsächlich beste und tüchtige Lehrer zu haben. Trotz der in vergangenen Jahren bestehenden drakonischen Gesetze, welche förmlich darauf hinausgingen, den katholischen Glauben vollständig auszurotten, hat Dänemark ruhig den Apostolischen Vikar angenommen als Bischof und selbst die Zeitungen haben dieses alles begrüßet. Wie grundverschieden sind doch da auch die dänischen Verhältnisse von den unserigen. Ich erinnere Sie nur an das Wort, welches der selige Windthorst im Jahre 1887 bei der Leofeier 71 bezüglich des zukünftigen Erzbistums Hamburg aussprach; genügte doch dieser eine Satz, um die Presse, die Behörden und die gesamte protestantische Bevölkerung unserer Stadt dermaßen in Harnisch zu bringen, dass, wie einer der Senatoren Ihnen und Herrn Tiefenbacher 72 je persönlich gesagt hat, dieser eine Ausspruch der Hauptgrund war, dass uns damals die erbetenen Plätze zur Errichtung von Notkirchen in Emsbüttel und Hammerbrock abgeschlagen wurden. Hat doch jetzt noch weiter das „Fremdenblatt“ bei Besprechung der in der Bürgerschaft stattge———— 71
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Anlass war das Goldene Priesterjubiläum von Papst Leo XIII. (1878-1903) am 31.12.1887, das im Deutschen Katholizismus mit Festschrift und Festakten gefeiert wurde. Zu der Rede von Ludwig Windthorst vom 29.12.1887 vgl. Paul Maria Baumarten: Römische und andere Erinnerungen. Düsseldorf 1927, 173f. – Hans-Georg Aschoff: Ludwig Windthorst Briefe 1881-1891. Um einen Nachtrag mit Briefen von 1834 bis 1889 ergänzt. Veröffentlichung der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen Bd. 47). Paderborn u.a. 2002, 628 Nr. 581 Anm. 2. Herrn Prof. Dr. Hans-Georg Aschoff (Universität Hannover) gilt verbindlicher Dank für die Hilfe bei der Suche nach dieser Belegstelle. Bekannt ist zwar Joseph Tiefenbacher (1797-1869) als Kaufmann, Präses des Hamburger VinzenzVereins und Vice-Präses des Hamburger Kolping-Vereins, kommt aber aus zeitlichen Gründen hier wohl nicht mehr in Frage. Vgl. Hamburg Zentral. Erster Gesellenverein im Bistum Osnabrück seit 1858. 150 Jahre Kolping im Erzbistum Hamburg. [Hamburg 2008], 14-19.
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habten Verhandlungen über die unseren katholischen Schule zu gewährende Subvention an der Stelle, wo auf die Herrschsucht der römischen Propaganda hingewiesen ist (durch den Schullehrer Halben), bemerkt: „man sehe wie lange das stark ausgesprochene Wort des verstorbenen Windthorst über das Erzbistum noch nachhallte“. Wie weit stehen wir doch noch hinter Dänemark zurück. Einstweilen ist an die Errichtung eines Bistums hier in Hamburg nicht zu denken. Soweit ich als alter Hamburger die hiesigen Verhältnisse kenne und überschaue, könnte die Errichtung eines Bischofssitzes der katholischen Sache nicht nur nicht dienen, sondern nur schaden. Meines Erachtens ist zunächst mit allem Eifer, aber auch mit der größten Ruhe und Besonnenheit nur dahin zu arbeiten, dass wir unsere katholischen Schulen erhalten, damit wir die Kinder katholisch erziehen, um so eine gediegene katholische Generation heranzuziehen, die später unsere Sache in den gesetzgebenden Körperschaften vertreten kann. Die Erhaltung der Schulen ist meiner Meinung nach von der allergrößten Wichtigkeit, denn die Schule muss eben der Grundpfeiler sein, auf dem die heranwachsende und kommende Generation sich bildet.73 Das ist das Ziel, welches wir zunächst zu erreichen haben und einstweilen muss sich hierdurch unser Augenmerk richten und unsere Tätigkeit vornehmlich konzentrieren. Gelingt uns dieses, dann wird auch später die Zeit kommen, wo man mit uns Katholiken wird rechnen müssen und wo man uns nicht mehr als eine „quantité négligeable“ wird behandeln können. Zum Schluss spreche ich noch den Wunsch aus, es möge Gott geben, dass Ihre Reise gute Früchte trage und dass Rom und der Hl. Vater uns in der jetzigen Notlage helfe[n]. Genehmigten Sie, hochgeehrter Herr Pastor, mit herzlichen Grüßen die Versicherungen der vorzüglichsten Hochachtung Ihres ergebenen Emile N[ö]lting
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Vgl. Günter Dörnte, Katholische Schulen in Hamburg 1832- 1939, Diss. phil. Hamburg 1983.
Der Kölner Priester Peter Klein (†1944) und seine jüdische Mutter (†1958). Ein ungewöhnliches Fallbeispiel zum Verhältnis von katholischer Kirche und den Juden von Ulrich Helbach
„... übrigens sind im Juli 107 Leute, die in derselben Lage sind wie P[eter]s Mutter, fortgekommen“ Dieses Zitat aus einem Privatbrief von 1943 zeigt sofort die Dimenson des hier geschilderten Falles. – Über 1 die Rettung von Juden vor dem Holocaust weiß man insgesamt nur sehr wenig. Das liegt naturgemäß daran, dass es über die Vorgänge an sich fast keinerlei schriftliche Quellen gab und gibt. Einige wenige Fälle kennt man aus Zeitzeugenberichten. Oft bleiben die Berichte vage, die Umstände, die Motive, die Details unklar. Meist weiß man nur wenig über diejenigen, die Hilfe erfahren haben; viele Verfolgte haben trotz punktueller Hilfe schließlich doch nicht überlebt.2 Zu konkreter fassbaren Fällen scheint die Recherche gleichwohl kaum noch lohnend, da das Geschehen erst Jahrzehnte später publik wurde. Der beste Kenner der NS-Zeit in Köln, Horst Matzerath, urteilt 2010: „Es gab eine Minderheit, die half. Allerdings wurde solche Hilfe nicht immer uneigennützig geleistet. [...] Hilfsaktionen waren mit hohem Risiko verbunden. Solche ‚unbesungenen Helden‘ waren in allen Kreisen der Bevölkerung zu finden [...].“ 3 Einige wenige Fälle tätiger Hilfe durch katholische Geistliche oder Ordensschwestern sind für Köln und Bonn bekannt geworden.4 ———— 1
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Zum Zitat s. unten mit Anm. 252. – Dem Autor waren zu dem Thema aus dem Histor. Archiv des Erzbistums (AEK) seit längerem zwei Zeitzeugenberichte bekannt, als er sich 2010, nach Kenntnis der Briefe von Fam. Hausen, zu der Bearbeitung entschloss und Anfang Januar 2011 an die konkrete Arbeit ging. Er rechnete nicht damit, darüber hinaus eine neue reichhaltige Quellenlage zu finden. Für Anregungen, Beratung und Recherchen zu dem Thema, dessen wissenschaftliches wie öffentliches Interesse evident ist, ist der Autor vielen Personen und Institutionen zu Dank verpflichtet. Ohne die zeitnahe Unterstützung aller, an die Anfragen zu richten waren, wären die vorliegenden Informationen so nicht zusammengekommen. Zu danken ist v.a. Frau Dr. Adelheid Hausen (Kempen), die 2010 die Transkriptionen ihrer ca. 2.000 Briefe in digitaler Form zur Verfügung stellte und so deren Auswertung zu Peter Klein mit geringem Aufwand ermöglichte; ihre Fragen und Ideen waren immer anregend und fördernd. Sämtliche erwähnten Auskünfte zu dem Fall stammen von Januar/ Februar 2011. Meist genügte zum Überleben von Juden nicht die mutige Tat eines Mitmenschen. Der Verfolgte benötigte mehrfach geeignete Hilfe – zum jeweils passenden Zeitpunkt – und viele glückliche Fügungen. Horst Matzerath, Köln in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945. Geschichte der Stadt Köln, Bd. 12, Köln 2010, S. 420.
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Der hier beschriebene Fall, der vor allem an diesen beiden Orten spielt, ist in vieler Hinsicht ungewöhnlich. Einerseits ist er, was die Fokussierung auf die Helferseite angeht, qua Zeitzeugenaussage über Publikationen von Eduard Hegel (1983) 5 und nach ihm Norbert Trippen (1995)6 in knapper Form, ohne Beleg, bekannt geworden: Der damalige Direktor des Priesterausbildungsinstituts „Collegium Leoninum“ in Bonn, Joseph Teusch, habe dort 1944 den halbjüdischen Priester Peter Klein und seine jüdische Mutter in mutiger Weise ins Haus aufgenommen. Weil es aber darüber hinaus in der Literatur keinerlei Ansatzpunkte gab, war der Fall in der Bonner Stadtgeschichte bisher unbekannt.7 So kannten auch die Zeitgeschichtsforschung zur NS-Zeit sowie die Dokumentation der jüdischen Opfer den Fall bislang nicht; für die Dokumentation galt die Jüdin Berta Klein in den offiziellen OpferListen (Yad Vashem, Bundesarchiv und Stadt Köln) noch im Februar 2011 als deportiert mit unbekanntem Ziel und, sehr wahrscheinlich, ermordet.8 ———— 4
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Hinweise (gesammelt in den 1970er Jahren durch Bernhard Wittschier) zu Hilfeleistungen im kirchlichen Bereich, in Köln durch die Geistlichen Hans Böhner (Familien Kasserra und Kahn, 1944 gewarnt und in den Kellern des ehem. Erzbischöfl. Palais versteckt, bzw. das Verstecken gedeckt; ferner „Halbjude“ Spiegel), Kaplan Hans Valks (Fam. Oppenheimer) u.a., in: AEK, Sammlung (Slg.) Widerstand und Verfolgung (WuV), Ordner 67; zum hier behandelten Fall findet sich dort nichts. – Hinweise zur Judenhilfe auch bei: Eduard Hegel, Das Erzbistum Köln [...] 1815 -1962, Geschichte des Erzbistums Köln, Bd. 5, Köln 1987, S. 630 (mit Anm. 61 [u.a. Verweis auf den Aufsatz von 1983]). Zu Bonn s.u. Anm. 7 u. 227. Zur Judenhilfe, nicht nur durch Kleriker, Jana Leichsenring, Christliche Hilfen für „Nichtarier“ und Juden. Die Kirchen und der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft und Juden 1933 -1945, in: K.-J. Hummel / C. Kösters (Hg.), Kirchen im Krieg. Europa 1939-1945, Paderborn u.a. 2007, S. 293-315. Eduard Hegel, Joseph Teuschs Kampf gegen den Nationalsozialismus, in: Pastoralblatt Köln 35, 1983, S. 34- 40, hier S. 39 (basierend auf einem Vortrag vom 18.11.1981; als Beleg wird „Wittschier“ angegeben). Bei Ulrich von Hehl, Katholische Kirche und Nationalsozialismus im Erzbistum Köln 1933-1945, Mainz 1977, findet sich noch kein Hinweis dazu. Norbert Trippen, Joseph Teusch (1902-1976), in: F. J. Heyen (Hg.), Rheinische Lebensbilder, Bd. 15, Köln 1995, S. 223 - 246, hier S. 230. Helmut Vogt, Bonn in Kriegs- und Krisenzeiten (1914-1948), in: Dietrich Höroldt (Hg.), Geschichte der Stadt Bonn, Bd. 4: Bonn [...] 1794-1989, Bonn 1989, S. 600 - 604, mit Einzelhinweisen auf wenige untergetauchte Juden (dazu s.u. Anm. 227). Ferner frdl. Hinweis: Dr. Norbert Schloßmacher (Stadtarchiv Bonn) 2009. Die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus aus Köln. Gedenkbuch (Red.: NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln) (= Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, 77. Heft), Köln u.a. 1995, S. 244. – Homepage www.bundesarchiv.de/gedenkbuch – Peter Klein war Jan. 2011 laut Bundesarchiv in der (nicht öffentlich nutzbaren) Datenbank für die jüdischen Einwohner im Deutschen Reich 1933- 1945 erfasst, doch nur fragmentarisch; z.B. fehlte jeder Hinweis auf Tod, Todesort und -ursache (als NS-Opfer, als Soldat oder zivil) (frdl. Mitteilung: Nicolay M. Zimmermann, Bundesarchiv, Referat R 1, Berlin vom 18.1.2011) – Homepage www.yadvashem.org (Datenbank mit Gedenkblatt); die unkonkreten Angaben mit dem Wohnort Köln hatte 2001 der inzwischen verstorbene Forscher Alex Salm (Wegberg) an Yad Vashem vermeldet (er hatte im Krieg das Lager/ Ghetto Riga überlebt und vermeldete auch andernorts jüdische Opfer).
Der Kölner Priester Peter Klein und seine jüdische Mutter
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Die Jüdin Berta Klein (um 1946) im Alter von ca. 70 Jahren und ihr Sohn Peter Klein (1933/34) im Alter von ca. 22 Jahren
Wenigen Menschen war Näheres bekannt; aber alle Wissensträger bzw. Insider kannten über die publizierte – im Folgenden kritisch zu beleuchtende – Basisinformation hinaus doch nur Bruchstücke; ein vorhandener Zeitzeugenbericht 9 erweist sich als quellenkritisch schwierig. Dass die Recherche des Falles dennoch äußerst ergiebig war, ist einer (trotz Nichtbenutzbarbeit des Kölner Stadtarchivs 10) wider Erwarten guten Quellenlage zu verdanken, nicht zuletzt der 2009 erstmals nach außen hin in ihrer Existenz bekannt gewordenen Briefsammlung der mit Kleins bekannten Familie Hausen.11 ———— 9
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Bericht von Wilhelm Schönartz (1910 - 1988), angefertigt 1987 als Bündelung der eigenen Erinnerung und als Vermächtnis bez. des Priesters Peter Klein. Sch. übergab die erste Fassung (2 Seiten) vom 4.4.1987 an Hans Böhner zum Gegenlesen und verfasste danach den endgültigen Bericht (5 Seiten) vom 15.4.1987. (AEK, NL Schönartz 50, Kopie in: AEK, Slg. Personalia; die erste Fassung in: AEK, NL Böhner, Ordner). Dazu auch Anm. 330. Dort wären noch die Bestände zu den Bereichen Kunst / Theater und Meldewesen vor 1910/12 von Interesse, ferner „Gymnasium Kreuzgasse“ (1921/30) sowie „Wohnungsbaugenossenschaft GAG“ (betr. Köln-Bickendorf 1937/39). Der Kölner Willi Hausen (1914 -1944) kannte Peter Klein seit spätestens 1928 von der Gruppe Kreuzgasse des ND. Beide waren befreundet. Nach dem Unfalltod des Vaters (1933) verließ Willi die Schule vor dem Abitur. Er musste vor Kriegsbeginn zur Wehrmacht, blieb dann dort, zunächst in Wahn, seit Sommer 1940 in Danzig, machte später eine Ausbildung zum Feuerwerker, war seit Sommer 1942 leitend im Gerätelager Zgierz zur Zeugamt-Nebenstelle Litzmannstadt (Lodz) (Heeres-Hauptzeugamt Posen) und seit 1943 an der Ostfront, wo er im August 1944 fiel. – Er und seine Frau Anna geb. Schley (1915 -1987) aus Köln-Ehrenfeld, Abiturientin und Tochter einer inzw. verwitweten Lehrerin († 1946), heirateten 1941. Sie sahen sich (kriegsbedingt) nur für insgesamt 6 Wochen, als Ehepaar in Urlauben. So entstand zwischen den beiden tiefgläubigen Menschen ein intensiver brieflicher Austausch, der fast in toto erhalten ist, weil Willi Hausen die Briefe seiner Frau stets
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Im Ergebnis erhalten nun sowohl die Jüdin Berta Abramowitsch, verh. Klein, als auch ihr Sohn Peter Klein, bis zum Tode 1944 Priester des Erzbistums Köln, sozusagen ein Stück weit ein Gesicht, nicht nur durch die bis heute unbekannt gebliebenen Fotoportraits der beiden. Zudem sollen die an den Vorgängen beteiligten Mitwissenden oder aktiv Helfenden dokumentiert werden; nebst der Spur ihres Wissens – bis in die Gegenwart. Dabei wird die Untersuchung, die mangels Egoquellen der Berta Klein vor 1945 zunächst stärker auf den Sohn hin fokussiert wird, nicht bei der Erhellung der Ereignisse von 1943-45 stehen bleiben. Es soll auch der Frage nachgegangen werden, welcher Art die Nachteile waren, die ein 1936 geweihter Priester wegen seiner Abstammung zu erdulden hatte, und wie sich die Probleme dieser beiden Personen aus der Sicht der damals Verantwortlichen bzw. der kirchlichen Hierarchie darstellten – seit 1933, aber auch vorher, als Judentum und Christentum in einem religiösen Spannungsverhältnis standen. Denn, das sei vorausgeschickt, Berta Klein blieb Jüdin und konvertierte trotz engster Berührung mit der katholischen Kirche zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens.
Die Sängerin Berta Abramowitsch und der Kaufmann Peter Klein (sen.) – Kindheit und Elternhaus von Peter Klein (jun.) Als Peter Asari Joseph Friedrich Wilhelm Klein am 31. Januar 1912, im Kaiserreich, in der Großstadt Köln geboren wurde 12, lebten seine Eltern in einer gut situierten Wohnlage im 2. Stock des soeben erbauten Hauses Neußer Platz 12, direkt an der St. Agneskirche im Norden der Innenstadt. Die Mutter Bert(h)a wurde am 23. Oktober 1876 unter dem Familiennamen Abramowitsch (Абрамович) im heutigen Litauen, das damals zum Zarenreich gehörte, geboren 14; sie ist dort wohl auch aufgewachsen. Ihr ————
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in die Heimat zurücksandte. Seit 2009 befinden sich die ca. 2.000 Briefe (1938/40-1944) im Historischen Archiv des Erzbistums (AEK, Nachlass [NL] Hausen). In insgesamt ca. 50 dieser Briefe (davon knapp 40 aus 1943/44) kommen Peter Klein oder seine Mutter vor; sodann existieren ebenda 17 Briefe (1940-1944) von Peter Klein an Willi bzw. Anna Hausen. Beurkundung: Standesamt Köln II Nr. 157/1912 (Frdl. Auskunft: Landesarchiv NRW, Brühl, Ulrich Bartels). Der Name könnte bei der Auswanderung aus dem jüdischen Namen Beila abgeleitet sein. Im Folgenden wird die Schreibweise „Berta“ verwendet, weil Frau Klein selbst (16.4.1946, Stadtarchiv Bonn, N 1985/1332, B. Klein, Bl. 2) so unterschrieb. In Remigola, Kreis Ponewesch (heute das litauische Ramygala bei Panev÷žys), ca. 130 km norwestl. von Vilnius (Wilna). Spätere Angaben (seit 1945) weisen alle Wilna als Geburtsort aus; auch Berta Klein hat
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Vater, der Kaufmann Hirsch Kasrielowitsch Abramowitsch, ebenso wie die Mutter, Chaja Mowschowna, waren Juden. Beide waren in Wilna (Vilnius) ansässig 15, einer Stadt, in der um 1900 fast die Hälfte der 160.000 Einwohner litauische Juden waren. Ihre Alltagssprache war das Ost-Jiddisch; den Männern war v.a. für die Liturgie die „heilige Sprache“ Hebräisch vorbehalten. Es gab in Wilna rund 100 Synagogen. Welches Verhältnis die erwachsene Frau Berta konkret zum jüdischen Glauben und Kult hatte, ist unbekannt. Sicher ist, dass sie bis zum Tode niemals konvertierte.16 Das kann religiöse Gründe haben, aber ebenso in ihrer jüdischen Identität begründet sein. Bei der Geburt ihres einzigen 17 Kindes Peter war die Mutter bereits 35 Jahre alt. Zu dem Zeitpunkt hatte Berta Abramowitsch eine Künstlerkarriere als professionelle Sängerin 18 in Konzerten (bzw. Opern und Operetten) hinter sich. Sie besaß – durchaus nicht selbstverständlich – einen Flügel, der schließlich 1943 von den Bomben vernichtet wurde.19 Berta Klein sprach in ————
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das nicht korrigiert, wohl weil sie im weithin bekannten Wilna aufwuchs. So gelangte die falsche Angabe „Wilna“ auch in das Sterberegister (s.u.). Doch hatte der Registrator des Generalvikariates 1953 die korrekte Spur im Blick (s.u. mit Anm. 329). – Die Zeitzeugen Böhner und Schönartz (wie Anm. 9) gaben später fälschlich Moskau als Geburtsort an. – Unklar ist, warum Berta am 15.9.1947 (an Kolb/VVN, s.u.) schrieb, sie sei „am 7. September“ 71 Jahre geworden (statt 23.10.). Frdl. Hinweise dazu: Galina Baranova (Lithuanian State Historical Archives, Vilnius). Weiter reichende Recherchen zur Familie waren in der verfügbaren Zeit nicht möglich. Bis 1934 ist es – insbes. in den standesamtlichen Einträgen – sicher bezeugt; auch alle späteren entsprechenden Quellen, bis hin zur Beurkundung des Todes (s.u.) geben „israelitisch“ an. – Die Konversion einer Jüdin wäre in der Pfarrei St. Agnes nichts völlig Außergewöhnliches gewesen. Von 1902-1932 gab es 8, 1933 -1945 nochmals 9 Konversionen von erwachsenen Juden (Pfarrarchiv Köln, St. Agnes, Ordner: Dokumentation „Widerstand“). Die (glaubhafte) Information entstammt der Angabe in einem Unterstützungsantrag gegenüber der Stadt Bonn 1946 (Stadtarchiv Bonn N 1985/1332, B. Klein, Bl. 2). Amtliche Dokumente sprechen von „Konzertsängerin“ und „Sängerin“; spätere Quellen geben an: „Opernsängerin“. – In einem Zeitzeugeninterview wird sie als ehem. Tänzerin genannt (Anm. 107). – Berta darf nicht verwechselt werden mit der katholischen Opernsängerin Berta Klein (geb. 1866 in Landau), verheiratet seit 1894 (in Düsseldorf) mit dem evangel. Opernsänger und späteren Stummfilmschauspieler Rudolf Christians (1869-1921). Beide lebten in Wien und Berlin, mit einer Tochter (gest. 1951 in USA), später in USA und Berlin (frdl. Auskünfte: Theaterwiss. Sammlung der Univ. Köln, Stadt- bzw. Landesarchive in Krefeld, Hildesheim, Düsseldorf, Wien, Berlin; Ludwig Eisenbergs großes biographisches Theaterlexikon der Deutschen Bühne, Leipzig 1903, S. 155f.; W. Kosch [Hg.], Deutsches Theater-Lexikon, Klagenfurt-Wien, Bd. 1, 1953, S. 265; Deutsches Bühnen-Jahrbuch, 1953. Theatergesch. Adressbuch, 61. Jg, Berlin. S. 75f.). – Eine in Deutschland bekannte Sängerin Berta Abramowitsch ließ sich nicht ermitteln. Peter Klein an Willi Hausen (21.8.1943) (AEK, NL Hausen). – Es wäre interessant zu wissen, wer im Leoninum just im Sommer 1930 – Kleins 1. Sem. – in der Festakademie am Patroziniumsfest (passend zum Vortrag von Prof. Ehrhard über „Die orientalische Kirchenfrage“) die dargebotenen russischen Gesangsvorträge übernommen hat (Übersetzungen dazu wurden dem Auditorium verteilt): Volkslied „To nje wjetir“ und Romanze „Ni slowa, o drug moi“ (beide von P. Tschaikowski)
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den 1920er Jahren nachweislich Deutsch und Russisch.20 Zeitgenossen, die sie näher charakterisieren, stellen sie als „sehr ehrenwerte Dame“, „sehr feine Frau“ bzw. gestandene Persönlichkeit dar 21; ihr Portrait 22 und ihre Briefe von 1945/47 bestätigen diesen Eindruck. Die Originalzeilen von ihr zeigen eine selbstbewusst-höfliche und gewandte Ausdrucksform.23 Späteren schwierig einzuschätzenden Zeitzeugenberichten zufolge soll sie ihren Mann auf einer Konzertreise bzw. Tournee 24 kennengelernt haben. Ob sie vor der Heirat bereits in Köln beruflich tätig war, ist bislang unklar.25 Berta, die damals schon in Köln gemeldet war 26, heiratete am 4. Mai 1910 in Köln 27 den in derselben Stadt 28 wohnenden katholischen Kaufmann Peter (Joseph) Klein, Sohn des katholischen Stahlgießers (Peter) Joseph Klein und seiner evangelischen (!) Frau Alma Helene Noll aus Dortmund. Peter Klein (sen.) wurde dort am 9. Mai 1880 geboren und hatte einen älteren Bruder Joseph 29, der sein Trauzeuge war. Die Lebenswelt der Eltern – ———— 20 21
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sowie Morgenlied „Ljeti wstuwojtje!“ (C. Moujuschko) (Programm, in: AEK, Leoninum, Zug. 1458, Ordner 8). Zeitzeugen-Interview Niederwipper, 1988 (Anm. 107). Pfarrer Janssen 1934 (s.u. mit Anm. 85); H. Böhner 1983 (AEK, Slg. Personalia). – Auch die indirekten Urteile spiegeln, über die sehr positive Bewertung des Sohnes, zugleich das Bild respektvoller Wahrnehmung der Mutter (Dir. Reckers 1934 [wie Anm. 84]). Siehe Abbildung (Foto von vor April 1946, in: Stadtarchiv Bonn N 1985/1332, B. Klein). – Das Foto (vor 20.1.1934) von Peter Klein in: AEK Priesterseminar 353. S.u. Der 1987 verfasste Bericht von Wilhelm Schönartz (Anm. 9), der Berta Klein von 1946 bis 1952 im Collegium Leoninum in Bonn erlebte, geht darauf ein, doch ist er für die Zeit vor ca. 1925 in manchem nicht zutreffend. Über die Karriere Bertas, die in Moskau geboren sei, heißt es: „Sie war von Beruf eine erfolgreiche Kammersängerin und ist als solche viel in der Welt herumgekommen. Auf einer solchen Konzerttournee hat sie ihren künftigen Mann kennengelernt.“ Johannes Hausen (geb. 1942) erinnert sich, dass bei seiner Mutter Anna die Rede davon war, das Kennenlernen sei in Hamburg gewesen. Doch haben Recherchen für die Zeit ab 1895 in der Theatersammlung an der Universität Hamburg (Msk. Paul Möhring, Theater in Hamburg, Bde. 2-3, 1870-1924) ergaben, dass dort in den bekannteren Theatern keine Gastspiele osteuropäischer Künstler und Ensembles waren. – Auch das Vilna Gaon Jewish State Museum konnte in seinen Theatersammlungen keine Hinweise finden (frdl. Mitteilung: Dr. Aist÷ Niunkait÷-Račiūnien÷). Dort waren 1872 an der Glockengasse das Stadttheater und 1902 am Habsburger Ring die Oper errichtet worden. – Die städtischen Akten zur Musik- und Theaterkultur sind seit 2009 nicht nutzbar. Im Mai 1910: Brüsseler Str. 22 (nahe des Klingelpütz); wohl zur Untermiete (da nicht im Adressbuch vermerkt). Von den im Haus lebenden Personen, u.a. der Bildhauer Wilhelm Karge, kann ohne Weiteres keine Verbindung zu Berta Abramowitsch gefunden werden. Standesamt Köln II Nr. 249/1910 (Frdl. Auskunft: Landesarchiv NRW, Brühl, Ulrich Bartels). 1908/09-1909/10 (Adressbücher 1909, 1910) Am Römerturm 11 (2. OG, ohne Telefonanschluss). 35 Jahre alt (geb. 19.4.1875, s. Anm. 30), Werkführer in Oberlahr (Siegkreis, nahe der Heimat des Vaters). Dieser Onkel von Peter Klein dürfte es gewesen sein, der 1924 (Todesanzeige) verheiratet war. (vgl. unten mit Anm. 41 und 275).
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sie starben, als Peter 1/2 bzw. 6 Jahre alt war – und seiner frühen Kindheit war das Industrie-Revier von Dortmund.30 Die katholische Eheschließung eines Katholiken mit einer (ungetauften) Jüdin wäre auch damals kirchlich ohne Konversion der Jüdin möglich gewesen, wenn beide Ehepartner die Erziehung der Kinder im katholischen Glauben versprochen hätten. Allerdings hätte diese religionsverschiedene Ehe vom Papst dispensiert werden müssen.31 Es ist aber weder zu einer Konversion bzw. einem Übertritt der Ehefrau zur katholischen Kirche noch zur kirchlichen Heirat gekommen. Für liberale Juden reichte – so man keine besondere religiöse Betonung anstrebte – eine Zivilehe vollkommen aus.32 Nachdem der Bräutigam zuvor kurz in Köln-Lindenthal, Lortzingplatz 15 33 gewohnt hatte, zog das Ehepaar 1911 ins neu entstandene Agnesviertel. Den Kölner Adressbüchern ist zu entnehmen, dass Peter Klein von ca. 1915 bis mindestens 1921/22 Bevollmächtigter bzw. Filialleiter von Heinrich Lanz, Lokomobilfabrikant, war. Die 1859 gegründete Mannheimer Firma Lanz war europaweit einer der Marktführer für Zugmaschinen (Straßenlokomotiven) bzw. Traktoren für Bergbau und Landwirtschaft.34 Die Kölner ———— 30
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Der Vater, bis 1877 Tagelöhner, später Arbeiter, stammte aus Griesenbach (Ww., 25 km südöstl. Siegburg, Kr. Neuwied, Pfarrei Buchholz [Erzbistum Köln]). Er starb am 25.1.1886 (nur 37 Jahre alt) in Dortmund. Die Mutter war mit nur 25 Jahren am 28.1.1881 in Dortmund gestorben. Es gab mindestens 3 Geschwister: der Älteste, oben erwähnter (Peter) Joseph, geb. am 19.4.1875, Gertrud Helene, geb. 12.2.1877, und Anton Gustav, geb. 14.12.1878 (alle in Dortmund). Man lebte 1882 in der Aachener Str. (1878: Nr. 10, 1882: Nr. 12), direkt beim Werk der Union AG für Bergbau-, Eisen- und Stahlindustrie (frdl. Auskunft Stadtarchiv Dortmund: Ute Pradler). – Wer die 4 Geschwister als Vollwaisen aufzog, ist unklar. Vielleicht wurden Verwandte des Vaters aus dem Westerwald tätig. – Ein zweiter Trauzeuge 1910 war der 69-jährige Werkmeister – vermutlich auf der Henrichshütte – Friedrich Leiendecker aus Hattingen/ Ruhr; wohl ein Bekannter oder Verwandter der Familie (im ThyssenKrupp-Archiv, Duisburg kein Hinweis dazu, frdl. Auskunft: Andreas Zilt / Astrid Dörnemann). Joseph Vogt, Das kirchliche Eherecht, Cöln 3. Aufl. 1910, S. 106-116. Solche Dispensen gab es in sehr seltenen Fällen. (Frdl. Hinweise: Prälat Dr. Günter Assenmacher [Offizial]). Vgl. z.B. Friederike Neubert, Ein Geflecht aus Gesetzen und Geboten, Das jüdische Eherecht ist auch ohne die gesetzliche Neuregelung verwirrend kompliziert, in: Jüdische Zeitung (online: http://www.j-zeit.de/archiv/artikel.1378.html (20.2.2011): „Bereits mit Einführung der Zivilehe Ende des 19. Jahrhunderts akzeptierte man [unter liberalen Juden] diese und ging dazu über, der religiösen Eheschließung einen neuen Stellenwert beizumessen. [...] Der Rabbiner Joseph Norden beschrieb 1918 die veränderte Stellung der jüdischen Hochzeit wie folgt: ‚Da die für die Ehe in Betracht kommenden rechtlichen Bestimmungen heutzutage durch die staatlichen Gesetze geregelt sind, so ist die jüdische Trauung heute womöglich noch wichtiger als in früheren Zeiten, denn sie trägt nunmehr einen religiösen Charakter und soll von allem juristischen Beiwerk losgelöst sein.‘ “ Dort ist Peter Klein im Adressbuch nur zu 1911 genannt (1. Stock; das Haus war soeben neu entstanden). 1914 beschäftigte die Firma (Anfang 20. Jh. Marktführer in Europa) über 5.000 Arbeiter. Bis 1910 waren 25.000 Lokomobile entstanden. Zur Weltausstellung in Brüssel 1910 glänzte man mit einer 1.000-PS-Maschine. Die Jahresproduktion betrug 1912 ca. 2.400 Stück. 1911 begann die Firma mit
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Filiale befand sich von 1906 bis 1927 Am Hof 2a (im Stollwerkhaus) 35 in bester Lage, nahe von Dom und Bahnhof. 1910 wirkten dort wohl 14 Mitarbeiter.36 Der soziale Status der Familie kann nicht gering gewesen sein. Kleins verfügten z.B. seit 1911/12 über einen privaten Telefonanschluss 37 und eine Hausgehilfin.38 Das Wohnviertel war mittelständisch geprägt, v.a. Beamte und Angestellte; im Haus wohnten mehrere Kaufleute.39 Wohl 1924 – ein Jahr starker Veränderungen der Firma Lanz – verließ Klein die Leitung der Kölner Filiale.40 Am 26. August 1924 verstarb der Ehemann und Vater plötzlich im Alter von 44 Jahren am Herzschlag.41 Da ————
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dem Luftschiffbau. 1914 kam der Export zum Erliegen, dafür bald Herstellung von Zugmaschinen für schwere Geschütze. 1918 gab es 3.800 Beschäftigte, 22 Luftschiffe wurden bis dato gebaut. Bis 1922/23 wurden 40.000 Lokomobile gebaut, nach 1918 innovative Neuheiten (zweiter LanzBulldog, 5.000 Stück bis 1925). 1924 Kooperations- bzw. Fabrikations-Trennungsvertrag mit der R. Wolff AG, Magdeburg-Buckau, 1925 Umwandlung in eine Aktiengesellschaft, 1925/26 Einführung der Fließbandarbeit (www.albert-gieseler.de/dampf_de [Firmenregister, dort: Lanz AG] ). Die Filiale bestand seit 1897, zunächst am Hohenstaufenring 29, dann bis 1906 am Wallrafplatz 2, wo sie auch ab 1927 wieder ihren Sitz hatte. Werkszeitschrift „Lanz-Turm“ von 1952 (frdl. Auskunft: Frau Hofer, Werksarchiv der Firma JohnDeere [in Mannheim], die die Lanz AG später übernahm). Tel. 5683, später 75683; auch als „Witwe ohne Gewerbe“ behielt Berta das Telefon bei. Willi Hausen an Anna Hausen, 31.5./1.6.1944: „Könnte man ihr [Berta Klein] doch schreiben. Hast Du nicht die Anschrift ihrer ehemaligen Hausgehilfin?“ (AEK, NL Hausen); dazu ferner unten mit Anm. 54. So gab es unter den insges. 14 Personen/ Haushalten: 1912/13 immerhin 5 Kaufleute (3 mit Telefonanschluss) (1 davon jüd.), 1 Direktor, 1 Prokurist, 2 weibl. Rentiers (1 verwitw.), 1 jüd. Altmetallhändler (mit Telefon), 1 Händler („Ag[en]t[u]r[e]n[-Inhaber?]“) (mit Telefon), 1 Witwe ohne Gewerbe sowie in obersten Stockwerk 1 Betriebssekretär und 1 Hilfsschaffner; 1927/28 waren es 6 Kaufleute (5 mit Telefon), ferner: 1 „Ag[en]t[u]r[e]n[-Inhaber?]“ bzw. (so 1931) „Trikotag[enhändler]“ (mit Telefon), 1 Oberingenieur (mit Telefon), 3 Witwen (davon eine [B. Klein] mit Telefon) sowie im obersten Stockwerk 1 Werkmeister, 1 Mechaniker und 1 Kauffräulein. Die dienstliche Traueranzeige in der Kölnischen Zeitung vom 28.8.1924 lautet: „Am 26. August verschied plötzlich und unerwartet unser ehemaliger langjähriger Chef, Herr Peter Klein. Unser Wohl war ihm stets vornehmste Pflicht und [so] wird er uns allen unvergessen bleiben. Die Angestellten der Firma Heinrich Lanz, Mannheim, Filiale Köln.“ (Kölner Stadtanzeiger). – Möglich ist ein Ausscheiden aus der Firma ebenso wie eine Beförderung innerhalb der Firma, z.B. in eine andere Filiale, jedenfalls weg von Köln. Anzeige in der Kölnischen Zeitung vom 27.8.1924: „Statt jeder besonderen Anzeige. Heute morgen 6 Uhr entschlief plötzlich und unerwartet infolge Herzschlags mein über alles geliebter Gatte, mein treubesorgter Vater, unser lieber Bruder, Schwager und Onkel Herr Peter Klein im 45. Lebensjahre. Im Namen der tieftrauernden Hinterbliebenen: Frau Bertha Klein und Sohn. Köln. Neußer Platz 12, den 26. August 1924. Die Beerdigung findet statt am Freitag den 29. August morgens 11 Uhr von der Leichenhalle Melaten aus. Die Exequien werden gehalten am selben Tage morgens 8 [?] Uhr in St. Agnes. Kondolenzbesuche dankend verbeten.“ Sterbebucheintrag im Pfarrarchiv Köln, St. Agnes, 1926; zur Todesursache auch die Angabe des Sohnes 1933: AEK, Personalverw. Priester 646. – Die Beisetzung auf dem Friedhof Melaten erfolgte, nachdem die Familie dort am Vortag (28.8.) ein Familiengrab (Wahlgrabstätte, auf 30 Jahre) erworben hatte (Flur 44, Nr. 188, auf dem Erweiterungsteil der Jahre 1884/87ff.) (frdl. Auskunft: Friedhofsverwaltung Melaten, Angelika Schmitz).
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sich nachweislich kein (!) Eintrag in einem der Kölner Standesämter findet 42, bleibt unklar, ob Peter Klein sen. nicht auswärts (nahe Köln) gestorben ist, auch wenn die Anzeige das nicht ausdrückt. – Auffallend bei sämtlichen Zeitzeugen ist die Un- und Fehlinformiertheit über den Vater von Peter Klein jun. Sein Tod bzw. die Umstände dürften nachhaltig traumatisch gewirkt haben. So würde sich erklären, dass sämtliche Wahrnehmungen und Hinweise von ganz unterschiedlichen Zeitzeugen in falsche Richtungen gingen – man hielt den Vater teils für jüdisch 43, teils für evangelisch 44 – und selbst der Priester Wilhelm Schönartz 45, der Frau Klein 1946/52 mehrfach im Leoninum sprach, drang nicht konkret hinter den Schleier, der über der Zeit vor ca. 1924/30 lag. Hierzu scheinen Berta (nach 1945) ebenso wie ihr Sohn (nach ca. 1930) an wesentlichen Punkten geschwiegen zu haben, woraus die Gesprächspartner ihre eigenen Schlüsse zogen.46 Wir wissen kaum etwas über die Lebenseinstellung der Eltern. Es scheint, dass der Vater in Köln weder halbwegs heimisch noch im katholischen Milieu besonders verwurzelt war 47; zur Taufe des Kindes erschien katholischerseits ———— 42
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In den Registern (Zweitschriften) des für den Wohnort zuständigen Standesamtes Köln II sowie sämtlicher weiterer zur heutigen Stadt Köln gehörender 16 Standesämter (inkl. Namenverzeichnissen) findet sich der Eintrag nicht (frdl. Auskunft: Landesarchiv NRW, Brühl, Ulrich Bartels). Offenbar wurde er auch durch die Standesbeamten 1941 nicht (mehr) ermittelt (s.u.). Heinz Decker (1914 - 2009), als Jugendlicher zeitweilig in der Pfarrei St. Agnes, ging 1993 davon aus, dass beide Eltern gläubige Juden waren und Klein nach dem Abitur konvertiert sei. Die Eltern seien entsetzt gewesen, hätten aber keine Schwierigkeiten gemacht (wie Anm. 92). Zeitzeugen-Interview Niederwipper, 1988 (wie Anm. 107); Erinnerung Fam. Hausen (Kempen). Wilhelm Schönartz (1910 - 1988), 1935 Priesterweihe, 1935 Aushilfe in Düsseldorf-Oberkassel, in Walberberg, in Essen-Krey-Leithe, in Düsseldorf, 1935 beurlaubt ins Erzbistum Freiburg, 1937 Kaplan in Köln-Ehrenfeld, St. Anna, Nov. 1939 studienhalber beurlaubt nach Breslau, April 1940 Hausgeistlicher Schloss Türnich (Balkhausen), Aug. 1940 Bad Godesberg-Plittersdorf, Aug. 1946 (faktisch Okt., als Nachfolger von A. Franzen [!]) Repetent am Collegium Leoninum, Bonn, Dez. 1952 Rektoratspfarrer in Buschdorf (bei Bonn), 1957 Erzbischöfl. Bibliothekar und Direktor der Diözesanbibliothek Köln. – (Es sind keine Gestapomaßnahmen gegen ihn bekannt: U. von Hehl / C. Kösters / u.a., Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung, 3. Aufl., Paderborn u.a. 1996.) Nach Schönartz’ Bericht (Anm. 9) von 1987 (Sch. kannte Peter Klein [jun.] seit der Ausbildung im Leoninum 1930 -1932/33 und im Priesterseminar 1934- 1934/35; Sch. war 2 Semester höher) sei der Mann von Berta im Ersten Weltkrieg gefallen. Von dieser Fehlinformation war auch Hans Böhner, der Klein ebenfalls von 1932-1933/34 (als Rendant des Leoninum) und dann zumindest aus den 1940er Jahren im Konnex ND gut kannte, fälschlich ausgegangen beim Gegenlesen von Schönartz’ erstem Entwurf. Desgleichen ist falsch, dass die Ehe der Eltern (nach erteilter Dispens) katholischkirchlich geschlossen worden sei. Davon ausgehend aber stimmen auch die Hintergründe um die bewusst – dem Mann zuliebe – erfolgte katholische Kindererziehung seitens der Mutter nicht so, wie es berichtet wird. In den Passagen zeugt der Bericht authentisch vom Nichtwissen selbst der näher Vertrauten (wohl bereits seit den 1930er Jahren). Zur zunehmenden Säkularisierung im großstädtischen Milieu („Massenaustritte aus den Kirchen“) Konrad Baumgarten, Die Neubesinnung auf die Pfarrei als Gemeinde nach dem Ersten Weltkrieg,
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außer ihm nur sein außerhalb Kölns lebender Bruder 48, der auch Trauzeuge gewesen war. Somit war es ihm anscheinend kein inneres Problem, eine jüdische Künstlerin zu ehelichen, die Ihre gewachsene Entscheidung durchhält und jüdisch bleibt. Für Akademiker und, in dem Fall, Künstler in städtischer Lebenswelt war es damals nicht ungewöhnlich, jüdisch liberal bzw. stärker säkular ausgerichtet zu sein. So könnte Berta durchaus ihrerseits nicht mehr oder nur noch locker der jüdischen Gemeinde angehört haben. Möglicherweise hat sie sich, so sie nicht von außen darauf angesprochen wurde, vor 1933 zeitweilig gar nicht mehr tiefergehend als Jüdin gefühlt; wir wissen es nicht. Das Festhalten am Status „Jüdin“ kann Identitätsgründe abseits des rein Religiösen gehabt haben 49 und durch die Verfolgung bekräftigt worden sein. Für die Beteiligten ebenso wie für die Betrachter – bis heute – besonders bemerkenswert wurde Bertas jüdische Identität aber erst, als ihr Sohn beim Abitur den Berufswunsch „Priester“ äußerte.
Sozialisation in der Pfarrei St. Agnes in Köln Dass der Sohn Peter Asari 50 nach 4 Lebensmonaten, am 14. April 1912, erst 51 in der nahen Kirche St. Agnes getauft wurde, kann mit einer mangelnden kirchlichen Bindung des Vaters zusammenhängen; ohne ihn dürfte rollengerecht die Entscheidung zur Taufe nicht gefallen sein. Anders als es Zeitzeugen voraussetzen, kann es keinen für die Katholizität des Jungen alles entscheidenden Entschluss der Mutter – ihrem angeblich verstorbenen Mann zuliebe – gegeben haben. Denn der Sohn war beim Tod seines Vaters kein Kleinkind mehr 52, sondern 12 Jahre alt und Oberschüler. Gleichwohl ———— 48
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in: Erwin Gatz (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens [...], Band 1, Freiburg u.a. 1991, S. 115122, hier: S. 119, für die der 1920er Jahre. Josephus Klein ist als einziger Pate (neben dem Geistlichen) vermerkt (Pfarrarchiv Köln, St. Agnes, Taufbuch zu 1912). Der Autor dankt Dr. Barbara Becker-Jákli (NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln) für wichtige Hinweise zu diesen Fragen. Der sicherlich ganz bewusst mütterlicherseits gewählte jüdische Zweitname Asari (von Asaria) findet sich überhaupt nur in der Geburtsurkunde (und daraus schöpfend in einem Hetzartikel 1937). Der Taufeintrag wie auch alle weiteren ausführlichen Nennungen der Vornamen lauten nur noch Peter Joseph Friedrich Wilhelm. Üblich waren in Köln zu dieser Zeit 8-14 Tage nach der Geburt, längere Zeitspannen von bis zu 4 Wochen kamen vor; andererseits wurden nur wenige Kinder gar nicht getauft (Christoph Schank, „Kölsch-katholisch“. Das katholische Milieu in Köln 1871-1933, hier S. 145-149 [zur Taufe] ). Vgl. dazu auch Anm. 46.
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hat Berta die religiöse Entwicklung des Jungen, der ja nach jüdischem Verständnis 53 als Jude galt, offensichtlich nicht behindert. Förderlich scheint auch die Betreuung und Erziehung durch eine katholische Hausgehilfin (Kindermädchen) gewesen zu sein.54 Wie unter solchen Umständen die Nähe zur Agneskirche oder zum Pfarrhaus (das nächste Gebäude neben Kleins’ Wohnhaus) Prägungen des Kindes bewirkten, lässt sich nicht sagen. Weder Erstkommunion 55 noch die Firmung erhielt er in St. Agnes.56 Ob und wie er als Kind – wegen der Mutter – mit zeitbedingten religiösen Ressentiments der Kirche gegen das Judentum konfrontiert war, ist unbekannt. Die Firmung fand 1922 in der Kirche St. Maria im Kapitol statt.57 Spuren einer Tätigkeiten von Vater oder Sohn, z.B. in Vereinen oder als Messdiener in St. Agnes, gibt es bisher nicht.58 Es erscheint gut denkbar, dass die Familie Klein zum blühenden kirchlichen Vereins- und Pfarrleben dieser Zeit in der jungen Agnespfarrei 59 keinen besonderen Bezug hatte. Das schließt nicht aus, dass der junge Peter mit Faszination das Pfarrleben wahrnahm, das sich in direkter Nachbarschaft erkennbar abspielte.60 ———— 53 54
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Nach dem halachischen Recht. Dies scheint der reale Kern der ansonsten hierzu nicht ganz korrekten Zeitzeugenberichte dazu zu sein: Nach dem Bericht Schönartz’ (Anm. 9) wurde ein „aus der Eifel stammendes gut katholisches Mädchen als Kindermädchen eingestellt“ mit dem Auftrag, die katholische Erziehung des Kleinkindes sicherzustellen, weil der Vater im Weltkrieg gefallen sei. Nach der Erinnerung in der Familie Hausen war der Vater Protestant und das Kind daher durch die Amme mit der katholischen Welt vertraut geworden (Johannes Hausen [Kempen]). Keine Nennungen in den minuziös geführten Kommunikantenbüchern von St. Agnes. Auch Heinz Decker, der sich für Klein interessierte, fand fast keine Spuren über ihn (frdl. Hinweis: Werner Teske [Köln, St. Agnes] ). Auch in St. Kolumba, wo Peter seit 1921 den Schulgottesdienst besuchte, ist er nicht im Kommunikantenbuch vermerkt (frdl. Auskunft: P. Gabriel Weiler). Von Maria im Kapitol, wo Klein gefirmt wurde, existieren (wohl kriegsbedingt) keine solchen Bücher mehr. Die (Kölner) Pfarrei konnte kurzfristig nicht abschließend ermittelt werden. Am 30.10.1922 (AEK, Personalverw. Priester 646). Das liegt aber zunächst an den starken Kriegsverlusten der pfarrlichen Überlieferung. 1927: 18 Vereine. 1920: 384 Trauungen, 280 Taufen, 250 Erstkommunionen, 265 Firmlinge, 8.000 Osterkommunionen, 7 Sonntagsmessen; dazu Jubiläums-Pfarrkalender für die Pfarrei St. Agnes, Köln, 1927; zum katholischen Mileu Schank (wie Anm. 51); Joachim Oepen, Kirche in den „Kappesfeldern“. St. Agnes, in: J. Oepen / W. Schaffer (Hg.), Kirche Kanzel Kloster, Pfarrgründungen, Kirchenbau und Seelsorge in der Kölner Neustadt 1880-1920, S. 110-122, hier S. 117-120 (mit weiterer Literatur). So muss der Tod des ersten Pfarrers der Pfarrei, Jos. Janssen (1927), mit 3-tägiger Aufbahrung im nahen Pfarrhaus, Exequien, Trauerprozession (und Beisetzung auf Melaten) ein Erlebnis gewesen sein (vgl. Zeitzeugenbericht in: 90 Jahre St. Agnes 1902 - 1992, Köln 1992, S. 25). – Bei den Pfarrprozessionen trat z.B. der Gesangschor der Knaben aus den Oberklassen auf; ob Peter dabei war, bleibt offen.
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Ausbildung am Realgymnasium Kreuzgasse in Köln 9 Jahre lang, von 1921 bis zum Abitur am 19. Februar 1930, besuchte Peter Klein das Realgymnasium Kreuzgasse 61 –, das damals innenstädtisch unweit der Schildergasse lag. 1928 besuchten 689 Schüler die Schule, 60% von ihnen waren wie Peter Klein katholisch, 61 Schüler waren jüdisch.62 Vermutlich war bei der Schulwahl der Vater bestimmend, dessen technischökonomische Profession eine Rolle gespielt haben dürfte. Die Zensuren des mit der Gesamtnote „gut“ bestandenen Abiturs weisen dreimal „sehr gut“ (Religion, Mathematik und Musik), sechsmal „gut“ (Deutsch, Latein, Englisch, Geschichte, Physik, Zeichnen/Kunst), fünfmal „genügend“ (d.h. Note 3) (Französisch, Erdkunde, Chemie, Biologie und Hebräisch) und einmal „nicht genügend“ (4) in Leibesübungen aus. Insbesondere die wichtigsten bzw. klassischen Fächer lagen damit sicherlich über dem Durchschnitt. Von konkretem Interesse ist, dass Peter Hebräischunterricht statt Griechisch hatte, er dieses Fach aber mit einer deutlich unterdurchschnittlichen Zensur abschloss. Ob er oder seine Mutter sich für diese Sprache entschied, ist unklar, jedenfalls zeugt die Note von geringer Motivation oder Identifikation mit dem Gegenstand angesichts Peters intellektueller Möglichkeiten, wie noch zu zeigen ist. Die mangelnde sportliche Leistung des vermutlich mütterlich wohl behüteten Kindes 63 dürfte auch mit seiner starken Kurzsichtigkeit 64 zu tun haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat der Religionslehrer Wilhelm Müller 65 auch Peter Klein sehr geprägt. Müllers spirituelle Aktivität, z.B. die Schulgottesdienste in der St. Kolumba-Kirche und sein lebendiges Glaubenszeugnis, haben ehemalige Schüler später hervorgehoben. ———— 61
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Zum Folgenden u.a. Festschrift 175 Jahre Gymnasium Kreuzgasse 1928 - 2003, Köln 2003, S. 30f. u.a. – Die Schule feierte 1928 im Gürzenich ihr 100- jähriges Bestehen. Über den seit 1921 amtierenden Schulleiter ein Artikel von K. Heinz Pieper: „Auch ich war ein Schüler der Anstalt“. Ein Gedenken für Direktor Dr. Niederländer, in: Alt Köln. Heimatblätter für die Stadt Köln. Beilage der Kölnischen Rundschau, Nr. 3, April 1955, S. 12; ferner wenige Hinweise bei www.kreuzgasse.de (Mangels Nutzungsmöglichkeit des seit 2009 gestörten Schulbestandes [Best. 562] im Histor. Archiv der Stadt Köln). Wobei es eine „rassische“ Einordnung als Juden vor 1933/35 nicht gab. Doch sahen sich die Juden häufig einem latenten christlichen Antijudaismus gegenüber. Darauf weist die lebenslang enge Bindung der beiden in Kombination mit der selbstsicheren Art der Mutter hin (s.u.). Er trug deshalb schon als Jugendlicher eine entsprechende Brille (s. auch Abbildung). Wilhelm Müller (1884-1936), Dr. Dr., 1910 Priesterweihe, seit 1921 Religionslehrer und Studienrat in Köln.
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Prägung durch den ND (Gruppe Kreuzgasse, Köln) Peter Kleins Eltern waren – damals untypisch – eine Kleinfamilie, die zudem kaum Bezug zur (auswärtigen) Verwandtschaft hatte; 1910 lebte nur noch der Großvater in Wilna; teilweise präsent war der Onkel väterlicherseits. Der Vater dürfte geschäftsbedingt wenig Zeit gehabt haben und verschwand mit seinem Tod schmerzlich aus dem realen Leben des Kindes. Dessen Bezugspunkt war die Mutter, die ihn sicher humanistisch und kulturell, aber wohl kaum jüdisch religiös erzog. So brachten Schule und Gymnasium starke neue Prägungen. Wir wissen sicher, dass Peter spätestens um 1928/29 sehr aktiv im Bund Neudeutschland (Gruppe Kreuzgasse) war.66 Der ganz auf die Gymnasien ausgerichtete ND – erst 1919 gegründet – erfasste die Schüler schon von der Unterstufe an. Er entfaltete sich an dieser Schule besonders seit 1924 mit dem Amtseintritt des Religionslehrers Müller. Die Gruppenstärke der „Kreuzgasser“ betrug durchschnittlich 80, in der „Blütezeit“ um 1930 ca. 120 Mitglieder. Zeitzeugen erinnerten sich viel später noch an Kleins musikalisches Engagement und dass er sogar auf regionaler Ebene in den ND hineinwirkte.67 Elternabende 68, monatliche liturgische Gottesdienste und Feiern am Morgen, der monatliche „Christuskreis“ der Ober(stufen)gruppe sowie besonders FerienFahrten (im Bereich Rheinland, Westfalen, Schwarzwald, Pfalz und Bodensee) prägten. Hier wuchsen Freundschaften mit vielen, auch außerhalb des Klerus, die später in Peter Kleins Leben eine wichtige Rolle spielten, darunter Willi Hausen.69 Müller war als geistlicher Leiter Rückhalt des Gruppenlebens, der es verstand, der Gruppe das Gefühl zu geben, dass „Jugend Jugend führt“. Der Bund leistete eine „Synthese von spritueller Ordnung und bündischer Freiheit“ und bewirkte viel an „religiöser Mündigkeit“.70 ———— 66 67
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Fotoalbum von Willi Hausen (AEK, NL Hausen). Hierzu und zum gesamten Kapitel der Bericht von P. E. (1985): „Höhepunkte musischen Tuns waren die Elternabende. Dabei wurden auch durchaus anspruchsvolle Theaterstücke gespielt [...]. Ein talentierter Regisseur war Hans Nagelschmidt. Auf musikalischem Gebiet wirkte der hochbegabte Peter Klein, übrigens Halbjude, über die Gruppe hinaus in den Bund Neudeutschland hinein. Auf dem Lager des von Hartmann-Gaus [Köln] in der Wahner Heide ersang die Gruppe im Singewettstreit eine Wandergeige [...]“ (Archiv der Kommission für Zeitgeschichte, Bonn, Archiv Bund ND, A.3.1. [Köln „Kreuzgasse“] 1924- 1939). Es ist durchaus anzunehmen, dass die Sängerin Berta Klein auf irgendeine Weise die Arbeit unterstützte. Dessen Fotoalbum (AEK, NL Hausen) belegt einige der Fahrten seit ca. 1928 und zeigt auch Peter Klein (darunter die hier gezeigte Abbildung). P. Hastenteufel, Katholische Jugend in ihrer Zeit, 2 Bde., Bamberg 1988/89, S. 439- 456; Erwin Gatz, Vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum nationalsozialistischen Kirchenkampf, in: Erwin Gatz (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens [...], Bd. 4. Der Diözesanklerus, Freiburg u.a., S. 147-
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Von daher war es nicht ungewöhnlich, dass das Abiturzeugnis angab: „P. K. will Theologie studieren.“ 71 Die Gründe lagen in der Weckung des religiösen Bewusstseins und Verantwortungsgefühls im ND und in der neuen Beheimatung in der Kirche nach einer Kindheit in wahrscheinlich wenig religiöser Umwelt. Ferienlager der ND-Gruppe Kreuzgasse Köln in Bingerbrück (1928), hinten (am Fuß der Madonna) Peter Klein; dabei auch der Religionslehrer Müller
Priesterausbildung des „Halbjuden“ Peter Klein (1930-1936) 8 Semester lang besuchte Klein, vom Sommersemester 1930 bis zum Wintersemester 1933/34, die Universität Bonn und das Theologenkonvikt Collegium Leoninum. Er wohnte in dieser Zeit noch überwiegend zu Hause 72 und fuhr täglich nach Bonn. 1932 zog er mit der Mutter in eine sicherlich kleinere, kostengünstigere Wohnung in der Nähe (Ewaldistraße 7), wo sie bis 1937 blieb 73, während der Sohn 1934 nach Bensberg ins Priesterseminar umzog. ———— 71 72
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167, hier S. 153 - 156 (Klerus und Jugendbewegung); Erwin Gatz, Priester und Jugendbewegung, in: RQ 104, 2009, S. 286 - 296. AEK, Personalverw. Priester 646. – Nur sehr wenige Priester dieser Zeit waren Einzelkinder. Erst im WS 1931/32 und dann im SS 33 und WS 33/34 wohnte er im Konvikt in Bonn (AEK, CR I 8B 21, 1) – Immatrikuliert war er vom 23.4.1930 bis 28.2.1934 (frdl. Auskunft: Universitätsarchiv Bonn, Michael Holz). Adressbuch 1933 bis 1937. Der Umzug fand zwischen Mai und November 1932 statt (AEK, CR I 8B 21, 1), vgl. ferner Kölner Adressbücher 1933 bis 1937.
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Während der Bonner Zeit blieb er in der Pfarrei präsent, besuchte, wenn er in Köln war, täglich die Messe und diente als Messdiener. Sein Pfarrer bescheinigte 1934: „Er arbeitet gerne mit in den Vereinen besonders bei den Jünglingen. Auch macht er gerne mit in der Schule als Hospitant [...] Auch gibt er noch Gymnasienunterricht, um etwas zu verdienen.“ 74 Anders als 2-3 Jahre später musste das Kölner Generalvikariat 1930 die Bewerberzahl bei Annahme der Theologiestudenten noch nicht beschränken 75, die Frage, ob der familiäre Hintergrund dann für Klein zum Problem geworden wäre, stellt sich so nicht. Leider wissen wir nicht, für welche der von ihm besuchten Veranstaltungen 76 er sich besonders interessierte. Neben den klassisch theologischen Fächern 77 besuchte er bei Prof. Schwer „Geschichte der Caritas“, „Rasse, Volk, Nation, Staat“, „Der Kampf um Ehe und Familie“, „Übungen: Mensch und Technik“. Im ersten Abschlussexamen 1932 gab es eine 1 im philosophischen und eine 1-2 im theologischen Teil. Die dann absolvierten Prüfungsscheine des Hauptstudiums tragen fast alle die Note 1. Bei der Aufnahmeuntersuchung fürs Priesterseminar Ende 1933 bescheinigte der Vertrauensarzt eine normale Gesundheit, allerdings „stark kurzsichtig“ und auf dem rechten Ohr eingeschränktes Hörvermögen. Er empfahl daher eine „leichte Stelle“. Der frühe Tod des Vaters durch Herzschlag deutet also nicht auf eine Belastung für die Gesundheit des Sohnes. Auf dem weiteren Weg 78 zum Priesteramt war 1934 die Dispens vom formalen Makel der (illegitimen) Geburt außerhalb einer kirchlichen Ehe erforderlich.79 Sein Vorgesetzter Reckers – hat die Mutter wahrscheinlich persönlich (im Leoninum) einmal erlebt – hatte kurz zuvor sehr klar geur———— 74 75
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Gemeint ist sicher Nachhilfeunterricht. AEK, Personalverw. Priester 646. Es wurde damals immer schwieriger für die vielen neugeweihten Priester, Anstellungen in der Seelsorge zu finden. Zur Entwicklung der Priesterzahlen und zu den Maßnahmen vgl. den Beitrag von Erwin Gatz in dieser Festschrift, ferner Norbert Trippen, Das Priesterseminar in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges (1933 -1945), in: N. Trippen (Hg.), Das Kölner Priesterseminar im 19. und 20. Jahrhundert, Siegburg 1988, S. 164. Verzeichnis der besuchten Vorlesungen und Prüfungs-Scheine in: AEK, Personalverw. Priester 646. Er besuchte akademische Veranstaltungen vor allem bei Dölger (Allg. Religionsgesch. und. Christl. Archäologie): 8 Veranstaltungen, bei Rademacher (Apologetik, Philosophie, Einleitung in die Theol.), Neuß (Kirchengesch., Christl. Kunst., Rhein. Kirchengesch.), Geyer (Dogmatik, Dogmengesch.): je 5, bei Tillmann (Moraltheol.), Junglas (Dogmatik), Koeniger (Kirchenrecht und Kirchl. Rechtsgesch.), Schwer (Christl. Gesellschaftslehre, Caritaswiss., Soz. Pastoraltheol.), Dyroff (Philos. und Psychol.), Feldmann (Altes Testam.), Vogels (Neues Testam., Patristik): je 4. (Alle 5 Vorlesungen bei Neuß im 1.3. Sem.) – Die absolvierten Prüfungen (Scheine) waren überwiegend sehr gut, die Ergänzungsprüfung Griechisch (das ihm auf dem Abitur fehlte) absolvierte er mit 2 - 3. Erste Tonsur 19.7.1934, 4 niedere Weihen 20.7.1934, Subdiakonat 22.2.1935, Diakonat 1.8.1935 und schließlich Priesterweihe 27.2.1936 (AEK, Personalverw. Priester 646).
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teilt 80: „Als Sproß aus einer Zivilehe eines Katholiken und einer Israelitin ist er [Klein] der lebendige Beweis, wie wohltätig begründete Ausnahmen von strengen Regeln des Jus canonicum sein können.“ So musste Klein persönlich an den Erzbischof schreiben und um Dispens bitten.81 Es spricht in bemerkenswerter Weise für Klein, dass die Erteilung der Dispens (via Rom) durch Schulte völlig glatt lief. Der Kandidat Klein war „valde dignus“; auch die übervorsichtige Empfehlung von Regens Hecker an den Erzbischof, vielleicht komme zur fehlenden kirchliche Ehe auch noch die Akatholizität der Eltern in Betracht als zusätzlicher Dispensgrund, war kein Problem.82 Das Priesterseminar in Bensberg war in diesen Jahren „fast eine Oase heiler Welt“, in der der Regens – auch im Sinne des Erzbischofs – sorgsam darauf achtete, dass Fragen der Politik nicht aufkamen, auch wenn die Ablehnung des Systems unter Professoren wie Studenten sicherlich einhellig beurteilt worden wäre. Den Behörden sollte kein Anlass geboten werden für Maßnahmen, die dem Seminar von Nachteil wären.83 In diesem vollkommen politikfreien Raum hatte Peter Klein keine Nachteile zu befürchten. Indes wird ihm und seiner Mutter zu Hause in der Ewaldistraße – ein Wohngebiet mit relativ hohem Anteil an NSDAP-Wählerschaft 1933 – nicht verborgen geblieben sein, welcher Wind öffentlich gegen „die Juden“ wehte. Für die Frage der weiteren Eignung des Neupriesters waren die Beurteilungen seines Vorgesetzten Reckers 84 und seines Pfarrers Janssen 85, beide von 1934, gedacht. Der Pfarrer erwähnt ohne jede Wertung, dass die Mütter Jüdin ist („eine sehr ehrenwerte Dame“). Als markant hob er Kleins Hilfsbereitschaft, Strebsamkeit und Fleiß (sowie 1935 noch große Bescheiden-
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Von dieser Dispens haben auch die Mitbrüder Kleins (Böhner und Schönartz, die beide von katholischer Ehe der Eltern ausgingen) zeitlebens nicht aus den Akten erfahren, weil Personalreferent und Registrator selbstverständlich sensibel damit umgingen. Die Sammelakte „Dispensen“ wie auch die Personalakte (mit einem Hinweis auf die Dispens) waren auch später, als Archivakten, wegen der nötigen Schutzfristen noch nicht zugänglich. Gutachten vom 25.2.1934 (AEK, Leoninum, Zug. 1458, Ordner 3). Klein (aus Bensberg) an Schulte am 8.5.1934 „Da mein nun vor 10 Jahren verstorbener Vater mit meiner Mutter, die noch jetzt Jüdin ist, in einer bloß zivilen Ehe lebte, ermangele ich der ehelichen Geburt. Ich bitte darum Ew. Eminenz gehorsamst, mich [...] (AEK, Gen. I 28.14, 2). Votum Heckers vom 19.6., Schreiben Schultes an den Vatikan vom 11.7., Antwort vom 14.7. (!) (Eingang in Köln am 16.7.), Dispens Nr. 4508/34 erteilt (Edb.). Trippen, Priesterseminar (wie Anm. 75), S. 160 - 162. – Im Zuge der weiteren Entwicklung gab es aber durchaus Theologen, die von der nationalen Begeisterung und vom militärischen Geist beeinflusst waren. Gutachten vom 25.2.1934 (AEK, Leoninum, Zug. 1458, Ordner 3). AEK, Personalverw. Priester 646.
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heit 86) hervor und konkretisierte: „Sein Interesse [für die Seelsorge] ist sehr groß. Ich habe aber die Auffassung, daß er sich besser eignet für die wissenschaftliche Laufbahn als für die praktische Seelsorge.“
Der Neupriester Peter Klein bei seiner Primiz (1936) – Dieses Foto schenkte Frau Klein 1945 dem Generalvikar
Reckers’ Gutachten ist tiefer angelegt und vermittelt ein positives Bild eines Menschen mit einer für sein Alter überdurchschnittlichen Reife und mit „weitem Blick für Fragen und Zusammenhänge“, der hochintelligent, tiefgläubig, eifrig aktiv, pflichtbewusst, bis hin zur Umständlichkeit, aber speziell pädagogisch befähigt ist; sowie in seiner Persönlichkeit eher introvertiert und vergeistigt, nicht konfliktbetont, eher harmonisierend und loyal. In punkto Reife und Intellekt sind unter den vorhandenen Beurteilungen der diversen Theologen (die späteren Weihejahrgänge 1936/37)87 nur wenige derart herausragend wie die von Peter Klein. Bei den Prüfungen gehörte er zu den besten seines Jahrgangs.88 ———— 86
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Er sei „außerordentlich beliebt und geachtet [...] Seine großen Talente trägt er nicht öffentlich zur Schau, sondern bleibt der bescheidene Peter“. (AEK, Personalverw. Priester 646). Da es parallel diverse weitere ähnlich angelegte Beurteilungen desselben Beurteilenden gibt, lässt sich für die Weihejahrgänge 1936 und 1937 die Individualität der Theologen sehr gut erkennen.
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Am 27. Februar 1936, dem für ihn sicherlich wichtigsten Tag in seinem Leben, wurde Peter Klein im Kölner Dom von Kardinal Schulte zum Priester geweiht; mit ihm zusammen u.a. die bekannten Paul Fillbrandt, Adolf Kolping, Joseph Krautscheidt und Heinrich Vobbe.89
Der Diözesanpriester Klein: verbaute „Karriere“ und Schikanen (1936 -1939) Die Zeit als Priester des Erzbistums Köln stand für Klein von Beginn an unter dem Verdikt seiner Abstammung. In der Folge des „Reichsbürgergesetzes“ von 1935 war er als „jüdischer Mischling“ zwar – im Gegensatz zur Mutter – „Reichsbürger“, sogar mit politischem Wahlrecht 90, aber schon im Anschluss an seine feierliche Primiz 91 zusammen mit zwei Mitprimizianten am 1. März 1936 in der Heimatpfarrei St. Agnes musste Klein nach der Messe alleine und unerkannt durch einen Nebenausgang verschwinden, während seine Kollegen sich von der Menge begrüßen ließen – in der Menge mutmaßlich auch „HJ und SA“, die auf Klein warteten.92 Für den 6. April 1936 ist ein Besuch von Berta Klein beim Erzbischof bezeugt.93 Ob Peters berufliche Probleme oder nur eine Bedankung 94 für die Unterstützung des Sohnes durch die Institution Kirche primäres Thema waren, wissen wir nicht. ———— 88
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In der Abschlussprüfung am Leoninum hatte er als einer von zweien unter insgesamt 94 Prüflingen (offenbar 80 vom Erzbistum Köln) eine 1. Das Presbyteratsexamen im Priesterseminar schloss Klein (mit jeweils 18 anderen Kandidaten [von insges. 81] ) glatt mit „gut“ ab (nur einer [Kolping] mit 1-2) (AEK, Gen. I 11.5, 21; AEK, Personalverw. Priester, Zug. 489, Examinabuch). Fillbrandt wurde 1958 Leiter des Katholischen Büros für NRW, Kolping 1949 ordentl. Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie, Krautscheid 1958 Generalvikar in Essen, Vobbe 1963 Militärdekan. Er hätte indes z.B. nur mit ausdrücklicher Genehmigung – solche wurden fast nie erteilt – eine „deutschblütige“ oder „vierteljüdische“ Frau heiraten dürfen. Halbjüdische „Mischlinge“ galten sogar trotzdem als (Voll-)Juden, wenn sie der jüdischen Kultusgemeinde angehörten. Sein Andachtsbild zum Gedenken an Priesterweihe und Primiz, mit dem Wahlspruch „Gott ist die Liebe. 1. Joh. 4.8.“ findet sich im Pfarrarchiv, Köln, St. Agnes und in AEK, Slg. Personalia. Vgl. dazu den detaillierten Zeitzeugenbericht von Heinz Decker 1993, in: Pfarrbrief St. Agnes Nr. 19, Mai 1994, S. 34f., und Beate Eickhoff, St. Agnes. Ein Viertel und seine Kirche, Köln 2001, S. 7678. – Er sei dann mit dem Wagen auf kurzem Umweg nach Hause gebracht worden. – Die Art des „Abgangs“ dürfte von dem vorsichtigen Pfarrer Janssen ausdrücklich geraten bzw. gestützt worden sein, der an Unruhe sicherlich nicht interessiert war. (Die Mitprimizianten waren S. Am Zehnhoff [geb. 1911] und C. Richter [geb. 1908]; im Pfarrarchiv und im AEK ein Foto der drei Primizianten.) „Besucherkartei“ in: AEK, NL Böhner, Abgabe Tekath. Das liegt vom verbindlichen Naturell der Jüdin Berta Klein her nahe, die auch 1946 Schultes Nachfolger Frings sehr persönlich dankte (siehe unten).
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Der Weg in die hauptamtliche Seelsorge, zunächst als Kaplan, schien von Beginn an versperrt gewesen zu sein. Das ist aus der Sicht von 1936 nachvollziehbar. Die Hetzkampanien hatten an Stärke zugenommen. Er wäre ständigen Anfeindungen unterworfen gewesen, was wiederum nicht im Sinne der Seelsorge sein konnte. Vor allem entsprach es nicht der Linie der Kölner Bistumsleitung, dem Regime Angriffspunkte zu bieten. Schulte wollte Konflikte mit den staatlichen Behörden, wenn möglich, vermeiden und gab nach, wo behördlicher Zwang und Billigkeit der Forderung durch die (staatliche) Autorität keine andere Wahl ließen. Er fühlte sich im Interesse der Seelsorge dazu verpflichtet, dem Regime nicht noch kirchlicherseits Handhabe zu bieten, die Freiheiten der Kirche weiter einzuengen und die Gläubigen vor die Wahl eines existenziellen „Entweder – Oder“ zu stellen.95 Auch in anderen Bistümern ist in analogen Fällen bei Priestern jüdischer Abstammung das Muster großer Zurückhaltung erkennbar. Die meisten halbjüdischen Priester, die bekannt sind 96, waren aber älter und schon vor 1933 im Amt 97; einige starben vor 1935/36.98 Für das Erzbistum war die Nichtberücksichtigung jüdischstämmiger Priester für Kaplans- bzw. Pfarrstellen angesichts der immens steigenden Priesterzahlen zu der Zeit gar kein pastorales Problem. Erst seit 1940, als vermehrt Kapläne zur Wehrmacht mussten, änderte sich die Bedarfslage nach und nach. Hans Böhner legte später nahe 99, dass Klein unbedingt in die ———— 95 96
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Vgl. v.a. von Hehl (wie Anm. 5), S. 92ff.; Hegel, Das Erzbistum Köln (wie Anm. 5), S. 623- 625. Die Dokumentation „Priester unter Hitlers Terror“ (Anm. 45) führt ca. 10 Personen auf. Doch sind Priester, für die keine Verfolgungsmaßnahmen bekannt sind, nicht erfasst. Auch gab es eine unbekannte Zahl nicht verfolgter Priester, deren „halbjüdischer Status“ dadurch verdeckt ist, dass der jüdische Elternteil früh konvertierte, der kirchlichen Behörde daher im Zusammenhang mit der Aufnahme des Priesterkandidaten unbekannt blieb (nur die Konversionsregister können dieses bis 1933/35 irrelevante Faktum aufklären). Ein solcher Priester soll Fritz Nussbaum († 1963) gewesen sein (Aussage des Studienkollegen Wilhelm Moll, geb. 1922), für den die Personalunterlagen einen evang. Vater (Arzt) und eine kath. Mutter ausweisen. – Einigen wurde jüdische Abkunft vorgeworfen, ohne dass darüber Klarheit herrscht: Oberpfarrer Abrahams (1884- 1948, D Aachen) (S. 257), Pfarrer/GV Offenstein (1889-1964, D Hildesheim) (S. 692). Kaplan Jüttendonk (1896- 1966, ED Köln) (S. 740f.), Kooperator/Pfarrvikar von Kukowski (1903 1978, ED München u. Freising) (S. 949), Kaplan / Kurat Lehner (1909 -1982, unklar, welcher Elternteil konvertierte, ED Bamberg) (S. 453, dazu frdl. Auskunft: Dr. Andreas Hölscher [Archiv d. Erzb. Bamberg] ), Kooperator / Hausgeistl. Kemper (1909-1992, Mutter konvertiert, 9.5.1944 KZ Buchenwald, ED Paderborn) (S. 1179, dazu frdl. Auskunft: Kirchenbuchabt. Paderborn), Kaplan Steinhauer (1910 1987, D Ermland) (S. 592), – Mergentheim (1882-1938, ED Köln) (S. 764) war geistl. Studienrat. – Der konvertierte Jude Rosenbaum (1915-1942/Auschwitz) war Kölner Ordensgeistl. in den NL. Kaplan Purucker (1908 - 1935, D Würzburg) (S. 1626), Weihbischof Mönch (1870 -1935, D Trier) (S. 1478f.). Böhner an Generalvikar vom 6.5.1979 (Antwort auf Umfrage): „Aus der ihm so lieben Seelsorge herausgenommen, war er längere Zeit im Diözesanarchiv ...“ (AEK, Slg. NS 90/2, 17).
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Seelsorge wollte. Aber schließlich hatte selbst der Pfarrer ihn eher für die Wissenschaft geeignet gesehen, und Reckers hatte 1934 positiv empfehlend geurteilt: „Wäre er von arischer Abstammung, so würde ich ihn [...] für eine künftige Dozententätigkeit empfehlen.100 Doch läßt sich vielleicht an kirchlicher Stelle für ihn eine solche Tätigkeit ermöglichen.“ Ob 1936 überlegt wurde, Klein noch einen Weg in eine rein innerkirchliche Dozententätigkeit zu ebnen, ist unbekannt. Erst mit Wirkung vom 28. November 1936 wurde er Assistent am Generalvikariat; man wies ihm eine Verwaltungsaufgabe im Pfarrbesoldungsamt zu, eine Tätigkeit, die er als auf Dauer unwürdig empfunden haben dürfte.101 Am 8. Juni 1937 wurde Klein dann zusätzlich Subsidiar in der Pfarrei St. Dreikönigen in Köln-Bickendorf (Dekanat Köln-Ehrenfeld), einer jungen Pfarrei, die erst 1931 eigenständig geworden war. Klein war dort als eine Art Quasi-Kaplan geschätzt.102 Er bezog gemeinsam mit der Mutter eine Dienstwohnung der Pfarrei im Schlehdornweg 1, direkt an der Kirche. Eigentümerin war indes nicht die Kirchengemeinde, sondern die Gemeinnützige Aktiengesellschaft für Wohnungsbau 103, woraus sich bald Konflikte ergeben sollten. Kleins Einsatzfeld 104 wurde geprägt durch eine soeben nach Plänen u.a. des Architekten Riphahn entstandene Siedlung 105; durch Plätze und Grünflächen aufgelockert. Den Mittelpunkt bildete die 1928 im damals ———— 100
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Seit den Verordnungen und Gesetzen zum Beamtentum von 1933 war „Nichtariern“ der Weg als Dozenten an Hochschulen und in Lehrämter verschlossen. Davon sofort und konkret betroffen war z.B. der Halbjude Hubert Jedin in Breslau (1900- 1980), dessen Mutter konvertierte Jüdin war. Vgl. die Schilderungen in: Hubert Jedin, Lebensbericht. Mit einem Dokumentenanhang hg. v. Konrad Repgen, Mainz 1984, S. 71ff. – W. Schönartz (wie Anm. 9) sah in Peter Klein später in ihm einen verhinderten Wissenschaftler und Universitätslehrer. Für den 17.2.1937 ist ein Besuch Kleins bei Kardinal Schulte bezeugt, ohne dass Näheres bekannt wäre („Besucherkartei“ Böhners im NL Böhner, Abgabe Tekath). – Der Bericht Schönartz’ von 1987 deutet zu 1938 an, diese Verwaltungstätigkeit habe Klein weniger gelegen als die eher wissenschaftliche Archivarbeit (wie Anm. 9). – Die Daten zu Kleins Amtsstellen siehe u.a. im Kirchl. Anzeiger. Die Pfarrei hatte 1933 (bei 5.500 Seelen) vergeblich eine 2. Kaplanstelle beantragt (es fehlten 500 Seelen) und betrachtete den „Neuen“ sozusagen als ihren Kaplan. Mit Kleins erzwungenem Abgang 1939 wurde die Stelle tatsächlich zur regulären Kaplanstelle. Im Adressbuch 1939 ist Klein als Kaplan vermeldet, was dem allgemeinen Sprachgebrauch der Bevölkerung entsprach (Zeitzeugenbericht s. Anm. 107 u. 119). Das Streben der Pfarrei hatte Erfolg. Kleins Nachfolger, Kaplan Stiesch, wurde am 21.7.1939 ernannt (AEK, GVA I Bickendorf, St. Dreikönigen 2). Kölner Adressbuch 1938 und 1939. – Von 1936 bis 1937 dürfte Peter Klein wieder bei seiner Mutter in der Ewaldistraße untergekommen sein, obwohl das Adressbuch 1937 ihn dort nicht eigens mit aufführt. Im dortigen Pfarrarchiv finden sich keine relevanten Quellen zu Klein (frdl. Auskunft: Pfarrer Klaus Kugler). Vgl. u.a. Klaus Novy (Hg.), Wohnreform in Köln. Geschichte der Baugenossenschaften, Köln 1986, hier S. 157f.
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modern anmutenden Stil errichtete Kirche. Der Visitationsbericht 1939 beschreibt 106 – ohne Nennung einzelner Priester –, dass die Jugend (d.h. der Teil, der der Kirche verblieben war) in Heimabenden und, soweit möglich, durch Einkehrtage auf die Herausforderungen der Mobilität (Wandernde Kirche) vorbereitet werde, und hebt die vielen Mischehen, „junge aus der Innenstadt herausgezogene Familien“, als besonderes Problem hervor. Gerade für diese Klientel dürfte Klein vor dem eigenen Erleben Empathie aufgebracht haben. Aus einem Zeitzeugeninterview 107 wissen wir, dass Klein, den die Jungen „P. K.“ nannten, als Präses Jugendarbeit machte, anscheinend auch in Privathäusern, wobei Berta Klein für die Jungen russische Lieder übersetzt habe. Peter Klein wird von zwei Bickendorfer Zeitzeugen später als „ein durchgeistigter, feinsinniger Mann, sehr aktiv, intellektuell begabt, feiner Kerl“ beschrieben. Doch spätestens 1937 geriet er in den Fokus der Anfeindungen. Ansatzpunkt der Kritik war zunächst nicht seine Seelsorgearbeit. Wegen seiner internen Verwaltungstätigkeit (!) kam es zu einer gehässigen Attacke gegen das Erzbistum. Es muss ein Schock gewesen sein, dass der Erzbischof und das Generalvikariat in einem gleichermaßen antijüdisch wie antikatholischen Blatt 108 aus Ludendorffs Verlag im Dezember 1937 aufs Korn genommen wurden und dabei Peter Klein und seine Mutter im Zentrum der Attacke standen; ein katholisch aufgewachsenes NSDAP-Mitglied aus Essen wies ———— 106 107
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AEK, GVA I, Bickendorf, St. Dreikönigen 1. „Im Hause der Familie Niederwipper [seit 1917 in Bickendorf, 12 Kinder] verkehrte die ganze Jugend in einer Bude auf der Mansarde, oft Heimabende mit Kerze [...] Werner [Niederwipper, angebl. geb. 1919, Sturmschar, führend, musikalisch] [...]. Nahe Verbindung zu den Präsides, Kpl. Berghs ([...] robuster Typ) und besonders Kpl. Peter Klein (1912) (Vater Protestant [!] und Kaufmann, Mutter Volljüdin, Tänzerin [!] aus Rußland), die den Jungen russische Lieder übersetzte. Er mußte seine Wohnung in der Pfarre räumen, [sie] zogen dann in die Mohrenstraße, werden später im Leoninum versteckt, kam dann von Bonn nach Dreikönigen, auf einer dieser Fahrten, mit der Rheinuferbahn ist er (32jährig) Ende [!] 1944 umgekommen (auf Westfriedhof [gemeint ist Melaten] beerdigt). Durfte offiziell nicht mehr Kaplan sein, wurde auf dem erzbischöflichen Archiv offiziell beschäftigt. ‚PK‘, so sein von den Jungen abgekürzter Name, war ein durchgeistigter, feinsinniger Mann, sehr aktiv, intellektuell begabt, feiner Kerl. 1939 folgte Kpl. Rudolf Stiesch (1910) [...]“ (Mitschrift von Dr. Franz Werner Witte von seinem Zeitzeugen-Interview mit Cäcilie [geb. 1902] und Luzie Niederwipper [geb. 1905] am 4.3.1988, AEK, NL Witte 19.9). Am heiligen Quell Deutscher Kraft. Ludendorffs Halbmonatsschrift 8 (1937), Folge 17, 5.12.1937, S. 691. – Hinter der Zeitschrift stand Dr. Mathilde Ludendorff, zweite Ehefrau Erich Ludendorffs, eine bekannte Vertreterin der völkischen Bewegung und überzeugte Antisemitin wie Katholikenfeindin. Sie begründete die religiös-esoterische Bewegung der „Deutschen Gotterkenntnis“ und veröffentlichte zusammen mit ihrem Mann. Die verschwörungstheoretisch orientierte Zeitschrift, die ein politisches Wirken der „Überstaatlichen Mächte“ des Judentums, der Jesuiten und der Freimaurer behauptete, wurde 1939 verboten.
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polemisch auf den Artikel hin.109 Wegen der überregionalen Bedeutung dieser öffentlichen Hetze sei der Artikel hier zitiert: „Ein Rassenjude beim Kölner Erzbischof. Daß die Romkirche und ihre Oberpriester in Deutschland in enger Zusammenarbeit mit den Juden nicht nur vor 1933, sondern gerade heutzutage in gemeinsamer haßerfüllter Gegnerschaft gegen den völkischen Staat sich treffen, beweist wieder schlagend folgender Fall, den ein Blick in eine Kölner Personalkartei 110 vermittelt. In Köln-Bickendorf, Schlehdornweg 1, wohnt eine Rassenjüdin Berta Klein, geborene Abramowitsch, geb. 25.7.1876 111 in Poneresch (Polen), bei der ihr Sohn Peter Asar 112 Klein, geb. 31.1.1912 in Köln, lebt. Dieser Sohn der Abramowitsch ist nun 113 zum römisch-katholischen Glauben ‚übergetreten‘ und weiß auch, warum er das tat! Denn er nennt stolz als seinen Beruf ‚Assistent am Erzbischöflichen Generalvikariat‘, und es mag den Kennern jüdischer Machtgier überlassen werden, sich den Umfang und die Bedeutung dieser rassenreinen ostgalizischen Assistenz beim Kölner Erzbischof vorzustellen! Diese große Herausforderung des Deutschen Staates und Volkes durch den Oberen der Römlinge im Rheinland 114 verdient besonders festgehalten zu werden, wenn verlogene kirchliche Emigranten im ‚Deutschen Weg‘ des jesuitischen Hochverräters Muckermann 115 immer wieder von ‚Verfolgung der Katholiken im Dritten Reich‘ mauscheln. Dr. Gengler.“ 116 ———— 109
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H. Maas am 4.12.1937, mit dem drohenden Bemerken, die Kirche müsse auf dem Gebiet der „Trennungen zwischen Deutschen und Juden in unserem Vaterlande [...]“ recht bald klipp und klar sagen, „was hier zu tun ist und uns damit Gelegenheit geben, Entscheidungen zu treffen, die nicht leichtsinnig getan werden können.“ (AEK, Personalverw. 646). Bei einer Hausdurchsuchung hatte die Gestapo aus dem Kölner Generalvikariat am 10.6. und 23.6.1937 Unterlagen beschlagnahmt (Daten in: AEK, NL Böhner, Abgabe Tekath). Tages- und Monatsangabe sind die einzigen Fehler hinsichtlich der Personendaten im gut informierten Text. Der Autor war gut informiert. Der 2. Vorname Kleins, der bei der Taufe unterdrückt worden war, ist nur ein einziges Mal – standesamtlich zu 1912 – belegt; er findet sich an keiner Stelle in der Priester-Personaldokumentation. Diese Information ist irrig, sie hielt sich indes auch anderweitig bei Zeitzeugen. Gemeint ist der Kölner Erzbischof Kardinal Schulte, Metropolit der Kölner Kirchenprovinz. Der Jesuit Friedrich Johannes Muckermann (1883- 1946) gab aus dem Exil in den Niederlanden (seit 1934) die Exil-Zeitschrift „Der deutsche Weg“ heraus. 1935 wurde er zu einer Professur am Orientalischen Institut in Rom berufen, 1937 ging er nach Wien und 1938 nach Paris. Bis zur Besetzung der Stadt durch deutsche Truppen sprach er regelmäßig im Pariser Rundfunk und setzt auch hier seinen Kampf gegen das NS-Regime und dessen weltanschaulichen Führungsanspruch fort. Er floh im Juni 1940 vor den deutschen Truppen in den nicht besetzen Teil Frankreichs und 1943 in die Schweiz, wo er das Kriegsende überlebte. Ludwig F. Gengler, Dr. (geb. 1902 in Bamberg), von ihm in demselben Organ 1937 auch Artikel: „Katholische Aktion im Angriff auf Deutschland. Die Lüge von „rein religiösen“ Werbefeldzug“. Er
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Auch wenn die Zeitschrift nur eine Auflage von 100.000 im Jahr 1937 hatte und der Betroffene womöglich gar nicht um den Artikel wusste, der Vorwurf, Juden quasi an den Schaltstelle der Bistumsleitung einzusetzen, war angetan, unliebsam Stimmung zu machen. Wahrscheinlich auch vor diesem Hintergrund wurde Klein zum 1. Mai 1938 auf eine neu errichtete Stelle als Assistent ins Historische Archiv versetzt.117 In Bickendorf kulminierten die diffusen Widerstände gegen den „jüdischen Kaplan“ erst nach der Pogromnacht vom November 1938. Dabei ging es auch um den Aufenthalt von „Juden“ in der Siedlung. Da die Pfarrei (bis ca. 1940)118 keine eigenen Dienstwohnungen besaß, bestand wegen des Konfliktes letztlich die akute Gefahr, dass die Wohnungsbaugenossenschaft ihr sämtliche (günstigen) Wohnungsnutzungen kündigt. Sicherlich in Abstimmung aller Beteiligter wurde Klein zum 1. Mai 1939 von Bickendorf abgezogen.119 Dennoch erhielt Klein für den 24. April noch die Ladung für ein Verhör bei der Kölner Gestapo.120 Man eröffnete ihm, es habe Klagen gegeben, dass er sich an der Seelsorge für männliche Jugend beteilige, und verlangte die sofortige Niederlegung dieser Arbeit. Er dürfe sie auch in keiner anderen Pfarrei mehr aufnehmen. Ansonsten werde er aus dem Rheinland ausgewiesen.121 ———— 117 118
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war 1942 für den SD in der SS tätig (Gerd Simon, Zur Wissenschaftspolitik des Sicherheitsdienstes der SS im Jahr 1942, Tübingen 2009. www.homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/SDHSpol.pdf). S.u. mit Anm. 138. Im März 1940 beantragte die Pfarrei beim Generalvikariat die Genehmigung zum Kauf zweier Häuser (AEK, GVA I Bickendorf, Dreikönigen 2). Ein wichtiger, weil zeitnaher Hinweis auch in der 1954 von Pfarrer Vonessen – Vorgesetzter Kleins 1937-1939 – herausgegebenen Festschrift zum Silbernen Jubiläum des Gotteshauses und der Kirchengemeinde „St. Dreikönigen“ in Köln-Bickendorf. 1929-1954, Köln 1954, (o.S.) im Kapitel zur NS-Zeit: „später wurde Kaplan [!] Klein – weil nicht rein arischer Abstammung – die Arbeit an der Jugend und das Wohnen im Bereich der Siedlung verboten.“ – Schönartz Bericht 1987 (wie Anm. 9) ist zu den Hintergründen authentisch; s. Anm. 120. Beim Gestapo-Verhör äußerte Klein (Bericht K.s an das Generalvikariat, in AEK, Personalverw. Priester 646) auf die Frage, wo er die abendlichen Seelsorgestunden für die Jugend gehalten habe, das sei gelegentlich auch in seiner Wohnung geschehen, „die von der Pfarre gemietet und somit kircheneigen“ sei. Das hätten die Beamten jedoch „mit Berufung auf die Flaggengesetzgebung bestritten“. – Laut Gesetz von 1935 durfte die Reichsflagge (auch von der Wohnung aus) nicht von Juden gehisst werden. – Dass der letztlich für die Versetzung ausschlaggebende Punkt der rechtliche Status der Dienstwohnungen war, wird auch im Zeitzeugenbericht Schönartz’ (Anm. 9) gesagt. Dies erscheint plausibel, da Schönartz exakt 1937/39 in einer nahen Pfarrei in Ehrenfeld (im selben Dekanat) Kaplan war und weil der Status der Wohnung definitiv so war. Die junge Kirchengemeinde war abhängig von der Wohnungsbaugesellschaft. (Der Aktenbestand der Wohnungsbaugesellschaft GAG im Kölner Stadtarchiv ist seit 2009 gestört und daher nicht zugänglich.) – Vielleicht auch indirekt relevant: In den Jahren seit 1935 bestand ein tiefer Streit mit der großen Mutterpfarrei St. Rochus um Finanzverpflichtungen aus dem aufwändigen Kirchenbau (unerledigte Mehrkosten von 20.000 RM).
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Die versuchte Auswanderung nach Belgien (1939) Klein erhielt nun mit seiner Mutter eine Wohnung in der Innenstadt (nahe St. Gereon), in der Mohrenstraße 18, in der kein Druck mehr von Seiten des Vermieters 122 drohte. So wohnte er nur 2-3 Gehminuten von der Arbeitsstätte im Archiv (in der Eintrachtstraße, heute: Kardinal-Frings-Str.). Anders als in Bickendorf scheint man die Mutter nicht mehr als eigenen Haushalt registriert zu haben.123 Dass die Stelle im Archiv eine Notlösung und im Laufe der Zeit mehr und mehr Refugium war, zeigen die Bemühungen 124 Schultes, dem 27jährigen Klein im neutralen 125 Belgien ein angemessenes priesterliches Aufgabenfeld und damit die Auswanderung und Flucht vor judenfeindlichen Maßnahmen gegen ihn und seine Mutter zu ermöglichen. Mit besten Referenzen ausgestattet, reiste Klein im Juni/Juli 1939 nach Mechelen, Gent und Brügge und stellte sich dort erfolglos vor.126 In Mechelen ließ der Kardinal ihm durch Weihbischof Carton 127 mitteilen, dort „sei kein Platz da“. Der Bischof von Gent 128 sagte ihm in einer Audienz ganz offen, es sei „unmöglich, mich in seiner Diözese anzustellen, da mir als Deutschem angesichts ———— 121
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Bericht Kleins an das Generalvikariat (27.4.1939). Der Generalvikar vermerkte am 29.4., dass der Pfarrer der Gestapo mitteile, Klein habe ihn informiert. Da er schon versetzt sei, erübrige sich ein Eingehen auf die Fragen (AEK, Personalverw. Priester 646). – (Der Eintrag in: Priester unter Hitlers Terror [wie Anm. 45], S. 745, weist das „Berufsverbot“ aus, nicht aber das Verhör 1939 und bezeichnet K. irrig als „Kaplan“.) Eigentümer war der Erzbischöfliche Stuhl, die Mieter kirchliche Amtspersonen bzw. Geistliche; – Seit Mai 1939 war für Juden der Kündigungsschutz aufgehoben; womöglich hätte daher in jedem Fall Berta Klein in Bickendorf nicht bleiben können. – Melderechtlich waren Hauseigentümer und Vermieter (diese auch für die Untermieter) verpflichtend eingebunden in die Ummeldevorschriften; binnen einer Woche war die Anmeldung vorzunehmen; alle Haushaltsangehörigen waren zu melden (Reichsmeldeverordnung von 1938). Im einzigen Adressbuch, das im Krieg erschien, der Ausgabe von 1941/42, ist nur er vermerkt. Im Haus wohnten weitere Geistliche, 1942 auch der Registrator beim Generalvikariat, Max Baeumker. Die Initiative wird kaum von Klein ausgegangen sein. Im Erzbistum Bamberg erging im Januar 1939 die Anfrage des Generalvikars an einen halbjüdischen Priester (Lehner), ob er bereit sei, nach Brasilien überzusiedeln. Dort sei eine Stelle ausgeschrieben. Trotz Einreiseerlaubnis und Einladung aus Brasilien (im März) erfolgte die Ausreise aber nicht (vgl. Anm. 97). Die Kriegsgefahr „im Westen“ (d.h. Frankreich) war durchaus schon 1938 virulent gewesen (s. Anm. 137). Klein (aus dem Erzbischöfl. Archiv) an Erzbischof Schulte vom 18.7.1939 (AEK, Personalverw. Priester 646). In den Unterlagen des Weihbischofs Etienne Carton de Wiart sowie in denen des Generalvikars finden sich dazu keine Hinweise (frdl. Auskunft: Archivar des Erzbistums Mechelen-Brüssel, Gerrit Vanden Bosch). Vom dortigen Bistumsarchiv lag zum Zeitpunkt des Manuskriptabschlusses noch keine Antwort vor.
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der Tatsache des noch in Erinnerung stehenden Weltkrieges und angesichts der gegenwärtigen politischen Lage das für seelsorgliche Tätigkeit ja unerläßliche Vertrauen des Volkes fehlen würde. Dazu käme die (allerdings zu behebende) Unkenntnis der dort überwiegend flämischen Sprache“. Der Generalvikar in Brügge ließ ihm sagen, der Bischof nehme grundsätzlich keine Priester aus anderen Diözesen.129 Nach dem Scheitern der Mission sandte er mit beiliegendem Empfehlungsschreiben, wie zuvor sozusagen als „Plan B“ abgesprochen, ein Gesuch 130 Schultes an Kardinal Verdier in Paris. Eine Antwort dürfte wohl nicht erfolgt sein, mit der Verschärfung der politischen Lage war sie obsolet.131
Einziehung in die Wehrmacht und Entlassung aus dem Militärdienst (1940) Vaterlandsliebe, Gemeinschaftssinn und nationale Opferbereitschaft waren auch für junge Geistliche gelebte Werte, zumal wenn sie durch die Jugendbewegung geprägt waren. Es gibt also keinen Grund zur Annahme, Peter Klein sei nicht mit selbstverständlichem Pflichtbewusstsein „eingezogen“, als ihn im Februar 1940 der Befehl zur Einberufung in die Wehrmacht erreichte. Faktisch bedeutete das den Einsatz im Sanitätsdienst oder – in eher seltenen Fällen – einen Dienst in der Wehrmachtsseelsorge (in der Zuständigkeit des Armeebischofs).132 ———— 129
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Das entsprach den Tatsachen. Auch die Anfrage eines Priesters aus den USA wurde Anfang 1939 abgelehnt (frdl. Auskunft: Archiv des Bistums Brügge, Drs. Kurt Prem, pr.). Das Schreiben (oder ein entsprechender Hinweis in Nuntiaturakten) konnte bisher nicht ermittelt werden. (In Paris ist es nicht mehr vorhanden, nachdem Kardinal Verdier bei Kriegsbeginn Teile seiner Akten vernichtet hat; frdl. Auskunft: Hist. Archiv des Erzbistums Paris, Abbé Philipe Ploix). Es kann auf Anstellung in Frankreich oder auf Vermittlung in die Mission gezielt haben. Eine Recherche im Nuntiaturarchiv im Archivio Segreto Vaticano oder (in den Originalausfertigungen) im Archiv des Staatssekretariats macht ohne konkrete Hinweise in der Richtung keinen Sinn (frdl. Hinweis: Prof. Dr. Brechenmacher [Potsdam], dem bei seinen Studien keinen Hinweis auf Klein auffiel). Seit dem Kriegsbeginn am 1.9.1939 war eine Ausreise faktisch kaum noch möglich; dem Halbjuden Hubert Jedin im Erzbistum Breslau wurde aber nach diplomatisch schwierigem Prozedere am 7.11.1939 die Ausreise nach Rom genehmigt (Jedin [wie Anm. 100] ). – Ein absolute Auswanderungsverbot für Juden erging im Oktober 1941 bereits im Zeichen des „Endlösungs“-Konzepts. Gemäß dem Reichskonkordat. Vgl. Ludwig Volk, Das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933. Von den Ansätzen in der Weimarer Republik bis zur Ratifizierung am 10. September 1933, Mainz 1972, S. 244, und (zum analogen Fall des Halbjuden Karl Johannes Heyer, der zum Dezember 1940 eingezogen wurde) Reimund Haas, Karl Johannes Heyer (1904-1995) [...], in: A. Pothmann/ R. Haas (Hg.), Christen an der Ruhr, Bottrop/Essen, Bd. 2, 2002, S. 159- 186, hier S. 178f.
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Die ersten Geistlichen des Erzbistums Köln scheinen im Januar 1940 einberufen worden zu sein.133 Anfangs mühte sich das Erzbistum noch in fast allen Fällen um Freistellung. Am 21. Februar beantragte das Generalvikariat für Klein – offenbar bei dessen Wehrerfassung – eine Freistellung mit Hinweis auf die öffentliche Bedeutung des Archivs für Abstammungsnachweise. Doch folgte rasch die Einberufung zum Sanitätsdienst ab 1. März nach Breslau.134 Etwa Mitte Mai wurde er (zum 20.5.) versetzt ins Reservelazarett Glogau (Schlesien), aber bald danach 135 „aus dem Sanitätsdienst als Halbarier entlassen“, und zwar nach einem neuen Erlass der Wehrmacht vom 8.4.1940.136 Vermutlich war Kleins Standortwechsel der Anlass, dass er auffiel; es kann als sicher gelten, dass die Wehrverwaltung von Kleins jüdischer Mutter wusste. Wir können vermuten, dass Klein dies geschmerzt hat, musste er doch in militärisch siegreichen Zeiten miterleben, wie seine NDFreunde nun nach und nach stärker in militärische „vaterländische“ Pflicht genommen wurden. Wohl Mitte Juni war Klein wieder in Köln.137
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Hierzu und zum Folgenden AEK, Gen. I 7.9, 1. Das Bundesarchiv (Militärarchiv Freiburg) konnte keine Personalunterlagen zu Klein ermitteln (frdl. Mitteilung: Chr. Botzet). Klein war Kr[anken]tr[äger], „4. San. Ers. Abt. 8, Breslau(-Rosental)“. – Schönartz’ Äußerung (Anm. 9), es sei ein „Witz der Weltgeschichte“, dass Klein „als erster Priester aus der Erzdiözese Köln“ einberufen worden sei, trifft so nicht zu und weist auf quellenkritische Probleme dieses Zeitzeugenberichtes von 1987. Bis 15.3.1940 waren schon mindestens 10-12 Geistliche einberufen. – Der Generalvikar sandte am 29.2. Wünsche fürs Wohlergehen und „daß Sie manche Gelegenheit erhalten, anderen seelsorglich zu helfen.“ Seine letzte Mitteilung an das Generalvikariat vom 18.5.1940 trägt den Kölner Aktenvermerk „Klein ist vom Militärdienst entlassen“, der aber vom Registrator stammt und daher auch deutlich später angebracht worden sein kann. So in einer Personalerhebung (Unentbehrliche und Untaugliche) des Generalvikariates (wohl um 1942) (AEK, Gen. I 7.5, 6). – Im Oktober 1940 waren im Erzbistum schon 213 TheologieStudenten (fast alle zum Dienst an der Waffe) und 91 Priester (69 zum Sanitätsdienst, 18 zur Heeresseelsorge, 4 zur sonstigen Verwendung) einberufen. Darüber hinaus waren etliche der früh Einberufenen (zunächst?) als körperlich nicht tauglich entlassen worden. – Zum Erlass des Oberkommandos der Wehrmacht vom 8.4.1940 Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933-1945, Hamburg 1999, S. 231. – Unklarheiten im parallelen Fall des Priesters Heyer (Haas [wie Anm. 132], S. 179) waren eher möglich, weil Heyers zivilrechtlich uneheliche jüdische Abstammung väterlicherseits bestand, die junge Mutter aber bald heiratete und Heyer später den Namen des Stiefvaters erhielt (Ebd., S. 164). S.u.
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Interessen und Kontakte, berufliche und nebenberufliche Beschäftigungen eines nicht voll einsetzbaren Priesters während des Krieges (1939-1944) Über die mindestens 5-jährige Archivtätigkeit 138 sind wegen des Verlusts der dortigen Dienstregistratur (1943) kaum Spuren erhalten. Bekannt ist, dass Klein angesichts der immer stärker drohenden Luftangriffe an der Auslagerung von Archivgut mitwirkte. Auf die Bedeutung des Archivs als Recherche- bzw. Nachweisstelle wurde hingewiesen.139 Der Vorgesetzte Dr. Lohmann war gesundheitlich eingeschränkt. Entsprechend wertvoll war die Arbeitskraft des jungen Peter Klein. Seine Strebsamkeit sowie sein zu vermutendes Interesse an Geschichte und Kultur ließen erwarten, dass er schon bald eine tragende Rolle einnahm. Eine Promotion, zu der Klein zweifellos intellektuell in der Lage war, war ihm als „Halbarier“ nicht möglich. Ob er sich dennoch mit wissenschaftlichen Fragen befasste, ist nicht bekannt. Das Einsatzfeld Archiv bot historische Materie und Fragestellungen genug. Durch einen Zufall wissen wir, dass er gelegentlich journalistisch wirkte. In der durchaus nicht katholisch geprägten, aber in gewisser Distanz zur NS-Ideologie beharrenden Kölnischen Zeitung 140 – Ausgabe vom 28. September 1943 (!) – findet sich sein 141 Artikel zum 140. Geburtstag des Malers ———— 138
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Dazu v.a. Toni Diederich, Zur Geschichte des Historischen Archivs des Erzbistums Köln, in: T. Diederich / U. Helbach (Red.), Das Historische Archiv des Erzbistums Köln. Übersicht über seine Geschichte, Aufgaben und Bestände, Siegburg 1998, S. 42 (mit Anm. 1), S. 46f. – Danach z.B. schon am 30.9.1938 (!) Gespräche Kleins, in Vertretung seiner erkrankten Vorgesetzten, mit dem Staatsarchiv in Düsseldorf über nötige Maßnahmen „im Fall einer Kriegsgefahr an der Westgrenze des deutschen Reiches“. S.o. – Generalvikariat an Wehrbezirkskommando Köln I (betr. Freistellung), 21.2.1940: „Dieses Archiv hat seit Jahren eine Beratungsstelle für die Beschaffung der heute von so vielen benötigten Tauf- und sonstigen Familienurkunden für den Abstammungsnachweis, die sehr in Anspruch genommen wird. Die Beratung erstreckt sich vielfach auf besonders schwierige Fälle der Urkundenbeschaffung, zu deren Erledigung nicht bloß lateinische Sprachkenntnisse, sondern auch eine nur durch längere Praxis zu erwerbende Vertrautheit mit den komplizierten kirchlichen Verhältnissen der Vergangenheit notwendig ist. Der Archivleiter zählt bereits 65 Jahre, war in letzter Zeit wiederholt längere Zeit krank und kann sich auch wegen anderer fachlicher Inanspruchnahme dieser Arbeit weniger widmen. Viele Anfragende, namentlich aus der Wehrmacht, und aus Beamtenkreisen, die die Beratungsstelle in Anspruch nehmen, würden ohne die schnelle, sachverständige Hilfe des Herrn Klein bei der Beschaffung der für sie so nötigen Urkunden in ernste Schwierigkeiten geraten [...]“. Zu der aufreibenden Tätigkeit der Redakteure gegen Bespitzelung, Übergriffe und Verfolgung durch das Regime Manfred Pohl, M. DuMont Schauberg. Der Kampf um die Unabhängigkeit des Zeitungsverlags unter der NS-Diktatur, Frankfurt u.a. 2009, S. 315 - 342. – Im DuMont SchaubergRedaktionsarchiv sind keine näheren Informationen zu Klein mehr vorhanden (frdl. Auskunft: Herr Müller). Eine systematische Auswertung der Zeitung war zu aufwändig. Die Autorschaft ist über die Briefe der Fam. Hausen sicher bezeugt. Seine Freunde, die Hausens, fanden 1943 unvermittelt den Artikel von „Peter Klein“ und erhielten ihn dann zeitnah auch von ih-
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Ludwig Richter. Er nutzte eine Hommage an die idyllische Welt Richters, „die von dem Glauben an das Gute im Menschen erfüllt ist“, zur höflichen Kritik. Zwar sehne man sich heute „schon nach Glück“, aber die Gegenwart sei „[...] berufen, die Wirklichkeit des Guten und des Göttlichen tiefer und überwältigender zu erfassen.“ Dass Richters Kunst „uns Heutigen innerlich etwas fremd bleibt“, liege nicht an ihrer zu großen Frömmigkeit und Gläubigkeit. „Im Gegenteil“, sie sei „zu zahm, um uns seinsmächtig zu erschüttern. Die Kunst des Mittelalters vermag da bei uns mehr“, und „noch stärker“ gelte das „von der Kunst Grünewalds, Michelangelos, Rembrandts“. Sie „ist aus größerer, stärker aufgewühlter Zeit geboren [...]“. Dennoch dürfe man nicht verurteilen wollen, „was Millionen unserer Eltern und Großeltern und uns selbst in unseren Kindertagen so unendlich viel Sonne und Freude ins Herz gesenkt hat“. Klein hatte offenbar enge Kontakte zur Kölnischen Zeitung 142 und dürfte über direkte oder indirekte ND-Kontakte, z.B. den 1943-1945 als Korrespondent bei der Kölnischen Zeitung arbeitenden Katholiken Karl Färber (1888-1979)143, an Aufträge gekommen sein. Weitere Autorschaften sind wahrscheinlich.144 Man gewinnt den Eindruck, dass der NDer Klein mit der traditionell liberalen, nicht weltanschaulich geprägten Haltung der Zeitung kein inneres Problem hatte. Dass er die Musik liebte und Instrumente beherrschte145, ist bekannt; er dürfte sie ausgiebig zu Hause mit seiner Mutter gepflegt haben. Er wirkte auch als Chorleiter 146 und besuchte Konzerte.147 Nachdem er anscheinend – offenbar aus Schutzgründen – 1939/40 ohne offizielle Subsidiarsaufgaben war, berief ihn das Generalvikariat nach Ende der Militärzeit ab 15. Juni 1940 als Aushilfe nach Köln-Deutz in die Pfarrei St. Heribert. Dort vertrat er einen einberufenen Kaplan und soll ab Mai 1941 auch die Orgel bedient haben; nach der Zerstörung der Kirche im Mai ————
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rem Freund zugesandt (AEK, NL Hausen). – Willi Hausen hatte bis Sommer die liberale Frankfurter Zeitung (bis zu deren Einstellung) abonniert, dann über Klein die ähnlich liberale Kölnische Zeitung. Ende 1943 besorgte er Willi Hausen ein Abo der Kölnischen Zeitung (Willi an Anna, 16.10.1943, Anna an Willi, 27.10.1943, Klein an Anna, 2.12.1943, AEK, NL Hausen). – Schon im Elternhaus wurde offenbar diese Zeitung gelesen (vgl. Anm. 40, 41). Studium: Theologie, Kunstgeschichte, bis 1933 Zentrumspolitiker, 1919 - 1979 Journalist, Aktivist des Freiburger Kreises (seit 1930/32) um Reinhold Schneider. Vgl. u.a. Manfred Plate, Färber, Karl, in: LThK, 3. Aufl., Freiburg u.a. 1995, Bd. 3, Sp. 1181f. Auf Kleins Beiträge zu sichten wäre auch einmal die Zeitschrift „Werkblätter von Neudeutschland Älterenbund“. S.o. Zur Chorleiterstellung in Deutz s.u. Klein an Willi Hausen, 11.11.1941 (AEK, NL Hausen).
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1942 fand der Gottesdienst in der Kapelle des städtischen Krankenhauses statt. 1941/42 leitete er offenbar auch den Kirchenchor. Die Pfarrei hatte 1942/43 große Probleme wegen der Einberufung mehrerer Kapläne.148 Spätestens 1943 machte er im Auftrag des Generalvikariates Seelsorgeaushilfen. Mit der völligen Zerstörung des Archivs im Juli 1943 änderte sich die Beschäftigung. So blieb Klein die Möglichkeit, seinem priesterlichen Beruf entsprechend weiter seelsorglich zu wirken. Unter dem Datum vom 26.8.1943 erhielt er – vielleicht wegen des Verlusts seiner Papiere am 28./ 29.6. – eine Bescheinigung seiner Weihen, die ihn als Priester auswies.149 Dem Ehepaar Hausen berichtete er im Oktober 1943: „Das Archiv ist ja abgebrannt. Die Archivalien sind zum bedeutendsten Teil in Sicherheit gebracht. Ich bleibe nach wie vor – wenigstens bis auf weiteres 150 – Archivassistent und soll – da an reguläre Archivarbeit vor Kriegsende nicht zu denken ist – nach dem Rat des Generalvikars [David] mich aushelfend in der Seelsorge betätigen, was mir natürlich sehr willkommen ist. Meine SamstagsSonntags-Aushilfstätigkeit an der Lungenheilstätte in Rosbach 151 [/Sieg] dauert fort. Morgen fahre ich für eine Woche zur Vertretung eines Pfarrers in die Eifel.“ Einerseits konnte Klein sich so nützlich machen, andererseits mag ihm das eine gewisse Genugtuung gewesen sein, angesichts der Verhinderung einer Priesterlaufbahn, wie er sie sich in der Ausbildung erhofft haben dürfte. Für den 23.12.1943 enthält die Personalakte den Hinweis auf eine „Beschäftigung mit einer wichtigen Aufgabe“, wegen der er sich im Generalvikariat in Honnef einfinden sollte.152 Am 23. März 1944 hat er an ———— 148
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Pfarrchronik (PfA Deutz, St. Heribert 417, frdl. Auskunft: Pfarrer Jürgen Dreher) mit dem Hinweis zur Chorleitung. In AEK, Slg. Personalia, ein Vermerk zur Personaldokumentation Klein (ohne Belegangabe). – In den Akten des Generalvikariates zu Deutz keine Hinweis auf Klein (AEK, GVA I, Deutz, Heribert 5). Für das städtische Hospital St. Heribert vermeldete im Mai 1943 die Oberin des dort tätigen Ordens wegen Messweinbezug die Namen anderer zelebrierender Priester, allerdings mit Zusatz „und durchreisende Priester“ (Ebd. 9). – Bis wann Klein in Deutz aushalf, ist unklar. Ausgestellt in Honnef, unterschrieben vom Generalvikar (AEK, Personalverw. Priester 646). Auch der Archivleiter befand sich seit Juli 1943 nicht mehr in Köln (Diederich [wie Anm. 138], S. 45). Die Lungenheilanstalt wurde nicht mehr von den Kölner Cellitinnen (bis 1936 dort) versorgt, sondern (1936-1944/45) von Pflegepersonal (NSV-Schwestern) der Stadt Köln, dem Träger der Einrichtung seit 1936. Seit 1942 wurde die Heilstätte weitgehend durch die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte mit Patienten belegt (Archiv der Cellitinnen, Köln, Severinstraße, Nr. 2188- 2190). Für die seelsorgliche Betreuung der Kranken war ein katholischer Geistlicher im Haus wohnhaft (ihn dürfte Klein am Wochenende vertreten haben), der evangelische Ortsgeistliche von Rosbach betreute die evangelischen Patienten. (Ebd., Nr. 2189) (frdl. Auskunft: Sr. M. Anne Roth) – Pfarrer in Rosbach war seit 1940 Anton Tannenbaum (geb. 1894), einen Kaplan gab es nicht, denn über 80% der Bewohner waren damals evangelisch.
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der Flüchtung der jüngeren Kirchenbücher von 29 Kölner Pfarreien ins Franziskanerkloster bei Hamm/Sieg mitgewirkt.153 Es ist also schwer vorstellbar, dass Klein noch geregelte Archivarbeiten in Köln durchführte. Auch im Generalvikariat – 1943 aus Köln nach Honnef, im April 1944 ins Bonner Leoninum verlegt 154 – war er, nach den Attacken von 1937, zumindest regulär wohl kaum einsetzbar.155 Seine Pendelfahrten nach Köln geschahen wohl vor einem anderen Hintergrund.156
Kleins persönliche „Netzwerk“-Aktivitäten (1940-1943/44) Nach allem, was bekannt ist, interessierten Klein die Menschen, vor allem die Jugend, die er seit 1939 nicht mehr betreuen durfte. Da er zwangsläufig über einige eigene Zeit verfügt haben muss, konnte er regelmäßige Kontakte pflegen. Auch wenn der Bund ND als solcher seit 1939 nicht mehr existierte, hielten die gewachsenen Kontakte der Gleichgesinnten. Briefe der meist im Krieg eingesetzten „NDer“ zeugen oft von hohem geistlichem Reflexionsniveau 157 und klarem christlichem Anspruch; sie können gelegentlich humorvoll 158 sein. Kameradschaft, moralische Unterstützung, gemeinsame theologische Verarbeitung des Erlebten sowie gegenseitiger Halt im christli———— 152
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Schreiben: Generalvikariatsrat/Personalreferent Hecker an Klein in Bonn. Auffälligerweise verrät auch das Geschäftstagebuch nichts Konkretes; der kryptisch mit „Auftrag“ bezeichnete Vorgang beginnt und endet am 22.12. (AEK, Personalverw. 646, und GTB 94). Diederich (wie Anm. 137), S. 46. Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887-1978), I. Sein Wirken für das Erzbistum Köln und für die Kirche in Deutschland, Paderborn u.a. 2003, S. 98; Kirchliche Anzeiger für die Erzdiözese Köln 84, 1944, S. 102 (Nr. 93). Zumindest faktisch, denn es drohten dann womöglich erneute Gestapo-Schikanen; es fällt auf, dass der Totenschein (AEK, Personalverw. Priester 646) als Beruf „Assistent beim Generalvikariat“ ausweist. Die amtlichen Unterlagen bieten aber keinen ausreichenden Hinweis auf eine neue Beauftragung 1944. Dazu unten mit Anm. 223. Aber auch die spätere Zeitzeugenaussage von zwei Kölnerinnen aus Bickendorf zu 1944, die regelmäßigen Fahrten in der Woche nach Köln seien mit Tätigkeiten oder einfach Besuchen in Bickendorf verbunden gewesen, kann durchaus einen realen Hintergrund haben. (Zeitzeugen-Interview Niederwipper, 1988 [Anm. 107]: „Klein [...] kam dann von Bonn nach Dreikönigen; auf einer dieser Fahrten mit der Rheinuferbahn ist er [...] 1944 umgekommen.“ Zur Authentizität der Erinnerung der Niederwippers vgl. Anm. 107.). – Zu den Fahrten auch Schönartz (Anm. 9), der von Regelmäßigkeit ausgeht. Vgl. K.-T. Schleicher / H. Walle (Hg.), Feldpostbriefe junger Christen 1939-1945, Stuttgart 2005. Dazu z.B. die Online-Rezensionen von Jörg Seiler (H-Soz-u-Kult) und Felix Römer (Sehepunkte). Zu Kleins Humor sein Brief an Hans Werres (dessen Bezug zum ND aber unklar ist), 24.8.1943: „im Leoninum [...], in dem Johann Sodemann und ich, und noch manch andere Lichtgestalt der Kölner Kirche den hohen Studien oblag.“ (zit. In: B. Klein an Frings, 1.8.46, AEK Gen. II 8.4, 1a, dazu s.u.).
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chen Selbstverständnis waren möglich, wenn die Beziehungen lebendig blieben. Man bekannte sich zur „jungen Kirche“ 159 und „kämpfte“ innerlich für sie, bald mit Blick auch auf eine Zeit nach dem Krieg. Klein pflegte regelmäßige Kontakte im Freundeskreis der Kölner NDer 160 und organisierte die jährlichen Treffen, meist an St. Alban, zu dem der kriegsbedingt immer kleiner werdende Kreis gerne zusammenkam; hier wurde der Zusammenhalt bekräftigt.161 Er korrespondierte häufig und hielt, ja vermittelte so die Kontakte 162 und versandte religiöses Schrifttum.163 ———— 159
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Z.B. Hans Röttsches im Kondolenzschreiben an Anna Hausen am 31.10.1944: „Mit Willi ist wieder einer von uns gegangen, der sich zur jungen Kirche bekannte und für sie kämpfte; Gott allein kennt unseren Auftrag [...] (AEK, NL Hausen). – Vgl. auch Kleins Begeisterung über die „frische“ Art des jungen Erzbischofs Frings (s.u. mit Anm. 311). Allein der Briefkontakt mit Willi Hausen (AEK, NL Hausen), einem der ND-Freunde, weist folgende Personen im Umfeld sowie deren Besuch bei oder Treffen mit Klein aus: Brief Kleins an Willi Hausen vom 25.9.1940: Hubert Wagner (†, Nachricht von dessen Tod), Uebach (als Informat), Eugen Mevissen (†), Franz Wothe (Grüße), Jakob Eich (Wachtmeister) (Besuch bei Kleins), Günther Haas (Leutnant) (B), Helmut Haas (Klein informiert über ihn), Günther (i), Fr. Rausch (i), Ernst Wistuba (i); vom 11.11.1941: Josef Miebach (B), P. Rausch (i), Bruno Simmert (Treffen), Milli Schäfer (i), Jupp Lob(b) (i), Hans Rom (†), Mathieu Nagelschmidt (†), Hans Röttsches (I), Hans Röttsches Vater (I), Reinold Frieling (†), Sepp (i), Kurt Broichgans (†), R. Frieling (†), Heinz Wistuba (†), Kohlhas (Frage); vom 10.12.1941: Karl Koch (Alban) (Tr), Kaplan Jaquemain (Ehrenfeld) (Tr), Christian Koch (i, vermisst), Heinz Wistuba (†), Herbert Richrath (†), Helmut Haas (†), Franz Stocky (i), Konrad Koch (i), R. Kohlhas (i), Christian Koch (†), Hans Heinrichs (i – Grüße), Franz Wothe (i); vom 11.3.1942: Sepp (†), Kaplan Gustav van de Loo (i), Josef Steeg (†), Franz Mömmerzheim (†), Max Frenger (†), Franz Stocky (Tr), Helmut Haas (Tr), Günther Haas (i); vom 27.5.1942: Hubert Wagner (Tr), Jupp Hüttenschmidt (Tr), Josef Miebach (i), Jakob Eich (B), Hubert Heller (†), Karlheinz Fröhlich (B), Binsfeld (†), Bützeler (†); vom 15.11.1942: P[...] E[...] (Tr), Leutnant Helmut Stocky (Tr [erstmals seit 10 J.]). Gottfried Blankenhagen (Tr), Peter Wirtz (San. Gefr.) (Tr), Brüder Maur (Tr), Franz Kohlhas (Tr), Karl Koch (Tr), Franz Klemens Vonessen (hat gegrüßt), Hubert Wagner (g), Jakob Eich (g), Clemens Frieling (†), Frau Frieling (Hinterbliebene) (B), Franz Hennes (i), Dr. jur. Kurt Blaise (i), Jakob Eich (I), Dr. med. Ferdi Kauerz (Tr in Siegburg); vom 1.4.1943: Willi Libertus, Rudi Kohlhas (i, vermisst), Franz Klemens Vonessen (i), Peter Wirtz (i), Walter Kamphausen (i, gefangen), Chr. Koch (†), R. Kohlhas (†), Anton Engelbert (†); vom 21.8.1943: Dr. Hürtgen (i); vom 14.9.1943: Theologe Albert Schümmer (i), Hans Röttsches (B), Familie Röttsches (Tr), Sa. Uffz. Peter Wirtz (Krhs. Lindenburg) (B u. Tr), Jakob Eich (i), Hans Kohlhas (i), Familie Koch (i), Jakob Eich (B geplant), Peter Wirtz (B gepl.); 3.10.1943: Dr. Hürtgen (g), Kaplan Böhner (i); vom 27.12.1943: Karl Koch (St. Alban) (Tr), Helmut Haas (Tr), Ludwig Maur (Tr), Erich Alvermann (Tr), Peter Wirtz (Tr), Hubert Wagner (Brief), Rudi Löcher (Ritterkreuzträger) (Br); vom 27.3.1944: P[...] E[...] (i u. B gepl.). „Vom Tode unseres Hubert [...] hast du wohl gehört, erinnerst du dich noch: bei Deiner Hochzeit war Hubert es, der den Vorschlag machte, zu singen: „Wenn alle untreu werden ...“. Wir wollen halten, was wir gesungen: Wir wollen Hubert die Treue halten übers Grab hinaus durch unser Gedenken im Gebet und heiligen Opfer“ (AEK, NL Hausen). (Klein an Willi Hausen, 27.5.1942). „Es war ein sehr schöner Nachmittag. Waren wir auch nur zu neun Mann, so habe ich doch durch die ‚Einladerei‘ in den Tagen vorher wieder so viele direkte und indirekte Verbindungen mit alten Freunden aufgenommen, daß schon um dessentwillen die Sache
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Mehrmals jährlich kamen Freunde zu ihm (und zu seiner Mutter) zu Besuch. Zu den engeren Freunden gehörte Willi Hausen, dessen Frau Anna seit 1941 Peter und ab 1942 vermehrt auch seiner Mutter Berta freundschaftlich näher kam.164 Berta Klein ließ regelmäßig in den Briefen grüßen.165 Besuche zwischen Peter Klein und den Hausens waren immer selbstverständlich und dienten auch zum Austausch von Informationen, für die die trotz allem reichlich konkreten Briefe 166 doch nicht geeignet waren. Recht nahe scheint ihm der 8 Jahre ältere Priester Hans Böhner gestanden zu haben 167, der vor 1932/33 schon eine wichtige überörtliche Rolle im ND ———— 163
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ein großer Gewinn war [...] war so schön, daß am Schluß von P[...] E[...] der Wunsch geäußert wurde, sich mehrmals im Jahr wiederzusehen.“ (Klein an Willi Hausen, 7.2.1943, AEK, NL Hausen). So z.B. 1943, während der schwierigsten Zeit des Untertauchens seiner Mutter, an Hausens ein Heft „Aus der ältesten Zeit des Christentums und der Kirche“ von Dr. L. Mohler (Münster) sowie das Bändchen „Große sprechen vom Tod“ [von L. Küppers, 1941 (?)] (Anna an Willi, 23.8.1943, Willi an Anna, 11.10.1943, AEK, NL Hausen). Schriftenversand war auch Usus zwischen den Hausens. Willi und Peter kannten sich seit der Schulzeit. Auch das Verhältnis von Anna Hausen zu Kleins wurde immer freundschaftlicher (Anna an ihren Mann, 4.5.1941: „Hans Böhner habe ich gestern abend nicht angetroffen [...] habe ich kurz Frau Klein besucht. Sie hat sich wirklich gefreut, und ich soll Dich herzlich grüßen. Ich bin wohl 20 Minuten bei ihr gewesen. Peter war noch nicht da. Frau Klein gefällt mir wirklich gut. Und ich glaube, daß ich ihr auch gefalle. Ihre Einladung hat sie wiederholt.“) (Siehe auch unten zur Kondolenz zum Tod Peter Kleins). – Es lassen sich trotz weitgehender räumlicher Trennung zahlreiche Besuche nachweisen. Peter Klein gehörte Ende 1941 zum Kreis der möglichen Brautführer bei der Hochzeit der Hausens. Dem gerade geborenen Sohn Johannes schrieb er 1942 einen rührend persönlichen Brief von mehr als 4 Seiten. (AEK, NL Hausen). Am 11.11.1941 schrieb sie sogar eigenhändig: „Einen recht schönen Gruß und beste Wünsche sendet Ihnen Frau P. Klein.“ (AEK, NL Hausen). Siehe Abbildung. Die Zensur der Briefsendungen im Krieg konnte nur stichprobenartig vorgenommen werden. Verboten waren anfangs abwehrrelevante Informationen v.a. zum Krieg, später kam es immer mehr auch zur politisch-ideologischen Überwachung. Insgesamt schrieben viele Soldaten erstaunlich offen und unbeeindruckt; man erlebte nur selten Zensurfälle der eigenen Post. Dennoch waren die Hinweise der Hausens etwa zu den Judendeportationen (s.u.) äußerst heikel, konnten ausgelegt werden als verbotene Gerüchte, als kritische Äußerungen oder als bewusste Zersetzung (Vgl. u.a. Ortwin Buchbender/ Reinhold Sterz, Das andere Gesicht des Krieges, München 1982; Benjamin Ziemann, Feldpostbriefe und ihre Zensur in den zwei Weltkriegen, in: K. Beyrer/ H.-C. Täubrich [Hg.], Der Brief, Heidelberg 1997, S. 164; Katrin Anja Kilian, Das Medium Feldpost als Gegenstand interdisziplinärer Forschung [Diss.], Berlin 2001, S. 99-102). Johannes Böhner (1904-1993), 1928 Priesterweihe, 1928 Aushilfsreligionslehrer und Kaplan in Düsseldorf, 1931 Krankenhausseelsorger in Köln-Bayenthal, 1932 Rendant am Collegium Leoninum, Bonn, 1934 Erzbischöfl. Geheimsekretär Schultes, 1941 Leiter der Diözesanbild- und Filmstelle. (Zu Gestapomaßnahmen gegen ihn: Priester unter Hitlers Terror [wie Anm. 45], S. 702.) – Böhner lebte 1939/43 nahe bei Kleins, und zwar (zunächst bis März 1941 als Schultes Geheimsekretär), aber auch später, in der Gereonstraße. Klein begleitete ihn z.B. am 15.9.1941 nach Niedermühlen bei Asbach (Westerwald) (Notizen Böhners in: AEK, NL Böhner [Abgabe Tekath] ). – Böhner war spätestens 1932/33 Gaukaplan im ND (bis 1934); in engster Verbindung zur ND-Spitze (Vgl. Christian Schäfer, Die Gruppen des Bundes Neudeutschland in Bonn. Bericht eines Zeitzeugen, in: In Bonn katholisch sein. Ursprünge und Wandlungen der Kirche in einer rheinischen Stadt, Bonn 1989, S. 97-108, hier S. 100, 103f.).
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spielte und seinerseits sehr vertrauensvoll mit den Hausens korrespondierte. Andere, mit der Familie Hausen nicht direkt bekannte Personen können nur andeutungsweise benannt werden, darunter vermutlich auch Personen mit jüdischen Wurzeln.168
Schluss eines Briefs von Peter Klein an Willi Hausen (11.11.1941), schließend mit „In Treue! Dein Peter“. Unten eigenhändiger Gruß der Mutter („Einen recht schönen Gruß u. beste Wünsche sendet Ihnen Frau P. Klein.“) und dazwischen eigenhändiger Gruß von ND-Freund „ Josef “ (Miebach)
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Hans Werres aus Bickendorf (!) war 1946/47 (2. bzw. 3 Sem.) Theologiestudent in Bonn (CR II 8B 21, 1) (s.u. mit Anm. 221). Bez. jüdischen Bekannten s.u.
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Zwischen formal-rechtlichem Schutz und akuter Deportation: Peter Klein und seine Mutter nach 1939/41 Spätestens die Pogromnacht 1938 und die bald folgenden immer massiveren Maßnahmen vergrößerten die Distanz zu den Nichtjuden, weil sie die jüdischen Menschen ihrer Rechte beraubten und sie vollkommen ausgrenzten. Peter Klein galt, wie erwähnt, nach den Nürnberger „Rassegesetzen“ als „Mischling 1. Grades“. Einstweilen drohte ihm so keine Gefahr an Leib und Leben. „Halbjuden“ konnten entsprechend der Gesetzesnorm davon ausgehen, dass sie, trotz rechtlicher Nachteile und faktischer Diskriminierungen, als „Reichsbürger“ mit den übrigen Deutschen grundsätzlich gleichgestellt waren. 1939 erhielten jüdische Frauen, die bislang keinen jüdischen Vornamen trugen, den Zwangsnamen „Sara“. Für Berta Klein wurde dieser Name auffallenderweise erst im April 1941 standesamtlich vermerkt.169 Mitte 1941 wechselte die Konzeption der Nazis von der Vertreibung zur Ermordung („Endlösung“).170 Es überrascht den Betrachter zunächst, dass Berta Klein (noch) lange unbehelligt blieb, während in Köln seit dem 22. Oktober 1941 nach und nach Tausende Juden 171 deportiert wurden. Doch galt sie trotz ihres Witwenstandes als Jüdin in einer Mischehe: Die Pflicht, den Davidsstern zu tragen sowie die Verbringung in Sammelunterkünfte in Köln 1941 172 galt nämlich mit zwei Ausnahmen. Eine davon betraf die jüdischen Partner in Mischehen, „sofern Abkömmlinge [...] [aus der Mischehe] vorhanden sind“ und diese nicht als Juden gelten, und zwar auch dann, wenn ———— 169
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Am 22.4.1941 (Löschung am 14.5.1948, gem. VO des Innenministers von NRW, 15.2.1947, frdl. Auskunft: Landesarchiv NRW, Brühl, Ulrich Bartels). – Interessanterweise wurde nicht (wie nach dem damaligen Personenstandsgesetz vorgesehen und anlässlich der Anbringung des Randvermerks mit dem Zwangs-Beinamen Sara 1941 eindeutig zu erwarten) der Randvermerk über den erfolgten Tod des Mannes beim Heiratseintrag angebracht; offensichtlich, weil der Tod des Vaters damals nicht leicht ermittelbar war (s.o.). So kann man spekulieren, ob die Behörden überhaupt, rein amtlich gesehen (in Zeiten analoger Datenverwaltung), ausreichend sicher waren, dass die Mischehe der Berta Klein nicht mehr bestand. Zum Folgenden, v.a. Zeit und Ablauf der Deportationen, die die Nazis als „Evakuierung“ kaschierten: Matzerath, Stadtgeschichte (wie Anm. 3), S. 410 - 415; Horst Matzerath, Der Weg der Kölner Juden in den Holocaust, in: Die jüdischen Opfer (wie Anm. 8), S. 530- 553, hier S. 533 - 542. Zum Beginn der Deportationen im Oktober 1941 gab es in Köln noch 6.277 jüdische Menschen. Mitte 1939 waren es noch 7.975 Menschen jüdischer Konfession gewesen (nach den NSRassenkriterien: 8.406 „Juden“, dazu 1.541 „Mischlinge ersten Grades“, d.h. Personen mit einem jüdischen Elternteil. [Jüdisches Schicksal in Köln 1918 - 1945. Katalog, Köln 1988, S. 283f.]). Juden durften ab Mai 1941 nur noch in Häusern jüdischer Besitzer leben. Das Rechtsrheinische sowie die Bezirke rund um die Innenstadt waren „von Juden restlos zu räumen“ (Matzerath, Stadtgeschichte [wie Anm. 3], S. 408f.).
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[so im Falle Klein] die Ehe nicht mehr besteht.173 Die Witwe Berta, die nicht konvertiert war, wurde rechtlich geschützt durch die Existenz ihres Sohnes, obwohl ihre (Misch-)Ehe realiter nicht mehr bestand. Schon zwei Tage nach der ersten Deportation – sie war den Betroffenen Tage vorher angekündigt worden – schrieb Anna Hausen am 24.10.1941 ihrem Mann (in Danzig): „Ich habe eben einmal Frau Klein besucht, weil ich gerade in der Stadt war. Es geht ihr gesundheitlich nicht besonders gut, und sie ist sehr mitgenommen. Aber sie braucht nicht von Hause fort, weil das mit Peter halbe Sache ist. Du verstehst ja?“ 174 Deutlich wird hier: Peter Klein war in diesen Tagen, aber auch später, bestens über die Ereignisse informiert, ohne dass wir seine (jüdischen?) Kontaktquellen kennen. So konnte Anna am 30. Oktober 1941 – zwei Tage nach der zweiten Deportation – ihrem Mann noch klarer schreiben „[...] Aus Köln sind 2.000 Juden 175 nach Litzmannstadt gekommen, wie, das erzähle ich Dir einmal. Weil P. nun Halbarier ist, braucht seine Mutter nicht fort. Verstehst Du, was ich meinte?“ – Klein erlebte wohl sehr bewusst mit, wie 1941/42/43 weitere große Transporte von Köln aus abgingen; – durchaus nicht bei „Nacht und Nebel“.176 Die Synagogengemeinde musste in perfider Weise die Listen erstellen. Damals waren sich aber selbst die Deportierten oft noch nicht wirklich bewusst, was sie in Litzmannstadt – dem Ziel der ersten Kölner Transporte – und anderswo „im Osten“ erwarten würde; Hoffnungen und Illusion waren noch vorhanden. ———— 173
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Ebenso, wenn „der einzige Sohn im gegenwärtigen Krieg gefallen ist.“ Ferner waren die jüdischen Partner in Mischehen geschützt, solange (in kinderlosen Ehen) die Ehe bestand (Polizeiverordnung vom 1.9.1941 nach dem Rundschreiben des Kölner Stadtdechanten Löbbel an die Pfarrer und PfarrRektoren von Köln vom 17.9.1941 [Wilhelm Corsten, Kölner Aktenstücke zur Lage der katholischen Kirche in Deutschland 1933-1945, Köln 1949, S. 258f. (Nr. 212)], vgl. auch Protokoll der Dechantenkonferenz 10.11.1941 [AEK, Gen. I. 5.5]). – Außerdem hatte der Kölner Stadtdechant – jedoch für Frau Klein nicht relevant – bei der Kölner Polizeistelle erreicht, dass „Rassenjuden“, die vor dem 15.9.1935 getauft worden waren, „den in einer privilegierten Ehe lebenden Juden gleichgestellt werden sollen“; die Pfarrer sollten solche melden, damit man sie besserstellen lassen konnte. Die Kirche sah in der Zeit ihre Hilfsmöglichkeiten und Zuständigkeit primär für die getauften Juden. – Berta ging im September 1941 noch nachweislich in die Stadt (Anna an Willi Hausen, 3.9.41: „Gestern am Nachmittag war ich in der Stadt, da ist mir auch Frau Klein begegnet“ [AEK, NL Hausen]). Bezeichnenderweise verstand ihr Mann zu dem Zeitpunkt den komplexen Sachverhalt noch nicht: „Deine Andeutung in Bezug auf P. Kl. verstehe ich nicht ganz“ (Willi Hausen, 27.10.1941, AEK, NL Hausen). Diese Zahl stimmt fast exakt als Summe der beiden Transporte vom 22. und 28.10. (Matzerath, Weg der Kölner Juden [wie Anm. 170], S. 536f.: 2.014). Zu den Berichten des Schweizer Generalkonsuls von Weiß: Matzerath, Weg der Kölner Juden (wie Anm. 170).
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Inwieweit Berta Klein vor 1939/41 private Verbindungen zu anderen Kölner Juden unterhielt, ist nicht bekannt.177 Mitglied der Synagogengemeinde kann sie 1941/43 keinesfalls gewesen sein; sie wäre sonst wohl auch früher auf die Listen gelangt. Dennoch; angesichts immer neuer Verordnungen und Maßnahmen 178 war damit zu rechnen, dass auch ihr irgendwann die Deportation drohte. Befreundete Besuche bei Frau Klein wurden nun, um nicht zu beunruhigen, vorher telefonisch angemeldet.179 Hans Böhner, bis 1941 Sekretär von Erzbischof Schulte, schrieb am 7. November 1942 an seinen ND-Freund Willi Hausen in Litzmannstadt (Lodz) unter „Neuigkeiten aus dem Westen des Reiches [...] Bei Peter Klein ist die Lage betr. der Mutter noch unverändert“. Anna Hausen berichtete ihrem Mann am 4. Mai 1943 180: „Gestern war ich bei Peter und soll Dich grüßen. [...] Seiner Mutter geht es noch gut und sie ist auch noch hier bei ihm.“ Berta Klein war in dieser Zeit bisweilen kränklich.181 Wegen der nur geringen Familienkontakte und dem überschaubaren Umgang mit Freunden und Bekannten wird sie die Wohnung nicht sehr oft verlassen haben. Umso gerührter war sie, dass Anna Hausen sie trotz der Lage ab und zu besuchte. Einkäufe konnte ihr Sohn tätigen und beide versorgen, so dass einengende Maßnahmen sie nicht so einschneidend trafen. Auch das Verbot zur Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln im April 1942 182 dürfte sie z.B. kaum tangiert haben. Überdeutlich ist die bedrückende Hilflosigkeit aller „Hinsehenden“; es erschien eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann auch Berta „an der Reihe“ war. Die vorausschauende Informiertheit ihres Sohnes und vielleicht auch die räumliche wie informelle Nähe ihrer Person zur Leitung des Erzbistums Köln waren vielleicht 1942/43 kurzzeitig von Wert, als es nur noch wenige Hundert Juden (von über 6.000) in der Stadt gab. Es gibt keinerlei Hinweis, dass man Frau Klein wegen persönlicher Kontakte der Kirche zu ausführen———— 177 178
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Dazu aber unten den Hinweis zur Kölner Familie Pelzer. Im Juni 1942 wurden z.B. auch die jüdischen Ehepartner aus nicht mehr bestehenden Mischehen abtransportiert (Matzerath, Weg der Kölner Juden [wie Anm. 170], S. 539). Ob auch schon die erwähnten Ausnahmefälle „an der Reihe“ waren, ist unklar. Willi Hausen (Zgierz) an Anna Hausen (Köln), 18.8.1942: „Gehst Du auch in nächster Zeit noch mal zu Frau Klein, der wir ja eigentlich noch einen Besuch schuldig sind? Kannst ja vorher Peter Kl. unter 226470 anrufen.“ (Im Telefonbuch 1941 kein Eintrag zu Peter Kleins Wohnung.) AEK, NL Hausen. Sie litt an „starken Blutdruckbeschwerden“ und hütete das Bett (Klein an Hausens, 15.11.1942). Ab 21.12.1942 durften Juden keine nichtjüdischen Ärzte mehr aufsuchen (Jüdisches Schicksal (wie Anm. 171), S. 293), doch konnte Frau Klein auch dann in ihrer Wohnung sicherlich unauffällig behandelt werden, jedoch nicht in einer Klinik. Matzerath, Stadtgeschichte (wie Anm. 3), S. 409.
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den (Polizei-)Stellen verschonte, aber man kann die Überlegung anstellen, ob nicht einzelne strategisch denkende NS-Stellen 1942 damit rechnen mussten, womöglich wegen solch einer Einzelperson die Aufmerksamkeit der kirchlich Verantwortlichen in unkalkulierbarer Weise auf die nichtchristlichen (Voll-)Juden hinzulenken und so die Bistumsleitung 183 – bis dato hatte sich noch kein Bischof in Deutschland offen zu den Massenaktionen gegen die Juden geäußert – stärker als erwünscht herauszufordern, womöglich gar zu offenen Worten, die Unruhe in die Bevölkerung hätten bringen können. Hinreichend beweisbar ist das nicht. Aus tiefer Sorge vor den Folgen verschärfter Konfrontation fand der Episkopat 184 tragischerweise bis 1943 nicht zu einem offenen gemeinsamen Wort gegen die Judenverfolgung und -ermordung. Der Fuldaer Hirtenbrief vom August 1943 sprach dann deutliche mutige Worte für die Menschen———— 183
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Der neue Erzbischof Frings amtierte seit Juni 1942 im Erzbischöflichen Palais (Gereonstr.) – nur ca. 100 Meter entfernt. Sein Geheimsekretär, 1942-1946, Dr. Robert Hürtgen (1905-1979) hatte dasselbe Gymnasium besucht wie Klein. Mit der Verlesung des in punkto Menschenrechten sehr deutlichen Hirtenworts (verfasst von Preysing / Berlin) im Erzbistum Köln am 20.12.1942 schlug der vom außen bis dato als zurückhaltend eingeschätzte Frings in den Augen des Regimes ganz neue Töne an. – Weitere Fringspredigten und seine Beschwerden gegen die Rassenpolitik am 12.3.1944 und ab September 1944 fielen schon in die Phase der Verfolgung auch der „Mischlinge“ (Trippen, Frings I [wie Anm. 154], S. 90, 105f., 110f.; von Hehl [wie Anm. 5], S. 235). – Der Episkopat protestierte immer wieder intern und letztlich leider wirkungslos; innerlich war er gespalten und in einer tiefen Führungskriese, so dass erst 1943 – lange nach den Deportationen und auch nach dem Durchsickern von Informationen (1942) zu den systematischen Morden –, gegen den Wunsch des Vorsitzenden Bertram, das Gemeinsame Hirtenwort zu den 10 Geboten zustande kam. (In Frings’ Entwurf hieß es einleitend sogar noch zu den Motiven „Wir deutschen Bischöfe könnten nicht vor Gott, vor der Geschichte, sowie vor unserem Gewissen bestehen, wenn wir bei klarer Erkenntnis der Wurzel aller Übel, unter denen die Menschheit leidet, schweigen würden, anstatt die Völker aufzurufen, daß sie heimkehren zu den Geboten des Herrn.“). Die Bischöfe rangen, letztlich jeder einzeln, mit sich, wie viel sie den Gläubigen zumuten konnten an Konfrontation gegen die als legitim erachtete Obrigkeit, speziell unter den Herausforderungen des Krieges, ohne Schaden vielfältiger Art für Kirchenvolk und Seelsorge hervorzurufen und ohne den Juden letztlich (noch) wirklich helfen zu können (Dazu Konrad Repgen, Die Erfahrung des Dritten Reiches und das Selbstverständnis der deutschen Katholiken nach 1945, in: V. Conzemius/M. Greschat/ H. Kocher, Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte [...], Göttingen 1988, S. 411- 452, hier S. 436ff.; Antonia Leugers, Gegen eine Mauer des bischöflichen Schweigens. Der Ausschuß für Ordensangelegenheiten und seine Widerstandskonzeption 1941 bis 1945, Frankfurt/M. 1996, S. 245-258; Ulrich Helbach, „Es hätte unserer Kirche und unserem Volk mehr gedient, wenn wir weniger geschwiegen hätten ...“ – Die „Schuldfrage“ im Frühjahr 1945 im Lichte eines neuen Quellenfundes: Eingabe der westdeutschen Bischöfe an Papst Pius XII., in: S. Schmidt [Hg.], Rheinisch – Kölnisch – Katholisch. [...]. Festschrift für Heinz Finger zum 60. Geburtstag [= Libelli Rhenani, Bd. 25], Köln 2008, S. 341-372, hier S. 353-357. – Zu den klaren, mit dem Buchstaben des Gesetzes von 1935 operierenden Interventionen gegen die Verfolgung der „Mischlinge“ 1944 Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945, Bd. VI: 19431945, bearb. von Ludwig Volk, Mainz 1985, Nr. 908 sowie Nr. 905 [Bertram an Himmler u.a. und an das RSHA, 11.1.1944] u.a.; AEK, Gen. II 8.4, 1a; Trippen, Frings I [wie Anm. 154], S. 110f.)
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rechte. Er blieb der letzte gemeinsame Hirtenbrief bis 1945. Erzbischof Frings, von dem der Entwurf der besagten Verlautbarung stammte, hatte Ende 1942 erstmals ein deutliches Hirtenwort verlesen lassen und äußerte sich dann 1943/44 noch mehrfach gegen die „Tötung vom Menschen fremder Rassen und Abstammung“; 1944 gewannen diese Worte neue Aktualität. Als das jüdische Leben in Deutschland weitgehend ausgelöscht war, richtete sich das Interesse des Regimes auch auf die vielfach christlichen „Halbjuden“, was verschärfte Proteste des Episkopats hervorrief. Ob Klein im Jahre 1944 vor derlei Verfolgungs-Aktionen noch konkret in Sorge war, wissen wir nicht. Jedenfalls hat er sich in der Öffentlichkeit frei bewegt. Er besaß reale Chancen 185, Krieg und Verfolgung zu überstehen, auch wenn er (1943/44) sehr klar mit der Möglichkeit des eigenen Todes rechnete.186 1942/43 galt die Sorge ganz der Mutter, die als eine von wenigen Juden damals noch außerhalb von Judenhäusern und Lagern leben durften.
Kleins’ Initiative für jüdische Bekannte im Ghetto Litzmannstadt (Lodz) (1943) Es mutet zunächst erstaunlich an, dass sich Peter Klein in der schwierigen Lage seiner Mutter gleichwohl auch um andere bedrohte Juden bemühte. Seine Kontakte im Netzwerk der persönlichen ND-Freundschaften und Bekanntschaften boten die Basis dazu. Für die hier zu erwähnenden Ereignisse gibt es eine zeitgenössische authentische Quelle, die Briefe des Ehepaars Hausen.187 Aus ihnen wird die Initiative Kleins deutlich, ebenso wie die selbstverständliche Bereitschaft der ———— 185
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Es mutet heute schwierig an, wenn Zeitzeugen wie H. Böhner zum Unfall: „er wäre [...] zweifellos im KZ gelandet, wenn nicht der frühe Tod [...]“ und „das hat der liebe Gott gut gemacht“ (B. an Generalvikar, 6.5.1979 [AEK, Slg. NS 90/2, 17]; B. an Hegel, 30.1.1983 [AEK, Slg. Personalia]), W. Schönartz („Wer kann sagen, welche Widrigkeiten und Qualen Peter Klein durch diesen plötzlichen Tod erspart worden sind?“, Bericht 1987 [wie Anm. 9]) oder sehr plakativ H. Decker („Gottes Fügung bewahrte ihn vor der Gaskammer [...]“ [wie Anm. 92]) die christliche Gewissheit göttlicher Sinngebung des tragischen Todes doch allzu konkret auf eine vermutete Chancenlosigkeit des „Halbjuden“ vor den Häschern des Regimes projizieren. Andere halbjüdische Priester haben durchaus überlebt (vgl. Anm. 96-98). Der Totenzettel vom Mai 1944 trägt einen diesbez. eindeutigen Text „aus hinterlassenen Aufzeichnungen“ Kleins, der also zu Lebzeiten verfasst wurde: „Gott ich glaube an dich; ich glaube an Deine Führung. [...] Gottes Führung kann nicht anders als wunderbar sein. Dunkel liegt vor mir meine Zukunft. Angst habe ich nicht. Angst ist nicht Christenart. Aber muß ich die bisherigen Ereignisse nicht als Mahnruf Gottes ansehen? Bin ich bereit, vor Gottes Richterstuhl zu erscheinen? Wie ich auch sterben mag: ich will sterben als ein Heiliger. Mein Tod soll ein heiliger Tod sein.“ (AEK, Slg. Personalia).
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Freunde, sich den gefährlichen Gefälligkeiten nicht zu entziehen, um so einer „Bekannten“ in Litzmannstadt (Lodz) zu helfen. Über den unscheinbaren Eintrag im Adressbuch des Helfers ergibt sich die Identität der Frau: Lotte Mokrauer 188, ledige Frankfurter Jüdin, aus Oberschlesien stämmig und im Oktober 1941 mit ihrer Mutter Fanny 189 von Frankfurt/M. aus ins Judenghetto nach Litzmannstadt deportiert. Nach Informationen, die Peter Klein über eine andere Person erhalten hatte, lebte sie in Lodz, „Zimmerstraße 6-9“.190 An Willi Hausen, der über die jüdische Identität von Lotte zunächst nicht ins Bild gesetzt war, erging 1943 die Bitte seines ND-Freundes Peter, ihm zu helfen. Hausen war, wie ausgeführt 191, seit Sommer 1942 als Wehrmachtsangehöriger für das Heeres-Nebenzeugamt Litzmannstadt (im Warthegau) tätig; er wusste um die Existenz des Ghettos, das er häufig mit der Straßenbahn durchqueren musste.192 Es ist unklar, in welcher Beziehung Lotte zu Peter Klein stand. Vielleicht rührte der Kontakt aus der Militärzeit in Breslau, wo Onkel und Tanten der Jüdin Lotte lebten. Die Frau könnte sich für einen Übertritt zur katholischen Kirche interessiert haben. Ihre Bekanntschaft mit dem Oratorianer ———— 187
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Dass Hausens sensible Menschen mit geschärftem Unrechtsbewusstsein waren, lässt sich klar belegen: Anna an ihren Mann am 21.9.1941: „[...] Und dann verfolgt mich immer noch das Furchtbare, was wir in der Röntgenstraße [in Köln-Ehrenfeld] sahen [...] es gelingt mir nicht, das zu vergessen. Immer wieder ist mir dieses Bild ein Ekel. Gestern habe ich wieder [...] fassungslos geweint.“ Von dort war das Hofgelände des jüdischen Wohlfahrtszentrums Ottostraße einsehbar. Es könnten also Eindrücke von erniedrigenden Handlungen an jüdischen Menschen, „Zigeunern“ oder Zwangsarbeitern gewesen sein; Näheres ist unklar. – Willi am 13.3./31.7.1944 an einen katholischen NDFreund, promovierter Jurist und Staatsanwalt: „Wir müssen immer Herr bleiben, auch über uns selbst. [...] Wir erkennen erst, was zu tun ist. Hoffentlich gelingt es uns auch, das zu tun, was wir als richtig erkannt haben. Wann anders werden wir uns unserer Menschlichkeit mehr bewußt als gerade dann?“, und: „Unsere Verpflichtung geht nur so weit, als sie der Liebe nicht entgegensteht.“ (AEK, NL Hausen). Geb. 1901, gest. 1944/45?, seit den späten 1920er Jahren in Frankfurt/M. ansässig. – Die Erkenntnisse zur Identität der Lotte Mokrauer sind Frau Dr. Adelheid Hausen zu verdenken, die Mokrauer 2011 über den Nachnamen im Notizbuch des Vaters in der Gedenkseite (Homepage) des Bundesarchivs identifizieren konnte. Sie wandte sich an die Stadt Frankfurt (Institut für Stadtgeschichte (dort Hinweis auf die Akte der Mutter, Fanny Mokrauer, im Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden [Abt. 518/Paket 984/W-15824]), an das Fritz-Bauer-Institut, das Jüdische Museum in Frankfurt, sowie an das ITS in Bad Arolsen und hat nun erfolgreich angeregt, dass Lotte und ihrer Mutter zum Gedenken vor der letzten freiwilligen Wohnadresse in Frankfurt sog. „Stolpersteine“ gesetzt werden. Geb. Löwenstädt (geb. 1875 in Breslau, gest. 1941/42?, 7 Geschwister); die Tochter geb. in Neustadt / OS (heute Prudnik). Notizbuch Willi Hausens (AEK, NL Hausen). Vgl. Anm. 11. Er hatte seiner Frau von dem unwürdigen, „verkommenen“ Anblick des dichtgedrängten hygienisch schlimmen Ghettos und seiner jüdischen Bewohner berichtet.
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Gülden – er war 1943 in Leipzig 193 – und dessen verbindlich positives Urteil über sie bieten Ansatz zu dieser Vermutung. Peter Klein gab Anna Hausen irgendetwas mit vor einem Treffen der Eheleute in Posen am 27. Februar/3. März 1943, das dann in Litzmannstadt zugestellt werden sollte 194, und zwar – aus Sicht Kleins –, wenn nötig, ins Ghetto.195 Für den 7.3. plante Willi Hausen die Durchführung, ohne allzu viel Zuversicht. An dem Tag schreibt er nach Hause: „... habe ich dann versucht, die Sache von P. zu erledigen, aber dies scheint nicht möglich zu sein. Es existiert hier nur eine Zimmermannstr.196 und unter den angegebenen Nummern ist die Person nicht zu ermitteln. [...] Die mitgeteilte Straße soll früher existiert haben, jetzt aber unter einer anderen Bezeichnung im Bereich des Ghettos liegen. Da scheint also irgendwie ein Irrtum vorzuliegen. Vielleicht findest Du Zeit und Gelegenheit P[eter] entsprechend zu informieren.“ Anna war in Sorge um ihren Mann. Willi wiederum war noch nicht gewillt, die Bemühung um Kleins Bekannte aufzugeben und hakte am 12.3. verklausuliert bei seiner Frau nach: „Wegen der Sache von P. K. müßte ich noch wissen, ob die Person, an die ich mich wenden sollte, aus der Art seiner Mutter ist oder mit uns gleichberechtigt ist. Im ersteren Falle wäre natürlich eine Vermittlung meinerseits überhaupt nicht möglich. Am wichtigsten wäre eine genaue Anschrift, weil es zu schwierig ist, auf anderem Wege diese zu ermitteln und außerdem auch nicht angebracht.“ ———— 193
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Siehe unten. Eine Bekanntschaft Kleins mit Lotte über Gülden ist unsicher, da nicht klar ist, inwieweit sich die beiden Priester (über den ND) näher kannten. Die in diesem Kapitel genannten Belege / Briefe der Hausens: 28.1.1943 Anna (A) an Willi (W), 5.3.1943 W an A („Am Sonntag werde ich versuchen, den Wunsch von P.K. zu erfüllen. Bin gespannt, ob es klappen wird.“), 7.3.1943 W an A, 6.3.1943 W an A („Morgen nach dem Mittagessen werde ich die Sache von P.K. mal in Angriff nehmen und Dir sofort berichten, was dabei herausgekommen ist. Ich verspreche mir ja nicht viel von der Sache“), 9.3.1943 A an W („Heute kam noch kein Gruß von Dir. Es wird Dir doch wohl nichts zugestoßen sein. Du weißt ja, weshalb ich in großer Sorge bin. Gestern war ich bei [... wie oben zitiert], 11.3.1943 A an W [„froh bin ich mit Deinen drei lieben Briefen. Ich war schon in großer Sorge um Dich wegen der Sache für P. K. Irgendwie bin ich froh, daß es nicht geklappt hat und Du nicht in Gefahr geraten bist“], 12.3.1943 W an A, 13.3.1943 A an W [Anna lag der Brief vom 12. noch nicht vor]: „Mein Liebster, wegen P. K. gibst Du ja gut acht! Nicht, daß ich mich sorgen muß.“), 15.3.1943 A an W, 20.3.1943 A an W, 23.3.1943 W an A, 4.5.1943 A an W, 3.6.1943 W an A, 5.6.1943 A an W, 8.6.1943 W an A. Vgl. dazu u.a. Andrea Löw, Juden im Ghetto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006. Im Notizbuch hatte er „Zimmerstraße“ notiert. Auf dem Stadtplan von Mai 1940 ist die Zimmermannstraße eingezeichnet. Sie liegt nicht im Bereich des Ghettos. Die gesuchte Zimmerstraße liegt hingegen im Bereich des – auf dem Plan von 1940 nicht eingezeichneten – Ghettos. Als Drukarska auf dem aktuellen Plan von Lodz verzeichnet (frdl. Hinweise: Dr. Adelheid Hausen, Kempen).
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Es wird deutlich, dass Klein – womöglich wusste auch er nicht sicher, ob die Bekannte, zu der ja nur indirekter Kontakt bestand, abgeschlossen im Ghetto lebte – seinen Freund zunächst nicht voll informiert hatte, um ihn, den Ehemann und jungen Vater, nicht zu gefährden. Die Sorgen der Ehefrau sind nur zu verständlich. Am 15.3. antwortete sie: „Mit P. K. werde ich sprechen, dann gebe ich Dir Nachricht.“ Am 20.3. meldete sie ihm brieflich verklausuliert zurück: „Gestern war ich bei P. K. Er war natürlich enttäuscht, daß die Sache nicht geklappt hat. Aber er hatte schon im Stillen geglaubt, daß die Dame in einer unheimlichen Gegend wohnt und vielleicht, weil sie in Not geraten ist, an seine Bekannte 197 geschrieben hat. Du sollst nun alles wieder mitbringen.“ 198 Und Willi replizierte am 23.3.1943 „für Deinen l[ie]b[en] Brief vom 20.3. vielen Dank. Meine Vermutungen wegen P. K. [dass es sich um eine Jüdin handelt] treffen also wahrscheinlich zu.“ Unter dem 1. April startete Peter Klein noch einen letzten Versuch über Hausen. Er schrieb: „Lieber Willi! [...] Herzlichen Dank Dir für Deine Bereitschaft und Bemühungen in meiner Sache, wenn sie auch leider erfolglos waren (vorläufig?) [...] Noch eines: Kannst Du nicht mal einen Bekannten zu Lotte schicken, wenn Du selber nicht hinkommst? In Treue Peter.“ Parallel dazu hatte Anna am 9.3. einen weiteren Auftrag Kleins übermittelt: „Gestern war ich bei P. K. Du möchtest doch seinen Freunden Margot und Hermann 199 15.- bzw. 10.- RM 200 zukommen lassen. Er gibt es Dir später zurück“. Hausen war also über die Adresse der sicherlich jüdischen Freunde schon im Bilde. Ohne dass wir Hintergründe kennen, hat Peter Klein dann – nach sicherer Informierung von anderer Seite – die Sache abgeblasen, denn Anna Hausen schrieb ihrem Mann einige Wochen später (4. Mai): „Gestern war ich bei Peter und soll Dich grüßen. Du brauchst Kleins 201 in ———— 197
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Offensichtlich eine Kontaktperson, mit der Klein korrespondierte oder (in Köln?) gelegentlich verkehrte. Also anscheinend mehrere Dinge. Möglicherweise Kölner Juden, nämlich die Familie Pelzer: Kaufmann Ernst Pelzer (geb. 1896, Köln, 1927- 39 Brüsseler Str. 87 zus. mit Witwe J. Pelzer, 1941 [„Judenhaus“] Spichernstr. 34) und Margot Pelzer (geb. 1902 [Berlin, geb. Rosenbaum], für tot erklärt.) (Die jüdischen Opfer [wie Anm. 8], S. 363, sowie frdl. Hinweis: Dr. Adelheid Hausen nach Auskunft des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln: Dr. Karola Fings); Adresse der Pelzers seit der Deportation vom 22.10.1941 im Ghetto: Mühlgasse 83, später: 80. Das traurige Ereignis (s.u.) wäre dann wohl der schon am 6.12.1942 erfolgte Tod von Ernst Hermann Pelzer gewesen. Auch wenn im Ghetto eine andere Währung galt, so war das Geld tauschhalber nutzbar oder konnte überwiesen werden. – Siehe auch Willi an Anna, 11.7.1943 (AEK, NL Hausen). Es dürfte sich nicht um den wirklichen Namen handeln, sondern im Sinne von: „die Bekannten von Berta und Peter Klein“.
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L[itzmannstadt] nicht mehr zu besuchen. Da war inzwischen ein trauriges Ereignis, und das wäre dann zu schwer.“ Nach zwischenzeitlichem Kurzurlaub Willi Hausens in Köln berichtete er am 3. Juni von der Rückreise via Leipzig von seinem Treffen mit dem erwähnten Oratorianer Josef Gülden 202, den er vom ND her kannte. Gülden habe „im übrigen die Bekannte von P. K. auf eine seiner Reisen auch kennen gelernt [...] und nach seinen Informationen soll sie endgültig abgereist sein. Wenn Du zu Peter kommst, kannst Du ihm das mitteilen, da ihn das Schicksal der Dame sicher interessieren wird. J. G. schätzte sie sehr hoch ein.“ Sofort fragte Anna (am 5.6.) nach: „Wohin ist denn die Bekannte von P. K. gereist? Nach drüben?“ Und Willi stellte (am 8.6.) klar: „Die Bekannte von P. K. ist nach drüben gereist! Natürlich passiv“ 203; man konnte nichts mehr tun. Überraschend aber erhielt Peter Klein im März 1944 nochmals ein Lebenszeichen 204; dann endete für ihn ihre Spur.205 Deutlich wird, wie ungemein eingeengt die Möglichkeiten waren, aus der Ferne einem verfolgten Menschen wirksam zu helfen, ohne sich selbst oder andere in ernste Gefahr zu bringen. Sichtbar wird aber auch, dass Peter ———— 202
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Joseph Gülden (1907-1993), Dr. theol. h.c., geb. in Neuwerk bei Mönchengladbach, Oratorianer. – Im Bund Neudeutschland 1923 Gaugraf des Thomasgaues (am linken Niederrhein), 1928 Westmarkleiter in ND, seit 1936 bis zur Auflösung des Bundes geistlicher Bundesleiter und Schriftleiter der „Werkblätter“ des Älterenbundes (Studenten und Werktätige), Theologiestudium in Innsbruck, Beuron, Bonn (dort im Leoninum) und Köln. 1932 Priesterweihe in Aachen, bis 1934 Kaplan in Süchteln, seit 1928 Mitbegründer des Leipziger Oratoriums, darin tätig seit 1934 (mit den Mitbrüdern Betreuung einer extremen Diaspora-Arbeiterpfarrei in Leipzig-West; ferner Studentenseelsorger). Er ist bekannt auch für praktischen Einsatz für verfolgte Juden (Hinweise: Pfarrer i.R. Clemens Rosener [Leipzig] [Auskunft von Adelheid Hausen]; Gerda Gottschalk, Der letzte Weg, Konstanz 1991 [nach Aufzeichnungen (1946) des Erlebten]; Stefan Pfürtner, Nicht ohne Hoffnung, Erlebte Geschichte, Stuttgart 2001, S. 122-145). – Nach dem Krieg Mitbegründer des Leipziger St. Benno Verlages, 25 Jahre lang dessen Cheflektor und Chefredakteur der überdiözesanen Kirchenzeitung „Tag des Herrn“ (Recherche von Adelheid Hausen bez. ND, vgl. ferner u.a. Wolfgang Tischner, Katholische Kirche in der SBZ/DDR 1945-1951, Paderborn u.a., S. 547, 550, 555). – Hervorgehoben wird „die faszinierende Wirkung Güldens als Gesprächspartner [...] [weil] er viel Verständnis für die Menschen mitbrachte [...] für diejenigen, die nicht mehr glauben konnten und sich von der Kirche getrennt hatten, oder für diejenigen, die als Suchende und Fragende innerhalb der Kirche zu ihm kamen“ (Manfred Müller, Ein rheinischer Priester in zwei deutschen Diktaturen – Josef Gülden wurde vor 100 Jahren geboren, in: Katholisches. Magazin für Kirche und Kultur [2007] [online]). Gülden kann sie vor der Deportation, z.B. in Frankfurt, kennengelernt haben. Lotte Mokrauer wurde in der Tat (wie nun aus anderen Quellen bekannt: Mahn- u. Gedenkstätte Düsseldorf, H. Jakobs, bzw. frdl. Mitteilung Dr. Adelheid Hausen) Ende März/Anfang April 1943 von Lodz nach Auschwitz transportiert (gelistet als Mokraner/Mekraner) und im August 1944 (als eine der wenigen von dort wieder weg) ins KZ Stutthof bei Danzig. Peter Klein an Willi Hausen, 27.3.1944: „Die Bekannte, von der Du mir mal schriebst, lebt! Sie schreibt, und es geht ihr verhältnismäßig gut.“ (AEK, NL Hausen). Vgl. Anm. 188.
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Klein, der wohl mehr wusste, als er den Freunden zu dem Zeitpunkt anvertrauen konnte, das ihm Mögliche versuchte. Ob er in dem Fall auch andere Wege beschritt, ist fraglich, denn Willi Hausen bot ja durch seine dienstliche Präsenz in Litzmannstadt (Lodz) die greifbare Gelegenheit.
Das Untertauchen der Berta Klein (1943) Einige Juden, die zu der Zeit noch am Leben waren, nutzten die Wirren des Bombenkrieges in großen Städten, um zu fliehen und ggf. an anderen Orten unter falscher Identität zu überleben.206 Genau dieses Muster lässt sich im Fall Klein feststellen. Die Ereignisse des Untertauchens der Kleins sind durch das Zusammentreffen mehrere Quellenstränge außergewöhnlich gut nachvollziehbar: Beim nächtlichen Bombenangriff auf Köln am 28./29. Juni 1943, dem bislang schwersten, starben 4.377 Menschen. Die Innenstadt wurde in Trümmer gelegt. Neben vielen wichtigen Bauten wie Rathaus, Gürzenich, Erzbischöfliches Palais, Generalvikariat und Domherrenkurien wurde auch das Haus Mohrenstraße 18 zerstört. Die Zahl der Obdachlosen überstieg 230.000; die Stadt requirierte Gewerberäume zur Unterbringung. Im allgemeinen Chaos fehlte der Überblick; auch für einander nahestehende Menschen. Anna und Willi Hausen erkundigten sich aus der Ferne umgehend 207, damals offenbar noch ohne das Bewusstsein, dass ja mit jeder Postsendung an Kleins direkte Gefahren verbunden sein konnten. Erst unter dem 21. August kam Nachricht von Peter Klein an Anna 208, man habe die grauenvolle Nacht [...] heil und gesund überstanden. Alles, was man besaß, sei verloren („Erinnerungen, Bilder, Papiere und Aufzeichnungen, unser Flügel, meine Bücher usw. usw.“).209 Man sei im Leoninum in Bonn untergekommen, doch sei die Post an eine Adresse in Köln zu senden: „Meine l[iebe] Mutter und ich fanden Dank der Hilfe Gottes Aufnahme im Leoninum in Bonn (Theologenkonvikt), wo ich einen Teil meiner Studienzeit verbrachte. ———— 206 207
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Matzerath, Stadtgeschichte (wie Anm. 3), S. 418. Willi Hausen befand sich an der Ostfront. Anna Hausen weilte vom 26.6. - 20.10.1943 in der Heimat ihrer Mutter, im Saargebiet, zusammen mit ihrer Mutter und dem Kind. Als am 1.8.1943 noch immer keine Nachricht von Kleins vorlag, entschied Anna: „Ich werde jetzt jemand anders [in Köln] nach ihm und seiner Mutter forschen lassen“ (AEK, NL Hausen). AEK, NL Hausen. Erhalten hat sich ein Holz-Kruzifix aus dem Nachlass des Peter Klein (s. Anm. 330), das Wilhelm Schönartz 1987 dem Historischen Archiv übergab.
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Meine Postanschrift lautet: P. K., Köln-Lindenthal, Klosterstr. 90 (bei Böhner).“ Es gebe aber noch andere Probleme: „Auch sonst machen wir in letzter Zeit allerhand durch und schweben in allerhand Sorge. Ich darf Sie um ein Gedenken im Gebet bitten [...] Ich hatte [...] viel Laufereien und Fahrereien (schönes Wort!).“ Erkennbar spricht aus den Zeilen die akute Bedrohung der Mutter. Seinem ND-Freund Willi gegenüber wurde Peter am 14. September noch deutlicher: „Wir können Gott nicht genug danken, daß er alles so günstig gefügt hat. Freilich habe ich noch große Sorgen wegen meiner Mutter, Du verstehst ja. Hoffentlich geht alles gut.“ Aus anderen Quellen wird klar, wie real im Juli plötzlich die Gefahr für Berta Klein geworden war: Nach den amtlich vorgetragenen Angaben 210 vom Vorstand des Leoninum (Franz Groner, seit 1943 Repetent) befand sich Berta Klein (angeblich) bis Oktober 1943 in Köln und sollte „damals als Jüdin nach Theresienstadt abtransportiert werden“. Daher habe man sie dann im Leoninum versteckt gehalten.211 In der Tat gingen von Köln aus am 19. Juni und 29. Juli Transporte nach Theresienstadt.212 In den 1948/54 laufenden Verfahrensakten um den Hausrat der – laut Akte – vermeintlich deportierten Berta Klein („Verbleib unbekannt“) zwischen der Oberfinanzdirektion Köln und dem Jewish Trust 213 findet sich der Beweis; eine Karteikarte des Oberfinanzpräsidiums Köln von 1943: „Klein Bertha Sara geb. Abramowitsch, geb. am 23. Okt. 1876 in Litauen Letzte Wohnung: Köln, Mohrenstr. 18 abgelegt 25.8.43 Sch. [und Stempel:] 25.8.43 [per Hand gestrichen in voller Größe der gesamten Karteikarte]“
Das Dokument 214 stammt aus der Verfahrensabwicklung im Zusammenhang mit der standardmäßigen Vermögenseinziehung durch die Fi———— 210
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Am 3.4.1946 gegenüber dem Amt für Schäden aus Gründen der Rasse und Politik (Stadtarchiv Bonn N 1985/1332, B. Klein, Bl. 1). Im Unterstützungsantrag der Berta Klein (Stadtarchiv Bonn N 1985/1332, B. Klein, Bl. 1). Zum Hinweis auf den 29. Juli Matzerath, Weg der Kölner Juden (wie Anm. 170), S. 543f. (mit Anm. 84 und 85). – Gestützt werden die Erkenntnisse der Forschung auch durch die zeitgenössische Angabe Peter Kleins von Dezember 1943, wonach im Juli 1943 107 (Kölner) Juden deportiert wurden (s.u. mit Anm. 252). Die Transporte dieser (späten) Zeit sind nur unzureichend belegt. Abweichende Daten können aus dem jeweiligen Bezug auf Abfahrt bzw. Ankunft resultieren. Das Datum 1.8. (vgl. Matzerath, Stadtgeschichte [wie Anm. 3], S. 415) meint womöglich die Ankunft des Transportes. Das ist die Vertreterin für alle erbenlosen (!) Vermögen von jüdischen Verfolgten in der britischen Zone. Siehe Abbildung. – Für die minutiöse Interpretation der Karte gilt besonderer Dank dem NSDokumentationszentrums der Stadt Köln (Dr. Karola Fings [Köln] und Christiane Hoss [Köln/Berlin]). – Die Karte ging am 25.8.1943 ad acta, vermutlich, weil man die Frau nun für tot oder
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nanzbehörden. Deportierte durften 1943 für den Transport und um Ihnen Normalität vorzugaukeln, 25 kg Gepäck mitnehmen. Geld und alles andere Vermögen der ins Ausland „Reisenden“ fielen dem Deutschen Reich zu; der Hausrat wurde veräußert 215, wobei die Juden die Unterschriften noch kurz vor Abreise zu leisten hatten. Daraufhin lief das weitere Amtsverfahren ab. So beweist die Karteikarte, dass Berta Klein deutlich vor dem 25. August auf einer zumindest vorläufigen Liste für die Deportation stand. Opfer dieses Transportes waren – so wie Berta Klein – v.a. „Volljuden aus Mischehen“. Da die Vorinformierung Wochen vor dem Abtransport erfolgen konnte, bleiben zwei Möglichkeiten: Kleins wussten schon vor dem Bombenangriff vom 28./29.6., was bevorsteht und nutzten dann die Chance des allgemeinen Chaos, oder: Die Nachricht erreichte die Ausgebombten indirekt – in einem Notquartier –, so dass Berta von da nicht wieder auftauchte. Dass Berta Klein im Juli 1943 vor dem „Abtransport in den Tod“ verschont blieb, verdankte sie ihrem Sohn und dessen Helfern.
Die Karteikarte, auf der die Behörde 1943 die Vermögenseinziehung der für die Deportation vorgesehenen Berta Klein dokumentierte
Die Vertreter des Jewish Trust erkannten (1953) 216 auch, dass die Deportation Bertas, von der sie ja ausgingen, von einer unbekannten Folge———— 215 216
flüchtig hielt und besonderes Vermögen nicht vorhanden war; auch die Streichung steht wohl dafür, dass kein Vermögen mehr zu erwarten war. Matzerath, Stadtgeschichte (wie Anm. 3), S 411f. Beschluss des Wiedergutmachungsamtes beim Landgericht Köln im Verfahren Jewish Trust Corporation for Germany, London (Zweigstelle in Mülheim / Ruhr) gegen Deutsches Reich, vertreten durch die OFD ([Abt.] Vermögensverwaltung) Köln in Sachen der Geschädigten Bertha Klein vom
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Wohnung aus stattgefunden haben müsse, also erst nach dem zerstörungsbedingten Verlassen „der ursprünglichen“ Wohnung Mohrenstr. 18, der letzten Meldeadresse vor dem Bombenangriff.217 In der Tat ergibt sich aus einer authentischen Zeitzeugen-Quelle 218, dass im Kloster zum Guten Hirten in der Klosterstr. 90 (in Köln-Lindenthal/ Junkersdorf) nicht nur die Postanschrift Peter Kleins war, wie in Kleins Brief vom August erwähnt, sondern dass Peter zeitweilig dort wohnte; in der Wohnung von Hans Böhner, nun Hausgeistlicher der Schwestern, mit Klein wie erwähnt schon lange bekannt 219 und entsprechend couragiert – er war auch 1944 an der verdeckten Unterbringung von Juden mit beteiligt 220 – half damit sowohl seinem Mitbruder als auch dessen Mutter. Auch sie scheint im Juli, nach der Ausbombung, kurze Zeit dort gewesen zu sein. Aus einem Brief von Klein an einen Bekannten 221, wissen wir konkret, dass er mit seiner Mutter seit der Ausbombung in der Mohrenstraße vom 29. Juni eine 10-tägige „schwierige [...] Wohnungssuche“ erlebte: „Nach allerhand ‚Irrfahrten‘ kamen wir am 9. Juli hier im Leoninum unter“. Er ————
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5.6.1953: Gegenstand ist: „Hausrat, entzogen aus der ursprünglichen Wohnung, Köln, Mohrenstr. 18 und aus der letzten Wohnung vor der Deportation.“ (Vorgang des Oberfinanzpräsidenten Köln Nr. 05210 - K526-261). Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen, DGZ, Berlin (Rü-Archiv), 2 Akten zu Berta Klein (Provenienzen: OFD Köln sowie Zentralamt [Britische Zone] für Vermögensverwaltung, Bad Nenndorf). (Diese Akten, laut Bundesarchiv unter „Bestand OFD Köln, Geschädigtenkartei, Signatur 8327“, sind auch dem ITS in Bad Arolsen bekannt, unter dem Az.: K[lein]526). Vermutlich hatte der Jewish Trust Informanten in Köln, die wussten dass das Haus Mohrenstr. total zerstört war; aus der Karteikarte lässt sich das nicht ablesen. Böhner, 6.5.1979 (Umfrage des Generalvikars, AEK, Slg. NS 90/2, 17): „Peter Klein [...] hat [...] in meinem Haus Klosterstr. 90 gewohnt (ich war Rektor am Guten Hirten). Es ist in der Zeit auch bei mir nach ihm gefragt worden, wir konnten die Forscher abschütteln. [...] Die Mutter wurde im Collegium Leoninum untergebracht [...]“. – Bericht Schönartz’ 1987 (dazu Anm. 9) (Fassung I, gegenlesen von Böhner): „Dort versuchte die Gestapo, Peter Klein (und seine Mutter) [die einschränkenden Klammern wurden später gesetzt von Böhner, der den Text gegengelesen hat] ‚abzuholen‘, was aber durch das geschickte Verhalten von Rektor Böhner und seiner Haushälterin Agnes Heinen [die Beteiligung der Haushälterin (gest. 1982) und ihr Name sind durch Böhners Hand ergänzt] verhindert werden konnte. Nun konnten Peter Klein und seine Mutter nicht mehr dort bleiben.“ – Schönartz 1987 (Endfassung): „Daß Peter Klein mit seiner Mutter dort Unterschlupf gefunden hatte, hatte inzwischen auch die Gestapo erfahren. Ein Versuch der Gestapo, Peter Klein und seine Mutter dort abzuholen, scheiterte allerdings an dem geschickten Verhalten der Haushälterin [...], Fräulein Agnes Heinen. Aber dieser Versuch der Gestapo zeigte, daß Peter Klein und seine Mutter dort nicht bleiben konnten. Gefahr war im Verzug.“ – Das Kloster wurde Ende 1944 zerstört. Er kannte Klein schon von der Ausbildung im Bonner Leoninum 1932 bis 1934, wo Böhner Rendant war. Vgl. Anm. 4. Hans Werres aus Bickendorf (am 24.8.1943, zu W. Anm. 168). Diesen Brief zitiert Berta Klein in ihren Schreiben an Erzbischof Frings am 1.8.1946 (s.u.). Der Empfänger hatte ihr den Brief zur Erstellung einer Abschrift geliehen.
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habe nie gedacht, als er 1934 das Haus mit dem Schlußexamen verließ, dass er nach rund 10 Jahren „als wohnungssuchender Obdachloser“ wieder anklopfen müsste. Aber „es war ein eigenartig ‚wohliges‘ Gefühl für mich, als ich am Abend des 9. Juli nach den Mühen der Wohnungssuche meine Mutter und mich hier untergebracht wußte und nach dem Abendbrot in der altvertrauten Kapelle mit den hier anwesenden 20 Theologiestudierenden wie unter ‚jüngeren Brüdern‘ am Abendgebet teilnehmen konnte [...]“. Peter Klein ist in Bonn nie amtlich angemeldet worden. Jeder Meldeakt hätte ein extremes Risiko herausgefordert. An sich verpflichtete das damalige Meldegesetz auch Hauseigentümer und Wohnungsvermieter ihrerseits zur Meldung von Umzügen der Bewohner. Die Tatsache, dass der Eigentümer des Wohnhauses Mohrenstraße 18 und der provisorischen Unterkunft Leoninum die Kirche 222 war, verhinderte entsprechende Dynamiken. Für Mai 1944 wissen wir, dass Peter Klein in Köln über „einen Haushaltsausweis für 1 Person“ verfügte.223 Mutter und Sohn waren also amtlich vollständig separiert, die Mutter mit letzter Anschrift in Köln verschwunden, so dass die Finanzbehörde den Vorgang ihres Vermögenseinzugs ad acta legte. Der Sohn war zuteilungstechnisch (Versorgung) weiterhin beim städtischen Ernährungs- und Wirtschaftsamt gemeldet, sein (provisorischer) Aufenthaltsort war Bonn. Vor dem Hintergrund wird klar, dass Klein öfters zwischen Köln und Bonn pendeln musste und von daher auch eine zeitweilige Splittung der Aufenthaltsorte Kleins – Zimmer im Leoninum und (Ausweich-) Schlafstätte in Köln bei Böhner 224 – sinnvoll war; in jedem Fall war es in der Phase verschärfter Suche wichtig, dass Mutter und Sohn sich möglichst nie zusammen irgendwo aufhielten. Der extrem verschärfte Druck ergibt sich aus einem unscheinbaren ärztlichen Zeugnis 225 von 1948: Danach gab der Hausarzt des Collegium ———— 222 223
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Beide Immobilien gehörten dem Erzbischöflichen Stuhl. S. auch Anm. 122. Der Dienstvorgesetzte, Generalvikar David, sandte am 15.5.1944 dem Ernährungs- und Wirtschaftsamt der Hansestadt Köln, wo Klein anscheinend noch immer amtlich gemeldet war, diverse (im Einzelnen aufgezählte) Versorgungskarten, „alle lautend auf den Geistlichen Peter Klein, der in unserem Dienst stand. Die vorgenannten Papiere fanden sich in seiner Hinterlassenschaft“ (AEK, Personalverw. Priester 646). Freunde und Bekannte sollten nicht dorthin kommen; sie sollten nur die Post dorthin senden, sicher auch, um Böhner nicht ungebührend zu stören, abgesehen davon, dass ungemeldete Besuche nun gänzlich gefährlich wurden. Offenbar eignete sich aber die Post immer noch als einziges halbwegs sicheres persönliches Kommunikationsmedium. – Spätestens im November 1943 gab Peter Klein die Postanschrift bei Böhner auf, vielleicht aus Anlass des überlieferten Gestapobesuchs (vgl. Anm. 218). Er schrieb am 2.12. an Anna Hausen: „Post in Zukunft bitte nur an folgende Anschrift: P. Klein, Bonn, Endenicher Str. 13, Eingang Noeggerathstr.“ Dr. med. J. M. Kill für die Wiedergutmachungsstelle des VVN in Bonn (21.7.1948) (RP Düsseldorf, Dez. 15 [Bundeszentralkartei], Wiedergutmachungsakte B. Klein [frdl. Auskunft: Cornelia Nowak] ).
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Leoninum, Joseph Maria Kill, an, dass Kleins „Mutter nicht nur aus rassischen, sondern auch aus politischen Gründen von der Gestapo steckbrieflich verfolgt wurde.“ 226 Das bedeutet, die Gestapo in Köln wusste, dass Berta sich entzogen hatte und schrieb sie zur Fahndung aus. Sowie Peter Klein und das Collegium Leoninum von der neuen Qualität der Suche erfuhren, ergab sich neuer Handlungsdruck.
Berta Klein im Leoninum und „von Versteck zu Versteck“ – bis zum Tode ihres Sohnes – (1943/44) Mit dem Wechsel des Aufenthaltsortes hatte sich die Spur der nunmehr 67jährigen Frau verwischt. Aus Bonn waren längst die Juden (1941/42) abtransportiert; es dürfte dort 1943 nur noch sehr wenige Untergetauchte gegeben haben.227 Planvolle staatliche Maßnahmen waren nicht mehr zu befürchten.228 Das Theologenkonvikt „Collegium Leoninum“ 229 war eine 1901/03 erbaute in sich geschlossene neogotische Vierflügelanlage mit der Kapelle im ————
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– Für die Unbefangenheit Kills spricht, dass er über den Tod Kleins nicht gut informiert war: Peter Klein sei „später in Köln im Luftangriff umgekommen.“ – Dass er (so Schönartz 1987, Anm. 9) nach dem Krieg Frau Klein geholfen habe, eine Rente (Entschädigung) von der Eisenbahn wegen des tödlichen Unfalls von 1944 (s.u.) zu erhalten, kann somit nicht stimmen und entpuppt sich (s.u.) als Verwechselung Schönartz’ (mit Hans Kisky). Wohl keine überregionale Fahndung, das sie im Deutschen Fahndungsbuch, hg. v. Reichskriminalamt Berlin 6, 1943, Juni-Sept., Nr. 249 - 264 (inkl. akute Nachträge), nicht auftaucht (frdl. Auskunft: Staatsbibliothek Berlin: Katharina Fischer). – Johannes Hausen (Kempen) erinnert sich (über seine Mutter Anna) an das Zitat von Beamten: „Und wenn der Erzbischof persönlich sie versteckt, die finden wir!“ Den Spruch muss Anna Hausen gehört haben entweder direkt von Klein im Dezember 1943 (betr. Verhöre/Anfrage an ihn zwischen Juli und Dezember 1943) oder z.B. von Böhner (betr. Klosterstr., wobei dort aber nur nach Peter Klein gefragt worden sein soll). Die Bonner Stadtgeschichte, Bd. 4 (Vogt [wie Anm. 7], S. 602f. mit Anm. 95) berichtet 1989: „Über das Schicksal von Juden, die durch Untertauchen ihrer Verfolgung entgehen konnten und die Tätigkeit ihrer Helfer aus der Bürgerschaft liegen bis heute [...] nur sehr spärliche Informationen vor.“ Aus kirchlichen Kreisen habe Dechant Hinsenkamp „in seinen Räumen“ Unterschlupf für verfolgte Juden gewährt laut Zeitzeugenaussage Pfarrer Brauns (gem. Stadtarchiv Bonn). Andererseits waren Juden nun, anders als 1941/42, wenn sie als solche erkannt wurden, sofort in Gefahr. Auch Peter Klein sah man, wie der Zeitzeugenbericht Schönartz’ von 1987 (wie Anm. 9) es ausdrückt, „die Abstammung von osteuropäischen Juden deutlich an“, so dass auch er immer in Gefahr war, eine für seine Mutter kontraproduktive Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. 1941 vorübergehend Bleibe des Priesterseminars, das dann nach Honnef wechselte (Trippen, Priesterseminar [wie Anm. 75], S. 169 - 177; Trippen, Frings I [wie Anm. 154], S. 52). Das Leoninum war im Mai 1941 im Zuge des Klostersturms beschlagnahmt als Lazarett (AEK, Dienstakten Lenné 265). Die Priesterausbildungsstätte arbeitete bald weiter (AEK, Dienstakten Lenné 105, AEK, Leoninum, Zug. 1458, Ordner 10). – Anwesende Ausländer aus dem westlichen Ausland waren keine Zwangsarbeiter (Anne Ostermann, Zwangsarbeit im Erzbistum Köln. Kirchliche Einrichtungen und ausländische Zivilarbeiter während des Zweiten Weltkrieges, Siegburg 2011, S. 76f.).
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Zentrum. In den Kriegsjahren zuvor als Lazarett beschlagnahmt, diente es auch 1943/45 in Teilen 230 weiterhin als Priesterausbildungsstätte, auch wenn die Zahl der Studierenden gering geworden war.231 Im Juni 1943 hatten im Hause unter Frings’ Vorsitz sogar die nord-westdeutschen Bischöfe getagt.232 Im selben Gebäudekomplex wirkten verschiedene militärische Stellen, aus deren Miete der größte Teil der Einnahmen des Leoninum kam.233 Die Hauswirtschaft des kirchlichen Teils besorgten Schwestern der Neusser Augustinerinnen; daneben gab es „weltliche“ Hausangestellte. Direktor war (seit 1932) Dr. Ernst Reckers 234, der Peter Klein wohl noch von dessen Ausbildung her kannte.235 Unterstützt wurde er im Sommer 1943 vom Repetenten Joseph Steinberg.236 ———— 230
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1942: 6 Wehrmachteinheiten inkl. (seit 18.3.1942) Lazarett für 300 Betten. Dem Lehrbetrieb verblieb „der Gebäudeteil, dessen Achse auf den Haupteingang trifft, der also die Kapelle, die Hörsäle, die Direktorenwohnung und die sog. „Blinddärme“ enthält, außerdem noch 15 Zimmer im 2. Obergeschoß des Mittelflügels. Das gesamte übrige Gebäude mit Ausnahme der Repetentenwohnung und des Schwesternhauses wurde [...] Lazarett.“ (Semesterbericht Reckers’ im Oktober 1942, AEK, Leoninum, Zug. 1458, Ordner 10). – Winter 1942/43: 26 Soldaten, in den Ferien große Schülerkompanie der Mediziner im Haus (Archiv der Neusser Augustinerinnen, Chronik Leoninum). – Auch die nicht eingezogenen Theologen des Collegium Albertinum waren während des Krieges dem Leoninum zugewiesen (Guido Falkenberg, Das Collegium Albertinum im Spannungsfeld zweier Weltkriege und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, in: W. Evertz [Hg.], Im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche. 100 Jahre Priesterausbildung im Collegium Albertinum, Siegburg 1992, S. 205 - 261, hier S. 254). Im Sommer 1942: 18, Sommer 1943: ca. 18 (4 Neue), Winter 1943/44 ca. 20 (6 Neue); daneben gab es einige kriegsversehrte Theologen 1942: 4, mit Schussverletzungen oder Amputationen (AEK Leoninum, Zug. 1458, Ordner 10). Ihnen fiel die Eingewöhnung nicht immer leicht; einer trug ständig Uniform und erwartete, von Zivilisten entsprechend gegrüßt zu werden; ein anderer war anscheinend leicht NS-beeinflusst (Frdl. Hinweis: Gymn.-Pfarrer Wilhelm Moll). – Sommer 1944: 21, später 24 Theologen (Archiv der Neusser Augustinerinnen, Chronik Leoninum). 7./9.6.1943: Alle (Erz-)Bischöfe der Kirchenprovinzen Köln und Paderborn, als Gäste u.a. die Bischöfe von Berlin und Mainz; d.h. neben Frings u.a. Jaeger, von Galen, Preysing (Archiv der Neusser Augustinerinnen, Chronik Leoninum [„12 Bischöfe als Gäste“]; Volk, Akten Bischöfe [wie Anm. 184], S. 79- 81, Nr. 842). Jahresrechnung 1943/44 (des Stellvertr. Rendanten Groner, 15.4.1944): Die Einnahmen von 109.958.M. (hier gerundet auf 1 M) kamen aus: A. Überschüssen des Vorjahrs 979.-; B. Laufenden Einnahmen: Pensionsgelder Studenten 12.216.-, Mieten und Pachten aus anderen (benachbarten) Häusern 5.847.-, Zinsen 92.-, Rückeinnahmen 317.-, Verschiedenes 176.-; C. Außergewöhnlichen Einnahmen: Zuschuss Erzbistumskasse 15.000.-, vom Militär 68.534.- (Lazarettverwaltung 10.697.-, Studentenkompanie: 57.837.-), Pensionen der Fliegergeschädigten [darunter Klein!] 4.982.-, Exerzitien und Kurse 1.815.(AEK, NL Teusch 71). Ernst Reckers (1892 - 1946), Dr., 1915 Priesterweihe, 1923 Rendant im Collegium Albertinum, Bonn, 1932 Direktor des Collegium Leonium, Bonn, 1944 Domkapitular. (Zu Gestapomaßnahmen gegen ihn [erst im April 1944, nach Anzeige wegen Äußerungen in einer Grabrede am 15.2.1944 in Oedt, ferner – wohl danach – Postüberwachung] Priester unter Hitlers Terror [wie Anm. 45], S. 777; AEK Slg. NS 89/4.)
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So sehr das Leoninum den Schutz einer quasi-familiären Situation bot, Probleme ließen sich dort nicht ausschalten. Man konnte vorübergehend einen ausgebombten Priester unterbringen 237, dessen Dienstort und Versorgungsstelle in Köln war. Eine ältere Frau weckte womöglich Fragen. Berta Klein musste sich vollkommen intern und unauffällig verhalten. Wenn sie krank wurde, wurde ein Arzt 238 benötigt, der verschwiegen war. Solange sie sich in der Nähe ihres Sohnes befand, war die Identität der Mutter schwer zu verbergen.239 Sie konnte, anders als die im Haus wirkenden Ordensschwestern, von denen einige wenige ähnlich alt waren, nicht wirklich mitarbeiten. Die Frage, wie lange die Frau wohl anwesend sein werde, lag in der Luft. Es musste sich jemand finden, der das Risiko für die Verfolgte wie für die schützende Institution in kalkulierter Form auf sich nahm. Vor dem Hintergrund musste Berta Klein das Leoninum bald wieder verlassen; man kann vermuten, dass ihr jedenfalls kein verbindliches Hilfsangebot unterbreitet wurde, sich bis auf Weiteres dort zu verbergen, und dass die sehr höflichen Kleins die Lage respektierten. Berta wurde daraufhin „von Versteck zu Versteck geschleppt“, wie Dr. med. Kill es 1948 ausdrückte. Zu ihm sei sie anschließend, am 5. November 1943, – „am Ende ihrer Kräfte“ – durch ihren Sohn „gebracht“ worden, der ihn ins Vertrauen gezogen habe.240 ———— 235
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S.o., von 1932- 1934. Jedoch war die Zahl der jährlich Ausgebildeten in den 1930er Jahren beträchtlich. Joseph Steinberg, Dr. (1904-1981), 1929 Priesterweihe, 1929-1932 Kaplan in Düsseldorf, 1932 (Febr.)1935 (November) Repetent im Collegium Leoninum in Bonn, 1935 studierhalber in Rom, Promotion, 1937-1942 erneut Repetent im Collegium Leoninum, Bonn, zugleich Lazarettpfarrer im Teillazarett Leoninum, 1943 (23. Okt.) Studentenseelsorger in Köln, 1945 Studentenseelsorger in Bonn (bis 1957), 1957 Direktor der Thomas-Morus-Akademie in Bensberg und zugleich seit 1958 des Kardinal-SchulteHauses in Bensberg, 1967-1979 nichtresidierender Domkapitular. – Steinberg war also 1932-1933/34 als Repetent einer der Vorgesetzten des Theologiestudenten Klein. – (Zu Gestapomaßnahmen gegen ihn [ständige Überwachung] Priester unter Hitlers Terror [wie Anm. 45], S. 795.) So 1944 auch Mitarbeiter des Generalvikariates (s.o. mit Anm. 154); offenbar schon 1943 einige Ausgebombte (AEK, NL Teusch 71; Schönartz [wie Anm. 9] ). Der gläubige praktische Arzt Dr. Joseph Maria Kill, Meckenheimer Allee 17 (er referierte 1947 im Leoninum über „Die Bonner ökumenischen Gespräche von 1937-1944) war Hausarzt des Leoninum und behandelte somit zusammen mit den Hausbewohnern auch Berta Klein (Kill, 21.7.1948, wie Anm. 225). Es gab manche, die Peter Klein aus der Zeit vor seiner Priesterweihe (weniger als 8 Jahre zuvor) kannten und wussten, dass seine Mutter Jüdin war. Im September im Leoninum auch Albert Schümmer (über Tag in Köln tätig an der Bezirksstelle des Wirtschaftsamtes), der wie Klein zur NDGruppe Kreuzgasse gehörte (Klein an Willi Hausen, 14.9.1943). Auch wenn diese Personen verlässlich waren, so konnten doch über sie ggf. weitere Menschen besuchshalber ins Haus kommen. Ärztliches Zeugnis Kills (wie Anm. 225), der die Frau dann „gut ein Jahr lang behandelt[e]“ (d.h. Nov. 1943 bis Ende 1944/Anfang 1945). Schönartz irrte also (Anm. 9), als er 1987 angab, Teusch habe den Arzt Kill aufgesucht und sich ihm anvertraut, damit er Frau Klein diskret behandelt;
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Aufgrund seiner mobilen Einsätze in der Seelsorge 241 hatte Klein Gelegenheit, verschiedene Orte auszuloten; ohne die konkrete Hilfe einzelner Menschen aber war das Unterfangen im Falle einer fast 70-Jährigen schwer möglich; ein Untertauchen im ländlichen Milieu bedurfte verbindlicher Helfer. Wo Berta Klein wann konkret gewesen ist, wird nie vollständig herauszufinden sein. Aber wir wissen doch Näheres aus dem an dieser Stelle durchaus authentischen Bericht Schönartz’, der 1943 Kaplan in Plittersdorf bei Bad Godesberg war: Peter Klein versuchte – wohl in diesen Tagen – die Mutter auswärts unterzubringen. Das gelang „zunächst in einem Wochenendhaus im Drachenfelser Ländchen, westlich von Bad Godesberg“. Es sei aber der Bevölkerung aufgefallen, dass das Haus öfter als gewöhnlich und zudem „im Herbst und Winter“ 242 bewohnt war. Daraufhin seien in dem „Dorf “ Gerüchte aufgekommen, es halte sich da womöglich eine Jüdin versteckt. Somit wurde der Aufenthaltsort zu gefährlich.243 Klein habe dann u.a. ihn, Schönartz, persönlich in Plittersdorf aufgesucht und gefragt, ob er der Mutter dort einen Schutzort beschaffen könne. Im Pfarrhaus 244 sei das aber „aus verschiedenen Gründen“ nicht möglich gewesen. Auch in der Gemeinde habe er niemand gewusst, der die Frau hätte aufnehmen können. „Als alle anderen Versuche Peter Kleins, eine Unterkunft für seine Mutter zu finden, gescheitert waren“, habe der Direktor des Collegium Leoninum, Reckers, „sich bereit erklärt“, die Mutter aufzunehmen 245; sicherlich, wie wir von Dr. Kill wissen, nicht ganz freiwillig: Die 67-Jährige – Mutter eines Priesters – war vollkommen erschöpft und bei schlechter Gesundheit.246 Sie konnte ———— 241 242
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Teusch war damals Seelsorger in Thüringen. (Die Fehlinformation könnte er theoretisch auch von Teusch gehabt haben.) Vgl. oben (Köln, Deutz, Rosbach, Eifel). Heute: Gemeinde Wachtberg. Leider ist der Zeitzeugenbericht Schönartz’ (Anm. 9) nicht so präzise, dass dieser Hinweis eindeutig genug auf Herbst 1943 schließen lässt; er könnte prospektiv gemeint sein (dass mit Beginn der Heizperiode das Versteck nicht sicher sein würde). Kleins Hinweis (s.o.), er reise nun (ab 4.10.1943) für eine Woche zur Seelsorgeaushilfe „in die Eifel“ (von dort stammte auch die ehem. Hausgehilfin), kann ebenfalls mit der Unterbringung der Mutter zusammenhängen. Schönartz hatte dort keine leichte Aufgabe, wegen schwerer Herzkrankheit (seit 1943) des Pfarrers Karl Kohl († 1944), bei – wie er 1945 amtlich befand – sehr schwieriger Pfarrstruktur (AEK, GVA II 1342). Zeitzeugenbericht Schönartz’ (1987) (wie Anm. 9). Nach dem Krieg bescheinigte der Arzt ihr Bluthochdruck, Arteriosklerose und ein linkserweitertes Herz mit Dekompensationserscheinungen (was ihr als verfolgungsbedingte gesundheitliche Einschränkung anerkannt wurde, Stadtarchiv Bonn N 1985/1332, B. Klein). Im ärztlichen Zeugnis Kills vom 21.7.1948 (Anm. 225) werden der „beträchtliche Blutdruck“ sowie die „entsprechenden Herzbeschwerden“ betont.
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sich nicht mehr fernab ihres Sohnes verbergen. Eine Zurückweisung wäre einem Todesurteil nahe gekommen. In den Briefen 247 an die befreundete Familie Hausen hat Klein, sicherlich aus Schutzgründen (für beide Seiten), nichts Konkretes darüber mitgeteilt. Man spürt dort aber zwischen den Zeilen deutlich die veränderte Lage, was eine nähere Eingrenzung der schlimmen Zeit in den Verstecken ermöglicht: Wie erwähnt, schrieb Klein am 21.8., dass seine Mutter „Aufnahme im Leoninum“ fand. Am 14.9. hieß es: „Wir wohnen im Leoninum [...]. Freilich habe ich noch große Sorgen wegen meiner Mutter, Du verstehst ja. Hoffentlich geht alles gut.“ Am 3.10.1943 bedankte sich Peter Klein bei Anna Hausen für ein Gabenpäckchen 248; das sie – ohne volle Kenntnis der Lage, höchstriskant – in selbstloser, rührender Weise gepackt und (wohl via Böhner/Köln) an Klein gesandt hatte, aber er erwähnt, anders als sonst, seine Mutter in dem 3-seitigen Brief nicht, fügte auch – ganz unüblicherweise – keinen Gruß von ihr an. Die Zurückhaltung wird verständlich aus der kritischen Lage. Während dem Brief mit dem ersten Lebenszeichen (21.8.) sogar ein eigener, heute leider nicht mehr erhaltener persönlicher Brief von Berta Klein an Anna beilag, wäre doch nun ein kleines Dankeszeichen der Mutter an Anna natürlich gewesen. Vor dem 19.10. schrieb Klein an Willi 249 (an der Ostfront) – direkt oder indirekt 250 – über die freudige Reaktion der Mutter auf die Geschenke. Eine Bitte Annas (im Saarge———— 247
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Zum Folgenden AEK, NL Hausen, Briefe aus 1943: Peter Klein (PK) an Anna (A) (21.8.– ursprüngl. beiliegend ein nicht mehr erhaltender Brief Bertas!), A an Willi (W) (23.8., 27.8.), PK an W (14.9.), PK an A (3.10.), W an A (4.10.), W an A (11.10., erwähnt PK an W vor 11.10.), W an A (15.10., 16.10, 17.10), A an W (24.10.), A an W (27.10., erwähnt Karte A an PK), W an A (28.10. – erwähnt A an W [19.10.] und PK an W vor 19.10.) (Danach eine längere Kommunikationspause bez. Klein), PK an A (2.12.), A an W (21.12.), PK an W (27.12.). Anna (vom Saargebiet aus) an Willi Hausen (an der Ostfront), 27.8.1943: „[...] Mein Liebster, jetzt bin ich bemüht, für Kleins ein kleines Päckchen zusammenzustellen mit Dingen, die sie gebrauchen können. Ich habe etwas Zwieback, Keks, Zucker, und ein ganz klein wenig Tee (für Frau Klein) von unserem Rest, ein Stück Seife von Johannes [dem Sohn] seiner Einheitsseife (wenig größer und besser als die normale Seife), eine Zahnbürste. Jetzt möchte ich für Frau Klein noch gerne ein Paar Strümpfe dazulegen. Neue kann ich nicht kaufen, weil alle Kleiderkarten gesperrt sind. So werde ich ihr meine besten, die aber auch schon gestopft sind, geben. Sie wird es wohl richtig verstehen? Vielleicht bekommt sie jetzt nichts mehr. Und sie haben doch [durch die Bomben] alles verloren. Du hast selbst so wenig, daß ich von Deinen Sachen nicht gut etwas hergeben kann. Können wir sonst noch etwas für P[eter] K[lein] tun?“ (AEK, NL Hausen). – Am 24.10. schlägt sie ihrem Mann vor, einen für ihn gestrickten Pullover an Klein zu geben; er habe ja nichts mehr und bekomme als Fliegergeschädigter nichts zu kaufen. Der Brief ist nicht erhalten, aber Willi Hausen berichtete am 28.10. seiner Frau: „Da hast Du Frau Klein richtig froh gemacht“. Willi Hausen wusste von den Packvorbereitungen seiner Frau und der liebevollen Sorge um Berta Klein.
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biet) an Klein (per Karte) um eine Gefälligkeit (in Köln) für ihren Mann am 27.10. wurde noch erledigt; dann brach der Kontakt ab. Erst am 2.12.1943 schrieb Peter Klein an Anna (die nun wieder in Köln war) 251, der Mutter, „die in der letzten Zeit viel durchgemacht hat, geht es besser. Näheres einmal mündlich. Vielleicht gelingt es mir doch, einmal in nächster Zeit bei Ihnen vorbeizukommen.“– In der Tat besuchte er am Dienstag, den 21.12., Anna Hausen in Köln-Ehrenfeld. Hier in geschützter Umgebung berichtete er wohl offen über die Situation, und Anna Hausen vertraute dem nächsten Brief an ihren Mann im Osten immerhin an: „Peter Klein machte auch einen Besuch heute und läßt Dich ganz herzlich grüßen. Es ist noch alles in Ordnung daheim. Nur war seine Mutter viel krank. Aber das ist ja noch nicht das Schlimmste. Er wird Dir aber bald selbst schreiben. [...]. – Übrigens sind im Juli 107 Leute, die in derselben Lage sind wie P’s Mutter, fortgekommen. An unserem Hochzeitstag ist wieder eine Gemeinschaftsmesse in St. Alban. P[eter] K[lein] lud mich dazu ein. Wenn ich kann, gehe ich hin. Mal sehen. Ob nun morgen endlich ein Lebenszeichen kommt von Dir? Ich warte und warte.“ 252 Und am 27.12. schrieb dann Klein Willi einen Brief, der wieder einen eher entspannten Eindruck macht, über dies und das berichtet und der mit den von früher üblichen Grüßen endet: „Recht herzl[iche] Grüße von meiner Mutter.“ Auch das Divergieren von Postanschrift (Köln) und Wohnadresse (Bonn) hatte nun ein Ende. Der Ablauf war also wie folgt: Berta hat nach dem 14.9. das Leoninum wieder verlassen (müssen). Anfang Oktober war die Anspannung der Kleins erheblich. Im Oktober scheint sich Klein dem Leoninum offenbart zu haben.253 Vor dem 19.10. erwähnt Peter die Mutter wieder. Irgendwann zwischen dem 5.11., als Kill die Mutter untersuchte, und den Tagen vor dem 2.12. fand Berta also definitiv feste Aufnahme in dem kirchlichen Haus, in dem ihr Sohn ausgebildet worden war. Die Unterbringung (bis auf weiteres), die ja ohne Perspektive auf ein absehbares Ende des Krieges erfolgte, wurde mit großer Wahrscheinlichkeit verbindlich befürwortet oder gar aktiv betrieben, durch den neuen Repetenten Franz Groner.254 Am 23. Oktober ———— 251 252 253
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Er hatte von Willi zuvor den veränderten Aufenthaltsort erfahren. AEK, NL Hausen (Es handelt sich um das eingangs verwendete Zitat.). Groner gab 1946 an, sie habe „bis Oktober 1943 in Köln [die Ortsangabe ist so wohl irrig und müsste laute: noch nicht in Bonn] gewohnt“ (s.u. mit Anm. 299). Da Groner erst am 23. Oktober das Amt antrat, kann auch das als Indiz gelten, dass in der zweiten Oktoberhälfte die Notlösungen gescheitert waren, Berta in oder bei Bonn war und Hilfe brauche. Franz Maria Groner (1913 -1991), geboren in Köln-Sülz (Vater Studienrat), 1931 Abitur in Brühl, 1931-1935 Theologiestudium in Bonn und Ausbildung im Collegium Leoninum, 1935 -1937 Priesterseminar in Bensberg, 1937 Priesterweihe, 1937-1940 Kaplan in Wissen (und Dekanatspräses der
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1943 hatte er sein Amt angetreten. Ihm oblagen u.a. die praktischen Verwaltungstätigkeiten innerhalb des Vorstands. Der Doktorand, der im Juli 1944 in Bonn zum Dr. theol. promoviert wurde, war einen Jahrgang jünger als Klein. Beide hatten eine geraume Zeit lang die Priesterausbildung zusammen absolviert 255, wenn auch in unterschiedlichen Semestern. Groners aktive Mitwirkung ist bezeugt.256 Dass er seinem Priesterkollegen und dessen Mutter half, ist absolut nachvollziehbar und bedarf keiner näheren Motivsuche. Dazu passt aber auch die bescheidene und menschenfreundlich-idealistische Haltung 257 des Franz Groner. Sie ist z.B. ablesbar in einem eindringlichen offensichtlich durch persönliche Eindrücke inspirierten Gedicht „Gerechtigkeit“, das Groner im Wesentlichen 1937/40 verfasste.258 Es prangert ein legalistisches Verständnis von Gerechtigkeit an und warnt vor der – zeitlosen – Manipulierbarkeit des Menschen. ————
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kath. Arbeiterjugend), 1940 -1943 Krankenhauspfarrer in Köln-Lindenthal (Hildegardiskrankenhaus), 23.10.1943 Repetent (und offenbar bis April 1946 auch Subregens des Priesterseminars) in Bonn (Collegium Leoninum), 26.7.1944 Dr. theol., 26.4.1946 beurlaubt zur Übernahme einer Assistentenstelle im Deutschen Caritasinstitut Köln-Hohenlind, 1947-1950 Direktor dieses Instituts, 1950 -1978 in Köln Direktor und Leiter der Zentralstelle für kirchliche Statistik des katholischen Deutschlands, 1952-1956 zugleich in Köln Assistent beim Deutschen Verein vom Heiligen Lande, 1952 zugleich Seelsorger (1954 Rektoratspfarrer) in Kalscheuren (bis 1961), 1956 zugleich Lehrbeauftragter und Vertreter des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre (Kath.-Theol. Fakultät) Universität Bonn, 1961 außerordentl. Professor, 1962 persönlicher Ordinarius, 1964 ordentl. Professor. – (Es sind keine Gestapomaßnahmen gegen ihn bekannt: Priester unter Hitlers Terror [wie Anm. 45]). 1931-1934 im Collegium Leoninum und 1935-1936 in Priesterseminar. Klein hatte seinen Freunden, Willi und Anna Hausen, bei einem gemeinsamen Besuch im Leoninum im April 1944 auch mit Groner zusammengebracht; Anna hatte ihn an dem Tag erstmals kennengelernt. Wenige Wochen später war Franz Groner für Hausens einer von zwei vertrauten Priestern, die als Verbindungsleute für das Kondolenzschreiben an die untergetauchte Berta Klein nutzbar waren (Peter Klein an Hausens [27.3. u. 30.3.1944], Willi Hausen an Anna [31.5./1.6.1944], AEK, NL Hausen). Sie ist früh dokumentiert in der Sicht seines Ausbildungsleiters Reckers. Er bescheinigte Groner 1935 „großes Interesse für soziale und karitative Fragen [...]. Seine ganze Gesinnung ist edel und ideal, dabei harmlos und kindlich im guten Sinne des Wortes. [...].“ (AEK, Leoninum, Zug. 1458, Ordner 3). – Groner wirkte 1940 -1943 in Köln; zumindest über seine Schwester gab es Kontakte zu den Hausens und anderen „NDern“. Das Gedicht spannt einen Bogen von den kollektiven Unmenschlichkeiten im Namen der sog. Gerechtigkeit in der Zeit der Hexenverfolgungen im „Bergischen Land“ – Groner war 1937-1940 Kaplan in Wissen gewesen – zu den Unmenschlichkeiten der Moderne, v.a. in der NS-Zeit. – Hier auszugsweise einige von insgesamt 24 Strophen. Es handelt von einer Art Stammtischrunde im Bergischen Land (ein Städter unter Einheimischen) zum Thema Gerechtigkeit. Man ersehne Gerechtigkeit, verfehle aber dabei leicht die Gebote der Humanität: „Ein jeder konnte denunzieren / Und jeden vor Gericht zitieren, / Und nichts hat mehr den Lauf gehemmt, / Ein jeder wurde dann „geschwemmt“. / Sie hielten’s für Gerechtigkeit [es folgen weitere Strophen zu den Hexenverfolgungen, dann Überleitung zur Gegenwart: „Man sollte diese früh’ren Schrecken / Bei Gott doch heute nicht verstecken. / Sie meinten die Gerechtigkeit“, und weiter:] – Es sollte wissen jedes Kind, / Wie Menschen oft gefährlich sind. / Es ändern sich nur die Vorzeichen; / Die Hysterien
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Seit Ende 1943 gehörten die Geschützten ganz normal zu den Bewohnern, wenn auch abseits von den Theologen, nämlich im „Schwesternhaus“.259 So erinnern sich 2011 zwei ehemalige Theologiestudenten 260, Peter Klein und seine Mutter gelegentlich im Haus bzw. bei Spaziergängen im Garten gesehen zu haben. Sie persönlich hätten gewusst, dass es sich um einen „halbjüdischen“ Priester und seine jüdische Mutter handelte. Das hätten im Übrigen „alle“ im (kirchlichen Teil des) Leoninum gewusst. Einer meint sich zu erinnern, Reckers habe die Studenten aufgeklärt mit dem Bemerken, man möge sich in der Sache „etwas zurückhalten“; jeder wusste, was es bedeutete, wenn das nach außen dringen würde. Die Strategie stand und fiel mit dem solidarischen Schweigen der Wissensträger, die sich an die Vorgabe ihrer Vorgesetzen hieten. Die Leitung des Hauses trug nun die Verantwortung, und der Generalvikar hat diese Art Nothilfe offensichtlich gedeckt 261; – mit Duldung durch den Erzbischof. Vor dem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der neue Direktor Joseph Teusch 262 im April 1944 in die Verantwortung auch für Frau Klein eintrat.263 ————
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sind die gleichen. / Und meinen die Gerechtigkeit. – Ihr bringt sie in Heilanstalten, / So sie nicht eure Maß’ einhalten. / Ihr treibt sie aus mit Frau und Kind, / Wenn sie nicht eurer Rasse sind. / Und schwört auf die Gerechtigkeit. – Ihr haltet sie in engen Zäumen. / So sie noch von der Freiheit träumen./Erschießt sie, wenn sie heimwärts fliehn, / Sich Kerkermauern zu entziehn. / Und sagt, es sei Gerechtigkeit. – Und wenn sie eure Pläne hassen / In eure Schemata nicht passen, / Die Menschen sind nun mal nicht gleich. / Ein jeder ist ein eigen Reich. / Nur das ist die Gerechtigkeit. – [...] – Mein Gott, welch unsagbares Leid / Geschah schon für Gerechtigkeit! / Für sie vollbracht’ man aller Zeiten / Die unmenschlichsten Scheußlichkeiten / Zum Hohne der Gerechtigkeit. – Stellt endlich güt’ge Menschlichkeiten / noch über die Gerechtigkeiten / Gerechtigkeitsfanatiker / Seid Menschlichkeitspragmatiker / Im Sinne edler Menschlichkeit.“ – Die Information zum Gedicht und zu seiner Entstehungszeit und damit den Blick auf diese Seite der Persönlichkeit Groners verdankt der Autor Prof. Dr. Lothar Schneider (Leverkusen). Gedruckt findet es sich in: Franz Groner, Schmunzeleien, besinnliche Gedichte und Sonette, (Privatdruck) Bonn 1973, hier S. 32 - 36; wieder abgedruckt in: Lothar Schneider, Soziale Vernetzung, Regensburg 1988, hier S. 49 - 53. Laut Schönartz 1987 (wie Anm. 9) „in der Hausmädchen-Abteilung des Schwesternhauses“. Im „Schwesternhaus“ war schon Anfang 1943 dauerhaft ein „neues Speisesälchen“ eingerichtet worden (laut Rundschreiben für 1943/44 vom April 1944, AEK, NL Teusch 71), um das Zusammenleben der Theologen auch durch „eine gewisse Kultur der Tischgemeinschaft“ zu fördern. Pfarrer Wilhelm Moll (geb. 1922, im Leoninum für mehrere Sem., für 3 Sem. [1943-1944] dort Sprecher [Senior] der Theologen, dann nach Fulda, 1947 Priesterweihe in Porz, später Religionslehrer und Gymn.-Pfarrer in Wuppertal, heute ebd.). – Prof. Dr. Hans Jorissen (geb. 1924, im Leoninum für 2 Sem. [1943, 1943/44], dann Wehrmacht, 1951 Priesterweihe in Aachen, 1966 Universitätsprof. in Bonn, heute ebd.); er erinnert sich spontan an Details zum Aussehen Kleins (Brille mit dicken Gläsern). – Es ist nicht klar, welche Eindrücke im Juli/August 1943 und welche ab Dezember 1943 lagen, aber es handelt sich um mehrfache Beobachtungen, die man durchaus als für 1943/44 gültig erachten kann. Vgl. die deutlichen Hinweise im Dankschreiben der Berta Klein an David am 31.12.1945 (s.u.). Joseph Teusch (1902 - 1976), 1927 Priesterweihe, 1927 Kaplan in Köln-Raderthal, 1929 Studium in Rom, Seelsorger in Genua, Venedig und Florenz, 1932 Kaplan in Köln, St. Kolumba und Bezirkspräses für die männl. Kath. Jugend, 1934 Leiter der Kölner Abwehrstelle der Abwehrstelle
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Daneben wusste – wie angedeutet – der couragierte Böhner um die LaNeben dem Ehepaar Hausen – es hat Peter Klein, und wohl auch Berta, Anfang April 1944 im Leoninum besucht 265 –, neben wohl dem Kölner Kaplan Karl Koch sowie den im Leoninum anwesenden Schwestern und Theologen, die mehr oder weniger deutlich „gewusst“ haben, hat es mindestens 6 weitere Mitwisser 266 gegeben, nämlich die ND-Freunde, die Peter Klein nach Juni 1943 besuchten: Ihnen dürfte er nicht verschwiegen haben, dass seine Mutter lebte. Unter ihnen befand sich mit P. E. immerhin ein Staatsanwalt (in Ostrava).267 Hinzu kamen sicherlich wenige weitere, denen gegenüber er offen war. ge.264
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(gegen antichristliche NS-Propaganda) und Subsidiar am Dom, 1939 Leiter des Amts für religiöses Schrifttum und Diözesanpräses des Borromäusvereins, 1943 (nach Zerstörung des Generalvikariates) Evakuiertenseelsorger in Thüringen, 1944 (1.4.) Direktor des Collegium Leoninum (bis 1952), spätestens 1945 (8.1.) wieder zwischenzeitlich Seelsorger in Thüringen, 1952-1969 Generalvikar in Köln, anschl. Bischofsvikar (für Außerdiözesanes). – Er unterstand vor 1939/43 der ständigen Überwachung durch die Gestapo (Priester unter Hitlers Terror [wie Anm. 45], S. 798f.). Nach Schönartz, der die Information nur von Teusch (wohl 1946/52) gehabt haben kann, habe sich Reckers bei der Amtsübergabe (also im April 1944) in etwa so geäußert: „Zum Schluß habe ich Ihnen eine schwierige Sache zu übergeben: wir beherbergen hier eine Jüdin ... Jetzt müssen Sie sehen, wie Sie mit dem Problem fertig werden.“ (Vgl. Anm. 9). – Reckers wusste seit Februar schon um den Amtswechsel (Frings an Reckers, 4.2.1944, AEK, CR II 8B 17, 1, Bl. 79). Vgl. Anm. 4 und 218. Am 27.12.1943 fügte Klein seinem Brief aus Bonn (Endenicher Str. 13) an Willi Hausen („im Feld“) – der Brief ist, wie alle hier zitierten Briefe, im Original erhalten, ist also von Deutschland nach Osten und zurück an Anna Hausen gelaufen – in großer Schrift an: „Recht herzliche Grüße von meiner Mutter“. Am 27.3.1944 lud er Anna und Willi (dieser kam in Heimaturlaub) Hausen per Brief ins Leoninum ein. Er schrieb ihnen am 30.3.1944, sie sollten vorher telefonisch den genauen Zug übermitteln; am liebsten den um 9.30 oder 10.30 in Bonn, damit er sie am Bahnhof abholen, „um Euch den kürzesten Weg zu zeigen. Dann braucht Ihr nämlich nicht durch das ganze große Haus [das Leoninum] zu laufen“. Man darf vermuten, dass dabei auch Sicherheitsaspekte bez. Berta leitend waren. (AEK, NL Hausen). Hans Röttsches, Peter Wirtz, Helmut Haas, Ludwig Maur, Erich Alvermann und P. E.; ferner Hans Werres (s. Anm. 221), dessen Bezug zum ND unklar ist. – Weitere, die als Korrespondenzpartner für 1943/44 nicht mehr nachweisbar sind, können vermutet werden. P. E. (geb. um 1914), Landgericht Aachen, wegen körperlichen Leidens wehruntauglich, Jurist Landgericht Ostrau (Ostrava) (1943), Staatsanwalt und Richter in Polen. – Den Hausens berichtete er, er könne aus seiner Tätigkeit nicht viel Gutes berichten; vielleicht komme er zum „Sondergericht in Kalisch“; er rang mit sich; das tue er nicht gerne (Anna an Willi Hausen, April 1944). – E. an W. Hausen (16.10.1943): „Peter K. ist total bombengeschädigt. Ich hätte mich um ihn gekümmert, wenn ich gewußt hätte und wüßte, wo er ist.“ – Offenbar war für Anfang April 1944 auch sein Besuch bei Klein(s) im Leoninum geplant.
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Der Tod Peter Kleins und die 10-monatige Endphase des Untertauchens von Berta Klein (1944/45) Eine abrupte Veränderung der Lage ergab sich am 11. Mai 1944 (Donnerstag). Gegen Mittag kam es in Köln-Rodenkirchen zum Zusammenstoß 268 zwischen einem Güterzug und dem aus Bonn kommenden Personenzug der Köln-Bonner Eisenbahn (sog. Rheinuferbahn), in dem Peter Klein saß. Er war am Kopf schwerst verletzt, wurde in das nahegelegene Krankenhaus in Köln-Bayenthal, Schillerstr. 23, eingeliefert 269 und starb 270 dort eine Stunde später, um 13 Uhr. Beigesetzt 271 wurde er am 19.5. – in Abwesenheit der Mutter – im Familiengrab auf dem Melatenfriedhof.272 Die Todesanzeige im Kölner Stadtanzeiger (erst vom 21.5.!) zeichnete „im Namen der trauernden Hinterbliebenen“ Kleins ehemaliger Pfarrer, Janssen, der auch 4 Tage nach der Beisetzung das Requiem in St. Agnes hielt.273 Wie wir aus einem Schreiben Bertas von 1946 wissen, kondolierte der Erzbischof (Frings) persönlich der Jüdin Berta Klein.274 ———— 268
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Via ND-Freunde war Willi Hausen an der Ostfront im Mai gut informiert: „[...] Ein schwerer Schicksalsschlag, dessen Sinn wir mit unseren gebundenen Augen nicht zu erkennen vermögen.“ (Willi an Anna, 31.5./1.6.1944, AEK, NL Hausen). – Zum Unglück die wortgleichen Artikel des Kölner Stadtanzeigers und des Westdeutschen Beobachters vom 12.5.1944; danach gab es 5 Tote und etliche Verletzte. – Hierzu ergiebige Akten der KBE sind so gut wie keine erhalten (frdl. Auskunft: Doris Lindemann [Archiv Stadtwerke Köln] ). Schönartz (Anm. 9) (seine Zeilen hat 1987 Böhner gegengelesen, der auch im Mai 1944 Anna Hausen als erster über die Details des Unglücks informiert hatte) berichtet sehr ausführlich über den Hergang. Beurkundet beim Standesamt Köln IV (281/1944) (Auskunft: Friedhofsverwaltung Melaten, Angelika Schmitz). Der kirchliche Eintrag ins Sterbebuch konnte bisher nicht ermittelt werden. Am Aufenthaltsort Bonn, Münsterpfarrei, besteht eine Lücke im Taufbuch (Eintragungen zu 1944 nicht [mehr] vorhanden); ob es separate Sterbebücher des Krankenhauses gab, war kurzfristig nicht zu ermitteln; in der Heimatpfarrei (St. Agnes) findet sich unter dem 17.5.1944 der Eintrag nur des Namens (ohne Hinweis auf Todesdatum, Wohnort oder Umstände des Todes); in der Pfarrei des Sterbeortes Bayenthal und in der Pfarrei (St. Gereon) des Wohnortes findet sich kein Eintrag. – Das Amtsblatt des Erzbistum Köln 1944 vermeldet den Tod knapp, ohne nähere Hinweise. Der Totenzettel mit dem Spruch „Christus, das wahre Osterlamm, hat durch seinen Tod unser Streben überwunden und durch seine Auferstehung neues Leben uns geschenkt (Osterpräfation)“ in: AEK, Slg. Personalia (zur Rückseite Anm. 186). Das Grab befand sich in Flur 44, Nr. 188 (s. Anm. 41) (Es wurde durch Frau Klein 1954 wiedererworben, auf erneut 30 Jahre, bis 28.8.1984). (Frdl. Auskunft: Friedhofsverwaltung Melaten, Angelika Schmitz). – In der Erinnerung der Familie Hausen war das Grab klar präsent. Die Aufschrift lautete danach: „Gottes Führung kann nicht anders als wunderbar sein“ (d.i. aus den Text des Totenzettels [Anm. 186]); frdl. Auskunft zum Grab: Adelheid und Johannes Hausen (Kempen). Requiem am 23.5.1944, 10 Uhr (Totenfeier in der Krypta). Die Anzeige (vermutlich vom Generalvikariat aufgegeben) nennt den Tod infolge „Unglücksfalles“. Zum Requiem auch Pfarrarchiv Köln St. Agnes, Kladde Gottesdienstordnungen 1943-1948 (Frdl. Hinweis: Werner Teske).
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Mit dem Tod ihres Sohnes konnte die Verfolgte über eine direkte Bezugsperson nicht mehr so leicht aufgespürt werden wie bisher. Den offiziellen Schlussstrich unter das mögliche amtliche Wissen um die Jüdin Berta
Mit dieser Antwort (unten, handschriftlich) verwischte der Generalvikar nach dem Tod von Peter Klein 1944 die Spur zu dessen Mutter (zum Wortlaut siehe unten)
Klein und damit den einstweilen sicheren Rückhalt für ihr Refugium setzte mit Erfolg der Kölner Generalvikar persönlich. Dabei bewegte er sich am Rande einer „Notlüge“: Am 2. Juni 1944 fragte die Pax-Krankenkasse, Köln, die vergeblich eine Zahlung an Peter Klein angewiesen hatte, beim Arbeitgeber ———— 274
S.u. – Frings war anwesend zum Abschluss der Besinnungstage im Wintersem. 1943/44 (mit 30 teilnehmenden Theologen) und zur Einführung Teuschs am 23.4.1944. Die Kondolenz dürfte schriftlich oder mündlich erfolgt sein (über den Generalvikar, dessen Dienststelle seit April 1944 im Leoninum saß, im gesamten 2. OG [Archiv der Neusser Augustinerinnen, Chronik Leoninum; ferner Anm. 154]).
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an, „ob Ihnen die Anschrift der Hinterbliebenen bekannt ist und [wir] wären Ihnen dankbar, wenn Sie sie uns bekanntgeben würden.“ David bearbeitete diese Anfrage persönlich und konzipierte (in Bonn [!], im Leoninum, am 10.6.1944): „Wie uns mitgeteilt wurde, lebt noch ein erbberechtigter Onkel 275 des verstorbenen Geistlichen P. Klein. Es ist dessen Adresse uns aber nicht bekannt. [...] D[avi]d.“ 276 Doch stellte das Netz der früheren Kontaktpersonen noch immer eine Gefährdung dar: Mit der Nachricht 277 vom Tod ihres Freundes Peter Klein gedachten die Eheleute Hausen 278 unmittelbar der Mutter, mit Anteilnahme und großer Sorge, aber auch im hilflosen Bewusstsein, nichts tun zu können. Ein spontaner und sehr verbindlicher Kondolenzbrief (via Böhner) an Frau Klein 279, mit dem heiklen Angebot Annas, man sei „auch jetzt noch für sie da“ und werde „ihr gern nach besten Kräften helfen“, kam ihnen aber rasch als ernste Gefahr 280 zu Bewusstsein. In großer Sorge musste daraufhin Anna Hausen vier quälende Wochen lang leben.281 Es wird hier erneut spürbar, wie eng die Hilfsmöglichkeit von Privatpersonen in fortgeschrittener Verfolgungszeit letztlich war, und ebenso, dass die Gefahren durch Mitwisser ———— 275
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Diese Angabe mag zugetroffen haben und vielleicht von Böhner oder Groner stammen; gemeint war wohl einer der Brüder des Vaters, denn ein evtl. jüdischer Bruder der Mutter kann 1944 in Köln nicht als lebend bekannt gewesen sein. Siehe Abbildung. Das Generalvikariat saß zu der Zeit auch im Leoninum; das Schreiben wurde abgesandt: 13.6.1944 (AEK, Personalverw. Priester 646, und GTB 95). Anzeige in der Zeitung (vor 26.5.1944) bzw. von Böhner (an Anna) am 31.5.1944, und von NDFreunden (an Willi) vor dem 23.5.1944. Willi Hausen befand sich an der Ostfront, während seine Frau – wegen der Bombenangriffe – am 25.4.1944 zusammen mit dem kleinen Sohn und mit ihrer Mutter Köln verließ und zur Verwandtschaft in das Saargebiet zog. 4.6.1944 Anna an Willi: „Ob du jetzt wohl die Nachricht hast, daß Peter Klein tot ist? Gleich werde ich Frau Klein schreiben. Es fällt mir so schwer. Die arme Frau tut mir unsagbar leid. Sie trägt doch ein unsagbar schweres Kreuz jetzt, da sie allem ausgeliefert ist. Dieser Verlust des Sohnes ist ja untragbar für sie.“ – 11.6.1944 Anna (nach Erhalt des Briefes wie Anm. 280) an Willi: „Mein Willi, ich bin in furchtbarer Unruhe, weil ich an Peters Mutter schrieb und den Brief an H. B[öhner] geschickt habe. Du meinst, das wäre nicht gut. Ich habe für uns beide geschrieben als ‚Familie Hausen‘. Du brauchst also nicht mehr extra zu schreiben. Eine andere Adresse weiß ich nicht. Hätte ich es besser nicht getan? Jetzt bin ich sehr unruhig. Ich habe geschrieben, wir wären auch jetzt noch für sie da und würden ihr gern nach besten Kräften helfen. Mit Wünschen und Nöten dürfte sie ruhig zu uns kommen. Ist das zu viel? Ich mache ja immer alles verkehrt und habe eine unglückliche Hand. Von B. habe ich noch keine Antwort.“ Willi an Anna (31.5./1.6.1944, Eing. nach 4.6.): „Peter hat nun alles Leid hinter sich, aber was wird mit seiner Mutter. Könnte man ihr doch schreiben. Hast Du nicht die Anschrift ihrer ehemaligen Hausgehilfin? Dies dünkt mich der beste Weg. Über Hans B. oder Franz Groner, den Du in Bonn kennen lerntest, will ich es nicht versuchen. Hoffentlich ist das Schicksal von Frau Klein nicht noch schwerer als es bisher schon war. [...] Vor Gott wird aber alles seinen letzten Sinn haben. Froh bin ich, im letzten Urlaub [bei ihm] in Bonn gewesen zu sein. Wir wollen beide in unser Beten einschließen. Helfen können wir da nicht.“
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oder Helfer i. d. R. nicht auszuschalten waren. Dennoch lag in solch mutiger und seltener Hilfsbereitschaft letztlich die einzige Chance. In diesem Fall war es am eher institutionell wirksamen Leoninum, Hilfe zu leisten. Reckers hatte die Verantwortung als Pflicht übernommen, Groner hatte die Aufnahme Bertas ins Leoninum im November 1943 aktiv angeregt oder doch bei Reckers unterstützt. Es wird klar, dass Teusch nicht der Motor war. Er kam erst im Laufe des April 1944 – letztlich für wenige Monate – ins Haus 282, doch ist er konsequent in die Verantwortung für die Unterbringung eingetreten, die nun, mit Kleins Tod, eine neue Qualität annahm. Teuschs „in seiner Art rücksichtslos[er]“ 283 Haltung bildete, in einer Art Überlegenheitsgefühl gegenüber NS-Vertretern 284, die Basis für jene Risikobereitschaft, die auch vor unkonventionellen Schutz-Methoden nicht zurückschreckte 285 und sogar auch innere Gefahren 286 realistisch eingeschätzt haben dürfte. Als Teusch schon im Herbst 1944 im Rahmen der Evakuierung der Priesteramtskandidaten nach Fulda aus Bonn wegging 28 7 , blieb Franz Groner – Repetent
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Erst kurz vor dem 8.7.1944 kam Böhners Nachricht, „daß er meinen Brief bekommen hat“. – Im September erfuhr dann Anna Hausen vom Tode ihres Mannes (am 21.8.1944 nach feindlicher Verwundung). Der Kontakt zu Berta Klein brach damit zunächst ab. Ernennungsurkunde vom 1.4.1944 (AEK, NL Teusch 14), Semesterbeginn 17.4., Einführung Teuschs durch den Erzbischof 29.4. (Rundbrief des Seniors Wilhelm Moll v. 29.7.1944, AEK, Leoninum, Zug. 1458, Ordner 10). Er war im Sommer/Herbst wohl längere Zeit abwesend in Erfurt und überließ dem Senior Moll (so dessen Angabe von 2011) z.B. die Regelung von Heimfahrten (zwecks Wäschewaschen etc.). So das Erleben eines Zeitzeugen (damals Theologe im Leoninum, heute Pfarrer) der Jahre seit 1948. – Ähnlich Trippen, Teusch (wie Anm. 6), S. 1: „unter Umständen erschreckende Persönlichkeit“. Erhellend dazu ist sein sehr persönlicher Vortrag in Bonn 1960 anlässlich der Ehrendoktorwürde (AEK, NL Teusch 14, Msk. S. 15ff.). Man hat spekuliert, warum ihm nie persönlich etwas zustieß und auf seine Kontakte z.B. zum Kölner Polizeipräsidenten hingewiesen (Hegel, Teusch (wie Anm. 5), S. 40). Man darf auch daran denken, dass Teusch offensiv Kontakte auch zu abgefallenen Theologen weitergepflegt und sie mit seiner sehr starken Persönlichkeit als Informanten genutzt hat (Zeugnis Teuschs für einen Bekannten, der früh in die NSDAP eintrat, aber zu Teusch Kontakte hielt: „Darüber hinaus versorgte [sic!] mir Herr Schn[...] damals, nicht ohne Gefahr für seine Person, Informationen über die Tendenzen in der Partei und SA, die mir in der Ausrichtung der Abwehr sehr zugute kamen“ [AEK, NL Teusch 71]). Indirekte Hinweise darauf bietet auch seine Maxime, man müsse den Feind mit den Mitteln schlagen, mit denen er angreife (überliefert durch B. Wittschier: AEK, JTW 202). Zu seiner Eigensicht und seinen Erlebnissen zur (entwaffnenden) Wirkung moralisch integrer gläubiger Menschen auf die durch das Regime moralisch Beschädigten (Vortrag 1960, wie Anm. 284, Msk. S. 18f.: Erlebnis im Amtszimmer bei Generalvikar Davids kurz nach einer Gestapodurchsuchung [d.h. wohl um 1936, s. Anm. 110]). Zur Tätigkeit der sehr wenigen Gestapo-Informanten (V-Leute) unter dem Klerus die Akten im Landesarchiv NRW, Düsseldorf, RW 58 (Repros in AEK, Slg. WuV 19), auch von Hehl (wie Anm. 5), S. 73f. (mit Anm. 211).
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und Rendant 288 in einer Person – trotz der Luftkriegsgefahren in Bonn präsent.289 Dennoch musste Berta Klein laut Dr. med. Kill „gegen Ende 1944 in ein weiteres Versteck untergetaucht werden [sic], da auch die Gestapo in Bonn hinter ihr [her] war“.290 Der Auslöser war offenbar ein (anschließend im Hause bekannt gewordener) Verrat durch ein Hausmädchen, welches die Leitung wegen Diebstahls hatte entlassen müssen.291 Für das Überleben der Jüdin Berta nach dem Tod des Sohnes waren die Bedingungen im Collegium Leoninum von Vorteil, der große Baukomplex, seine multifunktionale Nutzung, die innere Solidarität einer – christlichen – Wertegemeinschaft, die nie gefährdete Amtsautorität des Direktors, die wachsende Perspektive auf ein wie auch immer geartetes Kriegsende. Man wird – das ist deutlich – nicht nur die Motive uneigennütziger christlicher Nächstenliebe gegenüber „einer Jüdin“ veranschlagen dürfen. Horst Matzerath hat auf die Bedeutung der Verflechtung der jüdischen Opfer mit Nichtjuden in Familie, Freundes- und Bekanntenkreis oder Nachbarschaft hingewiesen.292 Dass derlei Handeln mit hohem Risiko 293 verbunden war, ist ———— 287
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Für die Zeit ab November ist er in Fulda nachweisbar, wohin die Theologen am 1.11. reisten; am 29.11. auch mehrere Schwestern (AEK, NL Teusch 71a; Archiv der Neusser Augustinerinnen, Chronik Leoninum). Schon vor 1943 hatte der Repetent stellvertretend die Aufgaben des Rendanten mit übernommen. So besorgte Groner die Rechnungslegung 1943/44 (am 15.4.1944) (AEK, NL Teusch 71). So ausdrücklich im Bericht (Chronik) des ersten Nachkriegssemesters 1945 (AEK, NL Teusch 383). Am 27.12. kam es zum Volltreffer, der einen Flügel des Hauses stark zerstörte. Sämtliche verbliebenen Schwestern, bis auf 2, wurden nun evakuiert (Archiv der Neusser Augustinerinnen, Chronik Leoninum). Laut Dr. med. Kill (der die Frau mehrfach „illegal“ behandelte) am 21.7.1948 (wie Anm. 225). – Das Versteck wurde ihr also von den „Beschützern“ besorgt; vielleicht in einem Bonner Kellerraum. Der Hintergrund war vielleicht schließlich auch, dass nun in dem inzwischen auch kriegsbeschädigten Leoninum kirchlicherseits kaum noch jemand anwesend war. Laut Bericht Schönartz 1987 (wie Anm. 9) (die zeitlich nicht eingegrenzte Information hatte er sicherlich von Teusch [1946/52]). Das Mädchen habe nach der Meldung bei der Gestapo den (Ex)Kolleginnen von dem aus Rache geübten Verrat berichtet. Von diesen sei die Information über die Ordensschwestern im Haus an Teusch [bzw. den Verantwortlichen am Ort] gelangt, von dem Schönartz die Information (1946/52) erhalten haben dürfte. – Dass die Gestapo in Schönartz’ Wahrnehmung nichts unternahm, ist Ende 1944 durchaus möglich. Schönartz spekulierte, der Beamte habe womöglich angesichts der Kriegslage nichts mehr unternommen. – Wohl danach Böhner an Hegel (30.1.1983, AEK, Slg. Personalia), die Gestapo habe davon gewusst, was Hegel (11.2.1983, ebd.) indes nicht bewusst gewesen war. – Die Vorgänge passen am ehesten in die Zeit Oktober/November 1944. Matzerath, Stadtgeschichte (wie Anm. 3), S. 419f. Der Oberhausener Kaplan Otto Kohler (1909-1984) gewährte einem getauften Juden, der aus dem Lager Deutz entflohen war, Unterkunft. Er wurde dafür (wegen Hintergehung der Rassengesetze und Missbrauchs des geistlichen Amtes) im April 1944 von der Gestapo verhaftet und kam später ins KZ Dachau; er konnte fliehen (Priester unter Hitlers Terror [wie Anm. 45], S. 749). – Zur Ju-
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evident. Aber einen Priester des Erzbistums, der zudem schon in erheblichem Maße unter seiner jüdischen Abstammung gelitten hatte, konnte man nicht einfach abweisen und so die Mutter dem vollen Risiko von Verhaftung und Tod preisgeben. Den jeweiligen Direktoren dürfte die Rückendeckung des Generalvikars wichtig gewesen sein. Die Erfolgsaussicht war kaum abschätzbar. Wenn aber der Schutz der Berta Klein erfolglos geblieben wäre, dann wäre es den Leitern sicherlich auch daran gelegen gewesen, NSStrafmaßnahmen gegen das Konvikt in Grenzen zu halten.294 Der eigentliche Retter von Berta Klein war, neben den etlichen anderen, die entscheidenden Mut zur Hilfe aufbrachten, – in mehrfacher Hinsicht – eindeutig ihr Sohn Peter, ohne den sie wohl früh deportiert worden wäre, in keinem Fall aber verdeckt aus Köln weggekommen und auch niemals solcherart in das kirchliche Refugium in Bonn aufgenommen worden wäre.
Berta Klein nach dem Kriegsende in Bonn (1945-1958) Die Eroberung Bonns am 9. März 1945 durch amerikanische Truppen bedeutete für die 68-jährige Berta Klein, anders als es sich die allermeisten Deutschen letztlich vorstellen konnten, konkrete Befreiung und Rettung. Objektiv war sie, die im April zu insgesamt mindestens 8 Juden in Bonn gehörte 295 mittellos und ohne direkte Angehörige.296 Den Besitz hatte sie im Juni 1943 eingebüßt. So genehmigte ihr die von den Amerikanern eingesetz————
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denhilfe weitere Fallbeispiele bei Martin Persch, Spurensuche–Spurensicherung. Vom Einsatz Trierer Bistumsgeistlicher für jüdische Mitbürger 1933-1945, in: Kurtrierisches Jahrbuch 36, 1996, S. 303-317, ferner bei H. Moll (Hg.), Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, 2. Bde, 5. Aufl. Paderborn u.a. 2010 (z.B. Kaplan Everhard Richarz [gest. 1941, ermordet u.a. wegen Judenhilfe]). – Zusätzliche Gefahren drohten, ohne dass das den Gefährdeten bewusst war, durch die wenn auch wenigen Kleriker, die sich als V-Leute missbrauchen ließen; so war die Gestapo durch den V-Mann J. W. (Deckname „Vollmer“) u.a. über den geplanten Amtswechsel vom April 1944 im Leoninum informiert (vgl. Anm. 286), aber auch über Aktionen einzelner Priester (in dem Fall im nördlichen Erzbistum). Teusch habe nach der Nachricht von dem Verrat eine Tasche parat gehabt für die mögliche Verhaftung (Schönartz, wie Anm. 9). Die jüdische Exilzeitung „Aufbau“ vermeldete am 27.4.1945 unter der Rubrik: „Juden in Frankfurt a.M., Bonn und Mönchen-Gladbach“ auch „Klein, Berta, geb. Abramowitsch (geb. 23.10.1876), Wilna“ (die Zeitung diente als Nachrichtenbörse, um bekanntzumachen, wer überlebte). In eben dieser Zeit gelangte das Wissen um Berta wohl auch an andere internationalen Stellen (UNRRA) und lag in Form der Meldeadresse Endenicher Straße 13 auch Anfang 2011 beim ITS in Bad Arolsen vor; über tiefergehende Informationen aber verfügte man dort nicht. Ob sie noch einmal Kontakte suchte zu ihrem Schwager Joseph Klein oder dessen Geschwistern (so sie noch lebten) bzw. deren Kinder, ist unklar. (Vgl. Anm. 319).
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te Bonner Stadtverwaltung am 25. April 1945 eine „einmalige Beihilfe von 300 RM“, persönlich gegen Vorzeigen des Bescheids beim Wohlfahrtsamt abzuholen.297 Den Antrag scheint – am Vortag! – Franz Groner (Collegium Leoninum) für Frau Klein gestellt zu haben, und man darf davon ausgehen, dass sie sich mit einem Teil des Geldes beim Leoninum für die finanziellen Aufwändungen ihres bisherigen (Zwangs-)Aufenthaltes bedankte. Ob sie damals an einen Umzug gedacht hat, ist unbekannt. Wahrscheinlich ist das in ihrer alleinstehenden Lage aber nicht. Als klar war, dass sie in dem Konvikt bleibt, das – wegen kommunaler Mitnutzer 298 – unter zunehmender Raumnot litt, bemühte sich das Leoninum 1946 bei der Stadt um eine zusätzliche Lebensmittelzuteilung; man habe die unmittelbar von der Deportation bedrohte „Jüdin“ fast 1 ½ Jahre „versteckt gehalten und gepflegt, ohne Lebensmittelkarten und ohne jede Unterstützung“.299 Frau Klein wurde zunächst 300 selbstverständlich als NS-Verfolgte anerkannt, wobei die „Art der Misshandlung“ im Amtsdeutsch lapidar lautete: „war gezwungen, sich verborgen zu halten“. Die zunächst (1946) auf 6 Monate bewilligte Unterstützung von offenbar 48 Mark monatlich wurde 1947 mit Hilfe des VVN (wohl die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) erneut für 6 Monate bewilligt, nun 60 RM. Dem Bonner Vorsitzenden des VVN, Kolb, gegenüber drückte Berta mehrfach persönlich Dank aus. In den Beratungsgesprächen Anfang 1947 hat sie, ohne, dass wir Details kennen, Ihr Verfolgungsschicksal ausführlich geschildert. Ihm gegenüber bringt sie auch die Identität als NS-Verfolgte zum Ausdruck.301 Dass auf anderer Ebene der Jewish Trust Corporation for Germany von 1948 bis 1954 letztlich vergeblich versuchte, vom Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches – in dem Fall dem Land NRW (Oberfinanzdirektion Köln) – für das 1943 in Köln eingezogene Vermögen der vermeintlich toten Jüdin Berta Klein eine Entschädigung zu erhalten 302 , hat die Betroffene ———— 297 298
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Stadt Bonn (Dani) an Groner, Leoninum, 25.4.1945 (AEK, Leoninum K 7). Seit 1944/45 kriegsbedingt; um 1949 dort in 38 Räumen: Regierungskasse, Finanzamt, 2 Katasterämter; 1949/50 auf allerhöchsten politischen Ebenen Kampf um die „Räumung“ des Hauses von nichtkirchlichen Nutzern (AEK, CR II 8B 17, 1). – Auch in dem Kontext keine Erwähnung der Berta Klein. Groner (Leoninum) an die Stadt Bonn, Amt für Schäden aus Gründen der Rasse und Politik, 3.4.1946 (Stadtarchiv Bonn, N 1985/1332, B. Klein, Bl. 1). 1951 scheint noch einmal die Frage beim RP aufgekommen zu sein. Sie habe den Nachweis einer Mindesthaft von 6 Monaten bzw. einer nachhaltigen gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Schädigung nicht erbracht, was aber von der Stadt Bonn zurückgewiesen wurde mit Hinweis auf den frühen Zeitpunkt der Antragstellung (Stadtarchiv Bonn, N 1985/1332, B. Klein). „[...] fühlt sich verpflichtet Ihnen von ganzem Herzen zu danken, die nun 71-Jährige s[einer]z[eit] vom Nazi-Regim[e] verfolgte Frau B. Klein.“ (Stadtarchiv Bonn, N 1985/1332, B. Klein, Bl. 14).
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wahrscheinlich nie erfahren. Weder der Oberfinanzdirektion Köln noch dem Jewish Trust war bekannt, wo Frau Klein nach dem Sommer 1943 geblieben war. Entscheidend für die Versorgung der Frau war es, dass die Köln-Bonner Eisenbahnen ihr ab Januar 1948 für den Unfalltod ihres Sohnes endlich 303 – nach über 2 Jahren – eine monatliche Rente von 200 Mark zahlten; davon entrichtete sie als „Pensionärin“ eine Miete von (1948/49) 90 Mark an das Leoninum, wohl für Kost und Logis. Ein „Ergänzungsbescheid“ gewährte ihr 1953 monatlich 373 Mark. 1958 betrug die Rente (Entschädigung bzw. Unfall-Hinterbliebenenversorgung an NS-Opfer) 233 Mark 304; ihr war eine Erwerbsunfähig zu 100% bescheinigt; ungeachtet der letztlich monatlich ausgezahlten Summe war ihr bescheidener Lebensunterhalt gesichert. Frau Klein war nun Bonner Bürgerin, die z.B. 1947 bei der Landtagswahl und der Stadtverordnetenwahl 1948 wahlberechtigt war 305, auch wenn die Stadt Bonn sich mit der Eintragung in die eigentliche Meldekartei noch bis 1952 Zeit ließ.306 Im Leoninum hatte Berta Klein einen Sonderstatus als einzige Mieterin, die nicht angestellt war. Bis auf zwei Lohnempfängerinnen waren ———— 302
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Siehe Anm. 216. – Gegenstand war der 1943 aus der „letzten Wohnung vor der Deportation“ entzogene Hausrat. Grund der mehrfachen Ablehnung waren die mangelhaften Angaben zu Inhalt und Wert. Dem Trust lagen offenbar keinerlei Listen oder andere Belege vor. 1945 galten zunächst alle Ansprüche aus der Zeit vor dem 8.5.1945 als gegenstandslos. Der Kunsthistoriker Dr. Hans Kisky (1945 selbst kurze Zeit bei der Stadtverwaltung Bonn tätig) trug im August 1946 vor, Berta Klein habe sich verborgen halten müssen und habe ihre Ansprüche daher vor dem Termin nicht geltend machen können, als ihr Sohn und Ernährer verunglückte (Kisky gibt irrig den 16.4.1944 als Unfalltag an); vielleicht hatte Dr. Kill (vgl. Bericht Schönartz’, Anm. 9), der die Frau als Arzt behandelte, seinerseits Kisky darauf angesprochen. (Hans Kisky [1920-1965], Sohn des Leiters der Landesarchivverwaltung NRW, Wilhelm Kisky, wirkte seit 1945 im Amt für Rheinische Denkmalpflege und wohnte zeitweilig in Brühl, wo auch Groner beheimatet war. – Zu Kills Funktion als Hausarzt im Leoninum AEK, Leoninum, K 1, K 6. – Kill wird auch im Bericht Schönartz’ als Arzt von Berta erwähnt, aber mehrfach in falschem Kontext). Schreiben des RP (9.6.1953) mit Hinweis auf Bescheid vom 9.4.1954, mit Hinweis auf Zentralkartei Nr. 20315 (rückwirkend ab dem 1.9.1946) (Stadtarchiv Bonn (1985/1332, B. Klein). – Bezirksregierung Düsseldorf (Bundeszentralkartei) (wie Anm. 225). – Zur Miete AEK, Leoninum, K 1 (Kassenbuch). – Die komplexen Finanzdetails wurden hier nicht vollständig geklärt. – Der vom Amtsgericht bestellte Nachlasspfleger Dr. jur. Wilhelm Mallinckrodt (Jagdweg 4, Bonn) beantragte vergeblich ein Sterbegeld für die Bestattung (Kosten 720 Mark). AEK, Leoninum, K 7: Liste mit eigenhändigen Quittierungen aller Bewohner des Leoninum anlässlich der Ausstellung neuer Personalausweise (Anordnung Brit. Zone vom 16.7.1946); Liste der Wahlberechtigten 1947 im Haus Endenicherstr. 13; Liste vom 23.8.1948 der bei Stadtverordnetenwahl am 17.10.1948 Wahlberechtigten; Liste Personenstands- und Betriebsaufnahme Haus Endenicherstr. 13-17, 10.10.1948 (Berta Klein dort ausdrücklich vermerkt als „polizeilich gemeldet und am 10.10.1948 anwesend“). Man trug sie dort im Januar 1952 ein, rückwirkend mit Geltung ab 9.3.1945 (Tag des Einmarsches der Amerikaner) (Stadtarchiv Bonn (1985/1332, B. Klein).
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1948 sämtliche der 67 gemeldeten Bewohner(innen) jünger als sie.307 Bald dürfte sie die Älteste gewesen sein. Ab April/Mai 1945 waren die Deutschen, auch die Jüdin Berta Klein, im Bilde über das ganze Grauen des Holocaust. Sicherlich waren große Teile auch ihrer jüdischen Verwandtschaft in Litauen ermordet worden, doch wir wissen nicht, ob es in den 1920er/30er Jahren noch Kontakte gegeben hatte. Ein besonderes Bedürfnis war es ihr, verbindlich zu danken. So schrieb sie am Silvesterabend 1945 an Generalvikar David einen Dankbrief 308, dem sie das Foto ihres Sohnes als Neupriester beifügte.309 Sie dankte ihm für „alle Ihre Güte, Ihr Wohlwollen, die sie mir dauernd erwiesen haben und noch jetzt erweisen“ und erinnerte an ihren Sohn, der ein „getreuer Diener“ und Verehrer seines Vorgesetzten, David, gewesen sei. Sie fügte zwei Familienbriefe bei, die ihr „heilig“ seien und um deren Rücksendung sie – erfolgreich 310 – bat. Sie denkt an die Leidenden; im Leoninum fühle sie sich wohl: „[...] in einer halben Stunde bricht das neue Jahr an. Möge es allen Menschen auf dieser Erde viel Sonne und Erleichterung ihrer Leiden bringen. – Ich bin auf meinem Zimmerchen, bin im Leoninum, in Ihrem Heim wohl geborgen und gut aufgehoben. Ich danke Ihnen auch dafür [...]“. Die Anspielung auf Ihre Rettung in schlimmer Zeit ist deutlich. Ihr Bedürfnis zu danken, ging weiter. Am 1. August 1946 überwand sie sich und schrieb auf 8 Seiten an Kardinal Frings 311; sie fühlte Schuld, ihm noch nicht gedankt zu haben, auch wenn sie ihn nur aus den Erzählungen ihres Sohnes kenne, welcher Frings’ „grenzenlose Güte“ betont habe. Sie dankt ihm für die „tröstenden gütigen Worte“ – offenbar 1944 – zum „tragischen Tod“ des Sohnes „in der Blüte seiner Jugend“. „Damals durfte ich ja nicht [zurück]schreiben. Damals, in der bösen Kriegs- und Nazizeit, mußte ich mich ja verborgen halten. [Dann zeitlich zurückspringend:] Und mein ———— 307
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Am 10.10.1948 waren die 13 Ordensschwestern (Neusser Augustinerinnen) zwischen 47 und 65 Jahre alt (Jg. 1883-1904), die 4 Gehaltsempfänger (Vorstand, soweit im Haus wohnhaft) Jg. 19021913, die 21 dort wohnenden Lohnempfänger(innen) waren im Alter von 14 (!) bis 76 (!) Jahren = Jg. 1872-1934. Frau Klein war die einzige Rentenempfängerin im Hause. Sodann: 28 Studenten und 8 nicht polizeilich angemeldete Gäste (Personalstands- und Betriebsaufnahme, AEK, Leoninum K 7). AEK, Gen. II 8.4, 1a. Siehe Abbildung. – Ein Foto ihres Sohnes bei der Primiz stand auch auf ihrem Zimmer (Bericht Schönartz’ von 1987 [wie Anm. 9]). Der Registrator vermerkte auf dem Foto neben Angaben zu Peter Klein auch, dass die „Familienbriefe“ zurückgesandt werden. AEK, Gen. II 8.4, 1a (Textabdruck im Anhang). – In ihrem Brief schildert sie (als Zitat aus einem Brief des Sohnes vom 22.8.1943) auch die in den Augen ihres Sohnes „tatkräftige, frisch zupackende Art“ des jungen Erzbischofs 1943 nach der Bombardierung.
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geliebter Sohn fand einen Ausweg: ‚Liebe Mama, ich will Dich in Sicherheit bringen‘, waren seine sorgenden Worte und er brachte mich in sein geliebtes Leoninum [...].“ 312 Obdach und „viel viel Liebe“ gäben ihr Teusch und Groner sowie die Ordensschwestern; auch David schulde sie großen Dank und natürlich ihm, Kardinal Frings. Die nicht konvertierte Jüdin schließt: „Der Segen Gottes wird nicht ausbleiben, das betet mein Kind und – auch ich.“ (Es folgt ein instruktiver Rückblick mit langem Zitat aus dem oben erwähnten Brief vom August 1943).313 Man gewinnt den Eindruck einer tief trauernden, aber starken Frau, die sich gesellschaftlich zu bewegen weiß und keine Scheu hat, Autoritäten direkt anzusprechen, so wie sie seinerzeit (1936) Kardinal Schulte persönlich aufgesucht hatte. Sie fühlte sich akzeptiert trotz Ihrer Identität als eine Frau, die nicht der Kirche – es war für sie die Kirche ihres Sohnes – angehörte, die aber, auf ihre Weise, eindeutig religiös 314 war. Ihre Selbstsicherheit scheint auch auf im Brief an den Vorsitzenden des VNN in Bonn, Kolb, im Januar 1947, den sie sehr höflich, aber verbindlich bittet, sie sei etwas gehbehindert, er möge doch bei ihr vorbeikommen und die VVN-Fragebogen ausfüllen, dann könne sie ausführlicher antworten.315 Bezeichnend für ihre Persönlichkeit ist auch, dass sie als „Pensionärin“ ab 1948 freiwillig der Stadt Bonn die Unterstützung in Raten zurückzahlte, die ihr seit 1945 gezahlt worden war; zus. mehr als 1700.- Mark.316 Ihre Identität als Jüdin wird ansonsten im Alltagsleben wohl nicht mehr erwähnt; was der Scheu der Zeit vor diesem Thema entsprochen haben dürfte. Anscheinend fühlte sie sich aber 1946 nicht einsam: „Da ein lieber Brief, ———— 312
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Aber bekanntlich (s.o.) gelang das so nur auf gefährlichen Umwegen, über die Berta Klein in ihrer Höflichkeit wohl kaum gesprochen hat. S.o. mit Anm. 221, s.u. mit Anm. 343. Im Brief an Frings sagt sie u.a.: „Mein heißgeliebter Sohn hat meine Freiheit, um die er sich so gesorgt hat, nicht mehr erlebt. Auch er hätte bestimmt an manchem Aufbau Freude gehabt. Die Kirche, seine Kirche lebt wieder auf und ‚Neues Leben blüht aus den Ruinen‘. Meine Trauer ist grenzenlos. – Ich glaube aber doch, daß mein Sohn über mich wacht und daß der liebe allmächtige Gott mich auch nicht verläßt.“ – Nach Schönartz lebte sie bis zum Tode in „ihrem angestammten mosaischen Glauben.“ (Vgl. auch unten bez. Tod.) „Ist es [...] gewagt, wenn ich Sie höflichst bitten werde, mich persönlich mal im Leoninum besuchen zu wollen? Ich selbst kann mich schlecht bewegen, da die Füße[,] meine[,] in der letzten Zeit etwas versagen. Die Fragebogen des VNN in kurzen Worten auszufüllen, geht schwer. Dazu ist das Papier noch auch schlecht und [es] verwischt sich alles. Wenn Sie, sehr geehrter Herr Kolb, auf meine Bitte eingehen (Ihr evtl. Besuch wird mich ehren und erfreuen), da kann ich bei persönlicher Besprechung in meinem Bericht ausführlicher sein.“ (Stadtarchiv Bonn N 1985/1332, B. Klein, Bl. 9; dort Bl. 10 u. Bl. 14 weitere Briefe). Es musste behördlich vermerkt werden, dass das ihre freie Entscheidung sei (Stadtarchiv Bonn N 1985/1332, B. Klein, Bl. 18-20). – (Die Rückzahlung lag in Höhe von fast 20 Monatsmieten.)
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oder ein angenehmer Besuch. Und alle, alle denken sie treu meines Sohnes“.317 Mit wachsendem Abstand der Zeitgenossen vom Tode Peter Kleins und mit dem Wechsel des Vorstandes (1952) mag das anders geworden sein, aber man darf davon ausgehen, dass die Ordensschwestern sowie der auch 1958 noch tätige Hausarzt Kill ihr persönlich und positiv gegenübertraten. Frau Klein, die 1954 noch das Grab ihres Mannes und ihres Sohnes in Köln neu erworben (bzw. verlängert) hatte 318, starb am 4. Februar 1958, im Alter von 81 Jahren 319, in den Räumen des Collegium Leoninum.320 Sie wurde auf dem Bonner Nordfriedhof beigesetzt.321
Wissens- und Erinnerungsstränge: Zur Wahrnehmung der beiden Betroffenen durch die Nachwelt Als 1988, nach 30 Jahren, die Liegezeit/Belegungszeit des Grabes der Jüdin Berta Klein auf dem Bonner Nordfriedhof abgelaufen war, rief die Stadt Bonn öffentlich auf, es mögen sich evtl. Nahestehende melden. Als sich ———— 317
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An Frings (s.o.). – Ein solcher Vertrauter ihres Sohnes war der Repetent Schönartz, der sie 1946 bis 1952 gelegentlich auf ihrem Zimmer aufsuchte. Als Priester hatte er große Hochachtung vor dieser Frau, die akzeptierte, dass ihr einziger Sohn Priester wurde. Schönartz berichtet 1987, sie habe zeitlebens die Entscheidung ihres Sohnes zum christlich-katholischen Priesterberuf respektiert, aber er habe seinerseits nie einen Versuch gewagt, „das Thema einer etwaigen Taufe“ anzuschneiden („Frau Klein wußte diese Zurückhaltung bei diesem heiklen Thema zu schätzen“), was für einen Priester damals nicht leicht gewesen ist; dabei dürften auch der Respekt und die Scheu des Katholiken Schönartz vor einer der ganz wenigen Überlebenden des Massenmordes mitgespielt haben, einem Grauen, vor dem der christliche Volksteil, auch die Kirche, die jüdischen Opfer nicht hatte retten können. Aber auch eine tiefe Betroffenheit angesichts des in mehrfacher Hinsicht tragischen Schicksals von Peter Klein, dessen Angedenken er 1987 sichern wollte, wird im Bericht spürbar (dazu auch Anm. 9). Vgl. Anm. 41. – So kann man vermuten, dass sie das Grab ihres Sohnes auch persönlich besuchte. An altersbedingten Leiden („Kreislaufverfall, Altersschwäche, Cerebralsklerose“) im damals „überdurchschnittlichen Alter“. Versuche des vom Amtsgericht bestellten Nachlasspflegers, ein Sterbegeld zu bekommen, wurden abgelehnt, da ihre Leiden nicht ursächlich mit denen von 1945 zusammenhingen (Stadtarchiv Bonn, N 1985/1332, B. Klein, 18.3.58). Dazu auch eine (Wiedergutmachungs-)Akte bei der Bezirksregierung Düsseldorf (Bundeszentralkartei) (wie Anm. 225): Todesort und Todeszeit: 21.15 Uhr („Leichenschau“: Dr. Kill). Dort auch der Quellen-Hinweis, dass die Akten der „Privatkasse“ des Sohnes (wohl die Pax) bis einschl. 1943 vernichtet seien. – Erben konnten nicht ermittelt werden. (Frdl. Auskunft Amtsgericht Bonn). Standesamt Bonn, Sterberegister 327/1958 (Religion: israelitisch; wohnhaft Am Alten Friedhof 13); der Rendant des Leoninum (Glauner) zeigte den Sterbefall an (frdl. Auskunft: Landesarchiv NRW, Brühl, Ulrich Bartels). – Eine Todesanzeige findet sich in der Bonner Presse nicht. In Abt. 25, Nr. 258 (frdl. Hinweis: Dr. Norbert Schloßmacher [Stadtarchiv Bonn]). – Ob Frau Klein nach 1945 einmal Kontakte zur jüdischen Gemeinde in Bonn (die neue Synagoge entstand 1958) aufnahm, ließ sich über die Synagogengemeinde Bonn leider nicht ermitteln.
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zum Ablauf der Fristen niemand meldete, wurde die Grabstätte eingezogen. Auch in Köln war 1984 das Familiengrab nicht wiedererworben worden. – Überaus groß ist im Fall von Berta und Peter Klein die Diskrepanz zwischen der Ergiebigkeit der Quellen und dem Ausmaß des „Vergessens“. Dafür gibt es Gründe. Die Zeit des Schweigens in Deutschland: Während eine jüdische Exilzeitschrift schon im April 1945 das Überleben der Berta publik machte, wurde ihr Status als Jüdin von deutscher Seite rein amtlich behandelt. Außer in Wiedergutmachungsakten und im amtlichen Toteneintrag war, soweit bekannt, bis zu ihrem Tod niemals schriftlich bzw. offen von ihrer jüdischen Herkunft und Religion die Rede. In Deutschland mied man bekanntlich das Thema Judentum und Holocaust unwillkürlich. Auch die Chronik des Leoninum 1945 sagt lapidar: „Daneben beherbergte das Konvikt noch einige ausgebombte Zivilisten“ 322; – von einer Jüdin kein Ton. Die mangelnde Kontinuität der Institution „Collegium Leoninum“: Unter den genannten Umständen ist es nachvollziehbar, dass im „Leoninum“ selbst die Erinnerung nicht lange fortbestand. 1963 – in dem Jahr erschien der Böll-Roman „Ansichten eines Clowns“, in welchem das Leoninum eine wichtige Rolle spielt 323 – wechselte die Trägerschaft des Hauses an das Bistum Essen, später an das Bistum Aachen, deren Priesteramtskandidaten dort ausgebildet wurden. 1998 wurde es aufgelöst und dient heute, nach baulichen Umgestaltungen, als „Seniorenresidenz“ und „Hotel Collegium Leoninum“. Die Diskretion der helfend Verantwortlichen des Leoninum: Reckers starb – als Domkapitular – 1946. Sein Nachfolger Teusch war von 1952 bis 1969 Generalvikar und blieb auch bis zum Tode noch in hoher Amtsverantwortung. Es entsprach weder seinem persönlichen Stil noch den Erfordernissen der Amtsführung eines Generalvikars, über Einzelschicksale ———— 322
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AEK, NL Teusch 383. – Auch eine Chronik der Schwestern sagt nichts über die „Jüdin“ (Anm. 230 u.a.). Es erscheint dort als Hort verlogener bürgerlicher Moral, wobei der damals als gänzlich unzeitgemäß erscheinende neogotische Baustil Böll zur Wahl dieses Schauplatzes inspiriert haben könnte. Bölls Sekretär, Erich Kock, hatte den Auftrag, die nötigen Informationen zum Gebäude und seiner „klerikalen“ Nutzung verdeckt einzuholen (Erich Kock [Köln], dazu auch ein Brief Bölls in: AEK, NL Kock; K. erinnert sich [2011] aber nicht, je etwas über eine dort versteckte jüdische Frau gehört zu haben).
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„pro domo“ sich zu äußern. Er tat das weder in einer markanten Rede über die NS-Zeit anlässlich des Empfangs der Ehrendoktorwürde durch die Katholisch-Theologische Fakultät Bonn 1960, noch später gegenüber den Zeithistorikern.324 – Franz Groner (†1991) – als Repetent am dichtesten dabei – erzählte später „von der Rettung der jüdischen Frau“ einmal seiner Schwester 325 und mehrfach seinem Schüler Lothar Schneider in sehr zurückhaltender Weise, wobei beide bis 2011 nur fragmentarisches Wissen um den Fall besaßen. Groner hat das Ereignis, wohl zu Recht, als seine Handlung dargestellt.326 1979, bei einer Umfrage des Generalvikars zu Maßnahmen gegen Priester hat er den Sachverhalt nicht gemeldet, sicherlich weil er, der selbst keine Verfolgung erlitt, nicht in eigener Person hervortreten bzw. den Fall „heroisieren“ wollte. Schneider hat die „Tat-Sache“ 1987 in einer Festpredigt auf Groner benannt und 1988, ohne Beleg und ohne Namen, publiziert 327; so weist auch die ausführliche Todesanzeige der Fakultät 1991 das Verstecken „einer Jüdin“ aus.328 Diskretion der Bistumsleitung: Sowohl die Generalvikare David (†1953) und Teusch (†1976), als auch der Erzbischof Frings (†1978) wussten nachweislich von der Angelegenheit. Und ein Vermerk des Registrators im Generalvikariat, Baeumker (†1958), von 1953 329 zeigt, dass auch die Aktenführung das seit 1945 durch die ———— 324
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Derartige Hinweise hätte sein Schwager B. Wittschier in sicherlich dokumentiert (Hinweise W.s über versteckte Juden: AEK, Slg. WuV, Ordner 67; AEK, Joseph-Teusch-Werk). In W.s Unterlagen wurde bislang nichts zu Kleins gefunden. G. Kopps (Brühl). In ihrer Familie war der Sachverhalt daraufhin bekannt. G. Kopps, geb. Groner (Brühl), erinnert sich aktuell, dass ihr älterer Bruder zu ihr einmal in Distanz zu den Kritikern Pius’ XII. in etwa sagte, die Verantwortlichen im Vatikan hätten mit Sicherheit auch Juden versteckt gehalten, „so wie ich das einmal tun konnte“; aber das „hänge man nicht an die große Glocke ...“. Er habe das aber nie weiter konkretisiert; es sei kein Thema gewesen. Frau Kopps wusste 2011 trotz klarer Erinnerung nur, dass es sich im Leoninum abspielte; von einem Priester als Sohn der „Jüdin“ war ihr nichts bekannt. Groner hatte also nur Andeutungen gemacht, was (so G. Kopps Tochter Haegi-Kopps [Schweiz]) zu seiner Persönlichkeit passte. Frau Kopps verstand das so, dass es Groner war, der „die Sache in der Hand hatte“, nicht der Direktor, und dass ihr Bruder eher Schwierigkeiten von seinem „Chef “ fernhalten wollte. „Schon bald leitet er [Groner] stellvertretend ein Haus, in dem [...] Menschen sich auf diesen Weg [zum Priestertum] vorbereiten [...]. Der Wind der Diktatur wird zum Sturm. Todesstrafe, wer eine Jüdin versteckt hält. Er wagt es und rettet eine Frau vor den Gaskammern.“ (Lothar Schneider, Soziale Vernetzung, Regensburg 1988, S. 47). – Zur Predigt frdl. Mitteilung: Prof. Dr. Lothar Schneider. „1943 ging er als Repetent an das Collegium Leoninum in Bonn. Dort konnte er eine Jüdin vor dem Zugriff der nationalsozialistischen Schergen verbergen.“ (AEK, Slg. Personalia). Auf der Rückseite jenes Fotos, das Berta Klein am 31.12.45 an David gesandt hatte: „Bild von Peter Klein, Sohn von Peter Klein und Berta Abramowitsch aus Litauen (wohl Ponewjesch), jüdischen
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Dankbriefe verschriftlichte Wissen klar dokumentierte. Die Amtssphäre gebietet Schutz für persönliche Daten. Später, als seit den 1970er Jahren die ersten zeitgeschichtlichen Forschungen einsetzten, rechnete offenbar niemand mit solch’ deutlichen Spuren in Akten. Teusch selbst – und mit ihm sein Schwager Wittschier – dürften auch gewusst haben: Wenn andere Fälle von „Judenhilfe“ sich dazu eigneten, ein klares Licht auf den mutigen Widerstand der Kirche in der NS-Zeit zu werfen, so war dieser sehr spezielle Fall der Mutter eines Priesters dazu wohl weniger geeignet. Amtsträger des Leoninum nach 1945: Wilhelm Schönartz, der 1943 Kleins Hilfsanfrage um eine verdeckte Unterbringung seiner Mutter hatte ablehnen müssen, kannte Frau Klein aus der Zeit als Repetent 1946/52 und hatte sie „verschiedentlich [...] in ihrem Zimmer besucht“ und dabei „mit ihr über ihren Sohn“ gesprochen. Offenbar angeregt zunächst durch Hans Böhner, dann erneut durch Gespräche mit dem Leiter des Historischen Archivs des Erzbistums, in welchem Klein ja einige Jahre Mitarbeiter gewesen war, verfasste er 1987, kurz vor dem Tod, einen ausführlichen fast vermächtnisartigen Bericht mit dem Ziel, das Gedächtnis an den Priester Peter Klein und seine Mutter zu bewahren.330 Ehemalige Priesteramtskandidaten des Leoninum, priesterliche Bekannte von Peter Klein und andere Mitwisser: Im Leoninum selbst war es in den Jahren seit 1945 einigen Theologiestudenten 331 bekannt, dass eine Jüdin versteckt worden sei; das bedeutet aber nicht, dass ihnen die Mitbewohnerin Berta Klein als solche ein Begriff gewesen wäre. Andere Theologen hatten nie davon gehört. So verwundert es nicht, dass im Hause unter Teuschs Nachfolger das Wissen nicht tradiert wurde. – ————
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Glaubens, die mit Erlaubnis des Herrn Generalvikars sich nach Vernichtung des Hauses Mohrenstraße 18 in Köln (29.6.1943) im Collegium Leoninum verborgen hielt und heute noch dort lebt. K[öln], den 7.5.53. B.“ (AEK, Gen. II 8.4, 1a). Mit dem Bericht (Anm. 9) übergab er ein Kruzifix, dem er eine Notiz (maschinenschriftlich) beifügte: „Dieses Kreuz stammt aus dem Nachlaß des Kölner Diözesanpriesters Peter Klein, geboren am 31. Januar 1912, gestorben am 11. Mai 1944, Assistent am „Historischen Archiv des Erzbistums Köln“. Seine Mutter war Jüdin und ist bis zu ihrem Tode ihrem mosaischen Glauben treu geblieben. Zugleich respektierte sie den Glauben und die Berufung ihres Sohnes zum Priestertum. Dieses Kreuz war Ausdruck des Glaubens ihres Sohnes und des Respekts vor den entscheidenden Entschlüssen seines Lebens. Dieses Kreuz in den Räumen des „Historischen Archivs“ möge die Erinnerung an Peter Klein und die grundlegenden Entscheidungen seines Lebens für immer lebendig halten.“ (Durch die Hand des Archivleiters ergänzt: „[Prälat Wilhelm Schönartz]. Mai 1987“). Darunter H. G. Saul (im Leoninum seit 1948): Über das Thema sei nur am Rande gesprochen worden; es sei im Konvikt sogar kolportiert worden, Teusch selber sei Halbjude.
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Auch für die vielen Mitwisser der Jahre im Versteck war der Fall bis zum Tode Berta Kleins kein Thema mehr; die sehr wenigen heute noch lebenden 332 direkten Zeitzeugen haben darüber offenbar kaum jemals gesprochen; sie waren dazu nie befragt worden. Heimatpfarrei, Gymnasium Kreuzgasse und Bund Neudeutschland: Bedingt wohl durch die nur geringe Integration der Familie Klein in das pfarrliche Leben hielt sich an St. Agnes im Wesentlichen die Erinnerung an den 1944 verunglückten halbjüdischen Primiz-Priester, doch hat dort 1945, direkt nach dem Krieg, jedenfalls kein Jahresgedächtnis stattgefunden.333 Auch in den Erinnerungen der Alt-NDer, die u.a. seit den 1970er/80er Jahren die Vergangenheit wieder auffrischten, kommt Klein manchmal punktuell vor. Er war einige Jahre älter und in den identifikationsmächtigen Jahren 1933 bis 1939 wohl kaum mehr aktiv mit dabei. Herumgesprochen hatte sich sein tragischer Tod. Freilich hatten gerade aus den entsprechenden Jahrgängen der ND-Gruppen viele Personen auch ihr Leben im Krieg lassen müssen.334 Private Erinnerungen (Familie Hausen): Die enge Verbindung der Witwe Anna Hausen – 1945 erst 30 Jahre alt – zu Berta waren mit dem Tode von Peter Klein und Willi Hausen zeitweilig abgebrochen.335 Man besuchte sich noch mindestens einmal.336 Mit den Kindern hat Anna jedoch regelmäßig das Grab von Peter Klein auf dem ———— 332
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Darunter (s.o. mit Anm. 260) der Kommunitätssenior Wilhelm Moll (geb. 1922), von 1943-1944 drei Semester im Leoninum als Sprecher der Studenten. – Prof. Dr. Hans Jorissen (1943-1944 zwei Semester im Leoninum). Frdl. Hinweis: Werner Teske (Köln, St. Agnes). Obwohl H. Decker sehr aktiv Pfarrdokumentation betrieb, konnte er in der Pfarrei später kaum noch Spuren der Erinnerung an die Kleins finden. Eine Zeitzeugenerhebung durch Dr. Franz Werner Witte im Auftrag des Stadtdekanates Köln zum Thema „Katholische Jugend in Köln“ ergab in einem Interview eine persönliche Stimme über Peter Klein und seine Mutter seit den 1930er Jahren (s.o.). Da Dr. Witte seine Unterlagen nicht veröffentlichte, wurden die Angaben erst bei der Archivierung und genauen Erschließung 2010 bekannt. Bald nach dem Krieg bekam Anna einen langen Dankbrief von Berta Klein, welcher bis 1987 existierte. Adelheid, die Tochter von Anna, erinnert sich, den Brief kurz nach dem Tode der Mutter gelesen zu haben. Er sei mehrseitig, persönlich und dankbar gewesen (Dank besonders für eine Strickjacke, die über den Winter geholfen hatte). Frau Hausen habe den Brief damals mit anderen unsortierten Briefen von Freunden und Bekannten usw. vernichtet; sie wollte zunächst nur die gut sortierten Briefe der Eltern untereinander verwahren. Zufällig (wegen anderem Verwahrort) blieben aber die Briefe von Peter Klein erhalten. Der 1942 geborene Sohn Johannes erinnert sich, dass seine Mutter, als er noch klein war, mit der 1944 geborenen Schwester Adelheid auf Besuch in Bonn bei Frau Klein war; man vermutet 1947/48.
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Kölner Melatenfriedhof aufgesucht, auf dem seit 1946 auch ihre Mutter beigesetzt war. Vom Tod der Berta Klein in Bonn erfuhren die Hausens aber nichts. Erst die „Wiederentdeckung“ der väterlichen sowie die „Neuentdeckung“ der ausführlicheren mütterlichen Briefe 1987 schufen neues Bewusstsein für die jüdischen Freunde der Eltern. Zeitzeugenaktion des Kölner Generalvikars 1979: Auf eine Umfrage des Kölner Generalvikars zu Maßnahmen, die in der NSZeit gegen Priester erfolgten, vermeldeten zwei Priester auch den Fall Klein: Hans Böhner meldete den Vorgang mit dem – wie man heute erst weiß – zutreffenden Hinweis „wahrscheinlich bereits im GV bekannt und dort aktenkundig“ in knappen Zügen sehr präzise, v.a. seinen Anteil an der Unterbringung Kleins in der Klosterstr. in Köln.337 Zu den Vorgängen im Leoninum verwies er auf Schönartz, der aber erst später etwas dazu zu Papier brachte. Nur noch ein weiterer Einsender wies auf den Fall Klein hin: Dr. Johannes Artz 338, 1943 bis 1946 Seelsorger in Oberkassel (am Rhein gegenüber von Bad Godesberg) und mit Klein von der Priesterausbildung her bekannt. Das Historische Archiv des Erzbistums Köln: Im Archiv kannte man Klein als Mitarbeiter, aber der Vorgang war – wohl auch aufgrund der kriegsbedingten Zäsur – anscheinend kein besonderes Thema.339 Außer den wenigen Angaben von 1979 erfuhren erst Karl-Heinz Tekath (in den 1980er Jahren via Böhner) und der Leiter, Dr. Toni Diederich (vor 1987 über den Bibliotheksleiter Schönartz), Näheres von den Ereignissen um den tragisch verstorbenen früheren Archivkollegen. 1987 wurden die Berichte Schönartz’ und Hinweise Böhners der im Lesesaal öffentlich aufgestellten „Sammlung Personalia“ beigefügt. Die neuen Hinweise in ———— 337
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AEK, Slg. NS 90/2, 17. Böhner wandte sich ferner 1983 mit einem Einwand an den Bistumshistoriker Hegel, es sei doch bei der Gestapo bekannt gewesen, dass im Leoninum eine Jüdin wohnte (s.o.). Johannes Artz, Dr. Dr. (1907-1980), 1932 Promotion, 1935 Priesterweihe, 1935 Kaplan in Oberkassel, seit 1943 (Mai) auch Krankenhauspfarrer am Johanneshospital in Oberkassel, 1942/43 alleinige Leitung der Pfarrei, 1946 (Juni) Religionslehrer am Beethovengymnasium in Bonn, 1952 Religionslehrer am Aloysiuskolleg in Bad Godesberg. – Er verwies auf die Hilfe Teuschs für Frau Klein (AEK, Slg. NS 90/2, 6). Artz’ Brief war 2011 im AEK nicht konkret auffindbar. Obschon der Archivmitarbeiter Hans Neumann († 1975) seit Sommer 1943 im Leoninum gewesen zu sein scheint (AEK, Leoninum, Ordner 10). – Kleins Vorgesetzter Dr. Lohmann starb 1952; die späteren Leiter Dr. Haaß und Msgr. Walter (Schlesier) sind offenbar nicht näher mit Klein bekannt gewesen.
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den 2009 archivierten Briefen des Nachlasses Hausen ermunterten den in dem Archiv wirkenden Autor dieses Beitrags, das Thema aufzugreifen. Zeitgeschichtsforscher im Erzbistum: In wissenschaftlichen Publikationen haben Eduard Hegel und Norbert Trippen – sie waren auf die verfügbaren 340 Quellen angewiesen – wie eingangs beschrieben, die Angelegenheit als mutige Tat des Direktors Teusch angesprochen, zu dessen Naturell ein solcher Akt passte. Von der weiterreichenden Dimension wussten die Forscher offenbar nicht. Die bereits 1977 erschienene maßgebende Arbeit von Ulrich von Hehl über das Erzbistum Köln in der NS-Zeit enthält noch keinen Hinweis.341 Dokumentation des Holocaust (NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln u.a.): Für die Dokumentation von Deportation und Mord an der jüdischen Bevölkerung sind, wie erwähnt, insbesondere seit den 1980er Jahren Gedenkbücher und -listen entstanden, die sich heute vielfach auch „online“ finden. Zu nennen ist das Gedenkbuch, welches das Bundesarchiv zusammen mit dem internationalen Suchdienst (Bad Arolsen) erstellt hat, ferner das 1995 abgeschlossene Gedenkbuch zur Erinnerung an die jüdischen Opfer in der Großstadt Köln sowie die Liste der zentralen Gedenkstätte des Judentums in Yad Vashem. Sie alle schöpften zu Klein offenbar direkt oder indirekt von den knappen Daten des erwähnten Vermögenserstattungsverfahrens zwischen dem Jewish Trust und dem deutschen Staat 1948/54. Folgerichtig kommen bzw. kamen sie zu dem Schluss, Berta Klein sei deportiert und ermordet worden.342 – In allerjüngster Zeit erst sind die verschiedenen Wiedergutmachungsakten und die Bestände des ITS Bad Arolsen für Forscher zugänglich. ———— 340
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Weder die „Hausenbriefe“ noch die damals für Wissenschaftler unzugänglichen Wiedergutmachungsakten waren verfügbar, die Akten der Priester-Personalverwaltung offenbar (vor-archivisch) nicht erreichbar. Für die später entstandenen umfangreicheren Publikationen zur Bistumsgeschichte (z.B. Trippen, Frings I [wie Anm. 154]) war die Information sicherlich zu punktuell und zu wenig abgesichert. – Auch das Archiv war bei den Zwangsarbeiterermittlungen 2000/04 auf die schriftlichen Quellen 1939-45 (inkl. der AOK- und der städtischen Meldelisten) konzentriert und konnte daher in dem Fall zum Leoninum auf keine Spur stoßen. Aus den Kölner OFD-Akten. – Das Bundesarchiv hat die Aktualisierung der Angaben zu Berta Klein inzwischen veranlasst (Hinweis von Nicolai M. Zimmermann, Referat R 1, Berlin, vom 18.1.2011). Die Kölner Liste wird wegen des Aufwandes nicht aktuell weitergepflegt. Der Yad Vashem Gedenkstätte wird der Autor den Sachverhalt übermitteln.
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Fazit Der in vieler Hinsicht ungewöhnliche Fall zeigt, dass neben den seinerzeit zweifellos diffus virulenten antijudaistischen Tendenzen doch auch jüdische Menschen jederzeit von Christen mit Respekt und Wertschätzung gesehen werden konnten und gesehen wurden. Dabei war nicht die Frage einer Konversion zur katholischen Kirche entscheidend. Auf andere Weise als gewöhnlich, ist im vorliegenden Fall die reale familiäre Nähe zwischen der halb jüdischen Familie Klein und den katholischen Kreisen um den priesterlichen Sohn Peter Klein für den Fall von zentraler Bedeutung. Die Nähe zur amtlichen Spitze des Erzbistums bot schließlich, als andere Auswege nicht mehr bestanden, „unbürokratischen“ und in gewissem Sinne „institutionellen“ Schutz, den man der Mutter eines Priesters nicht verwehrte. Trotzdem wäre ohne die „Ausbombung“ im Juni 1943 in Köln offenbar keinerlei wirksame Hilfe möglich gewesen. Peter Klein, der eigentliche Retter seiner Mutter Berta, war ein zunächst sehr ambitionierter Priester(kandidat), dem gegenüber man sicherlich auch ein gewisses Maß an Beschämung verspürt haben dürfte, weil er durch seine Abstammung sozusagen „gebremst“ wurde und niemand in der Zeit imstande war, ihn vor solcherart Diskriminierung und Menschenunwürdigkeit zu bewahren. Der Fall von Peter und Berta Klein zeigt, dass in der NS-Zeit viele christliche, katholisch geprägte Menschen – Priester und Laien – als Beschützer, als aktive Mitwisser oder Mithelfer Unrecht als solches verspürten und Mut zeigten, wo es ihnen möglich war. Insofern steht der Fall teilweise auch für andere bisher kaum fassbare Hilfstaten in den langen Jahren bis 1945, wobei ein und derselbe Helfer in einem Fall von persönlicher Herausforderung „scheuen“, in einem anderen Mut zeigen konnte. Der Fall verdeutlicht auch exemplarisch wie kirchlich Verantwortliche – die Bistumsleitung – (1943/44) recht genau im Bilde waren über die Bedrückung der Juden. Vor dem Hintergrund wird das allenthalben bestehende Dilemma deutlich, in dem die bischöflich Verantwortlichen sich in der NS-Zeit zunehmend sahen, einerseits nicht völlig schweigend, aber andererseits in ihrer Eigenwahrnehmung doch nur mit geringen Möglichkeiten ausgestattet, um das Unmenschliche spürbar zu verhindern, das sich außerhalb des engeren kirchlichen Wirkungs- und Zuständigkeitsbereiches vollzog. Insofern mögen Fälle wie dieser den Betroffenen in der Rückschau nicht besonders bedeutend gewesen zu sein. Heute darf aber das individuelle risikoreiche Handeln von verschiedenen Menschen im Fall der Berta Klein 1943-1945 ins Bewusstsein gerufen werden als
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Teil der Geschichte der Juden in Köln und in Bonn, aber auch der Kirche in dieser schwierigen Zeit.
Quellenanhang: Brief der Jüdin Berta Klein an Josef Kardinal Frings (1946) Bonn, 1. August 1946 343 Eminenz! Ich weiß, ich darf es nicht, aber ich wage es doch. Kenne ich doch aus dem Munde meines geliebten, unvergessenen Sohnes (des tödlich verunglückten Kaplan[s] Peter Klein, Assistent am Diözesan-Archiv, Köln), der mir alles, alles erzählte, kenne ich doch von Ihrer Güte, Ihrer grenzenlosen Güte. Ich höre es auch von anderen und – darauf baue ich mein Vertrauen auf Ihr gütiges Verzeihen und Vergeben meiner Schuld. Schon längst wollte ich Ihnen, hochwürdigster Herr Erzbischof, meinen heißesten und aufrichtigsten Dank aussprechen für Ihre tröstenden, gütigen Worte, als mich das große Leid traf, wo mein heißgeliebter, unvergesslicher Sohn in der Blüte seiner Jugend, in der Fülle des Lebens und Schaffens, in so tragischer Weise dahingeschieden ist. Damals durfte ich ja nicht schreiben. Damals, in der bösen Kriegs- und Nazizeit, mußte ich mich ja verborgen halten. Und mein geliebter Sohn fand einen Ausweg: „Liebe Mama, ich will Dich in Sicherheit bringen“, waren seine sorgenden Worte und er brachte mich in sein geliebtes Leoninum, wo seinerzeit der Hochwürdigste Herr Direktor Reckers uns sehr freundlich aufgenommen hat. Wo noch heute, Dank Ihrer Güte, Eminenz, ich ein freundliches Obdach habe und allseits viel viel Liebe genieße. Angefangen vom hochw. Herrn Direktor Teusch und Dr. Groner, so auch von den Schwestern. Großen Dank schulde ich noch dem Hochwürdigsten Herrn Generalvikar David. – Haben Sie, Eminenz, meinen innigsten Dank für Ihr Wohlwollen und Schutz, auch Duldsamkeit. Der Segen Gottes wird nicht ausbleiben, das betet mein Kind und – auch ich. – Hochwürdigster Herr Erzbischof! ———— 343
10 Seiten (Din A 5) eigenhändig. – Anrede: Seiner Eminenz dem Hochwürdigsten Herrn Kardinal Frings, Erzbischof von Köln. – Eingangsstempel (Erzbischöfl. Sekretariat): 6.8.46. – Späterer Vermerk des Registrators: Ein ausführliches Dankschreiben von Frau B. Klein, Bonn. Leoninum. – Zusatzvermerk des Registrators: Berta Abramowitsch. – Das Schreiben ist auch im Posteingangsbuch des Erzbischöfl. Sekretariates unter 6.8.46 vermerkt mit „Bonn, Frau B. Klein: Dank“; eine schriftliche Antwort ist danach nicht ergangen (AEK Gen. II 8.4, 1a; AEK, Erzbischöfl. Sekr. [Zug. 552], Nr. 1).
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Wenn ich mich heute zum Schreiben doch entschlossen habe, so ist noch ein zweiter Grund dabei. Da ich in der Hinterlassenschaft meines geliebten Sohnes immer blättere, so fand ich Folgendes in einem Briefe an einen hiesigen Theologen, welcher mir der Betreffende liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellt hat und welchen ich dann abgeschrieben habe. Sie gestatten, Eminenz? – Eine Antwort des Briefes an Herrn Hans Werres, vom 24.8.1943 „Am 12. Aug[ust] erhielt ich Deinen l[ieben] Gruß zum Namenstag vom 27. Juni. Ja, inzwischen hat sich allerhand ereignet. Mohrenstr. 18 ist ein Rauch [!] der Flammen geworden in der Schreckensnacht vor meinem Namenstag. Meine l[iebe] Mutter und ich sind mit dem 344 Leben davon gekommen. Gott sei gedankt. All’ unsere Habe bis auf ganz weniges wurde vernichtet: Möbel, Kleidungsstücke, Bücher – alles. Es begann die schwierige Aufgabe der Wohnungssuche. Nach allerhand ‚Irrfahrten‘ kamen wir am 9. Juli hier im Leoninum unter, in dem Johann Sodemann und ich, und noch manch andere Lichtgestalt der Kölner Kirche den hohen Studien oblag. Ja, das hätte ich nicht gedacht, als ich Ostern 1934 des Leoninum mit dem Schlußexamen verließ, daß ich nach rund 10 Jahren als wohnungssuchender Obdachloser wieder an seine Pforte klopfen mußte ... Aber ich danke Gott, daß er uns hierher geführt hat. Es war ein eigenartig ‚wohliges‘ Gefühl für mich, als ich am Abend des 9. Juli nach den Mühen der Wohnungssuche meine Mutter und mich hier untergebracht wußte und nach dem Abendbrot in der altvertrauten Kapelle mit den hier anwesenden 20 Theologiestudierenden wie unter ‚jüngeren Brüdern‘ am Abendgebet teilnehmen konnte ... Mein Archiv ist völlig ausgebrannt. Im Vorderbau fanden Domkapellmeister Prof. Mölders u[nd] ein anderer Geistlicher unter den Trümmern den Tod. Im Keller des Erzbischofs wurden zwei Ordensschwestern getötet. Unser Erzbischof hat sich auch in der Schreckensnacht wieder in seiner tatkräftigen, frischen zupackenden Art bewährt. Er beteiligte sich an den Löscharbeiten und spendete einem oder mehreren Sterbenden im Krankenhaus die hl. Ölung. Das Palais ist bis zur Unkenntlichkeit zerstört und der Erzbischof wohnt z. Zt. in Honnef, wo auch ein Teil des Generalvikariates hingezogen ist.“ – Eminenz! So bin ich zu Ende und ich bitte Sie, Hochwürdigster Herr Erzbischof, noch und nochmals, mir gütigst verzeihen zu wollen. Mein heißgeliebter Sohn hat meine Freiheit, um die er sich so gesorgt hat, nicht mehr erlebt. Auch hätte er bestimmt an manchem Aufbau Freude gehabt. Die Kirche, ———— 344
Es folgt gestrichen: „Schrecken“.
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seine Kirche lebt wieder auf und „Neues Leben blüht aus den Ruinen“. Meine Trauer ist grenzenlos. – Ich glaube aber doch, daß mein Sohn über mich wacht und daß der liebe allmächtige Gott mich auch nicht verläßt. Fast jeden Tag erlebe ich eine Freude: da ein lieber Brief oder ein angenehmer Besuch. Und alle, alle denken sie treu meines geliebten Sohnes. – Eminenz! Ich empfehle mich Ihnen gehorsamst und bitte Sie noch und nochmals um Verzeihung, daß ich Ihre kostbare Zeit so in Anspruch genommen habe. Ihrer Güte immer gedenkend, Ihnen, Hochwürdigster Herr Erzbischof, solange ich lebe, immer dankbar, zeichne ich in Demut, Frau B[erta] Klein
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Wichtigste Lebensstationen von Berta und Peter Klein 1876
Geburt der Jüdin Berta Abramowitsch in Litauen
1910
Berta (Sängerin) heiratet in Köln den Katholiken Peter Klein (geb. 1880 in Dortmund)
1912
Geburt des einzigen Sohns Peter
1924
Tod des Mannes/Vaters – ca. 1915-24 Kölner Filialleiter einer großen Maschinenfirma – an Herzschlag
1930
Abitur Peter Kleins in Köln
1930-1936 Priesterausbildung in Bonn und Bensberg 1936
Priesterweihe in Köln – als „Halbjude“ Assistent beim Generalvikariat
1937
zugleich Seelsorger (Subsidiar) in Köln-Bickendorf – Zielscheibe von Agitation
1938
Versetzung vom Generalvikariat als Assistent ins Histor. Archiv des Erzbistums
1939
Abberufung aus Bickendorf – Gestapoverhör – Auswanderungsversuch nach Belgien
1940
Militärdienst in Breslau als „Halbjude“ – als „wehrunwürdig“ entlassen
1940-1944 verschiedene Seelsorgeaushilfen 1943
unmittelbar bevorstehende Deportation der Berta Klein nach Theresienstadt – Flucht aus Köln (29.6.) – Unterbringung als Ausgebombte im Collegium Leonium, Bonn (9.7.) – Aufenthalt in mehreren Verstecken – feste (verdeckte) Aufnahme ins Collegium Leonium (nach 5.11.)
1944
Tod Peter Kleins durch Verkehrsunfall (11.5.) (Beisetzung in Köln)
1944/45
Einquartierung Bertas in ein anderes Versteck
1945
Befreiung Bertas – Verbleib im Collegium Leonium
1946/47
Anerkennung als NS-Verfolgte in Bonn
1958
Tod Berta Kleins als Jüdin (Beisetzung in Bonn)
Der Katholische Gefängnisverein in Düsseldorf und seine interkonfessionelle Vorgeschichte von Norbert Henrichs
Anlässlich verschiedener Gründungsjubiläen hat der „Katholische Gefängnisverein Düsseldorf (gegründet 1893) e.V.“ für Mitglieder und Öffentlichkeit wiederholt seine Entwicklungsgeschichte dargestellt und in diesen Berichten 1 – allerdings immer nur mit wenigen Bemerkungen – auf tiefe Wurzeln verwiesen, die weit hinter das Gründungsjahr zurück bis in die Anfänge der rheinischen Gefängnisreform in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts hineinreichen. Dieser Vorgeschichte nähere Aufmerksamkeit zu schenken, erscheint aber lohnend, weil dabei eine Entwicklungsphase – zum Teil interkonfessionell angelegter – christlicher Sozialarbeit in den Blick kommt, in der sich philanthropische Ideale der Aufklärung mit einer am Evangelium orientierten Fürsorge für gesellschaftliche Randgruppen verbanden. Am Anfang dieser Entwicklungen steht der evangelische Pfarrer Theodor Fliedner (1800-1864), der charismatische Gründer des bis heute bedeutenden und weltweit wirksamen Diakoniewerkes in (Düsseldorf-) Kaiserswerth.2 Als er hier im Januar 1822 seine Pfarrstelle antrat, fand er in dem kleinen niederrheinischen Städtchen eine aus nur wenigen Familien bestehende mittellose evangelische Diasporagemeinde vor. Die tödliche Krise, die die heimische Seidenweberei durch die von Napoleon I. verhängte Kontinentalsperre getroffen hatte, nahm der Gemeinde die Sponsoren, von denen sie völlig abhängig gewesen war. Zeitaufwändige sog. Kollektenreisen in das Bergische Land bzw. an den Niederrhein waren da die einzige Möglichkeit Mittel zu beschaffen. Die evangelischen Pfarrer sahen sich dazu ge———— 1
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Ohne Verf.(Gefängnispfarrer Fassbender): 25 jähriges Wirken des katholischen Gefängnisvereins in Düsseldorf, Typoskript, 10 S., Archiv des Katholischen Gefängnisvereins Düsseldorf (KGV). Ohne Verf.(Landgerichtsdirektor Dr. Thywissen): Überblick über die Tätigkeit des kath. GefängnisVereins während der 45 Jahre seines Bestehens, erstattet vom Vorsitzenden in der Schlusssitzung vom 16.1.1939, Typoskript, 9 S., Archiv des KGV P. Edelbert Rüber S.J.: Von der Gründung des Kath. Gefängnisvereins bis heute, in: 100 Jahre Kath. Gefängnisverein Düsseldorf 1893 - 1993, Festschrift zum 100jährigen Jubiläum, S. 5- 8; P. Edelbert Rüber S.J. – Erwin Trenz, Sozialarbeiter: Von der Gründung des katholischen Gefängnisvereins bis heute, in Ulmer Echo, Gefangenenmagazin aus der JVA Düsseldorf Ulmer Höh‘, 29 (2003) 4, S. 4-6 Diese Fassung ist auch im Internet zugänglich unter: www.ulmerecho.de. Vgl. zum folgenden Gerhardt, Martin: Theodor Fliedner. Ein Lebensbild, Verlag der Buchhandlung der Diakonissenanstalt Düsseldorf-Kaiserswerth, 1933, Bd. I, Kap. 4.
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zwungen, nicht zuletzt der eigenen Existenzsicherung wegen. Kaum einen hielt es deshalb lange in Kaiserswerth. Fliedner war in derselben Situation wie seine Vorgänger: Auch auf seinem Programm standen bald Kollektenreisen. In der Hoffnung auf bessere Erträge, als sie in der näheren Umgebung zu gewinnen waren, entschloss er sich im zweiten Jahr seiner Tätigkeit, nach gründlicher Vorbereitung und reich mit Empfehlungen ausgestattet, zu einem Schritt über die Landesgrenze hinweg in die Niederlande und schließlich sogar über den Kanal nach England zu gehen. Als er von dort nach vierzehnmonatiger Abwesenheit von seiner Gemeinde (!) im August 1824 nach Kaiserswerth zurückkehrte, brachte er tatsächlich eine ansehnliche Summe Geldes mit nach Hause, mit der er seine Gemeinde auf sichere wirtschaftliche Füße stellen konnte. Doch war der Ertrag der Reise ein noch sehr viel bedeutenderer. Fliedner hatte im Ausland vor allem aus den zahlreichen Begegnungen mit Kirchenmännern und einflussreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Einsichten gewonnen und Anstöße erhalten, die für ihn lebensbestimmend werden sollten und Geschichte schrieben. Besonders nachhaltige Einblicke boten ihm neue kirchlich-caritative Bewegungen, die er vorfand. Im Gefolge des seinerzeit aktuellen politischen Kolonialismus entstanden zahlreiche kirchliche Missionswerke und verbreitete sich eine sie fördernde Missionsbegeisterung. Der Missionsgedanke schärfte aber bald auch den Blick nach innen und entdeckte Missionsbedarf in der (heimischen) Kirche selbst. So entwickelte sich als Komplement zur „Heidenmission“ eine „Innere Mission“ als Erweckungsbewegung, die sich nicht nur in spezifischen Bekenntnisformen äußerte, sondern eine vielfältige praktische Fürsorgetätigkeit an Armen und Hilfsbedürftigen, an Benachteiligten und überhaupt an gesellschaftlichen Randgruppen, d.h. nicht zuletzt auch an Strafgefangenen entfaltete. Hierzu kam subsidiär eine Bibelbewegung, die Bibelverbreitung und Schriftlesung förderte, um die Erweckungsbewegung auf den biblischen Offenbarungsglauben festzulegen, sie damit einerseits von magisch-mystischen Tendenzen freizuhalten und andererseits gegenüber einem liberal-rationalistischen, humanistischen Zeitgeist zu immunisieren, der als Frucht der Aufklärung in den vielerorts gegründeten Vereinigungen von „Menschenfreunden“ Initiierung wie Betreuung von Fürsorgeeinrichtungen und -Aktionen motivierte. Fliedner nahm diese Zusammenhänge aufmerksam wahr. Da ihn „Randgruppen-Seelsorge“ schon immer interessiert hatte, wollte er dabei „ganz unten“ anfangen und begann deshalb das Gefängniswesen zu studieren. Hier lernte er neue, sich eben entwickelnde Formen des Strafvollzuges und
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der Gefängnisseelsorge kennen und gewann damit die stärksten Eindrücke, die er von seiner Reise mitbrachte. In den Niederlanden war der Kaiserswerther Pfarrer mit einer erst kürzlich gegründeten Gesellschaft zur „sittlichen Besserung von Gefangenen“ („Nederlandsch Genootschap tot zedelijke verbetering der gevangenen“) in Verbindung gekommen. Sie stand unter dem Patronat des in zahlreichen Wohlfahrtseinrichtungen tätigen, zeitweiligen Außenministers Graf Gijsbert K. van Hogendorp (1762-1834) 3 und setzte sich für einen Paradigmenwechsel im Strafverständnis und damit auch für entsprechende Änderungen im Strafvollzug ein. So verwarf sie die im Strafwesen bislang allgemein vorherrschende Abschreckungstheorie, also die Vorstellung, nur durch ein hohes Strafmaß und durch harte Strafmaßnahmen während der Haftdauer nach der Verbüßung und Strafentlassung die Anzahl von Rückfällen reduzieren zu können. Die neue Gesellschaft verfolgte ebenfalls die Minderung der Rückfallquote, doch – wie ihr Name erkennen ließ – mit einem Strafverständnis, das die sittliche Erziehung und Besserung der Straftäter zum Ziel hatte, die Gefängnisinsassen deshalb während ihrer Strafhaft entsprechend begleitete und ihnen durch geeignete Maßnahmen nach der Entlassung zu einer erfolgreichen Rückkehr und Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu verhelfen suchte. Als Muster für ähnliche solcher sog. „Gefängnisvereine“, die zu Beginn des 19. Jh. in Europa entstanden, wird meist die bereits 1776 durch Richard Whister 4 in den USA ins Leben gerufene „Philadelphia Society for Assisting distressed Prisoners“ angesehen. Ihre Absicht war explizit, (mittellose) entlassene Strafgefangene möglichst bald wieder oder überhaupt in die Gesellschaft und zumal in das Erwerbsleben einzugliedern, um sie so aussichtsreicher vor Rückfällen zu bewahren. Fliedner war beeindruckt. Was er in Amsterdam zunächst nur beiläufig seiner Predigttätigkeit kennengelernt hatte, drängte sich ihm schnell als ein höchst beachtenswertes und auch nachahmenswertes Sozialkonzept ins Bewusstsein, das er mit nach Hause bringen musste. Er sah deshalb genauer hin und entdeckte, dass diese und andere sozial-caritativen Einrichtungen und Stiftungen, mit denen er hier im Nachbarland bekannt wurde, allerdings nur dann und nur deshalb wirklich wirkungsvoll zu arbeiteten vermochten, wenn und weil sie wohlorganisiert waren und wenn und weil zugleich einflussreiche und zahlungskräftige Persönlichkeiten als Mitglieder hinter ihnen standen. Das gab seiner spontanen Idee, nach seiner Rückkehr zu Hause ———— 3 4
Gerhardt, a.a.O., Bd. I., S. 123; 144ff. (Nachweise S. 435f.). Artikel. „Gefängniswesen“, Abschnitt V: Fürsorge für entlassene Sträflinge, Gefängnisvereine, in: Meyer’s großes Konversationslexikon, 6. Aufl., Leipzig u. Wien 1909, Spalte 438ff.
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eine ähnliche Vereinsgründung zu wagen, bereits in Holland klare und feste Konturen. Freilich war ihm, dem Gemeindepfarrer und Seelsorger, aber auch aufgefallen, dass sich diese Einrichtungen, die in Holland außerkirchliche Einrichtungen waren, allein dem liberalen Humanitätsideal der Aufklärung verdankten, ihnen daher eine christlich religiöse Begründung weitestgehend fehlte und folglich eine religiöse Betreuung und Erziehung in der Gefangenenbetreuung so gut wie gar keine Rolle spielte. Damit wollte und konnte Fliedner nicht zufrieden sein. Doch eben das, was er da in Holland vermisste, fand er dann im weiteren Verlauf seiner Reise in England. Hier kam Fliedner, weil inzwischen entsprechend motiviert, auf eigene Initiative noch stärker als in den Niederlanden mit dem Gefängniswesen und mit dort ebenfalls laufenden Reformbemühungen in Berührung. Durch Vermittlung seiner Gastgeber wurde ihm ermöglicht, das Frauengefängnis von Newgate zu besuchen, in dem Elizabeth Fry (1780-1861) 5 im Jahre 1817 den ersten Frauenverein zur Verbesserung der Gefängniszustände gegründet hatte, die „Association for the Improvement of the Female Prisoners in Newgate“. Es bestimmte zwar – wie in den Niederlanden – auch hier der philanthropische Geist der Aufklärung die Reformkonzepte und ihre praktische Umsetzung, doch waren sie in England zugleich doch auch religiös geprägt. Begründend waren dafür die Erweckungskonzepte der Quäker-Bewegung, die damals an den Reformen des Strafvollzuges besonders beteiligt war. Elizabeth Fry war in einer Quäker-Familie aufgewachsen und in ihre religiösen Lebensformen eingeübt. Sie war davon überzeugt, dass sich deren positive Wirkmacht, aufgebaut aus täglicher Bibellesung, analytischen Gesprächen und regelmäßigen Gottesdienstbesuchen zur sittlichen Besserung ihrer Schützlinge einsetzen ließ. Ja sie war von der Unverzichtbarkeit ihrer rituellen Befolgung für die Erreichung ihrer pädagogischen Ziele überzeugt. „Innere Mission“ als Basisprogramm der Gefängnisarbeit, das war auch für Fliedner ein erfolgversprechendes Konzept moderner professioneller Gefangenenseelsorge, wie er sie sich vorstellte und einmal selbst zu realisieren gedachte. Elisabeth Fry hatte aber auch erkannt, dass ihre Gefangenen vor diesen Anleitungen zu selbsterkennenden Reflexionen als neuem Lebensanfang ein gewisses Maß an allgemeiner Bildung benötigten und schließlich in der Folge auch zu praktischer, produktiver Beschäftigung angeleitet werden mussten. Sie hatte deshalb in ihrem Newgate eine entsprechende Einrichtung, ———— 5
Zu Elizabeth Fry: Kruczek, Dietmar: Der Engel von Newgate, 1996; Ziegler Hans: Elisabeth Fry. Königin im Reich der Barmherzigkeit, 1952; Kochs, Ernst: Elisabeth Fry: der Engel der Gefangenen, 1913.
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nämlich eine so genannte „Lehr- und Arbeitsschule“ geschaffen zur Vermittlung elementarer Bildung und von lebensbefähigenden Fertigkeiten, nämlich zur Vorbereitung auf die Rückkehr in die Gesellschaft. Leider konnte Fliedner, als er in London weilte, diese Frau, die man den „Engel der Gefangenen“ nannte, nicht persönlich treffen und sprechen. Sie war krank. Beide begegneten sich erst auf Fliedners zweiter Englandreise 1832. Ausreichende Möglichkeiten hatte der Kaiserswerther Pfarrer aber, in London noch andere Strafanstalten zu besuchen und auch die Britische Gefängnisgesellschaft, die „Society for the Improvement of Prison Discipline and Reformation of Juvenile Offenders“ gründlich kennenzulernen. Wichtig war für seine spätere Arbeit sodann der Besuch im „Male Refuge for the Destitute“, d.h. im Zufluchtsheim für entlassene männliche Gefangene in Hoxton.6 „Mit Bewunderung und Dank, dass mir all diese großen Liebeswunder des evangelischen Glaubens zu sehen vergönnt war, kehrte ich im August 1824 nach Haus zurück, aber auch mit tiefer Scham, dass wir Männer in Deutschland uns also übertreffen lassen in christlicher Liebenstätigkeit und uns namentlich der Gefängnisse so wenig bisher angenommen hatten ...“ notierte er.7 Dabei war Fliedner durchaus bewusst, und er hatte es auch mit eigenen Augen gesehen, dass zwischen propagierter Reformidee und ihrer Realisierung in Holland wie auch in England oft genug noch deutlich unterschieden werden musste, was aber nicht heißen sollte, dass man dort ähnlichen deutschen Überlegungen und Aktivitäten nicht schon erheblich voraus war. Das konnte ihn aber nur anspornen, nicht entmutigen. Die Reformthemen des Gefängniswesens, die Theodor Fliedner aus England mitbrachte, waren also: die Einführung religiöser Übungen als sittliche Orientierungshilfe, persönliche Betreuung und Schaffung von Qualifikationsangeboten für die Gefangenen, ihre Vorbereitung auf die Rückkehr in das gesellschaftliche Leben. Fliedner begann im Jahre 1825 mit der Umsetzung seiner Vorhaben. Ihm kam zugute, dass er in Kaiserswerth nur eine kleine Gemeinde zu betreuen hatte, die ihm genügend zeitlichen Freiraum ließ. Zunächst bemühte er sich darum, in dem für ihn nächstgelegenen Arresthaus in Düsseldorf, den Gefängnisalltag hierzulande gründlich kennen zu lernen, aber dort auch Gottesdienste für die Gefangenen anzubieten, um erste kommunikative Erfahrungen mit ihnen zu machen. Belehrung und Erziehung können nicht fruch———— 6 7
Vgl. Gerhardt, a.a.O., Bd. I., S. 146. Fliedner, Theodor: Kurze Geschichte der ersten evangelischen Liebesanstalten in Kaiserswerth, in: Der Armen- und Krankenfreund (AuK), Kaiserswerther Zeitschrift für die weibliche Diakonie der ev. Kirche 1856, S. 2ff.
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ten ohne das Hilfsmittel der Religion, war Fliedners Überzeugung. In diesem Sinne hatte er den für die Düsseldorfer Anstalt zuständigen Staatskurator (Staatsanwalt) Wingender 8 um die Zutrittserlaubnis für das Gefängnis gebeten. Der Staatskurator war ein aufrechter Katholik und für Fliedners Anliegen sofort offen. Er gab nicht nur die erbetene Erlaubnis, sondern nutzte auch die Gelegenheit, die katholische Geistlichkeit der Stadt aufzufordern, sich an den Plänen Fliedners zu beteiligen. Der Appell Wingenders hatte auch bald ein positives Echo. Aus St. Maximilian, also aus der Nachbarschaft des Arresthauses, kam ein Kaplan, der sich für regelmäßige katholische Gottesdienstfeiern im Gefängnis bereitfand. Das war ein ermutigender Anfang. Fliedner tat aber noch einen weiteren Schritt, bevor er die Gesellschaftsgründung endgültig und konkret in Angriff nahm. Er besuchte zunächst noch die übrigen Strafanstalten im Düsseldorfer Regierungsbezirk. Er wollte auch mit den dortigen Verhältnissen bekannt werden und sie generell besser beurteilen lernen. Bekannt werden wollte er aber auch mit den jeweiligen Gefängnisleitungen, ihnen seine Pläne vorstellen und ihre Reaktionen hören. So wurde er mehr und mehr zum Experten des Gefängniswesens und von den professionellen Fachleuten auf den höheren Gefängnisbeamtenstellen ernst genommen. Fliedner interessierte sich für zahlreiche Einzelheiten, z.B. der Unterbringung, Bekleidung, Verpflegung. Nicht zuletzt interessierte ihn der Bildungsstand der Gefangenen, das Ausmaß des vorhandenen Elementarwissens wie das Ausmaß des Analphabetismus. Es interessierten ihn die Arbeitsmöglichkeiten, die den Gefängnisinsassen angeboten wurden und die Zahlen der Beschäftigten und Unbeschäftigten. Immer wieder musste er in den Gefängnissen das Fehlen einer Klassifikation der Gefangenen beklagen, d.h. meist gab es in den Hafthäusern nur eine mangelhafte Scheidung der Gefangenen nach Alter, nach Dauer der Haftzeit, nach Schwere und Art der Straftaten etc. mit allen daraus resultierenden Problemen, die das Gefängnis gerade für jugendliche Insassen eher zu einer Schule des Verbrechens machte, weil sie vom schlechten Umgang nicht ferngehalten wurden, als zu einer Schule der Besserung. Fliedner folgerte aus diesen Verhältnissen als erstes die Notwendigkeit hauptamtlicher Gefängnisseelsorger, „deren Amt dem Wesen nach das Amt eines Missionars ist, in dem sie Menschen von meist heidnischer Unwissenheit und Lebensweise zu wahren Christen zu bilden haben.“ 9 Das war ein Beispiel „Innerer Mission“ in einer spezifischen Umwelt. ———— 8 9
Gerhardt, a.a.O., Bd. I., S. 148ff. Fliedner, Kurze Geschichte etc., ibd. (bei Gerhardt, S. 158)
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Die Gefängnisseelsorge als einen Missionsdienst zu verstehen, das hatte Fliedner von seiner Reise mitgebracht. Dabei war diese Vorstellung aber durchaus schon vor ihm auf dem Kontinent angekommen und dort verbreitet worden. So hatte u.a. Graf Adelberdt von der Recke-Volmerstein, der Gründer der „Gesellschaft der Menschenfreunde in Deutschland“ und nachmalige Leiter der Düsseltaler Anstalten (nahe Düsseldorfs), ähnliche Gedanken geäußert und sie auf seine Erziehungsarbeit an verwahrlosten Kindern und Jugendlichen bezogen.10 Auch hatte er durch seine Gesellschaft Neue Testamente und Erbauungsschriften in Zuchthäusern verbreiteten lassen; zu mehr war es freilich noch nicht gekommen. Fliedner bleibt daher das Verdienst des ersten Gefängnisreformers im Rheinland. Doch kann man sagen, dass hier der Boden für eine grundlegende Änderung des Gefängniswesens vorbereitet war. Für Fliedner stand von Anfang an fest, seine geplante Gefängnisgesellschaft interkonfessionell zu konstituieren. Er war überzeugt, dass sie nur so im westlichen Rheinland durchgreifend wirken konnte. Nur eine paritätische, friedliche Zusammenarbeit mit den Katholiken war für den Lutheraner Fliedner eine sichere Erfolgsgarantie für die Zukunft. Es war ihm nämlich auch klar geworden, dass der Wirkungsbereich der Gesellschaft sich nicht auf das Rheinland beschränken dürfe, sondern die mächtige Provinz Westfalen mit einbeziehen müsse, dort lebte aber eine überwiegend katholische Bevölkerung. Um weiter zu kommen, war es zunächst erforderlich, die beiden höchsten Regierungsstellen im Rheinland und in Westfalen zur Mitarbeit zu bewegen. Beide Oberpräsidenten, der Koblenzer Freiherr von Ingersleben und der Münsteraner Ludwig Freiherr von Vincke ließen sich für die Sache Fliedners ohne Mühe gewinnen und traten später auch persönlich der Gesellschaft bei, nicht ohne sich auch zur Zahlung ansehnlicher Jahresbeiträge zu verpflichten. Zur Vereinsgründung brauchte Fliedner Mitarbeiter; er suchte und fand sie zuerst in der Umgebung des schon erwähnten Düsseldorfer Prokurators Wingender. Es handelte sich um die Juristen Sack und Hoffmann. Zu ihnen gesellte sich der Pädagoge, Konsistorialrat und Mitglied der Regierung Dr. Kortüm und schließlich als Vertreter der Wirtschaft, der Fabrikant Göring. Mit Pastor Fliedner bildeten sie den Gründungsausschuss, der später mit jeweils gewählten Mitgliedern das Exekutivorgan der Gesellschaft wurde. ———— 10
Vgl. Gerhardt, a.a.O. Bd. I., S. 158ff. Für v. d. Reckes Erziehungsarbeit hat sich Fliedner von Anfang an interessiert und eingesetzt. Bei Besuchen in den Düsseltaler Anstalten lernte er seine erste Frau, Friederike Münster, kennen, die ihn bei der Gründung seines Kaiserswerther Diakoniewerkes entscheidend unterstützte (Gerhardt, Kap. 6; Fliedner, G.: a.a.O. Kap 11).
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Der Ausschuss machte sich im Frühjahr 1826 an die Durcharbeitung und Prüfung der von Fliedner und Sack vorbereiteten Gesellschaftsstatuten. Am 18. Juni 1826 kamen schließlich die sechs genannten Ausschussmitglieder im Düsseldorfer Landgerichtsgebäude zusammen, verabschiedeten mit ihren Unterschriften die vorbereiteten „Grundgesetze“ und den „Plan der Wirksamkeit“ und gründeten die „Rheinisch-Westfälische Gefängnis-Gesellschaft“ mit Sitz in Düsseldorf. Sie wählten einen vorläufigen Vorstand, in dem Fliedner und Sack die Funktion von Sekretären übernahmen, der Fabrikant Göring Schatzmeister war und Wingender Vizepräsident. Die Wahl eines Präsidenten blieb erst einmal der Zukunft vorbehalten.11 Zusammengefasst sagen die „Grundgesetze“ in ihren ersten 7 Paragraphen über Ziel und Zweck der Gesellschaft: 1. Die in Düsseldorf gegründete „Rheinisch-Westfälische Gefängnis-Gesellschaft“ hat zum Ziel die Verbesserung der Gefangenenanstalten in den rheinisch-westfälischen Provinzen. 2. Zweck der Gesellschaft ist die mit den Staatsgesetzen übereinstimmende Förderung der sittlichen Besserung von Strafgefangenen durch Beseitigung schlechter und durch Verstärkung von positiven Einflüssen, und zwar sowohl während der Haftzeit als aber auch noch nach der Haftentlassung. 3. Nach Rücksprache mit Kirchen- und Schulbehörden sollen für jede in einer Haftanstalt vertretene christliche Konfession hauptamtliche Pfarrer ausgewählt, angestellt, besoldet (!) und unter Aufsicht gehalten werden, ebenso Lehrer für den Elementarunterricht. 4. Die Gefängnisgesellschaft wird die Klassifikation der Gefangenen vorantreiben, also – wie schon o. erklärt – ihre Trennung nach Geschlecht, Alter, Dauer der Strafe, Art und Schwere der Vergehen und Verbrechen, und ihre isolierte Unterbringung fördern, um Gelegenheiten gegenseitiger schlechter Beeinflussungen so weit als möglich zu unterbinden. 5. Die Gefängnisgeistlichen werden durch Verbreitung von Bibeln und anderer nützlicher religiöser Literatur für eine geistige Beschäftigung der Gefängnisinsassen sorgen. 6. Sie werden sich während der Haftzeit auch um hinreichende „leibliche Beschäftigung“ kümmern, d.h. um möglichst tägliche physische und produktive Arbeiten. 7. Die Gesellschaft soll die Entlassenen bei der Suche nach „ehrlicher Erwerbsarbeit“ unterstützen, sie in „angemessene Verhältnisse“ zu bringen helfen und sie durch sie begleitende „christlich gesinnte“ Bewährungshelfer (würde man heute sagen) so weit als möglich vor Rückfällen bewahren.12 ———— 11
12
Das Protokoll der Gründungssitzung ist abgedruckt bei Pfarrer Dr. von Rhoden und Pfarrer Theodor Just: Hundert Jahre Geschichte der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft, Selbstverlag der Gesellschaft, Düsseldorf 1926, S, 9. Vollständiger Text der „Grundgesetze“ bei Rhoden, a.a.O., S. 145 - 148.
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Den „Grundgesetzen“ folgt der „Plan der Wirksamkeit der Gefängnisgesellschaft“: Zunächst wiederholt er die Zielsetzung ihrer Gründung, die dringliche Gefängnisreform zur „Beförderung der sittlichen Besserung der Gefangenen“. Trotz einer Reihe von Veränderungen – „die Reinlichkeit, Ordnung und Aufsicht hat bedeutend zu-, die Aufeinanderhäufung der Gefangenen abgenommen, auch ist für ihre Beschäftigung durch Errichtung von Arbeitsanstalten besser gesorgt worden“ – bleibe noch vieles zu tun. Die große Zahl der Strafgefangenen stellt dabei eine erhebliche Herausforderung dar: Allein für die Provinz Jülich, Kleve, Berg werden für die 20er Jahre des 19. Jh. auf eine Million Einwohner ca. 6.200 Häftlinge gezählt, die Zahl der mitbetroffenen Familienangehörigen wird auf 31.000 geschätzt. „Aufforderung genug für jeden Menschenfreund, dem die Sicherheit der Mitbürger und das Heil der verirrten Brüder teuer ist, alle Kräfte anzuwenden“, die Voraussetzungen für eine Senkung der Rückfallquote und für eine erfolgreiche Reintegration der Strafentlassenen in die Gesellschaft zu schaffen. Der Wirksamkeitsplan nennt für die Phase der Haftbetreuung vier Hauptbesserungsmittel: 1. Unterricht im Christentum, 2. Unterricht in den ersten Schulkenntnissen, 3. Klassifikation, 4. Zweckmäßige Beschäftigung. Unter dem ersten Punkt wird für jede Strafanstalt die Anstellung eines hauptamtlichen Geistlichen gefordert, um durch regelmäßige Gottesdienste und kontinuierliche, tägliche religiöse Erziehung die Einübung sittlicher Werte zu befördern. Die Gesellschaft verspricht dafür eine existenzsichernde Besoldung der Seelsorger. (Ein Versprechen, das sie freilich auf Dauer nicht halten kann). Gefordert wird unter dem zweiten Punkt die Anstellung von Lehrern und Lehrerinnen zur Vermittlung elementarer Kenntnisse und Kulturtechniken, um der „Verwilderung des Geistes und Herzens“ entgegen zu wirken, zur selbständigen Beschäftigung mit der Bibel und mit anderen „nützlichen Büchern“ sowie zur Erweiterung der „Aussicht auf besseres Fortkommen im bürgerlichen Leben“. Unter dem dritten Punkt wird den für die organisationstechnische Durchführung der Gefangenenklassifizierung zuständigen Verwaltungsbehörden die Unterstützung der Gesellschaft zugesagt. Der 4. und letzte Punkt spricht sowohl die „Geistige Beschäftigung“ an, die in die Verantwortung der Gefängnisgeistlichen zu übertragen ist, vor allem die Arbeit mit der Hl. Schrift („nach den Übersetzungen beider Konfessionen“), als auch die „Leibliche Beschäftigung“ als „wirksamstes Mittel für das Wohl der Gefangenen“. Die Gesellschaft will die Behörden
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unterstützen und zumal bei der Vermarktung der als Ergebnis der Arbeiten im Gefängnis hergestellten Produkte behilflich sein. Es folgt dann noch ein sehr kurz gehaltener Abschnitt über die Betreuungsnotwendigkeit der Strafentlassenen. Ob die Besserungsmaßnahmen während der Haft gefruchtet haben, wird sich erst nach Wiedererlangung der Freiheit zeigen. Die ehemaligen Gefangenen benötigen unter den neuen Lebensumständen an ihren „Bestimmungsorten“ helfende Begleitung und Integrationshilfen. Für die Entlassenen, die keinen Bestimmungsort haben, wird die Gesellschaft ein „ehrliches Unterkommen“ zu vermitteln suchen. Der Wirkungsplan endet mit der nochmaligen Versicherung strengster Loyalität, d.h. nur unter strengster Beachtung der Gesetze des Staates tätig einzuwirken, wo Religion, Gerechtigkeit und Menschenliebe dazu auffordern.13 Noch am Gründungstag der Gesellschaft wurden beide Texte mit einem Begleitschreiben an König Friedrich Wilhelm III. gesandt und um allerhöchste Genehmigung und Förderung gebeten.14 Nach relativ kurzer Zeit kam Anfang August 1826 eine freundliche Antwort des Königs, der sein „besonderes Wohlgefallen“ für das Vorhaben ausdrückte und die Weitergabe der Papiere zur Prüfung an die zuständigen Ministerien des Innern und der Justiz sowie an das Kultusministerium mitteilte. Diese Ministerien ließen sich nun allerdings Zeit und stellten Fliedner und seine Freunde auf eine harte Geduldsprobe. Erst Mitte Dezember 1827 wurde auf der Grundlage eines ausführlichen (positiven) Gutachtens des westfälischen Oberpräsidenten von Vincke nach einigen kleineren Modifikationen 15 den Statuten die Genehmigung erteilt. Es dauerte aber noch einmal ein Vierteljahr, bis Fliedner die königliche Bestätigungsurkunde in Händen hielt. Am 12. Mai 1828 konnte sich die Rheinisch-Westfälische Gefängnis-Gesellschaft dann aber endgültig konstituieren. In der Wartezeit hatte sich der Ausschuss um Mitgliederwerbung bemüht und war dabei besonders unter den hohen Staatsbeamten und Vertretern des Adels sehr erfolgreich. Einen starken Befürworter fand Fliedner in dem greisen Freiherrn vom Stein, den er persönlich aufgesucht hatte. Stein wurde Mitglied mit einem stattlichen Jahresbeitrag und riet der Gesellschaft, bei der rheinischen Ständeversammlung um Unterstützung zu werben. Auf Steins Rat wandte sich die Gesellschaft auch an den preußischen Kronprin———— 13 14 15
Vollständiger Text des „Plan der Wirksamkeit“ bei Rhoden, a.a.O., S. 149- 153. Text des Begleitschreibens bei Rhoden, a.a.O., S. 136-138. Es ging in § 5 um die Verdeutlichung interkonfessioneller Handlungsgrenzen, so um die Regelung der Bibelverteilung durch die Geistlichen der jeweiligen Konfession“ Gerhardt, a.a.O., S. 173.
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zen mit der Bitte um Protektion und erhielt seine Zusage. Als König Friedrich Wilhelm IV. wurde er dann später einer der Hauptförderer von Fliedners Diakoniewerk. Stein setzte sich auch persönlich im Provinziallandtag zu Münster für die Gesellschaft ein, musste aber dazu anmerken, dass in einem katholischen Land seine Appelle nur gehört würden, wenn auch die katholische Geistlichkeit zur Teilnahme an diesem Fürsorgewerk bereit sei. Der Prokurator Sack, der in der Zwischenzeit von Düsseldorf nach Köln versetzt worden war, nahm deshalb umgehend mit dem Erzbischof von Köln, Ferdinand August Graf von Spiegel zu Desenberg (18251835) Kontakt auf und legte ihm Plan und Statuten der Gesellschaft vor. Der „weltoffene, wohlwollende, preußenfreundliche und konfessionell friedfertig gesonnene Kirchenfürst“ gab mündlich und schriftlich die Zusicherung seiner Teilnahme und stellte seine persönliche Mitgliedschaft nach der königlichen Genehmigung der Gesellschaft in Aussicht.16 Der Erzbischof hielt Wort und wurde noch im Juli 1828 Mitglied. Fast gleichzeitig folgten der Bischof von Paderborn, Freiherr von Ledebur; der Bischof von Trier, Joseph von Hommer und Freiherr Caspar Maximilian von Droste zu Vischering, Bischof von Münster mit einem großen Teil der katholischen Geistlichkeit aus den vier Bistümern.17 Als Vertreter des katholischen Klerus wurde Landdechant und Ehrendomherr Heinzen in Düsseldorf in den Ausschuss der Gesellschaft gewählt. Von Erzbischof Spiegel kam die Anregung, den Grafen Franz Josef Anton von Spee (1791-1839) von Schloss Heltorf, unweit von Kaiserswerth, als Mitglied zu gewinnen und ihm gleichzeitig das noch nicht besetzte Präsidentenamt in der Gesellschaft anzutragen. Der Ausschuss griff den Wunsch des Kölner Oberhirten auf; Graf Spee wurde Mitglied und nahm auch seine Wahl zum 1. Präsidenten der RheinischWestfälischen Gefängnis-Gesellschaft an. Ein Glücksfall für die Gesell———— 16
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Erzbischof. Graf von Spiegel schreibt am 25. Juli 1828 an die Gesellschaft. Zunächst bedankt er sich für die Information über die Gründung der Gesellschaft und lobt ihre Zielsetzung. Er nennt die Gesellschaft „ein unbegrenzt wichtiges erhaben christliches Werk, dem Gottes Beistand wird verliehen werden“ und fährt fort „mit regem Pflichtgefühl nehme ich Anteil an der Gesellschaft, ich zeichne einen jährlichen Beitrag von 60 Taler Berliner Courant; inwiefern ich mich den Arbeiten der Gesellschaft wirklich unterziehen werde, bleibt von meinen unmittelbaren Berufsgeschäften, dann von Lokalverhältnissen abhängig, aber meine Bereitwilligkeit zur regen Teilnahme an dem religiösen Zweck soll nicht fehlen. Die mir mitgeteilten Abdrucke des ersten Berichts aus der Generalversammlung vom 12. Mai 1828 werde ich austeilen, einige davon in das Hochwürdige MetropolitanDomkapitel gelangen lassen und dadurch zur Teilnahme aufrufen. Dem Gesuche, die Herren Landdechanten zur Mitwirkung für die heilige Sache der Menschheit zu veranlassen, werde ich bei Zeit und Gelegenheit gern eingedenk sein. Die katholischen Geistlichen finden manche Gelegenheit, auf die Besserung der Menschen hinzuwirken, auch die Gebesserten aufrechtzuerhalten ...“, vollst. Text bei Rhoden, a.a.O. S.141f. Archiv des KGV: 25 jähriges Wirken des kath. Gefängnisvereins ..., s.o. Note 1, S. 11.
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schaft, die mit Graf Spee gerade in ihrer Anfangsphase eine höchst engagierte Führungspersönlichkeit erhielt. Er war ein souveräner Lenker der Gesellschaft, der stets im Sinne ihrer Grundgesetze dachte und handelte. Er war um ihre Entwicklung bemüht, er kümmerte sich mit persönlichem Einsatz um ihre finanziellen Belange und half in finanziellen Notlagen – wenn nötig – auch mit seinem eigenen Vermögen aus. Es beschäftigte ihn aber auch die Betreuungs-Praxis, zumal die Auswahl tüchtiger Seelsorger, die ja im Wesentlichen auch von der Gesellschaft entlohnt wurden. Er übernahm selbst sogar Besuchsdienste in Haftanstalten. Auf der Kutschfahrt von Heltorf zur Ausschusssitzung in Düsseldorf ereilte ihn am 14. Mai 1839 ein plötzlicher Tod. Noch heute erinnert eine Kapelle an der Niederrheinstraße in Düsseldorf-Lohausen an dieses auch für die Gesellschaft tragische Ereignis. Nachfolger des Grafen Spee im Präsidentenamt wurde der Geheime Regierungsrat Fasbender aus der Düsseldorfer Bezirksregierung, der von Anfang an Mitglied der Gesellschaft war. Auch er war Katholik. Die Wirksamkeit der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft erschöpfte sich selbstverständlich nicht in der Tätigkeit ihres Führungsorgans. Sie verstand sich nämlich von Beginn an nicht nur als eine sozialpolitische Einrichtung, die ihre Ideen zur Reform des Gefängniswesens im Wesentlichen durch Einflussnahme auf die zuständigen staatlichen Behörden verwirklichen wollte. Sie war vielmehr an einer direkten, praktischen Umsetzung ihrer Zwecke durch ihre (ehrenamtlich tätigen) Mitglieder bzw. durch von ihr angestellte Personen in den Gefängnissen selbst und in deren Umfeld und zumal im Kontakt mit den Gefangenen interessiert. Dazu hatte sie eine dezentrale Struktur für ihre Wirksamkeit ersonnen. In den „Grundgesetzen“ sind in den Paragraphen 17- 20 die entsprechenden Festlegungen getroffen: Der Exekutivausschuss „hat für alle Gefängnisorte des Wirkungskreises korrespondierende Mitglieder auszuwählen und demnächst zu bewirken, dass für diese Orte Tochtergesellschaften gestiftet und an allen passenden Orten Hilfsvereine (zur Unterstützung der Tochtergesellschaften vor allem durch Übernahme der Fürsorge für die Strafentlassenen) gebildet werden“, heißt es dort (§17). Die Tochtergesellschaften beraten in ihrem eigenen „Ausschuss“ über an ihrem Gefängnis erforderliche Reform- und Fürsorgemaßnahmen und sorgen für ihre Durchführung. Dazu haben sie das Verfügungsrecht über die Beiträge ihrer Mitglieder (§ 18). Sämtliche Tochter- und Hilfsvereine sind freilich auch Mitglied der Hauptgesellschaft (§ 19) und damit zur wechselseitigen Kommunikation und zur Solidarität untereinander verpflichtet. Der § 20 legt die Berichts-Pflicht und -Form der Untervereine zur Hauptgesellschaft fest.
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Die praktische Umsetzung des Wirkungsplans wurde im Düsseldorfer Arresthaus durch den Ausschuss der Gesellschaft erprobt. Die erste Sorge galt der Besetzung der Pfarrer- und Lehrerstellen und der Beobachtung ihrer Tätigkeit. Bei wöchentlichen Besuchen führten zwei Mitglieder des Ausschusses in der Anstalt entsprechende Unterredungen mit den Pfarrern, Lehrern und oft auch mit der Anstaltsleitung über Reformmaßnahmen. Weitere zwei Mitglieder beschäftigten sich kontinuierlich mit den Bedürfnissen der zur Entlassung stehenden Insassen und boten ihnen Hilfe an bei der Rückkehr in ihre Familien und Gemeinden. Es wurde auch ein Frauenverein gegründet unter der Leitung der Gräfin Spee zur Fürsorge für weibliche Gefangene. Alle Bemühungen hatten den einen Zweck: „Vorbeugung und Verminderung der Rückfälle und Verbrechen.“ 18 Die Bestimmung der vorgesehenen korrespondierenden Mitglieder an den Gefängnisorten im gesamten Wirkungsbereich führte bald zu den Gründungen der vorgesehenen Tochtergesellschaften und Hilfsvereinen.19 Die Tochtergesellschaften hatten jeweils eigene, die örtlichen Bedingungen berücksichtigende und vor allem die praktischen Maßnahmen (Seelsorge, Schulunterricht, Beschäftigung der Gefangenen, Besuchsdienste, Entlassenenbetreuung) konkret beschreibende Wirkungspläne. Die Rollen der Gefängnisseelsorger beider Konfessionen wurden seitens der Gesellschaft paritätisch behandelt, soweit die beteiligten Behörden nicht in einzelnen Fällen (im Sinne des preußischen Konfessionalismus) anders entschieden, was leider da und dort die Zusammenarbeit belastete.20 Für die Hilfsvereine gab es schließlich 1844 die „Instruktion für die Hilfsvereine der RheinischWestfälischen Gefängnis-Gesellschaft“, die einmal die Zusammenarbeit mit den Tochtergesellschaften regelte, dann aber auch konkrete Hinweise enthielt zur Erfüllung ihrer eigentlichen Zwecksetzung, nämlich die Unterstützung entlassener Strafgefangener bei ihrer Wiedereingliederung in Familie, Gesellschaft und zumal in das Erwerbsleben.21 Dabei hatte man von Anfang an als eine vordringliche Aufgabe die Schaffung geeigneter Unterkünfte für ———— 18 19 20
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Rhoden, a.a.O., S. 17. Im Jahre 1832 bestanden bereits 8 Tochtergesellschaften und 44 Hilfsvereine. „Wirkungsplan der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft zur Beförderung der sittlichen Besserung der Gefangenen in der Strafanstalt Werden“ vom 18. Mai 1829, bei Rhoden, a.a.O., S. 154- 161. Ein prominentes Opfer der Paritätsverletzung war im Düsseldorfer Arresthaus der volkstümliche Pfarrer Friedrich Gerst (Gefängnispfarrer von 1841-1867). Die preußische Verwaltung besoldete ihn stets sehr viel schlechter als seinen evangelischen Kollegen, s. Hugo Weidenhaupt: Gefängnispfarrer Friedrich Gerst, in: Festschrift zum 75. Jubiläum des KGV 1893- 1968. Archiv des KGV. Im Auszug bei Rhoden, a.a.O., S. 161-164.
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Strafentlassene angesehen, die keinen Bestimmungsort hatten, also z.B. keine Familie, die sie aufnahm. Noch Präsident Graf Spee hatte es als Aufgabe der Muttergesellschaft angesehen, ein umsetzbares Konzept für die Einrichtung von konfessionell getrennten „Zufluchtshäusern als Übergangsanstalten“, besonders für weibliche Entlassene, auszuarbeiten und vorzuschlagen. Er hatte an eine Realisierung etwa in Mettmann für das evangelische und in Neuss für das katholische Heim gedacht. Es war Pastor Fliedner, dem der Ausschuss den Auftrag gab, das Konzept zu entwerfen und es nach behördlicher Genehmigung auch zu erproben. So kam es im Jahre 1833 zur Gründung des ersten, nämlich des evangelischen Asyls für weibliche Entlassene, allerdings nicht in Mettmann, sondern in Fliedners Kaiserswerth und wurde dort – unter kundiger Führung seiner ersten Ehefrau Friederike – als Magdalenen-Asyl zum Keim seines Diakoniewerkes.22 Fliedner suchte gleichzeitig am selben Ort auch die katholische Seite für die Gründung einer Paralleleinrichtung zu gewinnen, um – als Ausschussmitglied beiden Konfessionen verpflichtet – mit seiner Gründung nicht parteilich zu erscheinen. Als sich die Errichtung dieser katholischen Einrichtung erheblich verzögerte, mischte sich der Bürgermeister von Kaiserswerth ein und schlug zur Beschleunigung die Schaffung einer interkonfessionellen Einrichtung vor, und zwar durchaus mit zwei Häusern, zur Trennung der Bewohnerinnen entsprechend ihrer Konfession, aber unter einem gemeinsamen Direktorium und mit gemeinsamer Finanzverwaltung. Der Ausschuss lehnte den Vorschlag ab und traf eine wichtige Festlegung, die im Lande allgemein verbindlich sein sollte: Der Ausschuss machte klar, dass Interkonfessionalität für die Gesellschaft zwar einen hohen, nämlich politischen Wert besitze, aber im Bereich religiöser und sittlicher Erziehung auch konkrete, unbedingt einzuhaltende Grenzen habe. Jede sittliche Erziehung, die ja gerade auch in diesen Asylen stattfinden sollte, da sie nicht nur als bloße Unterkünfte verstanden wurden, sah man auf einer konfessionell-orientierten religiösen Erziehung gegründet, die Respekt erforderte und keinerlei Beeinflussung erfahren durfte. Es galt hier daher das Prinzip der strikten konfessionellen Trennung, selbst im Zusammenhang mit Verwaltungsangelegenheiten. Interkonfessionalität war – wie gesagt – ein politisches Prinzip und nicht mit Ökumene zu verwechseln. Im Jahre 1836 kam es dann in Kaiserswerth auch zur Einrichtung eines selbständigen katholischen Asyls, es hatte freilich keinen langen Bestand. Denn es zeigte sich bald, dass die bestellte Leitung ihren Aufgaben nicht ———— 22
Rhoden, a.a.O., S. 34ff.; zur Arbeit des ev. Asyls s. Gerhardt, a.a.O., Bd. II, S. 300- 320.
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gewachsen war. Der Verlust des Hauses durch Kündigung brachte dann schon 1838 das Ende. Zwar wurde das katholische Haus 1840 in Ratingen neu gegründet, arbeitete aber auch dort nur wenige Jahre und musste 1848 wegen Überschuldung aufgeben. Natürlich gab es ähnliche Übergangshäuser bald auch für männliche Entlassene, die ersten in Elberfeld und in Lintorf. In allen Häusern gab es Bemühungen, die Bewohner handwerklich zu beschäftigen und mit der Vermarktung der erzeugten Produkte zumindest Zuschüsse zu ihrer Finanzierung zu erwirtschaften, die ansonsten im Wesentlichen durch Mitgliedsbeiträge der örtlichen Vereine aufgebracht wurde. Über die Jahre hin gab es vielfältige und konkret wirksame Aktivitäten der Tochtergesellschaften und Hilfsvereine im Wirkungsbereich ihrer Muttergesellschaft. Die meisten dieser Aktivitäten blieben im Verborgenen. Das lag in der Natur der Sache. Die individuelle Fürsorgetätigkeit an großen Scharen von hilfesuchenden Gefangenen bzw. Entlassenen hinterließ keine spektakulären Nachrichten oder öffentliche Spuren. So positiv die dezentrale Entwicklung der „Rheinisch-Westfälischen“ auch zu sehen war, so schwierig wurde es für ihre Führungsgruppe sie noch zu überschauen. Es gab immer mehr Informationsdefizite und Kommunikationsschwierigkeiten mit der großen aber doch auch schwankenden Zahl der Hilfsvereine. Die ja ehrenamtlich tätigen Ausschussmitglieder der Zentralgesellschaft in Düsseldorf, waren ihren Koordinierungsaufgaben immer weniger gewachsen. So kam aus den Hilfsvereinen die Anregung, wenigstens einen hauptamtlichen Agenten anzustellen, der durch eine rege Reisetätigkeit die Verbindung zwischen Zentrale und Peripherie in beiden Richtungen aufrechterhalten sollte. Der Ausschuss konnte sich diesem Vorschlag um so weniger entziehen, als sein Spiritus Rektor, Pastor Theodor Fliedner, sich seit dem Ende der 30er Jahre immer stärker seinem wachsenden Diakoniewerk in Kaiserswerth widmen musste, selbst sehr viel unterwegs war, auch ins Ausland bis hin nach Amerika, und der Gesellschaft kaum noch zur Verfügung stand und schließlich ganz ausschied.23 So spontan man aber in Düsseldorf die Anregung zur Anstellung eines Agenten auch aufgriff, dauerte es doch bis ins Jahr 1857 bis man eine geeignete Person gefunden und vor allem das Finanzierungsproblem gelöst hatte: Der König gewährte schließlich einen ansehnlichen Gehaltszuschuss. Die Stelle des Agenten wurde mit der eines evangelischen Gefängnispredigers am Gefängnis in Düsseldorf verbunden, da er „für sein Wirken diese Grundlage praktischer Erfahrung nicht entbehren ———— 23
Vgl. Felgentreff, Ruth: Das Diakoniewerk Kaiserswerth 1836- 1998. Von der Diakonissen-Anstalt zum Diakoniewerk, Kaiserswerther Beiträge zur Geschichte und Kultur am Niederrhein, Bd. 2., Hrsg.: Heimat- und Bürgerverein Kaiserswerth e.V. 1998.
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konnte.“ 2 4 Damit war allerdings eine Vorentscheidung für die Besetzung der Stelle gefallen. Der Zeitpunkt der Schaffung der Agentenstelle war günstig. Das nach dem ersten Eifer in den Gründerjahren zwischenzeitlich erlahmte Interesse an einer umfassenden Gefängnisreform, nahm gerade jetzt wieder allgemein zu, sowohl bei den zuständigen Behörden als auch in der Öffentlichkeit. Auch in der Gesellschaft selbst gab es neuen Antrieb und eine Wiederbelebung des christlichen Geistes der Gründungszeit, an dessen Stelle zwischenzeitlich bloß humanitär motivierte Bestrebungen getreten waren. Angegangen wurden als wichtige Themen, die Frage besonderer Fürsorge für jugendliche Gefangene, das Problem der Gewinnung eines (durch einzurichtende Schulungsmaßnahmen) besseren Aufsichtspersonals, das seinen Beruf (nach geleistetem Militärdienst) nicht allein als Versorgungsposten ansah, „sondern als einen Gott wohlgefälligen Dienst an der leidenden Menschheit“, und schließlich die Gewinnung des Abgeordnetenhauses für eine Strafvollzugsreform. Der engere Kontakt der Agenten zu den Anstaltsleitungen und höheren Beamten brachte diese zur Teilnahme und Mitwirkung an den Versammlungen und Konferenzen der Gefängnisgesellschaft.25 Die erfolgreiche Einrichtung und Entwicklung der Agententätigkeit, das konnte nicht übersehen werden, kam allerdings in erster Linie der evangelischen Seite in der Rheinisch-Westfälischen Gesellschaft zugute. Es muss zudem bemerkt werden, dass bereits seit dem Ausscheiden des katholischen Präsidenten Fasbender im Jahre 1848 – ganz anders als in den Anfangszeiten – in der Gesellschaft ein evangelisches Übergewicht wirksam wurde. Alle folgenden Präsidenten der Gefängnis-Gesellschaft (sogar bis zu deren Auflösung durch die Nationalsozialisten im Jahre 1938) gehörten nämlich der evangelischen Kirche an, die meisten von ihnen waren Pfarrer. Diese nicht geplante aber doch faktische protestantische Dominanz in der Gesellschaft begünstigte nicht gerade die angestrebte gedeihliche Zusammenarbeit zwischen den Konfessionen, zumal schon Präsident Hoffmann, der Nachfolger Fasbenders gleich 1849 damit sympathisierte, die Arbeit der Gesellschaft nicht nur ideell, wie Fliedner, sondern auch organisatorisch in die Nähe der sich damals unter dem Einfluss Wicherns deutschlandweit zusammenschließenden „Inneren Mission“ zu bringen.26 Im Hinblick auf diese Entwicklung hatte die Rheinische Provinzial-Synode der evangelischen Kir———— 24 25
26
Rhoden, a.a.O., S. 39ff. (auch zum folgenden). Rhoden bietet im Anhang ein systematisches Verzeichnis von 365 der auf den Versammlungen und Fachkonferenzen der Rhein.-Westf. Gef.-Ges. zwischen 1869-1921 verhandelten Themen. Gerhardt, a.a.O., Bd. II, S. 293.
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che ganz offensichtlich die Gefängnisarbeit neu in ihr Blickfeld aufgenommen und machte sie mit theologischer Begründung mehr und mehr auch zu ihrer Sache. An vielen Orten wurden unter einem gemeinsamen „Normalstatut“ (1868) evangelische Hilfsvereine gegründet und Synodalvertreter zur Unterhaltung einer ständigen Verbindung mit der Zentralgesellschaft ernannt. Statt ähnliche Aktivitäten zu entwickeln, zogen sich als Reaktion katholische Kreise aus der Gefängnisgesellschaft zurück. Die Anregung, in Westfalen auch für die katholische Seite eine Agentur ins Leben zu rufen, ließ man an der Kostenfrage scheitern. Dazu passte der Austritt des Dechanten Joesten, dem Nachfolger Heinzens, als Vertreter der katholischen Geistlichkeit im Ausschuss. Dort vermisste man die Mitwirkung der katholischen Seite sehr wohl und stellte die Frage nach dem Warum des katholischen Rückzugs. Man sah die Antwort weder in einem „Erkalten des Eifers“ für die Sache nach der Begeisterung in den Gründerjahren, auch nicht wesentlich im Zusammenhang mit den „Kölner Wirren“ 27 oder als Folge der politischen Veränderungen seit Mitte des Jahrhunderts. Der Kulturkampf hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen. Man sah den Grund für den Rückzug aber wohl ganz richtig in einem zwischenzeitlich auf katholischer Seite entstandenen Misstrauen, weil „entgegen dem ursprünglichen interkonfessionellen Charakter der Gesellschaft, dieselbe nach und nach in eine einseitige protestantische Richtung geraten sei, wie die Ausschusswahlen und besonders die Wahl evangelischer Geistlicher zu Präsidenten zeigten.“ Hinzukam, dass die beobachtete Entwicklung ganz im Sinne des preußischen Konfessionalismus erschien, der überall im öffentlichen Bereich Führungspositionen mit Protestanten besetzte. Die Katholiken „sahen ihren Standpunkt nicht voll gewürdigt und traten immer mehr zurück von der Mitarbeit an dem erhabenen Liebeswerk, das in so schöner Eintracht begonnen und die herrlichsten Früchte getragen hatte.“ 28 Ein vom Ausschuss der Zentralgesellschaft erwogener Appell an die Bischöfe, ihren Einfluss auf katholische Gesellschaftsmitglieder, auf in katholischen Gebieten bestehende Vereine bzw. auch auf entsprechende Gründungsvorhaben geltend zu machen, kam nicht zustande, da sich der „Ausschuss in seiner damaligen Zusammensetzung nicht als die geeignete Instanz ansah, diese Angelegen———— 27
28
Vergleiche zum gesamten Hintergrund (wie auch zum späteren Kulturkampf): Eduard Hegel: Geschichte des Erzbistums Köln, Bd. 5 und die dort angegebene Literatur (Köln 1987). Rhoden, a.a.O., S. 52f.; ein besonderes Beispiel ist dafür die Kölner Tochtergesellschaft, eine der ersten im Lande, die sich in den 50er Jahren zu einer „Evangelischen Gefängnisgesellschaft“ umwandelte ibd. S. 112.
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heit weiter zu verfolgen.“ Möglicherweise hätte ein solcher Appell Wirkung gezeigt, wie seinerzeit bei den Erzbischöfen von Spiegel und von Geissel.29 Auf katholischer Seite fand man sich aber offensichtlich mit der Situation ab. Es gab keine erkennbaren Anstrengungen, die konfessionelle Parität in den interkonfessionell organisierten Gefängnisvereinen zurückzufordern, zu fördern oder gar durchzusetzen. Vermutlich ging man davon aus, dass die Strafanstaltspfarrer und die katholischen Mitglieder der Hilfsvereine ihre Betreuungsarbeit verrichteten, ohne viel nach der Vereinspolitik in der Düsseldorfer Zentrale zu fragen. Die Kölner Kirche hatte dann allerdings in den Jahren des Kulturkampfes auch andere Prioritäten zu setzen. Andererseits sah das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in zahlreichen Gruppen und Vereinen besonders stark formierende Fürsorgewesen mit seinen vielfältigen konkreten Zielsetzungen und Aufgabenstellungen in einer organisatorischen Interkonfessionalität – wie dies für Fliedner galt und in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Gesellschaft der Fall war – keineswegs mehr ein notwendiges Prinzip politisch erfolgreicher Wirksamkeit. So kam es je nach den örtlichen Verhältnissen zu konfessionellen Gewichtsverschiebungen bzw. auf beiden Seiten im Bereich der Hilfsvereine gerade auch zu konfessionellen Neugründungen und brachte die katholische Seite damit faktisch wieder besser ins Spiel. Es gab dabei nur wenige sich von der Muttergesellschaft emanzipierende Neugründungen.30 Als eine solche erschien freilich anfangs die nach langer Vorbereitung am 23. November 1893 im Paulus-Haus in Düsseldorf erfolgte Gründung des „Vereins zur Fürsorge für die aus den Gefängnisanstalten in Düsseldorf entlassenen katholischen Straffälligen und deren Familien“. Ihre jährlich große Zahl hatte neben den bislang die gesamte Fürsorge betreibenden Vinzenz- und Elisabethenvereinen und dem Engagement verschiedener Ordensgemeinschaften, die für die Zeit des Kulturkampfes allerdings ausfielen, einen Spezialverein der Gefangenen-Fürsorge notwendig erscheinen lassen. Zu seinen Gründungsvätern gehörten: Staatsanwalt Dr. Cretschmar, der zum ersten Vorsitzenden gewählt wurde, Landesrat Dr. Klausener 31, Reichsgraf Franz von Spee, Gefängnisseelsorger Dr. Meister, Stadtdechant Kribben u.a. Der Wirkungsbereich des Vereins erstreckte sich nicht allein auf Düsseldorf, sondern auch auf die Nachbarstädte Ratingen, Neuss, MGladbach, Rheydt, Viersen, Krefeld. Anfangs gehörte auch Kleve dazu, ———— 29
30 31
Erzbischof Johannes von Geissel hatte sich in seiner Koadjutorzeit in Köln beim Klerus für die Gründung von Hilfsvereinen eingesetzt, Rhoden: a.a.O., S. 27. Rhoden, a.a.O., S. 107ff. Der Vater des 1943 von den Nationalsozialisten ermordeten Erich Klausener.
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ebenso Elberfeld, bis es dort zu einer eigenen Gründung kam. Überall saßen Vertrauensleute, die für die Mitgliederwerbung sorgten und den Kontakt mit Düsseldorf hielten.32 Auf Wunsch des Kölner Erzbischofs Philippus Krementz (1885-1899), der zuvor vom Vorstand um eine Empfehlung des Vereins in den in Betracht kommenden Teilen seines Bistums gebeten worden war, schloss sich der neue katholische Verein schon nach wenigen Monaten, am 9.10.1894 der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft als Hilfsverein an und gab damit zu verstehen, in der langen Tradition dieser verdienstvollen Gesellschaft arbeiten und keine getrennten Wege gehen zu wollen. Die Gefängnisgesellschaft nahm den Düsseldorfer Verein auf und unterstützte ihn infolgedessen auch mit einer jährlichen Beihilfe. Damit ist die Betrachtung der Vorgeschichte des Katholischen Gefängnisvereins in Düsseldorf an ihr Ende gekommen. Die sich anschließende eigene Entwicklungsgeschichte, die bis heute schon knapp 120 Jahre währt, soll hier vom Gründungsdatum an bis in die Gegenwart aber noch mit einigen wenigen Strichen skizziert werden.33 Von Anfang an arbeitete der neue Verein mit hohem Engagement. In den jährlichen Mitgliederversammlungen wurde durch namhafte Referenten die Motivation der Mitglieder erfolgreich gestützt. Der zwar sprechende, aber umständliche Gründungsname des Vereins wurde ersetzt durch „Kath. Gefängnisverein Düsseldorf“ (KGV) und 1909 mit überarbeiteter Satzung in das Vereinsregister beim Düsseldorfer Amtsgericht eingetragen. Nach § 3 dieses Statuts sollte der Verein seine Fürsorgeaufgabe ausführen „durch Zuwendung von Kleidungsstücken, Arbeitsgeräten und Geld; durch Beschaffung von Arbeitsgelegenheiten oder Anstellungen; durch sachgerechte Verwendung der dem Verein überwiesenen Arbeitsprämien; durch Vermittlung der Wiederaufnahme der entlassenen Gefangenen in ihre Familien; durch Überwachung der dem Vereine überwiesenen der Polizeiaufsicht unterstellten Personen; durch Überwachung und nötigenfalls durch Unterbringung schulentlassener jugendlicher Personen kath. Bekenntnisses.“ 34 Eine der ersten Sorgen galt der Schaffung einer „vorübergehenden Zufluchtsstätte für aus der Haft entlassene, hilflos dastehende weibliche Strafgefangene“ unter der Obhut der Düsseldorfer Vinzenzschwestern. Dem schloss sich einige Jahre später die Gründung eines Fürsorgevereins für Frauen und Mädchen an. Der Gefängnisverein beteiligte sich durch finanzi———— 32 33
34
1895 hatte der Verein schon 958 Mitglieder. Alle Nachweise der im Folgenden beschriebenen Ereignisse, Personen etc. in den unter Note 1 aufgeführten Texten im Archiv des KGV. Vereinssatzung im Archiv des KGV.
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elle Zuschüsse aus seinen Mitgliedsbeiträgen darüber hinaus auch an der Schaffung einer Fürsorgeerziehungsanstalt für Mädchen, dem Notburgahaus in Neuss. Hinzukam sodann die Mitwirkung an der Gründung des Gertrudisheims, ein neben dem Düsseldorfer Zellengefängnis an der Ulmenstraße errichtetes Arbeitshaus und Hospiz, wiederum für Frauen und Mädchen. Auch die geleistete Familienbetreuung war zeitweise sehr umfangreich. Aufgrund dieser Arbeitsschwerpunkte kam es folgerichtig zu einer frühen Aufnahme von Frauen in den Vorstand des KGV als Ansprechpartnerinnen für die Fürsorge entlassener Frauen. Um die Fürsorge für (jugendliche) männliche Strafentlassene kümmerte sich der inzwischen geschaffene Düsseldorfer Caritas-Verband mit einem eigenen Verein. Schwierig, aber doch nicht völlig behindert, wurde die Arbeit des KGV während des I. Weltkrieges. Durch den Kriegsdienst vieler Mitglieder und die allgemeine Kriegsteuerung bei gleichzeitigem Anstieg der Zahl der Unterstützungsbedürftigen reichten die finanziellen Mittel nicht aus. Zu Hilfe kamen aber Spenden der heimischen Wirtschaft. Die soziale Gerichtshilfe, die Anfang der 20er Jahr eingerichtet wurde, übernahm zunächst der KGV für katholische Angeklagte; er gab sie aber, weil der erforderliche Aufwand nicht zu leisten war, an den Kath. Männerfürsorgeverein ab, ein Beispiel dafür, dass der KGV in der damalige Zeit infolge der nachhaltigen Kriegsauswirkungen, der Inflation, der Ruhrbesetzung und auch der Wirtschaftskrise seine Unterstützungs- und Betreuungsarbeit nur sehr eingeschränkt finanzieren konnte. Hier half allerdings mehrmals das Justizministerium mit namhaften Zuschüssen. Und trotz angespannter eigener Finanzlage übernahm 1927 die Muttergesellschaft, die Rheinisch-Westfälische Gefängnis-Gesellschaft, in Würdigung der Leistung des KGV die Kosten für eine Sozialarbeiterstelle. Seit 1933 gab es neue Schwierigkeiten. Staatliche Unterstützungen fielen weg, Sammlungen in der Öffentlichkeit wurden verboten. Die Gleichschaltung des reichen Vereinslebens in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus und die Zwangsauflösung zumal der konfessionellen Vereine traf auch die Gefängnisgesellschaften. Die „Rheinisch-Westfälische“ wurde den Oberlandesgerichtsbezirken Köln, Düsseldorf und Hamm entsprechend dreigeteilt. Für Düsseldorf wurde Nachfolgeeinrichtung die „Niederrheinische Straffälligenhilfe und Ermittlungshilfe“.35 Der Vorstand des KGV musste, um die Gefängnisseelsorge nicht überhaupt zu gefährden, in seiner letzten Sitzung am 16.1.1939 die Zwangsauflösung des Vereins hinnehmen. ———— 35
Archiv des KGV : Überblick über die Tätigkeit ... unter Note 1, S. 8.
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Der Gefängnisseelsorger sowie der Sozialarbeiter konnten glücklicherweise den ganzen Krieg über weiterarbeiten. Nach Kriegsende gelang es zwar nicht, die alte Muttergesellschaft, die Rheinisch-Westfälische Gefängnis-Gesellschaft wieder aufleben zu lassen. Die Arbeit des katholischen Vereins wurde dagegen wiederaufgenommen. Neu gegründet wurde er am 14.12.1954 als „Katholischer Gefängnisverein Düsseldorf (gegründet 1893) e.V.“ Mit dem Hinweis auf das ursprüngliche Gründungsjahr im Namen wurde an die Vorkriegstradition angeknüpft.36 Die neue Satzung formulierte in § 2 Zweck und Aufgabe kurz und bündig so: „In Ausübung des karitativen Gedankens stellt der Verein sich die Betreuung der Gefangenen des Landgerichtsbezirk Düsseldorf und ihrer Familien mit Rat und Tat während der Haftzeit und die Betreuung der Entlassenen, insbesondere bei der Beschaffung von Arbeit und Unterkommen, zur Aufgabe.“ 37 Die konkrete Betreuungsarbeit leisten neben den Gefängnispfarrern und den Sozialarbeitern bzw. Sozialarbeiterinnen des Vereins ehrenamtliche Mitarbeiter sowohl in der Haftanstalt durch Besuchsdienste und durch Gruppenarbeit, als auch durch Individualbegleitung nach der Haftentlassung.38 Alle ehrenamtlichen Helfer werden vor ihrem Einsatz in einem mehrwöchigen Kurs geschult, zudem bietet ihnen der Verein zweimonatlich Fortbildungsveranstaltungen an. Kosten werden im Wesentlichen durch von den Gerichten zugewiesene Bußgelder und aus Spenden beglichen. Nach dem zweiten Weltkrieg war schon zwei Jahre vor dem KGV der evangelische Hilfsverein, der mit größeren Unterbrechungen bereits seit den 30er Jahren des 19. Jh. bestanden hatte und in der Zeit des Nationalsozialismus ebenfalls aufgelöst worden war, neu gegründet worden, nämlich am 2. Februar 1952. Er trägt den Namen „Evangelischer Gefangenen-FürsorgeVerein Düsseldorf e.V.39 Der in § 2 seiner Satzung angezeigte Vereinszweck lautet: „Der Verein setzt sich zur Aufgabe, die in der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf und ihren Nebenanstalten Inhaftierten sowie die nach Düsseldorf Entlassenen zu betreuen. Er setzt die von Theodor Fliedner begonnene Arbeit der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft fort und wird ———— 36 37 38
39
Vereinsregister des Amtsgerichts Düsseldorf vom 7. Januar 1955 Aktenzeichen 3854. Vereinssatzung vom 14.12.1954 / 7.1.1955 im KGV-Archiv. Henrichs-Steufgen, Elisabeth: Erfahrungen und Einsichten einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin, in: Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum, Hrsg.: Katholischer Gefängnisverein Düsseldorf e.V., 1993, S. 15- 18. Siehe in dieser Festschrift auch die Beiträge von Reiner Spiegel: Der Kath. Gefängnisverein e.V. – Ein Blick auf die Gegenwart – Ein Ausblick in die Zukunft, a.a.O., S. 9- 12 und P. Wolfgang Sieffert O.P.: Zwischen den Stühlen, Spannungsfelder der Gefängnisseelsorge; Pastoraltheologische Aspekte. Vereinsregister des Amtsgerichts Düsseldorf vom 2.Februar 1952, Aktenzeichen 1771.
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damit in praktischer Ausübung christlicher Nächstenliebe im Sinne der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Evangelischen Kirche tätig.“ [...] „Der Verein ist dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche im Rheinland und dadurch zugleich dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland angeschlossen“ (§ 4.4) 40 Aus der dargestellten Vorgeschichte beziehen diese Formulierungen leicht ihre Bedeutung. Beide konfessionellen Gefängnisvereine arbeiten seit längerem zusammen in der Arbeitsgemeinschaft „Gefangenenfürsorge Düsseldorf “ und unterhalten gemeinsam eine Beratungsstelle für Strafentlassene wie für Angehörige von Strafgefangenen. Es stehen für eine begrenzte Zeit auch einige Unterkünfte zur Verfügung. Seit dem 100-jährigen Jubiläum des Katholischen Vereins im Jahre 1993 trägt sein Logo – ein Quadrat mächtiger Gefängnismauern, durchbrochen von einem Kreuz, das in die Freiheit führt – das Motto: „Unterstützen statt verwahren, eingliedern statt ausschließen“ 41 und verdeutlicht damit dieselbe alte und auch heute immer noch aktuelle Aufgabe von Gefängnisseelsorge und christlicher Sozialarbeit aber – bei näherem Hinsehen – nicht nur in neuer Formulierung, sondern wohl auch mit neuer Zielweisung. Gefängnis ist hier in keinem Fall „Anstalt zur Strafverbüßung und Abschreckung“, diese Sichtweise hatten ja bereits die Reformbewegungen zu Beginn des 19. Jh. abgelehnt. Die Strafanstalt wird andererseits aber auch nicht mehr als „moralische Besserungsanstalt“ gewertet, wie es Fliedner zusammen mit der von der Aufklärung her in Gang gesetzten Reformbewegung getan hatte. Das Motto versteht das Gefängnis eher als einen „sozialen Brennpunkt“, wo Menschen Hilfe erfahren können, ihre verlorene Würde wiederzugewinnen und wo sie Hilfe erhalten, neue Perspektiven für ihr Leben auszumachen und zu entwickeln. Das ist wohl erneut ein Paradigmenwechsel, freilich einer mit hohem Anspruch. Dass Ideal und Realität dabei oft auseinanderliegen können, macht das Motto aber nicht obsolet. Ein längeres Zitat, der Beitrag des kath. Gefängnispfarrers und Geschäftsführers des Katholischen Gefängnisvereins zu dessen 110-jährigem Bestehen im Jahre 2003 aus dem schwer zugänglichen Gefangenen-Magazin „Ulmer-Echo“ 42, soll die hier vorgestellte Vereinsgeschichte beschließen: „110 Jahre Katholischer Gefängnisverein, was fällt mir dazu ein?! Zunächst einmal Dankbarkeit für die unzähligen Menschen, die sich Jahr um Jahr ———— 40 41 42
Satzung im Internet: www.gefangenenfürsorge.de. Siehe Titelseite der Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum (Nachweis unter Fußnote 1). Spiegel, Reiner: 110 Jahre Katholischer Gefängnisverein Düsseldorf e.V., in Ulmer Echo, Gefangenenmagazin aus der JVA Düsseldorf 29 (2003) 29, Heft 4, S. 9.
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einsetzen, ihre Zeit und oft auch ihr Geld opfern für andere. Dankbarkeit für 110 Jahre Gemeinschaft im Geiste Gottes, die all das trägt und bewegt. Dankbarkeit für 110 Jahre Hoffnung, die lebendig, Licht, das im Finsteren am leuchten erhalten wird. Dankbarkeit für die vielen Menschen, die uns in den 110 Jahren materiell und finanziell unterstützt haben, Kirchen, Vereine, Verbände, Organisationen, Firmen und viele, viele Einzelpersonen, auch mancher ehemaliger Inhaftierte. 110 Jahre Kath. Gefängnisverein bedeutet aber auch 110 Jahre Kampf. Kampf um Anerkennung der Arbeit in den Kirchengemeinden, unendlicher Kampf um Akzeptanz in der Gesellschaft, mühsamer Kampf um Verständnis für die Anliegen der Straffälligenhilfe. 110 Jahre kath. Gefängnisverein, das sind auch 110 Jahre unterbezahlte und trotzdem hochmotivierte hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, das sind 110 Jahre Erfahrung mit ehrenamtlicher Arbeit, das sind 110 Jahre Zusammenarbeit mit vielen anderen Hilfsorganisationen. 110 Jahre Kath. Gefängnisverein, dazu fällt mir auch ein, dass viele Menschen seit 110 Jahren für uns beten, innerlich mit uns verbunden sind, uns in Erinnerung halten und nicht vergessen. 110 Jahre Kath. Gefängnisverein, das sind 110 Jahre in der Nähe von Gefangenen, Straffälligen und ihren Familien, das sind 110 Jahre Hoffnung für manches Mal sehr hoffnungslose Menschen. 110 Jahre Kath. Gefängnisverein, das bedeutet im Jahre 2003 auch die Verpflichtung, weiterzumachen, nicht nachzulassen im Bemühen um die Umsetzung unseres Mottos in die Tat: „Unterstützen statt verwahren – eingliedern statt ausschließen.“
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Die rheinischen Katholikentage 1919/20 . Signale für den Katholizismus in der Moderne 1 von Michael Klöcker
1. Verhältnis von Katholizismus und Moderne: Janusköpfigkeit Historie braucht und gebraucht Generalisierungen, die allerdings oft nur grobe Pauschalaussagen sind. Dies gilt auch für etliche schlagwortartige Verkürzungen der ‚Moderne‘ und des komplexen Verhältnisses Katholizismus – Moderne. Zum gängigen Repertoire der Herausstellung kirchlicher Defensive gegen die Moderne zählen Rekurse auf Texte des Vatikanum I 2, auf einschlägige Enzykliken und Verzeichnisse.3 Damit kann das Spektrum ———— 1
2
3
Hier wird, mit Anmerkungen versehen, der leicht überarbeitete Text meines Vortrages auf der zweiten, zusammen mit der Thomas-Morus-Akademie Bensberg veranstalteten Tagung des Landschaftsverbandes Rheinland zum ‚ Katholischen Milieu‘ im Rheinland am 20.4.2007 im Kölner Maternushaus wiedergegeben. Vgl. grundlegend Michael Klöcker: Katholikentage im Erzbistum Köln 1919/20. Analysen und Dokumente mit besonderer Berücksichtigung des Kreises Jülich, Siegburg 2002; ders.: Regionale Katholikentage nach dem Ersten Weltkrieg: Konservative Massenmobilisierung zwischen „Tradition“ und „Moderne“, in: Historical Social Research. Historische Sozialforschung 32 (2007/3), S. 237-269. In den Texten dieses Konzils sind die „modernen Zeitirrtümer“ aus der Leugnung der kirchlichen Autorität als Repräsentanz der vorgegebenen göttlichen Ordnung und Wahrheit begründet worden, und zwar in einer Genealogie, die von der Reformation und ihrem Abfall von der päpstlichen Autorität ausgeht: erst Reformation – dann Aufklärung bzw. Rationalismus – Französische Revolution – Liberalismus – Materialismus – Atheismus. Ausgehend von dem Modernisierungskonzept F.-X. Kaufmanns / K. Gabriels hat H. J. Pottmeyer die Modernisierung im Kirchenkonzept des Vatikanum I prägnant analysiert (Befund: „eingeschränkte“ Modernisierung durch Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme auf der Ebene sozialer Strukturen, keine Modernisierung in Hinsicht auf kulturelle Pluralisierung und Individualisierung): H. J. Pottmeyer: Modernisierung in der katholischen Kirche am Beispiel der Kirchenkonzeption des I. und II. Vatikanischen Konzils, in: F.-Xaver Kaufmann / A. Zingerle (Hrsg.): Vatikanum II und Modernisierung. Historische, theologische und soziologische Perspektiven, Paderborn 1996, S. 131-146, hier S. 132ff. Stichworte zur Ära der hier maßgeblichen Päpste Pius IX. und Pius X.: Enzyklika „Quanta cura“(1864) mit Syllabus (griech. syllabos = Verzeichnis) von 80 Irrtümern; Dekret „Lamentabili sane exitu“ v. 3.7.1907 des Hl. Offizium = neuer Syllabus, der 65 Irrlehren umfasst; Enzyklika „Pascendi dominici“ v. 8.9.1907 mit feierlicher Verurteilung des Modernismus als „Sammelbecken aller Häresien“; Motu Proprio „Sacrorum antistitum“ v. 1.9.1910, das von allen in Seelsorge und Lehre tätigen Geistlichen den „Antimodernisteneid“ fordert. Vgl. grundlegend Hubert Wolf (Hrsg.): Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche. Beiträge zum theologiegeschichtlichen Vorfeld des II. Vatikanums, Paderborn 1998; Hubert Wolf/ Judith Schepers: In wilder zügelloser Jagd auf Neues. 100 Jahre Modernismus und Antimodernismus in der katholischen Kirche, Paderborn 2010.
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der kirchlich verurteilten sog. „modernen Zeitirrtümer“ fixiert werden, denen eine bestimmte Traditionslinie entgegengestellt wird: eine idealisierte mittelalterlich – vorreformatorische Ordnung, wiederhergestellt auf der Grundlage des römischen ‚Papalismus‘, der in die ‚Papstdogmen‘ des Vatikanum I mündet, und auf der Grundlage einer erneuerten Scholastik, die auf Thomas von Aquin rekurriert. Am neuscholastisch orientierten ‚Dogmatismus‘ – unverrückbare, überzeitliche „Wahrheiten“ in den Glaubens-, Wertund Normaussagen, verkündet durch einen Papst, der die Unfehlbarkeit für das Lehramt extensiv auslegt – scheiden sich bis heute (pointiert in der Fundamentalismusdebatte der 1990er Jahre 4) auch innerkatholisch die Geister. Häufig wird das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zur ‚ Moderne‘ auf die Abschottung gegenüber der ‚ modernen Zeitkultur‘ bezogen – eine Abschottung gegen das Wissenschafts- und Weltverständnis der ‚ modernen‘ Zivilisation auf der Grundlage von eigensinnigem Vernunftgebrauch, individueller Autonomie, subjektiver Handlungskompetenz. In einer stattlichen Reihe jüngerer Studien wird die Kirchen- bzw. Katholizismusgeschichte aber gezielt nach alternativen Traditionsaussagen und -linien in der ‚ Pianischen Epoche‘ der Kirchengeschichte (1846-1958) ‚ dechiffriert‘. Dabei treten Öffnungen katholischer Protagonisten, Gruppen sowie Bewegungen gegenüber religiös wünschbaren Fortschritten der ‚Moderne‘ (wie: Akzeptanz des Entwicklungsgedankens, Öffnung gegenüber ‚ säkularen‘ Wissenschaftsfortschritten, Ja zum liberalen Ansatz der ‚ Gesellung‘) hervor – Öffnungen, die in einem gewissen Umfang in das ‚ Aggiornamento‘ des Vatikanum II (1962-1965) mündeten.5 Der Rekurs auf die Kirchengeschichte seit dem Spätmittelalter bzw. in der Neuzeit erweist zudem in beachtlichem Ausmaß Vorsprünge der Kirche in Dimensionen, ———— 4
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Relevante Beiträge: Christoph Weber: Ultramontanismus als katholischer Fundamentalismus, in: W. Loth (Hrsg.): Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, Stuttgart 1991, S. 20 - 45; Franz Böckle: Fundamentalistische Positionen innerhalb der Moraltheologie, in: H. Kochanek (Hrsg.), Die verdrängte Freiheit. Fundamentalismus in den Kirchen, Freiburg i.Br. 1991, S. 137-155. Resümee: Michael Klöcker: Religiöser Fundamentalismus: kritische Diagnosen, in: M. Klöcker / U. Tworuschka (Hrsg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland, Grundwerk Landsberg 1997, hier II-1.2.12. Vgl. grundlegend F.-X. Kaufmann / A. Zingerle (Hrsg.): Vatikanum II und Modernisierung. Historische, theologische und soziologische Perspektiven, Paderborn 1996; Michael Klöcker: Erneuerungsbewegungen im römischen Katholizismus, in: D. Kerbs/ J. Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998, S. 565 - 580; die einschlägigen Veröffentlichungen von Hubert Wolf. Oskar Schröders mustergültige „whig-interpretation“ der Theologieund Katholizismusgeschichte mit ihrer liberalkatholischen Traditionslinie war schon 1943 voll ausgebildet: vgl. H. Wolf / C. Arnold (Hrsg.): Der Rheinische Reformkreis. Dokumente zu Modernismus und Reformkatholizismus, 2 Bde., Paderborn 2001, hier Bd. I, Einleitung von Claus Arnold, S. 32f.
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die als typisch für ‚ Modernisierung‘ gelten 6: ‚ Professionalisierung‘ z.B. gibt es vorweg bei der Herausbildung des Priesterstandes. ‚ Domestizierung‘ durch Sündenbewusstsein und Gewissensbildung gehört zum in der Kirchengeschichte perfektionierten Repertoire kollektiver Bewusstseinsbildung in das Individuum hinein. Der ‚ modern‘ klingende Begriff „Propaganda“ stammt nicht zufällig von der 1622 gegründeten „Sancta Congregatio de Propaganda Fide“. Fazit: Im Zuge der vielseitigen Modernisierungen verliert die Kirche ihre herausgebildete Führungsrolle als Ordnungs-, Deutungsund Lebensmacht; teils allein deswegen, teils angesichts des kirchlichen ‚ Antimodernismus‘ wird das Verhältnis von Kirche und ‚ Moderne‘ als antagonistisch wahrgenommen; demgegenüber sind aber Entwicklungen nachweisbar, die signalisieren: Gegenüber ‚ modernen‘ Ideen, Prozessen, Strukturen, Lebensvollzügen gibt es in der Kirche – das öffentliche und private Verhalten der Kirchenmitglieder mehr oder weniger prägend – eine janusköpfige Spanne zwischen Defensive und Akzeptanz, die mit Schlagworten und pauschalen Aussagen (wie: „Antimodernismus mit den Mittel der Moderne“) nur angedeutet werden kann. Diese Doppelköpfigkeit tritt auf den regionalen Katholikentagen 1919/20 deutlich hervor, ja, diese selber werden zu beachtlichen Propagandaforen antimodernistischer Richtungen, zugleich auch zu beachtlichen Etappen innerkatholischer Modernisierung von Politischer Kultur, Vereinskultur, Festkultur.
2. Regionale Katholikentage nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland/der Kölner Erzdiözese: Relevanz Nach dem 1. Weltkrieg stößt in Deutschland die Abhaltung eines nationalen Katholikentages auf unüberwindbare politische und organisatorische Barrieren. Das Zentralkomitee für die Generalversammlungen der Katholiken Deutschlands initiiert als Ersatz sog. „Einzelkatholikentage“: Nach der „Urkatastrophe“ des Weltkrieges, Revolutionsära und Republikgründung können diese das nunmehr „in allen katholischen Kreisen“ grassierende „Bedürfnis nach gegenseitiger Aussprache, Ermunterung und Stellungnahme“ 7 stillen. Die im Reichsvergleich überproportional hohe Beteiligung im Erzbistum Köln erweist die Rheinlande als eine der Hauptregionen katholischer ———— 6
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Die Dimensionen der Modernisierung werden sehr eindringlich eröffnet durch H. v. d. Loo / W. v. Reijen: Modernisierung. Projekt und Paradox, dt. München 1992. Johannes B. Kißling: Geschichte der deutschen Katholikentage, 2 Bde., Münster 1920 -23, hier Bd. II, 1923, S. 415.
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Massenmobilisierung. in Deutschland. Die Fachkommissionen der allenthalben monatelang beschäftigten Lokalkomitees spiegeln das Sozialprofil der damals aktiv und öffentlich engagierten Mitglieder des katholischen Milieus wider: -
Vertreter der Ober- und gehobenen Mittelschicht in führenden (Ehren-) Ämtern und Funktionen; Dominanz der Mittelschichten mit überproportionalem Anteil aus Lehrerschaft und Justiz sowie geringerem Anteil des Wirtschaftsbürgertums; unterproportionale Beteiligung der Arbeiterschaft, die insbesondere durch Funktionäre der katholischen Arbeiterbewegung vertreten wird; breite Beteiligung des Klerus; Frauen waren durchgängig sehr unterrepräsentiert.
Sonntagsnachmittags beteiligt sich die katholische Bevölkerung – mitgehend, zuschauend – an den als „überwältigend“ beschriebenen Festzügen. „Mancher [alte] Katholikentag, der in seinem Festzug die Vertreter ganzer Provinzen sah“, so vermeldet stolz die „Essener Volks-Zeitung“, „hat gegen den Festzug der Großstadt Essen zurückgestanden. Der Straßburger Festzug vom Jahre 1905 zeigte 250 Fahnen und 35.000 Teilnehmer; der Essener Festzug dürfte dagegen nicht weit zurückgestanden haben.“ 8 In der Festschrift über den Bonner Katholikentag wird ebenso stolz vorgerechnet, dass bei dem Festzug mit einer Beteiligung „von rund 10.000 Männern [...] Bonn viele größere Städte, deren Festzug mit Frauen 13- bis 15.000 Köpfe zählte, weit übertroffen“ habe.9 In der Kölner Erzdiözese ragt der Düsseldorfer Festzug mit geschätzten 50.000 männlichen und weiblichen Teilnehmern hervor (dagegen in Köln und M.Gladbach: immerhin geschätzte 20.000 männliche Teilnehmer). Von Anfang an häufen sich die Meldungen von „übergroßem Andrang“ und „Überfüllung“ der Katholikentagsversammlungen, die jetzt auch Frauen und Jugendliche ab einem bestimmten Alter besuchen dürfen. Der Anspruch der Kirche, „Kulturfaktor allerersten Ranges“ 10 zu sein, wird so spektakulär nach innen und außen vertreten: Bischöfe und die führenden Vertreter des politischen und sozialen Katholizismus nutzen Reden ———— 8 9
10
Essener Volks-Zeitung, Nr. 59 v. 8.3.1920, S. 1. Vgl. Katholikentag in Bonn 16. und 17. Mai 1920. Festbericht, hrsg. i.A. des Zentralkomitees der Katholiken Bonns, Bonn 1920, S. 37f. Bei seiner Rede auf der großen Zentralversammlung des Krefelder Katholikentags am Sonntag, d. 14.9.1919, in der Stadthalle verwendet Studienrat Prof. Dr. Wirtzfeld (= Vorsitzender des Lokalkomitees) diese Formel: Vgl. Niederrheinische Volkszeitung, Nr. 498 v. 15.9.1919, S. 3; Kölnische Volkszeitung, Nr. 726 v. 16.9.1919, S. 1.
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und Resolutionen als Medien zur „Ausgabe von Richtlinien“ 11 für das angesichts der revolutionären Umbrüche öffentlich und privat gebotene Verhalten der Kirchenmitglieder. Auf Außenwirkung zielen Reden und Resolutionen, die im „Schulkampf “ katholische Parolen Richtung Berlin senden wie: „Kirche [:] die Mutter der Schule“ 12, „Für unsere katholischen Kinder katholische Schulen!“ 13 Musterhaft lässt das Lokalkomitee der Aachener Katholikenversammlung die Beschlüsse der Aachener Tagung „gesondert drucken und allen katholischen Abgeordneten, den Parteien, dem Episkopat, der Presse und zahlreichen interessierten Stellen zusenden“.14 Der Wandel von „Generalversammlungen der katholischen Vereine Deutschlands“, die als „Heerschau“ 15 für die Zentrumspartei dienen, wird hier vorexerziert: Hin zu Katholikentagen, die das katholische Deutschland mit einer Viergleisigkeit von Delegiertenversammlungen, öffentlichen Veranstaltungen, Gottesdiensten, Festzügen nach außen und innen öffentlichkeitswirksam repräsentieren und neben politischen Akzenten zunehmend religiöse und gesellschaftliche Leitmotive betonen. Diese „Einzelkatholikentage“ steigern quantitativ und qualitativ Beteiligung und Prägung des Kirchenvolkes erheblich: durch die räumliche Erweiterung, eine massive Integration der Frauen, eine schichtenübergreifende Ausweitung der ab 1902 regelmäßige veranstalteten Festzüge, anfangs nur Aufmärsche der Arbeiterschaft. ———— 11
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In der Vorbesprechung zur Vorbereitung eines Katholikentages für Jülich am 22.7.1920 formuliert Rektor Alex Gabriel schlagwortartig die Hauptfunktionen sowohl der nationalen Katholikentage als auch der aktuellen Einzelkatholikentage: „Bekenntnis zum Glauben und Ausgabe von Richtlinien zur praktischen katholischen Lebensführung“ (zit. Jülicher Kreisblatt, Nr. 167 v. 22.7.1920). Von dieser Formel geht z.B. der Pädagoge Kaspar Kamp (1919 Mitglied der verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung) bei seinem Vortrag über „Katholizismus und Schule“ auf der Hauptversammlung des Bergischen Katholikentags in Elberfeld am 26.10.1919 in der Stadthalle aus: Zit. Kölnische Volkszeitung, Nr. 846 v. 28.10.1919, S. 1. Diese Kernforderung hebt z.B. im „überfüllten“ Kölner Gürzenichsaal Erzbischof Schulte bei seiner Ansprache vor den am Montagnachmittag, d. 10. Mai 1920, „in dichten Scharen herbeigeeilten katholischen Lehrern und Lehrerinnen des Regierungsbezirks Köln“ hervor. Text der Rede: Klöcker: Katholikentage (Anm. 1), S. 214- 216. So berichtet, damit die mustergültige Vorgehensweise publizierend, der Schriftführer des Lokalkomitees, Peter Louis, im Hauptorgan des rheinischen Katholizismus, der „KV: Zu den Auswirkungen des Aachener Katholikentages, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 799 v. 11. 10. 1919, S. 1. Als Präsident des Bonner Katholikentages 1900 hat der Zentrumsabgeordnete Friedrich Graf Praschma diese oft verwendete Terminologie prägnant erklärt: „Das Centrum in den Parlamenten ist gewissermaßen unser stehendes Heer, das katholische Volk aber und alle kirchlichen und politischen Gesinnungsgenossen bilden die Reserve, über die wir auf den General-Versammlungen Heerschau halten und dabei alljährlich unser Verhalten für die Friedenzeit und für eine etwa nothwendige Mobilmachung berathen!“ (Verhandlungen der 47. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands zu Bonn, Bonn 1900, S. 98).
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Modernisierte religiös-politische Festkultur wird vorgeführt: mit effizienter, hauptsächlich von Lokalkomitees geleisteter Organisation, Nutzung der Massenmedien – und zugleich Weiterführung kirchlicher Prozessionstradition. Bei den Festzügen wird das Vorwärtsschreiten der Gläubigen im ‚ profanen‘ Raum (hier der Straßen) – wie prinzipiell auch bei den liturgischen Prozessionen 16 – auf den Heil bringenden Raum der Kirche bezogen, so: (1) im Vorher des morgendlichen Festgottesdienstes vor dem Festzug nachmittags 17; (2) in der Programmatik der Festzüge als offensives Glaubensbekenntnis (deutlich akzentuiert in der kirchlich orientierten Berichterstattung 18); (3) in den Huldigungsreden für den Diözesanbischof bzw. dessen Vertreter 19, die in der Traditionslinie der „Huldigungsprozessionen“ stehen und an die Versicherungen von Treue und Gehorsam gegenüber den bedrängten Bischöfen im Kulturkampf anknüpften; (4) im „Liedgut“ wie auch in Kreuz und Fahnen: „beides Siegeszeichen, in denen sich ein österliches Grundmotiv der Prozession offenbart“.20 Modernisierte Formen der Massenmobilisierung sollen, so betont auf vielen Katholikentagen Wilhelm Marx (damals Vorsitzender der Katholischen Schulorganisation und Generaldirektor des krisengeschüttelten ———— 16
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Vgl. die prägnante Analyse von Sabine Felbecker in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 8, Freiburg i.B. 1999, hier Sp. 697: „Allen liturgischen Prozessionen gemeinsam sind Elemente von Bewegung, Schau und Spiel. Dem Raum der Kirche kommt die Bedeutung des Himmlischen Jerusalem zu; als Visionsraum steht er im Gegensatz zum Alltagraum und wird verlassen, um den Außenraum zu heiligen, betreten, um den Menschen zu seinem Zentrum zu bringen“; die liturgische Prozession sei „Bild des pilgernden Gottesvolkes. Die Prozession zeigt etwas, indem sie es enthüllt und zugleich den Augen entzieht. So wird deutlich, daß liturgisches Sehen nur möglich ist im Vorübergang, nur flüchtig, unter eschatologischem Vorbehalt“. Vgl. Katholikentag in M.Gladbach vom 10. bis 12. Juli 1920, M.Gladbach 1920, S. 19: „Das feierliche Pontifikalamt war gleichsam der nach innen, nach dem Seelischen und Göttlichen gerichtete Höhepunkt des M.Gladbacher Katholikentages, ihm folgte ein nicht weniger glänzender äußerer Höhepunkt: Der Festzug am Nachmittag“. Vgl. z.B. die Charakterisierung des Festzuges im Düsseldorfer Tageblatt, Nr. 430 v. 11.10.1920: „Das war wie ein sieghaftes Jubeln, nein, wie siegstolzes, unerschütterlich festes Bekennen zum Größten und Herrlichsten, was die Welt in sich schließt, zu der von Gott gestifteten ‚Una sancta ‘, zur einen, heiligen, katholischen Kirche“ (gesperrter Text im Original hier durch Kursivdruck hervorgehoben). Beispiel Essen: Erneuerung des Schwures „unverbrüchlicher Anhänglichkeit, Liebe und Treue zu unserer heiligen Kirche und der ihr von Gott gesetzten Obrigkeit“, dem die Versicherung nationaler Zuverlässigkeit folgt (vgl. Klöcker: Katholikentage, Anm. 1, S. 256f.). Diese Versicherung nationaler Zuverlässigkeit gab es auch im Rahmen der Festzüge der gesamtdeutschen Katholikentage: Vgl. z.B. Verhandlungen der 55. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands in Düsseldorf vom 16. bis 20. August 1908, Düsseldorf o.J., S. 144. J.A. Jungmann: Prozession. I. Liturgisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2.Aufl., Bd. 8, Freiburg i.Br. 1963, hier Sp. 844. Vgl. ebd., Sp. 843f.: „Zur Ausstattung der Prozession gehört schon früh das Kreuz [...]; ihm folgen seit dem 10. Jh. die Fahnen [...] Verschieden davon sind die Bußund Betprozessionen, in denen man dunkle Paramente trug und oft barfuß ging“.
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Volksvereins für das katholische Deutschland, später viermal Reichskanzler), die „Stimmung des katholischen Volkes [...] bei der gesetzgebenden Nationalversammlung zum Ausdruck“ 21 bringen. Es geht aber, das erweisen insbesondere Auftreten und Reden des Erzbischofs, um viel mehr als kampfbereite politische Effektivität: nämlich um vertrauensvolle, Standesunterschiede übergreifende Integration in die Kirche mit ihren Autoritäts- und Wertvorstellungen.
3. Signale der „einmütigen Macht“ im Rahmen der kirchlichen Hierarchie Bei den Festzügen werden an hervorragenden Orten der Diözesanbischof bzw. sein Stellvertreter platziert, die Repräsentanten des Laienkatholizismus (Festzugsleiter, Präsidenten der Lokalkomitees) halten ihnen „Huldigungsreden“, in denen das Gelöbnis der „unverbrüchlichen“ Treue zu Kirche und kirchlicher Obrigkeit im gleichen Tenor, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung „erneuert“ wird; das vorbeiziehende Kirchenvolk erweist seine Reverenz mit ostentativem Händewinken, Hochrufen oder auch „lustigem Hüteschwenken“: so die Vereinsjugendlichen in Bonn. In Köln nimmt Erzbischof Schulte selbstverständlich auf dem Balkon der Erzbischöflichen Residenz die „ehrfurchtsvollen Grüße“ der vorbeiziehenden Zugteilnehmer entgegen, zunächst die „fortgesetzt“ erschallenden „jauchzenden Hochrufe“ der Vereinsjugendlichen an der Spitze des Festzuges. Auf Hochrufe und das Winken „seiner Erzdiözesanen“ von unten herauf antwortete er durchgängig von oben herab mit „Gegengruß und freundlichem Zuwinken“ bzw. „Zunicken“ 22: eindrucksvolle Bilder der hier als Harmonie exerzierten Körpersprache von Unterordnung und Herrschaft. Die Massenmobilisierung ist so zur sinnbildlichen, in den „Huldigungsreden“ zur wortwörtlichen Demonstration der „unverbrüchlichen“ Geschlossenheit im Rahmen der kirchlichen Hierarchie geronnen. In Reden und Ritualen wird leitmotivisch die unbedingte Papsttreue bekräftigt. Die hoheitliche Leitungsgewalt des Diözesanbischofs tritt bei Vorbereitung, Verlauf und Gestaltung der Katholikentage hervor.23 Der neue Erzbischof Karl Joseph ———— 21
22 23
Rede von Marx auf dem ersten niederrheinischen Katholikentag in Kleve am 7.9.1919, Textwiedergabe in: Clevischer Volksfreund, Nr. 202 v. 9.9.1919, S. 1. In Fettdruck hervorgehoben ist ebd. sein anschließender Satz: „Wir müssen Massenorganisation betreiben.“ Zitate aus der Festzug – Schilderung in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 355 v. 10.5.1920, S. 1. Eingehende Analyse: Klöcker: Katholikentage (Anm. 1), S. 36 - 42.
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Schulte nutzt die Gelegenheit, sich auf den Katholikentagen in Köln, Bonn und M.Gladbach als neuer Oberhirte vorzustellen. In seinen Reden bündelt er (ab 1921 Kardinal) die ‚Kardinalthemen‘ der Gegenwart in griffige Formeln und absolut gesetzte Gegensätze eines Himmel-Hölle-Dualismus: „Gottesglaube oder Unglaube: Das ist das große Entweder – Oder, das die Geisteswelt in zwei feindliche Lager spaltet und voneinander scheidet“.24 Vorweg mit einem Porträtfoto Schultes beginnt der Festbericht über den Bonner Katholikentag; die darauffolgende Kurzbiographie des neuen Oberhirten gipfelt in Ruhmesworten über den begeisterten und begeisternden Oberhirten: ein hagiographisches Beispiel der idealisierenden Vermittlung von Autorität.25 Die Katholikentage erweisen sich so als Manifestationen der milieutypischen patriarchischen Kirchenführung. Mit und hinter der auf den Katholikentagen eindrucksvoll inszenierten und demonstrierten Entfaltung betont „einmütiger“ Geschlossenheit zeigen sich allerdings Bedrohungen von außen und Risse im innern, die auch formuliert werden. Die massive Geschlossenheit im Rahmen der kirchlichen Hierarchie wird in den Reden durchgehend als notwendige Formierung gegen die gefährlich virulenten Veränderungen in Staat, Gesellschaft, Kultur und Ökonomie herausgestellt. „Führer und Masse“: Im publizistischen Hauptorgan des westdeutschen Katholizismus, der „Kölnischen Volkszeitung“, konstatiert Anfang September 1919 Leo Schwering in einem Leitartikel unter dieser Überschrift, es gebe „keine Frage in der deutschen Demokratie und vor allem für die deutsche Zukunft“, die augenblicklich drängender sei als diese. „Tatsache ist aber auch, daß die Massen auf ihre Führer nicht mehr hören. [...] Der Grundstein aller Autorität, die Religion, ist in den Herzen von Millionen von Deutschen ausgerissen worden“.26 Prägnant wie kein anderer auf den Katholikentagen im Kölner Erzbistum hat der Redemptorist Kethers in Aachen die innerhalb des Katholizismus drohende Infizierung durch eine Ausdehnung des „schroffsten“ Parlamentarismus an die Wand gemalt: nämlich als ein insbesondere „in bessern, akademischen Kreisen“ schon sichtbares Schreckgespinst, in dem nicht mehr die „selbstverständliche“ Unterord———— 24
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Rede auf der großen Männerversammlung des Bonner Katholikentages am Sonntagmittag, d. 17.5.1920, auf dem Poppelsdorfer Schlossplatz: Katholikentag in Bonn (Anm. 9, S. 39 - 41, hier S. 40. Fettdruck im Original: hier durch Kursivdruck hervorgehoben. Dokumentation von drei Reden Schultes: Klöcker, Katholikentage (Anm. 1), S. 210 - 216, 235 - 237. Katholikentag in Bonn (Anm. 9), S. 3f. ohne Verfasserangabe. Als (Mit-)Autor kann der Vorsitzende der Presse-Kommission des Lokalkomitees, Chefredakteur Dr. Abel, vermutet werden. Kölnische Volkszeitung, Nr. 689 v. 3.9.1919, S. 1. Vgl. Klöcker: Katholikentage (Anm. 1), S. 50.
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nung unter die päpstlichen Gesetze und die kirchliche Disziplinargewalt, sondern schrankenlose Freiheit herrscht.27
4. Signale für graduell erweiterte Mitwirkung des Kirchenvolkes Bei Vorbereitung und Durchführung der Katholikentage werden immerhin – im unangetasteten Rahmen kirchlicher Hierarchie und Verfassung – Konturen einer Mitwirkung der Laien sichtbar, die räumlich, quantitativ und qualitativ in erheblichem Ausmaß Partizipationserweiterungen im katholischen Milieu wie auch deren Grenzen erweisen. In den Lokalkomitees als ‚ Kerngruppen‘ (den damals verbreiteten militaristischen Vorstellungen entsprechend sog. „Kerntruppen“) erstreckt sich das Engagement von Leitungsfunktionen auf der Vorstandsebene bis hin zu mühseligen Kleinarbeiten in den funktionell differenzierten Kommissionen (da gibt es Redner-, Finanz-, Presse-, Ordnungs-, Bau- und Ausschmückungs-, Wohnungs- und Festzugskommissionen).28 Eingebunden werden jetzt als Redner oder Versammlungsleiter auch Führungsvertreter auf örtlicher bzw. regionaler Ebene, die auf gesamtdeutschen Katholikentagen höchstens als unbedeutende Teilnehmer erschienen wären. Der reformkatholisch orientierte Bonner Theologieprofessor Arnold Rademacher wird auf mehreren Tagungen zu Ansprachen gebeten.29 Die ‚ volksrhetorisch‘ durch Kanzelreden und Volksmissionen geübten Ordensmänner können jetzt zahlreich eingesetzt werden. In massiver Anzahl bieten die Einzelkatholikentage Raum für Chöre der Kirchen, Gesangvereine, Schulen. „Besonders muß“, so betont der Vorsitzende des Aachener Lokalkomitees, Sanitätsrat Martin Winands, „erwähnt werden, daß die Frauen diesmal zum ersten Male und sicher nicht zum Schaden des Ganzen mit Begeisterung und Aufopferung mitgewirkt haben“.30 Erstmals nehmen Frauen mas———— 27
28
29 30
Vgl. die Rede von W.Th. Kethers über „Papst und Papsttum, das Gewissen der Welt“ auf einer „Öffentlichen Versammlung“ der Aachener Katholikenversammlung am Sonntagnachmittag, d. 5.10.1919: Aachener Katholikenversammlung 1919. Reden, Vorträge und Beschlüsse, hrsg. vom Lokalkomitee in Aachen, Aachen o.J., S. 43-53, hier speziell S. 49f.; Klöcker: Katholikentage (Anm. 1), S. 50- 52. Zu Vorbereitung und Durchführung der Katholikentage durch „Lokalkomitees“ (Begriff im Anschluss an das modifiziert angewandte Muster der Lokalkomitees der Generalversammlung der Katholiken Deutschlands, daneben Verwendung von Bezeichnungen wie „Vorbereitender Ausschuss“) vgl. Klöcker: Katholikentage (Anm. 1), S. 116 - 129. Vgl. ebd., Register, S. 433. Aachener Katholikenversammlung (Anm. 27), S. 4.
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siv an den Versammlungen der Katholikentage teil – zuhörend; einige Frauen traten sogar als Rednerinnen hervor 31: unüberseh-, unüberhörbare Signale für eine erweiterte Akzeptanz und Einbindung der Frau im Katholizismus. Ab 1921 werden dann Frauen auch als vollgültige Mitglieder der gesamtdeutschen Katholikentage zugelassen. Zur gezielten Massenmobilisierung der Frauen werden auf den Einzelkatholikentagen 1919/20 Montagnachmittag oder Montagabend große öffentliche Versammlungen veranstaltet.32 Der Umgang der Kirchenführung mit den katholischen Frauen und ihren Protagonistinnen wird hier vorexerziert: einerseits Festhalten an den im Verlauf der Kirchengeschichte stilisierten geschlechtsspezifischen Unterschieden und der vehementen Bekämpfung ‚ emanzipatorischer‘ Bestrebungen, andererseits geschickte Einbindung der jüngeren Aufbrüche zu selbständigem Engagement katholischer Frauen. 33 Die Kölner Christliche Gewerkschafterin Christine Teusch spricht in M.Gladbach.34 Sie schärft das kirchlich und patriotisch gebotene Frauenbild ein – symbolisch subsumiert unter drei Blumen der Kirche: „die bescheidene blaue dunkle Blume der dienenden Demut und Liebe, die weiße Lilie der unberührten Reinheit und die glutrote Rose liebeglühenden Glaubens“. Der hinzugekommene Erzbischof richtet noch „einige Worte“ an die Versammlung, nicht ohne die „für ihren hl. Glauben und die Ideale des wahren Glaubens so begeisterte und apostolisch wirkende“ Rednerin zu loben, der „gewaltigen Arbeit“ der katholischen Frauenorganisationen in den vergangenen Jahren „wahre Ehrfurcht und Hochschätzung“ zu bekunden. Ja, er betont die Notwendigkeit ———— 31
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Im alphabetischen Inhaltsverzeichnis der „Ordnung der General-Versammlung der Katholiken Deutschlands“ von 1912 gab es nur einen Hinweis auf die Frauen: nämlich auf den § 94, erster Absatz, der zum Regelwerk für die Bau- und Ausschmückungskommission zählt: „Im Zuhörerraum der Festhalle sind für die vordersten Reihen im Erdgeschoß und in der Frauenabteilung der Galerie numerierte Sitzplätze herzustellen“ (Ordnung der General -Versammlung der Katholiken Deutschlands 1912, S. 28). Reden von Frauen in Vereinsversammlungen waren eine seltene Ausnahme. Daraufhin „kamen“ z.B. in M.Gladbach geschätzte „8000-10 000 Frauen [...] zusammen und statt der vorgesehenen einen Versammlung mußten sofort drei veranstaltet werden: in der Kaiser Friedrich-Halle, in der Franziskanerkirche und im Vitushaus. Sie waren alle überfüllt und doch standen noch immer hunderte, die keinen Einlaß fanden. Auch sie sollten nicht umsonst gekommen sein. Draußen im Kaiserpark um den Musikpavillon wurde rasch eine vierte Versammlung arrangiert“ (Katholikentag in M.Gladbach vom 10. bis 17. Mai 1920, M.Gladbach 1920, S. 62). Zur organisatorischen Entfaltung und kulturellen Prägung vgl. Alfred Kall: Katholische Frauenbewegung in Deutschland. Eine Untersuchung zur Gründung katholischer Frauenvereine im 19. Jahrhundert, Paderborn 1983; Michael Klöcker: „Göttliches Wissen“ für das römisch-katholische Mädchen, in: metis, H.2/1994, S. 49- 66; neuerdings u.a. Birgit. Sack: Zwischen religiöser Bindung und moderner Gesellschaft. Katholische Frauenbewegung und politische Kultur in der Weimarer Republik (1918/19-1933), Münster 1998. Vgl. Klöcker: Katholikentage (Anm. 1), Register, S. 436.
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von Akademikerinnen „in all’ den verschiedenen Sparten des geistigen Lebens“: Szenen und Worte wie diese erweisen vorbildlich, wie der Gleichklang zwischen der kirchlichen Hierarchie und gesteigertem Laienengagement inszeniert und demonstriert wird. In Krefeld, Elberfeld und Düsseldorf werden auch „Jungfrauen und Frauen“ am Festzug beteiligt. Die Nichtteilnahme von Frauen am Festzug wird durchweg nicht öffentlich thematisiert; eine Ausnahme bildete Neuss, wo organisatorische Gründe angeführt werden und die Landtagabgeordnete Elise Stoffels auf der SchlussFestversammlung, damit mögliche Unzufriedenheit besänftigend, resümiert: „Auch die Frauen waren dabei, wenn auch nicht im stolzen Festzug, so doch bei der Kommunionbank, bei den Gottesdiensten und den Versammlungen“.35 Die Resolutionen, auf den öffentlichen und Vereins-Sitzungen der Katholikentage durchweg mit Beifall verabschiedet, werden durchgängig ohne auch nur eine Gegenstimme angenommen 36: Die für die kulturelle Prägung und Praxis im damaligen katholischen Milieu typische Konsenskultur wird so eindrucksvoll erhellt – noch weit entfernt von einer demokratischen Diskurs- und Entscheidungskultur, bei der öffentlich in aller Schärfe Kontroversen ausgetragen werden.
5. Signale für mentale, soziale, politische, kulturelle Richtungen Auf eine fortgesetzte militärische, wenn nicht militaristische Mentalität verweisen die häufige Rhetorik der politischen und geistigen „Gefechtsbereitschaft“ 37, auch das bei den Festzügen teils auffällig militärische Auftreten ———— 35 36
37
Zit. Neuß-Grevenbroicher Zeitung, Nr. 170 v. 30.5.1920, S. 2. Zu den Modi der Konzeption und Annahme der Resolutionen vgl. Klöcker: Katholikentage (Anm. 1), S. 154-157. In der zeitgenössischen Berichterstattung wird das Beschlussritual meist ausgespart; wenn es geschildert wird, so mit Formulierungen wie den folgenden: Am Ende der Zentralversammlung in der Stadthalle wurde in Krefeld die von dem Vorsitzenden des Lokalkomitees „eingebrachte“ Resolution „mit großem Beifall begrüßt und einstimmig angenommen“ (Niederrheinische Volkszeitung, Nr. 498 v. 19.9.1919). In der „Dürener Zeitung“ (Nr. 231 v. 27.10.1919, S. 2) wird bei der Berichterstattung über die Versammlung in der Annakirche der Modus der einstimmigen Annahme geschildert: „Lautester Beifall der Versammlung gab die Zustimmung zu dieser Entschließung“. „Unter lebhaftem Beifall gelangte“, so wird in der Broschüre über den M.Gladbacher Katholikentag berichtet, auf der geschlossenen Versammlung für Caritasfragen die Resolution „einstimmig und ohne Diskussion zur Annahme“ (Katholikentag in M.Gladbach 1920, Anm. 32, S. 51). In den Reden der Katholikentage wird oft auf die notwendige „Gefechtsbereitschaft“ der Katholiken verwiesen. Schon in der „Poetischen Begrüßung“ der Aachener Katholikenversammlung (do-
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analog zu Marschkolonnen. Selbstkritische Reflexionen über die Kirche als gefährliches Triebwerk für den (Welt-)Krieg fehlen. Die Katholikentage wirken allerdings auch als Akkumulator neuer Kulturströmungen, speziell neuer Vereinigungen, die bisher vernachlässigte Sozialschichten und den Trend zu gesteigerter Partizipation berücksichtigen. Dies zeigt sich in dreierlei Hinsicht: (1.) im Auftreten des Protagonisten der Liturgischen Bewegung, Ildefons Herwegen (Abt von Maria Laach) 38; (2.) in der starken Unterstützung der neuen, systematisch die Gymnasiasten erfassenden katholischen Jugendbünde: Quickborn und der Bund Neudeutschland, als Gründung des Kölner Kardinals Hartmann in den Rheinlanden favorisiert. In diesen Bünden zur Eliterekrutierung wachsen die Mitwirkungsmöglichkeiten aktiver älterer Jugendlicher. 39 (3.) Die Formierung jener „berufsständischer“ Vereinigungen wird gefördert, die bisher vernachlässigt waren (wie: Katholische Beamtenvereine, Katholisch-Kaufmännische Vereine, Vereine für katholische deutsche Sozialbeamtinnen).40 Politische Akzente setzten die Einzelkatholikentage als Foren, - die zur Einschärfung typischer Frontlinien im katholischen Milieu gegen die feindlichen politischen Ideologien und Bewegungen (Liberalismus, Sozialismus Sozialdemokratie) dienen; - auf denen einerseits Brisanz und Virulenz der zeitgenössischen Aufbrüche zu Demokratisierung und liberalisierter Gesellschaft als bedrohliche Herausforderungen für katholisch-kirchliche Autoritätsmuster und Werte/Normen hervortreten, andererseits auch für pragmatische Akzeptanz der demokratischen Verfassung plädiert wird; - die insbesondere den katholischen Arbeiterführern ein Forum für ihre Sozialkritik und für sozialethische Neuorientierung bieten; - auf denen das Solidarismus-Konzept schon mit beachtlicher Verve vertreten wird; - die in Reden und Resolutionen bildungs-, gesellschafts- und wirtschaftspolitische Akzente setzen: (1) Erhaltung der konfessionellen Schule, (2) Bekämp———— 38
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kumentiert bei Klöcker: Katholikentage, Anm. 1, S. 190-191) wird der Bogen gezogen von den Kriegsgefechten zum „Geisteskampf “, zu dem die Katholiken nunmehr aufgerufen seien. Vgl. Klöcker: Katholikentage (Anm. 1), Register, S. 426. Ebd., S. 206f.: Wiedergabe der Rede, mit der Herwegen auf der Aachener Katholikenversammlung für die „Erneuerung des religiösen Lebens aus dem Geist der Liturgie“ wirbt. Vgl. ebd., Register, S. 432f. Im Erzbistum Köln wird auf den Katholikentagen vor allem für den 1919 von dem Kölner Kardinal Hartmann angeregten Bund Neudeutschland geworben. Die Organisation dieses Bundes signalisiert die nun oberhirtlich akzeptierte Wende weg von der herkömmlichen Kongregation: Selbstgewählten Führern stehen geistliche Beiräte zur Seite; Ortsgruppen (nicht die Pfarrei) und landsmannschaftlich bestimmte „Gaue“ (nicht die Diözese) werden Gliederungskategorien. Vgl. ebd., Register, S. 427, 437.
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fung der öffentlichen Unsittlichkeit zum Schutz der christlichen Erziehung und der christlichen Familie, (3) wirtschaftlicher Wiederaufbau im Geiste christlicher Nächstenliebe, wie sie in der katholischen Kirche in der Gemeinschaftsorientierung, der Arbeitsethik und der Caritas zum Vorschein kommen.
Die junge Republik wird nicht emphatisch begrüßt; es gibt aber immerhin – z.B. am 11. Juli 1920 bei den Vorträgen über „Katholik und Volksstaat“ auf den sonntäglichen Versammlungen des Katholikentages in M.Gladbach 41 – pragmatische Bekenntnisse zum „Volkssstaat der Republik [...] und seiner Verfassung“.42 In der Eickenerkirche fordert so der publizistisch einflussreiche Hauptredakteur der „Kölnischen Volkszeitung“, Karl Hoeber, realistische Akzeptanz der Demokratie als Grundlage effektiver Einflussnahme: „Wir müssen in diese Demokratie, diesen Volksstaat hineinwachsen und ihm die rechte Fasson geben. Die demokratische Verfassung, die wir haben, können wir nicht nach Gutdünken und nach Willkür anerkennen und ablehnen. Sie ist das Ergebnis einer Entwicklung, die über ein Jahrhundert bei uns wirksam war. [...] Nun haben wir den deutschen Volksstaat, und es gilt, ihm gegenüber die richtige Stellung einzunehmen“.43 Auf dem Dürener Katholikentag verbindet Geheimrat Dr. Joseph Franke, Direktor des Kölner Dreikönigs-Gymnasiums, die „unbedingt“ mögliche Anerkennung der demokratischen Staatsform mit einem bemerkenswerten apologetischen Rekurs auf die demokratische und kommunistische Kirchentradition: „Die Revolution von 1918 hatte einen doppelten Charakter, einen politischen und sozialen. Ihr politisches Ergebnis, den Volksstaat, kann das Christentum unbedingt anerkennen; denn es ist mit keiner Staatsform verkettet, sondern schwebt über der jeweiligen Staatsform, da es kein Reich dieser Welt, sondern ein Reich der Geister zur Vorbereitung auf das Jenseits anstrebt. Auch seine eigene Verfassung ist bei theokratischer Verfassung und deren Vertretung durch den infallibilen Papst doch im einzelnen echt demokratisch, da nieman———— 41
42
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Vgl. Katholikentag in M.Gladbach 1920 (Anm. 32), S. 29ff.: Vorträge über „Katholik und Volksstaaat“ des Trierer Studienrats Dr. Wirtz (Versammlung in der Münsterkirche), des Linnicher Seminardirektors Michael Schnitzler (Versammlung in der Kaiser Friedrich-Halle), des ApologetikSpezialisten im Volksverein für das katholische Deutschland, Dr. Franz Meffert (Versammlung in der Franziskanerkirche), des Hauptredakteurs der „Kölnischen Volkszeitung“, Karl Hoeber (Versammlung in der Eickenerkirche). Vgl. exemplarisch ebd., S. 34f., die Kernpasssagen in der Rede Schnitzlers (bei Klöcker, Katholikentage, Anm. 1, S. 219- 221 dokumentiert). Flankiert werden diese Reden durch Vorträge zur Thematik: Was tragen wir Katholiken zur sittlichen Erneuerung unseres Volkes bei? Zit. Katholikentag in M.Gladbach 1920 (Anm. 32), S. 42. Fettdruck im Original wird hier durch Kursivdruck hervorgehoben.
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dem der Aufstieg zu seinen höchsten Würdenstellen verwehrt ist. Auf sozialem Gebiete hat das Christentum durch praktische Betätigung echter Caritas stets die Hülfe aller Notleidenden erstrebt und in hohem Maße erreicht. Es kann daher eine gute Strecke mit den sozialen Gedanken der Demokratie mitgehen. Aber an zwei Punkten wird es stets festhalten müssen, an der Unverletzbarkeit des Privateigentums und an der christlichen Auffassung von seinem Gebrauche. Gewiß war das erste Christentum kommunistisch; aber die Hingabe des Vermögens erfolgte freiwillig, nicht auf Druck oder aus Zwang. Diesen Kommunismus allein kann das Christentum anerkennen.“ 44
Am Beginn der Weimarer Republik werden in den Einzelkatholikentagen am Rhein musterhaft Leitideen und Leitbegriffe für die Staats- und Gesellschaftsordnung formuliert. Recht deutlich zeichnet sich ab, dass die „antimodernistischen“ Richtungen gegen Individualismus, Subjektivismus und Liberalismus nach dem Ersten Weltkrieg in sehr hohem Ausmaß in eine Ausrichtung auf völkischen Zusammenhalt münden 45: „Volksgemeinschaft“, „Volksstaat“, „völkischer Wiederaufbau“ gewinnen nach dem Zusammenbruch der alten Gesellschaft jetzt einen zentralen terminologischen Rang für die notwendige intensive Gemeinschaftsorientierung; die Wort-, wenn auch nicht Sinnidentität mit der NS-Weltanschauung sollte später verhängnisvoll werden. Die Kirche wird als ein unverzichtbarer Träger des „völkischen Wiederaufbaus“ 46 hervorgehoben, als Garant von Nächstenliebe im Wirtschaftsle———— 44
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Rede von Dr. Joseph Franke („Geheimer Studienrat“, ab 1912 Kölner Gymnasialdirektor) über „Katholizismus und Demokratie“ auf der öffentlichen Versammlung des Dürener Katholikentages am Sonntagnachmittag. d. 26.10.1919, in der Annakirche: Dürener Zeitung, Nr. 231 v. 27.10.1919, S. 1. Zu Joseph Franke (1865 -1925; 1893 Oberlehrer in Köln am städtischen Gymnasium und Realgymnasium in der Kreuzgasse; nach Gymnasialdirektor-Stationen in Schlesien und Emmerich Ostern 1912 Leitung des Kölner Dreikönigsgymnasiums, des ehemaligen Marzellengymnasiums; bekannt durch seine Schulausgaben von Tacitus und Herodot; kunstgeschichtliche und pädagogische Aufsätze in Fachzeitschriften; Reisen durch Europa und Afrika) vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln, Bestand 1010 (= von Dr. Josef Bayer gesammelte Zeitungsausschnitte), Fasz. 8, Bl. 387f. (hoffentlich noch erhalten). Vgl. zu dieser Ausrichtung schon die prägnanten Analysen bei Kurt Töpner: Der deutsche Katholizismus zwischen 1918 und 1933, in: H.J. Schoeps (Hrsg.): Zeitgeist der Weimarer Republik, Stuttgart 1968, S. 176-202; Alois Baumgartner, Sehnsucht nach Gemeinschaft. Ideen und Strömungen im Sozialkatholizismus der Weimarer Republik, Paderborn 1977. Zur Relevanz des völkischen Denkens auf den Katholikentagen 1919/20 vgl. Klöcker: Katholikentage (Anm. 1), passim (Register, S. 437). Oberpfarrer Jakob Odenthal wirbt z.B. im Festblatt für den Dürener Katholikentag mit folgendem Text: „Der Katholikentag sollte werden zu einer reichlich sprudelnden Quelle religiöser und sittlicher Erneuerung des einzelnen und der Gesamtheit und damit ein Wesentliches beitragen auch zum völkischen Wiederaufbau unseres Vaterlandes“ (zit. Kölnische Volkszeitung, Nr. 846 v. 28.10.1919, S. 1).
Die rheinischen Katholikentage 1919/20
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ben und zugleich einer „immerwährenden Caritas, die in der Stille waltet und die niemals streikt“.47 Im westdeutschen, sehr stark vom M.Gladbacher Volksverein geprägten Sozialkatholizismus wird nach dem Ersten Weltkrieg – das tritt bei den Katholikentagen in der Kölner Erzdiözese hervor – die damals federführend von Heinrich Pesch SJ entfaltete Konzeption des „Solidarismus“ 48 bereits mit beachtlicher Verve ‚vor Ort‘ vertreten. So behauptet der Hagener Rektor Anton Rheinländer auf dem Essener Katholikentag (vor der Festversammlung des Katholischen Lehrervereins und des Vereins katholischer Lehrerinnen) apodiktisch: „Nur das System des christlichen Solidarismus, der christlichen Volksgemeinschaft, besitzt die Bürgschaft einer guten neuen Zukunft“.49 Die Massenmobilisierung gilt neben dem politischen Kampf um kirchliche Unabhängigkeit vor allem der persönlichen Verhaltenskonditionierung in der als schrecklich und bedrohlich wahrgenommenen „modernen“ Gesellschaft, die nämlich, so der Tenor der vehement vorgetragenen Sozialund Kulturkritik, von grassierender „Unsittlichkeit“, Schieber- und Wuchertum sowie Massenelend infiziert ist. In den Resolutionen des Düsseldorfer Katholikentages vom 11.10.1920 werden die als virulent diagnostizierten „Zeitfragen“ geradezu mustergültig aneinandergereiht: Schulfrage, Schund- und Schmutzliteratur, Kinematograph, Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit.50 Aktives Engagement in den katholischen Defensivorganisationen wird da zur Maxime. Als fürchterliche Symptome der Abkehr von Religion und Kirche in der Moderne werden die Signaturen der Zeit gegeißelt. Es gilt in der Wahrneh———— 47
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So wird es in der Kölnischen Volkszeitung in den vermutlich vom Hauptredakteur Karl Hoeber verfassten „Gedanken zum Kölner Katholikentag“ formuliert (Nr. 363 v. 12.5.1920, S. 1): „Diese Caritas“ stehe „bei den Müttern und Säuglingen, sie tröstet und hilft in Kranken- und Waisenhäuser, sie schützt und bewahrt die unerfahrene Jugend, besonders die weibliche, in der Großstadt, sie sorgt, wacht und betet Tag und Nacht am Kranken- und Sterbebett“ (ebd.). Nach dem Ersten Weltkrieg verbreitet Pesch sein Konzept kurzfristig unter dem Namen „christlicher Sozialismus“. Die Denktradition des katholischen Antikapitalismus wird jetzt im Sozialkatholizismus fortgesetzt, scharf vom sozialdemokratischen/sozialistischen Verständnis abgegrenzt; es geht Pesch um die Konzeption eines „dritten Weges“ zwischen Individualismus bzw. Kapitalismus und Sozialismus. Die Relevanz solidaristischer Gedanken erweist sich auch bei den Beschlüssen des Essener Kongresses der Christlichen Gewerkschaften von 1920 und im Programmentwurf des Kartellverbandes der katholischen Arbeiter- und Arbeiterinnenvereine, den der Vorsitzende Otto Müller im Herbst 1920 zur Diskussion stellt und der im Mai 1921 in Würzburg angenommen wird: Vgl. Albert Eßer, Wilhelm Elfes 1884-1969. Arbeiterführer und Politiker, Mainz 1990, S. 47ff. Zit. Essener Volks-Zeitung, Nr. 61 v. 10.3.1920, S.1. Vgl. Klöcker: Katholikentage (Anm. 1), S. 144 u. Register, S. 435. Text der Resolutionen: Klöcker: Katholikentage (Anm. 1), S. 292 - 296.
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mung der Kirchenvertreter, „Dämonen“ abzuwehren und auszutreiben: nämlich den „Dämon der Auflehnung“, zu dem sich die „Dämonen der Habsucht und Sinnlichkeit“ gesellen51: dämonische Gefahren und Gefährdungen, effektiv nur zu bekämpfen durch konsequente Rückkehr zu kirchlich-religiöser Prägung.
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Vgl. so die Formulierung des Paderborner Generalvikars Anton Joseph Rosenberg in seinem Aufsatz „Zeitlage und kirchliches Leben im Jahre 1919/20“ im offiziösen Kirchlichen Handbuch für das katholische Deutschland, Neunter Band: 1919-1920, Freiburg i.Br. 1920, S. 74-121, hier S. 92.
Nicht aus Furcht vor dem sicheren Tod . Das Testament der Maria Anna von Bylandt (1711-1787), Seniorissa des Kanonissenstifts Vilich bei Bonn von Wolfgang Löhr
Nicht aus bloser Forcht des allen Menschen eins sicheren Todts, sondern weil dessen Stunde unsicher, so beginnt nach Anrufung der zweiten Dreifaltigkeit 1 Jesus, Maria und Joseph die letzte Fassung des Testaments der ältesten Kapitularin des hochadlich-freiweltlichen Stifts zu Vilich Maria Anna von Bylandt aus Rheydt. Ihr letzter Wille war erstmals 1763 aufgenommen, dann 1780 und schließlich 1785 abgeändert worden.2 Zwei Jahre später starb sie im Alter von 76 Jahren.3
Die Familie von Bylandt-Schwarzenberg zu Rheydt Maria Anna entstammte der Familie von Bylandt-Schwarzenberg zu Rheydt, einer jülichschen Unterherrschaft 4, die ihrem Vater, dem Freiherrn Arnold Christoph von Bylandt (1680-1730) 5, am Ende langer Streitigkeiten vom Reichskammergericht in Wetzlar für die Zeit ab 1701 zugesprochen worden war.6 Er gehörte der katholischen Linie Schwarzenberg dieses niederländisch———— 1
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Michael Fischer-Rebecca Schmidt, „Mein Testament soll seyn am End“. Sterbe- und Begräbnislieder zwischen 1500 und 2000 (Volksliederstudien 6), Münster u.a. 2005, S. 129. Familienarchiv Hompesch (im Folgenden FAH) im Landesarchiv Brünn (Brno) 2679. Diese Archivnummer umfasst 4 Kartons. Die Unterlagen über die Hinterlassenschaft liegen im Karton 409, der wiederum mehrere Pakete enthält, die jeweils gesondert und nicht durchlaufend gezählt sind. Ein beglaubigtes Testament befindet sich in Paket 2 fol. 26ff. und 34ff., Paket 3 fol. 86ff. und Paket 4 fol. 37- 40, das hier zitiert wird; dort fol. 29 -35v das Inventar des Nachlasses, das ebenfalls hier zu Grunde liegt; im Folgenden FAH Paket 4 zitiert. Über sie s. Wolfgang Löhr, Karl Kaspar von Bylandt (Zeugen städtischer Vergangenheit 16), Mönchengladbach 1998, S. 47- 49. Zur Entstehung der Unterherrschaft s. Wolfgang Löhr, Rheydt im Mittelalter, in: ders. (Hrsg.), Loca Desiderata. Mönchengladbacher Stadtgeschichte Bd. 1, 2. Aufl. Mönchengladbach 2005, S. 387- 418, hier S. 392. Über ihn s. Wolfgang Löhr, Arnold Christoph von Bylandt (1680 -1730), in: Rheydter Jahrbuch 25, 2000, S. 11- 26. S. dazu Wolfgang Löhr, Bylandt vs. Bylandt. Die Auseinandersetzungen verschiedener Linien der niederländisch-deutschen Adelsfamilie Bylandt um Rheydt, in: Maarten van Driel u.a. (Hrsg.), Adel verbindet – Adel verbindt (Forschungen zur Regionalgeschichte Bd. 64), Paderborn u.a. 2010, S. 97114.
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deutschen Geschlechts an. 1703 heiratete er auf Schloss Mespelbrunn im Spessart die knapp 17-jährige Anna Maria Theresia von Ingelheim gen. Echter von Mespelbrunn (1686-1764).7 Ihr Vater Franz Adolf Dietrich (1659-1742) bekleidete seit 1698 das Amt des katholischen Präsidenten des Reichskammergerichts.8 1730 erreichte er die höchste dort zu vergebende Würde eines Reichskammerrichters und erwarb sieben Jahre darauf den Grafentitel. Die Mutter der Braut, Maria Ursula (1668-1730), war Spross der ebenfalls rheinfränkischen Familie von Dalberg, die als kaum weniger renommiert galt als die von Ingelheim.9 Aus der Ehe Arnold Christophs von Bylandt und Anna Maria Theresias gingen zehn Kinder hervor, von denen drei das erste Lebensjahr nicht erreichten.10 Von den überlebenden vier Töchtern heirateten zwei, die beiden anderen verbrachten ihr Leben als Stiftsdamen: Maria Josepha (17101786) 11, Kanonisse, später Dechantin zu Süsteren (heute niederländische Provinz Limburg), und Maria Anna zu Vilich.
Maria Anna von Bylandt, Kanonisse zu Vilich Ihr Vater konnte seiner Tochter Maria Anna schon drei Jahre nach ihrer Geburt im Stift Vilich eine Pfründe sichern 12, wofür er tief in die Tasche hatte greifen und 150 Golddukaten zahlen müssen. Das entsprach ein wenig mehr als 400 Reichstalern.13 1721 ist Maria Anna erstmals im Konvent nachweisbar.14 Damals nahm sie an ihrer Aufschwörung teil, bei der ihr in einer eigenen Feier in der Kirche das Kanonissenkreuz verliehen wurde.15 ———— 7 8
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Löhr, Arnold Christoph, wie Anm. 5, S. 18f. Über ihn s. Heinz Duchhardt, Reichskammerrichter Franz Adolf Dietrich von Ingelheim (1659/1730 -1742). Eine biographische Skizze, in: Nassauische Annalen 81, 1970, S. 173 - 202; ders., Ingelheim, Franz Anton Dietrich, Graf von, in: Neue Deutsche Biographie Bd. 10, 1974, S. 170f. Duchhardt, Reichskammerrichter, wie Anm. 8, S. 178 Anm. 21. Löhr, Karl Kaspar, wie Anm. 3, S. 14. Über sie s. ebd., S. 45, 48; ders., Eine Kanonisse aus Susteren als Postillon d’amour. Maria Anna Gräfin von Berchem, in: De Maasgouw 129, 2010, S. 80 - 85, hier S. 81. Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland Standort Düsseldorf (im Folgenden LAV NRW R) Vilich Akten 6 II fol. 38 - 42 v ; Helma Riefenstahl, Zur Geschichte der drei Damenstifte Vilich, SchwarzRheindorf und Dietkirchen seit dem 16. Jahrhundert, Bonn 1917, S. 87; Löhr, Karl Kaspar, wie Anm. 3, S. 48; s.a. Herbert Weffer, Familien in Stift und Ort Vilich, in: Dietrich Höroldt (Hrsg.), 1000 Jahre Stift Vilich. 978 -1978. Beiträge zu Geschichte und Gegenwart von Stift und Ort Vilich, Bonn 1978, S. 134 -166, hier S. 138. FAH 2691 = 6. März 1714. FAH 2785 fol. 46v, 47 v. LAV NRW R Vilich Akten 6 II fol. 147; Akten 6 III fol. 13, 100; auch für das Folgende.
Das Testament der Maria Anna von Bylandt (1711-1787)
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Den Abschluss bildete ein Essen (Tractament). Daraufhin waren die Statutengelder zu entrichten und alle Beteiligten gut zu entlohnen. Übrigens sollte auch kurioserweise ein Pfund Pfeffer für die Küche abgeliefert werden. Die feierliche Aufnahme kostete zwischen 200 und 300 Reichtalern. Außerdem mussten die Eltern noch bis zum Ablauf der Wartezeit, die frühestens 1727 endete, die dafür entstehenden Kosten tragen.16 Als Gegenleistung wurde ihre Tochter nicht nur im Stift beherbergt und ernährt, sondern überdies in Deutsch und Französisch unterrichtet, in Religion, Musik und Hauswirtschaft unterwiesen sowie in das Singen des Chorgebets eingeführt.17 Das entsprach bis auf Letzteres dem üblichen adligen Erziehungsprogramm für Töchter 18, das in diesem Fall im Stift ablief.
Die misslungene Wahl zur Äbtissin in Vilich 1762 spielte Maria Anna in der Vilicher Stiftsgeschichte eine besondere Rolle, als sie gegen die favorisierte Caroline von Satzenhoven (1728-1785) für das Amt der Äbtissin kandidierte. Zu diesem Zeitpunkt verwaltete sie die Finanzen des Stifts und trug daher den Titel einer Kellnerin.19 Ihre Gegenkandidatin hatte eine in weiten Kreisen bekannte Liaison mit dem kurkölnischen Minister Kaspar Anton von Belderbusch (1722-1784) 20, den sie nicht heiraten konnte, da er als Landkomtur des geistlichen Deutschen Ordens zu Biesen (heute belgische Provinz Limburg) zur Ehelosigkeit verpflichtet war.21 Er wird dafür gesorgt haben, dass Maria Anna von Bylandt chancenlos blieb. Der Vater Belderbuschs Vinzenz Philipp Anton (1690-1771) schickte nach erfolgter Wahl 2 2 an Caroline von Satzenhoven ———— 16
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Riefenstahl, Damenstifte, wie Anm. 12, S. 9; s. dazu auch Gudrun Gersmann u.a. (Hrsg.), Adlige Lebenswelten im Rheinland. Kommentierte Quellen der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2009, S. 241. LAV NRW R Vilich Akten 6 V fol. 174. Zum Chorgebet am Beispiel der Calenberger Klöster s. Katharina Talkner, Spiritualität in liturgischen Gesängen, in: Susanne Rode-Breymann (Hrsg.), Musikort Kloster. Kulturelles Handeln von Frauen in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2009, S. 73- 83. Heinz Reif, Westfälischer Adel. 1770 -1860. Vom Herrscherstand zur regionalen Elite (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 35), Göttingen 1979, S. 145f. Maria Annas ältere Schwester Anna Maria Charlotte (1706 -1764) hatte einen eigenen Gesangslehrer, s. FAH 2586 fol. 17. LAV NRW R Vilich Akten 6 II fol. 121; s.a. Riefenstahl, Damenstifte, wie Anm. 12, S. 24f., 29 - 33. Wolf Dieter Penning, Eine caza di delizie für den Minister Caspar Anton von Belderbusch und Miel, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein (im Folgenden AHVN) 196, 1994, S. 63102, hier S. 99; ders., Vom Pagen am kurkölnischen Hof zum Komtur des Deutschen Ordens, in: AHVN 211, 2008, S. 103-155, hier S. 126f.; ders. „Pour enrichir sa famille“, in: AHVN 212, 2009, S. 267-314, hier S. 278. Über Belderbusch als Landkomtur, s. Joseph Mertens (Hrsg.), Leden van de Duitse Ordre in de Balije Biesen, Bilzen 1994, S. 29.
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Abb.: Maria Anna von Bylandt (1711-1787), Museum Schloss Rheydt, Signatur M 3 (Fotograf Detlef Ilgner)
Das Testament der Maria Anna von Bylandt (1711-1787)
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einen ironischen Glückwunsch und meinte, er hätte sich für sie eine andere, für die Welt nützlichere Beschäftigung vorgestellt, nämlich die schönen und einfallsreichen Geschöpfe wie sie zu vermehren.23 Maria Anna wird die Niederlage getroffen haben. Dafür spricht, dass sie oft, zumeist zusammen mit Maria Agnes von Rohe (1721-1794) 24, bei den Kapitelsitzungen gegen die Äbtissin opponierte.25 Bei einer jener Auseinandersetzungen musste schließlich die erzbischöfliche Verwaltung entscheiden 26, bei einer anderen sollte bei einer von Maria Anna im Haus der Kanonisse von Rohe geleiteten Sitzung Charlotte Elisabeth von Hillesheim (1728-1807) 27 die Äbtissin als Lügnerin bezeichnet haben.28 Maria Anna hatte die Anzüglichkeiten wider die Abtyssin angeblich nicht gehört.29 Maria Augusta von Belderbusch (1751-1797) 30, eine Nichte des Ministers Kaspar Anton und dem Stift von Caroline von Satzenhoven präsentiert 31, war jedoch bei dem Vorfall weinend aus dem Zimmer gelaufen.32 Selbstverständlich gehörte Maria Anna von Bylandt auch zu jenen vier Kanonissen, die sich 1770 einer Einverleibung der Stifter Vilich und Schwarzrheindorf in das Stift Dietkirchen widersetzten und dabei ihre canonisch-frugale Lebensart priesen, ablehnten, dem Weltgetümmel in Bonn, wo Dietkirchen lag, näher zu kommen und betonten, den göttlichen Dienst (= Gottesdienst) in Ruhe des Geistes abwarten zu wollen und keine Gelegenheit zu suchen, sich in Gesellschaft des anderen Geschlechts zu amusiren.33 Bewusst bekannten sie sich damit zum zölibatären Leben. Ein Pfeil, der gezielt ———— 22
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Die Bestätigung durch den Kölner Erzbischof geschah am 25. Oktober 1762 (LVR NRW R Vilich Urk 170). Am 27. Mai 1762 hatte die Äbtissin bereits den Eid auf die Statuten abgelegt (ebd. Akten 3 II fol. 73 -74). Penning, Vom Pagen, wie Anm. 20, S. 127; hier aus dem Französischen übersetzt; s.a. ders., Miel, wie Anm. 20, S. 99f. Über sie s. Herbert M. Schleicher, Ernst von Oidtman und seine genealogisch-heraldische Sammlung, 18 Bände Köln 1992- 1999, Bd. 13, 1997; S. 162 (im Folgenden zitiert: Oidtman, Sammlung); Riefenstahl, Damenstift, wie Anm. 12, S. 97. LAV NRW R Vilich Akten 65 c. Ebd. fol. 22 v - 23 v = 1764. Über sie www.geneall.net/site/home.php (Hillesheim), Zugriff: 6.12.2010; Riefenstahl, Damenstifte, wie Anm. 12, S. 92. LAV NRW R Vilich Akten 65 c fol. 81, 82 v, 85- 93 v. Ebd. fol. 93. Über sie s. Oidtman, Sammlung, wie Anm. 24, Bd. 1, 1992, S. 582; Riefenstahl, Damenstifte, wie Anm. 12, S. 92 unter Heyden gen. Belderbusch. Riefenstahl, Damenstifte, S. 23; Penning, Miel, wie Anm. 20, S. 99 Anm. 112. LAV NRW R Vilich Akten 65 c fol. 85v. Ebd. Akten 8 fol. 4 - 4 v ; s.a. Riefenstahl, Damenstifte, wie Anm. 12, S. 31; Max Braubach, Kurköln, Münster 1949, S. 360.
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gegen ihre Äbtissin gerichtet war 34, welche Spötter nach der klugen und schönen Beraterin des assyrischen Königs Ninos Semiramis von Vilich nannten.35
Eine wohlhabende Kanonisse Das Stift Vilich gehörte nicht zu den armen geistlichen Instituten im Erzbistum Köln. Im 18. Jahrhundert konnten die Kanonissen und Kanoniker von ihren Einkünften ganz gut leben. Nur die Mittel für die das gesamte Stift betreffenden Ausgaben scheinen knapp gewesen zu sein.36 Auch Maria Anna hat nicht gedarbt. Jahr für Jahr erhielt sie neben ihrer Präbende und anderen Bezügen zusätzlich bis zu ihrem Tod Zuwendungen aus Rheydt, die sie stets mit Nachdruck einforderte. 1755 schrieb ihre Mutter einmal, ihre jüngste Tochter Maria Anna sei seit 14 Tagen bei ihr und lamentiere ständig des Geldes wegen.37 Ab 1756 hatte sie auf Grund eines Vergleichs, den der Gladbacher Abt Ambrosius Specht (1703-1772) ausgehandelt hatte 38, noch Anspruch auf 100 Reichstaler pro Jahr 39, nicht allzu viel, aber auch kein Almosen, wenn man bedenkt, dass ein Hauptmann in Münster jährlich 700 Reichstaler verdiente 40, und eine vornehme bürgerliche Familie in einer kleinen Stadt um 1750 mit 400 und eine geringe mit 150 Reichstalern im Jahr auskamen.41 Neben diesen 100 Reichstalern verfügte sie außerdem noch ab 1772 über eine Leibrente von 80 Reichstaler 80 Albus, die sie von dem ihrem Neffen Franz Karl von Hompesch (17351800) 42 gehörenden Haus Bollheim bezog. Ihr lag ein Kapital von 1.400 Reichstalern 80 Albus zu Grunde.43 ———— 34
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Neben Maria Anna sprachen gegen die Zusammenlegung die Stiftsdamen M. A. von Rohe, M. C. von Vorst-Lombeck und C. E. von Hillesheim aus. Mit Letzterer lag die Äbtissin auch in einer anderen Sache im Streit (Riefenstahl, Damenstifte, wie Anm. 12, S. 31). Braubach, Kurköln, wie Anm. 33, S. 361, 398. Johannes Bücher-Dietrich Höroldt, Stift und Ort Vilich vom 13. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Höroldt, Vilich, wie Anm. 12, S. 14-58, hier S. 55. FAH 2680 = Schreiben vom 3. August 1755. Über die Geldforderungen der Schwestern Maria Josepha und Maria Anna s.a. FAH 1204. FAH 2680. Über den Abt s. Peter Ropertz, Quellen und Beiträge zur Geschichte der BenediktinerAbtei des hl. Vitus in M. Gladbach, Mönchengladbach 1877, S. 140f. FAH 2680 = Vergleich vom 14. Januar 1756; Löhr, Karl Kaspar, wie Anm. 3, S. 57. Reif, Adel, wie Anm. 18, S. 70. Paul Münch, Lebensformen und der Frühen Neuzeit, Taschenbuchausgabe Berlin 1998, S. 99. Über ihn s. Wolfgang Löhr, Franz Karl von Hompesch, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 102, 1999/2000, S. 241- 271. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 74 - 74 v.
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Dass Maria Anna nicht kümmerlich lebte, erkennt man schon daran, dass sie in ihrem Testament Legate von insgesamt etwa 2.450 Reichstalern machte 44, und als sie am 4. Mai 1787 starb 45, nicht nur eine Menge Bargeld in verschiedenen Währungen in Höhe von mehr als 1.650 Reichstalern 46 hinterließ, sondern zusätzlich einen auf 1.000 Reichstaler ausgestellten Wechselbrief als Kapitalanlage 47, was beweist, dass sie mit Geld umgehen konnte. Hinzu kamen die Bezüge aus den beiden Nachjahren, also die Einkünfte, die zwei Jahre über ihren Tod hinaus vom Stift bezahlt wurden.48 Fürwahr eine ansehnliche Hinterlassenschaft. Aber auch ihre sonstige Habe, die nach ihrem Tod in Anwesenheit des Notars Caspar Hünten, der Zeugen Peter Emondts und Peter Fabry von der Äbtissin Maria Josepha Zandt von Merl zu Lissingen (Äbtissin von 1785-1794) 49 sowie dem Kapitelsekretär und Stiftskellner, dem Kanoniker Peter Joseph Dahmen 50 als Exekutoren zwei Tage lang, vom 9. bis zum 10. Mai 1787, minutiös inventarisiert wurde, zeugt von einem gewissen Wohlstand. Das Inventar gibt außerdem einen Einblick in die Lebensumstände und den Alltag einer rheinischen Kanonisse, wie er nur selten anzutreffen ist.51
Maria Annas Kanonissenhaus Maria Anna bewohnte eines der beiden Vilicher Kanonissenhäuser nördlich des nicht mehr erhaltenen Pfortengebäudes an der Südwestecke der Stiftsanlage. Es war das nördliche und stand mit der Benediktuskapelle in Verbindung 52, wie aus dem nach ihrem Tod aufgenommenen Inventar hervorgeht. In einem erhalten gebliebenen Lageplan von 1805 erscheint das Gebäude als Deuringshauß 53, weil es zuvor der Kanonisse Walburga von Deuring als ———— 44 45 46
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Diese Summe entspricht weitgehend der in ihrem Testament verfügten Zahlungen. FAH Karton 409, 2679 Paket 2 fol. 32, 53. Ebd. Paket 4, wie Anm. 2, fol. 23- 33. Es wurde hier versucht, das in ihrem Haus aufgefundene Geld, annähernd in Reichstaler umzurechnen. Ebd. fol. 32 v. Der Wechselbrief datierte vom 5. Oktober 1786 und war von dem Vilicher Stiftskellner Peter Joseph Dahmen sowie von Johann Baptist Corty ausgestellt worden. Riefenstahl, Damenstifte,wie Anm. 12, S. 9. Die Nachjahre werden im Testament eigens erwähnt, s. FAH Paket 4, wie Anm.2, fol. 37 v. Über sie s. Weffer, Familien, wie Anm. 12, S. 138f. Über ihn s. Norbert Schloßmacher, Alles ist wegen Aufhebung der Klöster und Stifter verstört. Das Personal der Bonner Stifte und Klöster am Vorabend der Säkularisation, in: Bonner Geschichtsblätter, 53/ 54, 2004, S. 203 - 268, hier S. 219. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 29- 35 v. Über die Kapelle s. Höroldt, Vilich, wie Anm. 12, S. 109f., 112 = Abb. 74, 124. LAV NRW R Nassauer Behörden 76; abgebildet bei Höroldt, Vilich, wie Anm. 12, S. 62.
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Wohnung gedient hatte.54 Der im Plan ebenfalls erwähnte Niedersaß am Haus ist vermutlich ein Laubengang, der in das der Benediktskapelle vorgelagerte so genannte Kapellzimmer führte. Auch in der Karte der Herrlichkeit Vilich von 1749 ist das Kanonissenhaus eingezeichnet. Es entspricht dem rechts neben der Kapelle stehenden Bauwerk und zeigt in der oberen Etage sieben Fenster.55 Nach dem Inventar umfasste das Gebäude Parterre, Obergeschoss, Speicher und Keller. Ferner gab es noch ein Vorhaus, einen Holzstall hinter dem Haus und einen großen Garten, von dem wir nicht genau wissen, ob Maria Anna ihn bewirtschaftet hat.56 Unten befanden sich die Küche mit einem Vorraum (Stübgen), der große Saal mit zwei Nebenzimmern, das tägliche Zimmer und ein Fremdenzimmer, oben das Schlafzimmer mit Nebenraum, das Chanoissenzimmer mit Vorraum (Provisionskämmergen), das Mägdezimmer sowie das schwarze Leinewandzimmer. Eine solche Fülle an Räumen entsprach dem unstrittigen Anspruch einer adligen Kanonisse, herrschaftlich zu wohnen.57
Die Küche In der Küche fehlte es an nichts. Neben dem Herd gab es noch einen Ofen und zahlreiches Küchengerät: Kessel, Töpfe, Pfannen, Spieße, Formen, Schüsseln, Bütten, Kannen, Flaschen, Siebe, Teller, Gläser, Löffel, eine Kaffee- und eine Pfeffermühle, einen Mörser (kupfernen Krautstein) 58 und Dosen. Außerdem wurden bei der Inventarisation vorgefunden: Ein Tischtuch mit den dazugehörigen Servietten mit einem Stern gewürkt, Leuchter, Utensilien für den Herd, Bügeleisen, Tabakdosen, eine Tischuhr und ein Kruzifix, das auf einen katholischen Haushalt hinwies. ———— 54
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LAV NRW R Nassauer Behörden 80 fol. 2, 11- 40. Über W. von Deuring aus Konstanz s. ebd. Vilich Akten 6 II fol. 147; Akten 6 III fol. 96 -97; Akten 6 IV fol. 160 - 162; Akten 6 V fol. 28-30; Akten 65 c fol. 73 -79 v ; Schloßmacher, Stifte, wie Anm. 50, S. 218. LAV NRW R Karten 2466; abgebildet in Höroldt, Vilich, wie Anm. 12, S. 112 Abb. 76. Über Gärten norddeutscher Frauenstifte s. Inken Formann, „Weil sie ihn gahr hoch benötigen“, in: Rode-Breymann, Musikort Kloster, wie Anm. 17, S. 219 - 235, dort S. 226 - 228 über die Privatgärten von Stiftsdamen. S. dazu Münch, Lebensformen, wie Anm. 41, S. 290f. S. dazu Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, Taschenbuchausgabe München 1984, Sp. 2124.
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Aus der genauen Aufzählung der einzelnen Gegenstände darf man schließen, dass neben den typischen Anregungs- und Genussmitteln der höheren Stände 59 Kaffee, Tee, Kakao, Wein auch Milch getrunken, zum Verzehr Fleisch gekocht und gebraten wurde, Vögel (Vogelbratspießgen), Pasteten, Torten (Tardenpfanne) 60 und Suppen serviert, Eier in die Pfanne geschlagen sowie Kohl (Kappes), Bohnen und Rübstiel für spätere Mahlzeiten eingemacht sowie zum Süßen das Luxusgut Zucker 61 verwandt wurden. Zum Zeitpunkt der Aufnahme des Inventars befanden sich in der Küche noch viele Lebensmittel: Nämlich fünf Schinken, eine Seite und ein Stück alten Speck, vier Bratwürste, vier Stockfische, einen halben Topf Butter, ungefähr drei Maß Rüböl, so wie etwas Salz, Mehl, Gerste, Erbsen, Bohnen, Linsen und Hafergrütze. Drei Tönger (Fässchen) mit eingemachtem Gemüse im Keller 62 warteten noch auf die Zubereitung für die Mahlzeiten. Hunger brauchte die Kanonisse wahrlich nicht zu leiden, und ihre Köchin konnte mit einem abwechslungsreichen Speiseplan aufwarten. Gabeln und Messer sucht man übrigens in der Küche vergeblich, weil dort von der Kanonisse nicht gespeist wurde. Sie befanden sich stattdessen im Schlafzimmer, in dem vermutlich alle Silberwaren sofort nach dem Tod der Kanonisse zusammengetragen worden waren.
Lebenswelt einer Kanonisse Die Erwähnung von Tabakdosen im Inventar 63: eine aus Porzellan, eine andere aus Achat, eine dritte aus Schildpatt und eine letzte aus Metall, schließlich eine Kassette, in der sich noch etwas Tabak befand 64, lässt darauf schließen, dass Maria Anna geschnupft hat. Wie 1743 Johann Heinrich Zedlers Universallexikon anmerkt, ist dies nichts Besonderes. Schnupftabaksdosen würden von jedermann, so gar von Weibern geführet und eine zierliche Tabacksdose unter die zu einer galanten Kleidung gehörigen Stücke gerechnet.65 ———— 59 60
61 62 63 64
65
Münch, Lebensformen, wie Anm. 41, S. 278. S. dazu Johann Heinrich Zedler, Großes Universallexikon, Bd. 42, Leipzig und Halle 1744, Sp. 100 = Tartenpfanne. S. dazu Münch, Lebensformen, wie Anm. 41, S. 283f. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 35. S. dazu Zedler, Universallexikon, wie Anm. 60, Bd. 35, 1743, Sp. 604 - 606 = Schnupftaback. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 31v. Auch ihre Schwester Maria Josepha schnupfte, s. dazu ebd. FAH Karton 409, 2679 Paket 6 fol. 5 v. Zedler, Universallexikon, wie Anm. 60, Bd. 35, 1743, Sp. 604. Zu den Schnupftabaksdosen s. ebd. Sp. 608.
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Noch knapp hundert Jahre nach Zedler schnupften Frauen, was aus einer medizinischen Dissertation über den Schnupftabak aus dem Jahr 1837 hervorgeht 66, in der die Langeweile als seine mächtige Gönnerin genannt wird.67 Dies trifft aber auf Maria Anna in keiner Weise zu. Sie hat nach eigenen Worten, solange sie konnte, am Chordienst teilgenommen 68, sich wahrscheinlich als Kauffrau betätigt, vermutlich musiziert und sich mit Gesellschaftsspielen vergnügt. Darauf wird später noch eingegangen. Ob Maria Anna wie andere Kanonissen viel gelesen hat 69, wissen wir nicht genau. Literatur besaß sie offenbar nicht, dafür aber einige als alt bezeichnete Gebetbücher 70, darunter ein rot-gelb gebundenes in französischer Sprache.71 Dies allein muss noch nicht als Zeichen besonderer Frömmigkeit gewertet werden. Aber außerdem hat sie, wie erwähnt, das Chorgebet sehr ernst genommen, und zudem galt ihre Familie als streng katholisch 72, was sie wohl dazu bewogen hat, ihre Heimatpfarre Rheydt in ihrem Testament auffallend stark zu berücksichtigen. Darüber später mehr. Jetzt schon sollte darauf hingewiesen werden, dass Maria Anna der Volksfrömmigkeit zuneigte, denn sie bewahrte in ihrem Haus einige Reliquien auf (ein papiernes Käsgen mit eingen Heiligthum 73). Im Privatbesitz dienten sie als schadenabwehrende Schutzmittel.74 Da sie für die zeitgenössischen Aufklärer nichts anderes als totes Gebein darstellten und als verrückter Aberglauben des Volkes galten 75, deutet ihr Besitz daraufhin, dass sie im Unterschied zu jüngeren Kanonissen von der Aufklärung nicht geprägt worden ist. Maria Anna von Berchem (1747-1816) zu Süsteren etwa vergnügte sich an antiklerikaler Literatur 76, und Maria Annas Nichte Louise von Hompesch (1776-1801), Stiftsdame im Neusser Quirinusstift, begeisterte sich für den Außenseiter der Aufklärung Rousseau und schätzte den Deisten Voltaire 77, ———— 66 67 68
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Karl August Geist, Ueber den Schnupftabak, München 1837, S. 18. Ebd., S. 7. LAV NRW R Vilich Akten 65 c fol. 48 v = 1766. Ihr hohes Alter und schwache Gesundheit machen es ihr 1768 fast unmöglich, die Metten zu halten. Sie ist dann dennoch bis Michaelis (= 29. September) zum Chordienst bereit (ebd. fol. 96 v - 97). So etwa zu ihrer Zeit die jüngere Maria Anna von Berchem, s. dazu Löhr, Kanonisse, wie Anm. 11, S. 82. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 32. Ebd. fol 33 v. S. dazu Löhr, Karl Kaspar, wie Anm. 3, S. 35- 39. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. fol. 32. Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultus vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, 2. Aufl. Hamburg 2007, S. 158. Ebd., S. 262 - 265, hier S. 263. S. dazu Löhr, Berchem, wie Anm. 11, S. 82. Über ihre Lektüre s. Günther Ebersold, Louise von Hompesch, Weiher u.a. 2009, S. 76, 141.
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las gleich zweimal den mehrbändigen erotischen Roman Faublas des Libertins Jean Baptiste Louvet de Cuvray 78, hielt die Messe für überflüssig 79 und sprach von ihr blasphemisch von einem komischen Priesterfrühstück (le comique déjeuner du prêtre).80 Offen bleiben muss, ob Maria Anna Kunstverstand besaß. Es tauchten lediglich sechs Bilder (Schilderyen) auf, die im Kanonissenzimmer hingen.81 Aber sie wird musikalisch gewesen sein, da sie eine kleine Orgel ihr Eigen nannte, die sie im Testament Walburga von Deuring vermachte.82 Musizieren war bei geistlichen Frauen keine Seltenheit.83 Louise von Hompesch spielte etwa Cembalo, Orgel, Guitarre und hatte Gesangsunterricht erhalten.84 Vermutlich hat sich Maria Anna von Bylandt obendrein gelegentlich mit Gesellschaftsspielen die Zeit vertrieben. Ein Spielkästchen ist im Inventar eigens aufgeführt 85, ohne dass genau auf den Inhalt eingegangen wird (Spielsteine, Karten?).
Großer Saal und tägliches Zimmer Während der große Saal, an dessen Fenstern zwei blau-weiße Vorhänge hingen und welcher der Repräsentation diente 86, nicht mit allzu vielen Möbeln bestückt war (großer Spiegel, sechs kleine Konsolen und ein kleiner aufklappbarer Tisch, im dazugehörigen Hinterzimmer hinter einem Vorhang ein Nachtstuhl) 87, befanden sich im täglichen Zimmer, in dem ein Ofen stand und grüne Vorhänge hingen, etwas mehr an Einrichtungsgegenständen: Ein brauner Sekretär, darin zwei mit Steinen besetze Ringe, eine Taschenuhr (Sackuhr) und ein paar Ohrgehänge mit blauen Steinen, eine kleine Kommode, darin eine Seemuschel, eine weitere schwarze Kommode, ein Eck———— 78
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84 85 86 87
Jacques de Lacretelle, Journal d’amour d’une jeune allemande. Louise de Hompesch, Paris 1936, S. 76. Hinweis fehlt bei Ebersold, Louise, wie Anm. 77. Über Louvet (1760 -1797) s. Wikipedia, Zugriff. 6.12.2010. Lacretelle, Louise, wie Anm. 78, S. 5. Ebd., S. 100. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 34. Ebd. fol. 30 v. S. die Fallbeispiele bei Barbara Eichner, Musizieren und Komponieren in süddeutschen Männer- und Frauenklöstern, in Rode-Breymann, Musikort Kloster, wie Anm. 17, S. 93 - 115. Lacretelle, Louise, wie Anm. 78, S. 11, 16, 74, 100. Ebd. fol. 31v. Münch, Lebenswelten, wie Anm. 41, S. 291. Im Haus befanden sich zwei weitere Nachtstühle.
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schränkchen, darauf fünf Speckmännchen (Speckmänger) 88 und drei steinerne Figuren, ein kleiner runder Tisch, eine Standuhr, ein Spiegel, fünf Sessel und eine zinnerne Waschschüssel (Lavoir). In dieser „guten Stube“ hat Maria Anna wohl überwiegend gelebt und vermutlich auch musiziert, weil hier ihre schon erwähnte kleine Orgel stand. Außerdem wurde dort eine Menge teilweise aus England importiertes, wertvolles Geschirr aufbewahrt. Ob hier früher die ebenfalls im Inventar aufgeführten zwei Vogelkäfige gehangen haben, lässt sich nicht mehr erschließen.89 Erstaunen macht, wie wenig Schmuck Maria Anna besaß. Aber auch eine andere Vilicher Stiftsdame, Maria Johanna Sibilla von Schorlemer 90, deren Testament wir ebenfalls kennen, hinterließ 1762 nicht sehr viel an Pretiosen, nämlich nur drei Diamantringe.91 Ob dies als Bekenntnis zur canonisch-frugalen Lebensart 92, mit der sich ein Übermaß an dargestelltem Reichtum nicht vertrug, zu werten ist, steht dahin. Finanziell wäre Maria Anna jedenfalls in der Lage gewesen, sich mehr edle Steine zu kaufen.
Das Schlafzimmer und das Leinewandzimmer oder eine Kanonisse als Textilverlegerin? Im dem Schlafzimmer, in dem Maria Anna in einer Kassette ihr Geld verwahrte, befanden sich ein Schrank, worin die Familienbriefschaften und Quittungen abgelegt worden waren, ein Toilettentisch mit grünem Umhang und andere Toilettenutensilien 93, eine Tischuhr, ein kleines Kruzifix, Silberwaren, ein weiterer Schrank mit Karaffen, Gläsern, Büchsen, Tellern, Flaschen sowie andere Kleinigkeiten mehr. Im Nebenzimmer des Schlafgemachs entdeckten die Exekutoren ein Thröngen zum Bett von Seidendamast mit Umhängen, ferner Bettzubehör und in zwei Schränken eine Fülle von Wäsche (22 Hemden, 44 Servietten, 18 Tischtücher) sowie vier Stein (= Spezialmaß) Flachs, neun Strang ungebleichtes Garn, zwei Bündel fertiges Garn, ein Stück ungebleichtes und ein Stück gebleichtes Tuch. Das weist auf textiles Arbeiten hin (Spinnen, Weben), ebenso wie die fünf Spinnräder im Haus und die drei Haspeln 94 zum ———— 88 89 90 91 92 93
94
= Figuren aus Speckstein. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 31v. Über sie s. Riefenstahl Damenstifte, wie Anm. 12, S. 98. Ebd., S. 26. Wie Anm. 33. Genannt werden ein lackiertes Toiletkistgen, eine weiße Toiletspreit (= Decke?), Schüsseln, Flaschen, Dosen. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 31v, 32, 34 v.
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Auf- und Abwickeln des Garns. Ein Anhaltspunkt, dass irgendwo in der Wohnung ein Webstuhl gestanden hätte oder eine Spinnstube eingerichtet worden wäre, fehlt jedoch. Das scheint nicht verwunderlich, denn Maria Anna ließ in ihrem Haus weder weben noch spinnen, sondern beschäftigte wahrscheinlich als Textilverlegerin, eine Betätigung, die sie aus ihrer Heimat Rheydt kannte, Leineweber und Spinnerinnen in Heimarbeit. Aus Flachs, den sie einkaufen musste und ebenfalls bei sich deponierte, ließ sie das benötigte Garn spinnen. Dafür wird sie gelegentlich auch ihre Spinnräder und Haspeln ausgeliehen haben. Die Heimweber erhielten das bei ihr zwischenlagerte Garn, um daraus Leintuch zu weben. Die Rohstücke kamen zu ihr zurück, um sie zum Bleichen zu geben. Neben dem Schlafzimmer wurde ferner das schwarze Leinewandzimmer zur Lagerung der fertigen Stücke genutzt, die für den Verkauf gedacht waren (54 Hemden, 38 Servietten). Der Raum führte vielleicht das Beiwort schwarz, weil er verdunkelt oder gar schwarz gestrichen war, um die Textilien vor dem verbleichen durch Lichteinwirkung zu schützen.
Ein Haus voller Textilwaren Das Haus barst von Leinenwaren. Doch gehörten nicht zum Warenangebot die in der Küche untergebrachten Teeservietten, vier Dutzend tägliche Servietten, Laken, Tischtücher, 24 Hemden und Schnupftücher ebenso wie die dort aufgefundenen Röcke und Hauben, Tag- und Nachtjacken sowie Anna Marias Leibeskleidung. Sie waren dort nur vorübergehend abgelegt worden, weil sie an Maria Annas Köchin und die Kammermagd nach Abschluss der Inventarisierung fallen sollten und wohl auch gebraucht waren. Lässt man diese persönliche Wäsche unberücksichtigt, dann bleiben immer noch 76 Hemden, die im Haus gestapelt waren. Die bereits erwähnte Villicher Kanonisse von Schorlemmer hinterließ bei ihrem Tod nur 26 Hemden.95 Das entsprach fast genau der Menge, die Maria Anna im Alltag nutzte und an ihre Köchin und Kammermagd weitergab. Folglich standen die 76 zum Verkauf bereit. Hinzu kamen noch weitere Textilien (Servietten, Tischtücher).
———— 95
Riefenstahl, Damenstifte, wie Anm. 12, S. 26.
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Das Kanonissenzimmer Gestorben ist Seniorissa von Bylandt vermutlich im Kanonissenzimmer, in dem man für die Sterbende eine Bettstatt mit allem Zubehör errichtet hatte. Üblicherweise standen in ihm sonst nur fünf weißbezogene Stühle, ein kleiner Tisch, eine Lampe, ein Spiegel und die vorgenannten Gemälde, vielleicht Familienporträts.96 Eigentlicher Zweck dieses Raums war hier kleinere Gesellschaften zu empfangen, während für größere der Saal diente.
Getreide auf dem Speicher und Wein im Keller Nachzutragen bleibt noch, dass auf dem Speicher drei Malter zwei Sester und ein Viertel Weizen (= über 500 kg) sowie ein Malter sechseinhalb Sester Gerste (= circa 200 kg) einlagerten und der Keller mit Wein gefüllt war: Etwa 300 Liter Weißwein und fast 300 Liter Rotwein, davon etwa 150 Liter Dollendorfer Wachstum, Jahrgang 1786.97 Etwa 600 Liter Rotwein blieben noch in Dollendorf deponiert. So viel Wein, zusammengerechnet ungefähr 1.200 Liter, konnte Maria Anna unmöglich allein trinken. Sie wird ihn teilweise verkauft haben. Diese wirtschaftliche Betätigung kam dann noch zu der einer Textilverlegerin hinzu. Ob sie das Getreide auf dem Speicher selbst verbraucht hat, wissen wir nicht genau, scheint aber wahrscheinlich. Es entstammte wie auch der Wein offensichtlich aus den Naturalabgaben der vom Stift abhängigen Bauern und Winzer.98 Zuguterletzt sei noch ergänzt, dass Maria Anna fünf Hühner und einen Hahn besaß und ein Geiß bei dem Bauern Mathias untergestellt hatte.99
Das eigentliche Testament Während das Inventar des Nachlasses der verstorbenen Stiftsdame vieles über ihre Lebensumstände und ein wenig über ihre religiöse Haltung und zu ihrer Person aussagt, erfahren wir aus dem eigentlichen Testament Beachtli———— 96
97
98 99
Im Haus der bereits erwähnten Kanonisse von Schorlemer befand sich z.B. ein Porträt eines Verwandten, s. Riefenstahl, Stiftsdamen, wie Anm. 12, S. 27. Über die Weingüter des Stifts in den heute zu Bonn und Königswinter zählenden Stadtteilen s. Höroldt-Bücher, Stift und Ort, wie Anm. 36, S. 55. Ebd., S. 56. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 35 v.
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ches über ihr Verhältnis zum Tod sowie über die Sorge um ihr eigenes Seelenheil und das ihr nahestehender Menschen. Das Vermächtnis enthält nämlich mehr als nur Bestimmungen über ihre materielle Hinterlassenschaft. Doch fehlen Züge einer Lebensbeichte, die gelegentlich durchaus in Vermächtnissen anzutreffen sind.100 Aber in Maria Annas letztem Willen steckt schon so etwas wie eine restitution ‚post mortem’, eine Wiedergutmachung nach dem Tod, und das Testament kann wegen der vielen Seelenmessen und frommen Legate auch als passeport pour le ciel, als ein Passierschein für den Eintritt in den Himmel, wie es Jacques Le Goff einmal zugespitzt formuliert hat, verstanden werden.101 Wie eingangs erwähnt, trägt das Testament der Anna Maria von Bylandt in abgekürzter Form die Eingangsworte Jesus, Maria und Joseph. Das ist nichts Außergewöhnliches. Die Anrufung der Heiligen Familie als Sterbebeistand lässt sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Schon der aus Mönchengladbach stammenden Wilhelm Nakatenus (1617-1682)102 hat in seinem 1660 veröffentlichten Gebetbuch Himmlisch Palmgärtlein das Lied Oh wohl beysammen/ Gefügte Nahmen/ Jesus, Maria, Joseph aufgenommen, in dem es lapidar heißt: Das hoge Leben/ könt ihr mir geben.103 Anfang des 18. Jahrhunderts, 1710, erschien dann in Würzburg ein vierstrophiges Lied, das die Überschrift Christliches Testament trägt und mit dem Refrain endet: Mein Testament soll seyn am End, Jesus, Maria, Joseph.104 Hier hatte sich eine aus dogmatischer Sicht nicht unproblematische Konkurrenz zur Dreifaltigkeit als Sterbegeleit etabliert.105 Ob Maria Anna von Bylandt sich die Fürbitte der Heiligen Familie eigens als Einleitung ihres letzen Willens gewünscht hat oder sie der Notar Caspar Hünten üblicherweise verwandte, sei dahingestellt. Dafür müsste man weitere von ihm aufgenommene Testamente vergleichen. Die auf die Anrufung der hl. Familie folgende Feststellung des Testaments, der Tod sei sicher, nur die Stunde ungewiss 106, entspricht den ———— 100
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Sven Grosse, Heilsungewissheit und Scrupulositas im späten Mittelalter (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 85), Tübingen 1994, S. 217. Jacques Le Goff, La civilisation de l’occident médiéval, Taschenbuchausgabe Paris 2008, S. 162. S. dazu Kurt Küppers, Das himmlisch Palm-Gärtlein des Wilhelm Nakatenus SJ (1617-1682). Untersuchungen zu Ausgaben, Inhalt und Verbreitung eines katholischen Gebetbuchs der Barockzeit (Studien zur Pastoralliturgie Bd. 4), Regensburg 1981. Fischer-Schmidt, Testament, wie Anm. 1, S. 130. Ebd., S. 125. Ebd. S. 129. Im Testament von 1742 der Maria Theresia Philippina von Gymnich, Äbtissin des Stifts Dietkirchen, wird die Dreifaltigkeit zu Beginn angerufen (Gersmann, Lebenswelten, wie Anm. 16, S. 211), ebenso im Testament der Maria Josepha von Bylandt von 1768, s. dazu FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 42 v. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 37.
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,klassischen‘ Formulierungen 107, ebenso wie die Sana-Mente-Formel (bei guter Vernunft und Gesundheit) am Schluss. In den von Beatrix Bastl untersuchten Testamenten adliger Damen im alten Österreich aus der Zeit von 1701-1761 enthalten 79,3 Prozent der Beispiele die Erwähnung der Todessicherheit, 62,1 Prozent die der Unsicherheit der Todesstunde sowie 84,5 Prozent die Sana-Mente-Formel.108 Dass dieses Testament Maria Annas die dritte Fassung wiedergibt, wurde schon zu Anfang gesagt. Hinzuzufügen bleibt noch, dass die letzte Version von 1785 eine Vorbemerkung enthält, in der festgestellt wird, ein Vermächtnis an den Kölner Erzbischof zum Aufbau der Domkirche sei gestrichen worden. Warum dieser sonst gängige Brauch hier entfällt, wird nicht gesagt.109 Daran schließt sich der übliche demütige Hinweis an, die Testatorin lege ihre Seele in die Hände ihres Schöpfers, worauf 18 Artikel folgen, die sich in vier Gruppen unterteilen lassen.110
Grablegung als öffentliches Ereignis Im ersten Artikel, dem besondere Wichtigkeit zukommt, verfügt Maria Anna, man möge sie nach Standes Gebühr beerdigen. Nicht nur der Adel legte darauf großen Wert.111 Auch beim Bürgertum wurde die Grablegung konfessionsübergreifend als öffentliches Ereignis gestaltet.112 Es verwundert ebenfalls nicht, dass Maria Anna genau den Ort angibt, wo sie in der Stiftskirche begraben sein wollte (am Kreutzaltar 113 neben dem Grabmahl der Freifräulein von Ritter 114). Das ———— 107 108
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Beatrix Bastl, Tugend, Liebe, Ehre. Die adlige Frau in der Frühen Neuzeit, Wien u.a. 2000, S. 121. Ebd., S. 140. Diese Formulierungen haben auch das Testament der Äbtissin von Gymnich (Gersmann, Lebenswelten, wie Anm. 16, S. 211) und das Maria Annas Schwester Maria Josepha, s. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 41. Eine Turnose für die Domkirche vermachten z.B. die Äbtissin zu Dietkirchen Anna Maria von Velbrück, Testament von 1676 (Archiv Hinnenburg P Urk. 319), die Kanonisse zu Vilich Elisabeth Sophia Maria von Bocholtz, Testament von 1690 (ebd. Urk. 337) und die Äbtissin von Dietkirchen Maria Theresia Philippina von Gymnich, Testament von 1742 (Gersmann, Lebenswelten, wie Anm. 16, S. 214). S.a. die Einteilung der Testamente bei Bastl, Frau, wie Anm. 107, S. 92. Gersmann, Lebenswelten, wie Anm. 16, S. 213. Kaspar von Greyerz, Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne, Göttingen 2010, S. 226. Bemerkenswerterweise wollte ihre Schwester Maria Josepha, Dechantin zu Süsteren, ohne Pracht beerdigt werden, s. FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 41. Über die Altäre s. Manfred Groten u.a. (Hrsg.), Nordrheinischen Klosterbuch, Bd. 1, Siegburg 2009, S. 447, dort kein Kreuzaltar erwähnt. Es kann ganz allgemein ein Altar in der Vierung gemeint sein. Es wird sich um Maximiliana Walburga von Ritter handeln, s. Höroldt, Vilich, wie Anm. 12, S. 139.
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entsprach der traditionellen Vorstellung im frühneuzeitlichen Katholizismus von der Symbiose der Lebenden und der Toten 115, weshalb man die Verstorbenen in der Kirche begrub, wo man sie beim Besuch des Gottesdienstes um sich versammelt fühlte. In Vilich wurde dieser Brauch damals noch gepflegt, obgleich die aufklärerische Hygienediskussion ihn längst in Frage stellte und in Frankreich seit einem königlichen Dekret von 1776 Tote wegen der Furcht vor den Leichendünsten nur innerhalb eines Friedhofs begraben werden durften.116 Für die Inszenierung ihrer Totenfeier legte Maria Anna weitere Einzelheiten präzise fest: Die Totenlade musste mit 16 Wachskerzen von je einem Pfund umstellt werden. Die vorderste Kerze sollte jedoch vier Pfund wiegen. Alle Kerzen hatten wie auch der spätere Grabstein das BylandtWappen zu tragen. Für den Hochaltar verordnete die Erblasserin sechs einpfündige Kerzen, für die vier kleinen Altäre 117 je zwei halbpfündige. Die Totenlade (Leichenstuhl ) sollte, nachdem sie ein Jahr und sechs Wochen (wohl jeweils bei der Feier der Memorien 118) gebraucht worden war, der Vilicher Kirche mit zehn Reichstalern bezahlt werden. Um einen Anreiz zu bieten, dass viele Menschen an den Exequien mit Messe und Leichenbegleid teilnahmen, wurde eine Menge Geld eingesetzt (mehr als 22 Reichstaler). Erwartet wurden die Pastöre der vom Stift abhängigen Kirchen, dann wohl aus der Nachbarschaft zwei Franziskanerkonventualen, zwei Franziskanerobservanten, zwei Kapuziner, zwei Kreuzherren, zwei Karmeliter aus Pützchen bei Bonn 119, die Vilicher Äbtissin und die Kanonissen, Kanoniker sowie Stiftsvikare. Auch unvorgesehene Teilnehmer sollten nicht leer auszugehen. Für die Hausarmen der Pfarre, die bei der Begräbnismesse erwartet wurden, aber auch jene, die durch Krankheit fehlen mussten, standen insgesamt 20 Reichstaler bereit. Das entsprach fast der Summe für die Geistlichkeit und muss wohl als besonderes Zeichen gedeutet werden. Ein eigenes Trauermahl, das fast als obligatorisch galt und zum Alltag der Lebenden zurückzulenken pflegte 120, fand ausdrücklich nicht statt. Hing dies mit Spannungen im eigenen Konvent zusammen? Damit endet der Teil des Testaments, der sich mit dem Ort der letzen Ruhestätte der Verstorbenen, ihrem Grabstein und den Beerdigungszeremonien befasst. ———— 115 116 117 118 119 120
S. dazu Greyerz, Passagen, wie Anm. 112, S. 227; s.a. Angenendt, Heilige, wie Anm. 74, S. 262. Greyerz, Passagen, wie Anm. 112, S. 227f. Groten, Nordrheinische Klosterbuch, wie Anm. 113, S. 447, nennt sieben Altäre. So etwa bei der Vilicher Kanonisse E. S. M. von Bocholtz, wie Anm. 109. S. dazu Groten, Nordrheinisches Klosterbuch, wie Anm. 113, S. 424- 429. Greyerz, Passagen, wie Anm.112, S. 227.
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Seelgeräte Der zweite Teil des Testaments betrifft Anordnungen für das Seelenheil der Toten: Gleich nach ihrem Sterbetag waren hundert Messen für die armen Seelen vorgesehen. Das Geld dafür wie auch für die übrigen Begräbniskösten befand sich in einer versiegelten Dose, wohl damit niemand vorher etwas entnahm. Zum Trost ihrer eigenen Seele und der ihrer Verwandten erwartete die Verstorbene zudem, dass jeweils an ihrem Sterbetage ein Jahrgedächtnis mit den üblichen Vigilien gehalten wurde, wofür sie 100 Reichstaler einsetzte. Wie die geschilderten verbindlichen Anordnungen zu den Begräbniszeremonien entsprechen solche Seelgeräte 121 dem Althergebrachten. Bei den von Beatrix Bastl untersuchten Testamenten für den Zeitraum von 17011761 treffen wir sie in 93,1 Prozent aller Vermächtnisse adliger Damen an.122
Legate für die katholische Kirche und die Schule in Rheydt Einen breiten Raum mit insgesamt sechs Artikeln nehmen im dritten Teil des Testaments die Legate für die katholische Kirche und die Schule in Rheydt ein. Spätestens seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts gab es dort keinen katholischen Pfarrer und keine Pfarre mehr.123 1675 hatte der Gladbacher Benediktiner Conrad Neigen (†1687), zugleich Pfarrer in Mönchengladbach, von dem Kölner Generalvikar die Erlaubnis erhalten, die cura animarum für die kleine katholische Minderheit in Rheydt, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung umfasste, zu übernehmen. 1697 wurde diese Aufgabe an die Franziskaner-Terziaren von St. Nikolaus bei Schloss Dyck (heute Stadt Jüchen) übertragen. Der Gottesdienst fand in der Klosterkirche der Rheydter Drittordensschwestern statt. 1721 wurde ein Frühmesner nach Rheydt berufen, wodurch die Katholiken wieder einen eigenen Geistlichen erhielten. Drei Jahre später stiftete der Vater Maria Annas, Arnold Christoph von Bylandt, tausend Reichstaler für die Pfarre, deren Priester bis 1734 die Kapelle der Terziarinnen benutzen durfte. Als dies untersagt wurde, diente zunächst eine Behelfskirche aus Holz ———— 121 122 123
Bastl, Frau, wie Anm. 107, S. 98 Anm. 43. Ebd., S. 141. S. dazu Wolfgang Löhr, Rheydt in der frühen Neuzeit, in: ders. (Hrsg.), Loca desiderata. Mönchengladbacher Stadtgeschichte Bd. 2, Köln 1999, S. 117-187, hier S. 124f.
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für den Gottesdienst, ehe ein Jahr darauf von der Mutter Maria Annas, Anna Maria Theresia von Bylandt, der Grundstein für eine eigene Kirche gelegt wurde, die 1740 vollendet und dem damaligen „Modeheiligen“ Johannes Nepomuk geweiht wurde. Der unter ihren Eltern wiedererstandenen Pfarre vermachte die Testatorin fast die Hälfte ihres Vermögens in Höhe von 1.250 Reichstalern, das renntbar angelegt werden musste. Es ist unverkennbar: Die Kirche in Rheydt zog sie bei den Seelgeräten ihrem Stift deutlich vor. Während dieses 100 Reichstaler erhielt, bekam Rheydt dafür das Sechsfache. Ganz abgesehen davon, dass zusätzliche 100 Reichstalern nach Rheydt gingen. Von ihren Zinsen sollte der Frühmesner monatlich eine Messe für sie lesen. Dabei hatten die Schulkinder den Rosenkranz zu beten, eine damals gängige Praxis.124 Aber nicht nur für 16 Seelenmessen, eine monatliche Lesemesse und jährlich vier gesungene Messen (am Sterbetag, auf Oktav Nepomuk = Pfarrpatron, auf Oktav Anna = Namenspatronin und auf Oktav Unbefleckte Empfängnis = Namenspatronin), stellte sie Geld bereit, sondern zusätzlich für die Unterhaltung des Lichts der Gottesampel, Wachs, Brot, Wein und für die Ausbesserung der Kirchenleinwand. Die katholische Schule und ihr Schulmeister, der zugleich Küster war, wurden außerdem eigens bedacht. Anna Maria verfügte, dass der Lehrer die Zinsen von 50 Reichstalern unter der Bedingung erhielt, bei den Lesemessen den Rosenkranz zu beten (wohl als Vorbeter) und die Singmessen zu bedienen. Die Zinsen sonstiger 100 Reichstaler standen bereit, um unvermögende Jugend kostenlos zu unterrichten und den Schulraum im Winter zu heizen. Schließlich stellte Maria Anna noch 100 Reichstaler zur Verfügung, deren Zinsen an ihrem Sterbetage unter die Armen der Pfarre verteilt werden sollten. Diese umfangreichen Zuwendungen für die katholische Pfarre und Schule entsprachen nicht nur dem Verlangen Maria Annas, das Werk der Eltern fortzusetzen, sondern wohl obendrein ihrer religiösen Überzeugung. Ihr Bruder Karl Kaspar spendete ebenfalls für die Rheydter katholische Pfarre und Schule.125 Offensichtlich lag bei den beiden Geschwistern Bylandt der Wunsch zu Grunde, zur Emanzipation der katholischen Bevölkerung in Rheydt beizutragen, besonders durch Förderung der schulischen Bildung. Im Testament ihrer älteren Schwester Maria Josepha, Dechantin zu Süsteren, fehlt ein solches Legat. Sie vermachte fast alles der Familie ihrer ———— 124
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S, dazu Eduard Hegel, Geschichte des Erzbistums Köln, Bd. 4: Das Erzbistum Köln zwischen Barock und Aufklärung, Köln 1979, S. 300. Ders., Karl Kaspar, wie Anm. 3, S. 71.
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Schwester Isabella von Hompesch (1709-1785).126 Über die Gründe dafür kann man nur spekulieren.
Legate an die Familie und andere Personen Als vierten Teil des Testaments kann man die letztwilligen Verfügungen für die Familienangehörigen, die Vilicher Äbtissin und andere Personen zusammenfassen. Als Haupterben setzte Maria Anna ihre Neffen Franz Karl von Hompesch und Franz Arnold Raitz von Frentz (1734-1803) 127 ein. Die ihnen auferlegte Verpflichtung, ihrer Tante Maria Josepha sofort 1.000 Reichstaler zu zahlen und außerdem ihr das Mobiliar 128, das verbleibende Bargeld sowie die Einkünfte aus den Nachjahren zukommen zu lassen, erübrigte sich, da sie bereits in Süsteren verstorben war. Ebenso konnte aus gleichem Grund die Auflage, dass Maria Josepha ihrer Großnichte Sabine von Roth geb. von Calcum-Lohausen (*1756) aus der Erbschaft 100 Reichstaler schenken sollte, nicht mehr ausgeführt werden.129 Diese bekam jedoch das bereits erwähnte Tischtuch mit aufgesticktem Stern samt Servietten aus der Küche des Kanonissenhauses. Maria Annas Nichte Luise Raitz von Frentz (1762-1822) 130 konnte die silberne Kaffee- und die silberne Milchkanne sowie der seidene Chormantel ausgehändigt werden. Als Bedingung galt, dass Luise zum Zeitpunkt des Todes ihrer Tante dem Stift Vilich noch angehören sollte. Das traf zu. Sie blieb bis 1804 und nahm ab 1794 das Amt der Administratorin des Stifts wahr.131 Gemäß eines Nachtrags im Testament erhielt sie wegen ihrer bisheran geleisteten Gefälligkeiten außerdem noch ein Paar silberne Leuchter nach ihrem Gutdünken, sodann zwei silberne Dosen, die Seemuschel und das schwarze Kommödchen aus dem täglichen Zimmer. Andere Familienangehörige wurden nicht bedacht, was ihren jüngeren Bruder Karl Kaspar heftig ärgerte.132 Er fühle sich, als ob er nicht mehr auf dieser Welt sei, meinte er. Ja, der wahre Ekel überkam ihn bei einem solchen ———— 126
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FAH Paket 4, wie Anm. 2, fol. 41v; über sie s. Löhr, Karl Kaspar, wie Anm. 3, S. 45; ders., Franz Karl, S. 244f. Über ihn s. Oidtman, Sammlung, wie Anm. 24, Bd. 12, 1997, S. 416. Wörtlich ist von Gereiden die Rede. Da an anderer Stelle Küchengereid = Küchengeräte steht, wird damit das Mobiliar gemeint sein. Über sie s. Oidtman, wie Anm. 24, Bd. 3, 1992, S. 262. Über sie s. ebd., S. Bd. 12, 1997, S. 417; s.a. Schloßmacher, Stifte, wie Anm. 47, S. 218. Groten, Nordrheinisches Klosterbuch, wie Anm. 113, S. 448. Löhr, Karl Kaspar, wie Anm. 3, S. 67, auch für das Folgende.
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Testament. Die Familienbande scheinen folglich nicht mehr allzu stark gewesen zu sein. Aber wie die Untersuchung von Beatrix Bastl zeigt, standen in den von ihr ausgewerteten Testamenten aus der Zeit von 1701-1761 die Verwandten mit 55,2 Prozent nicht an erster Stelle der Bedachten, sondern mit 94,8 Prozent Personen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis.133 Während Maria Annas Bruder Karl Kaspar im Testament übergangen wurde, sollte die Vilicher Äbtissin Maria Josephine Zandt von Merl nicht leer ausgehen. Mit ihr scheint Maria Anna sich, obgleich deren Mutter eine Schwester des Ministers Belderbusch war 134, offensichtlich besser verstanden zu haben als mit deren 1785 verstorbenen Vorgängerin Caroline von Satzenhoven. Maria Josephine wurden ein Service aus sechs silbernen Gabeln, Messern und Löffeln nebst großem Vorlagelöffel vermacht, die einen erheblichen Wert darstellten. Das beste Ohm Rotwein schließlich sollte dem Vilicher Pfarrer übergeben werden.
Die Versorgung der Bediensteten Wie bereits erwähnt, konnten sich die beiden Bediensteten Anna Marias alles teilen, was in der Küche an Esswaren und Inventar vorgefunden wurde, dazu Betten, Kissen, Laken, einige Servietten, das Getreide auf dem Speicher sowie Kleidung und Wäsche. Schließlich sollte ihnen noch jeweils 50 Reichstaler gegeben werden und der ganze Jahreslohn. Das war nicht wenig, aber stand im Schatten des Legats ihres Bruders Karl Kaspar, der seiner Haushälterin 1.000 Reichstaler und den doppelten Jahreslohn hinterließ.135 Auch die von Beatrix Bastl untersuchten Testamente offenbaren, dass sich andere Damen ihren Bediensteten gegenüber großzügiger zeigten.136
Die verblasste Erinnerung an Maria Anna von Bylandt In Vilich ist die Erinnerung an Maria Anna von Bylandt ausgelöscht. Messen liest keiner mehr namentlich für sie, auch nicht in Rheydt, dessen katholische Kirche und Schule sie so reichhaltig bedacht hatte. Aber immerhin ———— 133 134 135 136
Bastl, Frau, wie Anm. 107, S. 141. Weffer, Familien, wie Anm.12, S. 138. Löhr, Karl Kaspar, wie Anm. 3, S. 71. Bastl, Frau, wie Anm. 107, S. 141.
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wird dort in dem heute als Museum genutzten väterlichen Schloss ihr Porträt aufbewahrt.137 Es zeigt uns eine selbst- und standesbewusste Frau, die nach der Datierung des Gemäldes auf 1728 erst 17 Jahre zählt, aber älter wirkt. Kurz zuvor hatte ihre Anwartschaft auf ein Kanonikat geendet und sie war endgültig in das Stift Vilich aufgenommen worden. Das scheint Anlass gewesen zu sein, dieses Bild in Auftrag zu geben. Maria Anna wendet den Kopf leicht nach rechts zum Beschauer und lächelt ihn verhalten, vielleicht ein bisschen spöttisch an. Er soll wissen, dass er es mit einer Dame zu tun hat, die sich der Herrschaftselite zugehörig fühlt. Dafür spricht zusätzlich das oben links angebrachte adlige Wappen. Hauptausdruckträger ist wie auch in weltlichen Adelsporträts ihrer Zeit das Gesicht, das etwas langgezogen wirkt.138 Maria Anna trägt eine fast weiße, gescheitelte Perücke und ein dunkelblaues, ausgeschnittenes festliches Kleid, das ihre Weiblichkeit betont. Es ist standesgemäß mit Goldfäden bestickt und der Ausschnitt mit Spitzen eingefasst. In der rechten Armbeuge erkennt man einen schwarzen Beutel, einen so genannten Pompadour. Als Stiftsdame weist sie nur das an einem Anhänger befestigte Kanonissenkreuz und der um ihre Schultern gelegte, kostbare seidene, dunkelrot gefütterten Chormantel aus. Auf diese Weise bleibt sie der Nachwelt bis heute bildlich präsent.
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Vgl. die beigefügte Abbildung. S.a. Löhr, Karl Kaspar, wie Anm. 3, S. 47. Über den Porträtisten H. E. Beikers ist nichts bekannt. Das Porträt ist an den Rändern stark beschnitten. Es befindet sich z.Zt. im Depot. S. dazu Karin Schrader, Fürstinnen und Äbtissinnen. Protestantische Frauenbildnisse der Frühen Neuzeit als Zeugnisse politischen und kulturellen Handels, in: Rode-Breymann, Musikort Kloster, wie Anm. 17, S. 169 - 201, hier S. 196. Es ist ein Desiderat, Porträts rheinischer Kanonissen der Frühen Neuzeit miteinander zu vergleichen und auf ihre bildlichen Aussagen hin zu untersuchen. Als weiteres Vilicher Porträt ist das der Äbtissin Caroline von Satzenhoven erhalten, gemalt von dem Bonner Hofmaler J.H. Fischer, Abbildung bei Höroldt, Vilich, wie Anm. 12, S. 137.
Das katholische Köln. Eine Glückwunschadresse für den Kölner Weihbischof Baudri 1877 von Joachim Oepen 1
47 lange Jahre, und damit fast ein halbes Jahrhundert, prägte Johann Anton Friedrich Baudri (1804-1893) als Generalvikar (1846-1876) und Weihbischof (1850-1893) in wichtigen kirchlichen Ämtern wesentlich die Geschichte des Erzbistums Köln. Folglich charakterisiert ihn Norbert Trippen nicht nur als „personalpolitisch glücklichste[n] Griff“ des Kölner Erzbischofs Geissel (1845-1864), sondern auch als „ruhende[s] Element in der an Abwechslungen so reichen Kölner Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts“.2 Baudri identifizierte sich mit dem autoritären Regime Geissels, war als – letztlich von den Landesregierungen abgelehnter – Kandidat für mehrere Bischofsstühle im Gespräch, erreichte dann als Bistumsverweser in der Vakanz des Kölner Stuhls 1864-1866 seinen Karrierehöhepunkt und engagierte sich in verschiedenen Bereichen des kirchlichen Lebens wie etwa auf dem Gebiet kirchlichen Kunst. Wegen seiner „pastorale[n] Klugheit und sein[em] tolerante[n] Wesen“ 3 schon früh in hohem Ansehen stehend, ließ er sich andererseits bei der Erzbischofswahl nach Geissels Tod „zu umstrittenen Reaktionen hinreißen“ 4 oder verfasste beispielsweise eine diffamierende Streitschrift gegen den Düsseldorfer Pfarrer Anton Joseph Binterim. Der Nachwelt blieb Baudri insbesondere dadurch in Erinnerung, dass er 1880 wegen des noch nicht beigelegten Kulturkampfes einen gezielten Affront schuf: Als er am Portal des Kölner Doms Kaiser Wilhelm I. mitsamt Gemahlin begrüßen sollte, die zur Feier der Domvollendung nach Köln gekommen waren, ging er dem Kaiserpaar nicht entgegen, sondern verharrte unter dem Portal. Der Bedeutung Baudris entspre———— 1
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Der vorliegende Beitrag ist Norbert Trippen zum 75. Geburtstag gewidmet sowie dem Gedenken an den am 30. September 2010 verstorbenen Kollegen Wolfgang Schmitz. Für Rat und anregende Diskussion des Themas danke ich Frau Dr. Sybille Fraquelli sowie den Herren Wolfgang Rosen und Dr. Ulrich Helbach, ferner für die leihweise Bereitstellung der Kölner Adressbücher 1876 und 1877 der Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln. Norbert Trippen: Das Domkapitel und die Erzbischofswahlen in Köln 1821-1929 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 1), Köln / Wien 1972, S. 112. Eduard Hegel: Das Erzbistum Köln zwischen der Restauration des 19. Jahrhunderts und der Restauration des 20. Jahrhunderts (Geschichte des Erzbistums Köln), Köln, 1987, S. 145; danach auch die übrige hier vorgetragene Charakterisierung Baudris. Hegel (Anm. 3), S. 147.
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chend, beschäftigte sich die kirchengeschichtliche Forschung mit seiner Person: Norbert Trippen 5 kam 1972 in seiner Dissertation über die Kölner Erzbischofswahlen immer wieder auf den Generalvikar und Weihbischof zu sprechen, während ihm Heinz Linn 6 1987 eine eigene biographische Arbeit widmete, und auch Eduard Hegel 7 in der Kölner Bistumsgeschichte ausführlich auf Baudri zu sprechen kommt. Erst in jüngerer Zeit scheint das Interesse an dem Kirchenmann etwas nachgelassen zu haben: Weder im Kölner Personenlexikon 8, noch im Internetportal „Rheinische Geschichte“ 9 finden sich Artikel zu seiner Person. Bislang verborgen und damit ungenutzt blieb indessen eine äußerlich ebenso prachtvolle wie inhaltlich bemerkenswerte Quelle, deren Existenz erst 2010 bekannt wurde: Eine 1877 zum Goldenen Priesterjubiläums Baudris entstandene Grußbzw. Glückwunschadresse des katholischen Kölns, die als politische Demonstration gedacht war und für die heutige Forschung einen hohen Quellenwert hat.10
1. Eine Glückwunschadresse zum Goldenen Priesterjubiläum Was hat es mit dieser Grußadresse auf sich? Prachtvoll und aufwändig ausgestattete, zu feierlichen Anlässen (meist Jubiläen) an hochstehende Persönlichkeiten gerichtete Adressen waren im 19. Jahrhundert keine Seltenheit. Aus dem unmittelbaren Umfeld ist etwa die so genannte Kölner Papstadresse von 1848 11 zu erwähnen, die zur sechsten Säkularfeier der Grundsteinlegung des Kölner Doms entstand und sich an Papst Pius IX. richtete. In ihrer Anlage ist sie durchaus vergleichbar mit der hier vorgestellten Adresse von 1877. Gleich mehrere Grußadressen von 1893 finden sich im Nachlass des Kölner Erzbischofs Philipp Krementz (1885-1899).12 Auf eine Laienad———— 5 6
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Trippen (Anm. 2). Heinrich Linn: Ultramontanismus in Köln. Domkapitular Baudri an der Seite Erzbischof Geissels während des Vormärz (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 22), Siegburg 1987. Hegel (Anm. 3), S. 145-147. Ulrich S. Soénius, Jürgen Wilhelm (Hg.): Kölner Personen-Lexikon, Köln 2008. http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Seiten/home.aspx. AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri (im Folgenden zitiert als: „Grußadresse“). Ludwig Gierse u.a.: Die Kölner Papstadresse von 1848. Ein Meisterwerk der Buchmalerei des 19. Jahrhunderts, Köln 1987. AEK, Nachlass Krementz. Insbesondere ist auf drei handschriftlich unterzeichnete und / oder kalligraphisch gestaltete Grußadressen zum Doppeljubiläum des Goldenen Priester- und Silbernen
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resse von 1859 machte jüngst Ernst Heinen aufmerksam.13 Weitere Beispiele lassen sich leicht finden. Das Besondere an der Adresse für Baudri sind damit weniger die Gestaltung, sondern mehr die äußeren Umstände sowie die inhaltliche Ausrichtung. Als der Kölner Generalvikar und Weihbischof am 1. Mai 1877 14 sein Goldenes beging, Priesterjubiläum standen in Preußen die Zeichen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche nach wie vor auf Sturm; die Siedehitze des Kulturkampfs, dem hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden soll 15, hielt einige Zeit schon an: Insbesondere in den Jahren 18711875 war eine Reihe von Gesetzen erlassen worden, die staatlicherseits das Herzstück des Kulturkampfes bildeten;
Abb. 1: Der Kölner Weihbischof Johann Baudri (1804 -1893); AEK, Bildsammlung
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Bischofsjubiläums (Geistliche des Erzbistums; Bischof und Domkapitel zu Fulda) sowie zur Kardinalserhebung (Geistliche und Kirchenvorstände von Koblenz) hinzuweisen. Ernst Heinen: Die Kölner Laienadresse an Papst Pius IX. im Jahre 1859, in: AHVN 208 (2005), S. 225240. Diese Adresse ist in mancherlei Hinsicht vergleichbar mit der hier vorgestellten. Obwohl Heinen die Entstehungshintergründe recht gut herausarbeiten konnte, ist der Verbleib des wohl ebenfalls künstlerisch gestalteten Originals nicht bekannt. Am 26. April 1827 hatte Baudri in der Kölner Kirche St. Gereon die Priesterweihe empfangen (Linn [Anm. 6], S. 236), so dass das eigentliche Jubiläum auf den 26. April 1877 fiel, welchen Tag „der Jubilar in stiller Zurückgezogenheit verbracht“ (Kölnische Volkszeitung 1877, Nr. 118 I, 1.5.1877) hatte, während die Feierlichkeiten für den 1. Mai 1877 anberaumt worden waren (Linn [Anm. 6], S. 245). Vgl. nach wie vor den Überblick über den Verlauf Kulturkampfes im Bereich des Erzbistums Köln bei Hegel (Anm. 3), S. 549-576; ferner Ernst Heinen: Köln im Kulturkampf (1871-1880). Die Stadtverordnetenversammlung, in: Josef Schröder (Hg.): Beiträge zu Kirche, Staat und Geistesleben. Festschrift für Günther Christ, Stuttgart 1994, S. 171-207.
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sie berührten empfindlich die Rechte und Freiheiten der Kirche. So waren in Stadt und Erzbistum Köln etliche Klöster aufgehoben worden und viele Pfarreien vakant; zusätzliche Belastungen stellten die Schließung des Priesterseminars (1875) und die Auflösung des Generalvikariates (1876) dar. Insbesondere war Erzbischof Paulus Melchers (1866-1885) weit über Köln hinaus zur Symbolfigur des kirchlichen Widerstandes geworden. Nach zwei Pfändungen, der Aufsehen erregenden Verhaftung am 31. März 1874 und einer halbjährigen Gefängnisstrafe hatte sich der Erzbischof einer drohenden zweiten Festnahme am 13. Dezember 1875 durch Flucht ins niederländische Maastricht entzogen. Die staatlichen Behörden erklärten Melchers daraufhin für abgesetzt (1876). Auch Baudri persönlich hatte unter den Folgen des Kulturkampfes zu leiden. Sein von Heinrich Linn akribisch zusammengestelltes Curriculum Vitae 16 liest sich für die Jahre 1873-1877 wie eine Folge von Anklagen, Verurteilungen, Pfändungen u.Ä., unterbrochen im Wesentlichen nur durch das 25-jährige Bischofsjubläum (1875) und das Goldene Priesterjubliäum, von dem hier die Rede ist. Insbesondere galt Baudri zusammen mit dem Erzbischof auch als Generalvikar abgesetzt und als Weihbischof außer Amt 17, so dass er etwa den Empfang des Kaiserpaares 1880 in seiner Funktion als Domdechant wahrnahm. Gleichwohl blieb Baudri auch nach seiner Absetzung eine Schlüsselfigur für die Kölner Kirche und die teils mit Hilfe von Geheimdelegaten durchgeführte Verwaltung des Erzbistums.18 Angesichts dieser Umstände wird man es keineswegs nur für eine Bescheidenheitsgeste Baudris halten, wenn für das Goldene Priesterjubiläum „auf seinen ausdrücklichen Wunsch ... auch von allen für den heutigen Tag projectirten öffentlichen Festlichkeiten Abstand genommen [wurde]; die Feier wird nur kirchlicher und privater Natur sein“.19 Über tatsächlichen Feierlichkeiten berichteten dann die „Kölnische Volkszeitung“ und die „Germania. Zeitung für das deutsche Volk“. Demnach waren „aus der ———— 16 17
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Linn (Anm. 6), S. 233-247, hier S. 243-246. Linn (Anm. 6), S. 245, Anm. 40: Zwar waren dem Weihbischof grundsätzlich alle Weihehandlungen untersagt, ihm war „jedoch die bischöfliche Würde nicht grundsätzlich abzusprechen“. Daher wird Baudri in der Presseberichterstattung zum Goldenen Priesterjubiläum und auch in anderen Quellen nach 1876 nicht mehr als Generalvikar, weiterhin aber als Weihbischof tituliert. Allerdings fällt auf, dass in der Grußadresse (fol. 1) der Generalvikarstitel aufgeführt ist, worin man eine Spitze gegen das staatliche Vorgehen sehen mag. Linn (Anm. 6), S. 243, Anm. 37; Joachim Oepen: Paulus Kardinal Melchers, in: Josef van Elten, Joachim Oepen (Bearb.): Kölner Erzbischöfe im Konflikt mit dem preußischen Staat. Clemens August Freiherr Droste zu Vischering († 1845), Paulus Kardinal Melchers († 1895), Köln 1995, S. 34 -35. Kölnische Volkszeitung 1877, Nr. 118 I, 1.5.1877.
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ganzen Erzdiöcese ... zahlreiche Deputationen eingetroffen“ 20, die nach einer Feier im Dom dem Jubilar in seiner Wohnung Glückwünsche entgegenbrachten. Dem schloss sich ein von 300 bis 400 Personen besuchtes Festmahl im am Domhof gelegenen Hotel Metz (bzw. „Hotel du Dome“) an, „dessen großer Saal nicht alle Gäste aufnehmen konnte“.21 Insgesamt sollten die Feierlichkeiten wohl gerade unter dem Eindruck des Kulturkampfgeschehens die Verbundenheit zur Kirche in besonderer Weise zum Ausdruck bringen – oder wie es die „Germania“ formulierte: „Von der festen Haltung des katholischen Volkes lieferte ... das fünfzigjährige Priesterjubiläum des Herrn Weihbischofs Dr. Baudri ... einen Beweis. ... [Dem Jubilar wurden Huldigungen dargebracht], die, mochten sie auch zunächst der geliebten Persönlichkeit gelten, doch im weiteren und weitesten Sinne dem Princip dargebracht wurden, dessen Vertreter der Herr Jubilar ist“.22 So nutzten auch die kirchen- und zentrumsfreundliche Zeitungsberichterstattung sowie die unterschiedlichen Glückwunschadressen die Gelegenheit, die Rahmenbedingen zu thematisieren; die „Kölnische Volkszeitung“ etwa führte aus: „In die Festfreude mischt sich ein die Trauer um den Hirten, der fern von der Heerde [!] weilt“.23 An Glückwunschadressen und Vergleichbarem sind außer der hier vorgestellten konkret nachweisbar eine halbseitige Anzeige in der „Kölnischen Volkszeitung“ mit sechs verschiedenen Chronogrammen 24, eine von dem Maler Toni Avenarius gestaltete Adresse der Kleriker der Stadt und des Erzbistums Köln 25 sowie eine Adresse des Zentral-Dombauvereins 26; weitere, ähnliche Adressen mögen sich dem angeschlossen haben, waren doch „zahlreiche Deputationen erschienen und brachten in Worten und Werken dem Jubilar ihre Huldigungen dar“.27 Schon der Name Avenarius 28 deutet darauf hin, dass die Glückwunschadresse des Klerus hinsichtlich der Gestaltung vielleicht vergleichbar ist mit jener hier zur Rede stehenden. Dennoch darf man letztere als außerordentlich ansehen: Aufwand betrieben die Initiatoren betrieben sowohl hinsichtlich der materiellen Ausstattung als auch der Organisation, hatte man am Ende doch mehr als ———— 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Kölnische Volkszeitung 1877, Nr. 119 I, 2.5.1877. Germania, 7. Jahrgang, Nr. 102, 5.5.1877, Beilage. Germania, 7. Jahrgang, Nr. 102, 5.5.1877, Beilage. Kölnische Volkszeitung 1877, Nr. 118 I, 1.5.1877. Kölnische Volkszeitung 1877, Nr. 118 I, 1.5.1877. Beschreibung: Pastoralblatt 11 (1877), S. 37; der Verbleib dieser Adresse ist unbekannt. Kölner Domblatt Nr. 307, 18.6.1877. Germania, 7. Jahrgang, Nr. 102, 5.5.1877, Beilage. Jürgen Wilhelm: Avenarius, Toni, in: Soénius / Wilhelm (Anm. 8), S. 36.
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1.000 Namen zusammengetragen, darunter alleine von Kölner Laien fast 800 eigenhändige Unterschriften. Das erklärt auch, warum eigens ein Festkomitee zusammengetreten war, zu dessen Hauptzwecken offenbar das Zustandekommen der Glückwunschadresse gehörte.
2. Beschreibung Bereits der Einband der Adresse ist aufwändig gestaltet: Vorder- und Rückendeckel sind mit einem gemusterten roten Samt überzogen, während der Rücken in Leder gehalten ist. Auf dem Samtüberzug des Vorder- und Rückendeckels sind aus Leder mehrere Stege sowie mittig ein auf der Spitze stehendes Quadrat appliziert. Auf der Vorderseite sitzen auf dem Leder, meist an den Kreuzungen der Stege, mehrere in Messing gefasste blaue (Glas-?)Perlen. Ins Auge fallen insbesondere die metallenen Beschläge auf der quadratischen Fläche (Abb. 2): Mittig das nicht ganz korrekt wiedergegebene Wappen Baudris 29 mit dahinter eingestelltem Kreuz und Stab sowie einer Mitra darüber, umgeben von Flechtwerk in einem liegenden Vierpass sowie dem vierfach angebrachten Kölner Stadtwappen, das jeweils von einem Spruchband mit den programmatischen Aufschriften „Colonia Agrippina Sanctae Ecclesiae“, „Romanae fidelis filia“, „Es fall soess off soor“, „Halt fasz am Riich do Kölsche boor“ umgeben ist. Die ersten beiden Aufschriften sind der Umschrift des ältesten Kölner Stadtsiegels nachgebildet 30, während die letzten beiden den seit dem 17. Jahrhundert belegten Wahlspruch des Kölner Bauern ergeben.31 Die farbigen Wappendarstellungen der Stadt und Baudris sowie die blaue Mitra sind Emailarbeiten. Abgerundet wird dieser Eindruck durch die vier Buckel (jeweils eine in Messing gefasste farbige Glasperle) auf der Rückseite, die beiden Messingschließen, den gemusterten Goldschnitt des Papiers sowie den mit einem damastartig, seidig schimmernden Gewebe überzogenen Vorsatz. ———— 29
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Joachim Oepen: Kirchliche Heraldik im 19. und 20. Jahrhundert. Die Wappen der Kölner Weihbischöfe seit 1827, in: Kölner Domblatt 68 (2003), S. 291-328, hier S. 300- 303. Demnach müsste der Wappenschild in Gold über einem gewellten Balken drei nebeneinander stehende grüne Bäume zeigen. Bei der Wappendarstellung auf der Adresse wurde jedoch Rot statt Gold verwendet, die Bäume haben braune Stämme, wie es der Natur, aber nicht den heraldischen Regeln entspricht, und der Balken ist in seiner Form nicht eindeutig zu erkennen. Toni Diederich: Rheinische Städtesiegel (Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Jahrbuch 1984/85), Neuss 1984, S. 261- 262. Beatrix Alexander: Der Kölner Bauer, Köln 1987, S. 19, 85.
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Die ersten beiden Blätter der Grußadresse sind auf Grund ihres Materials (Pergament) und der Gestaltung besonders herausgehoben. Neben den kalligrapisch gestalteten Texten sind sie mit Miniaturmalereien im Stile des Historismus ausgestattet, wobei sich diese Buchmalerei insbesondere an spätmittelalterliche Formen anlehnt, wie etwa das florale Rankenwerk und die Formen der Wappenschilde (so genannte Tartschen) zeigen. Das erste Blatt (Abb. 3, 5) enthält einen Widmungstext. Rechts davon sind in Spruchbändern die Lebensstationen des Jubilars zusammen mit den entsprechenden Wappen der Städte Elberfeld, Mülheim/Ruhr, Lennep, Barmen und Köln aufgeführt, während links Johannes der Täufer, der Namenspatron Baudris, die Anbetungsszene des von Stefan Lochner geschaffenen Altars der Stadtpatrone im Kölner Dom, darunter das Bistumswappen sowie ein Engel mit dem Spruchband „ad multos annos“ zu sehen sind. Unterhalb des Textes ist das Kölner Rheinpanorama mit den bereits in die Höhe ragenden, aber noch unvollendeten Kölner Domtürmen zu sehen. Am oberen und unteren Bildrand finden sich weiter Spruchbänder mit den Worten des 1. Johannesbriefes (5,4) „haec est victoria, quae vincit mundum, fides nostra“ sowie der Wiederholung „Colonia Agrippina S. Romanae Ecclesiae fidelis filia“. Auf dem zweiten Blatt (Abb. 4, 6) folgt der eigentliche, auf das Fest der Apostel Philipp und Jakob (1. Mai) 1877 datierte Glückwunschtext mit eigenhändigen Unterschriften der 25 Mitglieder des Festkomitees. Am linken Rand sind ein weiteres Mal das Wappen Baudris, ähnlich gestaltet wie auf dem Einband, dargestellt, ferner in Medaillons die Brustbilder von Papst Pius IX.32 und der beiden Erzbischöfe Geissel und Melchers, denen Baudri „als treuer und bewährter Helfer und Berather ... zur Seite gestanden in guten und in bösen Tagen“ 33, sowie deren Wappen und Wappendevisen 34, schließlich ein Engel mit den bischöflichen Insignien Kreuz, Stab und Mitra. Auf das Goldene Priesterjubiläum weisen Kelch und Messbuch hin, die in der Initiale „E“ des Textes zu sehen sind.
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Im Medaillon mit Pius IX. sind zusätzlich unter den Worten „triplex iubilarius“ die Daten des Goldenen Priester-, Silbernen Papst- und Goldenen Bischofsjubiläums von Pius IX. aufgeführt. Grußadresse, fol. 2. Toni Diederich, Kirchliche Heraldik im 19. und 20. Jahrhundert. Bemerkungen zu den Wappen der Kölner Erzbischöfe von Ferdinand August von Spiegel bis zu Joseph Kardinal Höffner, in: Kölner Domblatt 51 (1986), S. 11- 46, hier S. 22 - 30 mit Anm. 34 und 39 zu den Devisen. Abweichend von den Angaben bei Diederich ist beim Wappen Geissels das Kölner Bistumswappen mit einem Herzschild belegt, darin das persönliche Wappen des Erzbischofs.
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3. Inhalt Den beiden besonders ausgeführten ersten beiden Blättern folgen auf den weiteren 43 Blättern der Adresse die mehr als 1.000 Namensnennungen und meist eigenhändigen Unterschriften, mit denen „die katholische Bürgerschaft Cölns ... tiefgefühlte Glückwünsche darzubringen“ 35 gedachte. Der inhaltliche Aufbau ist völlig stringent: - Widmungstext (fol. 1); - Glückwunschtext (fol. 2); - Unterschriften von Klerus und Angehörigen der Dompfarre, der Baudri als Domkapitular und Domdechant besonders nahe stand (fol. 3)36; - Unterschriften von Abgeordneten: Deutscher Reichstag, Preußisches Abgeordnetenhaus, Kölner Stadtverordnetenversammlung (fol. 4); - Unterschriften von Klerus, Kirchenvorstand und Gemeindevertretern von 17 Kölner Pfarrgemeinden (fol. 5-21); - Namen von Ordensfrauen bzw. Unterschriften von Ordensmännern 5 Kölner Klöster (fol. 22-26); - Unterschriften von Mitgliedern oder Vorständen von 19 kirchlichen bzw. kirchennahen Vereinigungen auf Stadtebene: Kongregationen, Vereine u.a. (fol. 27-45). Dabei stand den einzelnen Pfarrgemeinden, Orden und Vereinigungen jeweils eine Seite, stets die vordere eines Blattes, zur Verfügung. Diese für die Namen und Unterschriften der Gratulanten vorgesehenen Blätter sind weniger stark elaboriert als die ersten beiden Seiten der Adresse, aber doch einheitlich angelegt. Jedes Blatt weist eine kalligraphisch gestaltete Überschrift in Fraktur auf, bei der mehrere Anfangsbuchstaben oder ganze Wörter farbig oder verziert sind; jeweils ein Buchstabe ist als Initiale besonders hervorgehoben. Es folgen in kleineren Frakturschriften wenige weitere Angaben und schließlich die Unterschriften, die immer unterschiedlich angeordnet sind. Die sorgfältig ausgeführten Initialen zeigen bei den Pfarrgemeinden meist den jeweiligen Patron. Ausnahmen stellen das Blatt der Dompfarre 37 dar, bei dem auf zusätzlichen Initalen die Frontseite ———— 35 36
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Grußadresse, fol. 2. Auf Grund der besonderen kirchenrechtlichen Situation der Dompfarrei, die eine Union mit dem Domkapitel bildet und faktisch von diesem inkorporiert ist, ist das Domkapitel der eigentliche Inhaber der Pfarrrechte, vgl. Norbert Trippen: Die Kölner Dompfarre im 19. und 20. Jahrhundert, in: Kölner Domblatt 75 (2010), S. 178 - 201, hier S. 182 nach einem älteren Beitrag von Eduard Hegel. Grußadresse, fol. 3.
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des Dreikönigenschrein und der Dom von Süden in seinem Zustand am 1. Oktober 1843, dem Tag der Einführung Baudris als Domkapitular 38, zu sehen sind, ferner das Blatt von St. Aposteln 39 mit einer Ansicht der Kirche, das Blatt von St. Jakob 40 (Abb. 7) mit zusätzlicher Initiale, die den Westbau von St. Georg zeigt. Die Initialen auf den übrigen Blättern stellen Namen, Patron oder Zielsetzung des jeweiligen Ordens oder der Vereinigung dar. Besonders hinzuweisen ist auf die Darstellung der Klosteranlage der Alexianer (heutige Wolkenburg) 41 sowie das Blatt der Bürgergesellschaft mit einem Porträt des 1874 verstorbenen Kölner Glasmalers und Politikers Friedrich Baudri, dem Bruder des Weihbischofs, sowie dem Domizil der Bürgergesellschaft.42 Letztere nutzte das Haus Am Domhof 8 gemeinsam mit dem Erzbischöflichen Museum, dessen Träger der Verein für christliche Kunst war. So erklärt es sich, dass in einer Initiale auf dem Blatt dieses Vereins 43 das Gebäude ein zweites Mal abgebildet ist, wobei sich die beiden Abbildungen einander ergänzen (Abb. 8). Auf dem Blatt des katholischen Gesellenvereins 44 ist schließlich die Minoritenkirche von Westen zu sehen. Gleich in zwei Presseorganen, in der „Kölnischen Volkszeitung“ und der „Germania“, wurde der eigentliche Glückwunschtext abgedruckt.45 Der „Kölnischen Volkszeitung“ verdanken wir auch Aufschluss darüber, wer an der konkreten Herstellung der Adresse beteiligt war.46 Demnach gestalteten die einzelnen Blätter der Miniaturmaler Georg Fuchs und der ———— 38 39 40
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Linn (Anm. 6), S. 238. Grußadresse, fol. 8. Grußadresse, fol. 15; hierbei handelt es sich um die Pfarrei St. Jakob aus reichsstädtischer Zeit, die 1804 ihren Gottesdienst in die frühere Stiftskirche St. Georg (Waidmarkt) verlegte, aber noch bis ins 20. Jahrhundert hinein ihren Namen beibehielt, vgl. Joachim Oepen: Karten: Stifte, Klöster und Pfarreien in Köln vor und nach 1802 – Vorbemerkungen, in: Georg Mölich, Joachim Oepen, Wolfgang Rosen (Hg.): Klosterkultur und Säkularisation im Rheinland, Essen 2002, S. 29 - 32, hier S. 30. Grußadresse, fol. 26. Grußadresse, fol. 36; zu Friedrich Baudri vgl. Ludwig Gierse, Ernst Heinen (Bearb.). Friedrich Baudri. Tagebücher 1854-1871 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 73), Bd. 1, Düsseldorf 2006, Einleitung; zur Bürgergesellschaft bzw. dem Haus Am Domhof 8 siehe Karl Kempen: Bürgergesellschaft Köln von 1863. Festschrift zum 125-jährigen Bestehen 1988, Köln 1988, S. 6, 42 - 43. Grußadresse, fol. 36; zu dem Gebäude, dem „alten Offizialat“ mitsamt Thomaskapelle vgl. Wolfgang Schmitz: Geschichte des Vereins für christliche Kunst, in: Dominik M. Meiering, Karl Schein (Hg.): Himmel auf Erden? Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Vereins für christliche Kunst im Erzbistum Köln und Bistum Aachen, Köln 2003, S. 17-175, hier, S. 51- 55. Grußadresse, fol. 40. Grußadresse, fol. 2; Kölnische Volkszeitung 1877, Nr. 118 II, 1.5.1877; Germania, 7. Jahrgang, Nr. 99, 2.5.1877. Kölnische Volkszeitung 1877, Nr. 119 I, 2.5.1877.
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Lithograph Adolph Wallraf, die in kleiner Schrift ihre Namen mehrfach auch in das gemalte Rankenwerk setzten.47 Den Einband entwarf der u.a. auch im kirchlichen Raum tätige Architekt und spätere Aachener Stadtbaumeister Johann Richter aus Neuss 48, während der Buchbinder Christian Lempertz 49 diesen Entwurf umsetzte und der Goldschmied Gabriel Hermeling 50 die Metall- und Emailarbeiten ausführte. Insbesondere mit Hermeling war ein renommierter Künstler an der Anfertigung der Adresse beteiligt, der zahlreiche Metallarbeiten in Kölner Kirchen und darüber hinaus schuf. Als Mitglieder des Festkomitees unterzeichneten Hermeling und Richter die Glückwunschadresse auch.
4. Hintergründe Neben dem materiellen muss auch der für die Entstehung der Adresse betriebene organisatorische Aufwand beträchtlich gewesen sein, um die fast 900 eigenhändigen Unterschriften zusammenzutragen; in der Adresse sind insgesamt 1.031 Personen aufgeführt, von denen 893 selbst unterschrieben.51 Insofern wäre es von Interesse, einiges an weiteren Hintergründen über ihr Zustandekommen in Erfahrung zu bringen. Dazu bieten sich Beobachtungen am Objekt selbst an, dann aber auch eine entsprechende Recherche in den Archivbeständen der Pfarrgemeinden, Klöster und Vereinigungen, deren Vertreter sich durch Unterschrift beteiligten. Im Ergebnis lassen sich indessen die gewünschten Informationen kaum fin———— 47
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Zu Fuchs vgl. Adreßbuch für Köln, Deutz und Mülheim a. Rh. sowie die Umgebung Kölns, 23. Jahrgang, Köln 1877 (im Folgenden als „Kölner Adreßbuch 1877“ zitiert), S. 51: „Fuchs Georg, Maler, Schnurg[asse] 68“, zu Wallraf ebd., S. 200, 181: „Wallraf Adolph, lithogr. Anstalt, Filzengr[aben] 22“. Zu Richter: Willy Weyres, Albrecht Mann: Handbuch der rheinischen Baukunst des 19. Jahrhunderts. 1800 bis 1880, Köln 1968, S. 86; Richter entwarf u.a. den Bau des Kollegium Albertinums in Bonn. Zu Lempertz: Kölner Adreßbuch 1877, S. 102: „Lempertz, Christian, Buchb[inde]r, Röhrerg[asse] 4“; offenbar nicht direkt verwandt mit dem Auktionator Lempertz, vgl. Gernot Gabel: Lempertz, Heinrich Caspar, in: Soénius / Wilhelm (Anm. 8), S. 321 und Robert Steimel: Mit Köln versippt, 2 Bde., Köln 1955-1956, hier Bd. 2, S. 126. Zu Hermeling: Johannes Ralf Beines: Hermeling, Gabriel, in: Soénius / Wilhelm (Anm. 8), S. 234; Sybille Fraquelli: Der Historismus in den romanischen Kirchen (Colonia Romanica 25/26), Köln voraussichtlich 2012. Die Zahlen im Einzelnen: Die Adresse führt 1.031 Personen auf, Doppel- und Mehrfachnennungen nicht mitgerechnet; diese Zahl setzte sich zusammen aus 797 Laien, 84 Geistlichen und 150 Ordensfrauen und -männern. Die insgesamt 138 Ordensfrauen sind nur mit Namen, aber ohne eigene Unterschrift aufgeführt, woraus sich die Zahl von 893 Unterschriften ergibt.
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den, was teils mit der schlechten Überlieferungslage zusammenhängt 52, teils auch nicht anders zu erwarten ist.53 Amtliche Überlieferungen scheiden von vornherein aus; insbesondere war das Kölner Generalvikariat seit 1876 geschlossen. Wohl lässt sich erschließen, dass es die Mitglieder des gleich auf dem zweiten Blatt unterzeichnenden Festkomitees gewesen sein dürften, zu deren Aufgaben das Zusammentragen der Vielzahl von Unterschriften gehörte. Wie noch zu zeigen ist, brachten die Festkomiteemitglieder dazu auf Grund ihrer Verflechtung mit den pfarrlichen Gremien und kirchennahen Vereinigungen die besten Voraussetzungen mit. Auffallend ist ferner, dass es sich nicht um ein vorgebundenes Buch handelt. Vielmehr sind die einzelnen Blätter jeweils zwischen zwei längst zum Buchrücken verlaufenden Papierstreifen befestigt; nicht genutzte Papierstreifen hätten sogar noch die Möglichkeit zur Aufnahme weiterer Blätter geboten. Diese Bindetechnik ermöglichte es, dass nicht die komplette Adresse zur Einholung der Unterschriften zirkulieren musste, sondern die einzelnen vorgefertigten Blätter zeitlich parallel unterschrieben werden konnten, was das Verfahren gewiss erleichterte. Wieviel Zeit dies in Anspruch nahm oder wie überhaupt die Abläufe bei der Entstehung der Glückwunschadresse im Einzelnen waren, ist unbekannt.54 Lediglich in einem Fall wissen wir Genaueres: Im Protokollbuch des Vorstands der ———— 52
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Insbesondere die Kölner Pfarrarchive weisen für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kriegsbedingt eine insgesamt schlechte Überlieferungslage auf. So sind überhaupt nur für sieben Pfarrgemeinden Kirchenvorstands- bzw. Gemeindevertretungsprotokolle (St. Aposteln, St. Gereon, St. Johann Baptist, St. Mariä Himmelfahrt, Groß St. Martin, St. Severin, St. Ursula, vgl. die entsprechenden Archivbestände im AEK) aus der Zeit um 1877 erhalten und weder für diese, noch für die anderen Pfarrarchive über die Protokollserien hinausgehender Schriftwechsel in nennenswertem Umfang. Sofern bei den in der Glückwunschadresse vertretenden Vereinigungen überhaupt entsprechende Archivbestände (z.B. AEK, Verein für christliche Kunst) bekannt sind, hat die Glückwunschadresse in den vorhandenen Unterlagen (mit Ausnahme des unten genannten Falls der Bürgersodalität) ebenfalls keinen Niederschlag gefunden. Eine Recherche im Historischen Archiv der Stadt Köln war zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags wegen der Folgen des Archiveinsturzes am 3.3.2009 ohnehin noch nicht möglich. Eine Durchsicht der beiden Bände von Hugo Stehkämper bzw. Everhard Kleinertz: Nachlässe und Sammlungen, Verbands- und Vereins-, Familien- und Firmenarchiv im Stadtarchiv Köln (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 47 bzw. 95), Köln 1963 bzw. 2003 lässt indessen auch keine relevante Überlieferung im Kölner Stadtarchiv erwarten. Die in Anm. 52 genannten Kirchenvorstands- und Gemeindevertretungsprotokolle wurde allesamt gesichtet; wie nicht anders zu erwarten, findet die Glückwunschadresse darin keine Erwähnung, da ausschließlich Fragen der Vermögensverwaltung der jeweiligen Kirchen thematisiert werden. Bei einem der Unterzeichner, Jaime Müller, Mitglied sowohl der Gemeindevertretung von St. Ursula (Grußadresse, fol. 12) als auch des Vorstandes des Vereins vom hl. Grab (Grußadresse, fol. 35) findet sich Vermerk über dessen Tod am 20. April 1877, woraus sich eine Mindestvorlaufzeit von 12 Tagen ergibt; der tatsächliche Vorlauf war aber gewiss um einiges länger. Zu Jaime Müller vgl. dessen Nachlass im AEK.
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1608 gegründeten Kölner Bürgersodalität, in der Adresse als „Marianische Männer-Congregation für die Bürger Kölns“ 55 benannt, findet sich ein Eintrag zu einer Vorstandssitzung am 15. April 1877, ziemlich genau also einen halben Monat vor dem eigentlichen Festtag. Demnach beschloss man eine Beteiligung an den Feierlichkeiten zum Priesterjubiläum Baudris, indem „die Mitglieder des Vorstandes auf einem der Blätter des Albums ihre Namen unterschreiben und eine freiwillige Gabe als Beitrag geben; was an 30 M[ar]k fehlt, soll dann aus der Kasse entnommen werden“.56 Sofern daraus zu schließen ist, dass jede Pfarrgemeinde, jedes Kloster, jede Vereinigung für ihr Blatt 30 Mark aufbringen musste, wären insgesamt 1.290 Mark zusammengekommen, von denen die Adresse finanziert worden wäre. Zum Vergleich: Im preußischen Staatsdienst betrug 1870 das Grundgehalt eines Registrators 3.600 Mark jährlich, eines Kastellans oder Kanzleidieners 1.200 Mark.57 Ein für die Finanzierung der Glückwunschadresse vergleichbares Verfahren kam auch bei der Papstadresse von 1848 zur Anwendung.58 In Anbetracht der beeindruckenden Zahl an Unterschriften, angesichts aber auch der Tatsache, dass für eine Beteiligung an der Adresse offenbar ein Geldbetrag aufgebracht werden musste, stellt sich Frage, ob die im Festkomitee zusammengeschlossenen Organisatoren eine weitgehende Vollständigkeit zu erreichen vermochten – sollten doch die Glückwünsche von der gesamten „katholische[n] Bürgerschaft Cölns“ 59 dargebracht werden. Gut zu überprüfen ist die Vollständigkeit bei den klösterlichen Einrichtungen sowie bei Kirchenvorständen und Gemeindevertretungen der Pfarrgemeinden, für die mit Hilfe amtlicher Verzeichnisse 60 die entsprechenden Rahmendaten erhoben werden können. Bei den Klöstern waren in Folge der ordensfeindlichen Kulturkampfgesetzgebung seit 1872 alleine in der Stadt Köln sieben Niederlassungen aufgehoben worden, bestehen bleiben konnten nur krankenpflegende Gemeinschaften.61 Dementsprechend ist die Zahl der Klöster in der Grußadresse klein: Mit je einem Blatt ———— 55 56 57
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Grußadresse, fol. 28. AEK, Archiv der Kölner Bürgersodalität 4, S. 99. Eike Pies: Löhne und Preise von 1300 bis 2000. Abhängigkeit und Entwicklung über 7 Jahrhunderte (Quellen zur Familienforschung 3), Solingen 2003, S. 73. Ludwig Gierse: Die Papstadresse des Zentral-Dombau-Vereins aus dem Jahre 1848, in: Gierse u.a. (Anm. 11), S. 9 - 22, hier S. 14. Grußadresse, fol. 2. Handbuch der Erzdiöcese Köln, 14. Auflage, Köln 1878, vgl. auch Kölner Adreßbuch 1877; nach beiden Verzeichnissen auch die folgenden Angaben. Hegel (Anm. 3), S. 556 - 559, vgl. die Angaben im Handbuch der Erzdiöcese Köln (Anm. 60), S. 174 -184, 340 -352.
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sind vertreten die Armenschwestern vom hl. Franziskus (so genannte Aachener Franziskanerinnen; mit Niederlassungen in der Streitzeuggasse, an St. Johann Baptist und im Marienhospital), die Schwestern vom armen Kind Jesu 62 (Mädchenasyl in der Martinstraße), die Vinzentinerinnen (in der Eintrachtstraße), die Cellitinnen mit dem Mutterhaus in der Severinstraße (mitsamt Niederlassungen im Bürgerhospital und im heutigen PorzZündorf) sowie die Alexianerbrüder im früheren Mauritiuskloster (heute Wolkenburg). Gleichwohl fällt auf, dass vier Ordensniederlassungen in der Glückwunschadresse nicht vertreten sind. Bei dreien handelt es sich um sehr kleine Gemeinschaften von maximal vier Schwestern 63, ins Auge sticht allerdings das Fehlen des nicht unbedeutenden Cellitinnenklosters in der Kupfergasse 64, ohne das ein eindeutiger Grund erkennbar wäre. Vollständigkeit weist die Adresse damit für die Klöster jedenfalls nicht auf. Ähnlich sieht es bei den Kirchenvorständen und Gemeindevertretungen der damaligen 19 Kölner Pfarrgemeinden aus. Mit St. Peter ist auch eine Pfarrgemeinde nicht mit einem eigenen Blatt in der Glückwunschadresse vertreten – auch hier ist ein Grund nicht klar ersichtlich.65 Auf dem Blatt der Dompfarrei unterzeichneten ferner 47 „Pfarrgenossen“ an Stelle von Kirchenvorstand und Gemeindevertretung die Adresse; beide Gremien waren in der Dompfarrei auf Grund der besonderen kirchenrechtlichen Situation nicht existent.66 Damit bleiben 17 Kölner Pfarrgemeinden, bei denen wir über die zahlenmäßige Zusammensetzung der beiden Vertretungsgremien nach dem Gesetz über „die Vermögensverwaltung in den katholischen Kirchengemeinden“ von 1875 recht gut im Bilde sind.67 ———— 62
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Auch diese Niederlassung sollte wenige Wochen nach Überreichung der Grußadresse am 27. Juni 1877 aufgehoben werden, vgl. Handbuch der Erzdiöcese Köln (Anm. 60), S. 180, 345. Cellitinnen Antonsgasse (Oberin und 2 Schwestern), Vinzentinerinnen an St. Gereon, aufgehoben am 1.10.1877 (3 Schwestern), Neusser Augustinerinnen im Militärlazarett (Oberin und 3 Schwestern); Angaben nach dem Handbuch der Erzdiöcese Köln (Anm. 60), S. 350 - 351. Zu einer Aufhebung oder existenzbedrohenden Situation ist es für das Celltinnenkloster in der Kupfergasse in der Kulturkampfzeit jedenfalls nicht gekommen, vgl. Stephanie Habeth-Allhorn: 175 Jahre Cellitinnen zur hl. Maria in der Kupfergasse. Eine sozial-caritative Ordensgemeinschaft im Herzen von Köln, Köln 2003, S. 43 - 44. Im Fall von St. Peter besteht gleichfalls das Problem der weit gestörten Überlieferung des Pfarrarchivs im AEK, welches nur wenige Unterlagen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufweist. Vgl. die Angaben in Anm. 36. Hegel (Anm. 3), S. 196, 567; dort auch zu den kulturkampfbedingten Hintergründen dieses Gesetzes. Vollständiger Gesetzestext, aus dem sich auch die Größe der Gremien in den Kölner Pfarrgemeinden ermitteln lässt bei Karl Theodor Dumont (Hg.): Sammlung kirchlicher Erlasse, Verordnungen und Bekanntmachungen für die Erzdiözese Köln, 2. Auflage, Köln 1891, Nr. 400, S. 484 496. Die Seelenzahlen der einzelnen Kölner Pfarrgemeinden nach: Handbuch der Erzdiöcese Köln (Anm. 60), S. 174 -184.
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Demnach hatten die Kirchenvorstände der Kölner Pfarrgemeinden je nach Größe acht oder zehn Mitglieder; lediglich für St. Maria in Lyskirchen mit unter 2.000 Pfarrangehörigen waren sechs Mitglieder vorgesehen. Die Gemeindevertretungen hingegen sollten jeweils dreimal so groß sein, wiesen also 24 oder 30 bzw. in St. Maria in Lyskirchen 18 Mitglieder auf. Diese Zahlen können nun verglichen werden mit den in der Adresse tatsächlich geleisteten Unterschriften der Gremienmitglieder. Im Ergebnis fehlen auf den entsprechenden Blättern der 17 Kölner Pfarrgemeinden lediglich fünf Kirchenvorstands- und 58 Gemeindevertretungsmitglieder. Das entspricht einem Prozentsatz von 3,4% in der ersten und 13% in der zweiten Gruppe; mehr als 96% aller Kirchenvorstandsmitglieder und 87% aller Gemeindevertretungsmitglieder der 17 Pfarrgemeinden sind also durch ihre Unterschrift vertreten. Die niedrigere Quote bei den Gemeindevertretungsmitgliedern ist womöglich mit den organisatorischen Schwierigkeiten zu erklären, galt es hier doch, mehr als 440 Unterschriften zusammenzutragen.68 Quantifizierend kann die Glückwunschadresse aber nicht nur hinsichtlich der Vollständigkeit ausgewertet werden, sondern auch hinsichtlich einer differenzierten Beteiligung von Klerus, Ordensleuten und Laien: Die Adresse enthält Namen oder Unterschriften von 84 Geistlichen, 150 Ordensfrauen und -männern, dann aber vor allem von 797 Laien, darunter immerhin 39 Frauen. Wird bereits damit deutlich, dass Initiative und Ausrichtung der Adresse auf Seite der Laien liegt, unterstreicht die Zusammensetzung des Festkomitees diesen Eindruck noch, findet sich doch auch hier kein einziger Geistlicher. Überhaupt sind die 84 Geistlichen allesamt in konkreten Funktionen als Pfarrer, Präsides, Klosterkommissare o.Ä. vertreten, nicht aber als eigene Korporationen 69 – sowohl das Kollegium der Kölner Stadtpfarrer wie insbesondere auch das Domkapitel sind nicht vertreten.
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Signifikant sind lediglich die Zahlen für St. Alban und St. Maria in der Kupfergasse, wo lediglich elf von 24 bzw. 14 von 24 Gemeindevertretungsmitgliedern die Adresse unterzeichneten. Lässt man diese Zahlen unberücksichtigt, ergibt sich bei den Gemeindevertretungen der übrigen 15 Pfarrgemeinden sogar eine Beteiligung von 91,2%. Eine gewisse Ausnahme bildet der Borromäusverein (fol. 41), auf dessen Blatt neben dem Schriftführer und Schatzmeister 17 Kapläne bzw. Pfarrer aus den einzelnen Pfarrgemeinden unterschrieben. Dies hat indessen seine Ursachen in der Struktur des Vereins, vgl. Jürgen Herres: Städtische Gesellschaft und katholische Vereine im Rheinland 1840-1870, Essen 1996, S. 151.
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5. Quellenwert Bei allen quantifizierenden Auswertungen wird stets deutlich, dass die Adresse ein außerordentliches Spiegelbild des katholischen Kölns darstellt, näherhin vor allem der Laien, also des katholischen Bürgertums der Stadt, das einen gewichtigen Anteil an der gesamtstädtischen Gesellschaft repräsentiert. Vertreten sind weniger die breite Masse Kölner Katholiken, sondern eher die führenden Köpfe in den Vereinen und kirchlichen Gremien – das aber mit fast 800 Personen in einer beeindruckenden Vielfalt. Diese Momentaufnahme eines wichtigen Segments der städtischen Gesellschaft Kölns von 1877 fällt in die Jahre unmittelbar vor Niederlegung der mittelalterlichen Stadtmauer (1881). Durch dieses Ereignis und seine Folgewirkungen beschleunigte sich der Urbanisierungs- und Modernisierungsprozess der Stadt rapide und hatte Konsequenzen für alle Bereiche des städtischen Lebens und des gesellschaftlichen Umfeldes, auch und gerade im kirchlichen Bereich. Köln entwickelte sich „von einer noch mittelalterlich geprägten regionalen Metropole im Rheinland zu einer modernen, urbanen Großstadt“.70 Analog zum Titel der Ausstellung „Großstadt im Aufbruch“ 71 kann man bei der Grußadresse von einem Bild der katholischen „Großstadt vor dem Aufbruch“ sprechen. In diesem Sinne ist mit Hilfe der Adresse eine in Teilen vollständige Übersicht über die katholischen Laien und deren Organisationen möglich, wie sie sonst in den Quellen weder überliefert ist noch zusammenzustellen möglich wäre: Während entsprechende amtliche Verzeichnisse über den Klerus vorhanden sind, ist die Quellenlage etwa für die Kirchenvorstände und Gemeindeversammlungen insbesondere für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wie beschrieben äußerst ungünstig. Gleiches gilt für die einzelnen in der Adresse vertretenen Vereinigungen; in einigen Fällen ist kaum etwas über deren Existenz bekannt.72 In diesem Zusammenhang ist einmal mehr an den Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln am 3. März 2009 zu erinnern, wodurch große Teile der dort vorhandenen Überlieferung zur Kölner Stadtgeschichte auf Jahre hinaus nicht zur Ver———— 70
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Gebhard Aders u.a.: Großstadt im Aufbruch. Köln 1888. Ausstellung des Historischen Archivs der Stadt Köln, Köln 1988, S. 9. Aders u.a. (Anm. 70). So reicht die eigene Überlieferung der an St. Alban ansässigen Junggesellensodalität (Grußadresse, fol. 30) im AEK, Pfarrarchiv St. Alban lediglich bis 1819; über die „Kongregation der Marienkinder höherer Stände“ (Grußadresse, fol. 29) ist beispielsweise kaum etwas bekannt, vgl. grundsätzlich Selina Krause: „Marienkinder“ im Schweizer Katholizismus des 19. Jahrhunderts. Religiosität, Weiblichkeit und katholische Gesellschaftsbildung (Geschichtswissenschaft 15), Berlin 2010.
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fügung stehen. Anders als für die Zeit bis 1815 waren vor dem Einsturz insbesondere von den Archivbeständen des 19. und 20. Jahrhunderts nur wenige verfilmt, so dass die Folgen des Einsturzes für die Stadtgeschichte dieser Epoche besondern gravierend sind. Die hier vorgestellte Glückwunschadresse vermag diese Verluste selbstverständlich nicht zu kompensieren, allerdings die Möglichkeit aufzuzeigen, für wenige klar umrissene Fragestellungen auf andere Überlieferungsstränge auszuweichen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen bietet sich, hinausgehend über den reinen Informationswert der Adresse – so kann beispielsweise ermittelt werden, aus wie vielen und welchen Personen sich ein einzelner Kirchenoder ein Vereinsvorstand zusammensetzte – eine genauere Analyse der Vielzahl von Unterschriften an. Dazu wurde der Versuch unternommen, sämtliche Namen der 526 in der Adresse unterschreibenden Kirchenvorstands- und Gemeindevertretungsmitglieder in den Kölner Adressbüchern von 1876 und 1877 zu verifizieren, was in 92% der Fälle gelungen ist.73 Da die Adressbücher Berufsangaben enthalten, sind aussagekräftige Auswertungen über die Zusammensetzung des katholischen Bürgertums nach Klassen- und Sozialstruktur und weiterführende Beobachtungen möglich. Die so gewonnenen Erkenntnisse wurden sodann mit dem Namenmaterial der in der Adresse genannten Vereinigungen verglichen, wie sich überhaupt eine Untersuchung des in der Adresse abgebildeten Spektrums des kirchlichen Vereins- und Kongregationswesens anbot. Die Vorstellung der Ergebnisse im Einzelnen würden indessen den Rahmen dieses Beitrags sprengen und ist daher für einen eigenständigen Beitrag vorgesehen.74 An dieser Stelle können lediglich einige knappe Hinweise erfolgen. Die Glückwunschadresse zeigt eine prinzipiell gute Vernetzung des katholischen Bürgertums untereinander, was daran ablesbar ist, dass sich tatsächlich nicht nur die genannten 797 Unterschriften von Laien finden, sondern 920. Die Differenz von 123 Unterschriften kommt durch Doppel- oder Mehrfachunterschriften von Personen vor, welche die Adresse in unterschiedlichen Funktionen an mehreren Stellen unterzeichneten. Solche Doppel- und Mehrfachnennungen treten in zweifacher Hinsicht am häufigsten im Festkomitee auf: Hier sind sowohl anteilmäßig (im Vergleich zu ———— 73
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Eine Identifizierung der Mitglieder beider pfarrlichen Gremien wird erheblich dadurch erleichtert, dass die jeweiligen Personen innerhalb des Pfarrbezirks wohnen mussten. Indessen bleiben trotz dieses Vorteils Unterschriften wie „J. Schmitz“ (Kirchenvorstandsmitglied St. Jakob; Grußadresse, fol. 15) nicht näher identifizierbar. Der Verfasser plant einen entsprechenden Beitrag in einem Beiheft zur Zeitschrift „Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte“.
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den Pfarrgemeinden und Vereinigungen) die meisten Personen mit zwei und mehr Unterschriften vertreten als auch die Personen mit den meisten Nennungen überhaupt. Konkret sind von den 25 Mitgliedern des Festkomitees 21 in der Adresse noch wenigstens ein weiteres Mal aufgeführt, wobei der Kaufmann Otto Loosen mit insgesamt sechs Unterschriften an der Spitze liegt. Dieser Befund einer besonders guten Vernetzung der Festkomiteemitglieder ist in Anbetracht ihrer Aufgabe, hunderte Unterschriften aus einer großen Zahl von Vereinigungen, Klöstern und Pfarrorganen einzuholen, alles andere als erstaunlich. Damit zeigt sich in dem Festkomitee wie in einem Brennglas das Kölner katholische Bürgertum noch einmal verdichtet und in seinen vielfältigen Bezügen. Daher seien im Folgenden beispielhaft die Mitglieder des Festkomitees in der Reihenfolge ihrer Unterschrift im Einzelnen aufgeführt 75: - Dr. Martin Sticker Herzogstr. 16; Wundarzt.
- Dr. Hermann Cardauns Hunnenrücken 46; Chefredakteur der „Kölnischen Volkszeitung“, Stadtverordneter 1895-1899. - Julius Bachem Ursulagartenstr. 9; Rechtsanwalt, leitender Redakteuer der „Kölnischen Volkszeitung“, Stadtverordneter 1875-1890, Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses 1877-1891; Adresse: Abgeordneter, Kirchenvorstand St. Ursula, kath. Volksverein. ———— 75
Grußadresse fol. 2; für die folgenden Angaben wird auf einen Einzelnachweise verzichtet. Außer der Grußadresse selbst wurden herangezogen: Kölner Adreßbuch 1877; Soénius/ Wilhelm (Anm. 8); Steimel (Anm. 49); Thomas Deres (Bearb.): Der Kölner Rat. Biographisches Lexikon Bd. 1: 1794 -1919 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 92), Köln 2001; Listen der Erste-Klasse-Wähler 1871, 1881, 1891 bei: Gabriele Oepen-Domschky: Kölner Wirtschaftsbürger im Deutschen Kaiserreich. Eugen Langen, Ludwig Stollwerck, Arnold von Guilleaume und Simon Alfred von Oppenheim (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte 43), Köln 2003, S. 371- 395; Bernhard Mann: Biographisches Handbuch für das preußische Abgeordnetenhaus 1867-1918 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 3), Düsseldorf 1988; Max Schwarz: MdR. Biographisches Handbuch der Reichstage, Hannover 1965. Zu den Mitgliedern des Festkomitees werden die folgenden Angaben gemacht: Name, Adresse lt. Adreßbuch 1877; berufl./geschäftl. Betätigung, politische Mandate; „Adresse“: Unterschriften bei anderen in der Glückwunschadresse vertretenen pfarrlichen Gremien und Vereinigungen. Angaben der o.g. Literatur über weitere Betätigungen auch im kirchlichen Bereich wurden nicht aufgenommen, ebenso wenig die Unterschriften von Ehefrauen in der Grußadresse, da hierbei keine letzte Sicherheit für die Richtigkeit der Zuordnung zu gewinnen war.
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- Friedrich Wilhelm Grosmann Sürth 76; Gutsbesitzer, Gemeindeverordneter Longerich, Mitglied des Reichstages 1871-1877; Adresse: Abgeordneter. - Dr. Friedrich Wilhelm Dumont Mohrenstr. 1, prakt. Arzt; Adresse: Kirchenvorstand St. Gereon. - Franz von Hagens Frankstr. 21; Appellationsgerichtsrat; Adresse: kath. Gesellenverein. - Eduard Fuchs Propsteigasse 29; Tuch-, Leinen-, Manufakturwarenhandlung; Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses 1877-1908, Mitglied des Reichstages 1893-1898, 1903-1907; Adresse: Abgeordneter, Gemeindevertretung St. Gereon, kath. Volksverein. - Dr. Georg König Schildergasse 103-105; Arzt, Sanitätsrat. - Franz Koch Poststr. 37; Rentner bzw. Baumeister 77; Adresse: Bürgergesellschaft, Paulusverein. - Franz Rody Ulrichgasse 18e; Metallhandlung; Adresse: Gemeindevertretung St. Severin, Vinzenzverein. - Theodor Wolff Perlengraben 69-75; Leimfabrik, Fa. Arnold Wolff & Söhne, Stadtverordneter 1868-1873, Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses 1873-1882; Erste-Klasse-Wähler 1881; Adresse: Abgeordneter, Kirchenvorstand St. Pantaleon, Verein vom hl. Grab, Clemensverein. - Clemens August Menken Benesisstr. 38; Landgerichtsrat, Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses 1873-1898; Adresse: Abgeordneter. - Wilhelm Michael Braubach Schildergasse 107-109, Vater von Bernhard Michael Braubach (s.u.); Teilhaber Fa. Gebr. Braubach (Kurzwaren u.a.); Erste-Klasse-Wähler 1881, 1891; Adresse: Verein vom hl. Grab, Paulusverein. ———— 76
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Mit F.W. Grosmann liegt eine der wenigen Ausnahmen vor, in denen einer der Unterzeichner der Adresse nicht in Köln wohnte. Vgl. Kempen (Anm. 42), S. 6.
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- Eugen von Kesseler Neumarkt 20; Landgerichtsrat, Gutsbesitzer, Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses 1870-1874, 1882-1885, Mitglied des Reichstages 1871-1884; Adresse: Abgeordneter, Kirchenvorstand St. Aposteln, Vinzenzverein, Gesellenverein. - Otto Loosen Perlengraben 112; Unternehmer, Mitinhaber Fa. Otto Loosen (Leimund Walzemassenfabrik), Mitglied des Stadtrates 1878-1893; Adresse: Kirchenvorstand St. Jakob, Bürgergesellschaft, Paulusverein, Clemensverein, kath. Volksverein. - Dr. Bernhard Michael Braubach Langgasse 1, prakt. Arzt, Stadtverordneter 1876-1883, Mitglied des Reichstags 1887-1890; Adresse: Abgeordneter, Kirchenvorstand St. Maria in der Kupfergasse, Vinzenzverein, Paulusverein. - Michael Gustav Schenk Neumarkt 48; Anwalt, Kanzler des Erzbistums, Stadtverordneter 1868-1883; Adresse: Abgeordneter. - Dr. Karl Hopmann Albertusstr. 16; prakt. Arzt; Adresse: Kirchenvorstand St. Gereon, Vinzenzverein. - Werner Berger Brückenstr. 7; Weinhandlung, Erste-Klasse-Wähler 1881; Adresse: Kirchenvorstand St. Kolumba, Paulusverein. - Franz Anton Wolff Severinstr. 34; Oberlehrer an der Realschule; Adresse: Kirchenvorstand St. Severin, Verein vom hl. Grab, Bonifatiusverein. - Dr. Anton Joseph Krebs Cordulastr. 6; Rentner, Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses 1859-1890; Adresse: Abgeordneter, Kirchenvorstand St. Ursula. - Dr. Franz Mangold Eigelstein 48; Arzt; Adresse: Kirchenvorstand St. Kunibert. - Johann Richter Neuss; Architekt; Mitarbeit an der Erstellung der Adresse (s.o.).
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- Josef Bachem Marzellenstr. 20-22; Verlagsbuchhandlung; Erste-Klasse-Wähler 1881, 1891; Adresse: Gemeindevertretung St. Mariä Himmelfahrt, Bürgerkomitee zur Jahresfeier der Kardinalserhebung. - Gabriel Hermeling Thürmchenswall 64; Goldschmied, Erste-Klasse-Wähler 1891; Adresse: Kirchenvorstand St. Kunibert; Mitarbeit an der Erstellung der Adresse (s.o.).
6. Fazit Als Fazit bleibt, dass es sich bei der Glückwunschadresse zum Goldenen Priesterjubiläum Baudris um eine außerordentliche Quelle handelt, und zwar sowohl wegen der materiellen Ausstattung und des organisatorischen Aufwandes, der für das Zustandekommen der Adresse notwendig war, als auch wegen der inhaltlichen Ausrichtung insbesondere in Bezug auf das katholische Bürgertum der Stadt. Ungewöhnlich ist eine solche Adresse der (im Wesentlichen) Kölner Bürger für den Weihbischof – und eben nicht der Kleriker für ihren Erzbischof – also in vielerlei Hinsicht. Erklärbar ist dies zweifelsohne vor dem Hintergrund des nach wie vor schwelenden Kulturkampfes, auf den auch der Glückwunschtext der Adresse rekurriert: „Die Ungunst der Zeit hat die Zahl Ihrer Mitarbeiter im Weinberge des Herren verringert und selbst unser hochgeliebter Oberhirt, dessen Namen wir nur mit Trauer und Ehrfurcht nennen, hat eine Zufluchtsstätte auf fremder Erde gesucht“.78 Gewiss hatte die Adresse nicht zuletzt auch den Zweck einer bewussten politischen Demonstration, führte die „Germania“ doch über das gesamte Priesterjubiläum aus: „Am 1. Mai hat das katholische Volk wiederum seine Gesinnung ohne Furcht und Tadel bethätigt. Mögen auch seine Widersacher diesen Tag nicht vergessen“.79 War diese politische Demonstration aber auch erfolgreich? Es gehört nicht viel Phantasie dazu sich auszumalen, dass am 1. Mai 1877, der Feier von Baudris Goldenem Priesterjubiläum die Übergabe der Glückwunschadresse durch das Festkomitee etwas ganz Besonderes gewesen sein muss. Zudem erwähnten gleich zwei Zeitungen in ihrer Berichterstattung zum ———— 78 79
Grußadresse, fol. 2. Germania, 7. Jahrgang, Nr. 102, 5.5.1877, Beilage.
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Festtag die Adresse und druckten sogar den Glückwunschtext ab.80 Bald schon scheint dem mit viel Aufwand erstellten Objekt allerdings keine größere Beachtung mehr geschenkt worden zu sein, es kam jedenfalls in die Hände der Nichte des Weihbischofs, Maria Baudri (1853-1913), die seit 1877 als Schwester Johanna vom hl. Kreuz dem Ursulinenkonvent des Klosters Kalvarienberg in Ahrweiler angehörte.81 Ob die Adresse erst nach dem Tode Baudris (1893) in die Hände der Nichte kam oder schon vorher, lässt sich nicht sagen. Baudri besuchte die Ursulinen jedenfalls mehrfach in Séroule bei Verviers in Belgien, wohin der Konvent kulturkampfbedingt ausgewichen war, und wollte 1885 für die Sérouler Klosterkirche sogar eine neue Orgel schenken 82, so dass eine Weitergabe der Adresse noch zu Lebzeiten Baudris ohne weiteres angenommen werden kann. Durch Baudris Nichte gelangte das prachtvolle Objekt in das Archiv der Ahrweiler Ursulinen und von dort erst 2010 an das Historische Archiv des Erzbistums Köln.83 Eine größere Fernwirkung war der Glückwunschadresse also nicht beschieden, was auch in der Natur der Sache liegt. Gewiss entfaltete sie ihre Wirkung am Festtag selbst, wobei eine ihrer wesentlichen Bedeutungen womöglich gar nicht im Akt der Übergabe an den Jubilar, sondern im Prozess der Herstellung liegt, näherhin im Zusammentragen der Namen und Unterschriften bzw. dem dabei notwendigen organisatorischlogistischen Aufwand: Indem zum Unterzeichnen die einzelnen Blätter wochenlang durch die verschiedenen Gremien und Vereinigungen des katholischen Kölns zirkuliert haben müssen, gewiss auch mit einem Entwurf des Glückwunschtextes, dürfte ein wichtiger Prozess wenn nicht angestoßen, so doch wenigstens verstärkt worden sein: Angesichts einer wahrgenommenen Bedrohung durch den preußischen Staat vergewisserte sich das bürgerliche katholische Köln seiner selbst, seiner Bedeutung, seines Zusammenhangs untereinander und seines Selbstbewusstseins. Der dabei entstehende Eindruck einer vollkommenen Geschlossenheit wird allerdings auf den zweiten Blick konterkarriert, da doch – aus welchen ———— 80 81
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Vgl. Anm. 45. Gierse / Heinen (Anm. 42), S. 330; frdl. Mitteilung der Ursulinenkongregation CalvarienbergAhrweiler e.V., Sr. Lutgardis Impe. Maria Baudri war eine Tochter des Glasmalers Friedrich Baudri, Bruder des Weihbischofs. Der Klostereintritt von Maria Baudri datiert auf den 1. Mai 1877, dem Tag, an dem in Köln das Goldene Priesterjubiläums ihres Onkels gefeiert wurde. Archiv der Ursulinenkongregation Calvarienberg-Ahrweiler, Chronik der belgischen Niederlassung 1875-1891, S. 50, 114, Chronik des Calvarienberges Bd. 1, S. 237, 245; frdl. Mitteilung der Ursulinenkongregation Calvarienberg-Ahrweiler e.V., Sr. Lutgardis Impe. Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln 5/2010, S. 10 -11.
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Gründen auch immer – eine der größten Pfarrgemeinden der Stadt (St. Peter) und eines wichtigen Klosters (Cellitinnen in der Kupfergasse) fehlen. Ohne diesen Befund überzubewerten, gilt es solche feinen Nuancierungen wahrzunehmen, die unser Bild von der Kirche im 19. Jahrhundert zu schärfen vermögen.
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Abb. 2: Glückwunschadresse für Johann Baudri (1877), Buchdeckel vorne (Detail); AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, Einband
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Abb. 3: Glückwunschadresse für Johann Baudri (1877), Widmungstext; AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 1
Abb. 4: Glückwunschadresse für Johann Baudri (1877), Glückwunschtext; AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 2
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Abb. 5: Glückwunschadresse für Johann Baudri (1877), Seite mit Widmungstext, Detail (s. Abb. 3); AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 1
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Abb. 6: Detail aus Glückwunschadresse für Johann Baudri (1877), Seite mit Glückwunschtext, Detail (s. Abb. 4); AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 2
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Abb. 7: Glückwunschadresse für Baudri (1877), Blatt der Pfarrgemeinde St. Jakob mit Unterschriften von Klerus, Kirchenvorstands- und Gemeindevertretungsmitgliedern; in der Initiale „D“ der Westbau von St. Georg am Waidmarkt; AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 15
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Abb. 8: Glückwunschadresse für Baudri (1877), Blatt der Bürgergesellschaft mit dem Portärt des Glasmalers Friedrich Baudri und dem Haus Am Domhof 8 (Ausschnitt) sowie Blatt des Vereins für christliche Kunst mit dem Erzbischöflichen Museum in der Thomaskapelle (Ausschnitt); AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 43, 36.
„... als ob Keveler ein unauszugründeter geltschatz sey ...“. Quellen zur Geschichte der Kevelaer-Wallfahrt des 17./18. Jahrhunderts im Gräflich von und zu Hoensbroech’schen Archiv von Schloss Haag von Leo Peters
Die Wallfahrtsgeschichte Kevelaers 1 ist seit fast zehn Jahren Gegenstand einer heftigen Kontroverse. Peter Lingens hat 2003 wesentliche Elemente der Mirakelgeschichte und ihrer Tradierung kritisch hinterfragt und kommt zu der sehr weitgehenden Feststellung, die Erforschung des Wallfahrtsbeginns stehe „wieder bei Punkt Null“.2 2004 hat er seine Thesen, insbesondere die Zweifel an der entscheidenden Rolle des Hendrik Busman beim Entsehen der Kevelaerwallfahrt und an der Existenz eines von Busman errichteten Heiligenhäuschens im 17. Jahrhundert, noch einmal bekräftigt.3 Seine Auffassung fand markanten Widerspruch. Die 2008 von Peter Dohms, dem namhaftesten Erforscher der Wallfahrtsgeschichte in den letzten Jahrzehnten, herausgegebene „Kleine Geschichte der Kevelaer-Wallfahrt“ 4 kann mit guten Argumenten vieles, was von Lingens vorgetragen wurde, entkräften. Es ist zwar nicht das vordringliche Anliegen dieses Beitrages, in den Disput einzugreifen, aber an einigen Stellen ist das hier auszubreitende Quellenmaterial geeignet, wichtige Thesen Lingens’ zu widerlegen. Von Bedeutung für die Kenntnis der Keve———— 1
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Die Wahl des Themas hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der Autor 2001 auf der Frühjahrstagung des „Historischen Vereins für den Niederrhein“ von Prälat Professor Dr. Norbert Trippen das Amt des Vorsitzenden übernommen hat, und zwar in Kevelaer. Norbert Trippen wurde damals zum Ehrenvorsitzenden gewählt. Zu seinem verdienstvollen Wirken im „Historischen Verein für den Niederrhein“ vgl. Leo Peters, Ein Blick auf die beiden letzten Jahrzehnte. In: Historischer Verein für den Niederrhein 1854- 2004. Festschrift zum 150jährigen Bestehen. Herausgegeben von Ulrich Helbach, Pulheim 2004, S. 393 - 406. – Herrn Wilhelm van Aaken in Konstanz danke ich herzlich für die kritische Durchsicht des Manuskriptes und wichtige Hinweise. Peter Lingens und Robert Plötz, „An dieser Stelle sollst Du mir ein Kapellchen bauen.“, Goch 2003, S. 40. Peter Lingens, Offene Fragen zur Frühgeschichte der Kevelaer-Wallfahrt. In: Dieter Geuenich (Hrsg.), Heiligenverehrung und Wallfahrten am Niederrhein. (Schriftenreihe der NiederrheinAkademie Bd. 6), Essen 2004, S. 208- 221. Kevelaer 2008. – Die umfänglichste und zugleich verschiedenste Aspekte vertiefende Geschichte der Wallfahrt erschien Kevelaer 1992: Josef Heckens, Richard Schulte Staade (Hrsg.), Consolatrix Afflictorum. Das Marienbild zu Kevelaer. Botschaft, Geschichte, Gegenwart (Bd. I), Peter Dohms, Die Wallfahrt nach Kevelaer zum Gnadenbild der „Trösterin der Betrübten“ (Bd. II). Vgl. ferner Peter Dohms, Kevelaerer Marienwallfahrt 1642-1995 (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande Bd. XI / 11), Köln 2002.
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laer-Wallfahrt „in der Barockzeit“ sind auch die 2004 von Peter Stenmans 5 publizierten Forschungen. Neuerdings hat sich Wilhelm van Aaken, der schon 2008 gemeinsam mit Heinz van de Linde die Überlieferung der Spontanheilungen in Kevelaer in vier Jahrhunderten publiziert hatte 6, erneut mit den Anfangsjahren der Kevelaerwallfahrt befasst.7 Vor dem Hintergrund der genannten Diskussion ist es auf jeden Fall sinnvoll, jene Quellen zur Kevelaerer Wallfahrtsgeschichte im Zusammenhang vorzustellen, die sich im Archiv der Grafen von und zu Hoensbroech auf Schloss Haag bei Geldern erhalten haben.8 Soweit ich sehe, haben zwar zwei der hier heranzuziehenden Quellen schon einen teilweise, wie unten darzustellen ist, eher verschlungenen Eingang in die Kevelaer-Forschung gefunden, was es aber nicht weniger lohnend erscheinen lässt, alle dort vorhandenen Nachrichten quellennah und bei aller Heterogenität doch als Überlieferungseinheit in den bisherigen Kenntnisstand einzufügen.9 Und dies um so mehr als die hier vorzustellenden und zu interpretierenden Quellen dieses niederrheinischen Adelsarchivs wichtige Informationen zur Beseitigung jenes Forschungsdesiderates leisten können, auf das Helmut Gabel soeben in einer Rezension von Peter Dohms’ schon genannter kleinen Geschichte der Kevelaer-Wallfahrt hinwies: die bisher unzureichende Durchdringung des „Neben- und Miteinander von Religion und Ökonomie“.10 Viele der hier vorzustellenden, natürlicherweise unzusammenhängenden Quellen berühren massiv wirtschaftliche Gesichtspunkte der Wallfahrt. Frömmigkeit und Kommerz lagen dicht beieinander. ———— 5
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Kevelaer – Wallfahrtsort in der Barockzeit. In: Karl Keller, Rolf Nagel, Peter Stenmans, Beiträge zur Kirchen- und Schulgeschichte des Gelderlandes. Geldern 2004, S. 289- 390. „Ich bin geheilt!“ Spontanheilungen im Wallfahrtsort Kevelaer aus vier Jahrhunderten (Veröffentlichungen des Vereins für Heimatschutz und Museumsförderung e.V. Kevelaer Nr. 7), Kevelaer 2008. W. van Aaken, Religiöser Aufbruch zum Marienbild auf dem Kevelaerer Feld. Anfangsjahre der Kevelaerwallfahrt im Spiegel des ältesten Mirakelbuchs von 1647. In: Onder ´t kruys. Kerkelijk en religieus leven in het gebied van Maas en Nederrijn (Publicaties van de Vereniging voor Nederlandse Kerkgeschiedenis Nr. 4), Gouda 2010, S. 101-112. Rien van den Brand und Stefan Frankewitz, Das Findbuch zum Archiv Schloss Haag, Geldern 2008, insbesondere S. 476f. – Das Archiv befindet sich heute im Archivdepot der Vereinigten Adelsarchive im Rheinland e.V. in Schloss Ehreshoven. Betont sei an dieser Stelle, dass es hier natürlich in erster Linie um jene Verzeichnungseinheiten des Archivs geht, die das Findbuch von Schloss Haag unter Kevelaer einordnet (vgl. vorige Fußnote). Das Archiv mit seinen rund 400.000 Archivalienseiten enthält aber auch an zahlreichen anderen Stellen Hinweise auf Kevelaer. Als Beispiel seien nur die über 3.100 Blatt umfassenden Einnahme- und Ausgabeverzeichnisse von Haus Haag unter der Nr. 2212 genannt. Diese Belege alle erfasst zu haben, kann der Autor natürlich nicht für sich in Anspruch nehmen. Helmut Gabel, Besprechung von Peter Dohms (Hg.), Kleine Geschichte der Kevelaer-Wallfahrt, Kevelaer 2008. In: Düsseldorfer Jahrbuch, Bd. 80, 2010, S. 494.
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Im übrigen ist jede bislang unbekannte Nachricht zur Entwicklung Kevelaers und seiner Wallfahrt im 17. und 18. Jahrhundert angesichts der wiederholt beklagten, insgesamt dürftigen Quellenlage per se hoch willkommen. Peter Dohms hat schon 1992 hervorgehoben, dass gerade für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts und für das ganze 18. Jahrhundert „auffallend wenig unmittelbare Zeugnisse“ vorliegen.11 Dass sich im Gräflich von und zu Hoensbroech’schen Archiv von Schloss Haag bei Geldern beachtliche und dazu überwiegend bis heute unbeachtete Quellen zur Wallfahrtsgeschichte Kevelaers befinden, ist dem Umstand geschuldet, dass der jeweilige Chef der Familie von Hoensbroech in dieser Zeit Drost der Vogtei und des Niederamtes Geldern war. Im zum Niederamt Geldern gehörenden Dorf Kevelaer übten die Hoensbroech somit landesherrliche Rechte in Vertretung der spanischen bzw. ab 1703/1713 der brandenburgischen Souveräne aus. Seit dem Verkauf von Hoheitsrechten durch die spanisch-geldrische Regierung 1675 war der jeweilige Chef des Hauses Hoensbroech außerdem Herr der Herrlichkeit Kevelaer.
* Die Wallfahrt hatte eben erst (1642) ihren Anfang genommen, da sahen sich die zuständigen Autoritäten auch schon veranlasst, gegen Missbräuche einzugreifen. Von Beginn an war es erkennbar ihr Bestreben, die kommerzielle Seite der Wallfahrt unter Kontrolle zu halten, wobei es andererseits nicht lange dauern sollte, bis auch staatliche Stellen den fiskalischen Vorteil schätzen lernten, der aus der Wallfahrt zu ziehen war. Im Oktober 1644 erreichte den Drosten des Niederamtes Geldern die Kopie einer beim Hof von Geldern in Roermond, also der zentralen Regierungsbehörde des Herzogtums, eingegangenen Bittschrift unter anderem um Eindämmung der Bettelei.12 Danach waren Generalvikar und Offizial des Bistums Roermond von den Supplikanten gebeten worden, beim Hof von Geldern ein entsprechendes Verbot zu erwirken. Die namentlich aus dem Vorgang nicht zu erschließenden Bittsteller finden die Unterstützung der „Nachbarn“ (van ons Naebuyren), was wohl auf ein gemeinsames Interesse der eigentlichen Bittsteller und der „Nachbarn“ schließen lässt. Mit Bercker und van Doornick 13 ist anzunehmen, dass die Kevelaerer Wall———— 11 12
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Wie Fußnote 4, Bd. I, S. 237. Gräflich von und zu Hoensbroech’sches Archiv von Schloss Haag (künftig Archiv Schloss Haag genannt) Nr. 3297. Vgl. nächste Fußnote.
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fahrtsleitung die Initiative ergriffen hatte. Die Supplikanten nehmen einleitend für sich in Anspruch, bemüht zu sein, die Kapelle Unserer Lieben Frau so viel wie möglich zur Ehre Gottes und seiner gebenedeiten Mutter zu fördern (om die Capelle van onse L. Vrouwe tot Kevelaer soo veel moegelyck ter eeren Godes ende van syne gebenedyde moeder te promoveren). Insbesondere trachteten sie danach, dass alles mit rechten Dingen ohne Betrug zuginge (alles richtich, sonder fraude ende bedroch toe mochte gaen). Nun müssten sie freilich feststellen, dass großer Missbrauch (groote abuysen) eingerissen wäre bei der Herstellung und dem Verkauf der Medaillen, Bildchen, Fähnchen und anderen dergleichen Sachen (medalien, bildekens, vaantghens ende andere dergelycken saecken). Das Geschäft betrieben allerlei auswärtige Leute (allerhande persoonen kommende uuyt vreemde landen). Deren Handel gereichte den Pilgern (Peregrinanten) und der Kapelle zu Nachteil und Beschwer, zumal sie ihre Preise nach ihrer Phantasie (naer hunne phantasie) überhöhten. Hinzu käme, so die Bittschrift weiter, das Bettlerunwesen. Täglich kämen die Bettler zur Kapelle, um von den Pilgern Almosen zu erbitten. Es wäre zu befürchten, dass sich daraus mit der Zeit Mord und Hurerei entwickelten (nyet sonder groote suspitie, dat mittertyt moorderye huerelerye ende desgelycx by de bedelaars sullen committeert worden). Die Supplikanten schlagen vor, unter Aufsicht von zwei oder mehr vereidigten Personen die Medaillen, Ringe und Bildchen herstellen und verkaufen zu lassen (om deselve medalien, ringen ende bildekens te moeghen maken ofte doen maecken ende verkoopen). Ein Teil des Erlöses sollte der Kapelle oder der Kirchenfabrik zufließen (aende voors. Cappelle ofte fabrique van dyen sullen cederen ofte kommen). Die Antragsteller bitten um die staatliche Sanktionierung eines solchen Vorgehens und insbesondere um Anstellung der erbetenen Personen (tot aenstellinge der persoonen, om die medalien te maecken ende te verkoopen). Schließlich bitten sie, Drost, Schultheiß und Beamte des Niederamtes Geldern möchten angewiesen werden, keine Bettler mehr auf dem Weg von Kevelaer zu dulden, sondern allein im Dorf Kevelaer selbst und dies auch nur in begrenzter Zahl (ende dat net dan tot seecker getall) und mit vorzuweisender von den Beamten oder den Schöffen ausgestellter Erlaubnis (licentie). Diese Bittschrift liegt dem erbetenen Befehl an Adrian Freiherr von Hoensbroech vom 5. Oktober 1644 bei, wonach künftig keine Bettler auf dem Weg nach Kevelaer oder im Dorf Kevelaer geduldet werden sollen, die nicht von ihm oder dem Mitherren von Walbeck (van de Metheeren tot Walbeeck) und dem Schultheißen des Niederamtes Geldern dazu eine schriftliche Genehmigung haben.14 Die Zulassung „bestimmter Personen ———— 14
Dieser Vorgang war schon 1954 von T(heodor) B(ercker) bekannt gemacht worden: T.B., Bettelei 1644. In: Unsere Heimat. Blätter des Vereins für Heimatschutz Kevelaer, Nr. 9, September 1954, 5. Jg. Theo
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aus Kevelaer“ zum Verkauf von Devotionalien ist noch vor dem 16. April 1646 gestattet worden.15 Einer weiteren Interpretation bedarf der Vorgang nicht, aber er ist ein überdeutlicher Hinweis auf einen schon fest etablierten Wallfahrtsbetrieb und auf parallel sich kräftig entwickelnde kommerzielle Nutzung.
* Die zeitlich nächste wallfahrtsgeschichtliche Quelle des Hoensbroech’schen Archivs betrifft Streitigkeiten um die Wiederherstellung des Hagelkreuzes in Kevelaer.16 Diese Nachrichten fanden über Richard Verhuven 17 Eingang in die Literatur. Aus „seinem Privatarchiv“ wurden sie Theo Bercker zur Verfügung gestellt, der sie 1954 referierte, was Robert Plötz 2003 zitatweise wiedergab.18 In den von Peter Lingens 2004 erneut gestellten „offenen Fragen“ zur frühen Geschichte der Wallfahrt spielt diese Quelle eine wichtige Rolle. Er hält die dort zu findende Formulierung, wonach Hendrik Busman der „Autor der Kapelle“ war, für „nicht authentisch“ und stellt irrig fest, „dass die Angaben von Bercker nicht überprüft werden können, da die ihnen zugrunde liegenden Unterlagen offenbar verschollen sind“.19 Bei der in der Tat vorhandenen schriftlichen Quelle handelt es sich um das Aktenstück 3298 im Archiv von Schloss Haag. Die vermeintlich verschollenen Nachrichten, die sich als Aktenniederschlag einer Auseinandersetzung um die Erlaubnis, in Kevelaer wieder ein Hagelkreuz zu errichten, und um den Ort seiner Aufstellung erweisen, werden hier erstmals auf Grund der Originalüberlieferung ausgewertet. Die Auseinandersetzung um die Wiedererrichtung des Hagelkreuzes fand bemerkenswerter Weise 1649, dem Jahr der Einweihung der Wallfahrtskirche (Kerzenkapelle), statt. Nach der Sachverhaltsdarstellung, die die Kevelaerer Schöffen und die gesamte Gemeinde mit Zustimmung aller adeligen und unadeligen Beerbten als Bittsteller dem Freiherrn von Hoens————
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van Doornick, Über das Wallfahrtswesen in Kevelaer im 17. Jahrhundert. In: Von Wachtendonk bis Kevelaer. Neue Beiträge zur geldrischen Geschichte, Geldern 1978 (= Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Geldern und Umgegend 78), S. 33-35, referierte diese Quelle erneut und fügte in einer Fußnote hinzu: „die entsprechende Quelle gibt F.W. Oediger als archiviert an im Archiv Haag (Nr. 3297, K 9 F 6); an der angegebenen Stelle war sie für mich jedoch im April 1977 nicht auffindbar“. Dohms (Kleine Geschichte), S. 77. Nr. 3298. Über ihn vgl. Walther Föhl im Heimatbuch 1957 des Grenzkreises Kempen-Krefeld, S. 27-35. Wie Fußnote 2, S. 10f. Lingens (2004), S. 211 und insbesondere Fußnote 17 auf S. 220.
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Abb. 1: Gemälde des Kapellenplatzes um 1706. Es zeigt links Herbergen („de halve maen“, der Halbmond), die Gnadenkapelle, die Kerzenkapelle und im Hintergrund links das Kloster der Oratorianer. Im Vordergrund das Hagelkreuz, zu dem die Gottesmutter einen Gnadenstrahl sendet.
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broech schriftlich vortrugen, hatten ihre Vorgänger vor unvordenklichen, ja vor 100 Jahren, nach christkatholischem Brauch im Feld von Kevelaer (int velt van Keveler) ein Hagelkreuz errichtet, und zwar in der Nähe der Kapelle und der neu errichteten Kirche (alwaer omtrent de Cappelle en[de] nyuwe kerck van unse L. Vrouwe gebowt is). Angesichts der Pilgermengen (door de frequentatie en besoeking van unse L. Vrouw door die pelgerumbs) war das Hagelkreuz nach Darstellung der Schöffen im Laufe der Zeit so verschnitten und vermindert (versneden en vermindert), dass es schließlich durch die Pilger und Hendrick Bosman als Author deeser Cappelle weggenommen worden war. Aber es war nicht einfach beseitigt worden, sondern, als ein Heiligtum (voor helgdom) angesehen, verkauft worden. Jetzt war, so die Schöffen weiter, an derselben Stelle, wo das alte Hagelkreuz gestanden hatte, ein neues errichtet worden (omtrent der selve plaetze, alwaer haere vooralderen voor hondert jaeren t´voorighe gestalt hadden ad pium usum), was, wie sie betonten, nicht im geringsten zum Nachteil (tot geene despect) der neuen Kirche und der Kapelle wäre. Freilich musste ein Krämer (Cramer), der ohne Erlaubnis dort seine Bude (Huysken) aufgestellt hatte, einen oder zwei Schritte zurückweichen. Da er sich geweigert hatte, setzte man ein Brett (een planck) zwischen seinen Kramladen und das neue Hagelkreuz. Das hatte der Krämer nicht widerspruchslos hingenommen und sich an den Offizial des Bistums Roermond (aent Geestelycke Hoff van Ruremunde) gewandt. Ohne, wie die Schöffen meinten, den Sachverhalt vollständig zu kennen, gab das geistliche Gericht dem Krämer Recht und forderte die Beseitigung des Hagelkreuzes (demolitie off amotie vant selve Haegelcruys) durch seinen Stadthelder Leuwen. Das wiederum stieß auf den Protest der Kevelaerer samt den Adeligen von Loe und von Bocholtz und anderen Beerbten. Auch den Kompromiss, ein kleines Steinkreuz (een cierlyck steenen cruys) an die Stelle zu setzen, lehnte die Gemeinde angesichts ihrer schweren Belastungen und Kontributionen ab. Den Baron von Hoensbroech baten sie abschließend um Unterstützung in ihrem Anliegen. Die Auseinandersetzung produzierte noch einige andere, hier zu übergehende Verwicklungen, wobei bemerkenswert ist, dass der bischöfliche Offizial die Kevelaerer am 4. Mai 1649 sogar unter Strafandrohung aufforderte, das neu errichtete Hagelkreuz binnen 24 Stunden zu beseitigen. In diesem Zusammenhang hat Plötz zu Recht darauf hingewiesen, dass zwei Tage zuvor die Kerzenkapelle eingeweiht worden war. An völlig anderer Stelle des Hoensbroech’schen Archivs, nämlich in der Auflistung der vom Drosten verhängten Strafgelder seines Amtsbezirks, heißt es unter dem 12, Februar 1650, fass die Gemeinde Kevelaer (gemente van Keve-
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laer) zu einer Geldbuße verurteilt wurde wegen des Tumultes im Zusammenhang mit der Errichtung des Hagelkreuzes (wegent´ tumult int richten vant´ hagelcruis). Es war aber weniger der Tumult, der die Strafe auslöste, als vielmehr die Tatsache, dass man die Aufstellung des Kreuzes an einem kirchlichen Feiertag (op eenen h. daeg) vollzog. Die im Februar 1650 ausgesprochenen Bestrafungen beziehen sich auf den Zeitraum seit dem letzten Brüchtenverhör am 2. Oktober 1649.20 Die Kevelaerer konnten sich also offenbar durchsetzen. Das neue Hagelkreuz blieb in der Nähe der Wallfahrtskapelle stehen, wie es ein zuverlässiges Bild von 1706 eindeutig ergibt. Unterstützung fanden sie dabei durch eine schriftliche Aussage des Degenhard Bertram Freiherrn von Loe und der Maria Elisabeth von Boedberg, Äbtissin von Graefenthal, wonach sie als interessierte geerbte es ausdrücklich begrüßten, dass das Hagelkreuz an diesem Ort seinen Platz fand und insoweit einem entsprechenden Begehren des Kevelaerer Schöffen Jan Reyners entgegen kamen. Wie der später darzustellende Streit der Oratorianer mit dem Wirten des „halve maen“ (des „Halbmondes“) zeigt auch diese Auseinandersetzung, wie hart um jeden Flecken Grund und Boden in der Nähe der Wallfahrtskapelle gerungen wurden und wie stark wirtschaftliche Interessen Einzelner das Geschehen auf dem heutigen Kapellenplatz beeinflusst haben. Das für die Kevelaerforschung Bedeutsame dieser Quelle besteht freilich darin, dass sie die Beweisführung van Aakens stützt 21, wonach es in der Tat vor Errichtung der Kerzenkapelle und der barocken Gnadenkapelle ein Heiligenhäuschen gab, das als Capelle bezeichnet wurde. Ausdrücklich wird nämlich von der Kapelle und von der neuen Kirche gesprochen. Zudem zerstreut diese Quelle alle Zweifel an der Errichtung des Heiligenhäuschens durch Hendrik Bosman.
* Ein brieflicher Hinweis aus dem Jahre 1657 lässt erahnen, dass die für die Wallfahrtsseelsorge zuständigen Oratorianer in Kevelaer 22 offenkundig an einem guten Verhältnis zu den adeligen Häusern Hoensbroech und Loe interessiert waren. Der Oratorianer Claude Brehon lud am 28. Juni die Ba———— 20 21 22
Archiv Schloss Haag Nr. 1719, Bl. 175. Wie Fußnote 7, S. 108f. Über „Das Wirken der Oratorianer in Kevelaer“ vgl. Fußnote 4, Bd. I, S. 312- 318, außerdem Stenmans a.a.O.
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ronin von Hoensbroech zur Mitfeier des Festes Mariae Heimsuchung 23 nach Kevelaer ein und bedauerte gleichzeitig, dass der Freiherr von Loe Kevelaer nicht besucht hatte. Mariae Heimsuchung 1657 sollte übrigens mit einem neuen Superior 24 gefeiert werden. Brehon hatte zwischenzeitlich die Leitung der Kevelaerer Oratorianer inne (m´at commis la charge de la maison pour quelque temps).25 Das bisher gute Einvernehmen der Oratorianer mit dem Hause Hoensbroech wurde 1712 betont, als es zu einem Rechtsstreit zwischen beiden kam (vgl. unten): sie hätten stets in einer guten Harmonie miteinander gelebt (nochtans altijdt geleeft hebben in eene goede harmonie).26 Für die Richtigkeit dieser Feststellung sprechen Mess- oder Kerzenspenden in Kevelaer, wie sie für die Jahre 1706-1708 zu finden sind.27 Für 1708 ist auch ein Geldgeschäft mit den Oratorianern überliefert.28 Auf der langen Liste der Kreditoren des Hauses Hoensbroech erscheint das Oratorium von Kevelaer 1760 mit 1.266 Gulden (oder Reichstaler), die sie sich mit vier Prozent verzinsen ließen.29 Auch Mitte der 1780er Jahre stehen die Patres mit einer Summe von 3.800 Gulden und einem weiteren Betrag von 2.000 Gulden zu 3,5 % Zinsen auf der Liste derer, die dem Marquis von Hoensbroech Geld geliehen haben.30 Auf ein nach dem Prozess wegen des „Halbmondes“ wiederhergestelltes gutes Verhältnis zwischen den Oratorianern und dem Hause Hoensbroech lässt auch ein leider undatierter und ohne Absender überlieferter Brief an die Marquise von Hoensbroech schließen.31 Er muss zwischen 1720 und 1747 geschrieben worden sein, was sich aus der Erwähnung des Superiors Antonius Heyblom ergibt.32 Darin wird mit Dank das Eintreffen einer Kreuzreliquie in Kevelaer bestätigt: J´espere que vostre Excellence aurat reçeu la lettre de remerçiement de Monsieur le Superieur des Oratoires de Kevelaer pour marqué que la particule de la s.te Croix de nostre sauveur y est heureusement arrivee, et si tost que j´aurais l´honneur de reçevoir l´indulgence plenaire pour les deux festes, je ne manquerais pas de la mettre moy mesme en mains dudit Monsieur Heybloem Superieur a Kevelaer. ———— 23 24 25 26 27
28 29 30 31 32
... la grand messe se chantera a 9 heures et demie ... Dohms (Hrsg.), S. 69. Archiv Schloss Haag Nr. 1144, Bl. 1283. Wie Fußnote 31. Archiv Schloss Haag Nr. 2218, z.B. Bl. 91. Am 27.6.1736 ist eine Spende voord kertze, vermerkt, als die Prozession von Geldern nach Kevelaer zog. Ebd. Nr. 2212, Bl. 2380 v. Archiv Schloss Haag Nr. 2218, Bl. 156 v. Archiv Schloss Haag Nr. 2216, Bl. 472. Archiv Schloss Haag Nr. 2212, Bl. 2866f. Weitere Angaben ebd. 2213, Bl. 9 und 11. Archiv Schloss Haag Nr. 1144, Bl. 1285. Über ihn vgl. Stenmans, S. 342f.
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In diesem Kontext hat auch der Hinweis seine Berechtigung, dass sich im Hoensbroech’schen Archiv das Programm eines Singspieles der jungen Kevelaerer Lateinschule von 1752 befindet 33, das dem Grafen Franz Arnold von Hoensbroech und seiner Gemahlin Maria Sophia geb. Gräfin von Schönborn gewidmet wurde, und auch, wie aus anderer Quelle hervorgeht, aufgeführt wurde.34 Sie werden von der studierenden Jugend (a Studiosa Juventute Gymnadis Kevelariensis) als Patrone und großzügigste Wohltäter gepriesen (patronis, ac mecoenatibus munificentissimis). Die pure Selbstlosigkeit wird man dabei auch mit Blick auf die lateinische Schlussdedikation natürlich nicht unterstellen: Qui sum, debita Cum Veneratione, Servus Obsequentissimus J. H. Keysers 35 Rector Collegii Kevelariensis, S. Joannis ante Portam Latinam Gedruckt ist der teilweise lateinisch und niederländisch abgefasste Text bei H. & F. Korsten in Geldern. Als üblich (gebruykelyck) wird 1788 ein kleines honorarium bezeichnet, das de Studenten tot Kevelaer bei der Überreichung van hunnen Thesis erhalten.36 1777 war in Ausgabeverzeichnissen des Hauses Haag eine milde Gabe an die Kevelaerer Studenten, die die Synopsy gebracht hatten, genannt worden.37 In den zahlreich überlieferten Ausgabeverzeichnissen des Hauses Haag gibt es manch weiteren versteckten Hinweis auf wiederholte Unterstützung der Oratorianer beziehungsweise der Wallfahrt durch die Hoensbroech, und wenn es 1727 nur der Hafer für das Pferd der Kevelaerer Patres ist.38 1728 wird eine Geldspende an twee Geestelycke dochters van Gelder tot de Kersse voor Kevelaer vermerkt.39 Sieben Kerzen ließ eine Tochter des ———— 33
34 35
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Nr. 2936. – Zur höheren Schule Kevelaers vgl. Dorothee Flemming-Lühr, Die Geschichte des Privatunterrichts in Kevelaer. In: Geldrisches Heimatkalender 1997, S. 218. Ebd. J.H. Keysers hat 1775 auch Philipp Damian von Hoensbroech, Bischof von Roermond, ein langes, bei N. Schaffrath in Geldern im Druck erschienenes Gedicht gewidmet; Archiv Schloss Haag Nr. 3034. Philipp Damian hatte schon in seiner Zeit als Domherr in Speyer in einem seiner vielen Briefe von dort an seine niederrheinischen Angehörigen sein Vertrauen zur Vierge Miraculeuse de Kevelaer bekundet, als er empfahl, zur Erhaltung der Gesundheit seine Bruders in Kevelaer Messen lesen zu lassen. Archiv Schloss Haag Nr. 3037, Bl. 88 (247). Archiv Schloss Haag Nr. 2212, Bl. 3048. Archiv Schloss Haag Nr. 2212 (nicht paginiertes Blatt zwischen 2673 und 2678). Archiv Schloss Haag Nr. 2212, vor Bl. 1608 und 1610 v. Ebd. Bl. 1649v. Ebd. Bl. 1684v heißt es zu 1729: Aen twee Geestelycke Dochters voor de Kertse welcke de patres Capucinen tot Kevelaer offeren gegeven. Wenig später ist von der Zahlung von einem Reichstaler die Rede aen twee van Kevelaer voor een Hert te schieten; ebd. Bl. 1685 v. Weitere Belege ebd. Bl. 1705 v, Bl.
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Grafen im selben Jahr in Kevelaer anzünden.40 1735 ließ der Herr auf Haus Haag dem Pater Superior Geld für zwölf Messen bringen.41 Mit diesen wenigen Beispielen mag es sein Bewenden haben.
* In umfangreichen Papieren von gerichtlichen Auseinandersetzungen der Jahre 1711 und 1712 sowie 1721 und 1722 um das Gasthaus de halve maen („Der Halbmond“) und vor allem um ein vorgelagertes Grundstück kommt die wirtschaftliche Bedeutung der Wallfahrt für die Kevelaerer überdeutlich zum Ausdruck. In einem Bericht des Jahres 1722 an den Hof von Geldern wird sogar betont, dass in der Zeit, wenn die aus- wie inländischen Prozessionen nach Kevelaer pilgern, die Einwohner Kevelaers ihr Auskommen für das gesamte Jahr verdienen müssen: als wanneer soo de buyten als binnenlandtsche processien tot Kevelaer aencommen tot het houden van haere devotie, in welckers Saison de Inwoonderen voor het geheele Jaer hunnen cost moeten gewinnen.42 Von der Zeit, in der die Pilger in den Ort strömen, wird sogar als von der „Kevelaerer Saison“ gesprochen.43 Die (unvollständige) Quelle 44, die auf den ersten Blick wie ein kleinlicher Nachbarschaftsstreit über die Nutzung eines Grundstückes aussehen mag, ist in Wirklichkeit ein sehr aussagekräftiger Beleg dafür, dass jedes kleine Grundstück in der Nähe der Marienkapelle in Kevelaer von größtem Wert war, um den erbittert gerungen wurde. Deutlich wird zugleich, dass die Oratorianer penibel darauf bedacht waren, die kommerzielle Seite des Wallfahrtsbetriebes zum eigenen Vorteil beherrschbar zu halten. Bei den höchst komplexen Rechtsstreitigkeiten sind mehrere Prozesse zu unterscheiden: der Oratorianer gegen den Kevelaerer Kaufmann Anton Smits, zwischen diesem und dem Freiherrn von Loe und zwischen dem Marquis von Hoensbroech und den Oratorianern. Am 6.11.1704 hatten die Eheleute Anton Smits – Coopman tot Kevelaer – und Catharina Roeffs von den Oratorianern, vertreten durch den Pater Superior ———— 40 41 42 43 44
1728 v. Der Tochter des Kevelaerer Küsters werden 1730 auf persönliche Veranlassung des Grafen ein Reichstaler und 16 Stüber verehrt; ebd. Bl. 1755. Ebd. Bl. 1658. Archiv Schloss Haag Nr. 2216. Archiv Schloss Haag Nr. 3286, Bl. 26. het Kevelsche Saison, Bl. 17. Eine parallele Überlieferung, die sich aber im wesentlichen auf die Jahre 1712/ 1713 bezieht, befindet sich im Rijksarchief Limburg in Maastricht, Hof van Gelder te Roermond Inv. Nr. 405.
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Carolus Sturm 45, das Haus de halve maen, gekauft.46 Es stand auf leibgewinnsberechtigtem Grund des Hauses Wissen. Dabei hatten sich die Oratorianer das Eigentum an dem vorgelagerten Grundstück (van den grondt voorhoofs aen de halve maen) vorbehalten, freilich mit der Zusage, darauf nichts zu bauen (eenigh getimmer te setten) außer einer Mauer, die nur drei Fuß höher als die Eingangstufen (den dorpel) des „Halbmondes“ sein durfte. Und um die Mauer durften sie einen vier Fuß hohen Lattenzaun (Stacketsel) setzen. Nicht zu dem vorgelagerten Grundstück, an dem sich die Oratorianer das Eigentumsrecht vorbehielten, gehörte ein drei geldrische Ruten breiter Streifen unmittelbar an der Herberge de halve maen. Er gehörte vielmehr zu der von Smits und seiner Frau erworbenen Liegenschaft. Darauf durften diese aber keine Verkaufsbuden (geen noster wasch offte weggenkraem) setzen, sondern nur een Noster Craem dicht an der Mauer des „Halbmondes“ und nicht länger als eine geldrische Rute und nur vor ihrem eigenen Haus, nicht vor einem anderen. Auch vor dem kleinen Häuschen und den Stallungen, wo Gerart Bueren wohnte, durften keine Verkaufsstände errichtet werden als alleen op de glasvenster. Die Ankäufer gingen ferner für sich und ihre Nachfolger im „Halbmond“ die Verpflichtung ein, keine Zusammenkünfte von Jungmännern und Jungfrauen zu gestatten (eenige byeencompste von Jonghemans en Jongedochters). Ferner durften sie nicht zulassen, dass dort mit Bass, Viole, Trompette oder andere musicaele instrumenten ausgenommen Clavicimbale musiziert würde, es wäre denn seitens des Militärs oder adeliger Personen, was sie nicht verhindern könnten, oder bei einer Hochzeit. Ein Übertreten dieses Verbotes sollte mit zehn Goldgulden zugunsten der Armen von Kevelaer geahndet werden. – Das letztgenannte Verbot mögen Musikhistoriker interpretieren.47 Die ebenfalls aktenkundigen Besitzverhältnisse vor 1704 können hier mit Ausnahme des Hinweises auf den Verkauf von het kraem op de kerckhoff van de Cappell an Franz van der Smitten unberücksichtigt bleiben. Die Detailgenauigkeit der Bestimmungen muss man vor dem Hintergrund der Tatsache sehen, dass es sich offenbar um ein „Filetstück“ im topografischen Zentrum der Wallfahrt handelte, nämlich zwischen der Kapelle und dem Haus zum Halbmond (tusschen de Capelle ende het Huys genaempt de Halve maen).48 Auch heute beträgt das gesamte Areal des Kevelaerer Kapellenplatzes nur etwa sechs Morgen. Aus hier nicht zu vertiefenden Rechtsgründen waren die Oratorianer gehalten, das Grundstück, für das sie 1704 den Eigentumsvorbehalt ———— 45 46 47 48
Über ihn vgl. Stenmans, S. 341. Zum Standort des „Halbmondes“ siehe wie Anm. 2, S. 60. Zur Musik in Kevelaer vgl. ebd. S. 378. Archiv Schloss Haag Nr. 3286, Bl. 28.
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Abb. 2: Die Erzählung (Verhael) der in Kevelaer geschehenen Wunder in einem Druck aus Roermond von 1647.
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Abb. 3: Der erste deutschsprachige Druck mit der Kevelaerer Mirakelerzählung von 1723. Unten der Hinweis Man findt sie zu kauff zu Kevelaer (vgl. Lingens und Plötz, S. 23) (Die Abbildungen 1-3 stellte das Niederrheinische Museum für Volkskunde und Kulturgeschichte in Kevelaer freundlicherweise zur Verfügung.)
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hatten beurkunden lassen, am 25. September 1721 an Johann Adolf Baron von Loe, Herr zu Wissen, unter denselben Bedingungen hinsichtlich der Nutzung zu verkaufen.49 Zwischenzeitlich war es 1712/13 zu einem Rechtsstreit zwischen den Oratorianern und dem Herrn von Kevelaer, dem Marquis Wilhelm Adrian von und zu Hoensbroech, gekommen. In diesem Zusammenhang wurde dem Pater Superior der Oratorianer vorgeworfen, den Eigentümer des „Halbmondes“ gegen den Tenor des Kaufvertrages von 1704 während der Kevelaerer Saison kontinuierlich mit dem Aufstellen von Wachs- und Bilder-Buden (allerhande Wasch ende bilden craemen) direkt vor dessen Haus kontinuierlich gequält (gequelt ) zu haben.50 Diese Auseinandersetzung bewegte auch den Ordensoberen und das Kapitel der Oratorianer in Mechelen, den geistlichen Vorgesetzten der Kevelaerer Oratorianer. Am 28.6.1712 schrieb er dem Marquis von Hoensbroech einen sehr unterwürfigen Brief, in dem er klar zu erkennen gab, wie sehr ihm an seinem Wohlwollen gelegen war. Offenbar hatte Hoensbroech sich brieflich in Mechelen über die Kevelaerer Patres beschwert. Ihnen war der Unmut des Marquis über einen dortigen Pater bekannt geworden: datter door iemandt van ohns huys van Kevelaer aen u wel Edele eenigh misnoegen gegeven was. Der Superior und die Gemeinde von Kevelaer wurden von Mechelen aus mit deutlichen Worten zum Gehorsam gegen ihren weltlichen Herrn ermahnt.51 In seinem Streit mit dem Herrn von Loe als neuem Eigentümer des wegen seiner Nutzung umstrittenen Vorplatzes des „Halbmondes“ berief sich Anton Smits1722 auf das geldrische Landrecht, das es untersagte, eenighe bomcken, kisten, winckels, scraegen offte dergelycke dingen auf eines anderen Grund und Boden zu setzen oder setzen zu lassen und ihm damit in seinem Unterhalt (neeringhe) zu schaden. Damit ist zugleich der Vorwurf beschrieben, den Smits den Oratorianern machte. Sie hätten etliche Jahre lang mit ———— 49
50 51
Bei dieser Gelegenheit wird eine präzise Lagebeschreibung gegeben: gelegen an einer Seite tegens de cleyne Cappelle van onse L. Vrouwe, an der anderen Seite het erff vant´ Huyss genoembt den Ridder Sint Joris und den vom Brouckhoff nach Voorstenbrugge verlaufenden Weg, neben dem von Wissen nach Geldern führenden Weg, mit het spitshoekigh eynde streckende tot daer dese twee wegen by malcanderen loopen ende mit het breidt eynde tegens Antoni Smits erve gehoorende by de halve maen. Bl. 15. Bl. 17. ondertusschen hebben wy aen onsen Superior en gemeynte van Kevelaer geordonnert ende bevolen, van geensints den wegh van recht in te treden tegen hunnen heer ende vader, en is het saken dat sy die alreedts ingetreden syn (t´gene soude wesen buyten onse wete en tegen onsen danck) van daer promptelyck uyt te scheyden wel wetende hoe onbehoorelyck het is en van wat quaet gevolgh, dat de ondersaeten en besonder gheestelycke in het recht opcomen tegen hunnen Heere, te meer als de redelyckheyt van den heere genoeghsaem bekent is, gelyck die van U Hooghgeboren allom ruchtbaer is. Der Brief des Ordensoberen aus Mechelen findet sich in der großen Briefsammlung im Archiv Schloss Haag Nr. 1764 als Blatt 3954f.
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Absperrungen (paelen) und Kaufläden (craemen) und der Duldung von Geschäften (winkels) anderer Kevelaerer Einwohner auf dem Platz vor seinem Haus den Zugang zu diesem behindert und ihm geschäftlich geschadet. Der Herr von Loe setzte nach Smits’ Darstellung dieses rechtswidrige Verhalten fort und fügte ihm irreparabilen schaeden zu.52 Superior Hieronymus Zegers 53 hatte seinerseits 1712 für die Oratorianer erklärt, sie hätten über lange Jahre ungehindert den Platz zwischen der Kapelle und dem Haus „Zum Halbmond“ zum Aufstellen von Verkaufsständen (Craemen) vermieten (verhueren) dürfen. An anderer Stelle wird dies noch präzisiert: die Oratorianer seien nie daran gehindert worden, den Platz, den sie sich 1704 beim Verkauf des „Halbmondes“ vorbehalten hatten, von Zeit zu Zeit zum Aufstellen von Wachs- und PaternosterStänden (wasch ende paternoster Craemen) zu vermieten.54 Dieses angebliche Recht der Oratorianerpatres war von Anton Smits im Laufe des Verfahrens heftig bestritten worden, ja er behauptete, dazu mehr berechtigt zu sein als die Oratorianer. Als Zeuge verhört wurden dabei der 42jährige Gabriel Dormans und der 40jährige Paulus Vlochoven, beide Einwohner von Kevelaer.55
* Dass die für Seelsorge und Wallfahrtsbetrieb in Kevelaer zuständigen Oratorianer geschäftstüchtige Gottesmänner waren, belegen schon die relativ wenigen erhaltenen Zeugnisse, die Stenmans 2004 zusammengetragen hat.56 Dokumentiert ist im Hoensbroech’schen Archiv ihr schon im 17. Jahrhundert stattgehabter Erwerb des Gutes Loe alias Schenck im Kirchspiel Kevelaer. Um das an diesem Gut klebende Jagdrecht kam es 1683/84 zu Diskussionen und Befragungen, wobei manches interessante Detail der Besitzgeschichte des Gutes erörtert wird. Dabei erfährt man auch, dass eine behördli———— 52 53 54 55
56
Archiv Schloss Haag Nr.3286, Bl. 26f. Über ihn vgl. Stenmans, S. 341. Bl. 28 und 31. Bl. 40ff. - Es sei darauf hingewiesen, dass Stenmans, S. 333f. unter der Überschrift „Die Affäre Smits“ ebenfalls den Streit zwischen Anton Smits und den Oratorianern thematisiert, allerdings auf Grund der Kevelaerer Oratorianer-Überlieferung. Zwar wird auch hier deutlich, dass handfeste geschäftliche Interessen im Mittelpunkt des Streites standen, aber es werden andere Inhalte der Auseinandersetzung genannt. Das Haus „Zum Halbmond“ wird überhaupt nicht erwähnt. – Erwähnung findet der Halve Mond in einem in Schloss Wissen im Jahre 1780 geschriebenen Brief des Freiherrn von Loe (Archiv Schloss Haag Nr. 3479, Bl. 337). S. 371 - 374.
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che Anordnung op het kerckhoff van Kevelaer naer de Hooghmisse bekannt gemacht wurde.57
* Auch für die staatlichen Behörden war Kevelaer ein unter steuerlichen Gesichtspunkten offenbar interessanter Ort geworden. In Korrespondenzen, die die neue Matrikel der einzelnen Orte des preußischen Anteils des Herzogtums Geldern betreffen, ist 1727 in einem Brief aus Schloss Wissen, in dem es um Beschwerden gegen die Steuerfestsetzungen geht, zu lesen, das wegen Keveler die beschwerden ein wenig nachtrucklicher mögten angezogen werden, dan es scheint aus allem, das man bey der Königl. Commisssion zu Gelder, ja zu Berlin der meinung sey, als ob Keveler ein unauszugründeter geltschatz sey.58 Schon 1707 hatte man, worauf Peter Dohms hinwies, erwogen, die damals angenommenen 300.000 Pilger zu besteuern.59
* Knapp 100 Jahre nach Wallfahrtsbeginn ließ der Marquis von Hoensbroech ausdrücklich als Drost des Niederamtes von Geldern am 29.6.1740 Bedingungen formulieren, unter denen die binnen der Herrlichkeit Kevelaer gelegene plaetsen an die Meistbietenden verpachtet wurden, um Kramladen darauf zu stellen (Winckel Craemen daer op te stellen).60 Die Stellplätze, die von alters her bestanden (soo als die van oudt syn bestaen geweest), sollten für eine bestimmte Anzahl klevischer Gulden zu 20 Stüber angeboten werden, wozu dann im Wege der Versteigerung der Meistbietende den Zuschlag erhielt. Die Verkaufsläden (Craemen) mussten auf Holzböcke (Schraeren) gesetzt werden, und den Pächtern war es untersagt, Pfähle in die Straße zu schlagen (gheene paelen in de Straete te slaen). Unter 3. folgten Anweisungen über die geordnete Aufstellung der Läden, wobei der der Witwe Lodowyx besonders genannt wurde. Zu den Bedingungen gehörte auch die Auflage an die Pächter ———— 57
58 59 60
Archiv Schloss Haag Nr. 3392. – Für das Jahr 1739 ist der Erwerb von sechs Morgen „großen Bend aus Bremmenhorst“ durch den Oratorianer und Kevelaerer Pastor Jodocus Franciscus de la Montagne (über ihn Stenmans, S. 343) bezeugt. Archiv Schloss Haag Nr. 651. Archiv Schloss Haag Nr. 1644, Bl. 29. Wie Fußnote 4, Bd. I, S. 237. Archiv Schloss Haag Nr. 3301.
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an der Kleinen Kapelle (teghens de Cleyne Capelle), dass sie nicht mit Leinentüchern oder Bedeckungen ihrer Stände die Sicht auf die Kapelle nähmen. Zahltag für die Pacht, also die Platzmiete der Kramläden, war der Michaelstag. Und dies sind die Namen der Pächter für das Jahr 1741 mit Angabe der Pachthöhe, die ihrerseits wohl einen Rückschluss auf Größe und vielleicht Lagegunst des Verkaufsstandes zulässt. In drei Fällen ist angemerkt, dass diese Pacht auch für das Jahr 1742 gezahlt wurde. Michel Pasmans (auch für 1742) Anthon Verheyen Gerrardt Lodewyckx Jan Mugenbrock Jan Janssen Peternel Hosten Peter Symons De Gardnier Gerrardus Berghmans Anthon Verheyen Jan Verheyen Anthon Martens (auch für 1742) Gerrardt Buyten Dirck Francken Peter Symons (auch für 1742) Joannes Francken Bernardt Strampraedt Peter Symons Hendrick Gruyters Sander Cleven Jan Heuvelmans
3 Gulden 6 Gulden 1 Gulden 1 Gulden 10 Stüber 5 Stüber 1 Gulden 1 Gulden 10 Stüber 1 Gulden 10 Stüber 11 Stüber 1 Gulden 1 Gulden 3 Stüber 15 Stüber 3 Gulden 5 Gulden 10 Stüber 5 Gulden 3 Stüber 1 Gulden 5 Stüber 1 Gulden 5 Stüber 5 Stüber 5 Stüber
In der Summe sind dies 35 Gulden und 17 Stüber. In welche Kasse diese Gebühren flossen, wird nicht ausdrücklich gesagt, möglicherweise aber in die des Herrn von Hoensbroech als Herr von Kevelaer, denn in einem Einnahmeverzeichnis des Hauses Haag von 1729 waren schon Einkünfte verbucht worden aus den Standgeldern fremder Schuhmacher in Kevelaer: Ontfangen van den Bode van Kevelaer herkomende van steede gelt van de vremde schoenmaekers op de merckt aldaer.61 Es lässt sich denken, dass angesichts der ———— 61
Archiv Schloss Haag Nr. 2212, Bl. 1072.
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zahlreichen Fußpilger Schuhmacher in Kevelaer ein gutes Geschäft machen konnten.62
* Der Vollständigkeit halber sei ein Hinweis zum Weg vieler KevelaerProzessionen aus dem Jahre 1776 aufgeführt: In einer Akte über die Pflanzung einer Allee bei Schloss Wissen wird von einer Landstraße durch die zwischen den geldrischen und klevischen Landen liegende Hedderodse Heide gesprochen, die von den auf undt ab kommenden Kahrren und Processionen nach und von Kevelaer allezeit gebraucht worden.63
* Ein Beleg für das Bestreben der preußischen Behörden, Kevelaer unter möglichst viel eigener Kontrolle zu halten, ist die massive Einflussnahme auf das Kloster der Oratorianer, das dort für die geistliche Betreuung der vielen Pilger verantwortlich war. Unter Bezugnahme auf königliche Kabinettsordre vom 31. März 1783 ordnete das preußisch-geldrische Landesadministrationskollegium am 8. Mai1783 an, dass die Kevelaerer Oratorianer künftig keine fremde und Ausländer mehr, sondern allein Einländer aus den Königlichen Staaten unter sich einschreiben und aufnehmen sollen. Schultheiß und Regierer zu Kevelaer hatten darüber zu wachen, dass die Vorschrift eingehalten wurde.64
* In der Zeit der ersten Wochen der Französischen Revolution entstand ein Aktenvorgang, der sich im Hoensbroech’schen Archiv unter der Nummer 3306 erhalten hat. Er zeigt das strikte Bemühen der Kevelaerer Kaufmannschaft, sich vor auswärtiger Konkurrenz zu schützen, und lässt auf geordnete Strukturen ———— 62
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Eine eher ungewöhnliche Berufsbezeichnung, die sicher in einem Zusammenhang mit dem Wallfahrtsbetrieb zu sehen ist, wird 1736 in einem Ausgabeverzeichnis des Hauses Haag genannt: der fahnensmit von Kevelaer. Archiv Schloss Haag Nr. 2212, Bl. 2387. Archiv Schloss Haag Nr. 5182, Bl. 10. Archiv Schloss Haag Nr. 3287. Vgl. wie Fußnote 4, Bd. I, S. 316.
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des wallfahrtsnahen Kaufhandels in Kevelaer schließen. Dem Schultheißen des Niederamtes Geldern J.P.Schreurs auf Schloss Haag berichteten Gerhard Wilhelm Brux, Mijchie Driessen und Franciscus Pinders am 22. Juli 1789 als Bevollmächtigte der Kevelaerer Kaufleute und selbst Beteiligte (Meede Interessenten). Sie beziehen sich auf eine 1770 zwischen dem König von Preußen und den Landständen geschlossene Vereinbarung (geslootene Convention) den freien Handel und Wandel gegen eine jährliche Gebühr betreffend. Sie führen Klage über fremde Händler (vremde omloopers offte cremers), die außerhalb der privilegierten Markttage nicht nur an Bewohner Kevelaers, sondern auch an Pilger (aen vremde alhier kommende pellegrims) ihre Ware verkaufen. Angesichts dessen sehen sich die in Kevelaer lebenden Kaufleute nicht mehr in der Lage, die gemeindliche Steuerlast (gemeente lasten) zu tragen und fürchten um ihre wirtschaftliche Existenz. Sie ersuchen Schreurs als Richter von Kevelaer (als Righter deeser plaets), des Königs Majestät zu bitten, den Verstoß gegen die genannte Konvention zu unterbinden, damit sie ihren freien Handel und Wandel fortsetzen können. Am 31. Juli 1789 kommt Schreurs dieser Bitte nach und berichtet dem König (de facto dem geldrischen Landesadministrationskollegium) unter dem Betreff: Die Kaufleute zu Kevelaer beantragen, den fremden Kaufleuten zu untersagen, an anderen als den Markttagen und den Marientagen (Lieve Vrouwen Dagen) zu verkaufen. Die Kaufleute von Kevelaer seien steuerlich sehr hoch belastet und trügen sogar zur Entlastung anderer Dörfer des Niederamtes bei, da sie ihre Waren durch den Zulauf der Pilger (door den toeloop der Pelgerims) besser verkaufen könnten als Kaufleute in anderen Orten. Allerlei fremde Handelsleute, heromloopers oder Krämer handelten aber beständig in Kevelaer auf der Straße, in Herbergen und in allen Häusern und drängten den Pilgern ihre Waren auf, was alles zulasten der Steuereinnahmen gehe und den Handel der Kaufleute von Kevelaer mindere. Durch landesherrliches Einschreiten solle sichergestellt werden, dass Fremde künftig nur an Marktund an Marienfeiertagen in Kevelaer verkaufen dürften. Auch das Königliche Landesadministrationskollegium in Geldern reagiert rasch. Unter dem 5. August erlässt es einen Bescheid zur Bitte der Kevelaersche Kaufmannschaft, daß denen fremden Kaufleuthen und Colporteurs verboten werden mögte, auf keinen andern als den Markt und den Marien Frauen Tagen ihre Waaren verkaufen zu dürfen. Entscheidend sei allein, ob die so genannte fremde Kaufleute vom Landes-Administrations-Collegio concessionieret sind oder nicht. Im ersten Falle könnten sie jeden Tages und Stunde frey und ungehindert handeln, wo sie nur Lust haben. Haben sie keine Konzession, sei ihre Handelserlaubnis in der Tat auf die Markt- und Marientage beschränkt. Schreurs
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solle die Kevelaerer Bittsteller auffordern, die fremden Kaufleute nur nach dem Besitz einer Konzession ihrer Behörde zu fragen. Können sie sie vorweisen, ist ihnen der ungehinderte Handel zu erlauben, haben sie keine, so steht es ihnen frey sie auf der Stelle ab und weg zu weisen. Um die Sache in Kevelaer eindeutig zu kommunizieren, soll der Schreurs unter Hinweis auf die Ordre der Behörde diese Entscheidung in Kevelaer an behörigen Ort anschlagen lassen. – Alles in allem wohl nur ein Teilerfolg der Kevelaerer Kaufleute, die die wirtschaftliche Nutzung des Wallfahrtsbetriebes lieber ausschließlich für sich reklamiert hätten.
* Es sind durchweg körperliche Gebrechen gewesen, deren Heilung in Kevelaer die diesbezügliche wallfahrtsgeschichtliche Überlieferung prägen. Darüber hinaus haben van Aaken und van de Linde auch drei Fälle der Heilung von Besessenheit bekannt gemacht.65 Dies ist vor dem Hintergrund einer Quelle 66 mitteilenswert, die das Einschreiten der Obrigkeit gegen eine angeblich vom Teufel besessene Frau dokumentiert, die zur Wiedererlangung ihrer Gesundheit einen weiten Weg nach Kevelaer zurückgelegt hatte. Auch dieser Vorgang ereignete sich im Jahre 1789. Er beginnt mit der schriftlichen Aufforderung des geldrischen Landesadministrationskollegiums an den Schultheißen der Herrlichkeit Kevelaer auf Schloss Haag J.P. Schreurs vom 3. September. Danach sei überall bekannt, dass sich zu Kevelaer eine fremde Weibs Persohn aufhalte, von welcher vorgegeben wird, daß selbige mit dem Teufel besessen sey, und deshalb von dem dasigen Pastor efforcifiret, oder wie es sonst heißt belesen werde. Die königliche Regierung zeigt sich verwundert, dass sie über den gantz außerordentlichen Vorfall nicht vom dortigen Beamten und auch nicht von den Regierern unterrichtet wurde, was nicht im Einklang stehe mit der Generalverordnung, nach der alles Vorkommende an die Regierungsbehörde zu melden war. Schreurs qua Beamter Loci wird gemessenst aufgegeben sich nach Kevelaer zu begeben, alles genau zu untersuchen und umgehend dem Kollegium zu berichten. Auch soll er sich die attesta und Legitimation, die die Frau angeblich mit sich führte, vorlegen lassen und davon eine Abschrift einreichen. Schließlich will die Regierung Herkunft und Alter der Frau wissen und von wem selbige zu Kevelaer unterhalten werde. ———— 65 66
Wie Anm. 6, S. 50, S. 61, S. 67. Archiv Schloss Haag Nr. 3307.
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Schreurs hatte offenbar verstanden, dass das Regierungskollegium in Geldern ungehalten war. Nachdem das Befehlsschreiben am 4. September bei ihm eingegangen war, begab er sich schon am 5. September nach Kevelaer. Dort hat er zusammen mit dem Schöffen Cremeren und dem Bürgermeister J. op Wis 67 die fremde Frau, die dem algemeinen gerucht nach mit den theufel solle besessen sein, vernommen und darüber ein von ihm und den beiden anderen Amtspersonen unterzeichnetes Protokoll fertigen lassen. Dieses Protokoll übersendet er dem Regierungskollegium mit dem Bemerken, dass dabei nichts Merkwürdiges vorgefallen sei, bis auf die Tatsache, dass die Frau bei der 6. und 9. Frage ihre Aussage mit einer furchterliche stellung und geschrei begleitete. Ferner berichtet Schreurs, dass er den Pastor und Superior der Kevelaerer Oratorianer nach den umstanden dieser weibsperson befragt habe. Der war zusammen mit Mitbrüdern und mit allen nach Kevelaer kommenden fremden Geistlichen der Meinung, dass die Frau mit dem Teufel besessen sei. Er könne dies auch beweisen durch die unnaturliche stellung und andworten, die sie ihm bei das Exorcieren und uberlesen gegeben hatte. Die verlangten Dokumente der Frau scheinen nicht auffällig gewesen zu sein. Schreurs fügt sie abschriftlich seinem Bericht bei. Schließlich hat Schultheiß Schreurs am 5. September einer Exorzierung (uberlesung und Exorcierung) der Frau beigewohnt. Sie wurde unter Assistenz des Kevelaerer Pastors von einem seiner Geistlichen, dem Pastor von Geldern und zwei Kapuzinern verrichtet. Schreurs’ Anmerkungen als Augenzeuge des Exorzismus lassen erkennen, dass er die Sache kritisch anging und sich um ein eigenes Urteil bemühte. Die Person habe eine grause stellung gemacht und dabei gewaltige Kraft angewandt. Ihre angespannten Nerven hatten das Gesicht verstellt. Sie hatte gegrinst und gebellt wie ein Hund und heftig geschrieen und schmähte auf denen geistlichen. Schreurs fand das alles noch natuyrlich und sollte durch eine abgerichtete auf zwei ja drei thagen geschehen können. Aber da dieselbe nur eine mittelmassige person und nicht starck scheint zu sein, so ist es unnatuyrlich das sie diese stellung und strapatzen so lange ausgehalten hat. Schreurs betont, dass die Frau von niemandem Almosen nehme, sondern vorgibt, von ihrer in Köln lebenden Schwester unterhalten zu werden, was sie allerdings nicht durch ein attest belegt habe. Abschließend bemerkt Schreurs in seinem am 7. September auf Schloss Haag gefertigten Bericht, dass er den Pastor (es dürfte der von Geldern gemeint sein) schon vor zehn Tagen gefragt hatte, ob er auch gequalificiert seie, diese person zu uberlesen. Er ———— 67
J. Cremeren und J. op Wis treten wiederholt gemeinsam als Kevelaerer Amtsträger auf, z.B. 1792 bei einer Grenzbestimmung zwischen Kevelaer und Wetten. Archiv Schloss Nr. 3308.
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habe damals und auch jetzt versichert, vom Bischof von Roermond die hinlangliche Erlaubniß zu haben. Der Entwurf des Verhörprotokolls der Frau ist dem Schriftwechsel beigefügt. Danach hieß sie Mary Gertrud Bollichs, war ungefähr 38 Jahre alt und zu Kirchtung geboren, jetzt wohnhaft in Neerendorf in der Herrschaft Landskron, beide Ort unweit Remagen gelegen. Auf die zweite Frage, was sie dan dahier in Kevelaer so lange macht, antwortet sie um gesund zu werden. Nach ihrer Kranckheit gefragt, gibt sie zu Protokoll, daß sie immer beunruhiget und geplagt wurde. Bei der vierten Frage wollten Schultheiß, Schöffe und Bürgermeister wissen, wer sie denn plagte und wie sie geplagt würde. Sie antwortet, nicht beten, viel weniger kommunizieren zu können ohne Hilfe von Geistlichen. Auch könne sie nicht arbeiten, wann sie diese plag hätte. In Kevelaer wurde sie, wie sie weiter antwortet, durch die Gütigkeit ihrer Schwester unterhalten. Da den Beamten die Frage 4 nicht hinlänglich beantwortet schien, fragten sie unter 6., wer sie dan plagt. Darauf antwortete Bollichs: Ich will es nicht sagen, in der Ewigkeit will ich es nicht sagen. Diese Antwort stieß sie mit schrecklichem Geschrei aus. Warum sie so häufig in die Kapelle ginge, wo doch andere Pilger kaum 24 Stund hier bleiben, antwortete sie, um von ihrer Plage geholfen zu werden. Zu einer weiteren Auffälligkeit kam es bei der neunten Frage. Nachdem sie unter 8. nach ihrer Bereitschaft gefragt worden war, das Protokoll zu unterschreiben, und sich als des Schreibens unkundig erklärt hatte, wurde sie gefragt, ob sie dan kein Kreutzchen machen wollte. Unter den Antworten vermerkt das Protokoll an dieser Stelle: mit größtem Brüllen sagte sie ich will und kann kein kreuzchen machen. Mit Schreurs Bericht an das Regierungskollegium in Geldern bricht dieser Vorgang ab.
* Beschließen wir die zwar heterogene, aber angesichts des allgemeinen Quellenmangels mitteilenswerte wallfahrtsgeschichtliche Überlieferung im Archiv der Grafen von Hoensbroech mit einem Blick auf die Kantonalratswahlen. Graf Clemens Wenzeslaus von und zu Hoensbroech, jetzt Bürger Hoensbroech, war zum Präsidenten der Kantonalversammlung in Geldern „aufgestiegen“.68 Die umfängliche Akte 1665 des Archivs von Schloss Haag vermittelt ein Bild von der Ausübung dieses Amtes. Für die zur Wahl der ———— 68
Dazu neuerdings Ulrike Schmitz, Napoleon auf Schloss Haag. Optionen und Perspektiven des Adels zur Zeit der französischen Herrschaft am Niederrhein am Beispiel des Clemens Wenzeslaus von Hoensbroech. In: Geldrischer Heimatkalender 2011, S. 55.
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Abb. 4: Diese schmucklose aber informative Karte von Kapellenplatz und ehemaligem Oratorianerkloster ist 1818 im Zusammenhang mit der Suche der Gemeinde Kevelaer nach einem Bauplatz für ein Bürgermeisterbüro, eine Wachtstube und ein Spritzenhaus gezeichnet worden (Archiv des Erzbistum Köln, Bestand Bistum Aachen Nr. 121,3). Sie zeigt die in den Quellen dieses Beitrages wiederholt zum Ausdruck kommende räumliche Enge und die im 17. und 18. Jahrhundert dominante Stellung der Oratorianer. Die Legende (rechts) erklärt die einzelnen in die Karte eingetragenen Ziffern: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
die große Kapelle die kleine Kapelle der Grund, welcher zwischen das Haus und die Kapel und um die Kapel dem Oratorium zugehörig ist. die Gebäude des Oratoriums ein eingeschlossener gepflasteter Platz, auf welchem beim großen Concurs pflegt Beicht gehört zu werden. ein durch Gebäuden ein geschlossener Platz, zwischen die Küche, Brauhaus und Hinter Gebäude der Platz, welchen die Gemeinde verlanget, um ein Häuschen zur Bewahrung der Brandsprüz darauf bauen zu können diesen Platz zum Baumgarten gehörig hätte die Gemeinde viel lieber, um darauf einen Bau zu legen, welcher zum Bureau des Bürgermeisters, zur Wachtstube und zur Bewahrung der Brandsprüze dienen würde
Vertreter Kevelaers in der Kantonalversammlung am 25. Thermidor des Jahres XI (1802) 673 Berechtigten wurde als Lieu de Rassemblement in Kevelaer wie allenthalben die Kirche angegeben. Diese Wahl des Versammlungsortes freilich missfiel dem Pastor von Kevelaer. Ihm war es angenehmer, das Haus der Oratorianer als Versammlungsort zu wählen. Der für Kevelaer zuständige gemeindliche Beamte (Secretaire) Gerhard Brux schloss sich dieser Bewertung an: Ik vinde het Oratorie huys tot deese affaires veel convinabeler als wel de Kerk.69 Wenn auch die Abneigung gegen die Teilnahme an einer Kantonalversammlung im Kanton Geldern nicht allein für Kevelaer belegt ist (auch in Issum gab es ein ähnliches Verhalten 70) so war sie dort zumindest stärker ausgeprägt. Am 25. Thermidor des Jahres 11 erschien der Maire von Kevelaer vor der Kantonalversammlung und erklärte, dass er die Bürger seiner Mairie versammlet habe um sie mit der wichtigkeit der vorzunehmenden Cantons operationen ———— 69 70
Archiv Schloss Haag Nr. 1665, Bl. 91. Ebd. Bl. 70. Auf die Zurückhaltung gegenüber den neu geschaffenen „Selbstverwaltungsorganen“ weist Sabine Graumann, Französische Verwaltung am Niederrhein. Das Roerdepartement 17981814. Essen 1990, S. 97, hin.
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bekannt zu machen. Der Bürger Ludwig Kusters habe sich aber mit Erfolg bemüht die Bürger von Kevelaar von dem guten Vorhaben das sie zu haben schienen abzubringen, indem er ihnen vorstellte ihre Reisekosten würden ihnen nicht vergütet, – das Dorf könnte während ihrer abwesenheit in Brand gerathen und dergleichen Bemerkungen, welche zur Absicht scheinen zu haben die operationen der CantonsVersammlung zu vereiteln.71 In die gleiche Richtung weist das, was Brux, President van de Cantonnale Verzaemelinge van Kevelaer, am 17. September 1809 dem Marquis von Hoensbroch meldete. Die Operation van onse Sessie sei am Morgen wieder ordnungsgemäß verlaufen. Man habe nicht unterlassen, die Bürger zur Abgabe ihrer Stimmen zu veranlassen, doch alles vergebens, niemand sei gekommen. Es scheine, dass sie von dem Recht, das ihnen die Regierung gebe, keinen Gebrauch machen wollten.72 Am Tag zuvor hatte er schon angedeutet, dass nicht viele wählen würden, weil sich die Bürger durch den ihnen abverlangten Eid beschwert fühlten: De reeden daervan zijn dat de Borgers bezweerenisse vinden in het afleggen van Eed.73 Die Abneigung gegen die Wahlen ist nach dieser Quelle in Kevelaer besonders stark ausgeprägt gewesen. Eine eindeutige Interpretation dieser Nachrichten in dem Sinne, dass diese Abneigung ein direkter Ausfluss der wallfahrtsbedingt besonders starken katholischen Ausprägung des Ortes war, scheint allerdings spekulativ, weshalb es hier bei der Wiedergabe des Quellengehaltes verbleibt. Erwähnung verdient unter dem Leitgedanken dieses Beitrages, das Neben- und Miteinander von Wallfahrt und Kommerz, abschließend die Nachricht, dass der Herbergsinhaber (Aubergiste) Wegman zu Kevelaer an zweiter Stelle der zehn steuerlich am höchsten veranschlagten (dix plus imposé) Bürger des Kantons Geldern geführt wurde.74 Heute würde man sagen: die Wallfahrt generierte Reichtum.
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Archiv Schloss Haag Nr. 1665, Bl. 6. Ebd. Bl. 16. Ebd. Bl. 20. Ebd. Bl. 181.
Organisation und Struktur der „Abgewanderten-Seelsorge“ des Erzbistums Köln in Thüringen 1943-1945 von Josef Pilvousek
„Im Geiste bin ich bei euch, wenn ihr aus der näheren und weiteren Umgebung Erfurts zusammenströmt, wenn ihr die prachtvolle Freitreppe zwischen Dom und St. Severikirche emporsteigt und wenn die mächtigen Hallen des Gotteshauses euch umfangen.“ 1 Der dies im August 1944 schrieb, war der Kölner Erzbischof Josef Frings. Rheinische Katholiken, die vor den Kriegsauswirkungen fliehen mussten oder evakuiert wurden, hatten sich zu einer großen Marienwallfahrt in Erfurt versammelt. Im zweiten Teil des Grußworts heißt es: „Unter großen Opfern für die Heimatpfarreien habe ich fast 50 der besten Priester aus der hiesigen Seelsorge herausgezogen und euch Evakuierten in der Diaspora nachgesandt. Täglich beten wir in allen Kirchen für euch, daß ihr fest bleibt in eurer Vereinzelung; ... Seid also versichert, daß wir euch nicht vergessen haben ...“ 2 Und auf das Aufenthaltsbistum Fulda eingehend schrieb Frings: „Die Diözese Fulda, ihr Bischof, ihre Priester, ihre Gläubigen haben euch mit Liebe aufgenommen und tun, was in ihren Kräften steht, um euch den Aufenthalt dort lieb zu machen und euch Gelegenheit zum Gottesdienst und Sakramentenempfang zu geben.“ 3 Die folgende Darstellung wird das bisher wenig erforschte Thema 4 der kriegsbedingten Evakuierung der Rheinländer und die Organisation und Struktur der Seelsorge an ihnen und für sie in den Blick nehmen. Die unterschiedlichen Begriffe, die für die Evakuierten (Abgewanderte, Flüchtlinge, Grenzabwanderer und seit dem Zustrom aus dem Osten Flüchtlinge, Umsiedler, Vertriebene) verwendet werden und die unterschiedlichen Termini für die Seelsorge an diesen Bevölkerungsgruppen („Abgewanderten-Seelsorge“, Evakuiertenseelsorge, Grenzabwandererseelsorge, Flüchtlingsseelsorge, Umsiedlerseelsorge, Vertriebenenseelsorge) lassen dennoch, jedenfalls für den Zeitraum von knapp zwei Jahren deutlich erkennen, wer gemeint ist: die Evakuierten aus dem Rheinland und die Tätigkeit der rheinischen Seelsorger. ———— 1
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Historisches Archiv des Erzbistums Köln (AEK), CR II, 25,20b, 2/191, Schreiben zur Marienfeier in Erfurt, 6.8. 1944 (Ex actis Em., Entwurf). Ebd. Ebd. Eine größere Studie zur Thematik „Abgewanderten-Seelsorge“ ist in Arbeit.
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Auch wenn verschiedene wichtige Themen wie etwa die Rückwirkung dieser Seelsorge auf die Thüringer Diaspora an dieser Stelle ausgespart werden müssen, soll zumindest darauf verwiesen werden, dass es sie in einem Maße gegeben hat, dass selbst die Gestapo davon Kenntnis nahm: „Es muß festgestellt werden, daß durch die Evakuierungen sehr viele Laienhelfer, Ordensschwestern und auch Geistliche in das Gaugebiet zugezogen sind. Die alten, hier ansässigen, katholischen Kreise haben durch diesen Zuzug starken Auftrieb erhalten ... In diesem Zusammenhang sei noch auf ein Sprichwort hingewiesen, das Evakuierte aus dem Westen nach Thüringen gebracht haben und das lautet: Knoblauch und Weihrauch soll man in Ruhe lassen!“ 5
1. Thüringen als Evakuierungs- und Aufnahmegau Am 1. Mai 1920 wurde das Land Thüringen gegründet.6 Es umfasste die Thüringischen Staaten Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Gotha, SachsenMeiningen, Sachsen-Altenburg, Schwarzburg-Rudolstadt, SchwarzburgSondershausen und den Volksstaat Reuß. Sachsen-Coburg schloss sich Bayern an. Der Regierungsbezirk Erfurt und der Kreis Schmalkalden gehörten zur preußischen Provinz Sachsen. Die kirchliche Gliederung dieser Gebiete war nicht mit der politischen deckungsgleich. Während die ehemaligen preußischen Gebiete in Ostthüringen zum Bistum Meißen (heute Bistum Dresden-Meißen) gehörten und gehören, waren seit 1929 die preußischen und die sächsischen Territorien sowie die Gebiete von SchwarzburgRudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen beim Bistum Fulda. Das einstige Herzogtum Sachsen-Meiningen unterstand kirchlich dem Bistum Würzburg. Das unter Thüringen subsumierte Gebiet war also weder politisch noch kirchlich eine Einheit. Wenn im Folgenden die kirchlichen Verantwortlichen von „Thüringen“ sprechen, meinen sie Gebiete, die größtenteils zum Bistum Fulda, einige zum Bistum Meißen und wenige Pfarreien zum Bistum Würzburg gehören. 1927 war unter Gauleiter Fritz Sauckel der NSDAP-Gau Thüringen gegründet worden, zu dem auch der Regierungsbe———— 5
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Bistumsarchiv Erfurt (BAEF), Bischöfliches Generalvikariat Erfurt, Bischöfliches Amt ErfurtMeiningen, Zentralregistratur, 209, Der Beauftragte des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP. Der Vertreter für das Gaugebiet Thüringen. (Geheim) Bericht zur weltanschaulichen Lage (10. April 1944). Vgl. Josef Pilvousek, Diaspora und Eigensinn. Die Katholische Kirche in Thüringen, in: Neu entdeckt. Thüringen-Land der Residenzen, Katalog 1, Mainz 2004, 217 - 221.
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zirk Erfurt und Teile des Regierungsbezirkes Kassel (Schmalkalden) gehörten.7 Ein Großthüringen war damit noch nicht entstanden 8, aber der auf Parteieibene proklamierte Gau Thüringen sollte für die zu beschreibenden kirchengeschichtlichen Ereignisse topografischer und definitorischer Ausgangspunkt werden. Denn schon „1939/40 wurde Thüringen aufgrund seiner geografischen Lage zum Evakuierungsgau für die Saarbevölkerung erklärt, da die NSFührung dort den Einmarsch französischer Truppen infolge des Beistandspaktes mit Polen erwartete.“ 9 Bis 1941 wurden etwa 85.900 Saarländer in Thüringen untergebracht und auf Stadt- und Landkreise im Gau verteilt. Aufgrund der kriegsbedingten Lage rechnete man im Gau Thüringen mit insgesamt 157.000 Saarländern und 57.000 Hamburgern.10 „Die Aufnahme der Saarbevölkerung führte zu erheblichen Widerständen und Schwierigkeiten bei der Unterbringung bei den unteren Behörden und wirtschaftlichen Schieflagen – Thüringen wurde regelrecht ‚ausverkauft‘ –, so dass ein großer Teil der vom Einzelhandel nachbestellten Waren verteuert in die Läden kam. Die Evakuierungsfrage umfasste nicht nur Zivilpersonen, sondern ganze Behördenapparate wurden aus dem Saarland nach Thüringen verbracht.“ 11 Die meisten dieser Evakuierten, auch als „Grenzabwanderer“ 12 bezeichnet, waren katholisch und bedurften der seelsorglichen Betreuung. Im Amtsblatt der Diözese Fulda wurde 1939 u.a. publiziert, dass geeignete Kräfte zur Seelsorgshilfe für Grenzabwanderer beim Caritasverband für die Diözese Trier erbeten werden können. Und auf Thüringen eingehend wurde im Amtsblatt bemerkt: „Durch Propst Msgr. Dr. Freusberg, Erfurt, wurde in Verbindung mit Pfr. Schu aus Lauterbach (Saar) in Erfurt, Herrmannplatz 4, Domrendantur eine Suchhilfe für Grenzabwanderer mit dem Ziele eingerichtet, eine alphabetische Namenskartei aller Grenzabwanderer sowie Listen derselben geordnet nach den Heimatgemeinden und den Aufnahmegemeinden aufzustellen. Die Geistlichen mögen auf diese Suchstelle aufmerksam machen.“ 1 3 Auffallend ist, dass Erfurt und der Erfurter Propst und ———— 7 8
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Vgl. Steffen Raßloff, Geschichte Thüringens, München 2010, 90. Das sollte erst 1944 für ein Jahr entstehen. Vgl. Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Fulda, 60 (27.6.1944), 61. Markus Fleischhauer, Der NS-Gau Thüringen 1939-1945. Eine Struktur- und Funktionsgeschichte (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen 28), Köln-Weimar-Wien 2010, 104. Vgl. Ebd. 105. Ebd. Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Fulda, 55 (15.12.1939), 86.
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Direktor des Geistlichen Gerichts, Joseph Freusberg 14, bereits zu diesem Zeitpunkt vom Fuldaer Bischof Johann Baptist Dietz ins Zentrum der Evakuiertenseelsorge gestellt wurde. Obwohl Weimar Landeshauptstadt Thüringens war und der dortige Dechant Wilhelm Breitung 15 neben Freusberg und dem seit 1941 ins Amt des Heiligenstädter Kommissarius bestellten Adolf Bolte 16 einer der drei Hauptgeistlichen im Ostteil des Bistums Fulda, hatte man sich von Anfang an für Erfurt und Freusberg entschieden. Das Heiligenstädter Kommissariat taucht auch später fast gar nicht auf, obwohl sich im Eichsfeld ebenfalls Evakuierte und deren Seelsorger aufhielten. Das mag mit der zentralen geografischen Lage Erfurts zu tun haben, aber wohl auch damit, dass in Erfurt eine Vielzahl kirchlicher Gebäude und geistlicher Einrichtungen zur Verfügung standen. Nicht zuletzt ist darauf zu verweisen, dass Freusberg durch sein Kirchenrechtsstudium in Rom und als Animakaplan in ein Netzwerk eingebunden war, das ihm bistumsübergreifend Beziehungen eröffnete.17 Der damalige Erfurter Pfarrer Philipp Hartmann beschreibt diese Situation 1939 folgendermaßen: „Größte Aufgabe brachte der Kirche die ständigen Ströme von Evakuierten und Flüchtlingen in unserem Raum. Den ersten Strom bildeten die Saarflüchtlinge, die sogleich in den ersten Kriegstagen nach überstürzter Evakuierung des Saargebietes hier elendiglich mit einem Bündel weniger Habseligkeiten eintrafen. Die Familien waren oft auseinandergerissen und fanden sich erst nach wochenlangem Suchen zusammen. Etwa 12.000 wurden zunächst in Erfurt in Massenlagern gesammelt und dann in Stadtquartiere und auf die umliegenden Ortschaften verteilt. Da sie zum Großteil aus traditionellen Lebensweisen kamen, fanden sie sich in der Fremde schlecht zurecht. Wir postierten allsonntäglich im Vorraum unserer Kirche unsere Laienhelfer, die die Fremden ansprachen, ihr ———— 13 14
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Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Fulda, 55 (15.12.1939), 86. Dr. jur.can. Joseph Freusberg, geb. 18.10.1881 in Olpe / Westfalen, 1906 Priesterweihe in Paderborn, seit 1916 Pfarrer in St. Severi, dann Propst am Mariendom, seit 1946 Generalvikar und seit 1953 Weihbischof, gest. 10.4.1964 in Erfurt. Wilhelm Breitung, geb. 6.7.1873 in Grüsselbach, 1899 Priesterweihe, 1910 Pfarrer in Weimar, Dechant des Dekanates Weimar, 1941 Ehrendomkapitular, seit 1951 als Pensionär in Ried, gest. 28.2.1962. Dr. theol. Adolf Bolte, geb. 15.11.1901 in Hannover, 1928 Priesterweihe, 1928 Vikar in Dingelstädt, 1931 Präfekt am Bischöflichen Konvikt in Heiligenstadt, 1935 Vikar an St. Marien, Heiligenstadt, 1941 Bischöflicher Geistlicher Kommissar des Eichsfeldes, 1945 Weihbischof von Fulda, 1959 Diözesanbischof von Fulda, gest. 5.4.1974. Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, David an Teusch, abschriftlich an Freusberg, 10.9.1943 (Kopie). Generalvikar Emmerich David und Propst Joseph Freusberg waren 1908 und 1909 Animakapläne.
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Quartier notierten, um sie und ihre Kinder durch Hausbesuche in Kontakt mit dem Gemeindeleben zu bringen und für sie mit zu sorgen. – Schwieriger noch war die Lage der auf die Ortschaften Thüringens verteilten Flüchtlinge. An Orten mit ein paar Katholiken entstanden plötzlich ganze Gemeinden ohne erreichbaren Gottesdienst. Unter der Initiative von Freusberg wurde sogleich eine große seelsorgl. Hilfsaktion gestartet. Saargeistlichen wurde je ihr Seelsorgsgebiet zugewiesen. Von den heimischen Pfarreien wurden Meßkoffer notdürftig zusammengestellt und draußen Gottesdienststellen gegründet, in evgl. Kirchen oder profanen Noträumen. Die evgl. Mitbrüder waren meist entgegenkommend, doch wurde von anderer Seite, insbesondere von Parteistellen, vieles schwer behindert und unmöglich gemacht. ... Zum Glück für die Saarländer, die immer nur das eine Anliegen hatten, ‚nichts wie heim’, ging deren Prüfungszeit im Juli 1940 zu Ende und sie konnten heimkehren. Während der etwa 10 Monate ihres Hierseins in der Fremde habe ich 66 Kinder von Saarländern getauft und 11 Saarländer beerdigt.“ 18 Diese menschliche und pastorale Herausforderung sollte sich wenige Jahre später bei der Evakuierung der Rheinländer 19 vervielfachen, wie Joseph Freusberg 1944 an einen Kaplan aus dem Bistum Trier schrieb: „Die seelsorglichen Verhältnisse der Evakuierten sind noch um einige Prozent schwieriger als wie damals z.Zt. der Saar-Evakuierung.“ 20 Und ergänzend fügte er hinzu: „Mir sind die Erfahrungen von 1939 und 1940 sehr wertvoll.“ 21 „Anfang 1943 wurde der Gau Thüringen, neben Oberdonau, Mainfranken und Mecklenburg, zum ‚Aufnahmegau’ für die Bevölkerung aus dem ‚Entsendegau’ Düsseldorf erhoben. Auf Anregung des Regierungspräsidenten von Düsseldorf, Dr. Burandt, kam es am 26.3.1943 in Weimar zu einem Treffen der regionalen staatlichen und parteilichen Führung unter Leitung Ortlepps, des Düsseldorfer Regierungspräsidenten Dr. Burandt und des Weimarer Gauamtsleiters Biedermann, um die Unterbringung der Zivilbevölkerung aus dem Gau Düsseldorf zu organisieren. Es erhellt schlaglichtartig die aktuelle Situation im Frühjahr 1943. ———— 18
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Universität Erfurt, Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte (FKZE), Sammlung P, Philipp Hartmann, 50 Jahre Seelsorger und Seelsorge in Erfurt 1923 -1973, 25 (unveröffentlicht, masch.). Unter „Rheinländer“ wurden nicht nur Evakuierte aus dem Erzbistum Köln zusammengefasst, sondern, vor allem im letzten Kriegsjahr, alle aus dem „Westen“ nach Thüringen immigrierten Personen. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Freusberg an Stammer, 3.3.1944 (Kopie). Ebd.
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Zu diesem Zeitpunkt befanden sich etwa 30.000 Evakuierte aus dem Gau Düsseldorf im Gau Thüringen, die Aufnahme von weiteren 15.000 Düsseldorfern befand sich in der Vorbereitungsphase. Zudem waren etwa 3.000 Personen aus anderen Gauen selbstständig nach Thüringen immigriert. Die organisatorischen Probleme bei der Evakuierung umfassten die Beschaffung von Unterkünften, Heizgeräten, Haushaltsgegenständen, Verpflegung, Lebensmittelkarten, Verlagerung von Schulen und Unterbringung der Kinder, Gewährung des Räumungs- und Familienunterhalts sowie Stellung der Evakuierten gegenüber den Einheimischen. Der Gau musste parallel zu diesen Anforderungen die erwartete Aufnahme der Hamburger Bevölkerung sowie die Bereitstellung von Kontingenten für die Stadt Leipzig schultern. So wandelte sich der Charakter der Belegungen von vorsorglichen zu tatsächlich vollzogenen. Die Gesamtkapazität für den „Aufnahmegau“ Thüringen bezifferte die NSV Thüringen 1943 gegenüber der NSDAP-Reichsleitung, Amt für Volkswohlfahrt, mit 133.000 Personen. In dieser Zahl waren 13.000 Quartiere für die Kinderlandverschickung (KLV), 3.000 für die Einzelverschickung im Rahmen des Hilfswerks ‚Mutter und Kind‘, 1.000 für die Wehrmacht, 20.000 für die Unterbringung von Personen aus der inneren Verwaltung Hamburgs, 28.000 für die innere Verwaltung zur Unterbringung im Katastrophenfall im Gau Thüringen, 12.000 für Personen, die bereits im Gau untergebracht waren, und 18.000 für die bis Ende März 1943 erwarteten Sonderzüge aus dem Gau Düsseldorf enthalten. Etwa 96.000 belegten bzw. für die Belegung geplanten Quartieren standen 37.000 freie Plätze gegenüber. Die NSV Thüringen zog daraus die Konsequenz, dass die gauinterne Reserve für den Katastrophenfall im Gaugebiet deutlich erhöht werden müsste und lehnte deshalb die Zuweisung von mehr als 20.000 zusätzlichen Personen für den Gau ab. Im Sommer 1943 wurde die Aufnahme von 70.000 Personen vorbereitet, die auf die Kreise verteilt werden sollten. Die Gesamtkapazitäten im Gau beliefen sich nach Angaben vom März 1943 auf 84.454 Quartiere. Insgesamt verliefen diese Evakuierungen weit weniger planmäßig, als das Regime den Eindruck zu erwecken versuchte. Es waren vorwiegend Improvisationsmaßnahmen, die die Aufnahme ermöglichten, und die Koordinationsorgane waren oftmals unzureichend informiert. Erst Ende 1944, als die Gaue der Umquartierungen nicht mehr Herr wurden und die Bevölkerung in Millionen ins Reichsinnere strömte, ließ die NSV, um die Lage wenigstens in Ansätzen zu kontrollieren, in den „Entsendegauen“ Leitstellen errichten, die für alle abgehenden Sonderzüge vorher Zielstationen festlegten und die
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Aufnahmegaue rechtzeitig vor dem Eintreffen verständigen sollte.“ 22 „Ab Oktober 1944 wurden neben der Bevölkerung des Gaues Düsseldorf Personen aus den Gauen Westmark, Moselland und Köln-Aachen nach Thüringen evakuiert.“ 23 Damit erreicht die „Abgewanderten-Seelsorge“ in Thüringen quantitativ und qualitativ ihren Höhepunkt.24
2. Vorgeschichte: Katholische Rheinländer in Thüringen Die erste Nachricht vom Zustrom rheinisch-katholischer Evakuierter stammt vom 3. Juli 1943.25 Der Vertreter des Langensalzaer Pfarrers Adolf Sander, Pater Henke OFM, schrieb Joseph Freusberg, dass seit Ende Juni viele Katholiken aus den westlichen Gebieten (Düsseldorf, Krefeld, Bochum) in der Umgebung Langensalzas untergebracht worden seien und dringend seelsorgliche Betreuung brauchten, da aus den weiter entfernten Ortschaften ein Gottesdienstbesuch nicht möglich sei. Infrage kämen dafür aber nur „kerngesunde Herren“, da die weiten Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt werden müssen. Der Franziskaner war durch den unerwarteten Gottesdienstbesuch zahlreicher Evakuierter in Langensalza auf die Evakuierung aufmerksam geworden. Augenscheinlich waren die kirchlichen Behörden zu diesem Zeitpunkt nicht über die Evakuierungen informiert gewesen. Der Erfurter Propst Freusberg gab diese Nachricht an das Generalvikariat Fulda mit dem Hinweis weiter, dass von den ortsansässigen Geistlichen die Betreuung dieser Gläubigen nicht möglich sei und Fulda sich um Seelsorger aus den „Bombengebieten“ bemühen solle.26 Besondere Schwierigkeiten würden aber diesmal – im Gegensatz zu 1939 – entstehen, die Geistlichen unterzubringen. Nur wenn sie Evakuierte seien, bekämen sie eine Wohnung. Diese letzte Information sollte dazu führen, dass später fast alle „Abgewanderten-Seelsorger“ in Pfarrhäusern oder kircheneigenen Gebäuden untergebracht werden mussten.
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Fleischhauer, NS-Gau, 108 -110. Ebd. 117. Eine auch nur annähernd exakte Zahl, wie viele der Evakuierten katholisch waren, lässt sich nicht ermitteln. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Henke an Freusberg, 3.7.1943. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Freusberg an Generalvikariat Fulda, 6.7.1943 (Kopie).
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Anfangs blieb unklar, aus welchen Reichsgauen und Diözesen die Ausgebombten kamen.27 Der Fuldaer Generalvikar Robert Günther schrieb zunächst an das Erzbistum Paderborn und das Bistum Münster und bat, Geistliche zu entsenden. Der Paderborner Generalvikar Friedrich Maria Rintelen antwortete, dass die Lage noch unübersichtlich sei und in Paderborn keine Umsiedlungen nach Thüringen bekannt seien.28 Franz Meis, Generalvikar von Münster, schien ebenfalls überrascht und bat darum mitzuteilen, an welchen Orten eine größere Anzahl Münsteraner Katholiken festgestellt wurden.29 Erst am 2. August konnte Freusberg dem Fuldaer Generalvikar mitteilen, dass die „luftgefährdeten und bombengeschädigten Umsiedler in hiesiger Gegend ... zum weitaus größten Teil aus dem Gebiete der Erzdiözese Köln“ 30 kommen. Im Generalvikariat Köln, das sich nach Bombenangriffen in Honnef befand, waren inzwischen sowohl der Bittbrief des Fuldaer Generalvikars als auch Nachrichten von den nach Thüringen evakuierten Katholiken eingetroffen. Vom 3. August 1943 stammt der Brief Generalvikar Emmerich Davids an das Fuldaer Ordinariat, der die Anstellung Kölner Geistlicher prinzipiell regelte: „Wir werden uns bemühen, Geistliche für die Pastoration der rheinischen Katholiken, die in Ihrer Diözese eine Zuflucht gefunden haben, zur Verfügung zu stellen. Es wird zweckmäßig sein, diese Geistlichen für je einen bestimmten Bezirk zu Pfarrkuraten für diese in diesem Bezirk weilenden Katholiken aus dem Erzbistum Köln zu ernennen. Diese Ernennung würde dem dortigen Ordinariat zustehen. Die Besoldung würde unsere Aufgabe sein. Wir bitten um Angabe der Bezirke, für die ein Geistlicher unseres Erzbistums angewiesen werden soll. Wir könnten dann diesen Priestern eine Bescheinigung für die Militärbehörde mitgeben, dass sie als Pfarrkuraten zur Gruppe A der Geistlichen gemäss Verfügung des OKW vom 14. Oktober ———— 27
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Das Hirtenwort der deutschen Bischöfe mit der Bitte, die Evakuierten christlich aufzunehmen, wurde erst am 29.8.1943 von allen Kanzeln verlesen. Vgl. Ludwig Volk (Bearb.), Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933 -1945, Bd. VI: 1943 -1945 (VKZG A 38), Mainz 1985, 181: „Im Augenblick gilt unsere besondere Sorge auch allen jenen Tausenden, wenn nicht Millionen, die die heimische Scholle verlassen und in fernen Gauen, fremdem Eigentum, eine einstweilige Unterkunft suchen mußten, weil sie alles verloren haben. Wir richten an alle Christen die innige Bitte: Nehmt sie um Christi willen in Liebe und Hilfsbereitschaft auf !“ BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Rintelen an Generalvikariat Fulda, 21.7.1943 (Kopie). BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Meis an Günther, 21.7.1943 (Kopie). BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Freusberg an Generalvikariat Fulda, 2.8.1943 (Kopie).
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1939 gehören. Damit wäre die Sicherung ihrer Tätigkeit erreicht. Wir schlagen die Amtsbezeichnung Pfarrkurat vor, weil sie am besten für die selbstständige Seelsorgetätigkeit dieser Priester passt. Nach militärischer Vorschrift kommt nur eine selbstständige Tätigkeit als Voraussetzung der Zugehörigkeit zur Gruppe A in Betracht. Wir haben das Vertrauen, dass die von uns beurlaubten Priester trotz der ihnen zuzuweisenden selbstständigen Tätigkeit sich taktvoll in die übrigen seelsorglichen Gegebenheiten ihres Bezirkes einzupassen verstehen werden. Wir werden sie in dieser Einsicht mit bestimmten Weisungen versehen.“ 31 Generalvikar Günther bittet im Anhang der Kopie Freusberg „um baldgefällige Angabe der Bezirke“.32 Schon am 5. August teilte der Fuldaer Generalvikar Propst Freusberg mit, dass je ein Kaplan nach Heiligenstadt und nach Mühlhausen entsandt werde.33 Und hinsichtlich einer Beantragung von Geistlichen verfügte er: „Wir empfehlen deshalb, unter genauer Darlegung der neuen Lage durch unsere Hand ein Gesuch um Entsendung eines Hilfsgeistlichen einzureichen und zugleich Vorschläge über die Unterkunftsmöglichkeit.“ 34 Freusberg, der über Frau Denis 35 Kontakt zum Deutschen Caritasverband in Freiburg unterhielt und dort ganz offensichtlich um Hilfe gebeten hatte 36, konnte ihr am 8. August berichten: „Der Stein kommt in‘s Rollen. Gestern Mittag erscheint bei mir über Fulda kommend, Herr Alfes, Leiter des Seelsorgeamtes 37 der Erzdiözese Köln und erklärt mir, daß er im Auftrage des Hochwürdigsten Herrn Erzbischof die Aufnahmegebiete bereise, in denen Kölner Diözesanen untergebracht sind, um die seelsorgliche Betreuung in die Wege zu leiten. Ich habe mit ihm unsere Erfahrungen von 1939/40 besprochen und sofort die Geistlichen der Dekanate Erfurt und Weimar ... zu einer Besprechung eingeladen. ... Selbstverständlich spielt dabei der Einsatz von ———— 31
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BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief David an Bischöfliches Ordinariat Fulda, 3.8.1943 (Kopie). Ebd. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Günther an Freusberg, 5.8.1943. Ebd. Maria Anna Elisabeth Denis, geb.17.2.1900 in Jever / Oldenburg, gest.15. November 1969 in Freiburg / Br. Ihr Aufgabengebiet hatte sie seit Kriegsbeginn auf die (über-) pfarrliche Seelsorgehilfe der sog. „Wandernden Kirche“ gelegt; vgl. Art. Manfred Berger, Denis, Maria Anna Elisabeth, in: BBK, http://www.kirchenlexikon.de/d/denis_m_a_e.shtml, letzter Zugriff 24.2.2011. Sie hat wohl vor allem dafür Sorge getragen, dass die zahlreichen Frauen (Seelsorgshelferinnen, Pfarrhelferinnen), die in der Seelsorge an den Evakuierten eingesetzt worden waren, „angeworben“, begleitet und weitergebildet wurden. Diese Thematik der „weiblichen Seelsorge“ ist kaum bearbeitet. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Denis an Freusberg, 24.7.1943. Georg Alfes war nicht Leiter des Seelsorgeamtes, sondern Leiter des Seelsorgeamtes für Frauen.
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Schwestern eine Rolle. Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie die Teilnahme an dieser Besprechung ermöglichen könnten.“ 38 Am Ende des Briefes verweist er darauf, dass Alfes am 16. August dem zur Bischofskonferenz in Fulda weilenden Erzbischof Frings über die Lage in Thüringen Bericht erstatten soll. Die Einladung aller Geistlichen der Dekanate Erfurt und Weimar erfolgte für den Vormittag des 11. August 1943 in Erfurt, um die neuen „seelsorglichen Aufgaben“, die sich durch den starken Zustrom von Katholiken, teils Bombengeschädigten teils Luftgefährdeten, ergaben.39 In der Einladung wies Freusberg darauf hin, dass an „der Besprechung ein Beauftragter des Bischöflichen Generalvikariates in Fulda wie auch ein solcher des Erzbischöflichen Generalvikariates von Köln teilnehmen“ werde. Leider ist kein Protokoll dieser Zusammenkunft erhalten. Aus zwei Briefen lässt sich aber schlussfolgern, dass es vor allem um den Einsatz von Geistlichen und Seelsorgehelferinnen ging sowie um die Priorität von Stellenbesetzungen.40 Ein weiteres Resultat dieser Zusammenkunft war eine sechsseitige Liste aller Orte und Pfarreien (sowie Pfarrer), die Bedarf an zusätzlichen Seelsorgekräften hatten.41 Alle katholischen Seelsorgestellen in Thüringen werden benannt, auch die zu den Bistümern Meißen und Würzburg gehörenden. Die Hauptsache aber war, dass von jetzt an, durch die Anwesenheit, die Kompetenz und die Recherchen des Kölner Beauftragten Georg Alfes, alle Planungen, Absprachen und Initiativen eine neue Qualität aufwiesen.
3. Aufbau einer organisierten „Abgewanderten-Seelsorge“ Prälat Georg Anton Alfes 42 hat in seinen Lebenserinnerungen 43 zusammengefasst, was sich von Juni bis Oktober 1943 ereignete. Er hatte sich nach der ———— 38
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BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Freusberg an Denis, 8.8.1943. Frau Denis schickte ein Telegramm, dass sie teilnehmen wird. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Freusberg an alle Seelsorgestellen Dekanate Erfurt und Weimar, 7.8.1943 (Kopie). BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Breitung an Freusberg, 18.8.1943; BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Pfeifer an Freusberg, 22.8.1943. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, undatierte Liste von Pfarreien. Georg Anton Alfes, geb.1.5.1900 in Münster, geweiht 5.3.1925, 1925- 1937 Kaplan, 1937 VerbandsSekretär Düsseldorf, 1939 Assistent in Köln (Seelsorgeamt für Frauen), 1943 Diözesanpräses des Frauen- und Müttervereins der Erzdiözese Köln und Leiter des Seelsorgeamtes für Frauen, 1953 Geistlicher Beirat (Familienbund deutscher Katholiken), 1952 päpstlicher Geheimkämmerer, gest. 16.9.1989.
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Bombardierung Kölns in der Nacht zum 29. Juni 1943 und der weitgehenden Zerstörung aller kirchlichen Gebäude beim Personalreferenten als Diaspora-Seelsorger zur Verfügung gestellt, und dieser hatte ihm geraten, nach Erfurt zu gehen, was am 7. August 44 geschah. In Erfurt, wo sein Bruder wohnte, fand er Unterkunft bei den Aachenern Franziskanerinnen im Marienstift. Zu Freusberg, der wie Alfes’ Eltern aus Olpe stammte, entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis, was u.a. dazu führte, dass Alfes stets bestens informiert war und vom Kölner Generalvikar zum Verbindungsmann oder wie es in der Folge hieß, zum Obmann 45 zwischen Erfurt und Köln bestimmt wurde. In dieser Aufgabe begann er „überall verstreute Kölner, bzw. Rheinländer aufzuspüren und sie in zentral gelegenen Orten zu Gottesdienst und Predigt zu versammeln“.46 In seinem ersten Bericht an das Kölner Generalvikariat schilderte er die schwierige Situation, Gottesdienste in evangelischen Kirchen und Räumen zu halten: „Die Umgebung Erfurts gehört zum Gau und Lande Thüringen. Für dieses Gebiet sind besonders einschneidende Bestimmungen erlassen, die die Seelsorge (im Unterschied zum Preußen-Gebiet) sehr erschweren. Grundsätzlich ist verboten, Gottesdienst und religiöse Unterweisung in evangelischen Kirchen, Sälen und Privathäusern zu halten; trotzdem sind einige Versuche unsererseits unternommen, die nach dem Ablehnen des bisherigen Landesbischofs in Eisenach einige Aussichten auf Erfolg haben.“ 47 In Erfurt gelang es zuerst, eigene Gottesdienste für Evakuierte zu halten und beispielsweise die Erfurter Vereine für Hilfen zu mobilisieren.48 Schließlich erreichte er es in Eisenach, Gotha, Weimar, Arnstadt, Kösen „und an anderen Orten, die ich nicht mehr in Erinnerung habe“ 49, Gottesdienst zu feiern. Die Diasporanot erlebt zu haben, hat ihn besonders beeindruckt, und so schilderte Alfes beispielsweise den Zustand der armseligen Baracken, in denen man sich zum Got———— 43
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Georg Alfes, Teils heiter – Teils wolkig. Stationen eines Priesterlebens 1900 -1984, Engelskirchen 1984, 87 - 90. Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Denis an Freusberg, 24.7.1943. Diese Verbindungsleute trugen die Bezeichnung Obmann und sollten vor allem den Kontakt zu den Kölner Priestern halten und sie, wenn möglich, in ihrer Arbeit geistlich und materiell unterstützen Georg Alfes, Teils heiter – Teils wolkig, 88. Zu diesem Zweck hatte er ein eigenes Heft (A5-Buch) „Hausandachten für die Christen in der Zerstreuung“ erstellen lassen; vgl. AEK, CR II, 25.20b,1/153-192 (Kopie). AEK, CR II 25. 20a, 1/46, Bericht Alfes an Generalvikariat Köln, ohne Datum; vermutlich Anfang August 1943 (Kopie). Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Publicandum, 30.8.1943; Publicandum, 3.9.1943. Georg Alfes, Teils heiter – Teils wolkig, 88.
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tesdienst versammelte. Außerordentlich anstrengend, so berichtet er weiter, waren die „Erkundigungsfahrten im Erfurter Vorland“.50 Freusberg hatte ihm sein Fahrrad geliehen und ihn mit einer Liste möglicher Aufenthaltsorte rheinischer Katholiken ausgestattet. Vielfach waren die Listen aber schon wieder überholt, sodass Alfes „evangelische Kollegen“ fragen musste. Die Begegnung mit ihnen, ihrer Freundlichkeit, aber auch ihrer großen Enttäuschung, über den Zustand ihrer Kirche wurden eine weitere prägende Erfahrung. Erzbischof Josef Frings hatte Alfes gebeten, ihn am 16. August in Fulda aufzusuchen und über die bisherigen Erfahrungen zu berichten.51 Den schriftlichen Bericht verfasste Alfes kurz darauf. Die als Nachtrag (zu Gesprächen mit Erzbischof Frings und Propst Freusberg) bezeichneten Artikel sind Empfehlungen, die aber auch Rückschlüsse auf Defizite zulassen: „Nachtrag: Einer besonderen Betreuung bedürfen die evakuierten Schulen. Schüler sind z.B. in Erfurt und Rudolstadt in Familien untergebracht. In Rudolstadt machen die Schülerinnen (aus Wuppertal) begeistert mit. Nachtrag: (aus einer Besprechung mit Propst Freusberg, Erfurt) Dem wahllosen Nachreisen Kölner Geistlicher in die Diaspora möge gesteuert werden, und die Einreiseerlaubnis abhängig gemacht werden vom Erzbischöflichen Generalvikariat Köln, und vom beauftragten Leiter des bestimmten Gebietes, weil • die Ortsgeistlichen unnötig belastet werden, • eine reguläre Seelsorge durch den Heimatklerus nicht ausgeübt werden kann, • die Katholiken so verstreut wohnen, dass immer wenige erfasst werden. Die Seelsorgestelle in Erfurt, die zugleich für Thüringen bestellt ist, möge den Namen tragen: Seelsorgeamt der Erzdiözese Köln. Die Suchstelle in Köln: Amt für seelsorgliche Betreuung der Evakuierten im Erzbischöflichen Generalvikariat. (Wegen der Staatspolizei).“ 52 Seit Anfang September 1943 waren sieben Priester der Erzdiözese Köln für die „Abgewanderten-Seelsorge“ in ———— 50 51
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Ebd. 89. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Freusberg an Denis, 8.8.1943. Bei dieser Zusammenkunft erhielt Alfes den Auftrag, auch die Kölner Evakuierten in der Breslauer Diözese aufzusuchen. Mit einem Empfehlungsschreiben ausgestattet, wurde er von Kardinal Bertram empfangen, der ihn aber eher kühl behandelte und „mit seinem Segen“ entließ. Mit „kölsch-katholisch“ charakterisierte Alfes diese Evakuierten; vgl. Georg Alfes, Teils heiter – Teils wolkig, 89-90. AEK, CR II 25. 20a, 1/74 Brief Alfes an Generalvikariat Köln, 20.8.1943 (Eingangsstempel).
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Thüringen beurlaubt worden.53 Insgesamt 32 54 Kölner „AbgewandertenSeelsorger“ wurden es bis zum 17. Oktober 1943, wobei die meisten, 21, in Thüringen, also im Ostteil des Bistums Fulda, dem Westteil des Bistums Meißen und dem Ostteil des Bistums Würzburg, tätig waren. Im Laufe des Krieges sollte die Zahl noch steigen, wobei eine Gesamtzahl von gleichzeitig 60 wohl nie überschritten wurde.55 Die Anstellungen der rheinischen Kapläne war so geregelt worden: Kapläne werden in anderen Bistümern als Pfarrkuraten 56 eingesetzt. „Die zu entsendenden Geistlichen können, wenn nicht besondere Gründe dagegen sprechen, ihre bisherige Stelle behalten; sie werden zeitweise bzw. auf Widerruf beurlaubt, um die Tätigkeit in einem anderen Bistum ausüben zu können. Sie behalten also auch Wohnung, soweit diese noch erhalten ist, und Besoldung.“ 57 Im November 1943 wurde ergänzt: „Die in der Abgewanderten-Seelsorge tätigen Geistlichen unseres Erzbistums, die von ihrer bisherigen Stelle weiter besoldet werden, ermächtigen wir hiermit für die Zeit ihrer Tätigkeit, mit Rückwirkung vom Antritt der Diasporastelle an, monatlich 15 mal bzw. 10 mal in der Intention des Erzbischöflichen Generalvikariats zu applizieren und zwar in Bezug auf den Fonds mit Stipendien-Einteilung zu 10 M. Die Höchstzahl 15 gilt für die Herren, die an ihrem Anstellungsort in unserem Erzbistum eigenen Haushalt haben, die Höchstzahl 10 für die übrigen.“ 58 Jeden Monat sollten die Priester eine Bescheinigung nach Köln senden, aus der hervorgehen sollte, wie oft im Monat die Applikation stattgefunden hatte. Die exakte Zahlungsanschrift sei mit anzugeben. Die erzbischöfliche Kasse werde dann angewiesen, das Geld zu überweisen. Am 6. September 1943 berichtete Joseph Freusberg an das Generalvikariat in Fulda, dass Rektor Alfes seine Informationsreise abgeschlossen habe. Offenbar durch ihn informiert, schrieb er und bat: „Die seelsorglichen Verhältnisse für die Evakuierten sind noch schwieriger geworden als wie s. Zt. für die Saarländer. Räume zur Abhaltung von Gottesdienst oder Abhaltung von Seelsorgsstunden sind nur in seltenen Fällen zu erreichen. Die Zugverbindungen sind wesentlich schlechter geworden. Die Betreuung wird sich in ———— 53
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BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief David an Teusch, 10.9.1943 (Kopie). AEK, CR II 25.20a, 1/3, Heutiger Stand der Seelsorge für die Ausquartierten, 17.10.1943. Eine exakte Zahl ist deshalb nicht zu ermitteln, weil manche Geistlichen innerhalb kürzester Zeit ihre Stelle wechselten, einige aus fremden Diözesen kamen und als „Kölner“ subsumiert wurden und schließlich Ordensleute angestellt wurden, die nicht in den Bistumsstatistiken geführt wurden. Im Bistum Meißen wurden sie als Pfarrvikare bezeichnet. AEK, CR II, 25.20b,1/117, Erzbischöfliches Generalvikariat Köln an Pfarrämter, 5.8.1943. AEK, CR II 25. 20a, 1/11, Betrifft Abgeltung persönlicher Mehrkosten während der Tätigkeit in der Abgewanderten-Seelsorge, 16.11.1943.
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familienhafte Kleinstarbeit aufteilen müssen. Ich bitte deshalb dafür Sorge zu tragen, daß die Herren Geistlichen, die für die Seelsorge der Evacuierten eingesetzt werden, folgende Vollmachten erhalten: 1. Binationsvollmacht an Wochentagen und Trinationsvollmacht an Sonn- und Feiertagen. 2. Vollmacht zur Feier der hl. Messe in Privaträumen. 3. Vollmacht zur Feier der hl. Messe ohne Altarstein. 4. Weitgehende Erleichterung von Nüchternheitsgebot sowohl für den celebrierenden Geistlichen als auch für die Evacuierten.“ 59 Das Anliegen Freusbergs wurde bei den folgenden Anstellungen durch das Fuldaer Ordinariat positiv berücksichtigt. Nochmals verfasste Georg Alfes am 9. Oktober einen Nachtrag: „Die Pfarrer führen Klage, dass die angemeldeten Herren nicht erscheinen. Nur in Langensalza scheinen beide Konfratres programmgemäß eingetroffen zu sein. Einer schrieb gestern, er komme nur notgedrungen.“ 60 Die Meldungen über Defizite wurden nach Ausweis der Quellen im Kölner Generalvikariat genau registriert und ausgewertet, sodass sich in der Folge kaum Monita und Ausfälle ausmachen lassen.
4. „Abgewanderten-Seelsorge“ unter den Obleuten Joseph Teusch und Joseph Plettenberg Georg Alfes beabsichtigte nun in Thüringen zu bleiben und das Amt des Diözesanpräses aufzugeben. Seinem Wunsch wurde in Köln nicht entsprochen. Sein Nachfolger wurde im Oktober 1943 Domvikar Joseph Teusch.61 Alfes berichtete: „Herr Domvikar Teusch hat mich um den 15. Oktober in Erfurt abgelöst. Mein dortiger Auftrag ist also erledigt und ich konnte meine alte Tätigkeit in der Erzdiözese bereits wieder aufnehmen. Ich frage an, wann ich zur Berichterstattung vortragen soll. Die Adresse Teuschs lautet: Erfurt, Konradhaus.“ 62 Vom 10. September 1943 datiert das Gestellungs———— 59
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BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Freusberg an Bischöfliches Generalvikariat Fulda, 6.9.1943 (Kopie). AEK, CR II 25. 20a, 1/60, Brief Alfes an Generalvikariat in Honnef, 9.10.1943. Joseph Teusch, geb.15.2.1902 in Köln, geweiht 17.3.1927, danach Kaplan, Studium in Rom, 1934 Dompfarrer, 11.9.1943 beurlaubt für die Evakuiertenseelsorge als Pfarrkurat im Bereich Arnstadt, 1.4.1944 Direktor im Collegium Leoninum in Bonn, 8.1.1945 beurlaubt für die Abgewandertenseelsorge als Pfarrkurat im Bereich Arnstadt-Gräfenroda, 1.7.1945 Rückkehr nach Köln, 1952 - 1969 Generalvikar, 1952 päpstlicher Hausprälat, 1953 Domkapitular, gest.20.9.1976. AEK, CR II 25. 20a, 1/64, Brief Alfes an Generalvikariat Honnef, 26.10.1943.
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schreiben Teuschs: „E.W. werden hierdurch beurlaubt zwecks Übernahme der Seelsorge für die im Bereich von Erfurt untergebrachten rheinischen Katholiken. Unter Oberleitung der für Erfurt zuständigen kirchl. Stelle haben Sie als Pfarrkurat eine selbstständige Tätigkeit auszuüben. Ferner bestimmen wir Sie als Obmann für die im Bistum Fulda tätigen Seelsorger aus unserem Erzbistum. Wir bitten Sie, mit dem hochwürdigsten Ordinariat in Fulda, ferner mit Propst Dr. Freusberg in Erfurt sowie mit den Kölner Seelsorgern Verbindung zu halten. Ihre Beauftragung für die Seelsorgsarbeit im Bistum Fulda erhalten Sie durch das Hochw. Ordinariat in Fulda. Ihre Anstellung als Domvikar in Köln bleibt aufrechterhalten. Ihre Besoldung erfolgt weiterhin durch die Domrendantur.“ 63 Teusch hatte „mitten im Krieg die Leitung religiöser Wochen übernommen und sie mit beachtlichem Erfolg durchgeführt“.64 Deshalb kam er wohl zunächst nur ungern nach Erfurt, wo er von Georg Alfes in sein neues Amt eingeführt wurde.65 Alfes beurteilte die Arbeit seines Nachfolgers nachträglich wie folgt: „Er hat seine Aufgabe großartig gelöst, – wie zu erwarten war“ 66 Die Fähigkeiten Teuschs werden ebenso vom Kölner Generalvikar David hervorgehoben:„Herr Teusch ist ein ungewöhnlich begabter Redner, der psychisch und physisch gleich leistungsfähig ist, und zudem von absolut zuverlässigem Charakter D.D.“ 67 Bis zu seiner Berufung zum Direktor des Bonner Theologenkonvikts Collegium Leoninum 1944 68 blieb er in Thüringen, um schließlich nochmals, nach der Zerstörung des Leoninums, ab Februar 1946 69 bis Juli 1945 wieder als „Abgewanderten-Seelsorger“ in Gräfenroda und Umgebung zu ———— 63
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BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief David an Teusch, 10.9.1943. Georg Alfes, Teils heiter – Teils wolkig, 90. Alfes berichtet, dass er Teusch vergeblich das Radfahren beizubringen versucht hatte; vgl. Georg Alfes, Teils heiter – Teils wolkig, 90. Handschriftlich vermerkt David in einem Brief an Teusch: „Herzlichen Dank auch für die persönlichen Mitteilungen. Vor allem auch ihre Bestrebungen auf dem Gebiet des Radsportes werden von hier aus mit Spannung verfolgt.“ Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 128, Brief David an Teusch, 5.1.1943. Georg Alfes, Teils heiter – Teils wolkig, 90. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, David an Teusch, 10.9.1943 (Kopie) handschriftlich an Freusberg. Vgl. Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887-1978), Bd. I: Sein Wirken für das Erzbistum Köln und für die Kirche in Deutschland (VKZG B 49), Paderborn-München-Wien-Zürich 2003, 421- 424. „Euer Hochwürden begrüssen wir in unserer Diözese und beauftragen Sie andurch mit der seelsorglichen Betreuung der im Bereich Gräfenroda (Missionspfarrei Arnstadt) untergebrachten rheinischen Katholiken. Für die Zeit Ihres seelsorglichen Wirkens erteilen wir Ihnen Jurisdiction pro foro interno und licentia praedicandi.“ Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Günther an Teusch, 7.2.1945.
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wirken. Vergleicht man die Anzahl des schriftlichen Nachlasses von Joseph Teusch im Bistumsarchiv Erfurt mit dem seines Vorgängers und seines Nachfolgers, dann fällt die geringe Anzahl von Briefen und Berichten auf.70 Die Berichte und die Abrechnungen sind präzise und schnörkellos. In einem seiner ersten Darlegungen 71 an das Kölner Generalvikariat Köln erwähnte er eine gemeinsame Recollectio aller Abgewandertenseelsorger in Erfurt und den Wunsch beim Bachemverlag ein Kurzbuch für die Gläubigen zu drucken. Die Aufnahme beim Thüringer Klerus sei gut und die Arbeit mache den Kölner Geistlichen wirklich Freude. Auch er beklagt die Raumfrage in nichtpreussischen Gebieten und zusätzlich die Nichterfassung vieler Erzdiözesanen. Auch wenn einige Evakuierte wieder zurück ins Rheinland gegangen seien, wäre der Fortbestand und der Weiterausbau der Sonderseelsorge zu rechtfertigen. Er, Teusch, betreue von Erfurt aus den Arnstädter Bezirk (Gräfenroda), der sich immer weiter ausdehne und deshalb weitere Geistliche benötige. Die Geistlichen brauchten neben dem kirchlichen Anzeiger Messwein, Kerzen, Messkoffer, Messegewänder und Kultgerät. Bei seinem nächsten Besuch in Fulda würde er auch dort um dies bitten. Zudem fehlten Zeichen des Glaubens wie Kruzifixe, Heiligenbilder, Weihwasserbecken, Rosenkränze etc., die man doch wohl in Köln sammeln könne. Provokant beschließt er den Brief mit der Frage: „Wäre diesbez. ein Anschlag im Generalvikariat angebracht?“ 72 Tatsächlich scheinen seine unterschiedlichen Bitten Erfolg gehabt zu haben. Im November 1943 waren bereits 26 Kölner Geistlichen in Thüringen angestellt.73 Relativ großzügig geht Teusch mit der Zusage um, dass Auslagen von Köln ersetzt werden könnten. Da offenbar die erbetenen Devotionalien nicht in genügendem Maß in Erfurt ankamen, hatte er sie selbst gekauft und schickte die Rechnung nach Köln.74 Generalvikar David erwiderte, dass man zwar die Rechnung überwiesen habe, aber ———— 70
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BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129 und 128. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 128, Brief Teusch an Generalvikariat Köln, 4.11.1943. Ebd. AEK, AEK, CR II 25. 20a, 1/12-14, Verzeichnis der in der Abgewanderten-Seelsorge tätigen Geistlichen aus dem Erzbistum Köln. Vgl. auch AEK, CR II 25. 20a, 2/154, Brief Erzbischöfliches Generalvikariat an Fassbender, 7.10.1943. „Es ist zweckmäßig, dass Sie nach Ihrer Ankunft in Arnstadt recht bald Herrn Diözesanpräses Alfes in Erfurt Hopfengasse 8 bzw. Herrn Domvikar Teusch, der ersteren im Laufe dieses Monats ablösen wird (Hermannplatz 9) und den Herrn Propst zu Erfurt, Hermannplatz 9, zu einer Besprechung aufsuchen. Herr Diözesanpräses Alfes bzw. Herr Domvikar Teusch ist Obmann für die Kölner Geistlichen im Bistum Fulda.“ Außer Wuppertaler Katholiken in Arnstadt, Stadtilm und Marlishausen sind Schulen aus Solingen untergebracht.“ BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 128, Unkosten der Abgewandertenseelsorge in Erfurt ab 11. 11. bis 31.12. 1943.
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um Verständnis dafür bittet, „dass Ausgaben für Anschaffungen und Geschenke grösseren Umfanges unserer vorherigen Genehmigung bedürfen“.75 Am 12. November 1943 war Teusch nach Meiningen gereist und hatte festgestellt, dass ca. 500 Evakuierte untergebracht waren, aber nicht dort, sondern in Eisfeld ein Kölner Priester wirkte.76 Er fragte beim Generalvikariat an, ob er oder ein anderer Kölner Priester (Domvikar Augustinus Frotz) vom Bistum Meissen aus das Meininger Gebiet bereisen und pastoral „inventarisieren“ sollen. Wenige Tage später erreichte Teusch die Nachricht aus Honnef, dass man ohne Zustimmung des Würzburger Ordinariates keine Seelsorger entsenden könnte, der vorgesehene Domvikar Frotz 77 zum Obmann aller im Bistum Meissen wirkenden Geistlichen bestimmt sei und er beim Besuch in Würzburg nachfragen solle, welche Absichten man für die Kölner Katholiken im Gebiet um Meiningen habe.78 Am 17. April 1944 schrieb Joseph Teusch an Pfarrkurat Ernst Döring in Weimar und teilte ihm mit, dass er auf Anweisung der Generalvikare von Köln und Fulda sein Nachfolger 79 in Erfurt werde und spätestens am 22. April die Stelle (für Arnstadt und Gräfenroda) antreten soll.80 Die Wohnung und alles Sonstige überlasse er ihm. Ernst Döring war ab September 1943 als Pfarrkurat bei Pfarrer Martin Hannappel in Sömmerda vorgesehen und hatte einen relativ nüchternen Brief von Hannappel bekommen.81 Nach seiner Ankunft und wenigen Tagen im Pfarrhaus hatte er den begründeten Eindruck vom Pfarrer dienstlich eher behindert zu werden, sodass keine wirkliche Seelsorgsarbeit möglich war. So wurde er etwa mit Sätzen konfrontiert, dass es sich nicht lohne, die ordentliche Seelsorge ausreiche und es „hier nichts zu reissen gäbe“.82 Daraufhin bat Ernst Döring um Versetzung und wurde zunächst nach Weimar geschickt, wo Dechant Breitung offenbar ———— 75
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BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 128, Brief David an Teusch, 9.1.1944. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 128, Brief Teusch an Generalvikariat Köln, 12.11.1943. Sein Nachfolger als Obmann für die Kölner Priester im Bistum Meißen wird im März 1944 der Pfarrvikar in Altenburg (Thüringen) Heinrich Cürten; vgl. AEK, CR II 25. 20a, 2/45, Brief David an Cürten, 9.3.1944 vgl. dazu auch Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887-1978), Bd. 1, 166. Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 128, Brief Hecker an Teusch, 17.11.1943. Gemeint war die Nachfolge in der Evakuiertenseelsorge, nicht als Obmann. Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 128, Brief Teusch an Döring, 17.4.1944. AEK CR II 25.20a, 2/104, Brief Hannappel an Döring, 15.9.1943 (Kopie). AEK CR II 25.20a, 2/105, Brief Döring an Hecker, 26.9.1943.
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auch wenig Interesse an den Vorgängen in Sömmerda zeigte. Schließlich wurde Kurat Döring nach Erfurt geschickt.83 Als Rektor des Leoninums schreibt Teusch am 1. Mai 1944 an Ernst Döring, um seine Hinterlassenschaft zu klären und Ratschläge zu geben.84 Teusch, der Döring duzte, hinterließ ihm auch alle geliehenen und erworbenen „Kultgegenstände“ sowie diverse Religionsbücher und Messgewänder. Die Aufzählung der Gegenstände von unterschiedlichsten Leihgebern ist dermaßen umfassend, dass geschlussfolgert werden darf, Teusch habe ein Magazin für bedürftige Seelsorger in Erfurt aufgebaut. Messwein und Kerzen seien, wenn nicht noch in den einzelnen Orten vorhanden, in Fulda zu beantragen, beendet er den Brief. Interessant sind seine Ausführungen über seine Nachfolge als Obmann: „Ein solcher ist noch nicht ernannt. Wer es wird, hängt wohl von der endgültigen Regelung der Nachfolgerfrage in Erfurt ab. Es wird versucht, doch noch einen weiteren Geistlichen ins Bistum Fulda zu ziehen. So viel ich sehe, kann der jetzige Schwebzustand ein recht langer werden. Du wirst ja darum nicht böse sein.“ 85 Wohl schon kurz nach seiner Rückkehr nach Bonn wurden Domvikar Teusch, Domvikar Frotz und Präses Alfes vom Erzbischof zu einem Gespräch eingeladen. Frings plante ein Gebetbuch für die evakuierten Diözesanen, und die drei erfahrenen „Abgewanderten-Seelsorger“ sollten das Projekt ausführen.86 Die Aufgaben wurden verteilt: Frotz bearbeitete den Gebetsteil, Teusch das Kapitel Glaubensunterweisung und Alfes das Thema „Familie als Kleinkirche“. Schon nach wenigen Wochen erfolgte die Drucklegung.87 Das Gebetbuch erschien bei Bachem mit dem Titel „Preiset den Herrn!“.88 Das Vorwort Erzbischof Frings trägt das Datum vom Palmsonntag 1944. Das Gebetbuch hat seinen Schwerpunkt im ersten Teil auf Gebeten und Betrachtungen. Diese stammen zumeist von Romano Guardini oder Petrus Canisius, einige wenige von Kardinal Newman, einige Psalmen sind auch enthalten. Zum Gotteslob in der Gemeinde gehörte neben Liedern vor ———— 83
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AEK CR II 25.20a, 2/105, Brief Günther an Breitung, 28.10.1943; AEK CR II 25.20a, 2/105, Brief Breitung an Generalvikariat Köln, 1.5.1944. Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 128, Brief Teusch an Döring, 1.5.1944. Ebd. Vgl. dazu Georg Alfes, Teils heiter – Teils wolkig, 90 - 91. Auf der Konferenz der westdeutschen Bischöfe in Honnef vom 22. - 23 August 1944 berichtete Frings, dass die Korrekturfahnen vorliegen und eine Auflage von 30.000 vorgesehen sei. Vgl. Ludwig Volk (Bearb.), Akten deutscher Bischöfe, Bd. VI, 405. Erzbischöfliches Seelsorgeamt Köln (Hg.): Preiset den Herrn. Gebetbuch der wandernden Kirche, Köln o.J. [1944].
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allem die Hl. Messe, deren Ablauf ähnlich wie im Schott abgedruckt war. Eine zweite Auflage folgte 1947.89 Im Vorwort des Erzbischofs Kardinal Frings heißt es: „Nun geht eine Neu-Auflage ins Land für alle Katholiken, die in der Diaspora, in der Vereinzelung unter Andersdenkenden leben müssen. Möge dieses Büchlein helfen, die fehlende Heimat und die fehlende Pfarrgemeinde leichter zu ertragen.“ 90 Die Neuauflage wurde um einige Lieder erweitert und um die Seiten 199 bis 220: „Das Gedächtnis des Herrn, Andacht am Sonntagmorgen, wenn keine Gelegenheit zur Heiligen Messe ist.“ In der Vorbemerkung wird eigens auf die „Opferung“ und die dabei nicht zu unterlassende Darbringungen der Gaben hingewiesen. Man solle für die Nöte der Bedrängten Gaben opfern. Wie Teusch vorhergesagt hatte, sollte die Bestimmung zu seinem Nachfolger in Erfurt als Obmann einige Zeit in Anspruch nehmen, und es erweckt den Anschein, als hätten wohl einige der „Herren“ gern selbst das von Teusch eingerichtete Büro, die „Arbeitsstelle“ und seine Aufgaben übernommen. Mit Brief vom 31.Mai 1944 wurde der Schmalkaldener Pfarrkurat Gottfried Ohler 91 zum Obmann bestimmt.92 In einem ausführlichen Brief 93 begründete er, nachdem er auch mit Generalvikar David in Fulda gesprochen hatte, warum er die Stelle unmöglich annehmen könne. Als Hauptgrund gab er an, dass die Entfernung von Schmalkalden nach Erfurt und damit die zeitliche Aufwendung für solche Fahrten es nicht erlaubten, dieses Amt so wie Joseph Teusch auszufüllen. Wichtig scheint zudem gewesen zu sein, dass Propst Freusberg einen Obmann in Erfurt, vor Ort, haben wollte, der auch ständig erreichbar war. Offenbar haben Ohler aber auch andere Motive bewegt, wie aus dem Brief ersichtlich wird. „Wie ist nun die Sache zu lösen? Von den Erfurter Herren eignet sich am besten Herr Plettenberg. Döring ist ebenso wie ich selbst (meiner Meinung nach) etwas zu still und zu wenig wortgewandt für den Obmannsposten. Vielleicht wäre es am besten, wenn Herr Teusch noch einmal nach Erfurt käme und einige an der Sache besonders interessierte Herren würden eingeladen und in persön———— 89
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Erzbischöfliches Seelsorgeamt Köln (Hg.): Preiset den Herrn. Gebetbuch der wandernden Kirche, Köln 1947. Ebd. Gottfried Ohler, geb.17.11.1901 in Mönchengladbach, geweiht 10.8.1926, verschiedene Kaplansstellen, 10.9.1943 Pfarrkurat für die Evakuiertenseelsorge in Schmalkalden, 27.10.1944 Rückkehr nach Köln St. Agnes, 12.10.1948 Pfarrer in Köln St. Agnes, Prälat, gest. 3.7.1999. AEK, CR II, 25.20a,6/56 Brief David an Ohler, 31.5.1944: „Euer Hochwürden werden hierdurch unter Belassung auf Ihrer Seelsorgestelle in Schmalkalden zum Obmann der Geistlichen unseres Erzbistums im Bistum Fulda bestimmt.“ AEK, CR II 20a, 6/59, Brief Ohler an Hecker, 17.6.1944.
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licher Besprechung – so wie Sie es ja selber in Köln bei Versetzungen praktizieren – würde die Sache beigelegt.“ 94 Am 29. Juni 1944 schrieb Generalvikar David abschließend an Pfarrkurat Ohler: „Unter Berücksichtigung Ihrer Darlegungen vom 17. d. M. haben wir uns entschlossen, an Ihrer Stelle Kpln. Plettenberg zum Obmann der Kölner Seelsorger im Bistum Fulda zu bestimmen. Eine Zurückberufung in die Heimatseelsorge kommt vorläufig nicht in Betracht.“ 95 Am gleichen Tag erhielt Joseph Plettenberg 96 seine Bestellung zum Obmann.97 Plettenberg übernahm das Amt des Obmanns zu einer Zeit, in der die Flüchtlings- und Evakuiertenströme nicht mehr koordinierbar waren und auch noch mehr als zuvor Priester aus den gefährdeten oder ausgebombten Gebieten evakuiert wurden oder flohen. Auch dem Kölner Generalvikariat war es nicht mehr möglich, den Aufenthaltsort aller Geistlichen zu ermitteln. Im Dezember 1944 hatte Generalvikar David an die Bischöflichen (Erzbischöflichen) Ordinariate in Paderborn, Münster (Offizialat Vechta), Fulda, Bautzen, Würzburg, Augsburg, Rottenburg und Breslau ein Rundschreiben gerichtet 98, in dem er die Ordinariate auf Folgendes hinwies: „Die Ordinariate können vollkommen frei über die von Köln überwiesenen Geistlichen verfügen. Einziges Kriterium ist, dass sie rheinische Katholiken seelsorglich betreuen. Der Versetzung des Geistlichen an eine andere Stelle in der ‚Abgewanderten-Seelsorge’ ist allein Sache des ‚dortigen‘ Ordinariates. Auch für Urlaubsbewilligung und Beendigung der Tätigkeit in einem auswärtigen Bistum ist das betreffende Ordinariat des Aufnahmegebietes zuständig. Das Kölner Ordinariat bittet lediglich darum, eine Benachrichtigung über eine vorgenommene Versetzung zu schicken.“ 99 Plettenberg war seit November 1943 in Thüringen und zunächst als Pfarrkurat in den Amtsbezirken Großrudestedt und Vieselbach, mit Wohnsitz Erfurt, tätig.100 Er wohnte anfangs im Josefsheim, dann im Marienstift, Hopfengasse 8.101 Kein anderer Kölner Evakuierten-Seelsorger ist in Thü———— 94 95 96
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Ebd. AEK, CR II, 25.20a,6/57, Brief David an Ohler, 29.6.1944. Joseph Plettenberg, geb. 17.2.1909 in Bergisch-Gladbach, geweiht 22.2.1935, danach Kaplan in Ensheim, Speyer und Essen, 1943 Pfarrkurat von Großrudestedt und Vieselbach, 1944 Obmann der rheinischen Seelsorger, 1945 -1946 Bischöflicher Kommissar in Erfurt zur Organisation der Seelsorge durch heimatvertriebene Priester bei den Heimatvertriebenen, 1946 -1957 Generalsekretär des Bonifatiusvereins, 1957 Finanzreferent in Fulda, 1959 -1974 Generalvikar Fulda, gest. 4.12.1982 in Fulda. AEK, CR II, 25.20a,6/192 Brief David an Plettenberg, 29.6.1944. AEK, CR II 25, 20b, 2/70, Brief David an Bischöfl. (Erzbisch.) Ordinariate, 9.12.1944. Ebd. AEK, CR II 25 20a, 6/187, Brief David an Plettenberg, 23.11.1943. AEK, CR II, 25.20a, 6/190, Brief Plettenberg an Hecker, 31.12.1943.
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ringen so bekannt geworden wie Joseph Plettenberg. Für 64 Geistliche 102 war er zuständig; 59 wirkten in Thüringen einschließlich des Meininger Bezirkes.103 Am 28. Mai 1946 schrieb Propst Freusberg dem Kölner Kardinal Josef Frings, gleichsam als Empfehlungsschreiben, und abschließend einen Brief über die Tätigkeit des Kölner Priesters Joseph Plettenberg.104 Die Intention des Briefes ist eindeutig: Freusberg wollte Frings für den Dienst der Kölner Priester vor allem von Plettenberg, der als Generalsekretär des Bonifatiusvereins nach Paderborn wechselte, danken und ihn für höhere Aufgaben empfehlen. Plettenberg habe vom 7. Dezember 1943 bis zum 20. Mai 1946 in Thüringen in der „Abgewanderten-Seelsorge“ gewirkt, seinen Wohnsitz in Erfurt gehabt und bis Ende Juni 1944 einen großen Bezirk betreut. Danach sei er Obmann der evakuierten Priester geworden und schließlich im Januar 1945 vom Fuldaer Bischof zum Kommissar für die „Abgewanderten-Seelsorge“ bestellt worden. Lobend hebt Freusberg die gute Zusammenarbeit hervor, den aufopferungsvollen Dienst des scheidenden Kommissars und die warme confraternelle Art, sich der evakuierten Priester anzunehmen. Aus den vielfältigen Aktivitäten Plettenbergs sei besonders die große Marienfeier von 1944 mit Tausenden von Teilnehmern hervorgehoben.105 Für den 17. August 1944 hatte er im Erfurter Dom für die katholischen Evakuierten der Erzdiözese Köln eine Marienfeier veranstaltet, zu der Erzbischof Frings ein eigenes Schreiben verfasst hatte.106 Hervorzuheben ist auch der Versuch, im Bereich der Thüringischen Landeskirche (Eisenach) Gottesdienste für die Evakuierten zu ermöglichen. Aus einem Bericht, den Plettenberg im Juli 1944 an der Erfurter Dompropst Joseph Freusberg und seinem Ordinarius Josef Frings in Köln schrieb, geht hervor, wie kompliziert in Thüringen, besonders im Bereich der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, die seelsorgliche aber auch politische Situation war.107 Seit 1939 war die Abhaltung katholischen Gottesdienstes in den protestantischen Kirchen dieser Kirchenprovinz verboten. Den damaligen kirchen———— 102
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Zu diesem Zeitpunkt wurden die elf Aachener und die sechs Trierer Priester (darunter zwei Jesuiten) unter Kölner Evakuierten-Seelsorge subsumiert. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Verzeichnis der im Bistum Fulda tätigen Abgewandertenseelsorger, 7.2.1945. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Freusberg an Frings, 28.5.1946. AEK, CR II, 25,20b, 2/191, Schreiben zur Marienfeier in Erfurt, 6.8.1944 (Ex actis Em., Entwurf). AEK, CR II, 25.20a,6/196, Plettenberg an Kardinal Frings, 2.8.1944 (Kopie). Zum Folgenden vgl. BAEF, AXIIa2, Evakuiertenseelsorge, Betrifft: Verhandlungen mit dem Präsidenten der Thüringischen evangelischen Kirche zu Eisenach, 31.7.1944 (Kopie).
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rechtlichen Vorschriften folgend, hatten Plettenberg wie auch die anderen Evakuiertenseelsorger zunächst versucht, „profane“ Räume für Gottesdienste zu nutzen, was im nationalsozialistischen Thüringen ausgeschlossen war. So kam es zu einem Gespräch zwischen dem damaligen Präsidenten der Evangelischen Landeskirche Thüringen und „Mitglied der Glaubensgemeinschaft Deutscher Christen“ Hugo Rönck.108 Nach der vorgetragenen Bitte, Gottesdiensträume zur Verfügung zu stellen, antwortete der Präsident: „Wenden Sie sich, bitte, nach Weimar an die Gauleitung.“ 109 Die Gauleitung hatte aber Plettenberg an die Kirchenstelle der Gestapo und diese wiederum an Rönck verwiesen. Grundsätzlich sei er, Rönck, nicht gegen die Bereitstellung, aber er habe Bedenken konfessioneller Natur. „Auf den Dörfern, wo zum Teil nur ältere Pfarrer sind, gehen kaum ein Dutzend Menschen zum protestantischen Gottesdienst. Nun kommen Sie und scharen um sich 30- 40 Gläubige, und ich frage Sie: Wie lange bleiben die Evakuierten hier? So wird Thüringen für Sie zum Missionsgebiet.“ 110 Die Erwiderung Plettenbergs, dass jede Proselytenmacherei ausgeschlossen sei und es Gegenden gäbe, in denen die Verhältnisse umgekehrt gelagert seien, nämlich katholische Gemeindehäuser oder Kirchen für protestantische Gottesdienste zur Verfügung gestellt würden, bewirkte kein Umdenken. Der Antwort Röncks, „... ich will meinen braunen Schild ganz sauber halten.“ 111 Darf man vermuten, dass Röncks Entscheidung von der Weimarer Gauleitung abhängig war? Im November 1944 hatte auch der Paderborner Erzbischof Lorenz Jaeger im gleichen Anliegen an den Eisenacher Präsidenten geschrieben, sehr wahrscheinlich wieder ohne Erfolg.112 Ob nicht doch, wie Plettenberg hoffte, gelegentlich Gottesdienste möglich waren, bleibt offen. Anders verhielt es sich in den Teilen Thüringens, die zur evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen gehörten. Inzwischen hatten die Fluchtbewegungen aus dem Osten eingesetzt, und Gläubige sowie Priester aus den so genannten Ostgebieten waren nach Thüringen gekommen.113 Plettenberg hat, wie die Quellen zeigen, bei seiner Tä———— 108
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Vgl. dazu Thomas A. Seidel, Im Übergang der Diktaturen. Eine Untersuchung zur kirchlichen Neuordnung in Thüringen 1945 -1951, Stuttgart 2003; besonders 2.5. Kirchenfrieden im Dienste des Krieges, 50 -55. BAEF, AXIIa2, Evakuiertenseelsorge, Betrifft: Verhandlungen mit dem Präsidenten der Thüringischen evangelischen Kirche zu Eisenach, 31.7.1944. Ebd. Ebd. Vgl. Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887 - 1978), Bd. 1, 98. Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Mykohockyj an Generalvikariat Fulda, 21.2.1945 (Kopie).
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tigkeit und bei seinen zahlreichen caritativen Hilfsaktionen keinen Unterschied zwischen Flüchtlingen/Umsiedlern (aus den Ostgebieten) und Evakuierten (Rheinländer) gemacht und wurde wohl auch vom Fuldaer Generalvikariat und dem Erfurter Propst darin bestärkt und unterstützt.114 Die Kämpfe zwischen der Wehrmacht und der 3. US-Armee um Thüringen begannen am 1. April 1945 und waren erst am 16. April 1945 beendet.115 Die unsichere militärische Lage führte dazu, dass in vielen Ortschaften kein Gottesdienst mehr gehalten werden konnte. Die Bitten einzelner Gläubiger nach einem Seelsorger konnten nur unzureichend erfüllt werden.116 Mit Kriegsende begann auch die Rückkehr der rheinischen Katholiken und ihrer Seelsorger. Angesichts der schwierigen pastoralen Lage und der Bitte an das Erzbistum Köln, vorerst die Priester in Mitteldeutschland zu belassen, schrieb Generalvikar David am 24. Dezember 1945 einen programmatischen Brief an die Ordinariate in Paderborn, Fulda und Bautzen: „Die in den letzten Kriegsjahren von uns vorgenommene Entsendung von Seelsorgern in die innerdeutsche Diaspora galt den dort untergebrachten rheinischen Katholiken, gegen die wir eine besondere Verpflichtung hatten. Wenn auch einige dieser Seelsorger an ihrem früheren Anstellungsort infolge der Abwanderung vieler Pfarrangehörigen überzählig geworden waren, so bedeutet doch die Entsendung einer größeren Zahl von Priestern ein großes Opfer für unsere Diözese, da viele Lücken in der Heimatseelsorge entstanden ... So liegt es nahe, daß unsere Geistlichen aus den Diasporabezirken, in denen keine erhebliche Zahl von rheinischen Katholiken mehr ist, in die Heimatdiözese zurückkehren. Andererseits können wir die seelsorgliche Not, die in der Diaspora bei den aus dem Osten zugewanderten Katholiken besteht, nicht übersehen. Es wird deshalb nicht richtig sein, daß alle unsere Geistlichen sofort zurückkehren, es sei denn, daß Vorschriften einer Besatzungsmacht in dieser Beziehung eine Zwangslage schaffen. Fürs erste bitten ———— 114
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Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt/Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Günther an Freusberg, 22.2.1945. Vgl. Raßloff, Geschichte Thüringens, 95. Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief Plettenberg an Günther, 30.4.1945 (Kopie); „Seit vier Wochen hat auf den Dörfern im Dekanat Erfurt kein kath. Gottesdienst mehr stattgefunden mit Ausnahme von Gispersleben und Marbach, die innerhalb der 6km – Zone liegen. Im Ganzen sind mindestens 3,5 tausend Katholiken ohne jede seelsorgliche und caritative Betreuung. … Die Gläubigen, die bereits in der Heimat Hab und Gut verloren haben, können nicht begreifen, dass nunmehr, nachdem bereits 1½ Jahre der Gottesdienst stattfand, eine seelsorgliche Betreuung nicht mehr möglich ist, zumal die Geistlichen in den angrenzenden Bezirken Sömmerda, Weimar, Weissensee schon seit den ersten Tagen der Besetzung den Erlaubnisschein besitzen.“
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wir die Hochwürdigen Diaspora-Ordinariate um gütige Erwägung, ob etwa ein Drittel der noch draußen befindlichen Kölner Geistlichen jetzt freigegeben werden kann. Diesen Ordinariaten muß es überlassen bleiben, selbst die Geistlichen zu bestimmen, die jetzt zu entlassen sind.“ 117 Im Januar 1946 registrierte Plettenberg noch 17 Priester aus dem Erzbistum Köln (zusätzlich vier aus dem Bistum Trier und einen aus dem Bistum Aachen); 27 Priester aus den untergegangenen ostdeutschen Diözesen waren nunmehr in Thüringen tätig.118 Einige Priester des Erzbistums Köln blieben bis zu ihrer Pensionierung oder bis zu ihrem Tod in Thüringen: Pfarrer Herbert Böttcher, Mühlhausen; Pfarrer Johannes Bröhl, Ilmenau; Pfarrer Franz Sittarz, Langensalza/Land; Pfarrer Leo Wolfen, Münchenbernsdorf; Pfarrer Wilhelm Schrammen, Stadtilm.119 Bis heute sind diese rheinischen Seelsorger in ihren ehemaligen Thüringer Gemeinden in gutem, ehrenvollem Gedächtnis. Joseph Plettenberg sollte trotz anderer Funktionen und anderer Wirkungsstätte die Seelsorge und die caritative Arbeit in Thüringen in vielerlei Weise fördernd begleiten.120 In einem Brief an das Kölner Generalvikariat schrieb er 1954: „Für diese (Priester und Seelsorgehelferinnen, Anm. d. Verf.) bin ich von meiner früheren Tätigkeit her in vielem Verbindungsmann. Z.Zt. erhalten kaum Priester im Westen die Genehmigung zur Einreise in die sowjetische Besatzungszone. Mir wird dieselbe erteilt, da ich noch als Bischöflicher Kommissar für die Abgewanderten-Seelsorge im Bistum Fulda geführt werde. ... Diese Regelung wurde im Jahre 1946 mit Genehmigung des Hochwürdigsten Herrn Kardinals von Köln auf Vorschlag des Hochwürdigsten Generalvikars von Fulda getroffen. Der Protektor des Bonifatiusvereins gab dazu seine Zustimmung. Natürlich muss auch ich oft viele Wochen warten, bis die Einreisegenehmigung erwirkt ist. Sie ist stets befristet. Die gegenwärtige Situation lässt eine Unterbrechung der noch möglichen Beziehungen nicht geraten erscheinen. Noch immer haben wir die Möglichkeiten, z.B. durch Sachlieferungen Bauvorhaben durchzuführen. ———— 117
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BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Brief David an die Hochwürdigen Ordinariate in Paderborn, Fulda und Bautzen, 24.12.1945 (Kopie). Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Kurzbericht über die Abgewanderten- und Umsiedlerseelsorge in Thüringen, 1.1.1946 (Kopie). AEK, CR II 25. 20a, 1/105, Brief Erzbischöfliches Generalvikariat an Wohnungsamt der Stadt Köln, 24.7.1953 (Kopie). In den Monaten Juni, Juli, August 1949 hatte er beispielsweise allein für den Seelsorgsbezirk Erfurt Hilfen in Höhe von 12.648,10 RM organisiert. Vgl. BAEF, Bischöfliches Generalvikariat Erfurt / Bischöfliches Amt Erfurt-Meiningen, A XII a2, 129, Aufstellung der Unterstützung, 23.11.1949.
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Wie sehr die Confratres und die 900 Seelsorgehelferinnen auf den Besuch aus dem Westen warten, ist aus ihren Briefen ersichtlich.“ 121 Zusammenfassend darf festgehalten werden, dass durch Joseph Plettenberg der Übergang von der „Abgewanderten-Seelsorge“ zur „Flüchtlingsoder Vertriebenenseelsorge“ im Ostteil des Bistums Fulda, in Thüringen, trotz enormer Schwierigkeiten vergleichsweise unkompliziert gelang.
Resümee Professor Norbert Trippen hat den ersten Band seiner bedeutenden zweibändigen Biografie über Josef Kardinal Frings 122 zu Recht mit dem Untertitel „Sein Wirken für das Erzbistum Köln und für die Kirche in Deutschland“ versehen. Er schildert in diesem Band nicht nur die Tätigkeit des Kölner Oberhirten in der NS-Zeit und den Wiederaufbau in der Erzdiözese nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern vor allem auch die zahlreichen Aktivitäten, die direkt oder indirekt der katholischen Kirche Deutschlands zugutekamen und kommen. Es scheint geradezu ein Wesensmerkmal der Erzdiözese Köln zu sein, bei aller Sorge um das eigene Bistum die Not und Erfordernisse der Kirche Deutschlands im Blick zu behalten und adäquat darauf zu reagieren. Dass sich diese Tugend auch auf die unterschiedlichsten geistlichen und nichtgeistlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu übertragen scheint, ist ein weiteres, dankbar zur Kenntnis zu nehmendes Phänomen. Die Beschäftigung mit der „Abgewanderten-Seelsorge“ des Erzbistums Köln für die in Thüringen evakuierten Rheinländer zeigt jedenfalls nicht nur die Sorge um die eigenen Diözesanen, sondern vor allem auch die Hochherzigkeit und Großmütigkeit der „Kölner“ für die katholischen Kirche Thüringens.
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AEK, Personalverwaltung Priester, 1097. Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887- 1978), Bd. 1: Sein Wirken für das Erzbistum Köln und für die Kirche in Deutschland (VKZG B 94), Paderborn-München-Wien-Zürich 2003, Bd. 2: Sein Wirken für die Weltkirche und seine letzten Bischofsjahre (VKZG B 104), PaderbornMünchen-Wien-Zürich 2005.
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Alexander Schnütgen und das Erscheinungsbild der Bücher. Mit einer Beilage über seinen Blick auf Antiquariatskataloge von Hermann-Josef Reudenbach
I. Einleitung: Schnütgen und die Buchkultur Spontan wird man den Kölner Domkapitular und Kunstsammler Alexander Schnütgen (1843-1918) 1 mit Skulpturen, Textilien, auch Malereien in Verbindung bringen, kaum mit dem Buch. In der Tat bildete das Buch nicht den Mittelpunkt seiner Kollektionen, es war aber präsent: unter anderem durch die Sammlung von Ledereinbänden, die wir 1910 in dem von Schnütgen gestifteten Museum als Bestandteil der ständigen Schausammlung wiederfinden.2 Auch hat sich der Kölner Domherr über drei Aspekte der Buchkultur in Aufsätzen geäußert: über sein Exlibris, über mittelalterliche und moderne Bucheinbände aus Metall bzw. Leder und über Bücherpulte – letztere ein eher abgelegener, aber reizvoller Gegenstand, den er als erster in systematischer Ordnung behandelt hat.3 Zu den wichtigsten Aktivitäten Schnütgens gehörte die Herausgabe und Redaktion der „Zeitschrift für christliche Kunst “, eine Arbeit, die er, abgesehen von einer kaum nennenswerten Unterbrechung, dreißig Jahre lang leistete: von 1888 bis zu seinem Tod 1918.4 Diese Zeitschrift enthält eine Fülle von Artikeln des Kölner Domherrn und Gelehrten zu Themen der Kunstgeschichte, des Kunstgewerbes und der Kunstpflege. Daneben finden sich in ihr zahllose Buchbesprechungen aus seiner Feder.5 Etliche sind länger und eingehender, viele kurz und prägnant, manche auch flüchtig, wie es angesichts der großen Arbeitslast und der allmählich schwächer werdenden Ge———— 1
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Zu ihm vor allem: Colligite fragmenta; außerdem ARMIN SPILLER, Alexander Schnütgen (18431918), in. Rheinische Lebensbilder, Band 5, hrsg. von BERNHARD POLL, Bonn 1973, S. 191- 211; weitere Lit. bei REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult, S. 561-562 Anm. 2. Dazu REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult, S. 563 - 564. Zu diesen drei Aspekten siehe ebd., passim. – Da Bucheinbände auch in der vorliegenden Arbeit eine Rolle spielen, waren einige Überschneidungen mit dem früheren Aufsatz unumgänglich. Vgl. ARMIN SPILLER, Alexander Schnütgen und die Anfänge der „Zeitschrift für christliche Kunst“, in: Colligite fragmenta, S. 105-136 (zuerst veröffentlicht in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 184 [1981], S. 54-103). Zu diesen allgemein siehe REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult, S. 583; zur Frage der Autorschaft ebd., S. 572 Anm. 42.
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sundheit des Verfassers nicht verwundern kann. Selbst die kleinste Buchanzeige aber sollte man nicht überspringen, denn überall sind Bemerkungen versteckt, die für Schnütgen charakteristisch sind. Aus diesen Besprechungen läßt sich herausfiltern, wie unser Autor das Erscheinungsbild der Bücher gesehen und beurteilt hat. Der Ertrag dieser „Goldwäsche“ wird nicht nur das bisherige Bild Alexander Schnütgens weiter ergänzen, sondern zugleich einen neuen kleinen Beitrag bilden zur Erforschung der Buchkultur des 19. Jahrhunderts, namentlich im deutschen Katholizismus zwischen 1870 und 1914.6 Das Erscheinungsbild des Buches setzt sich aus unterschiedlichen Elementen zusammen. Dazu ist sofort ein einschränkender Hinweis nötig. Die folgende Untersuchung kann auf die Illustrationen und überhaupt die Bilder im Buch nicht gründlicher eingehen. Zu diesem Gegenstand hat unser Autor sich so breit und facettenreich geäußert, daß seine diesbezüglichen Anschauungen einer gesonderten Darstellung vorbehalten bleiben müssen.
II. Eingehendere Bemerkungen Schnütgens zum Erscheinungsbild des Buches insgesamt 1. Die Festschrift für Friedrich Schneider Wohl im Jahre 1864 hörte Alexander Schnütgen am Priesterseminar zu Mainz bei dem um sieben Jahre älteren Friedrich Schneider (1836-1907) 7 Vorlesungen über Kunstgeschichte und Liturgik.8 Obwohl das zunächst ———— 6
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Zu dem, was die katholischen Dom- bzw. Stiftsgeistlichen Alexander Schnütgen, Friedrich Schneider und Alfons Bellesheim für die Buchkultur geleistet haben, siehe bisher REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult; REUDENBACH, Friedrich Schneider, sowie vom selben Verf.: Stiftspropst Alfons Bellesheim (1839-1912) und das Buch. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte und zur Geschichte der Buchkultur (Libelli Rhenani, Band 14), Köln 2006. Laut SPILLER, Alexander Schnütgen (wie Anm. 1), S. 193, studierte Schnütgen im Wintersemester 1863 / 1864 und im Sommersemester 1864 in Mainz. – Zu Schneider siehe den zur 100. Wiederkehr seines Todestages erschienenen Sammelband: Friedrich Schneider. Ein Mainzer Kulturprälat 1836 1907, hrsg. von HELMUT HINKEL (Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz 2008), Mainz 2008; zur Kurzinformation HERMANN-JOSEF REUDENBACH, Schneider, Friedrich, in: LThK 3 9 (2000), Sp. 191. Die chronologischen Angaben zu Schneiders Tätigkeit als Dozent für Liturgik und Kunstgeschichte sind nicht ganz eindeutig. In dem von HINKEL herausgegebenen Sammelband (wie Anm. 7) findet man auf S. 11-12 die Übersicht: „Friedrich Schneider. Lebensstationen“; dort heißt es auf S. 11: „1864-1869: Dozent für Liturgik, christliche Kunstgeschichte und kirchliche Archäologie am Priesterseminar“. HERMANN-JOSEF BRAUN, Friedrich Schneider im Dienst des Bistums Mainz, ebd. S. 49-78, bemerkt auf S. 57: „Ihm waren in den Jahren 1864 bis 1869 die Vorlesungen in Liturgik
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freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden in späteren Zeiten distanzierter wurde, hat Schnütgen sich öffentlich stets achtungsvoll über Schneider geäußert.9 In diesen Zusammenhang gehört auch seine Besprechung der monumentalen Festschrift, die Freunde und Verehrer dem Mainzer Prälaten und Kunstgelehrten 1906 zur Vollendung des 70. Lebensjahres darbrachten.10 Sogleich im ersten Satz erwähnt Schnütgen das Erscheinungsbild des kostbaren Bandes und läßt einfließen, Schneider sei sein Leben lang tatkräftig für die stilvolle Buchausstattung eingetreten: „Dieser Prachtcodex, von dem nur 150 Exemplare in den Handel gelangen, paßt sich als Huldigung für den gefeierten Prälaten der Eigenart desselben in einer bewunderungswürdigen Weise nach allen Richtungen an, namentlich hinsichtlich der überaus vornehmen Ausstattung, die Schneider stets in besondere Pflege genommen hat, [...]“ 11 Der Kölner Rezensent, wie sein Mainzer Kollege Sohn eines Kaufmanns, widmet ein Wort auch „ den vermöglichen Gönnern, welche die glänzende Ausstattung als ein Homagium [eine Ehrengabe. Rb.] betrachteten“.12 Damit gibt er zu verstehen, daß die kultivierte Ausstattung der Festschrift viel Geld gekostet hat. Das Lob, das er ihr zollt, ist umso bemerkenswerter, als mindestens der Einband überhaupt nichts Historistisches an sich hat. Dunkelblaues Leinen, sparsam eingesetzte Schrift in Goldprägung auf dem obersten Teil des Vorderdeckels und auf dem Buchrücken, Typen, welche einen Anflug von Jugendstil erkennen lassen – ein solches Bild wird nicht jeder ohne weiteres mit der künstlerischen Richtung Alexander Schnütgens in Verbindung bringen.13 ———— 9
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und s p ä t e r auch die über Kunstgeschichte und kirchliche Archäologie übertragen“ (Hervorhebung Rb.). Vgl. z.B. REUDENBACH, Friedrich Schneider, S. 214. – Verbindungslinien zum Kreis um Friedrich Schneider werden unten im 5. Abschnitt des vorliegenden Kapitels kurz erwähnt. Vgl. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Studien aus Kunst und Geschichte. Friedrich Schneider zum siebzigsten Geburtstage gewidmet von seinen Freunden und Verehrern. Mit Friedrich Schneiders Porträt nach einer Radierung von Peter Halm, 18 Tafeln in Lichtdruck und 25 in Autotypien u.a., Freiburg im Br. 1906, in: ZChK 19 (1906), Sp. 347 - 348. Die Festschrift kostete im Buchhandel „50 Mk.“, damals ein beträchtlicher Preis. Ebd., Sp. 347. – Die „Pflege“, in welche Schneider die Buchausstattung „ stets genommen hat “, ist dargestellt bei REUDENBACH, Friedrich Schneider. SCHNÜTGEN, Bespr. von: Studien aus Kunst und Geschichte (wie Anm. 10), Sp. 348. – Man könnte fragen, ob Schnütgen die Bemerkung über die „ vermöglichen Gönner “ nicht ironisch gemeint habe. Der Blick auf den Zusammenhang schließt einen solchen Hintersinn jedoch aus. Wir lesen nämlich ebd., Sp. 347 - 348: „ Die Verfasser gehören den verschiedensten Lebenssphären an, für welche die Beziehungen der Verehrung gegen den weithin bekannten, vielfach konsultierten Domherrn den Vereinigungspunkt schufen, in Verbindung mit den vermöglichen Gönnern “ usw. – Die Namen der Gönner nennt JOSEPH SAUER, Zur Einführung, in: Studien aus Kunst und Geschichte (wie in Anm. 10), S. VII-VIIIb, hier S. VIIIb.
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2. Ein neugotisches „Prachtwerk“ aus dem Katholizismus der Niederlande Ganz in seinem Element war Schnütgen, als er 1889 ein Buch vorstellte, an dessen Ausstattung ein führender Vertreter der Neugotik mitgewirkt hatte: Friedrich Wilhelm Mengelberg (1837-1919).14 Mit diesem Bildhauer arbeitete Schnütgen durch lange Zeit eng zusammen.15 Zwanzig Jahre später ließ er sich von ihm auch das Exlibris seiner „Kunstbibliothek“ zeichnen.16 Das vorgestellte Buch heißt „Neerlandia Catholica“ – „Die katholischen Niederlande“; es enthält laut dem Titel eine Gesamtdarstellung der katholischen Kirche in der „Kirchenprovinz Utrecht“ und war eine gemeinschaftliche Gabe der niederländischen Katholiken zum Goldenen Priesterjubiläum Papst Leos XIII. (1810/ 1878-1903).17 „Dieses glänzende Prachtwerk im größten Folio-Formate “ 18 nennt unser Autor es einleitend. Nachdem er kurz die Gliederung und den Inhalt des Bandes skizziert hat, lenkt er den Blick auf dessen Erscheinungsbild: „ Auf 660 Seiten entfaltet sich diese mit der größten Sorgfalt zusammengestellte Uebersicht in zweispaltigem Text, der links in Antiqua lateinisch, rechts in gothischen Buchstaben holländisch ist.“ 19 In Schnütgens Beschreibung spiegeln sich von ferne die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert geführten Auseinandersetzungen um die Bedeutung und den Gebrauch von Antiqua und Fraktur.20 Wie sehr das vorliegende „Prachtwerk “ Schnütgens künstlerischer Linie entsprach, lassen die sich ———— 13
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Dazu LEONIE VON WILCKENS, Alexander Schnütgen und die „neue Kunst“, in: Colligite fragmenta, S. 183 -187. – Zum Bucheinband des Historismus, den auch Schnütgen in der Regel vor Augen hatte, siehe: GERHARD MÜHLINGHAUS und ANNELEN OTTERMANN (Texte) – MARTIN STEINMETZ (Fotos), Historismus und Jugendstil. Verlagseinbände aus der Stadtbibliothek Mainz und der Sammlung Mühlinghaus (Veröffentlichungen der Bibliotheken der Stadt Mainz, Band 56), Mainz 2009 ( Lit.; reicher Bildteil). Zu ihm: Eine unbekannte Biographie des Bildhauers Friedrich Wilhelm Mengelberg. Mitgeteilt und erläutert von A[..] J[..] LOOYENGA, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 54 (1983), S. 189 - 210. Dazu ROLF LAUER, Alexander Schnütgen und der Kölner Dom, in: Colligite fragmenta, S. 137 - 162; ein weiteres Beispiel für die künstlerische Zusammenarbeit der beiden, nämlich ein Chorpult, bei REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult, S. 610. Dazu REUDENBACH, Exlibris- Einband – Bücherpult, S. 568 - 572. Vgl. S [=ALEXANDER SCHNÜTGEN], Bespr. von: Neerlandia Catholica sive Provinciae Ultrajectensis Historia et Conditio. Leoni XIII P. M. Quinquagesimum ab inito Sacerdotio annum explenti a. D. 1887 in festo S. Sylvestri Catholici Neerlandi pietatis causa d. d., Utrecht 1888, in: ZChK 2 (1889), Sp. 101-102. – Zu Leo XIII. siehe GEORG SCHWAIGER, Papsttum und Päpste im 20. Jahrhundert. Von Leo XIII. zu Johannes Paul II., München 1999, S. 45 - 160 mit S. 431- 447. SCHNÜTGEN, Bespr. von: Neerlandia Catholica (wie Anm. 17), Sp. 101. Ebd. Dazu CHRISTINA KILLIUS, Die Antiqua-Fraktur-Debatte um 1800 (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft, Band 7), Wiesbaden 1999.
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anschließenden Worte erkennen: „ Die typographische Ausstattung, die in scharfen und schönen Lettern, in überaus zahlreichen kleinen und großen, schwarzen und rothen gothischen Initialen, in sehr vielen und mannigfaltigen gothischen Zierstreifen, Vignetten u. s. w. besteht, genügt den höchsten Ansprüchen.“ 21 Ein bedeutendes Element der Buchausstattung sind die Bilder; auf sie kann die vorliegende Untersuchung, wie schon in der Einleitung bemerkt, leider nicht gründlicher eingehen. Im Fall der „Neerlandia Catholica “ aber wenigstens ein knapper Hinweis; der Rezensent berichtet: „Dazu kommen mehrere Farbendruckblätter, die sehr figurenreichen Weihetafeln der einzelnen Diöcesen und einiger Genossenschaften, sowie Abbildungen von Kirchen und kirchlichen Anstalten.“ 22 Schließlich nennt er die Personen, denen das geglückte Erscheinungsbild zu verdanken ist: „Diese reiche Ausstattung ist gemäß der am Schlusse beigefügten ‚Geschichte dieses Werkes‘ vornehmlich dem Typographen P[ieter] W[ilhelmus] van [de] Weyer, der auch den buchhändlerischen Vertrieb besorgt, und dem Bildhauer Wilhelm Mengelberg in Utrecht zu danken. Uebrigens haben viele kirchliche Künstler Hollands dazu mitgewirkt.“ 23 Von letzterer Feststellung ausgehend, lenkt Schnütgen den Blick über die Buchkunst hinaus allgemein auf die von der Neugotik bestimmte Situation der kirchlichkatholischen Kunst in den Niederlanden: „Daß trotzdem das Werk eine durchaus einheitliche Leistung, ist der beste Beweis für die Einmüthigkeit, mit der die bezüglichen Kräfte des Landes in technischer und stilistischer Beziehung arbeiten. Gerade diesem Umstand mögen die schönen Erfolge, welche das kleine Holland besonders im letzten Jahrzehnte auf dem Gebiete des kirchlichen Kunstschaffens errungen hat, zuzuschreiben sein.“ 24 Aufmerksamkeit verdient die von Schnütgen erwähnte Offizin des Pieter Wilhelmus van de Weyer in Utrecht. Die einschlägige Literatur verzeichnet einen Utrechter Buchhändler, Verleger, Drucker und Lithographen gleichen Namens, der allerdings schon 1880, starb.25 Wie die Verhältnisse des Utrechter Hauses im Jahre 1888, also zu der Zeit, als die „Neerlandia catholica“ erschien, bestellt waren, geht aus der vorliegenden Literatur nicht hervor. Dies hängt vielleicht auch damit zusammen, daß bei der Darstellung der Geschichte des niederländischen Buchhandels der konfessionelle Aspekt bisher kaum betrachtet worden ist. Dies bedeutet wissenschaftlich eine Lücke, denn die niederländische Gesellschaft war bis in die zweite Hälfte des ———— 21 22 23 24 25
SCHNÜTGEN, Bespr. von: Neerlandia Catholica (wie Anm. 17), Sp. 101 - 102. Ebd., Sp. 102. Ebd. Ebd. „Weyer, Pieter Wilhelmus van de; geb. Utrecht 5 april 1816, overl. Utrecht 2 Juni 1880. Werkzaam in Utrecht. Boekverkoper, drukker en uitgever, tevens lithograaf en tekenaar(?)“: PIETER A. SCHEEN, Lexicon Nederlandse Beeldende Kunstenaars 1750 - 1950, 2 Bände, ’s-Gravenhage 1969 1970, hier Band 2, S. 589.
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20. Jahrhunderts in drei sogenannte „Säulen“ gegliedert – die katholische, die protestantische und die „sozialistische“ –, also in konfessionell bzw. weltanschaulich voneinander geschiedene Lebenswelten, die für alle Bereiche und somit auch für den Buchhandel jeweils über eigene Einrichtungen verfügten.26
3. Ein Nikolausbüchlein zur Freude und Geschmacksbildung der Kinder Neben das soeben vorgestellte „glänzende Prachtwerk im größten Folio-Formate “ hat unser Autor im 6. Jahrgang seiner Zeitschrift ein „allerliebste[s] Büchlein“ gelegt.27 Es handelt sich um ein Kinderbuch über den hl. Nikolaus. Schnütgen beginnt mit den Worten: „ Als ‚Album d’Enfants‘ führt die belgische S o c i é t é d e S t . A u g u s t i n (deren zumeist in gothischem Stile so reich wie korrekt illustrirte Zeitschriften und Bücher uns hier schon wiederholt begegnet sind) das vorliegende allerliebste Büchlein ein, welches in einem recht kindlich und naiv gehaltenen Gedichte die eigenartige Sage behandelt, welche dem Fäßchen mit den 3 Kindern, dem gebräuchlichsten Attribute des heiligen Bischofs Nikolaus, zu Grunde liegen soll.“ Der einleitende Hinweis, die Société de St. Augustin folge bei der Ausstattung ihrer Druckwerke überwiegend dem „ gothischen Stile“, ist für unseren Autor charakteristisch. Ob seine Bemerkung auch für das Nikolausbüchlein selbst gilt, sagt er zwar nicht ausdrücklich; er zeigt sich aber von dessen Erscheinungsbild sehr angetan: „ Das Gedicht erscheint, mit Initialen und Vignetten glänzend ausgestattet, in französischer, russischer, deutscher und flämischer Sprache, und die 12 chromolithographischen Medaillons, die dasselbe illustriren, sind so leicht und verständlich in der Komposition, so flott und elegant in der Zeichnung, so lebendig und harmonisch in der Färbung, daß sie das Auge erfreuen und den Sinn gefangen nehmen.“ 28 Endlich kommt Schnütgen auf Einband und Schnitt des kleinen Werkes zu sprechen und schließt mit einer allgemeinen Überlegung: „ Das dazu sehr geschmackvoll kartonnirte, mit Goldschnitt versehene Büchlein stellt sich daher als ein sehr gelungener Versuch dar, der Kinderwelt, für welche die Festgaben immer glanzvoller sich gestalten, auch auf dem Gebiete der Buchillustration etwas zugleich Belehrendes, Ergötzliches und Gefälliges zu bieten in vornehmer Gewandung.“ Mit Schnütgens ———— 26
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Wir beziehen uns hier namentlich auf HANS FURSTNER, Geschichte des niederländischen Buchhandels (Geschichte des Buchhandels, Band 2), Wiesbaden 1985, und die dort verzeichnete Literatur. [=ALEXANDER SCHNÜTGEN], Bespr. von: La légende du grand saint Nicolas [ohne weitere Angaben], in: ZChK 6 (1893), Sp. 352; dort auch die folgenden Zitate. Zur Chromolithographie siehe den gleichnamigen Artikel von CLAUS W. GERHARDT, in: LGB 2 2 (1989), S. 125. Aus der Zeit Schnütgens: Lithographie, in: HERDER3 5 (1905), Sp. 867 - 868, hier Sp. 868.
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Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse der „Kinderwelt “ erfassen wir eine bezeichnende Facette seines Charakters und seines praktischen Sinns. Der große Kunstkenner und Sammler war sich nicht zu schade, für die Freude und zugleich für die geschmackliche Bildung der Kleinen zu werben. Dabei formulierte er auch eine Art von Kriterien: „Belehrend, ergötzlich, gefällig“ sollten die Bilder im Kinderbuch sein, und das Buch als Ganzes sollte sich präsentieren „in vornehmer Gewandung“.
4. Die „Prachtwerke“ über die Sammlungen Swenigorodskoï und Le Roy Ein besonderes Feld künstlerischer Buchgestaltung bildeten die Kataloge herausragender Privatsammlungen. Zu diesen gehörte die Kollektion byzantinischer Emails des russischen Staatsrats Alexander von Swenigorodskoï (1839-1903).29 Der zugehörigen „überaus glänzenden Veröffentlichung“ hat Schnütgen eine für die Verhältnisse seiner Zeitschrift lange Besprechung eingeräumt.30 Darin schreibt er einleitend: „[...] für ihre Ausstattung ist der prachtliebende Sammler eingetreten, der keine Kosten gescheut hat, um den Kodex, der dem ‚Selbstherrscher aller Reussen‘ Alexander III. gewidmet ist, auch den höchsten Glanz äußerer Erscheinung zu verleihen. In russischer, französischer und deutscher Sprache erschienen, gelangen die je 200 numerirten Exemplare nur als großmüthiges Geschenk in die Hände der Bevorzugten.“ 31 Dann lenkt unser Autor die Aufmerksamkeit seines Publikums auf das äußere Erscheinungsbild des Prachtwerks: „Der mit reicher Vergoldung geschmückte, mit buntfarbigem Schnitt versehene Lederband, die Umschlagdecke, die ihn schützt, das Lesezeichen, welches ihn ziert, sind in Bezug auf Zeichnung wie Ausführung künstlerische Leistungen ersten Ranges.“ 32 Zum Erscheinungsbild gehört aber auch, was man sieht, wenn das Buch aufgeschlagen wird. So fährt Schnütgen fort: „Ihnen vollauf ebenbürtig sind die im reichsten Far———— 29 30
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Zu ihm REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult, S. 580 Anm. 73 mit Exkurs. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: N[IKODIM P.] KONDAKOW [KONDAKOV], Geschichte und Denkmäler des byzantinischen Emails. Auf Kosten des Staatsraths A[leksandr Victorovic] von Swenigorodskoï [Zvenigorodskij] herausgegeben, Frankfurt a. M. 1892, in: ZChK 7 (1894), Sp. 127-128. Diese Besprechung ist, zusammen mit der in Anm. 35 genannten, auch herangezogen bei REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult, S. 580 -581. SCHNÜTGEN, Bespr. von: KONDAKOW, Geschichte und Denkmäler (wie Anm. 30), Sp. 128. – Eine Beschreibung des Prachtwerks und eine farbige Abbildung der Vorderseite des Einbandes jüngst in ANNELEN OTTERMANN (Text) – MARTIN STEINMETZ (Fotos), „Rara wachsen nach“. Einblicke in die Rarasammlung der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Mainz (Veröffentlichungen der Bibliotheken der Stadt Mainz, Band 55), Mainz 2008, S. 106 -107, Katalognr. 47. SCHNÜTGEN, Bespr. von: KONDAKOW, Geschichte und Denkmäler (wie Anm. 30), Sp. 128.
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bendruck hergestellten Widmungs- und Titelblätter, Initialen und Schlußvignetten, sowie die 31 Tafeln, welche fast ausschließlich in den Reproduktionen der kostbaren Sammlungsstücke bestehen, und auch die 118 in den typographisch meisterhaft behandelten Text aufgenommenen Holzschnitte sind in jeder Hinsicht tadellos.“ 33 Schließlich streift unser Autor auch die technische Genese des Werks: „ Russische Künstler und deutsche Kunstanstalten haben zusammengewirkt zu dieser ebenso einheitlichen (weil durchaus im byzantinischen Stile gehaltenen) wie glänzenden Leistung, der die Krone aufgesetzt wird durch das Porträt des Kunstmäzens, eine nicht ganz vollendete Radirung des berühmten französischen Stechers Gaillard, der über dieser Arbeit gestorben ist.“ 34 Tadel an der künstlerischen Seite solcher Prachtwerke findet sich in Schnütgens Besprechungen kaum. Umso auffallender ist seine leise Kritik an dem Erscheinungsbild einer zweiten Veröffentlichung zu der Sammlung Swenigorodskoï: „Der mit ornamentaler Vergoldung auf ’s reichste versehene, mit gemustertem Schnitt ausgestattete weiße Ledereinband erscheint fast zu opulent.“ 35 Drei Rezensionen hat der Kölner Domkapitular dem Mappenwerk über die Kunstsammlung Martin le Roy in Paris gewidmet. Darin zeigt er sich des Lobes voll: „Bis in die jüngste Zeit hinein durch die hervorragendsten Erwerbungen ergänzt, erfährt die Sammlung jetzt eine Veröffentlichung, wie sie, auf der Höhe der Technik und der Wissenschaft stehend, bisher noch nicht erreicht wurde. Das Papier stammt aus der berühmten Fabrik von Arches, die über alles Lob erhabenen Heliogravüren von Dujardin in Paris, der Druck von Durand in Chartres; Marquet de Vasselot leitet die Herausgabe [,] zu der er die allerbedeutendsten Kunsthistoriker Frankreichs herangezogen hat: Koechlin, Migeon, Metman, Leprieur. Auf diese Weise entsteht ein beschreibender und illustrierter Katalog, wie er nirgendwo seines Gleichen hat.“ 36 In der zweiten Rezension bringt unser Autor den Begriff „Ensemble“ ins Spiel; er spricht von dem „Katalog, in dem Papier, Druck, Ausstattung, vor allem Bilder und deren, von den kompetentesten Fachmännern [...] besorgten eingehenden Beschreibungen zum schönsten Ensemble sich vereinigen, [...]“ 37 „Ensemble“ bezeichnet also das ———— 33 34 35
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Ebd. Ebd. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: FRANZ BOCK, Die byzantinischen Zellenschmelze der Sammlung Dr. Alexander von Swenigorodskoï und das darüber veröffentlichte Prachtwerk. Archäologisch- kunstgeschichtliche Studie. Als Manuscript gedruckt, Aachen 1896, in: ZChK 10 (1897), Sp. 253 - 254, hier Sp. 253. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Catalogue raisonné de la Collection Martin le Roy (Moyenâge et Rénaissance: Orfèvrerie, Emaillerie, Ivoires, Sculptures, Bronzes, Mobilier, Peinture, Tapisseries), publié sous la direction de M. J[EAN-] J[ACQUES] MARQUET DE VASSELOT, Paris [in der Rez. ohne Jahresangabe], in ZChK 20 (1907), Sp. 127 - 128, hier Sp. 127. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Catalogue raisonné de la Collection Martin le Roy, publié sous la direction de M. J[EAN-] J[ACQUES] MARQUET DE VASSELOT, [Fascicule IV] Paris [in der Rez. ohne Jahresangabe], in: ZChK 21 (1908), Sp. 60.
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Zusammenstimmen der verschiedenen materiellen und geistigen Elemente des Buches – einen Sachverhalt, von welchem Schnütgen offenbar besonders angesprochen wurde. Auch in der dritten Besprechung zeigt sich der Rezensent beeindruckt von diesem Zusammenspiel; er blickt zurück auf das nun vollendete, „in jeder Hinsicht glänzende Prachtwerk, welches in erster Linie dem erleuchteten glücklichen Sammler, sodann den berufenen Verfassern, namentlich dem verdienstvollen Leiter, aber auch dem Illustrator, Drucker und Papierfabrikanten das höchste Lob spendet [...]“ 38
5. P. Stephan Beissels „Seelengärtlein“ und einige Verbindungslinien zum Kreis um Friedrich Schneider Alexander Schnütgen stand in enger Verbindung mit dem aus Aachen gebürtigen Jesuiten und Kunsthistoriker Stephan Beissel (1841-1915).39 Dessen Gebetbuch „Seelengärtlein “ stellte er 1910 vor. Die kurze Besprechung ist hauptsächlich dem Erscheinungsbild gewidmet: „Dieses in Leder mit figürlicher und ornamentaler Pressung gebundene, sogar mit Schnittverzierung versehene zierliche Gebetbüchlein bietet einen Schatz bewährter Andachtsübungen und praktischer Anleitungen in geschmackvoller Ausstattung. Diese setzt sich aus dem von Wallau besorgten altdeutschen Kunstdruck und dem typographisch mit ihm vortrefflich harmonierenden Bildwerk zusammen, welches in Zierstreifen, Vignetten, Figuren und Gruppen besteht nach Zeichnungen von Hupp im Sinne der von der Schriftgießerei Klingspor ausgeführten Stempel.“ 40 Mit der Vorstellung des Gebetbuches von Beissel schließt sich der Kreis dieses Kapitels. Schnütgen nennt nämlich drei Namen: Wallau, Hupp und Klingspor. Diese Namen evozieren die Welt des Mainzer Domherrn und Kunstgelehrten Friedrich Schneider. Wir haben mit Schnütgens Besprechung der Festschrift für Schneider begonnen – zu Schneider führt die Ausstattung des Beissel’schen Gebetbüchleins zurück. Der Mainzer Drucker ———— 38
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[ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Catalogue raisonné de la Collection Martin le Roy, publié sous la direction de M. J[EAN-] J[ACQUES] MARQUET DE VASSELOT, Fascicule V, Paris [in der Rez. ohne Jahresangabe], in: ZChK 22 (1909), Sp. 381- 382, hier Sp. 382. Zu ihm ist immer noch grundlegend JOSEPH BRAUN, Zur Erinnerung an P. Stephan Beissel S. J., in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 37 (1915), S. [319]-336 (mit Porträtphotographie und Bibliographie). Des weiteren siehe GERALD GOESCHE, Stephan Beissels, [sic!] S. J. Sicht der christlichen Kunst. Die Kunst – Vermittlerin des Glaubens, Aachen 1997. – Ein Hinweis auf die Verbindung Schnütgens mit Beissel bei REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult, S. 582 Anm. 78. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: STEPHAN BEISSEL, Seelengärtlein. Katholisches Gebetbuch, Freiburg im Br. 1910, in: ZChK 23 (1910), Sp. 96. Diese Besprechung ist auch herangezogen bei REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult, S. 582.
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Heinrich Wallau (1852- 1925) 41 war einer der vertrautesten Freunde Friedrich Schneiders; beide haben auch auf dem Gebiet der Druckkunst engstens zusammengearbeitet.42 Der Schriftkünstler und Heraldiker Otto Hupp (1859-1949) 43 stand ebenfalls in Beziehungen zu Schneider; dieser verfaßte die Einleitung zu dem Musterbuch der von Hupp geschaffenen Schrift „Liturgisch“ – ein Buch, das später von Schnütgen rezensiert wurde.44 Die Schriftgießerei Klingspor 45 in Offenbach arbeitete ihrerseits mit Wallau, Hupp und Schneider zusammen. Schnütgens Miniaturbesprechung des Gebetbuches von P. Stephan Beissel S.J. erhellt also wie ein Schlaglicht einige Verbindungslinien auf dem Gebiet der Buchkunst im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.
III. Ein Mosaik kleinerer Bemerkungen aus allen Jahrzehnten von Schnütgens Zeitschrift 1. Schnütgens gleichbleibende Aufmerksamkeit für das Erscheinungsbild der Bücher Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als werde im Folgenden ein Zettelkasten ausgeschüttet; der Sinn des Puzzlespiels wird sich aber Schritt für Schritt herausschälen. Das Ergebnis ist ein Mosaik: viele kleine Elemente fügen sich, Steinchen um Steinchen, zu einem gewissen Bild. Die Äußerungen Schnütgens, die hier gesammelt wurden, sind allesamt knapp, manchmal unscheinbar. Aber namentlich in den k l e i n e n Rezensionen kommt es auch auf die k l e i n e n Bemerkungen an. Und vor allem: sie stammen aus allen Jahrzehnten, in denen der Kölner Domkapitular die „Zeitschrift für christliche Kunst “ führte. Aus ihnen ergibt sich, daß Schnütgen während dieser ganzen Zeit in unterschiedlichen Zusammenhängen das Erscheinungsbild des Buches niemals aus dem Auge verloren hat. ———— 41
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Zu ihm ANNEMARIE MEINER, Der Drucker Heinrich Wallau. Ein Lebensbild, in: GutenbergJahrbuch 12 (1937), S. 239 - 251. Ihre Zusammenarbeit harrt noch einer gründlichen Darstellung; einige Bemerkungen dazu bei REUDENBACH, Friedrich Schneider, S. 226- 228. Abbildungen von Druckerzeugnissen Wallaus finden sich über den ganzen Jubiläumsband von HINKEL (wie Anm.7) verteilt. Zu ihm F[RIEDRICH] A[DOLF] SCHMIDT-KÜNSEMÜLLER, Hupp, Otto, in: LGB 2 3 (1991), S. 556 557 (Lit.). Zu Schneiders Einleitung siehe REUDENBACH, Friedrich Schneider, S. 212 - 217; dort ist S. 214 auch die Besprechung Schnütgens herangezogen. Zu ihr S[IGLINDE] HOHENSTEIN, Klingspor, Gebr., in: LGB 2 4 (1995), S. 241.
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2. Verschiedenste Aspekte des Erscheinungsbildes 1890 hob er an einem Buch die „387 mit rothen Linien eingefaßten Seiten“ hervor 46, 1897 nannte er bei einem anderen die „typographische Ausstattung geradezu musterhaft “.47 Ebenfalls 1897 gedachte er der „ mannigfaltigen poesievollen Illustrationsbilder “ des Malers Edward von Steinle (1810-1886) 48, und zu dem neuen Periodikum „Wandern und Reisen. Illustrirte Zeitschrift für Touristik, Landes- und Volkskunde, Kunst und Sport“ bemerkte er 1902: „Das I. Heft, welches durch seine brillante Anordnung und Ausstattung sofort kaptivirt, fesselt durch die Beschreibung von Delhi, wie der Genofevaburg in Mayen, und die zahlreichen weiteren Beschreibungen, Erzählungen, Berichte, die sich anschließen, fast sämmtlich durch gute Zeichnungen oder photographische Aufnahmen erläutert oder erheitert, sind aktuell und spannend.“ 49 Die Spalten des Textbandes zu den Bildermappen schlesischer Kunstdenkmäler lobte er 1903 mit den Worten: „Diese beschreiben in musterhafter typographischer Anordnung die einzelnen Tafeln [...]“ 50 1905 berichtete er über die „Geschichte der deutschen Kunst“ des Aachener Museumsdirektors Hermann Schweitzer, sie präsentiere sich „mit der Mayer’schen Plakette des Großherzogs von Baden als Widmungsbild, und in einem einfachen, aber gut dekorierten Kalikoeinband.“ 51 Im gleichen Jahr begeisterte ihn das Erscheinungsbild des Katalogs der Sammlung des Freiherrn Albert von Oppenheim (1834-1912) zu Köln: „Ein so vornehm wie solid gebundener P r a c h t k a t a l o g in Folio bringt dieselbe auf 136 Seiten, denen 100 v o r t r e f f l i c h e H e l i o g r a v ü r e n beigefügt ———— 46
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H[ERAUSGEBER][=ALEXANDER SCHNÜTGEN], Bespr. von: L[OUIS] CLOQUET, Eléments d’Iconographie Chrétienne. Types symboliques, Lille 1890, in: ZChK 3 (1890) Sp. 39 - 40, hier Sp. 39. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Katalog der Freiherrlich von Lipperheide’schen Sammlung für Kostümwissenschaft. III. Abtheilung: Büchersammlung, 1. Halbband, Berlin 1897, in: ZChK 10 (1897), Sp. 223 - 224, hier Sp. 224. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: EDWARD VON STEINLE, Briefwechsel mit seinen Freunden. Hrsg. und durch ein Lebensbild eingeleitet von ALPHONS MARIA VON STEINLE, 2 Bände, Freiburg im Br. 1897, in: ZChK 10 (1897), Sp. 390 - 392, hier Sp. 391. – Zu Steinle als Buchillustrator siehe H[ENNING] WENDLAND, Steinle, Eduard (Edward) Jakob von, in: LGB 2 7 (2007), S. 235 - 236 (mit 1 Abb.). [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Wandern und Reisen [...], Düsseldorf 1903, in: ZChK 15 (1902[!]), Sp. 350. – Die neue Zeitschrift kam 1903 im Verlag Schwann heraus, der auch Schnütgens „ Zeitschrift für christliche Kunst “ betreute. Die Besprechung erschien bereits Ende 1902. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: HANS LUTSCH (Bearb.), Bilderwerk Schlesischer Kunstdenkmäler. Drei Mappen – Ein Textband, Breslau 1903, in: ZChK 16 (1903), Sp. 94 - 96, hier Sp. 96. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: HERMANN SCHWEITZER, Geschichte der deutschen Kunst von den ersten historischen Anfängen bis zur Gegenwart, Ravensburg 1905, in: ZChK 18 (1905), Sp. 29 - 30, hier Sp. 29. – Zu dem erwähnten Einbandstoff siehe E[RNST]-P[ETER] BIESALSKI, Kaliko, in: LGB2 4 (1995), S. 130.
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sind, alles mit französischem esprit und in französischer Eleganz.“ 52 Ebenfalls 1905 erschien „Die Bibel in der Kunst. Nach Original-Illustrationen erster Meister der Gegenwart “; den Bildern waren Bibeltexte beigegeben. Dazu notierte Schnütgen: „Welchen Textsatz der Künstler farbig wiedergegeben hat, zeigt anschaulich der bezügliche Sperrdruck.“ 53 Bei einem liturgischen Lehrbuch begrüßte er die Abbildungen alter Kunstwerke, fügte aber mit leiser Kritik hinzu, den „alten Originalen“ sei „auch größerer Einfluß auf die Gestaltung der Vignetten zu gönnen.“ 54
3. Schnütgens Blick für praktische Bedürfnisse Die starke Ausrichtung unseres Autors auf die Praxis spiegelt sich in der Rezension einer Brevierausgabe aus dem Jahre 1908: „Diese neue [...] Auflage zeichnet sich durch sehr scharfe Typen aus, die trotz des mäßigen Buchumfanges und des selbst auf der Reise handsamen Formates, für jedes irgendwie normale Auge genügen. Daß diese knappe Fassung kein Hindernis gewesen ist für die übersichtliche Anordnung und für die elegante Ausstattung, darf als ein weiterer Vorzug bezeichnet werden. [...] Der biegsame Rücken und die abgerundeten Schnittecken erleichtern den Gebrauch des in jeder Hinsicht zu empfehlenden Breviers.“ 55 Wegen des zeitlichen Zusammentreffens halten wir hier fest, daß unser Autor im selben Jahr 1908 auch auf die wachsende Vervollkommnung des Buches „Die Renaissance in Italien“ von Anton Springer (1825-1891) hinwies; über die Ausstattung teilte er mit, sie habe unter anderem „durch die Einführung des Kunstdruckpapiers [...] erheblich gewonnen.“ 56 Sein Lob für ein ebenfalls 1908 von Schwann in Düsseldorf verlegtes Choralbuch begründete er mit den Worten: „Dasselbe zeichnet sich durch vortreffliche Ausstattung aus, die nicht nur in der ungemein klaren Anordnung, ———— 52
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[ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: EMILE MOLINIER, Collection du Baron Albert Oppenheim. Tableaux et objects d’art. Catalogue précédé d’une introduction, in: ZChK 18 (1905), Sp. 126 127, hier Sp. 126. – Zu dem Tiefdruckverfahren der Heliogravüre siehe B[..] SCHULZ, Heliogravüre, in: LGB2 3 (1991), S. 436. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Die Bibel in der Kunst. Nach Original-Illustrationen erster Meister der Gegenwart. Erläuternder Bibeltext von AUGUSTIN ARNDT, Mainz 1905, in: ZChK 18 (1905), Sp. 255. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: ANDREAS SCHMID, Caeremoniale für Priester, Leviten, Ministranten und Sänger. Dritte vermehrte Aufl., Kempten 1906, in: ZChK 19 (1906), Sp. 314. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Breviarium Romanum. Editio quinta post alteram typicam S[acrae] Rit[uum] Congr[egationis], Regensburg 1908, in: ZChK 21 (1908), Sp. 91; auch herangezogen bei REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult, S. 582. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: ANTON SPRINGER, Handbuch der Kunstgeschichte, Band 3: Die Renaissance in Italien. 8. Aufl., bearb. von ADOLF PHILIPPI, Leipzig 1908, in: ZChK 21 (1908), Sp. 93.
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sondern auch in dem künstlerischen Schmuck besteht. Mit der sehr deutlichen weil scharfen Antiquaschrift gehen die vereinzelten romanischen Majuskeln und die ihnen angepaßten Vignetten, wie die mannigfaltigen Ornamentborten vorzüglich zusammen, während die kleineren sehr markanten Initialen, die alle Seiten beleben, die Übersicht erleichtern.“ 57
4. Abrundung des Bildes in den späten Jahren 1911 besprach er die 18. Auflage des erfolgreichen Buches „Die heilige Elisabeth“ von Alban Stolz (1808-1883). Er fand, daß „die 12 Tafelbilder in kräftiger Holzschnittmanier “ das Lebensbild gut unterstützten und schloß: „ Die ziemlich groß und spurig gedruckten, grün eingefaßten Spiegel geben ein etwas feierliches Gepräge dem beliebten Buche, welches dadurch zu einer Art Festgeschenk gestempelt wird.“ 58 Im Jahr 1912 zeigte er die „Nachfolge Christi “ in einer neuen Ausgabe an von „ höchst ansprechender Ausstattung, sowohl durch die Beigabe der bekannten ungemein anschaulichen und erbaulichen Zeichnungen Führichs, wie durch den sehr geschmackvollen ledergepreßten Einband mit der Figur des kreuztragenden Heilandes.“ 59 Ein beträchtliches Echo fand seinerzeit auch das Buch „ Mehr Freude “ des Rottenburger Bischofs Paul Wilhelm von Keppler (1852-1926). Im Jahr 1913 stellte Schnütgen die sog. „Feine Ausgabe“ vor, das 76. bis 78. Tausend „in grünem Kaliko mit feinem Golddruck “, und urteilte: „ Das Buch, das 1909 als Ostergruß zuerst erschien, bald überall Anerkennung findend und Freude verbreitend, erscheint hier in besonders vornehmem Gewande, in dem es auch dem verwöhntesten Bibliophilen genügen dürfte.“ 60 Da Fritz Witte (1876-1937), Schnütgens rechte Hand, während des Ersten Weltkrieges zum Kriegseinsatz eingezogen war, lastete die Redaktion der „Zeitschrift für christliche Kunst “ wieder ganz auf dem alten Domherrn. Schon ———— 57
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[ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Graduale Sacrosanctae Romanae Ecclesiae De Tempore et de Sanctis [...], Editio Schwann, Düsseldorf 1908, in: ZChK 21 (1908), Sp. 191. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: ALBAN STOLZ, Die heilige Elisabeth. Ein Buch für Christen. 18. Aufl. – Mit 12 Bildern. Feine Ausgabe, Freiburg im Br. 1911, in: ZChK 24 (1911), Sp. 321. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: THOMAS VON KEMPEN, Das Buch von der Nachfolge Christi. Übersetzt von Bischof JOHANN MICHAEL SAILER, neu hrsg. von FRANZ KELLER, Freiburg im Br. [in der Rez. ohne Jahresangabe], in: ZChK 25 (1912), Sp. 384. – Zu Joseph Ritter von Führich (1800 - 1876) als Buchillustrator siehe RED[AKTION], Führich, Joseph von, in: LGB2 3 (1991), S. 71. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: PAUL WILHELM VON KEPPLER, Mehr Freude. 76. bis 78. Tausend. Feine Ausgabe, Freiburg im Br. [in der Rez. ohne Jahresangabe], in: ZChK 26 (1913), Sp. 348.
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Hermann-Josef Reudenbach
aus diesem Grunde verwundert es nicht, daß dessen Buchbesprechungen oft noch knapper als früher ausfielen. Dennoch schaute Schnütgen auch weiterhin auf das Erscheinungsbild der Bücher. Nicht zuletzt der geistigen Situation aufgrund des Krieges war es wohl geschuldet, daß er mehrmals die Bändchen „Tiefer und treuer. Schriften zur religiösen Verinnerlichung und Vertiefung“ anzeigte. Auch dabei gedachte er der Ausstattung: „[...] die Anwendung zweifarbigen Druckes und Einfügung trefflich gezeichneter Vignetten verstärken den Eindruck der gefälligen Bändchen [...]“ 61 Als 1917 eine Notenausgabe der vier marianischen Antiphonen „Alma Redemptoris Mater “, „ Ave Regina Coelorum “, „Regina Coeli“ und „Salve Regina “ für die häusliche Abendandacht erschien, resümierte Schnütgen: „ Durch die Schärfe und Schönheit des Druckes wie der ganzen Ausstattung bilden sie zugleich einen Genuß für das Auge.“ 62 Ein treuer Rezensent war Schnütgen dem Kalender „ Altfränkische Bilder“.63 1917, als er ihn zum vorletzten Mal besprach, schloß er mit den Worten: „Text und Illustration, von einer ringsumlaufenden gelblichen Barockborte eingefaßt, ergänzen sich wiederum vortrefflich.“ 64 An dieser Borte bewährte sich abermals Schnütgens Blick für das sprechende Detail im Erscheinungsbild des Buches. Den Stempel der Kriegszeit trug wieder ein kurioser Band, dessen Rezension wir als letzte für dieses Kapitel auswerten: „Der Wehrstand im Volksmund. Eine Sammlung von Sprichwörtern, Volksliedern, Kinderreimen und Inschriften an deutschen Waffen und Geschützen. Mit 9 Holzschnitten von JOST AMMAN 1573, Militärische Verlagsanstalt in München 1917.“ Wie schon so oft, setzte unser Autor bei dem Erscheinungsbild an: „Text und Bildwerk vereinigen sich hier zu einem Prachtband, dessen berühmte Landsknechts-Medaillons zu den Schwabacher Lettern und ihren Verzierungen eine ungemein gefällige, für unsere Tage besonders ansprechende Illustration bilden.“ 65 Schnütgens Persönlichkeit schimmert in der Zusammenfassung ———— 61
62
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[ANONYM =ALEXANDER SCHNÜTGEN], Bespr. von: FRANZ WEISS, Tiefer und treuer. Schriften zur religiösen Verinnerlichung und Erneuerung, Band 1- 3, Einsiedeln 1916, in: ZChK 29 (1916) S. [nicht mehr Spalte!] 47- 48, hier S. 48. – Daß diese Buchanzeige von Schnütgen stammt, ist schon wegen der Diktion nicht zu bezweifeln. Außerdem steht sie mitten in einer längeren Reihe von Kurzbesprechungen, die alle jeweils mit der Sigle „S.“ gezeichnet sind. Auch die Anzeigen der späteren Bändchen tragen die Sigle „S.“; vgl. ZChk 29 (1916), S. 64; ZChK 30 (1917), S. 16; ZChK 31 (1918), S. 80. – Was die Ausstattung betrifft, so wird diese auch in den drei letztgenannten Anzeigen wenigstens mit einem Wort gestreift. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Die Marianischen Schlußantiphonen. Nach der Benediktinersingweise begleitet für Klavier oder Harmonium von P. WILLIBRORD BALLMANN, Trier 1917, in: ZChK 30 (1917), S. 60. Vgl. REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult, S. 582-583 Anm. 81. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Altfränkische Bilder 1917. Mit erläuterndem Text von THEODOR HENNER, Würzburg [...], in: ZChK 30 (1917), S. 80. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Der Wehrstand im Volksmund. Eine Sammlung von Sprichwörtern, Volksliedern, Kinderreimen und Inschriften an deutschen Waffen und Geschützen.
Alexander Schnütgen und das Erscheinungsbild der Bücher
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gegen Ende durch: „Für das Auge ein Genuß, für das Ohr eine Wonne, für das Gemüt eine wahre Erfrischung, für die Lachmuskeln eine willkommene Anregung, [...]“ 66
5. Ertrag des Quellenmaterials Das in diesem Kapitel gebotene „Puzzlespiel“ läßt keinen Zweifel: unseren Autor hat das Erscheinungsbild der Bücher in seinen verschiedenen Aspekten über Jahrzehnte hin gleichbleibend angezogen. Kaum zu zählen sind die Buchbesprechungen, in denen er nicht wenigstens ein Wort darüber fallen ließ. Gewiß wiederholen sich einige Bemerkungen, gelegentlich wirken sie stereotyp. Aber auch in solchen Fällen muß man gut nachschauen, ob die Wiederholung durch das besprochene Buch erzwungen wurde, oder ob sie der Überlastung, Ermüdung, Flüchtigkeit des Rezensenten zuzuschreiben ist. In allen Jahrzehnten der „Zeitschrift für christliche Kunst “ hat Alexander Schnütgen nicht zuletzt durch seine Buchbesprechungen die Rolle eines Anwalts angemessener Buchausstattung ausgeübt und einem kultivierten Erscheinungsbild der Bücher das Wort geredet.
Beilage: Schnütgens Blick auf Antiquariatskataloge Unser Kölner Domherr, Kunstsammler und Bücherfreund hat aufmerksam Antiquariatskataloge 67 studiert. Davon legen Zeugnis ab die sieben oder acht Kurzbesprechungen, mit denen er zwischen 1892 und 1916 in der „Zeitschrift für christliche Kunst “ solche Kataloge vorstellte.68 Allerdings beschäftigen sich diese kleinen Arbeiten – ausgenommen die Anzeige eines Katalogs der Firma Joseph Baer & Co. in Frankfurt 69 – ausschließlich mit Verzeichnissen, die von den Münchener Antiquaren Ludwig Rosenthal ———— 66 67 68
69
Mit 9 Holzschnitten von JOST AMMAN 1573, München 1917, in: ZChK 30 (1917), S. 108. – Zu den „ Schwabacher Lettern“ siehe H[ELMUT] BUSKE, Schwabacher, in: LGB2 7 (2007), S. 11-12. Ebd. Dazu F[RIEDER] KOCHER-BENZING, Antiquariatskatalog, in: LGB2 1 (1987), S. 107. Wir sagen „sieben oder acht“, weil e i n e Besprechung mit der nicht ganz eindeutigen Sigle „B.“ gezeichnet ist. Es handelt sich um die Kurzrezension von: JACQUES ROSENTHAL in München, Katalog XLV: Ex-Libris, in: ZChK 21 (1908), Sp. 224; dazu REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult, S. 571-572 mit Anm. 41 und 42. Zu dieser Firma E[BERHARD] HENZE, Baer, Joseph, & Co., in: LGB 2 1 (1987), S. 218 - 219; ebd. vier weitere Artikel desselben Autors über einzelne Mitglieder der Familie Baer. Siehe auch HOMEYER, Deutsche Juden, S. 27 - 28, auch S. 29 - 31.
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Hermann-Josef Reudenbach
(1840 - 1928) 70 und Jacques Rosenthal (1854- 1937) 71 herausgebracht worden waren. 1892 präsentierte Schnütgen Ludwig Rosenthals Katalog 90 mit Inkunabeln, frühen Holzschnitten und Kupferstichen.72 Einleitend bemerkte er: „Ein buchhändlerisch-antiquarischer Lagerkatalog in Folio, der 234 Nummern und zu denselben 102 große Abbildungen enthält, erscheint schon hierdurch als eine große Merkwürdigkeit [...]“ 73 Bei diesen Worten sollte man sich bewußt machen, daß der Begriff „merkwürdig“ damals noch nicht die Bedeutung von „seltsam“ hatte, sondern wirklich bedeutete: „des Merkens, der Aufmerksamkeit würdig“. Es war ein großes Lob, das unser Autor dem Katalog im Folioformat spendete. Er ordnete ihn dann in einen größeren Zusammenhang ein: Die Veröffentlichung sei „ein glänzender Beweis, bis zu welchem Maße mit dem verhältnißmäßig noch sehr jungen Interesse für alte Drucke und ihre Ausstattung der antiquarische Geschäftsbetrieb gleichen Schritt gehalten hat.“ 74 In diesem Betrieb sah Schnütgen den Münchener Antiquar in einer ambivalenten Stellung: „ An der Spitze desselben schreitet in Deutschland Ludwig Rosenthal, der sich um die Aufspürung und Bearbeitung der alten Kunstdrucke unverkennbare Verdienste erworben, freilich auch die Preise maßlos gesteigert hat.“75 Der vorliegende Katalog sei Rosenthals „glänzendste Veröffentlichung“.76 Nach einigen Angaben zum Inhalt des Katalogs kam Schnütgen zu folgendem Schlußurteil: „Wer den Grad der Seltenheit von manchen hier zum Kauf angebotenen Kunstdrucken kennt, kann nur staunen, daß sie hier in solcher Anzahl auf den Markt gebracht und sich nur freuen, daß sie vor ihrer Zersplitterung in einer so eingehenden Weise katalogisirt werden.“ 77 Mit diesen Worten sprach er aus, worin der wissenschaftliche und allgemein-kulturelle Wert solcher aufwendigen Antiquariatskataloge bestand und besteht. Auch bei dem Katalog 100 desselben Antiquars, den er 1899 anzeigte, sah unser Autor einen Zusammenhang zwischen der reichen Ausstattung ———— 70
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73 74 75
76 77
Zu ihm B[..] KITZINGER, Rosenthal, Ludwig, in: LGB2 6 (2003), S. 374 - 375; ferner HOMEYER, Deutsche Juden, S. 31 - 34. Zu ihm K[ARL] GUTZMER, Rosenthal, Jacques, in: LGB2 6 (2003), S. 374; ferner HOMEYER, Deutsche Juden, S. 31 - 34. Vgl. S [= ALEXANDER SCHNÜTGEN], Bespr. von: Incunabula xylographica et chalcographica. Katalog 90 von LUDWIG ROSENTHAL’S Antiquariat in München, München, Buch- und Kunstdruckerei Knorr & Hirth [in der Rez. ohne Jahresangabe], in: ZChK 5 (1892), Sp. 390. – Laut Angabe am Kopf der Besprechung kostete der Katalog den ansehnlichen Betrag von „10 Mark“. Ebd. – Zum Format des Katalogs siehe S[EVERIN CORSTEN], Folio, in: LGB2 2 (1989), S. 627. SCHNÜTGEN, Bespr. von: Incunabula xylographica (wie Anm. 72). Ebd. – Einen anderen Akzent setzt HOMEYER, Deutsche Juden, S. 32; er hebt neben Ludwig Rosenthals wissenschaftlicher Bedeutung auch dessen „anständige Geschäftsbedingungen“ hervor. SCHNÜTGEN, Bespr. von: Incunabula xylographica (wie Anm. 72). Ebd.
Alexander Schnütgen und das Erscheinungsbild der Bücher
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und dem kostbaren Angebot, während er seine Reserviertheit gegenüber Rosenthals Preisen dieses Mal eher verhüllt – oder soll man sagen: leicht ironisch? – zu erkennen gab: „ Katalog 100 von Ludwig Rosenthals’s Antiquariat in München verräth schon durch seine Ausstattung, die in einem Farbendruck (der Reproduktion eines prächtigen Ledermosaikbandes) und in 126 Illustrationen bez[iehungs]w[eise] Faksimiles besteht, nicht minder durch seine Preise, den Reichthum und wissenschaftlichen Werth seines Inhalts, [...]“ 78 Das Angebot umfaßte 2027 Nummern. Schnütgen wies darauf hin, daß es durch ein allgemeines Register und ein Register der Druckorte erschlossen sei, und betonte damit wiederum den bleibenden Wert solcher Kataloge im allgemeinen und dieses „ ungewöhnlichen Geschäftskatalogs “ 79 im besonderen. In der dritten Besprechung, die sich mit Ludwig Rosenthals Antiquariat beschäftigt, stellte Schnütgen 1903 dessen Katalog 105 vor.80 Abermals verdient der Einleitungssatz unsere Aufmerksamkeit: „ Dieser 2000 Nummern umfassende, lehrreiche Inkunabeln-Katalog ist streng chronologisch geordnet, indem nach Maßgabe der Zeit, in der sie sich der Buchdruckerkunst bemächtigt haben, die L ä n d e r aufgeführt werden, innerhalb derselben die S t ä d t e und in ihnen die B u c h d r u c k e r , so daß hier eine, in dieser lehrreichen Form wohl zuerst versuchte, Entwicklungsreihe dargestellt wird.“ 81 Für Schnütgen ist charakteristisch, daß ihn an diesem Katalog besonders die darin vorgeführte „ Entwicklungsreihe “ ansprach; auch in seiner Kunstsammlung strebte er ja danach, bestimmte Gegenstände oder Motive in derartigen Reihen zu präsentieren.82 Ohne daß der Begriff „Entwicklungsreihe“ selbst erscheint, begegnet uns dieser Gedanke auch in Schnütgens letzter Besprechung eines Antiquariatskatalogs, erschienen im Kriegsjahr 1916 und gewidmet dem Katalog 76 von Jacques Rosenthal, dem jüngeren Bruder Ludwigs.83 Neben Handzeichnungen enthielt dieses Angebot vierzig Miniaturen des 12. bis 16. Jahrhundert ———— 78
79 80
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83
[ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: [Katalog 100 von LUDWIG ROSENTHAL’S Antiquariat in München], in: ZChK 12 (1899), Sp. 224. Die Besprechung entbehrt der sonst vorangestellten bibliographischen Angaben. – Dieser Katalog kostete immerhin „6 Mark“. Ebd. Vgl. [ALEXANDER] SCHNÜTGEN, Bespr. von: Wiegen-Drucke und Bibliographie der vor 1501 gedruckten Bücher. Katalog CV von LUDWIG ROSENTHALS’S Antiquariat in München [ohne Preisangabe für den Katalog], in: ZChK 16 (1903), Sp. 63- 64. Ebd., Sp. 63. Vgl. z.B. ULRICH BOCK, Sammlungskonzeptionen und didaktisches Schrifttum zum SchnütgenMuseum in der Zeit seines Gründers und Fritz Wittes, in: Colligite fragmenta, S. 269 - 282, vor allem S. 269 - 275. Vgl. S [=ALEXANDER SCHNÜTGEN], Bespr. von: JACQUES ROSENTHAL, München, Katalog LXXVI: Pergamentminiaturen des XII. bis XVI. Jahrhunderts, Handzeichnungen des XV. bis XVII. Jahrhunderts, in: ZChK 29 (1916), S. [nicht Sp.] 96. – Leider ist der Preis des Katalogs nicht genannt; die Angabe wäre wertvoll im Blick auf die Kriegszeiten, in denen der Katalog erschien.
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auf Pergament, die irgendwann einmal aus ihren Kodizes herausgetrennt worden waren. Auf letzteren Sachverhalt ging unser Autor aber nicht ein; er lenkte die Aufmerksamkeit seiner Leserschaft vor allem darauf, „ daß hier ein Überblick gegeben wird über die ganze Entwicklung der M i n i a t u r in den Kulturländern, nach dem großen byzantinischen Vorspiel.“ 84 Neben dem Gesichtspunkt der „ Entwicklung “ hob er die „Wichtigkeit “ der Buchmalerei überhaupt hervor, „dieses bislang (auch in Deutschland) vernachlässigten Kunstzweiges “; er sah ihre Bedeutung „auch in der Förderung, welche die Ikonographie durch sie erfahren hat als die ergiebigste Quelle ihrer Entfaltung, deren Feststellung noch lange das nobile officium [die vornehme Pflicht. Rb.] der Kunstwissenschaft bleiben wird, vornehmlich durch die Durchforschung der Kodizes.“ 85 Mit diesen Worten markierte Schnütgen eine Forschungsaufgabe im Schnittfeld von allgemeiner Kunstgeschichte, christlicher Ikonographie und Buchwissenschaft. Über Jacques Rosenthals Kataloge im Allgemeinen urteilte Schnütgen 1915: „Die Geschäftskataloge von Jacques Rosenthal genießen längst einen guten Ruf [...]“ 86 Dafür waren maßgebend sowohl das qualitätvolle Angebot als auch der wissenschaftliche Wert dieser Veröffentlichungen. Eine Reserviertheit gegenüber den Preisen der Objekte ließ Schnütgen bei J a c q u e s Rosenthal nicht erkennen. In der Besprechung von 1915 erwähnte er nur im Vorübergehen, daß der Kreis der möglichen Käufer aus den „leistungsfähigen Bücherliebhabern “ bestehe.87 Abschließend sei noch der Anzeige aus dem Jahr 1897 von Rosenthals Katalog 7 gedacht.88 Hübsch und für Schnütgen charakteristisch ist darin das Schlußurteil: „ sehr viel Begehrenswertes für den Kulturhistoriker, Liturgiker, Sammler von alten Drucken und Buchillustrationen, für jeden ernsten Bücherliebhaber.“ 89 Die zu Beginn dieses Kapitels bereits erwähnte Besprechung des Katalogs 419 der Firma Joseph Baer & Co. in Frankfurt am Main ist nur eine ———— 84 85 86
87 88
89
Ebd. Ebd. S [=ALEXANDER SCHNÜTGEN], Bespr. von: JACQUES ROSENTHAL, Hofantiquar Sr. Majestät des Kaisers, in München, Kataloge LXVI bis LXX: Illustrierte Bücher des XV. bis XIX. Jahrhunderts, insbesondere Holzschnittwerke des XV. und XVI. Jahrhunderts; Katalog LXXI: Graphik des XV., XVI. und XVII. Jahrhunderts. Holzschnitte, Kupferstiche, Radierungen, in: ZChK 28 (1915), S. [nicht Sp.] 68. – Die ersten fünf Kataloge, in Leinen gebunden, kosteten „ M. 12 “, der Katalog 71 war für „ M. 3 “ erhältlich. – HOMEYER, Deutsche Juden (wie Anm. 69), S. 32 Anm. 7, zählt die Kataloge 66 bis 70 zu denjenigen Verzeichnissen Jacques Rosenthals, die „besonders hervorragten“. SCHNÜTGEN, Bespr. von: JACQUES ROSENTHAL, Kataloge LXVI bis LXXI (wie Anm. 86). D[ER] H[ERAUSGEBER] [=ALEXANDER SCHNÜTGEN], Bespr. von: [Der antiquarische Katalog 7], in: ZChK 10 (1897), Sp. 192. Die Besprechung entbehrt der sonst vorangestellten bibliographischen Angaben; auch der Preis ist nicht genannt. Ebd.
Abbildungen zum Beitrag Knopp
I
Abb. 2: Krönungsornat, sog. Clementina. Inszenierung im Gardensaal von Schloss Augustusburg in Brühl während der Ausstellung anlässlich des 300. Geburtstages von Kurfürst Clemens August, MaiOktober 2000. (Foto: Jürgen Gregori, LVR Amt für Denkmalpflege im Rheinland)
Abb. 3: Einzug des Kurfürsten Clemens August in Frankfurt am 22. Januar 1742. Kolorierter Kupferstich aus dem Diarium Karls VII., pag. 274, bez.: I.N. Lentzner, delin./M. Rößler fecit. Historisches Museum Frankfurt
II
Abbildungen zum Beitrag Knopp
Abb. 6: Verherrlichung des Kaisertums Karls VII. Ausschnitt aus dem Deckenfresko von Carl Carlone im Gardensaal von Schloss Augustusburg in Brühl (Foto: Florian Monheim)
Abbildungen zum Beitrag Schock-Werner
III
Abb. 14: Modell für ein Podest in der Vierung 1992. Die hellen Flächen sollten das Fußbodenmosaik aufnehmen, das vom Boden gelöst und höher wieder verlegt werden sollte. Dombauarchiv Köln
Abb. 15: Das von Hans-Georg Lippert entworfene 1996 aufgestellte Podest mit einer Separierung von Kathedra und Kanzel. Dombauarchiv Köln
IV
Abbildungen zum Beitrag Schock-Werner
Abb. 16: Vierungspodest seit 1998, auf dem hölzernen Podest sind alle Elemente zusammen gefasst. Dombauarchiv Köln
Abbildungen zum Beitrag Helbach
V
Schluss eines Briefs von Peter Klein an Willi Hausen (11.11.1941), schließend mit „In Treue! Dein Peter“. Unten eigenhändiger Gruß der Mutter („Einen recht schönen Gruß u. beste Wünsche sendet Ihnen Frau P. Klein.“) und dazwischen eigenhändiger Gruß von ND-Freund „Josef “ (Miebach)
Die Karteikarte, auf der die Behörde 1943 die Vermögenseinziehung der für die Deportation vorgesehenen Berta Klein dokumentierte
VI
Abbildungen zum Beitrag Helbach
Mit dieser Antwort (unten, handschriftlich) verwischte der Generalvikar nach dem Tod von Peter Klein 1944 die Spur zu dessen Mutter (zum Wortlaut siehe unten)
Abbildungen zum Beitrag Oepen
VII
Abb. 2: Glückwunschadresse für Johann Baudri (1877), Buchdeckel vorne (Detail); AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, Einband
VIII
Abbildungen zum Beitrag Oepen
Abb. 3: Glückwunschadresse für Johann Baudri (1877), Widmungstext; AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 1
Abb. 4: Glückwunschadresse für Johann Baudri (1877), Glückwunschtext; AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 2
Abbildungen zum Beitrag Oepen Abb. 5: Glückwunschadresse für Johann Baudri (1877), Seite mit Widmungstext, Detail (s. Abb. 3); AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 1
IX
X
Abbildungen zum Beitrag Oepen Abb. 6: Detail aus Glückwunschadresse für Johann Baudri (1877), Seite mit Glückwunschtext, Detail (s. Abb. 4); AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 2
Abbildungen zum Beitrag Oepen
XI
Abb. 7: Glückwunschadresse für Baudri (1877), Blatt der Pfarrgemeinde St. Jakob mit Unterschriften von Klerus, Kirchenvorstands- und Gemeindevertretungsmitgliedern; in der Initiale „D“ der Westbau von St. Georg am Waidmarkt; AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 15
Abb. 8: Glückwunschadresse für Baudri (1877), Blatt der Bürgergesellschaft mit dem Portärt des Glasmalers Friedrich Baudri und dem Haus Am Domhof 8 (Ausschnitt) sowie Blatt des Vereins für christliche Kunst mit dem Erzbischöflichen Museum in der Thomaskapelle (Ausschnitt); AEK, Nachlass Joh. Anton Friedr. Baudri, Grußadresse, fol. 43, 36
XII
Abbildungen zum Beitrag Peters
Abb. 1: Gemälde des Kapellenplatzes um 1706. Es zeigt links Herbergen („de halve maen“, der Halbmond), die Gnadenkapelle, die Kerzenkapelle und im Hintergrund links das Kloster der Oratorianer. Im Vordergrund das Hagelkreuz, zu dem die Gottesmutter einen Gnadenstrahl sendet
Abbildungen zum Beitrag Peters
XIII
Abb. 2: Die Erzählung (Verhael) der in Kevelaer geschehenen Wunder in einem Druck aus Roermond von 1647
Abb. 3: Der erste deutschsprachige Druck mit der Kevelaerer Mirakelerzählung von 1723. Unten der Hinweis Man findt sie zu kauff zu Kevelaer (vgl. Lingens und Plötz, S. 23) (Die Abbildungen 1-3 stellte das Niederrheinische Museum für Volkskunde und Kulturgeschichte in Kevelaer freundlicherweise zur Verfügung.)
XIV
Abbildungen zum Beitrag Peters
Abb. 4: Diese schmucklose aber informative Karte von Kapellenplatz und ehemaligem Oratorianerkloster ist 1818 im Zusammenhang mit der Suche der Gemeinde Kevelaer nach einem Bauplatz für ein Bürgermeisterbüro, eine Wachtstube und ein Spritzenhaus gezeichnet worden (Archiv des Erzbistum Köln, Bestand Bistum Aachen Nr. 121,3)
Abbildungen zum Beitrag Schlossmacher
XV
Die ersten beiden Seiten des Goldenen Buches der Stadt Bad Godesberg mit den Unterschriften von Micara, Frings, Innitzer, Muench, Fleischer, Stockums, Müller, Mangers und von Ministerpräsident Karl Arnold (Stadtarchiv Bonn, Go 2907)
XVI
Abbildungen zum Beitrag Schlossmacher
Alexander Schnütgen und das Erscheinungsbild der Bücher
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ganz knappe Anzeige.90 Das Heft „ mit dem Titel ‚Römische und altchristliche Archäologie‘ enthält den archäologischen Theil der Bibliothek des verstorbenen Comm[endatore] G i o v a n n i B a t t i s t a d e R o s s i und umfaßt 2157 Nummern, unter denen natürlich viele hervorragende Werke.“ 91 Unser Autor konnte voraussetzen, daß sein Publikum wußte, wer Giovanni Battista de Rossi (1822 -1894), der Begründer der Christlichen Archäologie als Wissenschaft, war.92 Daß dessen Bibliothek „viele hervorragende Werke“ zählte, erschien dem Kölner Domherrn „natürlich“. Bedeutungsvoller als der Inhalt der Kurzanzeige selbst ist der Umstand, daß Alexander Schnütgen diesen Katalog überhaupt angezeigt hat. Mindestens ebenso interessant ist aber die Frage, wie es kam, daß die archäologische Bibliothek des römischen Gelehrten fünf Jahre nach dessen Tod in D e u t s c h l a n d angeboten wurde.
———— 90
91 92
Vgl. S [=ALEXANDER SCHNÜTGEN], Bespr. von: [Der Lagerkatalog 419 von JOSEPH BAER & CO.], in: ZChK 12 (1899), Sp. 392. Die Besprechung entbehrt der sonst vorangestellten bibliographischen Angaben. Ebd. Wir erwähnen nur die Darstellungen dreier prominenter Zeitgenossen: PAUL MARIA BAUMGARTEN, Giovanni Battista de Rossi der Begründer der christlich-archäologischen Wissenschaft. Eine biographische Skizze, Köln 1892; FRANZ XAVER KRAUS, Giovanni Battista de Rossi [ursprünglich 1892 erschienen], in: DERS., Essays. Erste Sammlung, Berlin 1896, S. 307- 324; THEODOR MOMMSEN, Giambattista de Rossi [ursprünglich 1894 erschienen], in: DERS., Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 462- 467. – Zur Kurzinformation siehe MICHAEL SCHMAUDER, Rossi, Giovanni Battista de, in: LThK3 8 (1999), Sp. 1315 -1316.
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Hermann-Josef Reudenbach
Abkürzungen Colligite fragmenta = Alexander Schnütgen. Colligite fragmenta ne pereant. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 150. Geburtstag seines Gründers. Hrsg. von HILTRUD WESTERMANN-ANGERHAUSEN [...], Köln 1993. Herder3 = Herders Konversations-Lexikon. Dritte Auflage. Reich illustriert durch Textabbildungen, Tafeln und Karten, Band 1-11, Freiburg im Br. 1902-1922. Homeyer, Deutsche Juden = FRITZ HOMEYER, Deutsche Juden als Bibliophilen und Antiquare, 2., erweiterte und verbesserte Aufl. (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, 10), Tübingen 1966. LGB2 = Lexikon des gesamten Buchwesens. Zweite, völlig neubearbeitete Auflage. Hrsg. von SEVERIN CORSTEN – GÜNTHER PFLUG – FRIEDRICH ADOLF SCHMIDT-KÜNSEMÜLLER [...], Band 1-, Stuttgart 1987-. LThK3 = Lexikon für Theologie und Kirche. Dritte, völlig neu bearbeitete Aufl.. Hrsg. von WALTER Kasper [...], Band 1-11, Freiburg u.a. 1993-2001. REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult = HERMANN-JOSEF REUDENBACH, Exlibris – Einband – Bücherpult. Über einige Beiträge des Kölner Domherrn und Kunstsammlers Alexander Schnütgen, in: Rheinisch – Kölnisch – Katholisch. Beiträge zur Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Geschichte des Buch- und Bibliothekswesens der Rheinlande. Festschrift für Heinz Finger zum 60. Geburtstag. Hrsg. von SIEGFRIED SCHMIDT [...] (Libelli Rhenani, Band 25), Köln 2008, S. 561-612. Reudenbach, Friedrich Schneider = HERMANN-JOSEF REUDENBACH, Friedrich Schneider und die Buchkunst. Wissensstand und offene Fragen, in: Friedrich Schneider. Ein Mainzer Kulturprälat 1836-1907, hrsg. von HELMUT HINKEL (Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz 2008), Mainz 2008, S. 191- 230. ZChK = Zeitschrift für christliche Kunst, Düsseldorf 1 (1888) - 34 (1921).
Hinweise 1. Die Rechtschreibung der Quellenzitate wurde nicht modernisiert, sondern in der originalen Weise belassen. Der Verfasser selbst folgt der herkömmlichen Orthographie. 2. Originale Hervorhebungen in den Quellenzitaten sich durch Sperrdruck wiedergegeben. 3. Die besprochenen Bücher werden in der Regel nach den Angaben zitiert, die am Kopf der jeweiligen Rezension genannt sind; eine Autopsie wurde nur in Einzelfällen vorgenommen.
Die Niederlassung der Armen Dienstmägde Jesu Christi in Gangelt und die Anfänge der Psychiatrie im Rheinland von Hermann-Josef Scheidgen
1. Die Ordensgründerin der Armen Dienstmägde Jesu Christi Katharina Kasper und die ersten Niederlassungen Katharina Kasper wurde am 26. Mai 1820 in dem 700 Einwohner zählenden Dorf Dernbach im Westerwald, das zur Diözese Trier gehört, geboren. Gegenüber ihren Eltern und gegenüber Angehörigen ihres Ordens äußerte sie später, dass sie schon früh eine Berufung zu einem Leben in Armut und in einem Orden gespürt habe. In ihrer achtjährigen Schulzeit hatte sie lediglich Lesen, Schreiben und Rechnen sowie etwas Heimat- und Naturkunde gelernt. Häufig hatte die oft kränkliche Katharina Kasper in der Schule fehlen müssen. Teilweise auch, um den Eltern in der Landwirtschaft zu helfen. Nach der Schulentlassung im Jahre 1834 besuchte sie im Nachbarort Wirges die „einfache Christenlehre“.1 Gegenüber einer Mitschwester äußerte sie später: „Schreiben und Rechnen lernte ich nicht, aber in der Religionsstunde war ich aufmerksam, und auch lesen lernte ich, um die Bibel und den Katechismus lesen zu können.“ 2 Katharina Kasper hatte in ihrer Kindheit und Jugend erlebt, was es bedeutete, arm zu sein und in großer sozialer Not zu leben. Der plötzliche Tod des Vaters im Jahre 1842 führte die Familie in eine Existenzkrise. Wegen der Halbgeschwister und des noch minderjährigen Bruders Joseph musste das Vermögen des Vaters veräußert werden. Katharinas Elternhaus kam somit in fremde Hände.3 Als Jugendliche hatte Katharina Kasper immer wieder in der „Nachfolge Christi“ des Thomas von Kempen gelesen; die Schrift, die nach der Bibel die zweit meiste Verbreitung in der Christenheit gefunden hatte, und die auf die Devotio moderna zurückging, einer ursprünglich aus den Niederlanden kommenden und besonders am Niederrhein verbreiteten Frömmigkeitsform, welche die religiöse Selbstreflexion in den Mittelpunkt stellte.4 Katharina hatte keine Chance, eine solide Bildung ———— 1
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Renate Maier: Maria Katharina Kasper (1 82 0 -1989). Gründerin der Genossenschaft „Arme Dienstmägde Jesu Christi.“ Ein Beitrag zur Pastoralgeschichte des 19. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII Theologie 894). Frankfurt a.M. 2008, S. 24 - 25. Zitiert nach R. Maier S. 25. Ebd. S. 27.
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oder Ausbildung zu genießen; auch nicht an einer Klosterschule. Während ihrer gesamten Kindheit und Jugendzeit ergab sich für sie auch keine Möglichkeit, ein Kloster kennen zu lernen.5 Bis zu ihrem 20. Lebensjahr hatte sie als Tagelöhnerin gearbeitet. Sie half bei der Ernte, kümmerte sich um das Vieh im Stall. Sie reinigte Wassergräben, und als in der Gemeinde eine neue Straße gebaut wurde, zerschlug sie hierfür den Schotter.6 Infolge der preußischen Sozialreformen Hardenbergs von 1807 waren große Teile der Landbevölkerung, nicht nur in Preußen, verarmt. In ihrer Freizeit widmete sie sich der Armen- und Krankenpflege und unterrichtete Kinder im Katechismus. Wie sie später berichtete, muss sie in diesen Jahren eine Berufung gespürt haben, die christliche Lehre in die Familien zu bringen, Eltern und Kinder darin zu unterrichten und die Kranken zu pflegen.7 Seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts waren in vielen deutschen Staaten katholische Frauengenossenschaften gegründet worden, weshalb man diese Zeit auch als die der Feminisierung des Katholizismus bezeichnet. Die Revolution von 1848/49 erwirkte durch ihre sogenannten Märzfreiheiten die Ablösung des Staatskirchentums in den meisten Staaten des Deutschen Bundes. Für die Katholiken war es nun leichter möglich, Vereine oder kirchliche Genossenschaften zu gründen. Der deutsche Katholizismus ging wie keine andere Großgruppe gestärkt aus der Revolution hervor. 1848 fanden in Mainz die Generalversammlungen der neu gegründeten Piusvereine statt. Es folgten 1849 Generalversammlungen in Breslau und in Regensburg. Diese Zusammenkünfte wird man zu Beginn des 20. Jahrhunderts als die ersten deutschen Katholikentage bezeichnen. Im Herbst 1848 fand in Würzburg die erste deutsche Bischofskonferenz statt. Neben dem Kölner Erzbischof Johannes von Geissel und dem Mainzer Geistlichen Adam Lennig war es insbesondere der Trierer Bischof Wilhelm Arnoldi, der sich für die Einberufung dieser Konferenz einsetzt. In seiner Diözese, zu der auch Dernbach, Wirges und Montabaur gehören, förderte dieser besonders die Volksfrömmigkeit. Zur Heilig Rock Ausstellung in Trier im Jahre 1844 pilgerten etwa 800.000 Katholiken. Damit ist dies die größte Menschenansammlung, die es bis dahin in der deutschen Geschichte gegeben hatte. Seit 1848 können sich der 1843 in Bonn gegründete Borromäusverein und der 1846 gegründete Gesellenverein Adolf Kolpings besser entfalten. Darüber hinaus wurde 1849 ———— 4 5
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Ebd. S. 57. Martin Grünewald: Geben ohne zu zählen. Katharina Kasper, ihr Leben und ihr Werk. Neuwied 1988. S. 19. M. Grünewald S. 26. R. Maier S. 27, 28.
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der Bonifatiusverein für die katholische Mission gegründet; im selben Jahr in Wien, das zum Deutschen Bund gehörte, der erste katholische Frauenverein.8 Auch Katharina Kasper wusste die Zeichen der Zeit zu nutzen, indem sie in Dernbach 1851 die Genossenschaft der Armen Dienstmägde Jesu Christi gründete. Der Bischof von Limburg, Peter Joseph Blum, nahm das Ordensgelübde der ersten fünf Schwestern entgegen und gab Katharina Kasper den Ordensnamen Maria. Die Gründerin beharrte darauf, dass die Gemeinschaft den Namen „Arme Dienstmägde Jesu Christi“ erhalten sollte. Dem Beispiel Mariens folgend, sollten die Schwestern sich im Dienst Gottes und der Menschen als „Magd des Herren“ verstehen.9 Erste Überlegungen, eine religiöse Gemeinschaft zu gründen, sind bereits für das Jahr 1849 nachzuweisen. Katharina Kaspar legte nunmehr dem Pfarrer von Wirges, Quirin Joseph Klau, die von ihr formulierten Statuten für die zu gründende Gemeinschaft vor. Dieser zeigte sich damit einverstanden.10 Obwohl Dernbach zur Diözese Trier gehörte, hatte Katharina Kasper den engeren Kontakt zum Limburger Bischof Peter Joseph Blum, der sie über viele Jahre begleitete. Blum war innerhalb des deutschen Episkopats eindeutig auf der konservativen Seite. Sein Berater war der aus Camberg stammende Advokat und Weinhändler Moritz Lieber, der auf dem zweiten deutschen Katholikentag in Breslau 1849 die Präsidentschaft übernommen hatte. Er war ein Vertreter des restaurativ-romantischen Katholizismus. Lieber hatte noch vor dem Mainzer Piusverein im März 1848 in Camberg den Verein für religiöse Freiheit gegründet, welcher der erste katholische Verein infolge der Märzrevolution überhaupt gewesen war. Der hatte primär das Ziel, katholische Wähler bei den Wahlen zum Nassauischen Landtag zu unterstützen. Bereits im Jahre 1845 hatte Katharina Kasper in ihrem Heimatort mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter unter schwierigen Umständen eine religiöse Gruppe zum Dienst an den Kranken, Armen und Verlassenen sowie an Kindern gegründet. Zuerst waren es die Kinder, die sie um sich gesammelt hatte. Mit ihnen zog sie zum Heilborn, einer Kapelle außerhalb des Dorfes, um dort mit ihnen zu beten, zu singen und sie im Glauben zu unterweisen.11 Zwei Jahre darauf baute sie dort für diese Zwecke ein kleines ———— 8
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Vgl. hierzu: Hermann-Josef Scheidgen: Der deutsche Katholizismus in der Revolution von 1848/49. Episkopat – Klerus – Laien – Vereine (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 27). Köln, Weimar, Wien 2008. Seligsprechung der Mutter Maria Katharina Kasper. Herausgegeben von der Generalleitung der Armen Dienstmägde Jesu Christi. Redaktion: Walter Bröckers. Frankfurt a.M. 1978, S. 4. M. Grünewald S. 36. Ebd. S. 34.
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Haus, das später das Mutterhaus der Genossenschaft werden sollte. Im Jahre 1860 hatten sich ihnen bereits 323 Frauen angeschlossen. 15 Jahre später waren es bereits 650 und im Jahre 1900 sogar schon knapp 2.000. Ebenso rasch breitete sich das Netz der Niederlassungen aus. Im Juli 1872 gingen bereits die ersten Schwestern der Genossenschaft in die Vereinigten Staaten. Als die Genossenschaft im Jahre 1875 noch nicht ganz ein Viertel Jahrhundert existierte, zählte man bereits 25 Filialen. Im Jahre 1900 waren es sogar schon 205.12 Verschiedentlich hielt sich Katharina Kasper als Generaloberin des Ordens in der bereits 1869 gegründeten Gangelter Filiale auf (siehe unten); in der Regel aber nur zwei bis drei Tage. Gangelt war dann der Ausgangspunkt für den Besuch der weiteren Niederlassungen in Holland oder sie fand in der kleineren Niederlassung die nötige Ruhe, um wichtige Korrespondenz zu führen, in dem sie sich z.B. zu Leitungsfragen innerhalb der Genossenschaft äußerte. Diese Briefe zeigen, dass Katharina Kasper den intensiven Kontakt zu ihren Schwestern in Nah und Fern suchte.13 Als Katharina Kasper im Jahre 1898 an einem Schlaganfall verstarb, hatte sie nicht nur in Deutschland, sondern auch im europäischen Ausland zahlreiche Niederlassungen gründen können; neben Holland auch in Belgien, Luxemburg und in Böhmen. Bereits 1866 hatte die Genossenschaft eine Niederlassung in der Diözese Fort Wayne in den Vereinigten Staaten eröffnet.14 Am 16. April 1978 wurde Mutter Maria Kasper in Rom von Papst Paul VI. selig gesprochen.15
2. Die Anfänge der Psychiatrie im Rheinland Der Philosoph Karl Jaspers, der als Habilitationsschrift eine Diagnostik psychiatrischer Erkrankungen vorgelegt hatte, die heute in vielen Aspekten noch nicht überholt ist, spricht zu Recht von einer Brüchigkeit und Unübersichtlichkeit der Psychiatrie. Er bezeichnet diese medizinische Disziplin als ———— 12
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Dem Menschen dienen. Chronik des Krankenhauses „ Maria Hilf “. 125 Jahre Arme Dienstmägde Jesu Christi in Gangelt. Herausgegeben vom Krankenhaus „Maria Hilf “. Redaktion Dieter Erfurth. Geilenkirchen o.J [1994], S. 10-11. Einen guten Überblick zur Krankenpflege in katholischen Einrichtungen in der Rheinprovinz für diese Zeit bietet: Erwin Gatz: Kirche und Krankenpflege im 19. Jahrhundert. Katholische Kirche und karitativer Aufbruch in den preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen. Paderborn 1971. R. Maier S. 218, 220, 223- 226. Ebd. S. 32, 197. Seligsprechung der Mutter Maria Katharina Kasper S. 4.
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„Methodenchamäleon“. In der Diktion Thomas Kuhns befindet sie sich in einer permanenten „Paradigma-Krise“, was auch deren historische Erforschung nicht gerade einfach macht.16 Im 19. Jahrhundert waren katholische und protestantische Theologen sich weitgehend darin einig, dass Geisteskrankheiten nicht mehr mit dem Dämonenglauben in den Zusammenhang gebracht werden dürften. Die Erforschung der Ursachen dieser Erkrankungen überließ man weitestgehend den Ärzten.17 Noch bis in die Zeit der Aufklärung hinein wurde die Schizophrenie als eine Form der Besessenheit interpretiert. Merkwürdigerweise nicht die Aufklärung, sondern vielmehr die Romantik, die ihre klügsten Köpfe in Deutschland hatte, führte zu einer Abänderung in der medizinischen Behandlung. Die Ärzte sollten Patienten Mitleid entgegenbringen und einfühlsam sein. Doch gab es in dieser Zeit auch viele unwissenschaftliche Spekulationen über den Wahnsinn, welche nur Verwirrung stifteten.18 Häufig waren für die Irrenärzte dieser Zeit philosophische Spekulationen über das Verhältnis von Leib und Seele sowie deren theoretische Erörterungen über Gesundheit und Krankheit de facto wichtiger als der Umgang mit Patienten.19 Die Universität Bonn war im 19. Jahrhundert führend auf dem Gebiet der Psychiatrie.20 Wenn hier der erste Lehrstuhl für Psychiatrie auch erst in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eingerichtet wurde, so beschäftigten sich jedoch andere Fachärzte mit dieser Thematik. Der Internist Christian Friedrich Naase zeigte in seinen Vorlesungen Geisteskranke. Er besuchte mit seinen Studenten die 1825 gegründete Siegburger Nervenheilanstalt, welche von seinem Freund Carl Maximilian Jacobi gegründet worden war. Unter dessen Leitung wurde diese Anstalt zu einer der bedeutendsten Europas und zu einem Vorzeigeobjekt, weil man auf viele Zwangsmittel im Umgang mit den Patienten verzichtete.21 Zu gebräuchlichen Behandlungsme———— 16
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Eric J. Engstrom; Volker Roelcke: Die „ alte Psychiatrie“? Zur Geschichte und Aktualität der Psychiatrie im 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hrsg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrische Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum. Basel 2003, S. 10 -11. Christian Müller: Aufsätze zur Psychiatriegeschichte. Stuttgart 2009, S. 188. S.F.G. Alexander; S.T. Selesnick: Geschichte der Psychiatrie. Ein kritischer Abriß der psychiatrischen Theorie und Praxis von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart. Konstanz 1969, S. 201. Marianne Elisabeth Hertling: Die Provinzial- Heil und Pflegeanstalt Düren. Die Entwicklung einer psychiatrischen Anstalt der Rheinprovinz von ihrer Gründung 1878 bis 1934 (Studien zur Geschichte des Krankenhauswesens 22). Altrogge 1985, S. 5. Wolfgang Schaffer: Universität und Psychiatrie im 19. Jahrhundert, in: Bonner Universitätsblätter (2000), S. 45-58. M.E. Hertling S. 7.
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thoden gehörten jedoch noch die Zwangsernährung, körperliche Züchtigungen und die sprichwörtliche Zwangsjacke. Man kannte in diesen Jahren noch keine Psychopharmaka. Als Beruhigungsmittel verabreichte man gegebenenfalls Opiate oder Alkohol.22 In Bonn wurden zwei weit verbreitete Therapien entwickelt. Einmal die Wassertherapie, die auf den 1882 in Bonn zum Professor für Medizin berufenen Karl Maria Finkelnburg zurückging. Die Patienten wurden mit Wassergüssen behandelt. Finkelnburg bezeichnete die damaligen Irrenanstalten als „psychische Begräbnisplätze“.23 Zum anderen gab es eine Form der Isolationstherapie – hier wurden die Patienten eingeschlossen und durften selbst ihre Verwandten nicht besuchen. Dies galt z.B. für Robert Schumann, der nach neuesten Forschungen jedoch nicht schizophren gewesen sein muss, sondern aufgrund seines erheblichen Alkoholkonsums Wahnvorstellungen im Delirium und im Entzug gehabt haben muss.24 Eine Landtagskommission kam 1864 zu dem Ergebnis, dass die Renovierungsarbeiten in der Siegburger Anstalt ins Unermessliche steigen würden und außerdem eine Dezentralisierung der „Irrenversorgung“ anzustreben sei. Der Provinzial-Landtag beschloss daraufhin 1868, die Siegburger Anstalt zu schließen, was dann zehn Jahre später auch erfolgte. Stattdessen sollten in den fünf rheinischen Regierungsbezirken kleinere Idiotenanstalten gebaut werden. Im Einzelnen waren diese für Andernach, Merzig, Bonn und Grafenberg bei Düsseldorf und Düren vorgesehen. Zwischen 1876 und 1878 wurden die Krankenanstalten in Grafenberg, Merzig, Andernach und Düren eröffnet. Hingegen sollte die Heil- und Pflegeanstalt in Bonn erst im Jahre 1882 bezogen werden können.25 Ein großer Vordenker auf dem Gebiet der Psychiatrie war Wilhelm Griesinger. Er sah die geistige Erkrankung einhergehend mit dem Verlust der Selbstachtung und der Selbstentfremdung. Noch vor Sigmund Freud benutzte er den Begriff Verdrängung. Er sprach sich gegen jedwede Form von inhumanen Therapien aus, wie sie weit in das 19. Jahrhundert praktiziert wurden.26 Großen Einfluss auf die Psychiatrie vor der Jahrhundertwende hatte der Mediziner und Psychologe Erwin Kreapelin. Er war ein Schüler des Philo———— 22
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Arbeitskreis Psychiatriegeschichte Bonn-Rheinprovinz (APG Bonn): „Pass op, sonst küss de bei de Pelmann“, in: Dasselbe. Das Irrenwesen im Rheinland des 19. Jahrhunderts. Bonn 1995, S. 11-12. Ebd. S. 13. Wilhelm Lange-Eichbaum; Wolfrahm Kurth: Genie, Irrsinn und Ruhm. München, Basel 1979. Uwe Henrik Peter: Gefangen im Irrenhaus. Robert Schumann. Köln 2010. Arbeitskreis Psychiatriegeschichte Bonn-Rheinprovinz (APG Bonn) S. 16 -17. F.G. Alexander; S.T. Selesnick S. 202.
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sophen und Psychologen Wilhelm Wundt gewesen. Kraepelin arbeitete zunächst experimentalpsychologisch und konnte z.B. Gemütsschwankungen bei Depressiven sehr gut erkennen. Sein besonderes Interesse galt dem Alkoholismus und anderen Suchterkrankungen. Er galt als der führender Psychiater seiner Zeit. Wie keiner vor ihm zuvor untersuchte er die Verlaufsformen der Psychosen, betrieb ethnographische Studien. Er setzte sich dafür ein, dass jeder Arzt sich in die Problematik seines Patienten hineinversetzen sollte. Er galt als Gegner der aufkommenden Psychotherapien und war insbesondere ein Gegner Siegmund Freuds. Gezielte medikamentöse Therapien zog er diesen vor. Sein Münchener Institut für Psychiatrie war das größte dieser Art auf der ganzen Welt. Von hier aus gingen ebenso wie von Griesinger auch Impulse für die Psychiatrie im Rheinland aus.27 Bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts hatten die Psychiater kein besonders gutes Ansehen. Man trat ihnen wie den Kurärzten und Heilpraktikern sehr häufig mit Misstrauen entgegen. Es kam hinzu, dass sich einige von ihnen bis ins 20. Jahrhundert hinein mit fragwürdiger okkulter Esoterik befassten. Zu nennen ist hier Carl Gustav Jung, der 1902 an der Universität Leipzig seine Dissertation „ Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene, eine psychiatrische Studie“ vorlegte.28 Es ist ein noch ein im Detail zu untersuchendes Phänomen, dass im Deutschen Kaiserreich die Zahl der in sogenannten Irrenanstalten aufgenommenen Patienten von 1880 bis 1910 etwa um das Vierfache angestiegen war. Eine Erklärung ist die zunehmende wirtschaftliche Industrialisierung, die bei vielen Arbeitern zu psychischen Störungen führte. Auffallend und schwierig zu erklären ist die zunehmende Zahl von Geisteskranken unter der Beamtenschaft.29 Da zur Jahrhundertwende die Dürener Anstalt nicht mehr groß genug war, wurden nunmehr Provinzial- Heil- und Pflegeanstalten gebaut. Eine in Galkhausen am Rhein, eine in Johannisthal bei Viersen und eine in Bedburg Hau. Diese wurden in den Jahren 1900, 1905 bzw. 1911 bezogen.30
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Heinz Schott; Rainer Tölle: Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. München 2006, S. S. 116 -123. Christian Müller: Vom Tollhaus zum Psychozentrum. Vignetten und Bausteine zur Psychiatriegeschichte in zeitlicher Abfolge (Schriften zur Wissenschaftsgeschichte). Hürtgenwald o.J., S. 152. Dirk Blasius: Umgang mit Unheilbarem. Studien zur Sozialgeschichte der Psychiatrie. Bonn 1986, S. 60. M.E. Hertling S. 15.
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3. Die Gründung der Niederlassung in Gangelt und der deutsch-französische Krieg Gangelt läßt sich als Ortsbezeichnung das erste Mal in der Chronik des Karolinger Chronisten Einhard nachweisen. Im Jahre 1484 geriet das Haus Jülich in den Besitz Gangelts. Im Dreißigjährigen Krieg wurde es von den Kaiserlichen Truppen überfallen. Ostern 1635 konnten diese die Ortschaft erobern. Vier Jahre später wurde es ausgehend von der Garnison Roermond geplündert.31 Gangelt gehörte im Jahre 1869 zum Deutschen Bund und dann zum Deutschen Zollverein, der noch im selben Jahr gegründet wurde. Die Wirtschaft hatte in diesem Jahr keine gute Entwicklung genommen. Aufgrund des preußisch-österreichischen Krieges gab es eine hohe Inflationsrate. Dazu kam die relativ schlechte Ernte in diesem Jahr.32 Während der Jahre von 1869, in dem die Dernbacher Schwesternschaft bereits 200 Mitglieder zählte 33, bis zu ihrem Tod 1889 gründete Katharina Kasper Niederlassungen ihrer Gemeinschaft in Holland, Belgien, Luxemburg. Es waren spezielle Niederlassungen, die nur für die Krankenpflege zuständig waren. Die erste dieser Art war die Filiale in Amsterrade in der Diözese Roermond, in deren territorialem Bereich überwiegend Katholiken wohnten. Typisch für diese Gründungen war es, dass sie in der Regel von drei Schwestern unter der Leitung einer Oberin errichtet wurden. Diese Gründung erfolgte aufgrund der Initiative der Gräfin von Ansembourg, geborene von Wendt. Im Jahre 1869 kam es zur Gründung des Klosters „Maria Hilf “, das nahe der holländischen Grenze lag und damals zur Erzdiözese Köln und seit 1930 zu der neu gegründeten Diözese Aachen zählte. Sowohl die Schwestern der Amsterrader wie die der Gangelter Niederlassungen mussten die holländische Sprache erlernen. Beide Gründungen brachten der Genossenschaft in den umliegenden bzw. entsprechenden Gemeinden große Hochachtung ein.34 Das genaue Gründungsdatum der Gangelter Einrichtungen war das Namensfest des Erzengels Michael, der 29. September 1869. Neben Schwester Candida, die als Oberin fungierte und die Leitung der Nähschule für Mädchen übernahm, wurden die Novizinnen Schwester Adalberta und ———— 31 32
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L[eopold] Schleyer: Geschichte der Pfarre Gangelt. Geilenkirchen 1933, S. 11-13. Gangelt im 20. Jahrhundert. Ein historischer Rückblick über 100 Jahre Gangelter Zeitgeschichte. Heinsberg 1999, S. 27. Seligsprechung der Mutter Maria Katharina Kasper S. 4. R. Maier S. 191.
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Schwester Centolla mit dem Unterricht in der oberen Mädchenklasse der Elementarschule bzw. der Leitung des Kindergartens beauftragt. Eingeführt wurden die drei Schwestern von der Provinzoberin für die Erzdiözese Köln, Schwester Clara. Die Filiale war eine Stiftung des Aachener Kanonikers Herrmann, des Gangelter Pfarrers Christoph Bretz, der bereits einige Jahre zuvor verstorben war, der Witwe Bosten aus Aachen und der ebenfalls unverheiratet verstorbenen Frau Verkoyen aus Gangelt.35 Bereits 1852 war von den hier aufgeführten Stiftern erwogen worden, ein Kloster in Gangelt zu errichten. Sie hatten hierfür das Peulensche Haus neben der Pfarrkirche St. Nikolaus erworben.36 Am 1. Juni 1870 erhob Papst Pius IX. die Genossenschaft der Armen Dienstmägde Jesu Christi zur Kongregation.37 Das Gründungsjahr der Gangelter Niederlassung war für die deutsche Geschichte insofern von besonderer Bedeutung, da in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet wurde. Die Leitungsfunktionen übernahmen Wilhelm Liebknecht und August Bebel. In Gangelt war sie jedoch, wie eigentlich überhaupt in Preußen, nicht vertreten. Man kann damals noch nicht von einer Volkspartei sprechen, weil sie ausschließlich die Interessen der Arbeiterschaft vertrat. Außerdem war sie entschieden antiklerikal ausgerichtet. Erst mit dem Godesberger Programm von 1959 erklärte sie, dass die christliche Weltanschauung eine ihrer drei Grundlagen sei.38 Bereits im zweiten Jahr der Niederlassung der Gangelter Schwestern wurde eine Tradition ins Leben gerufen, die sich über Jahrzehnte hielt. Für die Kinder der Verwahrschule stellten die Schwestern zu Weihnachten einen Tannenbaum auf und schmückten ihn kunstvoll. Die Kinder der Elementarschule beteten vor ihm an den Sonn- und Feiertagen die Weihnachtsoktav und sangen die traditionellen Weihnachtslieder. Auch gab es für die Kinder eine, wenn auch kleine Bescherung. In den folgenden Jahren gingen die Schwestern auch dazu über, die Kinder neu einzukleiden. Für den Stoff zogen sie die Erträge aus den Kollekten heran. Teilweise wurden sie auch aus der Gangelter Armenkasse unterstützt.39 Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 sollte den Alltag der drei Schwestern wie auch der Gangelter Bevölkerung deutlich prägen. Die ———— 35
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Chronik der Niederlassung der Armen Dienstmägde Jesu Christi „ Maria Hilf “ in Gangelt 1869ff., [Das Original der Chronik befindet sich im Mutterhaus der Armen Dienstmägde Jesu Christi in Dernbach und eine maschinenschriftliche Abschrift in der Gangelter Niederlassung] [zitiert als Chronik Gangelt], hier 1869. Dem Menschen dienen S. 8. Ebd. S. 11. Gangelt im 20. Jahrhundert S. 27. Dem Menschen dienen S. 10 -11.
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Thronvakanz in Spanien von 1868 infolge des Sturzes der Königin Isabella II. führte dazu, dass die katholische Seitenlinie des deutschen Königshauses, die Hohenzollern-Sigmaringen, für die Nachfolge angefragt wurde. Frankreich war der Machtzuwachs Deutschlands infolge des gewonnenen Krieges von 1866 ohnehin zu groß. Als nun die Thronkandidatur Leopolds, die von Kaiser Wilhelm I. unterstützt wurde, bekannt wurde, wollte Frankreich dies unter der Herrschaft Napoleons III. nicht hinnehmen. Unter diesem politischen Druck erklärte Leopold I. seinen Verzicht. Eigentlich hätte die Auseinandersetzung damit ein Ende haben müssen. Doch Frankreich verlangte eine Verzichtserklärung von Kaiser Wilhelm I., der zu dieser Zeit in Bad Ems weilte. Bismarck verwandelte diese Ablehnung in eine schroffe Beleidigung. Den telegraphischen Bericht aus Bad Ems ließ er in einer zugespitzten rigiden Fassung an die Presse gelangen. Dies war die sogenannte „Emser Depesche“, die schließlich den Krieg auslöste. Bismarck informierte mehrere europäische Regierungen. Frankreich zeigte sich daraufhin düpiert, und am 14. Juli 1870 beschloss der Ministerrat die Mobilmachung. Am nächsten Tag billigte das Berliner Parlament die Kriegskredite, woraufhin am 19. Juli die Kriegserklärung folgte. Bismarck wollte damit die Bedenken kleinerer deutscher Staaten für die von ihm angestrebte Reichsgründung stärken. Da Preußen durch Frankreich angegriffen wurde, mussten die süddeutschen Staaten ihren Bündnisverpflichtungen nachkommen.40 Im deutsch-französischen Krieg von 1870/1871 waren zahlreiche Schwestern der Genossenschaft der Armen Dienstmägde Jesu Christi in den Lazaretten in der Krankenpflege eingesetzt worden. Auch Schwester Oberin Candida wurde zur Pflege Verwundeter im November 1870 vom Orden in ein Lazarett nach Düsseldorf abgeordert. Ebenso deren Nachfolgerin als Oberin der Gangelter Niederlassung, Schwester Leonarda, sollte dieses Amt im Februar 1871 nur wenige Tage ausüben, da sie ebenfalls in ein Lazarett des Dominikanerklosters in Düsseldorf abgeordnet wurde. Diese Tätigkeit sollte sie über zwei Monate ausüben.41 Der Krieg hatte für alle deutschen Gemeinden Gefallene gebracht, so auch für Gangelt. Napoleon III. wurde gefangen genommen und 1871 im Schloss von Versailles der preußische König Wilhelm I. zum Kaiser ausgerufen.42 Der Aufbau des Bismarckreichs zeigt zwei vollkommen getrennte Seiten: eine zivile und demokratische sowie eine militärische und autokratische. Der Reichstag wurde nach allgemeinem, gleichem und geheimen Wahlrecht ge———— 40 41 42
Beate Althammer: Das Bismarckreich 1871-1890. Paderborn u.a. 2009, S. 19. Chronik Gangelt 1870/1871. Gangelt im 20. Jahrhundert S. 27.
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wählt, wobei den Frauen kein Stimmrecht zugesprochen wurde. Andererseits bildete die Verbindung zwischen Krone und Heer die kaiserliche Kommandogewalt. Nunmehr waren 25 Staaten mit 41 Millionen Einwohnern zu einer Nation vereinigt worden. Der äußeren Reichsordnung musste eine innere folgen. Bis zur Jahrhundertwende wurde eine enorme Integrationsleistung erbracht. Es gab nunmehr einen einheitlichen Währungsraum, in dem die Mark sieben verschiedene Währungen ersetzte. Zur Struktur des Kaiserreiches gehörte eine nicht militärische Elite. Hierzu zählte insbesondere eine adlige konservative Elite, welche insbesondere im ostelbischen Raum ansässig gewesen war. Sie war in der Bürokratie, in der evangelischen Kirche und im Militär verankert. Es gab keinen Reichskriegsminister, da der Kaiser die alleinige Oberhoheit über das Militär besaß. Der Offiziersberuf hatte ein ganz besonders hohes Prestige. Ohne den Reserveoffiziersgrad gab es keine bürgerliche Karriere in Staat oder Wirtschaft.43 Im Reichstag sollte sich ein Fünfparteiensystem herausbilden. Dies bildeten die Konservativen, das Zentrum, die Rechtsliberalen, die Linksliberalen und die Sozialisten. Dieses Parteienspektrum blieb bis Ende des Kaiserreichs relativ stabil. Es gab hingegen drei Lager im Deutschen Reich: das katholische, das sozialistische sowie das nationalliberale.44
4. Der Kulturkampf Von Gangelt aus sollten in den folgenden Jahren zahlreiche Niederlassungen in Holland gegründet werden. So die in Lutterrade im Oktober 1875. Ebenfalls im Jahre 1875 übernahm die Genossenschaft ein Haus in Susteren und eines in Voerendaal. Diese waren als Zufluchtsort gedacht, falls die Schwestern im Kulturkampf aus Deutschland ausgewiesen werden sollten. Die Katholiken hatten 1870 die Reichsgründung in keinem Fall abgelehnt; jedoch hatten sie ursprünglich eine „großdeutsche Lösung“ angestrebt, zu der auch das fast ausschließlich katholische Österreich mit dazu gehört hätte. Der Deutsche Bund, der 1815 zusammen mit den Hegemonialmächten Österreich – jedoch ohne Ungarn aber mit Böhmen und Mähren – sowie Preußen gegründet worden war, wurde in den Revolutionsjahren kurze Zeit aufgehoben und mit dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 zerschlagen. Preußen, das in der Schlacht von Königgrätz Österreich ———— 43 44
Geschichte. Herausforderungen der Moderne. Hannover 2002. S. 218. Hans-Peter Ullmann: Politik im Deutschen Kaiserreich 1871-1918 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 52). München 1999, S. 7- 8.
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schlug, wurde unter den deutschen Staaten noch weiterhin gestärkt. Der Chef des preußischen Generalstabes, Helmuth von Moltke, offenbarte am Ende seines Lebens: „Der Krieg von 1866 ist nicht aus Notwehr gegen die Bedrohung der eigenen Existenz entsprungen, auch nicht hervorgerufen durch die öffentliche Meinung und die Stimme des Volkes; es war ein ... notwendig erkannter, längst beabsichtigter ... Kampf für Machterwerb.“ 45 Im Deutschen Reich waren die Katholiken mit etwa 37 % der Einwohner eine deutliche Minderheit. Nassau, zu dem auch der Geburtsort Katharina Kaspers gehörte, wurde nun Preußen zugeschlagen.46 Vor der Reichsgründung war die Stellung der Katholiken jedoch durch die Gründung der Zentrumspartei, der ersten deutschen Massenpartei, gestärkt worden. Initiator war Peter Reichensperger, Jurist und Kunsthistoriker aus Koblenz. Der aus dem Emsland stammende Ludwig Windthorst gehörte ebenso zu den herausragenden Politikern des Zentrums. Er wollte den Katholiken auch in einem „kleindeutschen Reich“ eine Heimat geben. Die Zentrumspartei erlangte ihre ersten großen Erfolge noch vor der Reichsgründung in Bayern bei den Landtagswahlen, dann in Baden und schließlich in Preußen. Bei den Wahlen zum preußischen Landtag hatte das Zentrum in rheinischen und westfälischen Wahlkreisen insgesamt 58 Mandate errungen. Die rheinischen Abgeordneten sammelten sich um Peter Reichensberger und die westfälischen um Hermann von Mallinckrodt. In ihrem Soester Programm von 1870 stellten die Zentrumsmitglieder heraus, dass es sich bei ihrer Partei um eine primäre politische und nicht religiöse Partei handele. Prinzipiell war sie auch für Protestanten wählbar, was anfangs jedoch nur selten geschah. Insbesondere forderte sie die in der preußischen Verfassung von 1850 garantierten Freiheiten der Kirche, die Beibehaltung der Konfessionsschulen, die Unterrichtsfreiheit, darüber hinaus rein soziale Forderungen wie den Arbeiterschutz und die soziale Fürsorge.47 Als Befürworter des deutsch-französischen Krieges stand das Zentrum schließlich auch hinter der Reichsgründung. Der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler, dem die Meinungsführerschaft im sozialen deutschen Katholizismus zukam, begrüßte die „teilweise Einheit des deutschen Volkes“ und erteilte dem Partikularismus eine Absage.48 ———— 45
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Zitiert nach Wolfram Siemann: Vom Staatenbund zum Nationalstaat - Deutschland 1806 - 1871. (Neue Deutsche Geschichte 7). München 1995. S. 427. Rudolf Lill: Die deutschen Katholiken und Bismarcks Reichsgründung, in: Reichsgründung 1870/71. Tatsachen – Kontroversen – Interpretationen. Stuttgart 1970, S. 345 -347, S. 368 - 421. Der Kulturkampf. Herausgegeben und eingeleitet von Rudolf Lill. Unter Mitarbeit von Alexander Altgeld und Alexia K. Haus (Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus 10). Paderborn u.a. 1997. R. Lill, Katholiken S, 357- 358, 260.
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Der Begriff Kulturkampf geht auf den linksliberalen Politiker und Virologen der Berliner Charité Rudolf von Virchow zurück. Infolge der Unfehlbarkeitserklärung des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870 waren die Katholiken dem Reichskanzler Otto von Bismarck, der sich, obgleich Protestant, für innerkirchliche Angelegenheiten wenig interessierte, von Anfang der Reichsgründung an suspekt gewesen. So entstand der negativ geprägte Begriff ultramontan. Dieses Adjektiv bringt zum Ausdruck, dass man davon ausging, dass die Katholiken einer Macht hörig seien, die jenseits der Berge, womit man jenseits der Alpen meinte, ansässig war. Virchow hatte 1872 die Gegnerschaft der Linksliberalen gegen den Katholizismus sehr deutlich formuliert: „Wenn Sie sich, meine Herren, die Vergangenheit der katholischen Kirche vergegenwärtigen, so werden Sie nicht umhin können anzuerkennen, dass wir hier einen konsequent verfolgten Gedanken vor uns haben, der durch Jahrtausende hindurch sich fort und fort entwickelt hat, ... dieser päpstliche Gedanke, auf dem gegenwärtig die ganze katholische Kirche ruht, ist von seinem Anfange an mit dem deutschen Gedanken in Konflikt getreten ... . Die Hierarchie hat triumphiert, sie hat darin ihre weitere Entwicklung gemacht und sie hat sich mehr und mehr in diesen spezifisch dogmatischen Styl hineingelebt.“49 Diese antikirchliche Haltung hatte auch großen Einfluss auf die preußische Verwaltung gehabt. Hohe preußische Beamtenstellen wurden auch im katholischen Rheinland überwiegend an Protestanten vergeben.50 Bismarck regierte im vereinigten deutschen Kaiserreich mit den Rechtsliberalen und den Konservativen. Der politische Katholizismus, der sich – wie bereits ausgeführt – erstmals in der deutschen Geschichte zu einer Partei unter der Bezeichnung Zentrum zusammengeschlossen hatte, bildete die Opposition, wobei deren Sprecher Ludwig Windthorst von dem protestantischen Historiker Golo Mann als der begabteste deutsche Politiker angesehen wurde. Bismarck äußerte im Jahre 1872 bezüglich der Zentrumspartei im preußischen Abgeordnetenhaus: „Ich habe ... die Bildung dieser Fraktion [des Zentrums] nicht anders betrachten können als im Lichte der Mobilmachung der Partei gegen den Staat. ... . Wir hatten gehofft, an einer streng kirchlichen Partei eine Stütze für die Regierung zu gewinnen, die dem Kaiser gibt, was des Kaisers ist, die die Achtung vor der Regierung auch da, ... namentlich in den Kreisen des politisch weniger unterrichteten gemeinen Mannes, zu erhalten sucht. Ich musste mit Betrübnis und Befremden hören, ———— 48 49 50
Ebd. S. 362. Rede des Abgeordneten Dr. Virchow. 17. Januar 1873, zitiert nach: B. Althammer, S. 91-92. R. Lill, Katholiken S. 359.
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dass die Wahlreden ... gerade an die Leidenschaft der unteren Classen, der Masse, appellierten, um sie zu erregen gegen die Regierung.“ 51 Mit einigen Gesetzen wurden die Katholiken erst in Preußen und dann im Reich in ihren Freiheitsrechten beeinträchtigt oder politisch entmachtet. Zuerst wurde die Zivilehe vor der kirchlichen Eheschließung als verpflichtend gesetzlich festgelegt. Eine Regelung, die in der Bundesrepublik Deutschland erst 2008 wieder abgeschafft wurde. Das Brotkorbgesetz verpflichtete die Geistlichen dazu, sich in den Predigten jeglicher politischer Stellungnahme zu enthalten. Dieses Gesetz sollte in der DDR bis zu deren Zusammenbruch Gültigkeit besitzen. Der Jesuitenorden wurde im Deutschen Reich verboten. Dieser galt für Bismarck als Kaderschmiede des Papstes, dem sie aufgrund ihres vierten Gelübdes in besonderer Weise unterstellt waren. Zahlreiche Pfarrstellen durften aufgrund staatlicher Verordnungen im Kulturkampf nicht mehr erneut besetzt werden. Einige Bischöfe wurden zuerst verhaftet, konnten sich dann freikaufen oder gingen ins Exil. So auch der Kölner Erzbischof Paul Ludolf Melchers, der bei Feierlichkeiten zur Fertigstellung des Kölner Doms 1880 im Exil weilte. Wegen Verstoßes gegen die preußischen Maigesetze wurde er zu hohen Geldstrafen verurteilt. 1884 verpfändete man staatlicherseits sein Vermögen. Wegen Zahlungsunfähigkeit wurde er ein halbes Jahr inhaftiert. Er entzog sich anschließend nur einer weiteren Verhaftung durch die Flucht in die Niederlande. Im Franziskanerkloster zu Maastricht sollte er nahezu zehn Jahre im Exil leben. Staatlicherseits wurde er bereits 1876 für abgesetzt erklärt. Die Verwaltung des Kirchenvermögens übernahm ein Staatskommissar. Melchers konnte jedoch seine Kontakte zur Kölner Erzdiözese ständig im Geheimen aufrecht halten.52 Als im Kulturkampf tatsächlich das Lehrerinnenseminar in Montabaur geschlossen wurde, konnte dieses nach Lutherrade verlegt werden. Schließlich wurde im September 1877 eine Niederlassung der Dernbacher Schwestern in der Bischofsstadt Roermund eröffnet und darüber hinaus eine in Vaals. In der Regel hatten diese jedoch ganz im Gegensatz zum Hause „Maria Hilf “ nur eine kurze Zeit Bestand.53 Die katholische Pfarrei von Gangelt widersetzte sich teilweise mit Erfolg den Maßnahmen des Kulturkampfes. So konnte dafür gesorgt werden, dass das Sakrament der Firmung zumindest alle fünf Jahre gespendet wurde, ———— 51 52
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Zitiert nach Geschichte. Herausforderungen der Moderne S. 225 Erwin Gatz: Paul Ludolf Melchers, in: Ders (Hrsg.): Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Berlin 1983, S. 493 - 497, hier S. 496. R. Maier S. 192.
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wobei die Firmungen 1880 in Rolduc und in Sittard 1881 auf holländischem Gebiet stattfanden.54 Doch auch die Schwestern in Gangelt sollten die Auswirkungen des Kulturkampfes zu spüren bekommen. Der preußische Staat entzog der Genossenschaft die erzieherische und die unterrichtliche Tätigkeit in den Kleinkind- und Elementarschulen sowie in den Waisenhäusern. Bereits seit 1872 durften sie aufgrund des neuen Schulaufsichtsgesetztes nicht mehr in der Verwahrschule unterrichten. Der Einspruch des Schulvorstandes und der Gemeinde Gangelt konnte nichts bewirken. Im Jahre 1876 wurde ihnen der Unterricht in der Verwahrschule verboten.55 Nach dem Tode Pius IX. und der Wahl des auf Ausgleich bedachten Leo XIII. im Jahre 1878 verlor der Kulturkampf an Schärfe und fand schließlich 1881 ein Ende. Die Verständigung zwischen Rom und Berlin vollzog sich über die Köpfe der deutschen Bischöfe und des Zentrums hinweg. Dies schmerzte insbesondere Erzbischof Melchers, der seit 1880 die preußischen Bischöfe um sich versammelte, schwer.56 Im Gegensatz zu Bismarck wollten die Liberalen keine Aussöhnung mit der katholischen Kirche.57 Schließlich kam es in den Jahren 1886-87 zu entsprechenden Friedensgesetzen. Als besonders delikates Problem galt die Wiederbesetzung des Erzbischofsstuhls Köln. Erst hielt Rom an dem alten Erzbischof fest, wohingegen sich der preußische Staat sperrte. Papst Leo XIII. entschloss sich nun dazu, aus pastoralen Gründen Melchers an die Kurie zu berufen und somit aus Preußen abzuziehen. Melchers hatte jedoch noch erreichen können, dass der ihm nahestehende Bischof von Ermland, Philipp Krementz, zu seinem Nachfolger ernannt wurde.58 Dennoch blieben die Katholiken im Deutschen Reich weiterhin benachteiligt, was sich dadurch bemerkbar machte, dass nur wenige von ihnen in Spitzenpositionen bzw. -ämter gelangten, was in Preußen insbesondere für Professorenstellen galt. Von daher spricht man vom „Untermieterstatus“ der Katholiken im Deutschen Kaiserreich. Durch die äußere Bedrängung wurden die Katholiken enger zueinander geführt. Bismarck hatte sein Ziel, den Katholizismus in Preußen und im Deutschen Reich zu spalten, nicht erreichen können. Er hatte vergeblich erhofft, die Ultramon———— 54 55 56 57 58
L. Schleyer S. 35. Dem Menschen dienen S. 13. E. Gatz, Melchers S. 496. B. Althammer S. 96- 97. E. Gatz, Melchers S. 496. Vgl. hierzu auch die einschlägigen Passagen in der Dissertation des Jubilars. Norbert Trippen: Das Domkapitel und die Erzbischofswahlen in Köln (1821-1929) (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 1). Köln Wien 1972.
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tanen von den staatstreuen Katholiken zu trennen. Die Diskussionen um den Absolutheitsanspruch des Papstes waren inzwischen verpufft.59 Die Bindung der Katholiken an das Zentrum sollte jedoch nunmehr abnehmen. So hatten Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts 83 % der Katholiken die Zentrumspartei gewählt. Im Jahre 1912 sollten es nur noch 54,6 % sein.60 Förmliche Kirchenaustritte gab es unter den Katholiken in dieser Zeit kaum. Nahezu bei 100 % lag die Teilnahme der getauften Katholiken bei der Erstkommunion. Auf eine kirchliche Eheschließung und ein kirchliches Begräbnis wollten 90 % der Katholiken nicht verzichten.61 Die Schwestern in Gangelt waren während des Kulturkampfes in einer prekären Lage. Aufgrund ihres Armutsgelübdes durften sie für ihre Krankenpflege kein Geld nehmen. Die katholische Pfarrgemeine führte nunmehr Kollekten durch, um den Lebensunterhalt der Schwestern garantieren zu können. Auch in den umliegenden Orten, wo die Schwestern in der Krankenpflege ebenso tätig waren, wurde für sie gesammelt. Teilweise spendete die Bevölkerung auch Naturalien. In den Jahren bis zum Ende des Kulturkampfes 1881 bildete neben der Krankenpflege die Erziehung von Mädchen in der Haushaltführung und in den Handarbeiten den Schwerpunkt ihrer Arbeit. Die Nachfrage war so groß, dass Ende Oktober 1876 eine Handarbeitsschule für ältere Mädchen eröffnet werden konnte.62 Die Kinderverwahrschule konnte am 1. Dezember 1881, als es zu einem Ausgleich zwischen der katholischen Kirche und dem Reich kam, wieder eröffnet werden. Von 1869 bis 1972 leiteten die Dernbacher Schwestern den Gangelter Kindergarten mit zwei Unterbrechungen zwischen 1869 bis 1872 wegen des Kulturkampes und später zwischen 1940 bis 1945 wegen der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten.63 Als 1872 in Gangelt eine Ruhr-Epidemie ausbrach, starben in der Gemeinde 52 Menschen. Nunmehr wurde deutlich, wie sehr Gangelt ein Krankenhaus nötig hatte. Die Gemeinde baute daraufhin auf dem ehemaligen Gelände des Armenhauses an der Bruchstraße ein neues Haus. Über Jahrhunderte hatten hier eine Kapelle und ein Gasthaus gestanden, in dem Arme und Durchreisende Unterkunft, Kost und gegebenenfalls auch Pflege erhielten. Der Neubau wurde 1875 in aller Stille von Pfarrer Dr. Ferdinand ———— 59 60
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Christoph Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600 -1947. 7. Auflage 2007. S. 207. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866 -1918. Erster Band. Arbeiterwelt und Bürgergeist. München 1994, S. 438 - 439. Volker Berghan. Das Kaiserreich 1871-1914 (Gebhard Handbuch der deutschen Geschichte 16). Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage. o.O. 2000, S. 166- 167. Dem Menschen dienen S. 13. Ebd. S. 12-13.
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Brandt 64 eingesegnet. Mitten im Kulturkampf war dies bei weitem keine Selbstverständlichkeit.65 Das Jahr 1875 bildete insofern einen Wendepunkt für die Kommunität und sollte wegweisend sein, da jetzt erstmals ein „armer Geistesschwacher“ aufgenommen wurde. 66
5. Die Jahrhundertwende Im Jahre 1893 traten die Sozialverbände infolge der neuen Sozialgesetzgebung an die Schwestern in Gangelt heran, geistig Behinderte aufzunehmen und darüber hinaus auch Taubstumme und Blinde. Kranke beiderlei Geschlechts wurden im Kloster aufgenommen. Auch wohnten alte Menschen hier, die sich aufgrund ihres Vermögens Anrechte erworben hatten, bis zu ihrem Lebensende gepflegt zu werden. Im Frühjahr 1893 trat die Regierung an die Ordensschwestern heran, sie sollten Geisteskranke, die bisher in der Anstalt Mariabrunn untergebracht waren, in ihrem Krankenhaus übernehmen, da dort für die große Anzahl von Patienten die Bedingungen nicht mehr den gesetzlichen Vorschriften entsprachen. Die Gangelter Schwestern erklärten sich daraufhin bereit, 25 Patienten aufzunehmen. Sie stellten jedoch gegenüber der Behörde fest, dass es ihnen aufgrund der Verhältnisse im Hause nicht erlaubt sei, Epileptiker, die heute auch noch fälschlicherweise als Geisteskranke bezeichnet werden, aufzunehmen.67 Der Schwerpunkt der Arbeit der Gangelter Schwestern bestand jedoch von nun an in der Betreuung und Verwahrung von „idiotischen Kindern“.68 Der ———— 64
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Ferdinand Brandt war bereits von 1835 bis 1845 Kaplan in Gangelt gewesen. Von 1868 bis zu seinem Tode im Jahre 1900 leitete er als Pfarrer die Kirchengemeinde Gangelt. Sein 60-jähriges Priesterjubiläum konnte er im Jahre 1895 in Gangelt feiern. Ralf Freyaldenhofen: Einblicke in die Geschichte der Pfarrgemeinde St. Nikolaus, in: Gangelt im 20. Jahrhundert (siehe oben) S. 137-142, hier: S. 137. Susanne Niehmöhlmann: Dem Menschen dienen – Die Genossenschaft der Armen Dienstmägde Jesu Christi in Gangelt, in: Gangelt im 20. Jahrhundert (siehe oben), S. 178 -192, hier: S. 179. Chronik Gangelt 1875. Die rheinische Provinzialbürokratie war nunmehr besonders daran interessiert, dass einzelne Geisteskranke in katholischen Landkrankenhäusern untergebracht wurden. Diese Entwicklung sollte bis Ende des 19. Jahrhunderts anhalten. Christian Bradl: Anfänge der Anstaltsfürsorge für Menschen mit geistiger Behinderung („Idiotenwesen“). Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte des Behindertenbetreuungswesens am Beispiel des Rheinlands im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M., S. 201. Dem Menschen dienen S. 23. Die Vorgängervereinigungen des Deutschen Caritasverbandes hatten sich in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts strikt dafür ausgesprochen, Epileptiker nicht zusammen mit Geisteskranken unter zu bringen. Chr. Bradl S. 23. S. Niehmöhlmann S. 180.
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übliche Krankenhausbetrieb ging jedoch weiter. Patienten wurden stationär zwecks Operationen aufgenommen oder gegebenenfalls auch ambulant behandelt. Einen Schwerpunkt bildeten die Amputationen.69 Für das Gangelter Krankenhaus war das Gesetz von 1891 für die Benutzung der „Privat-Irrenpflegestationen“ mit seinen Ausführungsbestimmungen von großer Bedeutung. Die staatlichen Anstalten wie die Provinzial Heim- und Pflegeklinik in Düren, die wie Gangelt zum Regierungsbezirk Aachen gehörten, waren überbelegt. Von daher mussten neue Kapazitäten geschaffen werden. Unheilbare Geisteskranke, sogenannte Pfleglinge, wurden nun in Gangelt auf Kosten der Provinzialverwaltung untergebracht. Bei Inkrafttreten des neuen Gesetzes wohnten bereits fünf Geisteskranke dauerhaft im Krankenhaus „Maria Hilf “.70 Alle Kranken mussten nun in ein Kataster eingetragen werden. Die Wohn- und Schlafräume wurden streng voneinander getrennt. Die Größe und Höhe der Räume für die verschiedenen Krankengruppen waren genau vorgeschrieben, und Sicherheitsvorschriften mussten genauestens eingehalten werden. Darüber hinaus wurden ein Isolierzimmer und Räume mit Vergitterung verlangt. Es gab Detailvorschriften wie nie zuvor: Die Essensportionen waren nunmehr genau vorgeschrieben. Die Unterwäsche der Patienten dufte nur einmal in der Woche gewechselt werden; das Kleid bzw. der Drillichanzug sogar nur alle 14 Tage. Nunmehr erfolgten von staatlicher und von kirchlicher Seite verstärkt Visitationen. Aufgrund von vorgekommenen unzulänglichen Zwangseinweisungen und Willkürmaßnahmen in vergleichbaren Kliniken kam es 1895 alleine zu fünf Visitationen. Der Gutachter der Provinzialverwaltung und des Landesdirektors lobte das Krankenhaus 1895 als „ländliche Musteranstalt“ und hob insbesondere die fachlichen Fähigkeiten der Schwestern heraus. Drei Jahre später hielt er fest: „Die Besichtigung der Idiotenanstalt zu Gangelt wird von Jahr zu Jahr immer mehr ein Vergnügen und eine Erholung, verbunden mit reicher Anregung für den Dienst bei den Blöden ... . In der Anstalt herrscht ein anziehender, heiterer Ton.“ 71 Noch vor der Jahrhundertwende weitete sich das Einzugsgebiet des Krankenhauses aus. Nun wurden auch Patientinnen aus dem Einzugsgebiet der Mosel aufgenommen. In diesem Raum hatten die Dernbacher Schwestern auch Niederlassungen. Verschiedentlich werden Trier, Zell und Bernkastel als Herkunftsorte angeführt. ———— 69 70 71
Dem Menschen dienen S. 23. Ebd. Zitiert nach Gangelt im 20. Jahrhundert S. 180.
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Erstmals trat im Jahre 1895 eine gebürtige Gangelterin, Maria Pooten, in die Genossenschaft der Armen Dienstmägde Christi ein. Die 1876 in Kievelberg, das zur Pfarrgemeinde Gangelt gehörte, Geborene erhielt den Ordensnamen Maria Sina. Sie verstarb jedoch bereits im Jahre 1898. Mit Maria Katharina Meeßen, die 1892 in Gangelt geboren wurde, trat im Jahre 1922 ein zweites Gemeindemitglied den Dernbacher Schwestern bei. Sie war überwiegend in der Niederlassung des Ordens in Niederelbert bei Montabaur tätig.72 Im Jahre 1908 ließen die Schwestern eine neue Kapelle bauen. Am 19. Juli 1908 fand die Grundsteinlegung statt. Um den Bau zu finanzieren, mussten von der ortsansässigen Kreissparkasse Kredite aufgenommen werden. Der Gangelter Christian Fischenich konnte hierfür eine Bürgschaft leisten.73 Im Jahre 1910 gab es eine Änderung in der ärztlichen Leitung des Hauses. Bei der Kontrolle der Einrichtungen durch die staatlichen Instanzen wurde bemängelt, dass der neue Anstaltsarzt Dr. Savels zunehmend an Schwerhörigkeit leide. Das Gehalt des Arztes wurde nun deutlich erhöht, weshalb sich jetzt der Tagessatz auf 0,5 Mark erhöht.74 Der neue Arzt sollte jedoch nicht lange bleiben. Als er schon nach kurzer Zeit eine Gehaltserhöhung forderte, konnten ihn die Schwestern nicht mehr halten. Sein Nachfolger wurde Dr. Flohr. Der Gangelter Bürgermeister hatte sich sehr für die Besetzung dieser Stelle stark gemacht. Da dieser sein neues Amt in Gangelt nicht sofort annehmen konnte, übernahm vorübergehend der stellvertretende Arzt Dr. Breuers die medizinische Leitung des Hauses. Für Dr. Flohr wurde für die ersten beiden Jahre ein Gehalt von 4.000 Mark ausgehandelt. Ab dem dritten Jahr sollte es dann 5.000 Mark betragen.75 Im Jahre 1913 wurde in den Räumlichkeiten des Krankenhauses endlich eine Anlage für elektrisches Licht gelegt, wobei der Preis insgesamt 4.000 Mark betrug.76
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L. Schleyer S. 66. Chronik Gangelt 1908. Chronik Gangelt 1909. Chronik Gangelt 1912. Chronik Gangelt 1913.
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6. Der Erste Weltkrieg Als am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war die Kriegsbegeisterung, auch in den überwiegend katholischen Regionen, groß. Man rechnete jedoch damit, dass der Krieg nur wenige Wochen dauern würde. Die Messen und speziellen Andachten wurden von den Daheimgebliebenen sehr gut frequentiert. Die katholischen Bischöfe verhielten sich zunächst verhalten. Sie suchten die Schuld in den moralischen Übertretungen durch die Deutschen. Kriegstreiber waren sie nicht, wie einige der höchsten Repräsentanten der evangelischen Kirche in Deutschland. Waffen wurden durch deutsche Bischöfe, wie häufig behauptet, nie geweiht. Allerdings riefen sie dazu auf, Kriegsanleihen zu zeichnen sowie Metalldächer, Glocken und Orgelpfeifen für die Herstellung von Kriegsmunition abzugeben. Je länger der Krieg dauerte, desto nachdenklicher wurden auch die Katholiken. Letzten Endes war für sie nicht erdenklich, weshalb Gott den Krieg zugelassen hatte. Die Eingebundenheit der Katholiken in die Weltkirche führte dazu, dass sie, mehrheitlich zwar Patrioten, jedoch nur sehr vereinzelt nationalistisch eingestellt waren.77 In großer Mehrheit fanden die Schriftsteller und Künstler den Kriegsausbruch als eine Erlösung, von der – wie sie empfanden – Sterilität des Vorkriegsmilieus. Nach diesem „reinigenden Krieg“ würden Kunst und Literatur wieder einen herausragenden Platz in der Gesellschaft einnehmen. Kriegsgegner wie Heinrich Mann blieben unter den Intellektuellen eine große Ausnahme.78 In Gangelt wurden ca. 100 Landwehrleute einquartiert. Sie hatten die deutsch-holländische Grenze zu kontrollieren. Von der Flandernfront kamen nach und nach die ersten Gefallenenmeldungen. Das erste Kriegsopfer, das in Gangelt zu beklagen hatte, war der der Hornist Josef Meeßen. 79 Die Sektoren der Volkswirtschaft, dies betraf insbesondere die Wohnungswirtschaft und den Einzelhandel, wurden dirigistisch gehandhabt. Erst im weiteren Verlauf des Krieges waren geringfügige Erhöhungen der Mieten erlaubt. Bereits seit dem 4. August 1914 hatte das Stellvertretende Heeres———— 77
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Vgl. hierzu: Hermann-Josef Scheidgen: Deutsche Bischöfe im Ersten Weltkrieg. Die Mitglieder der Fuldaer Bischofskonferenz und ihre Ordinariate 1914-1918 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 18). Köln, Weimar, Wien 1991. Andreas Hillgruber, Jobst Dülfer (Hrsg.): Geschichte der Weltkriege. Mächte, Ereignisse, Entwicklungen 1900 -1945. Freiburg i.Br., Würzburg 1981. Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers. München 2008. Wolfgang J. Mommsen: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914 -1918 (Handbuch der deutschen Geschichte 17). Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart o.J., S. 113. Gangelt im 20. Jahrhundert S. 35.
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kommando in einer Reihe von Korpsbezirken Höchstpreise für bestimmte Waren und Güter festgesetzt. Seit Juli 1915 war der überhöhte Gewinn beim Verkaufen verboten. Preise galten dann als erhöht, wenn bei einem Händler höhere Preise als in Friedenszeiten erzielt wurden. Damit wollte man den Volkszorn in Schranken halten und auch die Frontsoldaten beruhigen, die sich um die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familien kümmerten. Mit dieser Art der Planwirtschaft beeinträchtige man das kapitalistische Marktsystem. Dies führte schließlich dazu, dass der Einzelhandel aufgrund dieses Lohndumpings immer weniger Produkte anbieten konnte, was zu Protesten in den Städten führte. Diese Einschränkungen bezogen sich durchaus auch auf Lebensmittelprodukte.80 Das Krankenhaus „Maria Hilf “ überstand die Kampfhandlungen weitestgehend unbehelligt. Die Gemeinschaft war insofern betroffen, als zwei Knechte in den Krieg eingezogen wurden. Außerdem musste man zwei Pferde abgeben. Kupfergegenstände wurden für die Waffenproduktion staatlicherseits beschlagnahmt. 81 Dies galt auch für die Küchenkessel. Auch die Glocken in den umliegenden Dörfern wurden abtransportiert; nicht jedoch die der Gangelter Pfarrkirche. Da sie aus historischen Gründen als sehr wertvoll galten, hatte man sie nicht abmontiert.82 Die älteste dieser Glocken stammte aus dem Jahre 1637 und wurde von Franziskus Trier gegossen.83 Im Jahre 1915 begann die allgemeine Lebensmittelknappheit. Hungerkarawanen zogen von den Städten in die Länder. Durch die Seeblockade der Engländer kam es zu großen Engpässen bei den Lebensmittelimporten. Nun mussten Lebensmittelmarken eingeführt werden. Durch das zügige Abschlachten von Rindern und Schweinen gab es kaum noch Frischfleisch zu kaufen. Seitens der Regierung wurde nun die Herstellung von Fleischkonserven verboten und die Wurstproduktion eingeschränkt.84 Bei den Mahlzeiten musste nun auch im Krankenhaus reduziert werden. So gab es seit dem zweiten Kriegsjahr wöchentlich nur noch eine Fleischration von 350 Gramm pro Woche und 150 Gramm Brot pro Tag. Kartoffeln standen nur noch für das Mittagsessen zur Verfügung.85 ———— 80 81 82 83 84 85
W. J. Mommsen S. 93. Gangelt im 20. Jahrhundert S. 35. Ebd. L. Schleyer S. 93-95. Gangelt im 20. Jahrhundert S. 35. Dem Menschen dienen S. 41.
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Das Jahr 1917 war für Gangelt ein schlimmes Hungerjahr. Für viele Arbeiter wurde jedoch die Öffnung der Zeche Carolus Magnus zu einer hoffnungsvollen Perspektive.86 Die Schwestern konnten anfangs nur erschwert und später die Grenze zu Holland gar nicht mehr überschreiten. Erst mit dem Waffenstillstand von 1918 war die Grenze wieder frei zu passieren. Einige schmerzlich vermisste Gegenstände konnte man sich nun wieder in Holland besorgen. Dies galt auch für die niederländischen Stoffe, mit denen sie auch das Dernbacher Mutterhaus versorgten. In den letzten Jahren hatten sie es über die streng bewachte Grenze geschmuggelt.87 Wenn Kleidungsstücke fehlten, dies galt auch für die Schwestern, musste man auf dem Amt das alte verschlissene Kleid vorlegen, um den Anspruch für ein neues zu erwerben.88 In den ersten zwei Kriegsjahren konnten die Schwestern jeweils etwa 100 Päckchen an die Front verschicken. Diese beinhalteten Hemden, Leibbinden, Handschuhe, Knie- und Pulswärmer sowie Tabak, Zigarren, Cognac, Zucker und Wurst.89 Im Kriegsjahr 1917 starben in Gangelt viele Bewohner an Lungenentzündung und an Tuberkulose. Sicherlich war dies auch eine Folge der schlechten Versorgung mit Lebensmitteln.90 Inzwischen war die Zahl der Schwestern auf 22 angestiegen. Erstmals durften in diesem Jahr „Privatkranke“ aufgenommen werden. Die hierfür zuständige Behörde, das Regierungspräsidium in Aachen, hatte diese Genehmigung erteilt. Im Krankenhaus wurden nun stets zwei bis drei deutsche Soldaten untergebracht. Außerdem ordnete man den Schwestern zwei russische Kriegsgefangene zu, die ihnen bei der Arbeit helfen sollten.91 Insgesamt gab es in Gangelt 80 russische Kriegsgefangene, die überwiegend in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Als die Spanische Grippe in Gangelt ausgebrochen war – an ihr starben im Ersten Weltkrieg mehr Menschen als Soldaten im Felde – erkrankten daran zahlreiche Schwestern und „Pfleglinge“. Während die Schwestern alle überlebten, starben eine Reihe „Pfleglinge“ daran.92 Im Ersten Weltkrieg diente die Gangelter Filiale der Dernbacher Schwestern insbesondere als Schaltstelle für die Niederlassungen des Ordens im ———— 86 87 88 89 90 91 92
Gangelt im 20. Jahrhundert S. 35. Dem Menschen dienen S. 41. Chronik Gangelt 1916. Chronik Gangelt 1914. Dem Menschen dienen S. 40. Chronik Gangelt 1917. Chronik Gangelt 1918.
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Ausland.93 Die schon traditionellen Weihnachtsbescherungen für die Kinder wurden in den Kriegsjahren beibehalten, doch fielen sie etwas ärmlicher aus. Diese reduzierten sich nunmehr auf Kleidungsstücke und Kohlen sowie kleinere Geldbeträge.94 Insgesamt fielen im Ersten Weltkrieg 56 Soldaten, die aus Gangelt stammten.95 Als der erste Band von Oswald Spenglers Werk „Der Untergang des Abendlandes“ 1918 erschien, traf dieser sehr genau das Epochengefühl der Zeitgenossen. Der Erste Weltkrieg war der „Große Krieg“ gewesen. Etwa 10 Millionen Menschen hatten zwischen 1914 und 1918 ihr Leben verloren. Über 20 Millionen waren verwundet worden. Mehr als 71 Millionen Menschen hatten in diesem Krieg gekämpft, alleine 32 Millionen auf Seiten der Mittelmächte. Sechs Millionen wurden gefangen genommen. Mit dem Krieg waren die zwischenstaatlichen Probleme jedoch nicht verringert, sondern wurden noch vermehrt. Der Versailler Vertrag und die verschiedenen Pariser Vorortsverträge brachten neue Spannungen mit sich. Aus den Nachkriegsverträgen wurden bald Vorkriegsverträge. Der ehemalige italienische Ministerpräsident Francesco Nitti stellte 1921 fest: „Die Friedensverträge sind die Fortführung des Krieges.“ 96 Auffallend sind im Ersten Weltkrieg die hohen Zunahmequoten von hysterischen Krankheitsbildern. Heute würden wir von posttraumatischen Belastungsstörungen sprechen. Wird in der Psychoanalyse Sigmund Freuds diese Erkrankung vorwiegend Frauen zugesprochen und auf eine Verdrängung der Libido zurückgeführt, so wird sie im Ersten Weltkrieg zu einer Männerkrankheit. Alleine schon die bereits beschriebene Kriegsbegeisterung kann als Massenhysterie angesehen werden. In einem Schema zur Untersuchung von Kriegshysterie von 1919 werden folgende Krankheitssymtome aufgelistet. „Blindheit, Taubheit, Sitz-, Geh-, Steh- und Sprachstörungen. Zittern verschiedener Extremitäten in unterschiedlichen Stärkegraden ... Dämmerzustände, Lähmungserscheinungen, Labilität der Stimmung, Suggestibilität und theatralisches Gebaren ... Schlafanfälle, Krampfanfälle ohne völligen Bewusstseinsverlust ... .“ 97 Damit war damals die Hysterie mit ca. 16 % die häufigste aller psychischen Erkrankungen der Männer.98 Es lässt ———— 93 94 95 96 97
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Dem Menschen dienen S. 41. Chronik Gangelt 1915. L. Schleyer S. 17. Horst Möller: Europa zwischen den Weltkriegen. München 1998, S. 1. Julia Barbara Köhne: Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens (1914- 1920) (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 106) o.O. o.J., S. 41. Ebd. S. 39.
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sich quellenmäßig nicht nachweisen, doch ist es sehr wahrscheinlich, dass solche Patienten auch im Gangelter Krankenhaus therapiert wurden.
7. Vom Kaiserreich zur Republik Mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg ging für Deutschland auch die Monarchie zu Ende. Kaiser Wilhelm II. musste abdanken und wählte Holland zum Exil. Das Ende des Kaiserreichs war bereits durch Matrosenaufstände im Jahre 1917 eingeleitet worden. Es waren Matrosen der unteren Ränge gewesen, die in der deutschen Marine gemeutert hatten. Die ersten Proteste gingen von Wilhelmshaven aus, weitere von Kiel. Die Soldaten waren kriegsmüde und sahen einen deutschen Sieg nun als unmöglich an. Bei den Unruhen auf den Schiffen spielte nicht zuletzt die Versorgung mit Lebensmitteln eine nicht unbedeutende Rolle. Die unteren Mannschaften beklagten häufig, dass sie im Gegensatz zu den Offiziersmannschaften keinen Aufschnitt und zu wenig Fleisch zu essen bekamen. Schließlich kam es 1918 zur Revolution und in vielen Städten und Gemeinden zur Bildung von Soldaten- und Arbeiterräten. Sie verwirklichten ein imperatives Mandat nach dem Vorbild der Pariser Kommune, was bedeutete, dass einer, der in einen Rat gewählt wurde, von den Wählern jederzeit wieder abberufen werden konnte. Doch nicht nur Kommunisten, die diesen politischen Vorstellungen entsprachen, sondern ebenso sozialdemokratische sowie katholische Zentrumspolitiker oder Liberale ließen sich in diese Gremien wählen. Auch in Gangelt hatte sich am 17. November 1918 ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet, in dem auch zahlreiche Bürger vertreten waren. Einberufen wurde er durch den Gangelter Bürgermeister Ferdinand Nießen. Bemerkenswerterweise war auch der katholische Klerus an der Rätebildung beteiligt. Pfarrer Leopold Schleyer und sein Kaplan Rektor Reese hatten dazu aufgerufen, alle Kräfte für das Vaterland zu mobilisieren. Sie wollten keine Partei gründen, sondern plädierten für die Einberufung einer Nationalversammlung. Die belgische Besatzung löste am 13. Dezember 1918 den Arbeiterund Soldatenrat auf. Über Gangelt wurde eine Ausgangssperre verhängt.99 Für den Historiker Thomas Nipperdey hatte die Revolution ihre eigene Gültigkeit und darf nicht bloß als ein Zwischenspiel auf dem Weg in die Weimarer Republik gesehen werden.100 Wenige Stunden bevor Karl Liebknecht und ———— 99 100
Gangelt im 20. Jahrhundert S. 26. Hans-Peter Ullmann: Politik im Deutschen Kaiserreich 1871-1918 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 52). 2. durchgesehene Auflage. München 2005, S. 107.
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Rosa Luxemburg am 9. November 1918 die Räterepublik in Berlin ausgerufen hatten, war von dem zu den Mehrheitsdemokraten zählenden Philipp Scheidemann die Republik ausgerufen worden. Die Zentrumspartei und die Sozialdemokratie bildeten gewisserweise in den nächsten Jahren die Säule der Weimarer Republik. In der so genannten Weimarer Koalition arbeiteten sie verschiedentlich miteinander. Dies wurde im deutschen Episkopat teils nicht gerne gesehen, da sich die Sozialdemokratie in dieser Zeit noch antiklerikal gab und in einem Teil dem Freidenkertum verpflichtet war. Im Jahre 1919 feierte die Gangelter Niederlassung der Armen Dienstmägde Christi ihr 40-jähriges Bestehen. Den äußeren Umständen entsprechend, wurde es ernst und still sowie ohne großen Aufwand begangen. Der Gangelter Bürgermeister sorgte dafür, dass ihm aus diesem Anlass von der Gemeinde Gangelt bzw. von der zuständigen Armenverwaltung die Grundstücke des Klosters übergegeben wurden. Diese wurden nominell der Schulund Pflegeanstalt Marianum zu Limburg an der Lahn übertragen. Dies war wichtig, da die Parzellen zuvor unterschiedliche Eigentümer gehabt hatten. Eines gehörte dem früheren Rektor Joseph Heyden, zwei der ehemaligen Oberin Schwester Agnes Hotter, vier der Armenverwaltung und fünf der Zivilgemeinde. Die Stifter hatten zur Bedingung gemacht, dass am Ostrand des Grundstückes ein Friedhof für die verstorbenen Pfleglinge einzurichten sei. Im Jubiläumsjahr bestand die Gangelter Niederlassung der Dernbacher Schwestern außer der Klosteranlage aus einer Kinderbewahr- und einer Nähschule sowie einem Krankenhaus und einen „Idiotenheim“.101 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Gangelt von den Alliierten besetzt; im Februar 1919 zuerst von französischen Truppen und 1920 von belgischen Truppen, die bis 1922 verblieben. Erst im Juli 1930 zogen im Rheinland die restlichen Truppen ab.102 Während der französischen Besatzungszeit wurde das Krankenhaus erst von Offizieren inspiziert, woraufhin drei Zimmer der Ökonomiegebäude vorübergehend beschlagnahmt wurden.103 Mit dem Kriegsende stiegen die Preise für Lebensmittel deutlich an. Kartoffeln kosteten bald 70 Mark pro Zentner. Viele Gangelter gingen aufgrund der schlechten Wirtschaftslage ins benachbarte Brunssum zur Zeche, um mit Gulden entlohnt zu werden.104 ———— 101 102 103 104
Dem Menschen dienen S. 41. L. Schleyer S. 29. Dem Menschen dienen S. 41. Gangelt im 20. Jahrhundert S. 36.
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In den 40 Jahren, in denen die Niederlassung Gangelt existierte, war in der Rheinprovinz keine weibliche caritative Genossenschaft so angestiegen wie die der Armendienstmägde Jesu Christi. Mit 3.300 Mitglieder in den unterschiedlichsten Ländern war sie nunmehr die größte Genossenschaft dieser Art im ganzen Rheinland.105
8. Der Wandel in der Psychiatrie – ein Ausblick In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts kam es in der Psychiatrie zu einer großen Reform. Ausgegangen ist sie von politisch links stehenden Psychiatern und Soziologen. Zu nennen sind hier in erster Linie Franco Basaglia, Michel Foucault und Ronald D. Laing. Basaglia hatte von ihnen in gesellschaftlicher Hinsicht den größten Einfluss gehabt. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden auf sein Betreiben hin staatliche italienische Psychiatrie-Kliniken geschlossen. Es ist das große Verdienst des französischen Philosophen und Historikers Michel Foucault gewesen, die Geschichte der Psychiatrie aufzuarbeiten. Basaglia, Laing und Foucault sind der Auffassung, dass Kategorien „normal“ und „verrückt“ keine zulässige Einteilungen sind. Laing geht davon aus, dass dem als psychotisch Bezeichneten in seinem Bewusstsein besonders viele Wahrnehmungsfilter fehlen, die sogenannte „Normale“ besitzen. Foucault geht noch weiter und behauptet, dass die gängigen Bezeichnungen der Schulpsychiatrie vollkommen willkürlich gesetzt seien. Er sieht hierbei ein gesellschaftliches Interesse am Werk und klagt dieses als Ursache für vielerlei Leiden der Kranken an. Wenn sich diese Theorien auch nicht durchsetzen konnten, so haben diese jedoch zumindest in dem Aspekt die Psychiatrie in Deutschland befruchtet, indem z.B. das mit der Geisteskrankheit verbundene negative Image zu einem großen Teil aufgehoben wurde. Sie wird heute nicht mehr als Fluch dämonisiert.106 In diesem Zusammenhang sind die Thesen Manfred Lütz’ von Bedeutung, die er in seinem Buch „Irre! Wir behandeln die Falschen. Das Problem sind die Normalen.“ aufstellt. Lütz, der nicht nur Psychiater und katholischer Theologe ist, hat auch Philosophie studiert und außerdem drei verschiedene Ausbildungen als Therapeut nachzuweisen (klassische Analyse, ———— 105 106
Chr. Bradl S. 193. Uwe Henrik Peters: Kindlers „Psychologie des 20. Jahrhunderts“. Zwei Bände. Weinheim, Basel 1983. Elisabeth Roudinesco; Michel Plon. Wörterbuch der Psychoanalyse. Namen – Länder – Werke – Begriffe. Wien, New York 2004.
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Gesprächstherapie nach Carl Rogers und Lösungsorientierte Therapie nach Paul Watzlawick). Lütz vertritt die Auffassung, dass der Psychiater eine Psychose diagnostizieren kann wie der Hausarzt eine Erkältung. Andererseits habe jede psychische Erkrankung etwas Individuelles. Die speziellen Einteilungen sind daher im Sinne Max Webers nur idealtypisch zu verstehen. 107 Zeitlich einhergehend mit der Antispsychiatriebewegung wurden in den sechziger Jahren die Neuroleptika in der Pharmakologie entwickelt. Die Einsetzung dieser Medikamente in den folgenden Jahren führte dazu, dass Psychosen wie z.B. die Schizophrenie besser therapiert werden konnten. So müssen Patienten heute weitaus seltener fixiert werden. Diese Medikamente haben jedoch gravierende Nebenwirkungen wie z.B. ein starker Tremor oder Krämpfe. Neuere Präparate dieser Art schließen diese Nebenwirkungen weitgehend aus, können jedoch – ebenfalls als Nebenwirkungen – zu gefährlichen Veränderungen des Blutbildes führen.108 Einschneidend für die Psychiatrie in Deutschland war die PsychiatrieEnquête auf Bundesebene von 1975. Spuren der Antipsychiatriebewegung lassen sich hier vereinzelt finden. Die im Abschlusskommuniqué angeprangerten schlechten Zustände in der flächendeckenden psychosozialen Versorgung wurden im Deutschen Bundestag erst 1979 diskutiert. Die vier wichtigsten Forderungen dieses Gremiums waren: „1 bedarfsgerechte und umfassende Versorgung aller psychisch Kranken und Behinderten 2. eine gemeindenahe Versorgung der psychisch Kranken, Eingliederung in die Gesellschaft und den unmittelbaren Lebensraum statt Ausgrenzung 3. Koordination aller Versorgungsgebiete 4. Gleichstellung von psychisch Kranken und somatisch Kranken“ 109 Ende 1988 musste eine Expertenkommission der Bundesregierung feststellen, dass die gesteckten Ziele bei weitem noch nicht alle vollständig erreicht waren. Man forderte u.a. für psychisch Kranke eine Teilhabe an Ausbildung, Arbeit und Beschäftigung zu schaffen. Auch dürften sie nicht mehr weitgehend aus dem gesellschaftlich-kulturellen Leben ausgeschlossen werden. Eine Enthospitalisierung der Kranken wurde ebenso erwartet wie neue ———— 107 108
109
Manfred Lütz: Irre! Wir behandeln die Falschen. Das Problem sind die Normalen. Bielefeld 2009. Hans Joachim Haase: Neuroleptika: Fakten und Erlebnisse, in: Ottfried K. Linde (Hrsg.), Pharmakopsychiatrie im Wandel der Zeit. Erlebnisse und Ergebnisse; Wissenschaftsanekdotisches von Forschern und ihren Formeln. Klingenmünster 1988, S. 137-154. Zitiert nach: Dem Menschen dienen S. 114.
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Tageskliniken, weitere Institutsambulanzen und ein gemeindepsychiatrisches Verbundsystem.110 Aus der Niederlassung der Dernbacher Schwestern in Gangelt von 1869, in der 1875 der erste geisteskranke Patient aufgenommen wurde, sind die Gangelter Einrichtungen hervorgegangen, die heute insgesamt ca. 1.000 MitarbeiterInnen zählen. Sie werden erfolgreich betrieben von der Maria Hilf NRW gGmbH unter der Geschäftsleitung von Dieter Erfurth und Dr. Johannes Güsgen. Mit sieben Psychiatriestationen, zwei Tageskliniken und einer Psychiatrischen Institutsambulanz sind sie eine der größten Einrichtungen dieser Art in ganz Deutschland. Sie haben in vorbildhafter Weise die Forderung der Enquêtekommission von 1975 umgesetzt. Seitens des Ordens der Armen Dienstmägde Jesu Christi ist heute Schwester Patricia als Oberin für das Fachkrankenhaus zuständig. Das Einzugsgebiet der Klinik erstreckt sich nicht nur auf den Kreis Heinsberg. Zahlreiche Patienten und Patientinnen kommen auch aus den angrenzenden Niederlanden sowie aus Belgien.
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Dem Menschen dienen S. 115-116.
Das Kölner Domfest 1948 in Bad Godesberg. Ein Vorbote für die zukünftige Hauptstadtregion von Norbert Schloßmacher
„Das Kölner-Domfest war ein Markstein in der Entwicklung der Kölner Kirche und für das ganze katholische Deutschland. Köln war als Metropole des deutschen Katholizismus vor der ganzen Welt aufgetreten.“ Mit diesen Worten urteilte Josef Kardinal Frings 1973, ein Vierteljahrhundert nach dem Domfest, als Alt-Erzbischof, in seinen Erinnerungen über das maßgeblich von ihm selbst, gleichsam höchst persönlich auf den Weg gebrachte und gestaltete Großereignis.1 Doch weder Frings in der Rückschau noch sein Biograph 2, dem diese – vor dem Hintergrund seines Forschungswerks äußerst bescheiden ausfallenden – Zeilen gewidmet sind, erwähnen, dass auch das schon wenig später hauptstädtische Funktionen wahrnehmende Bad Godesberg im Rahmen jener vom 14. bis zum 22. August 1948 dauernden Festwoche 3 eine wichtige Rolle gespielt hat. Neben der inoffiziellen Begrüßung der römischen Delegation am Mittag des 14. August erlebte die Badestadt drei Tage später auch einen „Besuch hoher Kirchenfürsten in Bad Godesberg“, bei der die barocke Michaelskapelle sowie die benachbarte Godesburg, eine ehemals kurkölnische Landesburg, im Mittelpunkt standen.4 ———— 1
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Josef Kardinal Frings, Für die Menschen bestellt. Erinnerungen des Alterzbischofs von Köln, Köln 1973, S. 133. Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887-1978) 2 Bde (Veröffentlichung der Kommission für Zeitgeschichte B, 94 u. 104), Paderborn 2003 u. 2005, hier Bd. 1, V 5 (Seelsorge und äußerer Wiederaufbau im Erzbistum Köln bis zum Domjubiläum 1948), S. 209- 226. Vgl. auch Dieter Froitzheim (Hg.), Kardinal Frings. Leben und Werk, Köln ²1980, sowie Josef van Elten (Bearb.), Pro hominibus constitutus. Gedenkausstellung des Historischen Archivs des Erzbistums Köln zum 100. Geburtstag von Josef Kardinal Frings am 6. Februar 1987. Ausstellungskatalog, Köln 1987. Vgl. hierzu Norbert Trippen, Das Kölner Domfest 1948. Rückbesinnung auf die mittelalterlichen Wurzeln in der Not der Gegenwart, in: Ludger Honnefelder, Norbert Trippen und Arnold Wolf (Hgg.), Dombau und Theologie im mittelalterlichen Köln. Festschrift zur 750-Jahrfeier der Grundsteinlegung des Kölner Domes und zum 65. Geburtstag von Joachim Kardinal Meisner 1998 (Studien zum Kölner Dom 6), Köln 1998, S. 349- 366. Auch die einschlägigen Stadtgeschichten erwähnen die Ereignisse nicht: vgl. Helmut Vogt, Bonn in Kriegs- und Krisenzeiten 1914-1948, in: Dietrich Höroldt (Hg.), Von einer französischen Bezirksstadt zur Bundeshauptstadt (Geschichte der Stadt Bonn 4), Bonn 1989, S. 437- 638; Wilfried Rometsch, Die Geschichte von Bad Godesberg, Weilerswist 2010. Zur Michaelskapelle vgl. Norbert Schloßmacher, Burgkapelle, Bastion, Oratorium, Pfarrkirche. – Die Geschichte der Michaelskapelle in Bad Godesberg, in: Godesberger Heimatblätter 37, 1999, S. 83-134, sowie Ders., Michaelskapelle und Marienkirche in Bonn – Bad Godesberg (Rheinische Kunststätten 454), Neuss 2000; zur Godesburg vgl. Walter Haentjes, Geschichte der Godesburg, Bonn 1960, sowie Norbert Schloßmacher, 800 Jahre Godesburg. 1210- 2010. Begleitpublikation zur
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„Besuch hoher Kirchenfürsten in Bad Godesberg“, so lautet der Text des Widmungsblattes in einem unlängst dem Pfarrarchiv St. Marien in Bad Godesberg übereigneten Fotoalbum. Es enthält 22 Aufnahmen des Fotografen Gottfried Richrath (1897-1956), der seit 1947 in Bad Godesberg tätig war und am dortigen Aennchenplatz ein Geschäft mit Atelier führte. Ein Teil der Fotografien zeigt die Ankunft der hochrangigen römischen Delegation um den päpstlichen Legaten Kardinal Micara am Bahnhof Bad Godesberg am 14. August und ihre Begrüßung durch Kardinal Frings, die übrigen Bilder stammen vom 17. August, als die Godesburg Ziel jener „hohen Kirchenfürsten“ war. Anhand der Aufnahmen lassen sich die weitestgehend in Vergessenheit geratenen, dabei äußerst symbolträchtigen und richtungsweisenden Programmpunkte des Kölner Domfestes von 1948 recht genau rekonstruieren. Die Fotografien und die wenigen überlieferten schriftlichen Dokumente belegen, dass die weit über die Grenzen des Erzbistums hinaus wahrgenommenen Ereignisse des Domfestes sich zwar in erster Linie in seinem geistigen und religiösen Zentrum, eben in der Stadt Köln, zutrugen, dass es aber auch das Anliegen der Organisatoren war, die Idee und die Botschaft dieser Jubiläumsveranstaltung hinaus ins Land zu tragen. Die bislang unbekannten Aufnahmen zeigen zudem, dass die für Köln überlieferte Begeisterung der Menschen, die teilweise enthusiastische Züge trug, auch in die Region ausstrahlte. Dass das einwöchige Fest mit seinen protokollarisch hochrangigen internationalen Gästen in der Rückschau wie ein Fingerzeig auf die zukünftige Hauptstadtregion der Bundesrepublik Deutschland erscheint, kommt als Besonderheit hinzu. Zunächst einige wenige Hinweise zum Fest selbst, das, jedenfalls in Bezug auf die rund um den Dom selbst stattgefundenen Ereignisse, gut dokumentiert und erforscht ist.5 Bereits in seinem ersten offiziellen Bericht an den Hl. Stuhl nach Kriegsende, er trägt das Datum 1. Juli 1945, hatte der Kölner Oberhirte auf das in drei Jahren zu begehende Domjubiläum, nämlich die 700 Jahrfeier der Grundsteinlegung einer der größten Kathedralen der Weltkirche – am 15. August 1248 durch Erzbischof Konrad von Hochstaden – hingewiesen. Frings hatte darin seine Hoffnung ausgedrückt, dass der Dom zu diesem Zeitpunkt „wieder in Benutzung genommen werden kann“.6 Zwar war der ———— 5
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gleichnamigen Ausstellung von Stadtarchiv und Stadthistorischer Bibliothek Bonn im Haus an der Redoute in Bonn – Bad Godesberg (Dezember 2010), Bonn 2010. Neben den in den Anmerkungen 1 bis 3 genannten Publikationen sei hingewiesen auf: Des Domes Ruf. Gesamtbericht der 700 Jahrfeier 15.- 22. Aug. 1948, hg. von der Kölnischen Rundschau, Köln 1948, sowie: Kölner Domjubiläum 1948. Dokumentenband, hg. vom Metropolitankapitel Köln, Düsseldorf 1950. Vgl. hierzu und zum Folgenden, soweit nicht eigens angemerkt, Trippen, Domfest (wie Anm. 3).
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Bau als Ganzes trotz der verheerenden Zerstörungen der Kriegsjahre wie durch ein Wunder erhalten geblieben – auf Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsbildern wirkt das mächtige Gotteshaus gar wie das einzige heil gebliebene Bauwerk in einer weiten und öden Trümmerlandschaft – die Schäden an der gotischen Kathedrale waren dennoch gewaltig, und es schien Vielen mehr als fraglich, ob der von Frings geäußerte Wunsch nach einer zumindest teilweisen Nutzung des Doms im Sommer 1948 vor dem Hintergrund der allgemeinen Not nicht doch allzu optimistisch war.7 Frings verlor sein Ansinnen – (Teil)Wiederherstellung des Doms und ein damit verbundenes, die Kölner Kirche festigendes und möglichst weit darüber hinaus ausstrahlendes Fest – trotz vieler skeptischer Stimmen nicht mehr aus den Augen. Im Laufe der Zeit wurden seine Pläne immer konkreter, vor allem war ihm sehr daran gelegen, prominente Kirchenvertreter aus dem In- und vor allem aus dem Ausland für die Mitfeier des Domfestes zu gewinnen. Insgesamt sollten sieben Kardinäle und mehr als 30 Bischöfe seiner Einladung nach Köln folgen, darunter viele ranghohe kirchliche Repräsentanten gerade aus solchen Ländern, mit denen Deutschland noch wenige Jahre zuvor Krieg geführt hatte, wie Frankreich, Belgien, die Niederlande und Großbritannien. 8 Wie unsicher die Organisatoren im Vorfeld des Domjubiläums hinsichtlich der Zusagen vor allem der Gäste aus den noch wenige Jahre zuvor „verfeindeten“ Ländern waren, erhellt aus folgender von Frings in seinen Erinnerungen festgehaltenen Situation: Offenbar hatte man voller Spannung auf die Antworten der Geladenen gewartet, das Ganze scheint eine Art VabanqueSpiel gewesen zu sein, und erst nachdem der Erzbischof von Paris sein Kommen zugesagt hatte, machte sich Erleichterung breit: Frings zitiert seinen Generalvikar Emmerich David (1882-1953, Generalvikar von 1931-1952) 9, der sich – laut Frings – „auf den Umgang mit Kardinälen und auf internationale Beziehungen verstand“. David sagte: „Jetzt haben wir gewonnenes Spiel. Wenn Paris zusagt, dann muß auch London kommen und ebenfalls Belgien, die können jetzt gar nicht mehr anders.“ 10 ———— 7
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Zu den Schäden: Willy Weyres, Kriegsschäden und Wiederherstellungsarbeiten am Kölner Dom, in: Der Kölner Dom. Festschrift zur Siebenhundertjahrfeier 1248-1948, hg. vom Zentral-DombauVerein, Köln 1948, S. 341- 354. Ein genaues Verzeichnis der am Domfest teilgenommenen geistlichen Würdenträger in: Dokumentenband (wie Anm. 5), S. 73f. Eine Kurzbiographie: Eduard Hegel, in: Erwin Gatz (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder (1945- 2001). Ein biographisches Lexikon, Berlin 2002, S. 304. Vgl. auch: Ders., Das Erzbistum Köln zwischen der Restauration des 19. Jahrhunderts und der Restauration des 20. Jahrhunderts (1815-1962) (Geschichte des Erzbistums Köln 5), Köln 1987, S. 165f. u. passim. Frings, Für die Menschen (wie Anm. 1), S. 124.
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An der Spitze der Besucher stand der päpstliche Legat – um die Entsendung eines solchen, das Domjubiläum in besonderer Weise adelnden Abgesandten hatte Frings sich besonders bemüht 11 – Clemente Kardinal Micara (1879-1965), Kardinalbischof von Velletri. Als besondere Wertschätzung wurde empfunden, dass der Papst seinen Neffen, Fürst Giulio Pacelli, Offizier der Nobelgarde, der schon zwei Jahre zuvor als Bote bei der Kardinalserhebung Frings’ fungiert hatte 12; zum Domfest entsandte. Bei den übrigen Kardinälen handelte es sich um den Erzbischof von Paris, Emmanuel Coelestin Kardinal Suhard (1874-1949), den Erzbischof von Mechelen, Ernest Kardinal van Roey (1874-1961), Bernard Kardinal Griffin (18991956), Erzbischof von Westminster, Johannes Kardinal de Jong (18851955), Erzbischof von Utrecht – Griffin und de Jong sowie der schon genannte Kardinal Micara waren im gleichen Geheimen Konsistorium wie Frings durch P. Pius XII. zu Kardinälen erhoben worden und hatten gemeinsam 1946 das Kardinalspurpur erhalten -, sowie den Wiener Erzbischof Theodor Kardinal Innitzer (1875-1955) und den München-Freisinger Oberhirten, Michael Kardinal Faulhaber (1896-1952). Zu den prominenten Gästen des Domfestes gehörte schließlich auch Bischof Alois Muench (18891962), ein US-Amerikaner mit deutschen Wurzeln, der seit 1946 als Apostolischer Visitator für Deutschland mit Sitz in Kronberg/Taunus sowie als Berater der US-Militärregierung fungierte, Hilfslieferungen im großen Stil in das darbende Nachkriegsdeutschland organisierte und 1951 erster Nuntius in der jungen Bundesrepublik Deutschland mit Sitz in Bad Godesberg werden sollte. Seine Rolle in Bezug auf die sich allmählichen normalisierenden Beziehungen, insbesondere zu den Vereinigten Staaten, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.13 Vergeblich gehofft hatte man auch auf den Besuch des politisch bereits stark unter Druck stehenden Primas von Ungarn, den Erzbischof von Esztergom, József Kardinal Mindszenty (18921975), der ebenfalls gemeinsam mit Frings 1946 Kardinal geworden war; noch am 31. Mai hatte er sein Kommen avisiert, am 18. August musste er ———— 11
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Vgl. Trippen, Frings 1 (wie Anm. 2), S. 216f. Gegen die ursprüngliche Absicht des Hl. Stuhls, der Einfachheit halber Frings selbst zum Kardinallegaten zu ernennen, wehrte sich der Kölner Erzbischof mit Erfolg; vgl. ebd., sowie Frings, Für die Menschen (wie Anm. 1), S. 124. Vgl. Trippen, Frings 1 (wie Anm. 2), S. 146. Muench war 1935 Bischof von Fargo im US-Bundesstaat North Dakota geworden. Er trat für eine maßvolle Behandlung des besiegten Deutschland ein, beispielsweise verwarf er den MorgenthauPlan. 1959 wurde er an den Hl. Stuhl berufen und erster US-amerikanischer Kardinal. Vgl. die Biographie: Coleman J. Barry, American Nuncio. Cardinal Aloisius Muench, Collegeville 1969, sowie die kritische Studie: Suzanne Brown-Fleming, The Holocaust and Catholic Conscience. Cardinal Aloisius Muench and the Guilt Question in Germany, University of Notre Dame 2005.
Das Kölner Domfest 1948 in Bad Godesberg
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einen Rückzieher machen: „Leider habe ich bis zum heutigen Tage meinen Paßport nicht bekommen ...“ 14 Ein heute wohl kaum noch vorstellbarer organisatorischer, vor allem auch logistischer Aufwand war in diesen immer noch von großer Not geprägten Nachkriegsjahren betrieben worden, einmal um die Arbeiten am Dom fristgerecht zu vollenden, dann aber auch um die zahlreichen Gäste adäquat unterzubringen und zu versorgen, sowie den zahlreichen Großveranstaltungen den adäquaten Rahmen zu geben. Im Dezember 1947 waren Kommissionen gebildet worden, um das Fest und alles, was damit zusammen hing, bis ins kleinste Detail vorzubereiten. In seinem Hirtenschreiben vom 14. Juni 1948 hatte Frings seine – auch noch aus heutiger Sicht äußerst ambitionierten – Ziele für das Domfest umrissen: So hoffte er zum einen auf eine engere Bindung der Gläubigen an das Bistum, das heißt an eine verstärkte Identifizierung des Einzelnen mit der Kölner Kirche, zum anderen wollte er, unter Rückbesinnung auf das christliche Abendland des Mittelalters, Impulse für ein zukünftig näher zusammenrückendes christliches Europa setzen; Erwartungen, die, wie Norbert Trippen urteilt, „in einem kaum zu erwartenden Maße in Erfüllung gehen“ 15 sollten. Am Tag vor Beginn der Festoktav, am Samstag, dem 14. August, fuhren Generalvikar David, eine Abordnung der nordrhein-westfälischen Landesregierung und einige weitere Vertreter öffentlicher Einrichtungen den mit dem Zug anreisenden päpstlichen Abgesandten bis Frankfurt entgegen, ein Zeichen großer Wertschätzung und Dankbarkeit. Frings selbst erwartete mit kleinem Gefolge, darunter sein Geheimsekretär Dr. Paul Berndorff (19131998, Geheimsekretär 1946 -1951), Domkapitular Albert Lenné (18781958), der Kölner Stadtdechant Robert Grosche (1888-1967) 16 und der Bad ———— 14
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Die entsprechenden Schreiben abgedruckt in: Dokumentenband (wie Anm. 5), S. 63. Bereits im Dezember 1948 sollte Mindszenty verhaftet werden. Vgl. Gabriel Adriányi, in: Bautz, Biographischbibliographisches Kirchenlexikon 5. Herzberg 1993, Sp. 1552-1556, mit weiterführender Literatur, sowie zuletzt: Annegret Dirksen, Kardinal Josef Mindszenty – reaktionärer Legitimist oder Märtyrer im Freiheitskampf? Leben und Haltung eines Geistlichen unter verschiedenen Regimen in Ungarn (1916-1949), in: Kirchliche Zeitgeschichte 22, 2009, S. 655-689. Trippen, Kölner Domfest (wie Anm. 3), S. 358. Der Text des Hirtenbriefs ist abgedruckt u.a. in: Froitzheim, Frings (wie Anm. 2), S. 178-182. Lenné war seit 1918 Mitglied des Domkapitels, 1921 wurde er Diözesan-Caritasdirektor in Köln sowie stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Caritas-Verbandes. Sein Hauptinteresse galt der Entwicklung der Kindergärten und -horte. Vgl. die biographische Skizze: Manfred Berger, in: Bautz, Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 21, Nordhausen 2003, Sp. 816 - 823. Zu Grosche, seit 1945 Pfarrer an St. Gereon, einem der „profiliertesten“ Kleriker seiner Zeit, vgl. Toni Diederich in: Kölner Personenlexikon, Köln 2008, S. 197f.
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Godesberger Dechant und Pfarrer der dortigen Hauptkirche St. Marien, August Heimbach (1890-1958, Pfarrer an St. Marien seit 1936) 17, die Gäste auf dem Bahnsteig des Bad Godesberger Bahnhofs. Bad Godesberg bildet(e) die Südgrenze des Erzbistums, die zugleich die Grenze zwischen den jungen Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz war und ist. „Eine vielhundertköpfige Menge“ 18 – an anderer Stelle ist von 1.000 Schaulustigen die Rede 19 – bevölkerte die Gegend rund um den Bahnhof. Es war das erste von zwei Ereignissen während des Domfestes 1948, die die vornehm-zurückhaltende Badestadt ins Rampenlicht der öffentlichen Wahrnehmung rückte. „Das katholische Bad Godesberg ist durch die Kölner Dom-Festtage wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Hier, abseits von Zeugen einer unseligen Vergangenheit“ – womit wohl die zerstörten Städte gemeint waren – „und geborgen von dem Zauber einer großartigen Landschaft, betrat der persönliche Abgesandte des Heiligen Vaters [...] zum ersten Mal den Boden des Erzbistums Köln [...]“ 20, schrieb die Presse. Um 12.34 Uhr lief der Sonderzug ein, Kardinal Micara stieg aus und ließ sich von dem auf dem Bahnsteig wartenden Frings willkommen heißen. Die überlieferten Fotos zeigen fröhliche Gesichter, eine aufgeräumte, ja herzliche Atmosphäre, insbesondere bei den beiden Hauptprotagonisten, Frings und Micara. Vertreter der nordrhein-westfälischen Landesregierung – Ministerpräsident Karl Arnold hatte Carl Spiecker, den Vertreter NordrheinWestfalens beim Länderrat für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet (später Vertreter des Landes beim Bund) als Repräsentanten geschickt 21 – begrüßten anschließend die aus Rom angereisten Gäste auf dem festlich dekorierten Bahnhofsvorplatz, von wo eine 28 Personenkraftwagen umfassende Wagenkolonne, begleitet „von weißbetreßten Polizisten auf Motorrädern“ 22, um 12.47 Uhr durch ein Spalier Schaulustiger Richtung Köln abfuhr. Bereits die Begrüßung in Bad Godesberg gleich zu Beginn, ja eigentlich noch vor ———— 17
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Vgl. zu Dechant Heimbach die knappe biographische Skizze: Hans Kleinpass, Die Straßennamen der Gemarkung Godesberg, in: Godesberger Heimatblätter 6, 1968, S. 57-71, hier S. 67f. Vgl. einen entsprechenden Bericht in: Rheinische Zeitung vom 16.8.1948. So in: Kölnische Rundschau – Heimatteil Bonn-Land vom 17.8.1948. Ebd. Dr. Carl Spieker (1888-1953), Zentrum, war Journalist und wurde nach Rückkehr aus dem Exil Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen. 1948/49 war er Vorsitzender der Zentrumspartei, deren Fusion mit der CDU er vergeblich betrieb. Vgl. Kurt Düwell, „Hier spricht Deutschland auf Welle 30,2 Meter“. Carl Spiecker als Stimme des deutschen Widerstands in den britischen Geheimsendern 1940/41, in: Jörg Hentzschel-Fröhlings, Guido Hitze u. Florian Speer (Hgg.), Gesellschaft – Region – Politik. Festschrift für Hermann de Buhr, Heinrich Küppers und Volkmar Wittmütz, Norderstedt 2006, S. 395- 414. Westdeutsche Rundschau vom 17.8.1948.
Das Kölner Domfest 1948 in Bad Godesberg
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der offiziellen Eröffnung des Domfestes, lässt die Fringsschen Intentionen deutlich zu Tage treten: Es sollte in erster Linie ein kirchliches Großereignis werden, in zweiter Linie dann aber auch politische Signale in Richtung auf eine mittel- oder auch langfristig zu erstrebende Normalität in den internationalen Beziehungen aussenden. Entsprechend sann die „Westdeutsche Zeitung“ in einem Kommentar darüber nach, warum die Dramaturgie des Domfestes den päpstlichen Abgesandten – ausgesprochen symbolträchtig – in Bad Godesberg hatte ausund umsteigen lassen. Die Version, dass es eine Geste gegenüber den Briten gewesen sei – Bad Godesberg war immerhin der erste Ort auf britischem Verwaltungsgebiet, den die römische Delegation betrat –, wurde als nicht überzeugend verworfen. Plausibler erschien dem Blatt die Nähe Bad Godesbergs zum Sitz des Parlamentarischen Rates, der gut zwei Wochen später (1. September) in Bonn eröffnet werden sollte und dessen Rolle für das zukünftige Deutschland schon im Vorfeld als ungeheuer bedeutsam bewertet wurde.23 Die Zeitung fragte: „Bildete der Besuch des Kardinal-Legaten den Auftakt zu erstrebenswerten politischen Realitäten?“ Und folgerte – ganz im Sinne des „Veranstalters“ Frings: „Es steht jedenfalls fest, dass die Kirche in der Domfestwoche nicht nur ein Fest sieht, sondern auch eine Geste außenpolitischer Art, eine Geste religiöser Erneuerung ebenso wie eine solche der ‚Völkerverständigung‘.“ 24 Die Fahrt führte übrigens von Bad Godesberg zum Caritas-Krankenhaus St. Elisabeth in Köln-Hohenlind, wo neben Micara auch zahlreiche der anderen hochrangigen geistlichen Gäste während der Festwoche untergebracht waren. Noch am Nachmittag jenes 14. August erfolgte in St. Andreas, der Kirche der Kölner Dominikaner, die offizielle Begrüßung Micaras und der übrigen bereits angereisten Gäste, darunter auch der zukünftige Nuntius in Deutschland, Bischof Muench. Höhepunkt der durch zahlreiche kirchliche und weltliche Veranstaltungen dicht gefüllten Festwoche war die in einer ———— 23
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Zum Parlamentarischen Rat ist eine Fülle einschlägiger Arbeiten erschienen; vgl. aus der Perspektive der Region, insbesondere hinsichtlich der logistischen Anstrengungen: Helmut Vogt, „Benötige Quartier für mich, Fahrer und Wagen“. Das Arbeitsumfeld des Parlamentarischen Rates in Bonn 1948/49, in: Bonner Geschichtsblätter 57/58, 2008, S. 441- 470, sowie Ders., „Der Herr Minister wohnt in einem Dienstwagen auf Gleis 4“. Die Anfänge des Bundes in Bonn 1949/50, Bonn 1999. Vgl. auch: Karlheinz Niclauß, Der Parlamentarische Rat in Bonn, in: Heijo Klein (Hg.), Bonn – Universität in der Stadt (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 48), S. 139-150, sowie zuletzt: Michael F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 -1949, die Entstehung des Grundgesetzes, überarbeitete Neuauflage Göttingen 2008. Wie Anm. 22.
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Prozession in den Dom zurückkehrenden Heiligenschreine am 15. August, dem Fest Maria Himmelfahrt. Im Mittelpunkt stand der Schrein der Heiligen Drei Könige, deretwegen der mittelalterliche Dombau überhaupt begonnen worden war, und das anschließende Pontifikalamt, der erste Gottesdienst am Hochaltar der Kathedrale nach mehr als fünf Jahren. Am Nachmittag fand im Müngersdorfer Stadion eine Freiluftveranstaltung, eine „religiöse Laienkundgebung“, wie es im offiziellen Programm hieß, statt, an der zahlreiche prominente kirchliche Repräsentanten – Geistliche wie Laien – sowie nicht weniger bedeutende Vertreter des politischen Nachkriegsdeutschland teilnahmen. Genannt seien die Ministerpräsidenten Karl Arnold (NordrheinWestfalen) und Peter Altmeier (Rheinland-Pfalz) sowie der nur wenige Tage später zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates erkorene frühere Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Schätzungen sprechen von 200.000 Besuchern. Die Festwoche endete mit einer von Kardinal Frings zelebrierten Pontifikalvesper im Dom am 22. August. Die zwischen diesen beiden Eckpunten liegende Woche war prall gefüllt mit kirchlichen und weltlichen Feiern, Besuchs- und Kulturprogramme waren vorbereitet worden, Sonderbriefmarken und eine Festschrift 25 wurden herausgegeben und auch die Einweihung der Deutzer Brücke durch Kardinal Micara sowie die Grundsteinlegung für zwei Wohnsiedlungen in Köln durch Kardinal Frings waren Teil der Festoktav. Neben einem offiziellen Besuch des päpstlichen Legaten beim nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten in der Landeshauptstadt Düsseldorf sah das Festprogramm zwei Besuchsfahrten durch das Erzbistum vor. Die eine führte zum Priesterseminar nach Bensberg und weiter nach Altenberg zur Hauptstelle der Deutschen Katholischen Jugend. Die zweite, am Dienstag, dem 17. August, sollte unter anderem über Brühl und Bonn nach Bad Godesberg und weiter nach Königswinter führen. Das Kölner Domfest wurde somit gleichsam in die Region exportiert, nicht nur die Metropole Köln sondern auch Teile des katholischen Kölner Landes sollten an diesen Festlichkeiten teilhaben. Viel mehr als die Reiserouten verraten uns die gedruckten Unterlagen nicht. Über das Besuchsprogramm an den jeweiligen Reisestationen liegen kaum aufschlussreiche Quellen vor. Eine Ausnahme bildet der Aufenthalt der kirchlichen Ehrengäste in Bad Godesberg: Sowohl die Vorbereitung dieses für die Badestadt ganz außergewöhnlichen und aufregenden, in gewisser Weise sogar richtungsweisenden Besuchs als auch der Ablauf der Ereignisse lassen sich im Detail schildern. ———— 25
Wie Anm. 7. Die übrigen Veranstaltungen sind aufgelistet in: Dokumentenband (wie Anm. 5).
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Gut zwei Monate vor dem geplanten Domfest, in der Woche vom 30. Mai bis 8. Juni 1948, hatte Kardinal Frings das Dekanat Bad Godesberg visitiert und das Sakrament der Firmung gespendet.26 Im Rahmen dieses Besuchs wurde am Sonntag, dem 6. Juni, die Godesburg aufgesucht, „wo man bei schönstem Sonnenschein einen prächtigen Ausblick hatte.“ An diesem Ausflug nahm neben Dechant Heimbach auch der Bad Godesberger Josef Zander (1878-1951, Bürgermeister 1915-1933 und 1945-1948) teil.27 Ob diese Exkursion bewusst mit Blick auf das Domfest unternommen wurde ist unklar. Sicher ist hingegen, dass Bürgermeister Zander sich bereits am folgenden Tag schriftlich an Frings wandte: „Dass die Besichtigung das Interesse Eurer Eminenz geweckt hat, geht wohl am deutlichsten aus Ihrer Äusserung beim Verlassen der Burg hervor, Sie wollten überlegen, gelegentlich des Domjubiläums mit sämtlichen acht Kardinälen unsere Stadt aufzusuchen.“ 28 Zander nutzte die Gelegenheit, die Gäste des gut zwei Monate später stattfindenden Domfestes nun auch „in aller Form“ in die Badestadt und auf die Godesburg einzuladen: „Die hohen Herren würden von der Godesburg aus einen Blick ins Herz der rheinischen Landschaft erhalten.“ Sein Vorschlag für den Ablauf des Besuchs sah eine Rheindampferfahrt von Köln nach Nonnenwerth, eine Begrüßung der Gäste am Rheinufer und eine Fahrt auf die Godesburg vor. Im Anschluss daran war eine Fahrt „zum Kurhaus Redoute“ 29 geplant, das „uns vom belgischen Militär sicherlich für diesen Tag freigegeben wird“. Dort war ein Empfang seitens der Stadt vorgesehen. „Herrn Professor Dr. Neuss oder Herrn Prof. Dr. Braubach 30, den ———— 26 27
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Vgl. hierzu und zum Folgenden die Pfarrchronik, in: Pfarrarchiv (PfA) St. Marien 3. Zander war praktizierender Katholik, bis 1933 Mitglied des Zentrums, später der CDU. Ein ausführliches Lebensbild: Jürgen Küpper. Vor fünfzig Jahren starb Bürgermeister Josef Zander (18781951), in: Godesberger Heimatblätter 39, 2001, S. 56 - 69. Heimbach notierte hierzu in der Pfarrchronik: „Ein Besuch des Herrn Cardinals auf der Godesburg am Sonntag, 6. Juni, [...] war die Veranlassung zum Besuch der Cardinäle anlässlich des Cölner Domfestes im August dieses Jahres.“ In: PfA St. Marien 3. In: Stadtarchiv Bonn (StAB), Go 9672. Darin auch das Folgende. Die Redoute war zwischen 1790 und 1792 als Ball-, Spiel- und Konzertsaal und als Mittelpunkt des 1790 aufgenommenen Kur- und Badebetriebs auf Veranlassung von Kurfürst-Erzbischof Maximilian Franz in „Bad“ Godesberg durch die Architekten Michael Leydel Vater und Sohn errichtet worden; vgl. Wilfried Hansmann, Die Bau- und Kunstgeschichte, in: Dietrich Höroldt (Hg.), Bonn als kurkölnische Haupt- und Residenzstadt (Geschichte der Stadt Bonn 3), Bonn 1989, S. 351- 448, hier S. 441- 444. Zu Wilhelm Neuss (1880 -1965), seit 1927 Inhaber eines kirchengeschichtlichen Lehrstuhls an der Bonner Katholisch-theologischen Fakultät, 1936 Domkapitular in Köln, von 1913 bis zu seinem Tod ununterbrochen Vorstandsmitglied des Historischen Vereins für den Niederrhein, vgl. den Nachruf: Eduard Hegel, in Historisches Jahrbuch 87, 1967, S. 247 - 251, sowie Ulrich Helbach (Hg.), Historischer Verein für den Niederrhein 1854 - 2004. Festschrift zum 150jährigen Bestehen (Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 207, 2004), passim. Zu Max Braubach (1899 -
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Vorsitzenden des Historischen Vereins für den Niederrhein – beide Herren sind mir befreundet – würde ich bitten, einen kurzen – etwa 30 Minuten langen – Vortrag über die Verbindung der geistlichen und weltlichen Macht während des Mittelalters und der Neuzeit zu halten.“ Mittag- oder Abendessen und „eine erstklassige musikalische Umrahmung“ waren ebenfalls vorgesehen. Die potenzielle Gästeliste sah Vertreter aus Politik und Verwaltung sowie zahlreiche Bad Godesberger Honoratioren vor. Einen Dämpfer erhielten die ambitionierten Pläne Zanders in der Antwort, die Dompropst Hermann Joseph Hecker (1879-1960, Dompropst seit 1948) erst mehr als einen Monat später nach Bad Godesberg schickte.31 Nach einem schicklichen Dank für die „liebenswürdige Bereitwilligkeit, den Erzbischöflichen Gästen [...] in den schönsten Teil des Erzbistums einen Einblick zu tun“, macht Hecker deutlich, dass Frings nur einen kurzen Abstecher zur Godesburg einkalkulierte: Eminenz wollten von einer „Fahrt mit dem Schiff “ absehen, wünschten „keine Bewirtung“ und auch keinen „Vortrag“: „Mit Ihren Begrüßungsworten könnten Sie einige kurze Angaben über die Entstehung und Bedeutung der Burg verbinden.“ Von Bad Godesberg sollte es nach den Vorstellungen des Erzbischofs weiter zum „Heim der kath. Arbeitervereine bei Königswinter“ gehen. Gemeint war die 1924 von dem christlichen Gewerkschafter und Zentrumspolitiker Jakob Kaiser (1888-1961) für den Verein „Arbeiterwohl“ als Tagungs-, Schulungs- und Erholungsheim erworbene Villa in Königswinter, die nach zwölfjährigem Missbrauch durch die Nationalsozialisten als „Landesführerschule“ mittlerweile wieder – seit 1948 unter dem Namen „Adam-Stegerwald-Haus“ – für ihre ursprünglichen Zwecke genutzt werden konnte.32 Über die Zahl und die Namen zu erwartenden Gäste machte Hecker keine Angaben, dies ließe „sich erst am Vorabend feststellen“. Wie groß die Enttäuschung beim Bad Godesberger Stadtoberhaupt über die im Gegensatz zu seinen Vorschlägen recht bescheidenen Kölner Pläne war, geht aus den beschwichtigen Worten von Dechant Heimbach hervor; er hielt die Quasi-Absage Heckers für eine nur „vorläufige“ und versprach, ————
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1975), seit 1928 Lehrstuhlinhaber für Mittlere und Neuere Geschichte an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn (so genannter Konkordatslehrstuhl), u.a. von 1936 bis 1967 Vorsitzender des Historischen Vereins für den Niederrhein, vgl. u.a. Konrad Repgen, Max Braubach. Leben und Werk, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 202, 1999, S. 9- 41. In diesem „Max Braubach [...] zum Gedächtnis“ herausgegebenen Band weitere einschlägige Beiträge. Vgl. auch Helbach, Historischer Verein, passim. Schreiben vom 10.7.1948, in: StAB, Go 9672. Vgl. Angelika Schyma (Bearb.), Stadt Königswinter. Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Denkmäler im Rheinland 23.5, Köln 1992, S. 147, sowie http://www.adam-stegerwaldhaus.de/geschichte.html (eingesehen am 28.2.2011).
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nach seiner Rückkehr aus der Kur in Bad Nauheim „in Köln“ vorsprechen zu wollen.33 Wenig später musste Zander aber nach Bad Nauheim melden, dass in der Domstadt die endgültige Entscheidung zugunsten der „abgespeckten“ Besuchsvariante gefallen war. Offenbar hatte sich der Bürgermeister jedoch rasch mit den von ihm ja ganz anders geplanten Gegebenheiten abgefunden. Dabei hielt er den ihm sehr nahestehenden und weiterhin kurenden Pfarrer und Dechanten Heimbach stets auf dem Laufenden: Man habe seitens der Bad Godesberger Stadtverwaltung die Burg besucht und geprüft, „was alles in Ordnung gebracht werden muss“. Drei Lehrer wurden beauftragt „einen gemischten Massenchor“ auf die Beine zu stellen. Und weiter: „Eine ganze Liste von Kleinigkeiten habe ich aufgeschrieben, die alle fristgerecht erledigt werden wollen. Die Stadt legt begreiflicher Weise wert darauf, dass die hohen Gäste einen guten Eindruck von hier mitnehmen.“ Vor allem aber wollte Zander seinen Pfarrer beruhigen: „Lassen Sie sich bitte nur ja nicht durch den in Aussicht stehenden Besuch in Ihrer Kur beeinträchtigen. Wir tun unser Bestes, um den hohen Gästen einen würdigen Empfang zu bereiten.“ In seinem Antwortschreiben prophezeite Dechant Heimbach, dass der Besuch der „Kirchenfürsten [...] ein großer Tag für Godesberg“ zu werden verspreche.34 Auch in den nächsten Tagen blieben Bürgermeister und Pfarrer hinsichtlich der Vorbereitungen des Besuchs in engem Kontakt. Auch bei der Auswahl der Einladungen arbeitete man Hand in Hand.35 Ende Juli wurde aus Köln signalisiert, dass das Zeitfenster für den Godesbergbesuch noch weiter verkleinert werden musste. Die Ankunft der Gäste in Bad Godesberg wurde auf ca. 17.30 Uhr terminiert, nur noch etwa eine Stunde war für den Aufenthalt eingeplant.36 Das Besuchsprogramm an jenem 17. August begann mit einem Abstecher nach Brühl zur nach schweren Kriegsschäden wieder restaurierten ehemaligen Barockresidenz der Kölner Kurfürsten und Erzbischöfe. Anschließend fuhr die Delegation nach Bonn, wo sie vom Bonner Oberbürgermeister Eduard Spoelgen (1877-1975, 1920 -1933 Beigeordneter in Bonn, 1945-1948 Oberbürgermeister) und von Oberstadtdirektor Dr. Johannes Langendörfer (18911985, Oberstadtdirektor 1947-1956) vor dem Münster offiziell begrüßt wurde.37 Auch in Bonn waren die Menschen in Scharen zusammengekommen, ———— 33 34 35
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Schreiben Heimbachs an Zander vom 14.7., in: StAB, Go 9672 Schreiben vom 19.7.1948, in: ebd. Eine genaue Gästeliste liegt nicht vor; die Akten enthalten lediglich einige wenige Zusagen, u.a. vom Kölner Regierungspräsidenten Wilhelm Warsch, dem Vertreter der Britischen Militärregierung, H. R. Downer, und Absagen, so von Konrad Adenauer, in: ebd. Schreiben Heckers an Bürgermeister Zander, 22.7.1948, in: ebd.
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um die erzbischöflichen Gäste zu sehen und zu bejubeln. Ursprünglich sollte die Fahrt einen ganz „inoffiziellen Charakter haben. Sozusagen in letzter Minute war dann von Köln die Zusage gekommen, dass man dem Empfang doch einen offizielleren Rahmen geben könne“ 38, wusste die Presse zu berichten. Münsterpfarrer Hermann Josef Stumpe (1893-1989, Münsterpfarrer 1946-1973) empfing die Gäste in der Kirche, führte sie zu ihren Besonderheiten und anschließend in den romanischen Kreuzgang. Wahrscheinlich wird Stumpe auch darüber berichtet haben, dass es sich beim Bonner Münster um das Gotteshaus des früheren Stifts St. Cassius und Florentius handelt, einst dem Rang nach die zweitbedeutendste Kirche im alten Erzbistum Köln – nach dem Dom.39 In seiner Ansprache lobte Micara insbesondere die „Glaubenstreue“ der Deutschen und drückte die Hoffnung aus, dass „sie aus den Trümmern einer besseren Zukunft entgegengingen.“ 40 Frings legte anschließend, gewiss nicht ganz uneigennützig, dem Kardinallegaten einen Lobpreis auf Bonn in den Mund, der erwartungsgemäß „mit großer Begeisterung aufgenommen“ wurde. Frings sagte: „Bonn ist eine Perle in der Mitra seines Kardinals und sozusagen das Gehirn des Erzbistums.“ 41 Auch bei der anschließenden Kaffeetafel im Collegium Albertinum, dem älteren der beiden Bonner Theologenkonvikte 4 2 , das durch Kriegseinwirkungen noch stark zerstört war, übermittelte Oberbürgermeister Spoelgen die Grüße der Stadt.43 Zum Abschluss des Bonner ———— 37
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Vgl. Eduard Spoelgen, Aus Bonns jüngster Vergangenheit. Erinnerungen, in: Bonner Geschichtsblätter 15, 1961, S. 417- 469, hier S. 453. Kölnische Rundschau – Ausgabe Bonn-Stadt vom 18.8.1948. Offenbar hatte es im Vorfeld einige protokollarische Probleme gegeben: So finden sich in der von der Zeitung abgedruckten Gästeliste Personen, die nicht an der Fahrt nach Bonn teilgenommen haben, wie Bischof Johannes Suhr OSB (18971996, seit 1938 Apostolischer Vikar, später Bischof von Kopenhagen, vgl. http://de.wikipedia.org/ wiki/Johannes_Theodor_Suhr, eingesehen am 19.2.2011), der zuvor in China tätige, aus den Niederlanden stammende Bischof Eugen Lebouille CM (1878 -1957, Apostolischer Vikar bzw. Bischof in Yungping 1928-1948, vgl. http://www.brender.eu/default.asp?iId=JKLFE, eingesehen am 28.2.2011), der armenische Geistliche Jean Nalbandian oder der Kölner Weihbischof Joseph Ferche (1888-1965, 1940 Weihbischof in Breslau, seit 1946 in Köln, vgl. Ulrich Helbach, in: Gatz, Bischöfe [wie Anm. 9], S. 297f.), während der teilnehmende Bischof Jakob Mangers aus Oslo (vgl. weiter unten Anm. 53) „unterschlagen“ wurde. Vgl. u.a. Norbert Schloßmacher, Bonn – Münster, in: Klosterführer Rheinland, hg. vom Rheinischen Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Köln ²2004, S. 307- 314, hier S. 309, mit weiterführender Literatur. So der Bericht in: Kölnische Rundschau – Heimatteil Bonn-Land vom 19.8.1948. Ebd. Vgl. zur Frühgeschichte des Hauses: Norbert Trippen, Zur Geschichte des Collegium Albertinum in Bonn 1885-1903, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 176, 1974, S. 172 - 227; vgl. auch Wilfried Evertz (Hg.), Im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche. 100 Jahre Priesterausbildung im Collegium Albertinum (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 26), Siegburg 1992.
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Programms wurde das Haus des Borromäusvereins 44 am Wittelsbacherring aufgesucht. Es blieb also bei einem Besuch des „kirchlichen“ Bonn, die Stadt selbst spielte, sieht man vom offiziellen Willkommen durch die Stadtspitze einmal ab, beim Domfest keine Rolle. Vielleicht lag dies eben daran, dass die zukünftige Bundeshauptstadt mitten in den Vorbereitungen für die am 1. September beginnenden Beratungen des Parlamentarischen Rates steckte, in die die Verantwortlichen ihre gesamte Energie steckten. Die möglicherweise damit zu erklärende übergroße Zurückhaltung der Bonner Kommunalverwaltung, sich an der Gestaltung des Domfestes zu beteiligen, lässt sich anhand der folgenden Begebenheit ablesen: Bereits Anfang Mai 1948 hatte sich der Inhaber des renommierten Bonner Verlagshauses Dümmler, Dr. Willy Lehmann (1900-1987) 45, an den Bonner Oberstadtdirektor Langendörfer mit dem Ansinnen gewandt, „die anlässlich des Domjubiläums in Köln im August dieses Jahres zusammentreffenden in- und ausländischen Persönlichkeiten von Rang zu einem Besuch in der Stadt Bonn als einem geistigen Zentrum Westdeutschlands einzuladen.“ 46 Lehmann erhoffte sich hiervon eine „Werbung für den Fremdenverkehr“ sowie für die in Bonn ansässige Wirtschaft die Möglichkeit, „für ihre Arbeit zu werben“. Dass hierbei die Interessen des Dümmlers-Verlags durchaus im Vordergrund standen, erhellt aus der Antwort des Oberstadtdirektors, der versicherte, dass die Stadt Bonn bereits „entsprechende Verbindungen aufgenommen“ habe und dass dabei „die Belange auch Ihres Unternehmens entsprechend seiner bekannten Bedeutung“ berücksichtigt würden.47 Diese Bemühungen reduzierten sich dann allerdings darauf, nach Köln ein fast schon zögerlich klingendes Angebot zu übermitteln, gegebenenfalls DomfestGäste auch in Bonn unterzubringen, ein Anerbieten, auf das jedoch nicht zurückgegriffen wurde.48 ———— 43 44
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Vgl. Spoelgen, Vergangenheit (wie Anm. 37). Vgl. u.a. Norbert Trippen, 150 Jahre katholische Büchereiarbeit: Von der Gründung des Borromäusvereins 1845 bis zu seiner Neustrukturierung 1995, in: Ders. und Horst Patenge (Hgg.), Bausteine für eine lesende Kirche. Borromäusverein und katholische Büchereiarbeit. Festgabe für Erich Hodick, Mainz 1996, S. 36 -52, sowie Steffi Hummel, Der Borromäusverein 1845 -1920. Katholische Volksbildung und Büchereiarbeit zwischen Anpassung und Bewahrung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 18), Köln 2005. Anlässlich des Besuchs erschien ein umfangreicher Artikel über die Arbeit des Borromäusvereins in diesen schwierigen Nachkriegsjahren; der Besuch selbst wird jedoch nicht geschildert: Kölnische Rundschau – Ausgabe Bonn-Stadt vom 20.8.1948. Der Verlag war 1808 in Berlin gegründet worden und mit seinem neuen Eigentümer Antonio Lehmann (1871-1941), Vater von Willy Lehmann, nach Bonn übergesiedelt. Vgl. Otto Wenig, Buchdruck und Buchhandel in Bonn, Bonn 1968, S. 476 - 488. In: StA Bonn, Pr 13/124. Schreiben Langendörfers vom 19.5.1948, in: ebd.
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Trotz der geschilderten Zurückhaltung seitens der Bonner Verantwortlichen dauerte der Aufenthalt in der früheren Residenzstadt der Kölner Kurfürsten und Erzbischöfe und zukünftigen Bundeshauptstadt weit länger als geplant. Mit mehr als einstündiger Verspätung, gegen 18.45 Uhr, erreichten die „hohen Kirchenfürsten“ und ihre Begleiter die Badestadt.49 Bereits seit „16 Uhr bildete die Menge an den Durchfahrtsstraßen in der Nähe der Godesburg ein kaum zu durchdringendes Spalier [...]. Über der Ruine selbst wehte zum ersten Mal seit dem Kriege wieder eine Flagge mit dem RotGold der Farben der Stadt Bad Godesberg.“ Das Wetter entsprach dabei nicht der Bedeutung des Tages: Ein „Schleier von Dunst und Nebel“ hüllte die Burg ein. „Schnürregen und Nebeldunst verdichteten sich später so sehr, daß nicht einmal mehr das nahe Siebengebirge zu sehen war.“ Angeführt von zwei Polizeikrafträdern fuhren die Besucher in sechs Personenkraftwagen zur Burg hinauf. Die Glocken von St. Marien läuteten. Schützenbruderschaften, Polizei und Feuerwehr hatten die „Absperrungen und die Verkehrsregelung auf dem Burgberg“ übernommen.50 Der Besuch, der, wie erwähnt, „unter einem furchtbaren Regen“ litt, „der auch auf der Godesburg die vorgesehene Feier sehr beeinträchtigte“, begann mit einem Gebet in der unterhalb der Burgruine gelegenen Michaelskapelle. Kardinallegat Micara spendete „den zahlreichen Gläubigen“ den Segen.51 Anschließend begab sich die Festgesellschaft zum offiziellen Empfang in den im Zeitalter (1896) und im Stil des Historismus in die Burgruine hinein gebauten „Rittersaal“. Als erster betrat Theodor Kardinal Innitzer aus Wien den Saal, ihm folgte der Apostolische Visitator für Deutschland, Bischof Aloisius Muench, dahinter die aus Deutschland bzw. Luxemburg stammenden Bischöfe Johannes Eric Müller von Stockholm 52 und Jakob Mangers aus Oslo 53 sowie Adalbero Michael Fleischer aus dem südafrikani———— 48
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Entsprechender Schriftwechsel in: ebd. Die vom Deutschen Städtetag parallel zum Domfest geplanten „Kulturtage“ in Köln und Bonn wurden kurzfristig „mit Blick auf die ernste Finanzlage“ abgesagt, in: Die Welt vom 31.7.1948. Hierzu und zum Folgenden: Kölnische Rundschau – Heimatteil Bonn-Land vom 19.8.1948. Beschluss Hauptausschuss 26.7.1948, in: StA Bonn, Go 9672. Pfarrchronik, in: PfA St. Marien 3. Johannes Erik Müller (1877 - 1965), München-Freisinger Diözesanpriester, zuletzt Domkapitular, seit 1923 Apostolischer Vikar für Schweden, nach Errichtung des Bistums Stockholm (1953) Bischof von Stockholm. 1957 Rücktritt aus Altersgründen; vgl. http://sv.wikipedia.org/wiki/Johannes_Evangelista_ Erik_M%C3%BCller (eingesehen am 28.2.2011). In der Presse (wie Anm. 49) wird der Apostolische Vikar für Dänemark, Bischof Johannes Theodor Suhr, als Teilnehmer des Besuchs in Bad Godesberg genannt; dieser war jedoch gar nicht zum Domfest nach Köln gereist, wenngleich er sein Kommen zugesagt hatte. Vgl. das entsprechende Schreiben sowie die Gästeliste in: Dokumentenband (wie Anm. 5), S. 47 u. 73-75. Ausweislich des Goldenen Buchs handelte es sich um eine Verwechslung; nicht Suhr sondern der Apostolische Vikar
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schen Mariannhill. 54 Kardinal Frings wurde begleitet von Domkapitular Lenné und drei Ehrenkämmerern. Ihnen folgte der örtliche Klerus um Dechant Heimbach und zuletzt Kardinallegat Micara. Auch der Kölner Weihbischof Wilhelm Stockums 55 gehörte zu den der Einladung gefolgten „Kirchenfürsten“.56 Weitere Ehrengäste waren der Kölner Regierungspräsident Wilhelm Warsch (1895-1969, Regierungspräsident 1947-1957), der in Bad Godesberg beheimatete Düsseldorfer Oberlandesgerichtspräsident Dr. Heinrich Lingemann (1880-1962), der Landrat des Landkreises Bonn – zu dem Bad Godesberg seinerzeit gehörte – Willy Haas (1902-1959, Landrat 1947-1952), der Bonner Oberkreisdirektor Dr. Karl Zengerle (1894-1981, Oberkreisdirektor 1947-1959), Vertreter der Universität und des öffentlichen Lebens, darunter Oberbürgermeister Eduard Spoelgen und Oberstadtdirektor Dr. Johannes Langendörfer aus Bonn. Auch der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Karl Arnold (1901-1958, Ministerpräsident von 1947-1956) war Teil der illustren Gästeschar.57 Der schon erwähnte „Massenchor“ sang zur Begrüßung „Die Himmel rühmen“ in der Vertonung Ludwig van Beethovens. Anschließend begrüßte Bürgermeister Zander die Gäste und „entwarf ein kurzes Bild von der Bedeutung des Rheins für die abendländische Geschichte.“ 58 Auf seine vorbe————
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für Oslo, Jakob Mangers SM (1889-1972), gehörte zu den Gästen auf der Godesburg. Mangers stammte aus Luxemburg, trat der Gesellschaft Mariens (Maristen) bei und wurde 1925 als Seelsorger nach Norwegen geschickt. 1932 empfing er die Bischofsweihe und wurde Apostolischer Vikar in Oslo. Von der Erhebung zum Bistum 1953 bis zu seinem Ruhestand 1964 war er Bischof von Oslo. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Jacob_Mangers (eingesehen am 28.2.2011). Adalbero (Michael) Fleischer (1874 -1963), Würzburger Diözesanpriester, trat 1908 in das Trappistenkloster Mariannhill (Nähe Durban, Südafrika) ein (Ordensname Adalbero), das 1910 aus dem Verband des Trappistenordens gelöst und Mutterhaus der neu gegründeten Missionskongregation der Mariannhiller Missionare wurde. Fleischer wurde deren erster Generaloberer und 1922 zum Apostolischen Vikar ernannt und zum Bischof geweiht. 1950 legte er aus Altersgründen sein Amt nieder. Fleischer gilt als „wichtige Gestalt in der noch jungen südafrikanischen Kirchengeschichte“. Vgl. Eric Steinhauer in: Bautz, Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 19, Nordhausen 2001, Sp. 393 - 395. Wilhelm Stockums (1877 - 1956), seit 1932 Kölner Weihbischof; eine Kurzbiographie: Eduard Hegel, in: Gatz, Bischöfe (wie Anm. 9), S. 297, sowie Ders., Erzbistum Köln (wie Anm. 9), S. 152 u. passim. Der von Dechant Heimbach in der Pfarrchronik (wie Anm. 50) ebenfalls genannte Weihbischof Joseph Ferche (vgl. Anm. 38) wird in den übrigen einschlägigen Quellen nicht genannt. Die Presse erwähnt ihn sonderbarerweise nicht; allerdings findet sich sein Name – als einziger Nicht-Bischof – auf der entsprechenden Seite im Goldenen Buch der Stadt Bad Godesberg; vgl. hierzu weiter unten Anm. 60. Vgl. Detlev Hüwel, Karl Arnold. Eine politische Biographie (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 1), Wuppertal 1980. Wie Anm. 49.
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reitete und im Druck vorliegende Rede 59, in der er die gewünschten Erläuterungen zur Geschichte der Burg eingearbeitet hatte, mussten die Anwesenden aufgrund der fortgeschrittenen Zeit verzichten. Micara, der Französisch sprach, antwortete – überaus launig – im Namen der übrigen Gäste, bedauerte, zur nächsten Hundertjahrfeier des Kölner Doms wohl nicht mehr erscheinen zu können, hoffte aber, dass der Papst dann einen Legaten schicke, der der deutschen Sprache mächtig sei. Er gab sich traurig, dass der ihm versprochene grandiose Blick von der Godesburg ins Land aufgrund des schlechten Wetters nicht möglich sei. Zander bat anschließend die bischöflichen Gäste darum, sich in das eigens für dieses Ereignis neu aufgelegte – zweite – Goldene Buch der Stadt 60 einzutragen; es taten dies die Kardinäle Micara, Frings und Innitzer, die Bischöfe Muench, Stockums, Fleischer, Müller und Mangers sowie, wie bereits erwähnt, Ministerpräsident Arnold. Damit endete ein Besuch, der seitens der Stadt Bad Godesberg ursprünglich sehr viel ausgedehnter geplant war, von den Organisatoren bereits deutlich reduziert worden war und aufgrund der zu langen Verweildauer der Gäste bei den vorhergehenden Stationen noch kürzer ausfiel. Dennoch urteilte die Presse: „Diese alte Burg hat schon viele festliche Tage gesehen und im Laufe der letzten Jahrhunderte schon manche hochrangigen Gäste in ihren Mauern willkommen geheißen. Aber ein solcher Besuch von Würdenträgern aus der Alten und Neuen Welt stellt doch alles Bisherige in den Schatten, und er wird in den Annalen unserer Stadt einen einzigartigen Platz einnehmen.“ 61 Auch der ursprünglich geplante Besuch in Königswinter musste aus Zeitgründen unterbleiben. Von Bad Godesberg aus ging es mit der Fähre über den Rhein und von dort direkt nach Pützchen, wo der Sacré-CoeurOrden seit 1920 ein Mädchengymnasium mit Internat betrieb. Wahrscheinlich war es der persönliche Wunsch von Kardinal Micara gewesen, den Ordensschwestern seine Aufwartung zu machen, besaß er doch neben vielen ———— 59
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Sie ist gedruckt überliefert in einem zweisprachigen (englisch/französisch) Programm für die Feier auf der Burg; daneben auch – in Übersetzung – Beethovens Hymne und Max von Schenkendorfs „Lied vom Rhein“, in: Historisches Archiv der Erzbistums Köln, Dienstakten Böhler 332. Dieses Goldene Buch gehört zu den Beständen des Bonner Stadtarchivs (StAB, Go 2907). Vgl. Michael Müller, Kirche und Besatzungsmacht – Kardinal Frings und die Briten 1945 -1948, in: Godesberger Heimatblätter 27, 1989, S. 5 -15. Das erste Goldene Buch Bad Godesbergs, in das sich als erster der seinerzeitige Nuntius, Erzbischof Eugenio Pacelli (1876 -1958, Nuntius von 1917-1929, zunächst in München, dann in Berlin) und damalige Papst Pius XII. (seit 1939) eingetragen hatte, fand nach 1945 das Interesse eines Amerikaners und ist seitdem verschollen. Vgl. Bericht über die Verwaltung der Stadt Bad Godesberg für die Zeit vom 1. April 1947 bis 31. März 1949, Bad Godesberg 1950, S. 12. Wie Anm. 49.
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anderen Aufgaben auch die Funktion des Protektors des Sacré-CoeurOrdens. „Nachrichten aus Rom“, so die Presse, hatte er den Ordensfrauen mitgebracht. Nach einem kurzen Imbiss erfolgte dann die Rückfahrt nach Köln.62 Bischof Muench, der die Tage des Domfestes in kurzen Stichworten in seinem Tagebuch festhielt und zu diesem Zeitpunkt gewiss noch nicht wusste, dass Bad Godesberg ihm von 1951 an als Sitz seiner Nuntiatur und als Residenz dienen sollte 63, notierte zu jenem 17. August: „Trip to Godesberg, heavy rain [...] Lunch late that night.“ Erst gegen 23 Uhr kehrte Muench an diesem Tag in sein Quartier in Hohenlind zurück. Sein Kommentar: „Heavy program!“ 64 „So wurde das Kölner Domfest zu einer ersten internationalen Begegnung auf dem Boden des besiegten Deutschland“ 65, es bedeutete „die erste Rückkehr der Deutschen in die internationale Völkergemeinschaft.“ 66 Und auch Konrad Adenauer, neben Frings der zweite große Repräsentant des rheinischen Katholizismus jener Epoche, war das politische Moment dieses Jubiläums vollkommen bewusst, als er zum „wundervollen Verlauf des großartigen Festes“ gratulierte und schrieb, dass „gerade dieses Fest für die Wiedergewinnung des deutschen Ansehens in der Welt außerordentlich viel beitragen wird.“ 67 Es war der ausdrückliche Wunsch des Initiators, den Schwerpunkt des Domfestes in seiner Bischofsstadt, im „Rom des Nordens“, stattfinden zu lassen. Wichtig war ihm aber auch, dieses Jubiläum und die damit verbundene Begeisterung ins Land zu tragen. Die Auswahl der bereisten Orte spiegeln seine pastoralen Gewichtungen wieder: Stätten der Priesterausbildung in Bensberg und Bonn, das „Herz“ der katholischen Jugendarbeit in Altenberg, der Borromäusverein in Bonn, das wiedereröffnete Haus der christlichen Gewerkschaft in Königswinter, wenngleich dieser Termin dem Zeitdruck zum Opfer fiel. Die Aufenthalte in Brühl, Bonn und Bad Godesberg lassen sich als Reverenz vor der Kölner Kirchengeschichte interpretieren, aber auch als Ausblick auf die Aufgaben der zukünftigen Hauptstadtregion, auch wenn diese sowohl Frings als auch seinen Mitarbei———— 62 63
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Ebd. Vgl. Michael Wenzel, Bad Godesberger Botschaften. Ein diplomatischer Reiseführer, Bonn 2010, S. 43- 45. Kopien des Tagebuchs in: Archiv der Kommission für Zeitgeschichte, Nachlass Volk F II (Muench Diaries, 5. Heft, S. 95f.). Herrn Dr. Christoph Kösters, Kommission für Zeitgeschichte, Bonn, sei für seine prompte Hilfe herzlich gedankt. Hegel, Erzbistum Köln (wie Anm. 9), S. 640. Trippen, Kölner Domfest (wie Anm. 3), S. 365. Zitiert nach Rudolf Morsey, Adenauer und Kardinal Frings 1945-1949, in: Dieter Albrecht, Hans Günter Hockerts, Paul Mikat und Rudolf Morsey (Hgg.), Politik und Konfession. Festschrift für Konrad Repgen zum 60. Geburtstag, Berlin 1983, S. 483- 501, hier S. 493.
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tern zu diesem Zeitpunkt allenfalls nebulös vorschwebten. Von daher muss die Frage, ob der „politische“ Frings, wie ihn Norbert Trippen ja auch beschreibt, die Entwicklung der folgenden Monate hin zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland ahnte oder voraussah und bei seinen Überlegungen zum Domfest bereits einbezog, unbeantwortet bleiben. Das Domfest jedenfalls war hinsichtlich Organisation und öffentlichem Wiederhall eine Art Vorgeschmack auf die Rolle, die die Stadt Bonn und ihr Umland, insbesondere die später so titulierte „Diplomatenstadt“ 68 Bad Godesberg von 1949 bis zum Umzug der Bundesregierung nach Berlin in den 1990er Jahren spielen sollte.
Aus dem Fotoalbum von Gottfried Richrath, Pfarrarchiv St. Marien Bad Godesberg
14. August 1948 – In Erwartung der römischen Gäste auf dem Bahnsteig in Bad Godesberg: v.l. Domkapitular Lenné, Kardinal Frings und Dechant Heimbach
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Als Beispiel seien einige Buchtitel genannt: Herbert Strack, Bonn-Bad Godesberg: Vom kurfürstlichen Bad zur Diplomatenstadt (Rheinische Kunststätten 134), Neuss ²1990; Günter Klein, Die junge Republik auf glattem Parkett. Die Welt zu Gast in der Diplomatenstadt Bad Godesberg 1959 bis 1999. Fotografische Beobachtungen aus drei Jahrzehnten, Bonn 2007.
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Ein versonnener Domkapitular Lenné
Die Kardinäle Frings und Micara, eine freundschaftliche Begrüßung
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Auf dem Bahnsteig in Bad Godesberg: in der Bildmitte die Kardinäle Frings und Micara, rechts Generalvikar David, links daneben Dechant Heimbach, am linken Bildrand Dr. Berndorff, Frings’ Geheimsekretär
Das Kölner Domfest 1948 in Bad Godesberg
Am 14. August 1948 vor dem Bad Godesberger Bahnhof: „Weiße Mäuse“ und zahllose Schaulustige
Trotz schlechten Wetters säumten am 17. August 1948 viele Menschen die Bad Godesberger Innenstadt in Erwartung der „Kirchenfürsten“, hier Ecke Burgstraße/Schwertberger Straße (früher Marktstraße)
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Beim Empfang auf der Godesburg: am Rednerpult Bürgermeister Zander
Beim Empfang auf der Godesburg: vordere Reihe v.l. die Bischöfe Fleischer und Muench sowie die Kardinäle Innitzer, Micara und Frings. In der 2. Reihe v.l. Domkapitular Lenné, die Bischöfe Müller und Mangers sowie der Weihbischof Stockums
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Beim Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Bad Godesberg: Kardinal Frings
Beim Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Bad Godesberg: Kardinal Innitzer
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Beim Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Bad Godesberg: Kardinal Micara
Beim Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Bad Godesberg: Bischof Muench
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Die ersten beiden Seiten des Goldenen Buches der Stadt Bad Godesberg mit den Unterschriften von Micara, Frings, Innitzer, Muench, Fleischer, Stockums, Müller, Mangers und von Ministerpräsident Karl Arnold (Stadtarchiv Bonn, Go 2907)
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Kölns Inquisitor Sebastian Knippenberg OP (†1733) auf dem „Index der verbotenen Bücher“ von Herman H. Schwedt
Der römische „Index der verbotenen Bücher“ wurde im Jahre 1719 um den Namen des Kölner Inquisitors Sebastian Knippenberg bereichert. Wir wissen nicht, was Bürger der Stadt gesagt oder gedacht haben, als sie von diesem Bücherverbot erfuhren. Wir wissen nicht einmal, ob und in welchen Kreisen in Köln die römische Entscheidung damals bekannt wurde und ob sich jemand für diese interessierte. Was immer aber man damals von dem Buchverbot gewusst haben mag oder vielleicht darüber dachte, es fand sich in dreihundert Jahren noch niemand, der dem Werk und dem Leben des Kölner Inquisitors in einer eigenen Untersuchung nachgegangen wäre. Der Kölner Historiker Gabriel Löhr erklärte 1934 in einem kurzen Lexikonartikel von wenigen Zeilen, die Schriften Knippenbergs „stehen auch heute noch auf dem Index“.1 Man könnte aus den zitierten Worten einen Unterton des Bedauerns oder gar eine gewisse Klage über das Schicksal der Schriften des Ordensbruders von vor zweihundert Jahren herauslesen. Ganz anders stellte um 1920 ein Sammelwerk des Historikers und Dominikaners Rémy Coulon die Schriften des Kölners so dar, dass der römische Generalmagister des Dominikanerordens, Antonin Cloche, mit gutem Recht gegen diese habe einschreiten müssen.2
Dominikaner in Köln Wer war dieser Inquisitor, und was hatte es mit dem Verbot seiner Schriften auf sich? Sebastian Knippenberg kam um 1661 nach Köln und blieb dort über siebzig Jahre, bis zu seinem Tod im Jahre 1733. Geboren war er um 1644 in dem Ort Helden bei Venlo, aus einer adeligen Familie aus der Nähe ———— 1
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G. Löhr, Sebastian Knippenberg, Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 6. Freiburg Br. 1934, Sp. 63. Artikel Fr. Sebastianus Knippenberg in: Jacobus Quetif; Jacobus Echard: Scriptores ordinis Praedicatorum [...]. Editio altera [...] ad nostram aetatem perducta curis et labore Remigii Coulon [et Antonini Papillon]. Vol. 3. Parisiis 1910-1934, S. 549-552. Der ungezeichnete Beitrag (zitiert: Scriptores) wertet Akten des Generalarchivs der Dominikaner in Rom aus. Auf Coulon greift die kurze Notiz zu Knippenberg von Marie-Dominique Chenu zurück, in: Dictionnaire de Théologie Catholique, vol. 8 (Paris 1925), Sp. 2360f.
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von Recklinghausen stammend, von der ein Mitglied als österreichischer Offizier sich in Helden niedergelassen hatte. Aus dieser Familie kennt man bisher nur die beiden Brüder des Sebastian, Leonard (†1725), der ebenfalls Dominikaner in Köln wurde, und den Pfarrer von Helden, Johannes Knippenberg. Nachdem Obergeldern im Frieden von Utrecht 1713 an den preußischen König und Kurfürsten von Brandenburg gefallen war, veröffentlichte dieser Pfarrer in Brüssel eine Kirchengeschichte seiner Heimat 3 in dem offensichtlichen Bemühen, gegenüber dem neuen protestantischen Landesherrn die katholische Tradition im Gelderland zu betonen. In Köln trat Sebastian Knippenberg wohl 1661 in das Noviziat der Dominikaner ein. Als Student ist er ab 1662 in den Matrikeln der Universität Köln 4 nachgewiesen, und in den Protokollen der Kölner Weihbischöfe erscheint er 1667 als Kandidat für die niederen Weihen, im folgenden Jahr als Subdiakon und Diakon und am 31. Mai 1670 für den Empfang der Priesterweihe.5 Bald begann Knippenberg seine Lehrtätigkeit am Studium Generale der Dominikaner in Köln, zunächst als Lektor. Auf der akademischen Stufenleiter im Orden stieg er langsam empor als Bakkalaureus (1684-1687), Regens des Kölner Studium der Dominikaner (1687) und als „Praesentatus“ oder Nominierter (1684) für den Magistertitel, den er 1688 erhielt. Dem entsprach im gleichen Jahr die Aufnahme ins Kollegium der Doctores der Theologie an der Universität mit einer langen Lehrtätigkeit als Professor, während derer er auch das Amt des Dekans der theologischen Fakultät in Köln verwaltete.6 In den wenigen Nachrichten steht Knippenbergs Tätigkeit als Leh———— 3
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Das Vorwort des Buches ist vom Verfasser gezeichnet mit „Ioannes Knippenbergh parochus in Helden, dabam in Helden 19. Novembris 1718“: Joannes Knippenbergh, Historia ecclesiastica ducatus Geldriae, in qua catholicae fidei origo in eodem Ducatu, ejusque propagatio, ac conservatio, Episcoporum insuper succcessio, caetuum religiosorum iniitiae &c. recensentur, insertis etiam, quae in regimine politico memoratu digna acciderunt a Christo nato usque ad annum MDCC. Bruxellis, Typis Francisci Foppens, 1719, Blatt [2 verso]. – Das früher selbständige Helden, etwa 15 km südwestlich von Venlo, wurde 2010 mit anderen Orten zur neuen Gemeinde Peel en Maas zusammengelegt. Für die Angaben zur Familie vgl. Gabriel M. Löhr, Das Kölner Dominikanerkloster im 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch des kölnischen Geschichtsvereins 28 (1953) S. 95-168, bes. S. 154. Als Student der Logik, in: Die Matrikel der Universität Köln. Vierter Band 1559- 1675, vorbereitet von Hermann Keusse, bearbeitet von Ulrike Nyassi und Mechtild Wilkes. Düsseldorf 1981, S. 628. Dort S. 694 ab 1669 Leonard Knippenberg als Student der Logik. Laut Registerband der gleichen Matrikel (Band 6. Düsseldorf 1981) S. 246 ist an der Universität Köln Johannes Knippenberg „Geldriensis“ ab 1679 nachgewiesen, vielleicht identisch mit dem erwähnten späteren Pfarrer. Der Regularklerus in den Kölner Bistumsprotokollen 1661-1825. Teil 1. Zusammengestellt von Jakob Torsy (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, 18). Siegburg 1985, S. 238. Dort ab 1670 auch die Daten für den Bruder Leonardus Knippenberg, Priesterweihe im Jahre 1673. Vgl. die Angaben von R. Coulon, Scriptores (wie Anm. 2) S. 549, und Gabriel M. Löhr, Das Kölner Dominikanerkloster im 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch des kölnischen Geschichtsvereins 28 (1953) S. 95-168, hier S. 108.
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rer bisher so sehr im Vordergrund, dass von eventuellen Leitungsämtern im Orden nicht gesprochen wird, also ob er etwa Prior des Konventes oder dessen Stellvertreter in Köln oder Mitglied des Konventsrates war. Die Prioren des Kölner Dominikanerklosters oder ehemalige Inhaber dieses Amtes hatte man wiederholt für das Amt eines Inquisitors in Köln vorgeschlagen, meistens mit einem gesicherten politischen Rückhalt für diese Benennung innerhalb der eigenen Ordensprovinz. Von den Vorgängern Knippenbergs im gleichen Jahrhundert wurde der Prior Philipp Fridt 1636 zum Inquisitor am Rhein erwählt, Nachfolger des vorher im Februar verstorbenen Spaniers Cosmas Morelles, der aber etwa seit 1618 sein Amt in Köln faktisch nicht mehr ausübte.7 Im Jahre 1675 wählte man Kaspar von Cöllen (Coloniensis, von Coellen, verstorben 1683) als Inquisitor, ebenfalls Prior des Kölner Konventes.8 In dieses Amt kam nun Knippenberg, ernannt von den Kardinälen der römischen Inquisition am 27. Mai 1693.9 Noch fehlen Untersuchungen zur Amtsführung Knippenbergs in den folgenden vierzig Jahren. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wachte wenigstens der Erzbischof von Köln sehr darüber, dass seine Rechte als Inhaber des Hirtenamtes und damit auch als oberster Richter in Glaubenssachen des Erzbistums durch keine Einmischung eines römischen Entsandten eingeschränkt werde. Ob und in welchem Maße dieses auch für die anderen Bischöfe zutraf, in deren Sprengel im nord-westlichen Reichsgebiet der Kölner Inquisitor nach den Vorstellungen des Heiligen Stuhles zuständig sein sollte, also etwa im Bistum Lüttich, in Westfalen oder Oldenburg, bliebe ebenfalls zu untersuchen. Besonders das 18. Jahrhundert achtete sehr genau darauf, dass von Seiten des Heiligen Stuhles die Rechte der Bischöfe im Reich nicht geschmälert würden. Beim Nachfolger Knippenbergs hatte es hierfür einen bezeichnenden Zwischenfall gegeben. Es handelt sich um Ludwig Fliegen, ———— 7
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Zur Wahl des Ph. „Tridt“ (lies: Fridt; Fried) am 10. April 1636 vgl. Archivio della Congregazione per la Dottrina della Fede (in Zukunft: ACDF), Decreta Sancti Officii (SO) 1636, Blatt 63. Zu C. Morelles vgl. Peter Schmidt, Inquisition und Zensur in der Kölner Nuntiatur, in: Alexander Koller (Hrsg.), Die Außenbeziehungen der römischen Kurie unter Paul V. Borghese (1605 -1621) (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 115). Tübingen 2008, S. 409- 427, bes. 416f; Löhr, Dominikanerkloster (wie Anm. 3), S. 114-116. Dort S. 118 -121 zu Thomas Sergryphaeus (Sergriffi) aus Florenz (†1630), der in Abwesenheit von Morelles als dessen Commissarius (Vicarius Generalis Inquisitionis) in Köln amtierte. Zur Wahl des Kaspar von Cöllen am 12. Januar 1675 nach dem Tod des Vorgängers Christoph Spies (Christophorus Bonnensis) vgl. ACDF, Decreta SO 1675, Bl. 12. Zur Person „Casparus von Collen“ vgl. Regularklerus (wie Anm. 5) S. 239, zu dessen Vorgänger als Inquisitor, Nikolaus Haustadt († 1668), vgl. Löhr, Dominikanerkloster (wie Anm. 3), S. 124-127 und 146f. Leonard Messen, Inquisitor ab 1684, starb 1692 in Köln. ACDF SO Stanza Storica II 2-h, Blatt 108 („1706 Catalogo Inquisizioni“). Dort auch das zu erwähnende Datum zum Rücktritt Knippenbergs vom Amt am 15. Februar 1729: „rinunciò“.
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seit 1732 Theologe am römischen Collegium Casanatense der berühmten Stiftungsbibliothek und am 1. Juli 1733 zum Inquisitor von Köln ernannt.10 Dieser hatte sich dort 1734 in einem Gutachten für die Druckerlaubnis eines Buches nicht einfach „censor“, sondern „Inquisitor“ genannt. Erzbischof Clemens August von Bayern und sein Generalvikar Johann Andreas von Francken-Siersdorf wiesen Fliegen energisch und wohl erfolgreich darauf hin, er könne aus dem in Köln nicht genehmigten Titel eines Inquisitors keinerlei Recht herleiten, etwa die Zuständigkeit zur Erteilung einer Druckerlaubnis. Wir dürfen vermuten, dass nach dem Tode von Fliegen im Jahre 1761 auch Peter Brantten, in Rom offiziell zum Nachfolger und Inquisitor von Köln ernannt 11, sich kaum anders gegenüber dem Willen des Erzbischofs in Köln verhalten konnte, bis hin zum letzten bekannten römischen Inquisitor in Köln, Hyacinth Franck.12
Der Schriftsteller Knippenberg veröffentlichte in den Jahren 1700 bis 1721 vier Bücher in Köln, alle in lateinischer Sprache und zu einem fachtheologischen Thema der Gnadenlehre. Das dritte dieser Bücher, 1718 gedruckt, wurde im folgenden Jahre durch ein Dekret der römischen Kongregation der Inquisition verboten. Diesem Verbot folgte im Jahre 1722 ein zweites Verbot dieser Kongregation, gerichtet gegen eine neue Publikation des gleichen Autors. Dieses letztere Dekret darf man wie ein Folgeurteil und ein Nachspiel zum ———— 10
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Der Nuntius von Köln hatte mit Schreiben vom 7. Juni 1733 vom Tod des Inquisitors S. Knippenberg berichtet und den in Rom weilenden Ludwig Fliegen als Nachfolger empfohlen, den auch ein Schreiben des Kölner Dominikanerkonventes an den Ordensgeneral für dieses Amt empfahl. Aufgrund dieser Informationen wählten die Kardinäle der Inquisition Ludovicus „Kliegen“ (!) am 1. Juli zum Inquisitor von Köln, was der Papst am gleichen Tag bestätigte: ACDF SO Decreta 1733, Blatt 172. Seine Ernennungsurkunde vom 1. Juli 1733, gezeichnet von elf römischen Kardinalinquisitoren, ist abgedruckt in: Emil Pauls, Aus der Geschichte der Inquisition in der Erzdiözese Köln. Ein päpstlicher Inquisitor im Jahre 1735, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 74 (1902) 127-138, hier S. 135-138 (Abschrift aus dem Landesarchiv Düsseldorf). Nach Erhalt eines Berichtes über den Tod von Ludwig „Hiegen“ ernannte die römische Inquisition Petrus „Branttner“ zum Nachfolger in Köln: ACDF SO Decreta 1761, Blatt 94v. Zu L. Fliegen vgl. Alberto Guglielmotti, Catalogo dei bibliotecari, cattedratici, e teologi del Collegio Casanatense nel convento della Minerva in Roma. Roma 1860, S. 39. Zu P. Brantten, Provinzial und zweimal Prior des Konventes Köln vgl. Regularklerus (wie Anm. 5) S. 217. H. Franck, Universitätsprofessor in Köln und ehemaliger Provinzial, auf Vorschlag des Ordensgenerals ernannt zum Inquisitor von Köln am 8. März 1780, ACDF SO Stanza Storica II 2h, Bl. 108. Franck ist im Dezember 1796 in Köln bezeugt: Regularklerus (wie Anm. 5) S. 226f.
Kölns Inquisitor Sebastian Knippenberg OP
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früheren Konflikt um das erste „Büchlein“ ansehen: mit diesem Namen, „opusculum“ hatte Knippenberg beide seiner Drucke überschrieben. Auch sein erstes Buch hatte er mit „Opusculum“ betitelt, obschon es mehr als 380 Seiten umfasste. Es handelt von der Vorsehung Gottes, der alles durch Bewegung regiere. Die Darstellung sollte laut Titel den Lehren von Augustinus und Thomas von Aquin folgen.13 Zu diesem Buch wurden keine Reaktionen bekannt, aber während der Autor sich auf dem Titelblatt als Inquisitor bezeichnet, umgibt er sich mit einer erstaunlichen Anzahl von absichernden Gutachtern. Je zwei Augustiner und Dominikaner des Rheinlandes (Köln, Koblenz) prüften und approbierten die Schrift, der Generalmagister der Dominikaner in Rom, Antonin Cloche, gab die Druckerlaubnis des Ordens, für den Erzbischof zeichneten dessen Beauftragte.14 Knippenberg stellt Gott als den Beweger dar, der die Weltgeschicke und die Einzelentscheidungen der Menschen leite. Knippenberg verstand diesen göttlichen Anstoß nicht als bloßen Anschub, während die Menschen fortan ihren Weg ohne weitere göttliche Bewegung nehmen würden. Dies bedeutete für Knippenberg jedoch keine zwingende Vorbestimmung (determinatio physica) aller Dinge mit solcher Wirkmacht, die ein Ende aller Freiheit der Menschen in ihren Entscheidungen mit sich brächte. Knippenberg stellt sich in die Tradition der augustinisch-thomistischen Gnadenlehre, gegen die besonders von Jesuiten betonte Entscheidungsfreiheit des Menschen. Freilich übernahm er nicht vollständig die vorherrschende Lehre der Dominikaner und besonders des Spaniers Domingo Báñez gegen Ende des 16. Jahrhunderts, wonach Gottes Gnadenwirken den Menschen unausweichlich und „physisch“ vorherbestimme. Der Trierer Jesuit Peter Kirsch veröffentlichte 1708 in Köln eine lateinische Schrift, die genau die angesprochene Bewegungskraft Gottes aus dem Werk des Thomas von Aquin darstellen wollte, und zwar ohne die vielberedete physische Vorherbestimmung.15 Dass aber ohne diese laut Thomas von ———— 13
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Opusculum de providentia Deo gubernante juxta mentem S. Augustini Episcopi, et Thomae Aquinatis Doctoris. Coloniae, Typis Cornelii Cönen 1700. Laut Vorspann des Buches Blatt [3recto und verso] hatten es die Dominikaner Adrianus Schön am 5. Mai 1700, Köln, und Petrus Diezinger, Prior in Koblenz, geprüft und approbiert, beide im Auftrag des Ordens. In erzbischöflichen Auftrag prüften die Augustiner Universitätsprofessor Reinerus Burscheidt und Nicolaus Girken sowie der Unversitätsprofessor und Kanoniker Petrus Haussmann. Danach erfolgte am 6. September 1700 die erzbischöfliche Druckerlaubnis durch Dekan Cornelius Brewer, „librorum censor ordinarius“. Zu P. Dietzinger († 1709), Professor in Köln und „doctor profundissimus“ vgl. Löhr, Dominikanerkloster (wie Anm. 3), S. 153f. Zu P. Kirsch SJ (†1721), gebürtig aus Trier und Professor an der dortigen Universität, sowie zu seinem Buch „Deus movens ex mente S. Thomae Doctoris angelici absque praedeterminatione physica. Coloniae, apud Servatium Noethen, 1708“, vgl. Carlos Sommervogel, Bibliothèque de la Compagnie
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Aquin Gott den Menschen nicht bewegen könne, behauptete nun Knippenberg in einer Gegenschrift, in der freilich nicht zwischen einer wirksamen und hinreichenden Gnade unterschieden wurde.16 Wiederum mit genügend Gutachten der Vorzensur und der Druckerlaubnis des Generalmagisters A. Cloche in Rom ausgestattet, schuf das kleine Büchlein von 91 Seiten nun ernste Schwierigkeiten für den Kölner Inquisitor. Bei der Abwehr der jesuitischen Positionen, seit über hundert Jahren besonders auf die so genannte molinistische Thomasdeutung (Luis de Molina) zurückgehend und wegen der optimistischen Sicht des Menschen gerade im beginnenden Zeitalter der Aufklärung für manche plausibel, hatte sich Knippenberg zu sehr von der thomistischen Sprachregelung entfernt. Auf diese sollte man nach dem Willen des Generalmagisters A. Cloche genau achten. Seit seiner Wahl in das oberste Amt des Ordens im Jahre 1686 wurde er einer der wichtigsten Motoren der „thomistischen Bewegung“ des kommenden Jahrhunderts. Das Generalkapitel in Rom, das Cloche in sein Amt wählte, hatte auch für die Lehrer und Regenten der dominikanischen Kollegien vorgeschrieben, den Thomismus so zu lehren, dass die Studenten ihn auswendig können.17 Die thomistische Gnadenlehre ging in ihrer klassischen Ausformulierung auf die letzten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts zurück, auf Domingo Báñez OP (†1604). Er wandte sich gegen die von Jesuiten und vor allem Luis de Molina SJ entwickelte Gnadenlehre von der Freiheit des menschlichen Aktes, die Gott in seinem Allwissen sozusagen im Voraus vorwegnahm in einem angeblichen „mittleren“ Wissen (scientia media). In den daraufhin in Rom einberufenen langjährigen Kommissionen und Konferenzen galt die Dominikaner-Schule von Salamanca mit Báñez als die zahlenmäßig stärkere und einflussreichere Theologengruppe, vertreten vor allem von Tomás de Lemos OP (†1629). Bekanntlich ———— 16
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de Jésus [...]. Bruxelles 1893, vol. IV, Sp. 1893-1894. Dort auch zu anderen Teilen der Schrift von Kirsch. Deus movens juxta mentem S. Thomae Doctoris Angelici non absque praedeterminatione physica sive responsio ad libellum Admodum Rev. Et eximinii Patris Petri Kirche Societatis Jesu. Coloniae, Apud Wilhelmum Metternich, 1708. Die Gutachten im Auftrag des Ordensgenerals hatten die Kölner Dominikaner Hermann Bilck (Regens im Dominikanerstudium) und Bakkalaureus Peter Tholen verfasst. Diese Schrift und die vorhergehende von Kirsch konnten nicht eingesehen werden. Zu ihnen vgl. Scriptores (wie Anm. 2) S. 550. Dort auch Abdruck des zu erwähnenden Briefes von Cloche an Knippenberg, Rom, 4. Dez. 1709. Die Professoren sollen täglich einen Artikel der Summa theologica vortragen, „etiam unicum Divi Thomae articulum explicent, quem studentes tenebuntur in conferentiis referre memoriter“, widrigenfalls werden sie ihres Amtes entkleidet, „spolientur“: Entscheidung des Generalkapitels in Rom 1686, Rémi Coulon, Le mouvement thomiste au XVIIIe siècle, in: Revue thomiste 19 (1911) 421444, 628 - 650, bes. S. 423.
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wollte der Papst die Streitfrage zwischen Jesuiten und Dominikanern (mit ihnen auch den Augustinern) nicht entscheiden und verbot 1607 beiden Parteien, zu dieser Frage der Gnadentheologie etwas zu veröffentlichen, das die Gegenseite diskriminiere. Das vierbändige Hauptwerk „Panoplia“ von T. Lemos erschien darum erst posthum im Jahre 1676 und betonte erneut den terminus vom physischen Vorherantrieb und das Begriffspaar von der wirksamen und hinreichenden Gnade. Aus dieser „Vollrüstung“ (Panoplia) für die Verteidiger der dominikanischen Gnadenlehre und für die „physische“ Vorbestimmung suchten die Gegner fortan Beweisstücke zu deren Widerlegung. Weil man diese Thesen und Aussagen ablehnte, griff man „Ausdrücke“ oder die „Redeweise“ der Panoplia von Lemos an: so sahen es schon bald nach dem Erscheinen die Dominikaner.18 Auf jene bei den Dominikanern inzwischen eingebürgerte Formel von der Redeweise rekurrierte auch der Ordensgeneral A. Cloche in seiner Kritik an Knippenberg. Offenbar verärgert rügte der Generalmagister den Kölner scharf und verlangte, dieser solle in Zukunft der überkommenen Lehre des Thomas von Aquin unversehrt und ohne Hinzufügung von Neuerungen anhangen. Vor allem hielt Cloche dem Kölner die respektlose Kritik an dem Dominikaner Tomás de Lemos vor. Dieser war in jüngster Zeit wieder sehr aktuell geworden, als im Jahre 1702 in Löwen dessen Tagebücher zu jenen Konferenzen über die Gnadenhilfe („Congregatio de auxiliis“) erschienen, fast hundert Jahre nach dem Ende dieser denkwürdigen Disputationen. Seit 1640 hatte sich die Kontroverse noch verkompliziert, und zwar anlässlich des Buches „Augustinus“ des Bischofs Cornelius Jansen, das gerade auch die Interpretation des Augustinus und der Gnadenlehre betraf. In dem inzwischen auch politisch verworrenen Streit schien es, dass die Tagebücher des Spaniers Lemos nun über siebzig Jahre nach dessen Tod auf Veranlassung der Jansenisten veröffentlicht wurden, um die Partei der Jesuiten bloßzustellen und zu schwächen. Beeindruckt durch deren Gegenwehr glaubte Knippenberg, vom Sprachgebrauch des Spaniers in einigen Details abzurücken. Nach Lemos war Gottes Gnade so wirksam, dass ihr niemand widerstehen könne, was den Gegnern nun als protestantisch oder jansenistisch erschien, und auch Knippenberg neigte dieser Meinung zu. Der Generalmagister A. Cloche ———— 18
Das Werk „Panoplia gratiae seu de rationalis creaturae in finem supernaturalem gratuita divina suavipotente ordinatione [...].“ Leodii 1676, wurde wegen des „stylus“ kritisiert, um es sachlich zu treffen: „in Panoplia P. Thomae de Lemos stylus accusatur, non alia ratione nisi quia lucet, accusant plane stylum adversarii, lucem illam non perferentes“: Memoriale cum vindicijs librorum P. M. F. Thomae de Lemos Ordinis Praedicatorum Panoplia gratiae inscriptorum Sanctissimo D. N. Innocentio XI. exhibitum a quibusdam PP. eiusdem Ordinis contra indiscretos censores. Augustae Vindelicorum, Typis Georgij Nipelij 1682, Bl. 4.
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hielt gerade dieses dem Kölner Inquisitor vor: „Weit besser hättest du daran getan, die Redeweise von Lemos in seiner Panoplia von der wirksamen Gnade, der niemand widerstehen kann, im thomistischen Sinn anzunehmen, statt sie in häretischer oder jansenistischer Weise zu verdrehen.“ Wer dem um unsere (Thomas-) Schule so hochverdienten Theologen Lemos angebliche Irrtümer nachsagt, rollt von der Flanke her die ganze thomistische Lehre auf, so musste Knippenberg von seinem Generalmagister in Rom erfahren.19 Cloche wusste um die politische Brisanz des Streites um den Jansenismus und seine Gnadenlehre, das französische Königshaus bekämpfte die wirklichen oder vermeintlichen Jansenisten seit Jahrzehnten. Deren letzten prominenten Vertreter Pasquier Quesnel hatte der Sonnenkönig noch immer nicht entscheidend getroffen, was erst 1713 mit der berühmten Bulle „Unigenitus“ Papst Clemens’ XI. gelang. Die üblicherweise nach den Jesuiten benannte Partei, die gegen Quesnel arbeitete, hielt die Dominikaner für faktische Alliierte dieses Jansenisten, weil sie durch dessen Verurteilung ihre eigene Position gefährdet sahen. Obschon selbst kein Jansenist, ist Cloche eng mit diesen verbunden, so schrieb der Gegner Quesnels, Guillaume Daubenton, Generalassistent der Jesuiten in Rom: Solange die Vorherbestimmung (praedeterminatio) besteht, kann man den Jansenismus kaum auslöschen.20 Wegen der wirklichen oder vermeintlichen Nähe zu den jansenistischen Lehren wollte Cloche seinen Orden nicht nur auf die rechte Lehre, sondern auch auf die Worte des Meisters und auf dessen „modus loquendi“ einschwören. Dem sollte sich auch der bisher uneinsichtige Inquisitor am Rhein beugen. Damit Knippenberg trotz Mahnung und Warnung auch wirklich gehorche, verschärfte Cloche seine Vorschriften. Er verbot dem Kölner Inquisitor ausdrücklich, unter eigenem oder fremdem Namen irgendein Buch zu veröffentlichen, denn dieses werde vermutlich nicht wahrhaft thomistisch ausfallen.21 ———— 19
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„quem nemo carpere, vel erroris insimulare potest, nisi per illius latus, totam invadat doctrinam thomisticam“: Brief von Cloche an Knippenberg, in: Scriptores (wie Anm. 2), S. 550; Longo ergo consultius fecisses, si hunc loquendi modum, quo interdum in sua Panoplia utitur P. de Lemos, Gratiae se ipsa efficaci non potest resisti (ebd.). Daubenton schrieb 1712 an Erzbischof François Fénelon über Cloche: „quoiqu’il ne soit pas janséniste, est fort étroitement lié avec ceux qui le sont. C’est ce qui me fait croire que, tandis que la prédétermination subsistera, il sera bien difficile d’exterminer le jansénisme“. Laut Herausgeber Ceyssens hielt der Jesuit Daubenton den Thomismus für reinen Kalvinismus, „il devait penser avec Bellarmin que le Thomisme est du pur calvinisme et mérite donc d’être combattu et condamné“: L. Ceyssens, Le P. Guillaume Daubenton (1648-1723), in: Autour de l’Unigenitus. Recherches sur la genèse de la constitution, par Lucien Ceyssens et Joseph A. G. Tans. Leuven 1987, 283- 332, hier S. 306f.
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Das Verbot des Generalmagisters kam nicht von ungefähr, denn 1712 hatte das Buch eines Dominikaners den Inquisitor sozusagen im eigenen Hause provoziert, und man musste mit dessen Reaktion rechnen. Das in einem Kölner Verlag erschienene Buch verkündete, dass Thomisten keine Jansenisten seien, gerichtet also gegen die latenten Vorwürfe der üblicherweise nach den Jesuiten benannten Partei. In langen Sequenzen will der anonyme Verfasser beweisen, dass zwar Bischof Cornelius Jansen zur Häresie des Calvinus, nicht aber die Dominikaner zu ihr zählen. Verfasser war der Dominikaner Johan van Bilsen aus Den Bosch (s-Hertogenbosch), Volksmissionar in den Niederlanden 22, der in seinen Predigten und Kontroversen genau den Erwartungen entsprach, die der Generalmagister in seine Ordenstheologen setzte. Je mehr Bilsen betonte, sein Thomismus sei völlig verschieden vom Jansenismus, umso weniger glaubte ihm Knippenberg. Das im Voraus vom Ordensgeneral verbotene Buch war noch nicht erschienen, als Knippenberg beim gleichen Generalmagister in Rom die Druckerlaubnis erbat. Dieser erteilte die erbetene Erlaubnis nicht und bescheinigte dem Kölner am 20. März 1717, der „hochwürdige Pater Inquisitor“ kenne sich in der Theologie „unserer Schule“ nicht aus und sei mit ihr nicht vertraut. Cloche schloss seine Antwort mit der Empfehlung, Knippenberg möge den Brief von 1709 erneut lesen und sich einprägen 23: dies war jenes erwähnte Schreiben, das Knippenberg jede weitere Veröffentlichung verboten hatte. ———— 21
22
23
„P. Mag. Sebastiano Knippenberg Inquisitori Coloniensi inhibetur ne suo aut alterius nomine praesumat curare imprimi aliquod opus, quia suspicatur illud non fore vere thomisticum“: Briefregister des Generalmagisters 30. Januar 1714: Scriptores (wie Anm. 2) S. 550. Der Herausgeber Coulon stellt fest, dass Knippenberg sein nächstes Buch also trotz Verbot schrieb, „contra vetitum Magistri generalis“ (ebd.). Zu J. van Bilsen (†1729) vgl. Scriptores (wie Anm. 2) S. 465f. Verwechselt wird er bisweilen mit seinem Bruder Norbert van Bilsen OP († 1739), Provinzial in der niederdeutschen Provinz (Belgien) und 1707 bis 1709 Theologe der Biblioteca Casanatense in Rom, vgl. Scriptores S. 662; Guglielmotti, Catalogo (wie Anm. 5) S. 31f. Johan van Bilsen wählte für sein anonymes Buch (über 450 Seiten stark) einen ellenlangen Titel von achtzig Worten, der fast ein Inhaltsverzeichnis ersetzt und hier abgekürzt wird: Praedicatorii ordinis fides et religio vindicata in duas partes divisa in quarum Prima Thomistas non esse Janesnistas, per ipsa adversariorum terstimonia generaliter demonstratur. In secunda [... usw.]. Coloniae, apud Petrum Marchant 1712. Knippenberg sei nicht zu Hause in der theologischen Schule der Dominikaner und dort ein Fremder: „In qua dum te satis peregrinum et rarum hospitem per diversa inconsiderata rescripta et male censuratas propositiones, abunde experiamus ...“; Knippenberg möge sich den Brief des Generalmagisters vom 4. Dezember 1709 einprägen, der jede Veröffentlichung verboten hatte, „epistolam relegendam et cordi reimprimendam tibi recommendamus“: Cloche an Knippenberg 20. März 1717, in: Scriptores (wie Anm. 2) S. 551.
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Etwa ein Jahr später ließ Knippenberg das fragliche Buch in Köln erscheinen unter dem lateinischen Titel „Büchlein, das die Lehre des heiligen Thomas über die Gnade von den ihm fälschlich nachgesagten Irrtümern reinigt“ oder befreit. Wie schon das Vorgängerbuch von Johan van Bilsen geht auch Knippenberg ausführlich auf die so genannten „fünf “ Lehrsätze des Cornelius Jansen ein und will im bekannten Streit, ob die propositiones nun wirklich im Buch „Augustinus“ des Jansenius enthalten seien oder nicht, den genauen Beweis führen, dass die verurteilten fünf Lehrsätze tatsächlich im Werk des Bischofs enthalten seien.24 Die Kölner erzbischöfliche Druckerlaubnis bescheinigte, dass das Buch viel Nützliches und nichts gegen Glaube und Sitten enthalte. Zwei Beauftragte der niederdeutschen Ordensprovinz, die Dominikanertheologen Albertus Rutten und Leonardus Asten aus Köln, hatten das lehrreiche Buch approbiert (9. Februar 1718). Daraufhin erteilte der Bruder des Autors und Provinzobere, Pater Leonardus Knippenberg, der damals im Dominikanerkloster Aachen weilte, die Druckerlaubnis von Seiten des Ordens.25 Die Approbationen und Erlaubnisse sind im gedruckten Buch ausdrücklich vermerkt, ebenso das Amt des Autors als öffentlicher Professor der Theologie und Apostolischer Inquisitor in Köln. Der unbefangene Leser konnte nicht direkt feststellen, dass es sich hier um ein kirchlicherseits verbotenes Werk handelte. Innerhalb des Werkes verwundert nicht der Versuch, die Lehre der Katholiken und besonders des Thomas von Aquin von derjenigen des Cornelius Jansen abzusetzen. Nur Eingeweihte merkten, dass Knippenberg sein Stammargument gegen die Theologie des D. Bánñez und dessen Nachfolger vorträgt, indem er deren Unterscheidung von der wirksamen und der hinreichenden Gnade als sachlich hinderlich und methodisch nur streiterzeugend (rixosa) bezeichnet. Um das Maß vollzumachen, berief sich Knippenberg ausgerechnet auf ———— 24
25
Opusculum, doctrina S. Thomae in materia de gratia ab erroribus ipsi falso impositis liberata. Adjungitur compendium doctrinae Cornel. Jansenii Ipres. Episcopi in quinque famosis propositionibus illius damnatae, de verbo ad verbum simpliciter prolata & extracta ex ejus libro, qui intitulatur: Cornelii Janseniii Augustinus impresso Lovanii Anno M.D.C.XL. Typis Jacobi Zegeri, obiit autem Jansenius Anno M.DCXXXVIII. prid. Non. Maji. Authore P. Sebastian. Knippenberg SS. Theolog. Doct. Professore publico, & Inquisitore Apostolico Coloniensi. Coloniae Agrippinae, Sumptib. Wilelmi Metternich, Anno 1718. Das Buch hat einen Vorspann ohne Seitenzählung [Blatt 1-5] und 204 gezählte Seiten. Der erzbischöfliche Beauftragte (censor ordinarius), „Doctor & Decanus“ Joannes Georgius Molitor, Kanoniker an St. Gereon, erteilte die Druckerlaubnis am 26. April 1717 „cum nihil bonis morbus aut fidei contrarium contineat, sed plura utilia, hinc typis evulgari posse, concedo“: Bl. [3 rv ]. Zur „facultas“ durch Leonardus Knippenberg als Provinzial, „datum Aquisgrani in conventu SS. Petri et Pauli Anno 1718“, vgl. Blatt [1v ]. Zur approbatio der beiden Fachtheologen des Ordens, beide nominiert für das Magisteramt, „praesentati“, vgl. Bl. [2 r ].
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zwei strenge Vertreter des Thomismus, beide Dominikanertheologen und seit dreißig Jahren öfter gedruckt: Vincent Contenson (†1674) und JeanBaptiste Gonet (†1681). Beide hatten sich besonders als Moraltheologen gegen den so genannten Probabilismus der angeblich „laxen“ Ausleger der sittlichen Gebote ausgesprochen, also als so genannte Rigoristen.26 In der Gnadentheologie hatte insbesondere Contenson die Unterscheidung von gratia efficax und sufficiens abgelehnt und wie Knippenberg betont, dass diese Begrifflichkeit bei Thomas von Aquin fehle. Dies bedeutete wiederum eine offene Distanzierung von dem seit Báñez, Lemos und Cloche vertretenen Thomismus mit der indirekten Kritik, dieser entspreche nicht der Lehre oder wenigstens nicht dem „modus loquendi“ des Thomas von Aquin. Zu Inhalt und Zielrichtung des Buches heißt es richtig, dass Knippenberg die Gnadenlehre des Tomás de Lemos noch bitterer bekämpfe (acrius impugnet), als er es ohnehin schon früher getan hatte, aber, so fügte Rémi Coulon hinzu, der Kölner habe dabei niemand mehr geschadet als sich selber.27
Vor der Inquisition in Rom Es wurden noch keine Quellen bekannt, wie und mit welchen Disziplinarmaßnahmen der Generalmagister auf diese Veröffentlichung in den Jahren 1718 oder 1719 reagierte, etwa gegen den ungehorsamen Inquisitor selbst und dessen Bruder, der die Druckerlaubnis des Ordens erteilt hatte, oder auch gegenüber den beiden Dominikanerdozenten in Köln mit ihrer lobenden Approbation des Werkes. Die Dominikaner in Rom behaupteten, Knippenberg habe nicht nur gegen ein Verbot verstoßen, sondern sei exkommuniziert: aber der Generalmagister erklärte nicht etwa die Amtshandlungen des angeblich Exkommunizierten für ungültig, er setzte auch nicht den Ämterverlust durch mit Ausweisung aus den Amtsräumen des Inquisi———— 26
27
Zu den beiden Dominikaner-Theologen vgl. Bernard Peyrous, Un grand centre de thomisme au XVIIe siècle: Le couvent des Frères Prêcheurs de Bordeaux et l’enseignement di Jean-Baptiste Gonet, in: Divus Thomas 77 (1974) 452- 473; Marie-Hyacinth Laurent, V. Contenson, in: Dictionnaire de Spiritualité, vol. 2. Paris 1953, Sp. 1293-1296. Das Hauptwerk von Contenson, Theologia mentis et cordis (ab 1669), erschien 1687 auch im Kölner Verlag Metternich, herausgegeben von dem Dominikaner Antonin Massoulié (†1706). Hierzu und zu Massoulié, der bedeutende Ämter im Orden bekleidete und ab 1687 rechte Hand (socius) des Ordensgenerals A. Cloche in Rom war, vgl. Herman H. Schwedt unter Mitarbeit von Jyri Hasecker, Dominik Höink und Judith Schepers, Prosopographie von Römischer Inquisition und Indexkongregation 1701-1813. Hrsg. von Hubert Wolf. Paderborn 2010, S. 813815 (fortan zitiert: Prosopographie). Scriptores (wie Anm. 2), S. 551: „nemini praeterquam sibimet ipsi nocuit“. 1722 erschien wiederum bei Metternich in Köln eine zweibändige Ausgabe der gleichen „Theologia mentis et cordis“.
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tors, und schließlich verlangte er nicht den automatischen Ausstoß Knippenbergs etwa aus der Universität Köln oder aus Gremien innerhalb des Ordens, etwa dem Konventsrat. Vielleicht wagte man nicht, die eigene Verbotsstrategie konsequent umzusetzen. Mit Schreiben vom 11. Dezember 1718 übersandte der Kölner Nuntius Knippenbergs Buch an das päpstliche Staatssekretariat. Nuntius Girolamo Archinto scheint kein besonderes Interesse an den mit dem Buch zusammenhängenden Fragen gehabt zu haben, jedenfalls erwähnt er es nicht in seinem Abschlussbericht, der so genannten Finalrelation.28 Möglicherweise hat jemand beim Nuntius die Übersendung des Buches nach Rom angeregt, vielleicht jemand aus dem Dominikanerorden. Die Schrift aus Köln gelangte über das Staatssekretariat an die Kongregation des Sanctum Officium (Inquisition), jene päpstliche Behörde, in der die Dominikaner traditionell einen starken Einfluss ausübten. Der Commissarius und wichtigste Vertreter der damals elf Kardinalinquisitoren, stets ein Dominikaner, war Luigi Maria Lucini (1666-1745). Er stammte aus dem Mailänder Adel, dozierte einige Jahre als Lektor in Ordenskonventen und kam mit etwa 35 Jahren als Sekretär des Commissarius in die römische Inquisition. Dort blieb er bis zu seinem Lebensende, seit 1714 als Commissarius und 1743 als Kardinal und Mitglied der Kongregation.29 Die Anzeige gegen den Dominikaner Knippenberg konnte der Commissarius Lucini theoretisch auch mit anderen Mitgliedern der Gremien der Kongregation besprechen, etwa mit dem Generalmagister der Dominikaner A. Cloche. Erstmals am 4. Januar 1719 über das Schreiben des Nuntius vom 11. Dezember informiert ordnete die damals wöchentlich tagende Vollversammlung der Kardinalmitglieder der Kongregation ein schriftliches Gutachten zu dem inkriminierten Buch an 30, zu erstellen durch den Franziskaner Giuseppe Maria Baldrati. Dieser war Konsultor des Sanctum Officium und Generalvikar seines Ordens der Konventualen, hatte Erfahrung in delikaten Angelegenheiten gesammelt als In———— 28
29 30
Zu Nuntius Girolamo Archinto, in Köln von 1713 bis zum 16. Juli 1721, vgl. Michael F. Feldkamp, Die Erforschung der Kölner Nuntiatur: Geschichte und Ausblick. Mit einem Verzeichnis der Amtsdaten der Nuntien und Administratoren (Interimsverwalter) der Kölner Nuntiatur (1584 - 1794), in: Archivum Historiae Pontificiae 28 (1990), S. 201- 283, bes. S. 275f. Der Schlussbericht des Nuntius erwähnt Knippenberg nicht: Michael F. Feldkamp, Studien und Texte zur Geschichte der Kölner Nuntiatur, Bd. 4: Die Instruktionen und Finalrelationen der Kölner Nuntien von 1651 bis 1786 (Collectanea Archivi Vaticani, 33), Città del Vaticano 2008, S. 361-395. Zu Cloche und Lucini beim S. Officium vgl. Prosopographie (wie Anm. 26) S. 348-350, 743- 747. ACDF SO Decreta 1719, Blatt 1, Sitzung vom 4. Januar 1719: Baldrati solle das Buch durchsehen oder korrigieren, „revideatur“. Hierfür kalkulierte man etwa zwölf Wochen, und für diese drei Monate sprachen die Kardinäle Knippenberg von der Exkommunikation frei, mit Rückfall in dieselbe nach dieser Frist, „absolvendum esse per tres menses cum reincidentia“ (ebd.).
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quisitor von Siena und Florenz und sollte 1732 Generaloberer der Franziskaner werden.31 Wahrscheinlich hatte der Commissarius Lucini den Kardinälen die These des Generalmagisters zum Status von Knippenberg vorgetragen. Für Cloche besaß das Buch keine gültige Druckerlaubnis, sodass der Verfasser gemäß Beschluss des Generalkapitels der Dominikaner von 1644 automatisch exkommuniziert sei mit Verlust aller Ämter. Vielleicht hatte Knippenberg dies bestritten oder hielt die Inquisitionskongregation für nicht zuständig, hierüber zu befinden. Diese forderte mit Dekret vom 1. Februar 1719 über den Kölner Nuntius eine termingerechte Begründung Knippenbergs für seinen Einwand an.32
a) Gutachten des Konsultors G. M. Baldrati Der von der Kongregation beauftragte Gutachter Baldrati legte seine schriftliche Stellungnahme zu dem Buch von Knippenbar nach vier Monaten vor. Baldrati geht nicht auf rechtliche Fragen ein, also ob das Buch gültige Druckerlaubnisse besitze, ob der Verfasser exkommuniziert sei oder ob er sein Amt verloren habe. Das im Anhang veröffentlichte Gutachten in lateinischer Sprache (siehe unten, mit deutscher Zusammenfassung) spricht nur vom Inhalt des Buches und von theologischen Fragen, konzentriert auf die Gnadenlehre. Baldrati stammte als Franziskaner-Konventuale aus der Schule der Scotisten, die mit ihrem für die Gnadenlehre charakteristischen Modell von der selbstbeschränkenden Souveränität Gottes eine Art Freiraum für die menschliche Willensfreiheit durch die Selbstbindung Gottes ———— 31
32
Zu Baldrati vgl. Prosopographie (wie Anm. 26), S. 87- 89 und Herman H. Schwedt, Gli Inquisitori generali di Siena 1560 - 1782, in: Le lettere della Congregazione del Sant’Ufficio all’Inquisizione di Siena, 1581-1721, a cura di Oscar Di Somplicio. Con un saggio di Herman H. Schwedt. Trieste 2011, S. IX-LXXX, hier S. LXXIII-LXXIV (Baldratis Wirken, Lit.). Für Rechtsfragen bei Konflikten mit Ordensmitgliedern oder bei Auslegung der Kapitelsnormen galt die römische Kongregation für die Ordensleute als zuständig (pro Episcopis et Regularibus). Das Generalkapitel vom 14. Mai 1644 hatte in Rom die Exkommunikation latae sententiae für den anstehenden Fall beschlossen. Vgl. Vincenzo Maria Fontana, Constitutiones declarationes et ordinationes capitulorum generalium S. Ordinis Praedicatorum [...]. Romae: ex typographia Francisci Caballi, 1655-1656, vol. 1, S. 366. Das Dekret der Inquisition vom 1. Febr. 1719 lautete „Eminentissimi decreverunt Knippenberg pro nunc absolvendum esse ab excommunicatione in quam ipsum incursum declaravit P. Generalis, sed ipsi per Nuncium praefigendum esse competentem terminum ad deducendum jura sua in Sacra Congregatione et dicendum causam quare non debeat ab eadem S. Congregatione ad quam spectat declarari incursum in censuras“: ACDF SO Decreta 1719, Bl. 40v. Vgl. ebd. Blatt 34 ein fast gleichlautendes Dekret der gleichen Kongregation vom 27. Januar 1719.
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(potentia dei ordinata) vertrat. Bezeichnenderweise bezieht sich das Gutachten Baldratis wiederholt auf den Franziskaner-Konventualen François Carrière (†1665), der ebenfalls zur Anhängerschaft des Johannes Duns Scotus zählte. Baldrati zeigt sich in seinem Gutachten folglich nicht grundsätzlich als Gegner des Versuches von Knippenberg, der neben dem freiheitserstickenden Jansenismus auch die physische praemotio der streng thomistischen Nachfolger von D. Báñez kritisierte. Mit eher vorsichtigen Worten hält Baldrati dem Kölner Autor drei einzelne Punkte vor, die er fehlerhaft oder unkonsequent nennt, aber weder irrgläubig (häretisch) noch glaubensgefährdend. Das Gutachten erklärt abschließend, dass die drei angezeigten Details durch den Autor zu korrigieren seien, und danach könne man die Lektüre und die Verbreitung des Buches genehmigen. In der kurialen Sprache war dies ein Verbot bis zur Verbesserung, prohibetur donec corrigatur (expurgetur). Einige Sonderheiten im Gutachten Baldratis fallen auf. Der Konsultor erwähnt nirgends die Approbationen durch die Zensoren und die Kölner Druckgenehmigung. Vielleicht hielt Baldrati die Approbation für eine Gefälligkeit heimischer Dominikaner gegenüber dem Autor, aber er sagt auch nichts zur Druckerlaubnis durch den erzbischöflichen Beauftragten, wonach in dem Buch des Inquisitors nichts gegen Glauben und Sitten Verstoßendes gefunden wurde. Warum schlug Baldrati nicht vor, über den Nuntius beim Erzbischof oder seinem Beauftragten in Köln anzufragen? Aber selbst in der Annahme, dass auch die Kölner Gutachter alle irrten und die Fehler im Buche Knippenbergs übersahen, während Baldrati sie benannt hatte und dem Autor mangelnde Folgerichtigkeit vorhielt, erklärte auch dies noch nicht, warum ein solcher Befund das Einschreiten des Heiligen Stuhls gegen das vom Kölner Ortsbischof genehmigte theologische Buch in Form der geforderten Korrektur notwendig mache. Und schließlich fehlt ein konkreter Vorschlag des Gutachters für die praktische Umsetzung des Korrekturvorschlages. Seit hundert Jahren waren die Projekte von Reinigungs- oder Korrekturlisten gescheitert, in denen man die angeblichen Fehler oder Irrtümer anderer Bücher in gedruckten Verzeichnissen verbessern wollte (so genannter „Index expurgatorius“, statt des klassischen „Index prohibitivus“). Hätte man nun von Knippenbergs Buch, statt dessen Irrtümer öffentlich zu benennen und zu verbessern, eine Neuauflage veranstalten sollen mit Einfügung der Korrekturen mit oder ohne Zustimmung des Verfassers? Hätte man Einlegeblätter drucken sollen, die der Verfasser mit seinen Änderungen an alle früheren Käufer des Buches versenden musste? Und was sollte geschehen, wenn jemand die korrigierenden Änderungen des Verfassers für
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unzureichend hielt oder nur amtlich zu erstellende Verbesserungen verlangte? Der mildernd gemeinte Korrekturvorschlag des römischen Konsultors riskierte wegen praktischer Undurchführbarkeit zu scheitern und darum die einfachere Lösung zu begünstigen. Die einfachste Lösung war ein Buchverbot ohne Bedingung oder Verbesserungsvorschlag, also ein Verbot schlechthin.
b) Verfahrensregie und Verbotsdekret. Immerhin war der Vorschlag des Konsultors Baldrati so formuliert, dass man die drei genannten Punkte oder Fehler als Auflage oder erforderliche „Korrektur“ dem Verfasser hätte vorschreiben können. Hierfür jedoch bestand offenbar nicht der erforderliche politische Wille. Denn gegenüber einem Bücherverbot ohne Wenn und Aber, genannt auch „absolutes“ oder strenges Verbot, stand ein solches „donec expurgetur“ gegenüber, das als eine minder harte oder gar milde Sentenz galt. Nach all dem, was zwischen den Generalmagister Cloche und dem Kölner Inquisitor vorausgegangen war, war man vielleicht wenig interessiert an einem „milden“ Urteil. In den Akten findet man keine Spur von einem Verteidiger, der für den Autor gesprochen hätte, etwa von Amtswegen („relator pro auctore“). Die Anzeichen deuten eher auf eine bestimmte Regie hin mit dem Ziel, das Verfahren zügig mit einem Verbot enden zu lassen. Bei der Suche nach den Akteuren dieser Regie stößt man auf die Dominikaner, den Commissarius Lucini und möglicherweise den Generalmagister. Diese konnten eine günstige Konstellation nutzen. Papst Clemens XI. hatte 1715 einen spanischen Dominikaner nach Italien berufen, um ihn dort zu befördern. Pater Domingo Pérez aus Madrid, Professor und Qualifikator der Spanischen Inquisition, kam nach zwei Vorbereitungsjahren als Inquisitor in der italienischen Provinz 1719 nach Rom und wurde dort 1721 zum Sekretär der Indexkongregation befördert. Die Personalplanung für Pérez war im April 1719 so weit gediehen, dass die Inquisition seine Abberufung als Inquisitor in Fermo approbierte, und dieser Anfang Mai in Rom zur Verfügung stand. Als die in den Händen des Commissarius L. Lucini liegende Regie für das Verfahren gegen Knippenberg mit dem Vorschlag Baldratis etwa im April 1719 konfrontiert wurde, wird er auf Abhilfe gesonnen haben. Tatsächlich wurde am 10. Mai 1719 das Gutachten von Baldrati auf der Sitzung der Inquisitionskardinäle vorgetragen, zusammen mit dem erwähnten Vorschlag, das Buch Knippenbergs in drei Punkten zu korrigieren und
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dann zu erlauben. Bei der mündlichen Diskussion plädierte jemand dafür, ein Zweitgutachten anzufordern, und die Kardinäle stimmten zu. Laut Protokoll der Sitzung blieb jedoch offen, wer das neue Gutachten erstellen solle, während am gleichen Tag der Dominikaner Pérez zum Qualifikator der Inquisition ernannt wurde.33 Die erwähnte Regie des Verfahrens um das Buch Knippenbergs hatte freie Hand zur Wahl des Zweitgutachters, und sie fiel auf Domingo Pérez.34 Nach vier Monaten, am 13. September, schloss der neu ernannte Qualifikator der Inquisition sein Gutachten zum Buch von Knippenberg ab. Auf zehn Seiten referiert und kritisiert Pérez fachmännisch und nach wiederholter Lektüre („opusculum attente relegi, et introspexi“) die Argumentation des Kölners zur Gnadenlehre, die zwischen den damaligen hauptsächlichen katholischen so genannten Gnadensystemen zu vermitteln suchte. Wichtigster Bestandteil, soweit dies die dominikanische Seite betraf, war die alte These von Knippenberg, der die Unterscheidung von der wirksamen Gnade und von der bloß zureichenden, aber faktisch nicht zum Ziele kommenden Gnade ablehnte. Verkürzt, aber sachlich durchaus vertretbar fällt das Resümee aus, das Pérez von seinem Eindruck über die Einstellung des Kölners zur diskutierten Problematik gibt: Knippenberg ist weder ein Jesuit noch ein Thomist, sondern zensiert und kritisiert die jeweiligen Thesen beider Schulen bitter und vermengt die Lehren beider Systeme.35 ———— 33
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Laut Protokoll zur Sitzung der Inquisitionskardinäle trug Baldrati am 10. Mai 1719 sein Gutachten vor („censuram tulit“), wahrscheinlich persönlich und nicht mit Verlesung des Textes durch eine andere Person, „et censuit correctis tribus enunciatis propositionibus posse librum permitti. Eminentissimi Domini audita relatione et voto decreverunt quod liber prefatus detur alteri revisori“: ACDF SO Censura Librorum 1718-1721, Stück 9, Blatt 195. Ebenfalls in ACDF SO Decreta 1719, Bl. 177 rv . Dass der Spanier José Nicolás Cavero Pérez vom Orden für den Loskauf der Gefangenen (Mercedarier) das Gutachten über Knippenberg erstellt habe, wird behauptet in: Hubert Wolf (Projektleiter und Hrsg.), Systematische Repertorium zu Buchzensur 1701-1813. Inquisition. Bearbeitet von Bruno Boute, Cecilia Cristellon und Volker Dinkels. Paderborn 2009, S. 166f. Es handelt sich um einen Irrtum, wie er bei Forschungsprojekten vorkommen kann. Wenn die gleiche Behauptung außerdem in einen Autorenband gesetzt wird, ohne den Verfasser über Veränderungen seines Textes oder Einfügungen zu informieren, ist dies nicht ein Irrtum, sondern geht allein auf das Konto des Projektleiters. Vgl. hierzu Prosopographie (wie Anm. 26), S. 323. Das Original des Gutachtens von Dom. Pérez OP, datiert aus Rom, S. Mariae super Minervam die 13. 7mbris 1719, zehn Seiten handschriftlich, liegt in ACDF SO Censura Librorum 1718-1721, Stück 9, Bl. 187-191v. „Videtur quod [Knippenberg] nec thomista sit nec jesuita, sed quod, ut utriusque Scholae communia placita acriter censuret, et proscribat, utriusque doctrinas miscet, et confundit“, Bl. 187. Zum Schluss: „praedictum opusculum esse prohibendum“ (Bl. 191v ). Ähnlich im Sitzungsprotokoll zum Vortrag von Pérez auf der Sitzung vom 20. September 1719: das Buch „esse prohibendum“, mit Beschluss der Kardinäle: „audita relatione et voto, et prae oculis etiam
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Fünf Worte im Gutachten von Pérez verdienen besondere Beachtung, mehr als seine zehn Seiten langen Diskussionen und Spekulationen über die Gnadensysteme: Die Fehler Knippenbergs stehen nicht auf einigen Seiten, sondern durchziehen dessen ganzes Buch, „per totum opusculum sunt dispersa“, so behauptete der Gutachter. Mit diesen wenigen Worten konnte man den Vorschlag von Baldrati aus allen Angeln heben, der Korrekturen zu einigen Punkten im Buch Knippenbergs angeregt hatte. Die Vaterschaft dieses Sätzleins im Gutachten von Pérez gebührt einem erfahrenen Verfahrenspraktiker und Taktiker in der Sitzungsrhetorik. Hierfür kommt im konkreten Fall statt des spanischen Dominikaners, einem Neuling auf dem römischen Parkett, der langgediente Commissarius des Sanctum Officium in Frage, der Dominikaner Luigi Maria Lucini. Dieser hatte vielleicht die fünf Worte seinem soeben nach Rom berufenen Ordensbruder Pérez suggeriert. Jedenfalls passten sie in das Argumentenarsenal der Gegner von Knippenberg, zu denen der Commissarius Luigi Maria Lucini zählte, und die angeblich überall „verstreuten“ Fehler boten eine Handhabe, um in der Sitzungsdebatte jeden Versuch abwehren zu können, der statt eines absoluten Verbotes eine Verbesserung des Kölner Buches vorschlug. Eine solche Korrektur erübrigte sich nach dem Sätzlein von Pérez, entgegen der Ansicht des Franziskaners Baldrati. Das Buch Knippenbergs verdiente folglich ein Verbot ohne Wenn und Aber, ohne die einschränkende Verbesserungsklausel. Zu diesem Ergebnis kam es tatsächlich eine Woche später: am 20. September 1719 behandelte man das Gutachten von Pérez auf der entscheidenden Sitzung der Kardinäle des Sanctum Officium, die entgegen dem Vorschlag Baldratis das uneingeschränkte Verbot des Buches dekretierten. Am gleichen Tag approbierte der Papst diesen Beschluss, der damit rechtskräftig wurde. Besonders in der Generalleitung des Dominikanerordens war man der Ansicht, die für Knippenberg erstellten Gutachten der Kölner Dominikaner seien nicht in voller Freiheit erstanden, sondern aus einer wie immer begründeten Gefälligkeit oder geradezu erpresst („extorta“). Als Pérez sein Gutachten schrieb, befand er sich sozusagen in den Händen der höhergestellten Dominikaner in Rom, darunter des Commissarius im Sanctum Officium L. Lucini und des Generalmagisters A. Cloche. Seine erst zwei Jahre spätere erfolgte Ernennung zum Sekretär der Indexkongregation musste sich Pérez erst noch verdienen. Sein Gutachten über Knippenberg war sein erstes schriftliches Votum, sozusagen die Eintrittskarte in das neue Amt des Qualifikators und das Gesellenstück. Aber die Entstehungsumstände, selbst ———— habita censura alias data P. Baldrati Consusltoris decreverunt prohibendum esse“. Auf der üblichen Audienz am gleichen Tag approbierte der Papst das Dekret.
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wenn Gefälligkeit oder eingeschränkte Freiheit bewiesen werden könnten, würden sich kaum von denjenigen ungezählter anderer schriftlicher Zensuräußerungen unterscheiden. Auch die Logik für das erforderliche Verbot unterschied sich wenig von anderen Argumentationen: Pérez kannte die Ausgangssituation, die konkurrierenden und sich bekämpfenden „Systeme“ der Jesuiten und Dominikaner, zweier Schulen, von denen keine darum zu verbieten war. Nun hatte Knippenberg beide miteinander verbunden oder vermischt, was man mit späterer Sprache einen Eklektizismus oder gar Synkretismus nennen mag. Das 17. und besonders das 18. Jahrhundert kennt gerade für die Diskussion um die so genannten Gnadensysteme mehrere Namen bekannter Katholiken, denen man vermittelnde oder synkretistische Vorstellungen zur Frage von Freiheit und Gnadenwirken nachsagte, etwa Kardinal Enrico Noris (†1704) oder den Ordensgründer Alfonso de’ Liguori (†1787). Worin bestand der zwingende Grund, die Vermengung zweier oder weiterer freier Schulmeinungen verbieten zu müssen? Wie schon in den früheren Phasen des Verfahrens wird sowohl im Gutachten von Pérez wie auch in den Sitzungsprotokollen kein Verteidiger für Knippenberg erwähnt. Noch war keine Woche nach dem offiziellen päpstlichen Verbot des Buches vergangen, da befasste sich die Inquisitionskongregation erneut mit Knippenberg: die Aufforderung der Kongregation vom 1. Februar 1719, er solle sich zur Exkommunikation und zur Zuständigkeit des Sanctum Officium äußern, hatte Knippenberg am 30. März schriftlich beantwortet. Aber noch am 20. September lag dieses Schreiben beim S. Officium nicht vor, und erst am 26. September 1719 verlas man den Text des Briefes auf der Sitzung der Kardinäle. Diese dekretierten, den Nuntius über das Verbot des Buches zu informieren, das am 20. September ergangen war; nach Auffassung der Kongregation sei Knippenberg der Exkommunikation verfallen, ungeachtet der von ihm vorgebrachten Unterscheidung zwischen capitulum generale und generalissimum, und er möge binnen einer gesetzten Frist darlegen, warum er angeblich nicht exkommuniziert sei.36
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Das päpstliche Staatssekretariat hatte Knippenbergs Schreiben vom 30. März dem Sanctum Officium zugestellt. Dort beschlossen die Kardinäle am 26. September, dem Nuntius sei zur Information an den Inquisitor außer dem Verbot des Buches mitzuteilen, die Kongregation betrachte den Kölner als exkommuniziert, „Congregationem esse in sensu ipsum P. Knippenberg incidisse in censuras contentas in ordinatione Capituli generalis habiti Romae die 14. Mai 1644, non attenta distinctione Capituli generalis, et generalissimi, ideoque novum et ultimum peremptorium terminum ipsi assignet Nuntius ad dicendam causam quare non debeat declarari incursum in censuras ut supra“: Inquisitionsdekret vom 26. Sept. 1719, ACDF SO Decreta 1719, Bl. 363v.
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Nachspiel Für das Buchverbot begann nun ein Nachspiel, das mehrere Jahre dauerte und bei dem Knippenberg politisch ständig an Boden verlor. Leider sind die bisher erforschten Unterlagen lückenhaft. Zunächst veröffentlichte der Heilige Stuhl das vom Papst approbierte Verbot nicht, ohne erkennbaren Grund. Man findet auch keine Quellen zu einer Aufforderung an Knippenberg, er solle sich etwa dem Urteil unterwerfen oder bestimmte Thesen seines Buches widerrufen. Zum Hin und Her bezüglich der angeblich erfolgten Exkommunikation Knippenbergs und zu den gesetzten Fristen vom September 1719 hört man erst wieder im Mai des folgenden Jahres, als das Sanctum Officium zu einem Nuntiaturbericht beschloss, nichts sei zu unternehmen 37, und dann wieder im November 1720: Der Generalvikar des Ordens in Rom, Angelo Guglielmo Molo OP, tadelte den Prior des Kölner Dominikanerklosters und forderte diesen auf, öffentlich zu erklären, dass Knippenberg wegen der ohne vorgeschriebene Erlaubnis erfolgten Publikation des Buches exkommuniziert sei.38 Der Nuntius in Köln hatte aber offenbar die Exkommunikation schon aufgehoben oder ausgesetzt, und gut einen Monat später widerrief der Generalvikar des Ordens seine Anweisung an den Kölner Prior Asten, weil Knippenberg sich nun der „Linderung“ erfreuen dürfe, die der Nuntius hinsichtlich der Exkommunikation gewährt hatte.39 Immer noch veröffentlichte die Kongregation der Inquisition nicht ihr Verbot des Buches von Knippenberg, und für die Frage der Exkommunikation hatte man offenbar einen Zwischenweg gefunden, da trat im Mai 1721 in Rom das Generalkapitel der Dominikaner zusammen, um Agostino Pipia zum ———— 37
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Zu einem im Textlaut noch unbekannten Nuntiaturbericht aus Köln, wohl vom April 1720, über Knippenbergs Buch von 1718 dekretierte die römische Kongregation am 1. Mai 1720, dass keine weiteren Strafenandrohungen nötig seien: „Circa librum compositum, et publicatum a p. Sebastiano Knipenbergh (sic) inquisitore Coloniae, cui titulus Doctrina S. Thomae in materia de gratia, lectis litteris nuntii apostolici Coloniae a Secretaria Status ad S. Officium remissis, Eminentissimi audito voto dominorum consultorum dixerunt, iam satis provisum, neque procedendum esse ad ulteriora quoad censuras“: ACDF SO Decreta 1720, Bl. 163v. Der Generalmagister Antonin Cloche war im Februar 1720 verstorben, im gleichen Monat wurde A. G. Molo Leiter des Ordens als Generalvikar bis zur Wahl des Generalmagisters Agostino Pipia auf dem Kapitel von 1721. Am 19. November 1720 schrieb Molo schrieb an den Prior von Köln, wahrscheinlich Leonardus Asten, „severas expedivit literas“ und befahl diesem „publicari faciat suam declarationem qua declarat Patrem Sebastianum Knippenberg [...] incurrisse poenam [...] excommunicationis latae sententiae“: Scriptores (wie Anm. 2) S. 551. Molo und Pipia gehörten wie andere prominente Dominikaner als Konsultoren oder Mitarbeiter des Sanctum Officium lange zum Milieu dieser Kongregation. Vgl. Prosopographie (wie Anm. 26), S. 854- 856, 1023-1026. Schreiben vom 31. Dezember 1720 an Asten: „... Knippenberg libere gaudeat levanime a Rev. et illustrissimo Domino Nuntio Coloniensi obtento“: Scriptores (wie Anm. 2), S. 551.
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Nachfolger des im Vorjahr verstorbenen Generalmagisters Cloche zu wählen. Dieses Generalkapitel sprach sich feierlich gegen Knippenberg aus: sein Buch wird offen verworfen, weil es gegen den Willen des Generalmagisters erschienen war, der vorher dieses Werk als Gefahr für den Thomismus und als Schande rundum qualifiziert hatte.40 Dieser offizielle Beschluss des Generalkapitels erwähnt das (noch nicht veröffentlichte) Verbot des Buches durch die Inquisition mit keiner Silbe. Noch hatte Knippenberg eine unbeglichene Rechnung mit dem Ordensbruders Johan van Bilsen offen, der ihn 1712 in einem Buch über den Glauben des Predigerordens („Preaedicatorii Ordinis fides et religio“) provoziert hatte, das ausgerechnet in der Stadt des Angegriffenen erschien, in Köln. Auf dieses Buch replizierte Knippenberg nun mit einem lateinischen Büchlein, erschienen in Köln 1721. Es dauerte kein Jahr, als der kritisierte van Bilsen antwortete, ebenfalls mit einer lateinischen Schrift, die gleich im Titel das strittige Begriffspaar von der wirksamen und der hinreichenden Gnade nannte.41 In langen Passagen wiederholt van Bilsen die Positionen von Knippenberg, der wiederum gegen die Unterscheidung von gratia efficax und sufficiens polemisierte: eine Ursache mit voller Wirkkraft (efficacia, virtus completa) sei hinreichend, ohne Wirkkraft sei sie unzureichend, weshalb in der Gnadenlehre die Unterscheidung von wirksamer und hinreichender Gnade überflüssig sei und auch bei Augustinus und Thomas von Aquin nicht vorkomme. Seine Gegner aus dem Lager des neueren Thomismus bezeichnet Knippenberg als bloße Jansenisten und provoziert damit die Entgegnung van Bilsens: seit 38 Jahren bekämpfe er die Jansenisten, so protestierte dieser mit Hinweis auf seine Erfolge unter anderem im Jahre 1720, als er in Kevelaer eingriff und über den Provinzial die Entfernung einiger des Jansenismus verdächtiger Ordensleute erreichte.42 Im ungleichen Kampf mit ———— 40
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Das Buch wird verworfen („rejicimus libellum“), der Generalmagister Cloche habe vor dem Druck zu Knippenbergs Werk schon erklärt, „quod Thomisticae doctrinae palam sit infestus, et omnino contumeliosus in permultis rebus permagni momneti“: Generalkapitel 1721, hier nach Scriptores (wie Anm. 2), S. 551. Zum Werk van Bilsens von 1712 vgl. Anm. 22. Die Antwort Knippenbergs: Opusculum contra librum authoris anonymi intitulatum: Praedicatorii Ordinis fides et religio vindicata. Coloniae, apud Sebastianum Ketteler 1721. Das Werk (111 Seiten) konnte nicht eingesehen werden, die Gegenschrift Vindiciae referiert Mehreres zum Inhalt: Vindiciae gratiae sufficientis et efficacis contra criterium a Romana Congregatione S. Officii proscriptum Adm. Reverendi et Eximii Patris Fr. Sebastiani Knippenbergh Ordinis Praedicatorum S. Th. Doctoris et Professoris Publici, quo librum, cui titulus: Praedicatorii Ordinis fides et religio vindicata, haereseos infamat. Antuerpiae, Apud Petrum Scheffers 1722, mit 199 S. und [2] Blatt. Hier konnte nur der Antwerpener Druck benutzt werden, nicht das im Kölner Verlag Stauhaus gedruckte Exemplar, das in der Dominikanerbibliothek in Bornheim-Walberberg bei Bonn existieren soll (elektronische Kataloge).
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Knippenberg kam sich van Bilsen wie David im Ringen mit dem Riesen Goliath vor, bis zum Machtwort der Kongregation des Sanctum Officium.43 Während Knippenberg ihm vorgehalten habe, Häretiker zu sein, habe das römische Dekret die Seiten umgekehrt, van Bilsen fühlte sich bestätigt durch eine feierliche Sentenz der Heiligen Inquisition und des Papstes. Wie häufig nach einem Bücherverbot, fühlten sich die Gegner bestätigt. Römische Stellen vermieden Angaben über Motive formaler, inhaltlicher oder gar politischer Art, die ein Verbot eventuell veranlasst haben könnten, etwa weil die Druckerlaubnis fehlte, ob ein Wort im Text falsch war oder ein ganzer Satz, ob außerdem einige Ausdrücke oder gar mehrere Seiten Anstoß erregten: jeder konnte nach Belieben einen Grund benennen. Beliebt war die Behauptung, das verbotene Buch enthalte Häresien.
Ein neues Verbot Irgendjemand informierte die römische Inquisitionskongregation über die Existenz des durch van Bilsen so eifrig bekämpften Buches des Kölner Inquisitors. Aus den spärlichen Quellen der Jahre 1721 bis zum Monat Juli 1722 ist nicht einmal ersichtlich, ob die Kongregation ein Exemplar des Buches erhielt oder nur die Nachricht über dessen Erscheinen. Weil Unterlagen fehlen, hat möglicherweise niemand das Buch für den Heiligen Stuhl geprüft oder begutachtet. Sollte jemand in Rom im Auftrag der Kongregation des Sanctum Officium das Buch Knippenbergs von 1721 gelesen haben, hinterließ dies keine schriftlichen Spuren in den heutigen Archivbeständen. In den ohne Lücken erhaltenen Protokollen der Sitzungen („congregationes“) der römischen Kardinalinqusitoren, die alleine ein vom Papst dann zu bestätigendes Dekret beschließen konnten, ist für 1722 weder eine Erwähnung, eine Diskussion noch ein Beschluss zu Knippenbergs Buch von 1721 nachzuweisen. Vielleicht dekretiere der Papst mündlich etwas zu diesem Buch, wozu bislang freilich kein Beleg bekannt wurde. Am 5. August 1722 ließ die Kongregation an den römischen Plätzen ein Plakat aushängen mit dem Titel „Decretum“ und verbot und verurteilte (prohibet, et damnat) im Auftrag ———— 42
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Zu seinen Aktivitäten gegen die Jansenisten zählt van Bilsen (Vindiciae, S. 8f.) auch sein Einschreiten 1720 am Niederrhein: „Ad meam instantiam tam apud Superiorem Kevelariensem, quam apud Praepositum Provincialem, ex Oratorio de Kevelaer, per eundem Praepositum remoti sunt quidam de Jansenismo suspecti“. Zum Kampf zwischen David und Goliath und dem römischen Dekret gegen Knippenberg ebd. S. 10-11.
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des Papstes Innozenz XIII. mehrere Bücher. Im Einzelnen werden zwei Dutzend Titel verschiedener Verfasser aufgeführt, unter denen René Descartes (Meditationes de prima Philosophia) der bekannteste ist. Unter diesen Titeln nennt der Plakataushang die beiden Werke „Opusculum“ von 1718 und von 1721, jeweils ausdrücklich genannt mit dem Namen des Verfassers Knippenberg, mit seinem Titel als Inquisitor Coloniensis und mit der Angabe, dass das letztere Buch von 1721 mit Erlaubnis und Zustimmung der zuständigen Oberen erschienen sei („Permissu Superiorum, & approbatione“). Der Aushang vom 5. August 1722 berief sich auf einen Beschluss der Inquisitionskardinäle vom 29. Juli 1722, den der Papst rechtskräftig bestätigt hatte. Außer dem Verbot wird für keines des aufgeführten Bücher ein Grund des Verbotes angegeben, es fehlen auch konkrete Anweisungen, etwa ob die Bücher nun verbrannt werden sollen, ob man sie einziehen soll, ob die Verfasser widerrufen sollen, oder was immer im Konkreten nun zu geschehen habe. Die Kongregation des Sanctum Officium hatte mehrfach seit dem Verbot des ersten Buches von Knippenberg am 20. September 1719 Plakate veröffentlicht mit Angaben zu verbotenen Büchern, auf denen immer der Name Knippenbergs fehlte. Der Aushang vom 5. August 1722 enthält den Namen des Kölners gleich zweimal, wobei wenigstens für den älteren Titel des Buches von 1718 bislang jede plausible Erklärung fehlt, warum man diesen nicht auf früheren Plakaten nannte. Irgendjemand hatte die Veröffentlichung der rechtskräftigen Verurteilung verhindert oder zurückgehalten, wenn man nicht einfaches Vergessen annehmen will. Drei Tage nach der Veröffentlichung des Plakates in Rom übersandte der Generalmagister A. Pipia dem Regens des Generalstudiums der Dominikaner in Köln, Magister Adolf Schleipen, ein Exemplar des gedruckten Aushanges. Von diesen römischen Einblattdrucken, einer typographischen Rarität, konnten in einem Forschungsprojekt in den 1980er Jahren nur drei Exemplare in Rom und Florenz entdeckt werden.44 Inzwischen fand man ein weiteres Stück im Archiv der Indexkongregation, während sich im Archiv der Inquisition noch kein Exemplar nachweisen ließ.45 Diese Rarität ———— 44
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Das erwähnte Projekt betraf die Publikationen römischer Institutionen wie des Magisters Sacri Palatii, der Indexkongregation und der Inquisition mit über 800 verschiedenen Drucken des 16. bis 19. Jahrhunderts in einigen tausend Exemplaren (Kopien und Nachweisen), die meisten zu Bücherverboten. In diesem Projekt H. Schwedt wurden um 1980 drei Exemplare von dem Einblattdruck (Plakat, „bando“) der Inquisition zum Dekret vom 29. Juli 1722 mit dem Namen Knippenberg gefunden: Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Magliabecchi 12.7.297h; Vatikanbibliothek, Editti vol. 86, 122; Archivio di Stato Roma, Bandi vol. 354, Bl. 645. Römische Bücherverbote. Edition der Bandivon Inquisition und Indexkongregation 1701-1813. Auf der Basis von Vorarbeiten von Herman H. Schwedt bearbeitet von Ursula Paintner und Christian
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gelangte also 1722 in wenigstens einem weiteren Exemplar auch nach Köln.46 Noch sind keine konkreten Anweisungen des Generalmagisters oder des Heiligen Stuhles bekannt, ob man das Verbot in Köln durch neue Plakatdrucke verbreiten solle, was man vom Verfasser verlangte oder ob man vom Kölner Erzbischof Rechenschaft forderte, der ja als Obrigkeit („Superiores“) den jetzt untersagten Druck ausdrücklich erlaubt hatte.
Die Lösung: Feuer Im folgenden Jahre 1723 meldete sich Johan van Bilsen in Rom und übersandte dem Generalmagister Pipia seine beiden Bücher von 1712 und 1722, davon das letztere ausdrücklich in Polemik mit Knippenberg. Dessen „verwegene“ Ansichten hatte van Bilsen bekämpft, so bescheinigte Pipia in seinem Dankbrief aus Rom im Mai 1723 47, aber noch erkennt man keine Initiative zu weiteren Demarchen gegen den unbesonnenen Kölner. Dieser blieb weiter in seinem Amt als Inquisitor, also vom Apostolischen Stuhl beauftragt zur Überwachung und Bekämpfung jeder Häresie, und plante vielleicht ein neues Buch. Wer in Rom hierzu etwas mitteilte, und was genauer, bleibt ungeklärt. Aber der Generalmagister Pipia erklärte am 31. Dezember 1723, er habe zu seinem Schmerze erfahren („cum dolenter perceperit“), dass Knippenberg wiederum eine Schmähschrift („libellum famosum“) veröffentlichen wolle. Ob irgendetwas an den Nachrichten oder Gerüchten stimmte, sei dahingestellte, aber für den Leiter des Ordens stand höchste Gefahr bevor, und es genügten nicht mehr nur Dekrete oder Verbote, sondern jetzt musste man mit Feuer und Gewalt einschreiten. Um 1920 beschrieb der Historiker Rémy Coulon den Gemütszustand des Generalmagisters im Jahre 1723 gegenüber dem trotzigen Knippenberg, der nun nach Ansicht von Pipia nur noch schlimmer als bisher zum Schaden für den Thomismus wüten wolle.48 Das Schreiben des Generalmagisters im Dezember 1723 mutet wie eine ultima ratio an, fast wie eine Notwehr gegenüber ————
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Wiesneth. Hrsg. von Hubert Wolf. Paderborn 2009, S. 475-482 mit Abdruck des Dekretes nach der Vorlage des oben genannten Exemplars im Staatsarchiv Rom und mit Nachweis eines weiteren Exemplars im Archiv der Indexkongregation. Zum Schreiben Pipia an Regens Schleipen aus Rom, 8. Aug. 1722: „Mittitur impressum decretum Sancti Officii, quo aliqui libri prohibentur, inter quos continentur duo opuscula P. Mag. Sebastiani Knippenberg Inquisitoris Coloniensis“: Scriptores (wie Anm. 2), S. 551. Schreiben Pipia an Johan van Bilsen, 14. Mai 1727: Scriptores (wie Anm. 2), S. 466. Scriptores (wie Anm. 2), S. 551: R. Coulon über Knippenberg als „contumax ille senex“, der sich zu noch gröberem Wüten treiben ließ, „durius saevire compulsus“.
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dem bedrohlichen Greis in Köln. Pipia befahl dem Prior Adolf Frisch im Dominikanerkloster Köln, er solle in Knippenbergs Klosterzelle eindringen, alle Schriften, Papiere oder Verdächtiges sofort verbrennen, Schreibverbot erteilen und unverzüglich dem Inquisitor das für den Druck beiseitegelegte Geld abnehmen. Wenn all dieses immer noch nicht ausreiche, so schrieb der Generalmagister dem Kölner Prior, werde er nach härteren Strafen Ausschau halten. Diese erfolgten dann gegebenenfalls durch eine römische Kongregation gegenüber dem unwürdigen Inquisitor.49 Weil im Februar des folgenden Jahres der Prior den klaren Befehl des Ordensgenerals offenbar noch nicht ausgeführt hatte, wiederholte Pipia seinen Auftrag mit erneutem Schreiben und konnte schließlich am 1. April 1724 feststellen: alle Papiere des Paters sind verbrannt, sein Geld eingezogen, Knippenberg darf ohne ausdrückliche Erlaubnis nichts mehr darlegen, also sich nicht mehr schriftlich äußern, und der Prior wird gemahnt, immer ein wachsames Auge auf den Gemaßregelten zu werfen.50 Der Generalmagister starb, sein Nachfolger (ab Mai 1725) Tomás Ripoll schuf sich erneuten Ärger, weil Knippenberg immer noch nicht klein beigeben wollte. Dieser appellierte nun an den Papst mit mindestens zwei Schreiben, deren Inhalt noch nicht bekannt wurde. In dem zweiten von ihnen, das der Regens des Kölner Studium Generale der Dominikaner nach Rom vermittelt hatte, versuchte der Inquisitor offenbar, sein verbotenes Buch (libellus) beim Papst zu erklären oder zu verteidigen. Der Regens Pater Pius Scholling gehörte wohl zu den Dominikanern in Köln, die dem bedrängten Mitbruder unbeirrt beistanden oder ihm ihre Dienste liehen. Auf das zweite dieser Schreiben erhielt Knippenberg 1726 vom Generalmagister Ripoll den strikten Befehl, dergleichen nicht nochmals zu versuchen und sich stattdessen auf seinen Tod vorzubereiten.51 ———— 49
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Schreiben von Pipia an den Prior A. Frisch 31. Dez. 1723 mit dem Auftrag, Knippenbergs Zelle zu betreten „ipsius cameram ingrediatur, omnia scripta visitet, et si quid similia suspectum invenerit, immediate comburat, ipsique sub praecepto formali mandet ut nullam literam scribat, et pecuniam quod ad usum concessum habet, immediate ad commune Conventus depositum deponat [...] et si haec non sufficiunt, videbit Reverendissimus [Pipia] de majoribus poenis a S. Congregatione taxandis contra talem perversum inquisitorem, opprobrium Religionis, indignum plane habitus“: Scriptore (wie Anm. 2) S. 551f. Vielleicht dachte Pipia an Verfahren bei der römischen Kongregation für die Ordensleute (pro Episcopis et Regularibus) oder beim S. Officium. Zum Schreiben vom 19. Febr. 1724 an Frisch mit erneutem „formali praecepto“ vgl. Scriptores (wie Anm. 2), S. 552. Ebd. Schreiben an Frisch 1. April 1724: der Prior habe dem Befehl des Generalmagisters voll Genüge getan: „plene satisfecerit, dum cum aliis PP. Magistris et Moderatoribus omnia scripta P. Mag. Sebastiani Knippenberg lustravit, et combussit, qui et peculium suum ad commune depositum dedit, nec quidquam sine expressa licentia vult exponere“. Der Prior solle Knippenberg beobachten, „semper oculum vigilantem habeat“.
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Tod und Schande Wegen der spärlichen Quellenlage wissen wir nichts über Knippenberg in den nächsten drei Jahren. Nirgends findet man in den bisher bekannten Quellen eine Verwunderung darüber, dass ein mit viel Aufwand gedemütigter und bestrafter Mann dennoch Inquisitor von Köln bleiben konnte, oder dass die Verantwortlichen gegebenenfalls Überlegungen hierzu anstellten. Nach fast drei Jahren erklärte Knippenberg 1729 seinen Rücktritt als Inquisitor von Köln. Die Nachricht besagt, dass er „zurücktrat“ 52, dass also der erklärte Rücktritt auch von der vorgesetzten Kongregation der Inquisition angenommen worden sein soll. Für dieses letztere Detail gibt es noch keinen quellenmäßigen Beleg, und man darf annehmen, dass Knippenberg bis zum Tod im Jahre 1733 die Stelle als Inquisitor in Köln behielt. Andernfalls wäre diese Stelle vom Februar 1729 an über vier Jahre lang vakant gewesen, was angesichts der üblichen Besetzungspolitik des Sanctum Officium ungewöhnlich wäre. Tatsächlich hatte Knippenberg mit Schreiben aus Köln vom 26. Januar 1729 aus Altersgründen den Rücktritt erklärt und als seinen Nachfolger Pater Magister Adam Eschenbrender vorgeschlagen. Die römischen Kardinäle der Inquisitionskongregation beschlossen, den Generalmagister des Ordens zu hören.53 Seither sind keine Quellen mehr zu dieser Angelegenheit bekannt: vielleicht war der vorgeschlagene Kandidat nicht genehm und man beließ alles beim Alten, vielleicht kam es aus sonstigen Gründen zu keiner Entscheidung in der Rücktrittsfrage in Köln. Erst vier Jahre später nennen die erreichbaren Quellen wieder den Namen von Knippenberg. Am 1. Juli 1733 ernannte die römische Kongregation seinen Nachfolger als Inquisitor von Köln, den schon erwähnten Ludwig Fliegen. Den Anlass für diese Neuwahl, so heißt es im Protokoll zu der Sitzung der Kardinäle vom 1. Juli, bot ein noch nicht aufgefundenes Schrei———— 51
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„P.M. Sebastiano Knippenberg, qui per secundam litteram ad Sanctissimum scriptam et a P. Regente Pio Scholling Romam missam, intendit suum libellum damnatum vindicare, Reverendissimus [Ripoll] stricte prohibet ne praesumat quidquam simile attentare amplius, sed potius quiete vivat, et se pro felici morte disponat“: Schreiben des Generalmagisters Ripoll an Knippenberg, 22. Juni 1726, Scriptores (wie Anm. 2), S. 552. Knippenberg „rinunciò il 15 febraro 1729“: Eintrag wie oben Anm. 9. „Lectis literis p. magistri Sebastiani Kinpenperger [!] ordinis praedicatorum inquisitoris Coloniae, datis die 26 Ianuarii proximi, quibus, attenta sua aetate annorum 85. dicto muneri renunciat, et supplicat, ut in eius locum eligatur p. magister Adamus Eschenbrender eiusdem ordinis; Eminentissimi dixerunt. quod audiatur p. magister generalis ordiniss praedicatorum“: Dekret vom 16. Februar 1729, ACDF SO Decreta 1729, Bl. 28v. – Zu zwei Dominikanern Eschenbrender, beide um 1715 Lektoren in Köln vgl. Regularklerus (wie Anm. 5) S. 224: Adam Eschenbrender, 1697 Priesterweihe und 1715 Magister in Köln; Franz Eschenbrender, 1720 Prior in Koblenz.
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ben des Kölner Nuntius vom 7. Juni 1733. Am 31. Mai war Knippenberg verstorben im Alter von 89 Jahren, und nach Auskunft des römischen Sitzungsprotokolls berichtete der Nuntius nicht über das Ableben des ehemaligen Amtsträgers in der Inquisition von Köln, sondern über den Tod „inquisitoris“. Demnach hätte Knippenberg bis zu seinem Tod das Amt als Inquisitor von Köln bekleidet. Die nur wenigen bekannten Fragmente aus dem Leben und Wirken Sebastian Knippenbergs sehen ihn vor allem in Konflikt mit den Generalmagistern seines Ordens. Deren letztlich erfolgreiches Einschreiten gegen die Schriften des Dominikaners – bis hin zur Verbrennung auch der ungedruckten Papiere – mag nach fast dreihundert Jahren den Kölner Inquisitor, dessen Amt ihn zum Überwacher und Jäger der Häretiker bestimmte, wie einen Überwachten und Gejagten erscheinen lassen. Diese Sicht unterschätzt jedoch die Zwänge und Nöte des Generalmagisters Antonin Cloche und der Nachfolger. Mindestens seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert hatte die Denkfigur von dem nicht nur moralischen, sondern physischen Antrieb mit Vorbestimmung allen Geschehens und aller Entscheidungen (praemotio bzw. praedeterminatio physica) in Auseinandersetzung vor allem mit den Ansichten zur Willensfreiheit (etwa der Jesuitentheologen) die Generalmagister der Dominikaner in arge Not gebracht. Diese verschärfte sich ab Mitte des 17. Jahrhunderts wegen des in Frankreich und in Rom immer dramatischeren Antijansenismus. Antonin Cloche musste, um wegen des Kampfes gegen die Nachfolger des Bischofs Cornelius Jansen seinen Orden nicht selber zum Ziel und Opfer der Antijansenisten zu machen, sozusagen in Notwehr den Thomismus seines Ordens zu einer Orthodoxie führen, die bis in die Redeweise hinein verpflichtete und den „modus loquendi“ bindend vorschrieb. Diese kanonische Weise des Redens und Lehrens lieferte ihm die Salamanca-Schule mit Domingo Báñez und deren römischer Hauptvertreter Tomás de Lemos, der gerade um 1700 in den Niederlanden erneut zu Publizität kam. Die offene Kritik des Kölner Inquisitors an deren Denkmodell von der praemotio physica und an der vorgeblichen Zurückführung dieses Konzeptes auf Thomas von Aquin löste die Reaktionen der Generalmagister aus, selber bedroht durch den offiziellen Antijansenismus und bedrohend für Männer wie den Schriftsteller aus Köln. Der Leiter des Ordens in Rom hielt es für absurd, dass der Dominikaner Knippenberg den offiziellen Thomismus eben dieses Ordens kritisierte 54 und dass dieses durch einen Wächter der Rechtgläubigkeit geschah, der darum für den Ge———— 54
Zum Urteil von A. Pipia 1723 über den perversen Inquisitor, unwürdig, das Kleid seiner „religio“ (Ordensgemeinschaft) zu tragen, siehe oben Anm. 49.
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neralmagister ein „perverser Inquisitor und eine Schande für den Orden“ war.
Anhang Gutachten zum Buch Seb. Knippenberg „Opusculum“, 1718, von G. M. Baldrati. Lateinischer Text des Gutachtens, ohne Datum, aber von 1719, mit deutschem Resümee. Handschriftliche Ausfertigung: ACDF SO Censura Librorum 17181721, Blatt 196-199. – Unterstreichungen entsprechen dem Original, Klammern [...] sind editorische Einfügungen oder Ergänzungen, Randbemerkungen des Originals sind in die Fußnoten übernommen. E[minentissi]mi Patres, Mandatis EE. [Eminentiarum] Vestrarum debito, quo par est obsequio, obtemperans diligenter, et accurate perlegi opusculum cui titulus „Doctrina S. Thomae in materia de gratia ab erroribus ipsi falso impositis liberata“. Adiungitur compendium doctrinae Jansenij in quinque propositionibus illius damnatis, Auctore Pre. Sebastiano Knippenberg Sac. Theol. Doctore, Professore publico, et Inquisitore Ap[osto]lico Coloniensi Ord[inis] Praedicatorum impressum Coloniae Agrippinae Sumptibus Bibliopolae Wilhelmi Meternich [sic] de anno 1718. Intentum Auctoris prout ex praefatione ad lecotrem apparet, est agere de gratia, et de aliquibus adiunctis, et pertinentibus, abstrahendo, ut ipse inquit, a rixosa illa divisione gratiae in sufficientem, et efficacem, sed quamvis ex professo non instituat quaestionem de huiusm[od]i divisione, attamen cum communi theologorum utramque gratiam admittit, efficacem scilicet, et inefficacem, ut pag. 84, 99 et pluribus alijs in locis. Insuper adducit compendium doctrinae Jansenij in quinque propositionibus damnatis, eamque catholice reicit.55 Tandem suscipit defensionem doctrinae, et personae P[at]ris Mag[ist]ri [Bl. 196 v ] Thomae Lemos ab erroribus, ut ipse ait, sibi falsò impositis a Jansenistis, qui sub nomine dicti Patris Lemos ediderunt librum cum titulo Panoplia gratiae, in eoque posuerunt damnatam Jansenij doctrinam.56 ———— 55
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Zu den so genannten „Fünf Lehrsätzen“ von C. Jansenius, verurteilt 1653 durch Papst Innozenz X., vgl. Enchiridion Symbolorum [...] edidit Henricus Denzinger et [...] Adolfus Schönmetzer. Editio 34. Friburgi Brisgoviae 1967, Nr. 2001- 2007 (im Folgenden: Denzinger-Schönmetzer). Das Werk „Panoplia“ hielten einige für ein von den Jansenisten veröffentlichtes Werk, von diesen zu Unrecht dem über 35 Jahre vorher verstorbenen T. de Lemos unterschoben oder zugeschrieben. Dieser Ansicht war auch Knippenberg, während das Gutachten Baldratis diese Ansicht referiert, ohne sie zu dementieren. Die „Panoplia“ galt damals in der Generalleitung des Ordens und gilt heute allgemein als Werk von Lemos. Vgl. oben Anm. 18.
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In reliquis examinat Auctor eas difficultates, quae in materia gratiae ab alijs catholicis theologis pertractantur. Id vero quod aliqua animadversione dignum existimavi est. P[ri]mo quod pag. 84 occasione ostendendi efficaciam divinae gratiae non obesse libertati humanae voluntatis habet hanc propositionem: „Gratia inefficax numquam privatur effectu, respectu cuius est inefficax, nam non est nata illum habere effectum“ 57, censeo prout iacet esse de errore suspectam, quia negat gratiam sufficientem disponere ad effectum quoquemodo consequendum, nimirum vel per consensum voluntatis, vel per subsequens adiutorium secuturum illis, qui gratiae sufficienti non resistant, etenim gratia sufficiens tribuit vere, et proprie dictam potentiam ad opus supernaturale propter quod datur 58, puta ad credendum, ad vincendum tentationes, ad conversionem peccatoris, ad observanditam praeceptis et quamvis gratia sufficiens quatenus ab efficaci distincta non conferat voluntatem credendi, bonum agendi, redeundi ad Deum, resistendi [Bl. 197 r ] tentationibus magnam, et arbustam ut loquitur S. Augustinus Lib. De gratia, et libero arbitrio, tamen confert illis quibus datur voluntatem bonam quamvis parvam, et invalidam, id circo esto habentibus gratiam sufficientem necessaria sit gratia efficax, ut potentia gratiae sufficientis coniungatur cum effectu, sive applicetur ad opus, non per hoc dici potest, quod non sit nata habere illum effectum, propter quem confertur, cum tali modo loquendi denegetur gratiae sufficienti quaecunque potentia ad opus bonum contra citatum Augustinum. Dixi prout iacet esse suspectam, quia fortasse mens Auctoris, prout ex schola D. Thomae, potuit esse, quod gratia sufficiens non sit nata habere illum effectum actu, vel nisi posita applicatione, vel sine gratia efficaci, ex quarum particulis, una addita, propositio esset sana. 2° quod pag. 125 dicit: sine gratia non sumus liberi ad opera gratiae, sed sumus servi peccati, quam propositionem in eo quod dicit, quod sine gratia sumus servi peccati, censeo erroneam, et simbolicam cum prima propositione Quesnelli 59 asserentis [Bl. 197 v ] animam sine gratia esse impotentem ad omne opus bonum, et cum 35. Michalis Baij: „omne quod agit peccator, vel servus peccati, peccatum est“, etenim sine gratia adhuc sumus liberi secundum S. ———— 57
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Vermerk am Rand des Originals in offenbar verderbter Schreibweise: „quam in eo quod dicit non esse natam habere effectum“. Vermerk am Rand des Originals: „Nat. ab Alex. T. 1, lib. 1 ar. 5 § 12 pag. 88“. Der Vermerk verweist auf Noël Alexandre, Theologia dogmatico-moralis, vol. 1, libr. 1, quaestio II, articulus V. In der Ausgabe Venetiis, Pezzana, 1783 heißt S. 151 die Überschrift zu § XII. „Gratia sufficiens veram, proprieque dictam potentiam ad opus supernaturale tribuit“. Zur Verurteilung der 101 Lehrsätze des Pasquier Quesnel durch die Bulle „Unigenitus“ von 1713, darunter des ersten Satzes über „generalis impotentia ad laborem, ad orationem et ad omne opus bonum“, vgl. Denzinger-Schönmetzer Nr. 2401. Zur Verurteilung des Michael Baius 1567 durch die Bulle „Ex omnibus afflictionibus“ vgl. Denzinger-Schönmetzer Nr. 1936: „Omne, quod agit peccator vel servus peccati, peccatum est“.
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Aug[ustinu]m lib.4° c[ont]ra Julianum c. 3 60 ad opera, quae naturae modo et rectae rationi consentanea sunt, ut alteri non facere, quod volumus nobis fieri 61, subvenire indigenti, dare eleemosyam [sic], honorare parentes, cavere furta, et caedes, quia etiam seclusa divina gratia non est extinctum in nobis liberum arbitrium, quo mediante esto sine illa non possimus velle, aut perficere aliquod opus bonum, quod ad salutem aeternam conferat, tamen cum solo generali Dei concursu nobis debito ex communi providentia possumus elicere in genere naturae et morum aliquod opus laudabile 62 ut exodi p° 63 de obstetricibus egyptiacis legitur quod timuerunt deum, et non fecerunt iuxta praeceptum Regis Aegypti, sed conservabant mares: benefecit ergo Deus obstetricibus, eo vel maxime, quod in nobis etiam in peccato existentibus remanent habitus fidei, et spei, quibus mediantibus possumus elicere, citra meritum vitae aeternae, actus credendi, et sperandi. 3° Quod pag. 126 circa finem dicit: „quod autem gratiae efficaci aliquando resistatur“, hoc dici debet, quia haec [Bl. 198 r ] propositio damnata est. „Interiori gratiae in statu naturae lapsae nunquam reistitur,“ et Jansenius hoc de gratia efficaci dixit: „quia aliam non admisit, quam propositionem censeo esse erroneam, quia gratia ideo dicitur efficax, quia sortitur effectum 64 et ut dicit S. Aug. lib. De corrept.e et gratia c. 12 65, indeclinabiliter, insuperabiliter, invictissime, cum non tantum faciat ut voluntas operari posit, sed etiam ut re ipsa velit, et operetur, quamvis adsit potentia ad resistendum, Jansenius vero negat gratiam sufficientem, et ideo male dicit generaliter, et indefinite quod gratiae interiori nunquam resistatur, Tum etiam quia pervertit sensum ecclesiae, in quo dicta propositio damnata fuit, nam sensus ecclesiae est quod resistatur alicui gratiae interiori, quia non omnis gratia interior est efficax. Tum tandum quia ex illa propositione „gratiae efficaci aliquando resistitur, infertur haec alia „sufficit admittere gratiam interiorem, cui aliquando resistitur, quia haec est contradictoria huius damnatae interiori gratiae nunquam resistitur, iuxta autem dictrum Auctoris, gratiae efficaci aliquando resistitur, ideo sufficit admittere gratiam efficacem, quod est contra commune sensum catholicorum, scripturam, ———— 60
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Vgl. Aurelius Augustinus, Contra Julianum, haeresis Pelagianae defensorem, libri sex, in: Patrologiae Cursus completus, Series latina, accuratne J.- P. Migne, Tomus 44. Parisiis 1845, Sp. 641- 874, darin Sp. 743-756 lib. 4, caput III. Vermerk am Rand des Originals: „Carr.er t. 2 pag. 875 § nota“. Der Vermerk betrifft: François Carrière, Fidei catholicae digestum singula eius dogmata, et ritus ecclesiae [...] declarens. Lugduni: Anisson - Devenet, 1657, vol. 2, S. 875. Vermerk am Rand des Originals: „Car.er reprobatur“, vgl. Anm. 61. Verweis auf das biblische Buch Exodus, Kapitel 1. Vermerk am Rand des Originals: „Carier [!] t. 2 q. X pag. 882“, vgl. Anm. 61. Vgl. Aurelius Augustinus, De correptione et gratia ad eumdem Valentinum, in: Patrologiae Cursus completus, Series latina, accurante J.-P. Migne, tomus 44. Parisiis 1845, Sp. 915 - 946, darin caput XII: „Subventum est igitur infirmitati voluntatis humanae,ut divina gratia indeclinabilier et inseparabilier ageretur“, Sp. 940. Die Fußnote ebd. gibt für das Wort inseparabiliter auch die Lesart „insuperabiliter“, die Baldrati im Gutachten benutzt.
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et SS.Patres. 66 Neque ex hoc, quod gratiae efficaci acta non resistatur, [Bl. 198 v ] ullum infertur praeiudicium humanae libertati, quia illa gratia non aufert voluntati potestatem ad oppositum, licet enim nunquam oppositum faciat quo tempore bonum operatur, potest tamen facere, et saepe facit immediate postquam bonum fecit, impediendo continuationem gratiae efficacis, ut cum per hoc non accipiat novam potentiam male faciendi, evidens est illam habuisse etiam pro illo tunc, quo cum gratia efficaci operabatur. In eodem errore est Auctor pag. 99 ubi ponit hanc conclusionem: „Gratiae efficaci de se natae habere effectum saepe voluntas resistit, quae quidem conclusio posset admittere sanum sensum propter additas voce: de se natae habere effectum, tunc enim dicere vellet, quod aliqua gratia dicatur efficax, quia de se nata est habere effectum, cui saepe resistitur, et quod detur alia gratia efficax sic dicta, quia effectum consequitur, verum hunc probabilem sensum evertit per voces subsequentes, dum dicit: „nam haec proposistio Jansenij damnata est. „Interiori gratiae in statu naturae lapsae nunquam resistitur, et hoc dicit Jansenius de gratia efficaci, quia aliam non admisit“. Si ergo Jansenius ideo damnatus est, quia non admisit aliam gratiam, quam efficacem, seu quia dixit nunquam interiori gratiae resistitur, debemus admittere gratiam non efficacem, cui aliquando resistatur. [Bl. 199 r ] Auctor facit litem de nomine absque necessitate, ut enim explicit Jansenij sensum iam condemnatum, vult stabilire duplicem gratiam efficacem, unam quae suum effectum consequitur, vel cui non resistitur, et alteram, quae nata est habere effectum, cui saepe resistitur, hanc secundam, nemo scholasticorum appellat efficacem, quamvis enim aliquae gratiae habent aliquem effectum, et de se natae sint habere maiorem effectum, cui resistitur, non tamen recte dicitur quod gratiae efficaci saepe resistatur, sed boni theologi dicunt, quod tales gratiae sint efficaces quoad unum effectum, sed sufficientes, et inefficaces respectu illius effectus, quem voluntas impedit, ideoque haec propositio errorem fovet in modo loquendi, et Auctor sibi contradicit, dum p. 84 dixit gratiam inefficacem non esse natam habere illum effectum. Caeterum in reliquis Auctor catholice scripsit in materia de divina gratia et aeque bene tuetur efficaciam istius, ac liberatatem nostrae voluntatis. Quapropter censo quod correctis tribus desuper enunciatis propositionibus possit opusculum permitti, si ita placuerit EE. VV [Eminetiis Vestris] Salvo semper etc. fr. Joseph M[ari]a Baldrati Min[orum] Con[ventualium] Consultor S. Officii.
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Vermerk am Rand des Orginals: „Carier t. 2 pag. 878“, vgl. Anm. 61.
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Deutsche Zusammenfassung des lateinischen Gutachtens von G. M. Baldrati: Eminenzen, dem Auftrag Eurer Eminenzen gebührend Folge leistend las ich das Büchlein „Doctrina S. Thomae“ sorgfältig und genau. Der Verfasser will laut Vorwort die Gnade und damit zusammenhängende Fragen behandeln, ohne die nach seinen Worten umstrittene Unterscheidung von hinreichender und wirksamer Gnade. Aber, obschon er nicht ausdrücklich die Frage dieser Unterscheidung behandelt, nimmt er wie die meisten Theologen an, dass es eine wirksame und eine unwirksame Gnade gibt, S. 84, 99 u.ö. Zudem widerlegt er in gut katholischer Weise die fünf verurteilten Thesen des Jansenius.55 Schließlich verteidigt er Lehre und Person des Pater Thomas Lemos gegenüber den Irrtümern, die ihm nach seinen Worten die Jansenisten fälschlich nachsagen. Sie haben unter dem Namen des Lemos das Buch „Panoplia“ herausgegeben, welches die verurteilten Lehren des Jansenius enthält.56 In den übrigen Teilen des Werkes untersucht der Verfasser die von katholischen Theologen behandelten Schwierigkeiten zur Gnadentheologie. Folgendes ist anzumerken: 1. Seite 84 geht es dem Verfasser um den Aufweis, dass die wirksame Gnade der menschlichen Willensfreiheit nicht widerstehe, und er sagt: „Die unwirksame Gnade wird nie einer Wirkung beraubt hinsichtlich deren sie wirkungslos bleibt, denn sie ist gar nicht für jene Wirkung geschaffen (geboren)“.57 Diesen Satz halte ich in der vorliegenden Form für irrtumsverdächtig, weil er leugnet, die hinreichende Gnade disponiere zu einer in irgendeiner Weise zu erreichenden Wirkung, sei es durch Zustimmung des Willens, oder durch hinzukommende Hilfe für diejenigen, die der hinreichenden Gnade sich nicht widersetzen; denn die hinreichende Gnade gibt im wahren und eigentlichen Sinne des Wortes die Kraft (Potenz), um das übernatürliche Ziel zu erreichen, für das sie verliehen wurde, und zwar um zu glauben, die Versuchungen zu besiegen, zur Bekehrung des Sünders, zur Beobachtung der Gebote. Und obschon die hinreichende Gnade, insofern sie von der wirksamen sich unterscheidet, nicht den großen und starken Willen verleiht, um zu glauben, das Gute zu tun und zu Gott zurückzufinden (gemäß Augustinus De gratia et libero arbitio), so verleiht sie dennoch jenen, denen sie zuteilwird, einen guten Willen, wenn auch einen kleinen und schwachen. Darum benötigen diejenigen, welche die hinreichende Gnade besitzen, die wirksame Gnade, damit die Potenz der hinreichenden Gnade zu der Wirkung gelangt, für die sie verliehen wurde: durch diese Redeweise würde der hinreichenden Gnade jedwede Potenz zur Erreichung des Guten geleugnet, entgegen dem zitierten Augustinus-Wort. Der Satz ist, wie gesagt, in der jetzigen Formulierung verdächtig, denn vielleicht meint der Verfasser, der ja aus der Schule des hl. Thomas kommt, dass die hinreichende Gnade nicht dazu geschaffen sei, jene Wirkung tatsächlich (actu) zu
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erzielen, es sei denn durch zusätzliche Hilfe, oder ohne wirksame Gnade. Wenn man eine dieser beiden Bedingungen beifügt, behält der Satz seinen gesunden Sinn. 2. Seite 125 heißt es: „Ohne Gnade sind wir nicht frei für die Gnadenwerke, sondern sind Knechte der Sünde“. Diesen Satz halte ich für irrig und übereinstimmend mit dem ersten Satz von Quesnel 59, nach welchem die Seele ohne Gnade machtlos für jedes gute Werk ist; außerdem stimmt er mit dem 35. Satz des Michael Bajus überein „alles, was der Sünder tut oder der Knecht der Sünde, ist selber Sünde“; denn auch ohne Gnade sind wir gemäß Augustinus, Contra Julianum Buch 4 Kapitel 3 60 dennoch frei für jene Werke, die der Natur und der richtigen Vernunft entsprechen, damit wir dem nächsten das tun, was wir für uns wünschen 61, dem Notleidenden helfen, Almosen geben, die Eltern ehren, Stehlen und Töten meiden; denn auch ohne göttliche Gnade ist unsere freier Wille nicht ausgelöscht, ohne den wir nicht wollen können oder irgendein gutes Werk vollenden, das zur Erreichung des ewigen Heils beiträgt. Denn mit dem bloßen allgemeinen göttlichen Beistand, der uns aus der allgemeinen Vorsehung zusteht, können wir auf dem Gebiet der Natur und der Sitten ein löbliches Werk hervorbringen 62, wie im ersten Buche Exodus 63 über die ägyptischen Hebammen zu lesen ist, dass sie gottesfürchtig waren und nicht nach dem Gebot des Königs handelten und die Knaben am Leben erhielten: Gott segnete die Hebammen vor allem auch darum, weil in uns, die wir im Stand der Sünde sind, jene Haltung des Glaubens und der Hoffnung erhalten bleibt, wodurch wir – freilich ohne das ewige Leben zu verdienen – Akte des Glaubens und der Hoffnung hervorbringen können. 3. Wenn es am Ende der Seite 126 heißt: „dass man bisweilen der wirksamen Gnade widersteht“, ist zu sagen, dass dies ein verurteilter Satz ist. „Der inneren Gnade widersteht man nie im Stand der gefallenen Natur“, und Jansenius sagt dies von der wirksamen Gnade: „weil er nur diese zuließ. Diesen Satz halte ich für irrig, denn die Gnade heißt darum wirksam, weil sie eine Wirkung hervorbringt 64, und zwar unabweislich, unüberwindlich und unbezwingbar, wie Augustinus De corrept. et gratia, c. 12, sagt.65 Denn die Gnade sorgt nicht nur dafür, dass der Wille handeln kann, sondern auch dafür, dass er tatsächlich will und handelt, obschon die Kraft (Potenz) vorhanden ist zu widerstehen. Jansenius aber leugnet die hinreichende Gnade, und darum ist seine allgemeine und uneingegrenzte Aussage falsch, dass man nie der inneren Gnade widersteht. Zudem verdreht er die Aussageabsicht der Kirche, mit der diese den betreffenden Satz verurteilte, denn der Sinn hierbei war, dass man einer inneren Gnade widersteht, denn nicht jede innere Gnade ist wirksam. Außerdem folgt aus jenem Satz: „der wirksamen Gnade widersteht man bisweilen“, dieser zweite: „es genügt die innere Gnade zuzulassen, der man bisweilen widersteht“, denn diese widerspricht dem verurteilten Satz „der inneren Gnade wird nie widerstanden“, aber nach Aussage des Verfassers widersteht man bisweilen der
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wirksamen Gnade. Deshalb genügt es, die wirksame Gnade zuzulassen, was jedoch dem allgemeinen (Glaubens-) Sinn der Katholiken widerspricht, der Schrift und den Heiligen Vätern.66 Auch daraus, dass man der wirksamen Gnade tatsächlich nicht widersteht, ergibt sich keine Beeinträchtigung der menschlichen Freiheit. Denn jene Gnade nimmt dem Willen nicht die Macht zum Gegenteiligen, selbst wenn er nämlich niemals das Gegenteil tut, solange er das Gute wirkt, so kann er es jedoch tun, und oft tut er es unmittelbar, nachdem er das Gute tat und verhindert dabei, dass die wirksame Gnade fortwirkt, damit er dadurch keine neue Kraft (Potenz) erhält, Böses zu tun, so ist es evident, dass er jene Kraft (Potenz) zum bösen Handeln auch zu dem Zeitpunkt besaß, als er mit der wirksamen Gnade handelte. Im gleichen Irrtume befindet sich der Autor Seite 99 bei folgender Schlussfolgerung: „Der wirksamen Gnade, die von sich aus dafür geschaffen ist, eine Wirkung zu erzielen, widersteht der Wille oft“. Diese Schlussfolgerung könnte einen Sinn ergeben wegen der Beifügung „von sich aus geschaffen, eine Wirkung zu erzielen“; dann wollte sie also sagen, dass eine Gnade wirksam genannt wird, weil eine Wirkung erfolgt. Aber diesen wahrscheinlichen Sinn zerstört er durch die folgenden Worte: „Denn dieser Satz des Jansenius ist verurteilt. Der inneren Gnade widersteht man im Stand der gefallenen Natur nie, und dies sagt Jansenius von der wirksamen Gnade, weil er keine andere zulässt“. Wenn demnach Jansenius darum verurteilt ist, weil er keine andere als die wirksame Gnade zulässt, also weil er sagt, dass man nie der inneren Gnade widerstehe, dann müssen wir zugeben, dass er eine nicht wirksame Gnade zulässt, der man irgendwann widersteht. Der Verfasser stritt ohne Notwendigkeit um eine Bezeichnung, wie er nämlich die schon verurteilte Bedeutung des Jansenius erklärt, will er eine doppelte wirksame Gnade aufstellen, von der die eine ihre Wirkung erzielt und der man nicht widersteht, und von der die andere geschaffen ist, eine Wirkung zu haben und der oft widerstanden wird. Diese zweite nennt keiner der Scholastiker eine wirksame Gnade, obschon einige Gnadenerweise eine bestimmte Wirkung haben und von sich aus geschaffen sind, eine größere Wirkung zu haben, der man sich aber widersetzt. Dennoch ist es nicht richtig zu sagen, dass der wirksamen Gnade oft widerstanden wird. Vielmehr sagen die guten Theologen, dass diese Gnadenerweise wirksam sind hinsichtlich einer Wirkung, aber hinreichend, und unwirksam hinsichtlich jener Wirkung die der Wille verhindert. Darum begünstigt dieser Satz wenigstens im Ausdruck den Irrtum, und der Verfasser widerspricht sich, während er Seite 84 sagt, die unwirksame Gnade sei nicht dazu geschaffen, jene Wirkung zu erzielen. In den anderen Teilen des Buches beschreibt der Verfasser das Übrige zum Thema der göttlichen Gnade in katholischer Weise und bewahrt richtig die Wirksamkeit der Gnade und die Freiheit unseres Willens. Darum meine ich, dass man nach Berichtigung der drei oben genannten Sätze das Büchlein erlauben kann, wenn es Euren Eminenzen genehm sein sollte.
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Vorbehaltlich immer [eines besseren Urteils] Frater Joseph M. Baldrati, Minderbruder der Konventualen, Konsultor des Sanctum Officium.
Liturgiereform im Hirtenbrief. Die gottesdienstliche Erneuerung des Zweiten Vatikanischen Konzils im Spiegel der Hirtenworte des Bischofs von Essen Dr. Franz Hengsbach von Jürgen Bärsch
„Empfange das Evangelium und verkünde das Wort Gottes in aller Geduld und Weisheit.“ Mit diesem Wort erhält der neugeweihte Bischof bei seiner Ordination das Evangelienbuch, noch bevor ihm die bischöflichen Insignien überreicht werden.1 Der ausdeutende Ritus der Weiheliturgie bringt eine Überzeugung der Kirche zum Ausdruck, die das Zweite Vatikanische Konzil betont herausgestellt hat: „Unter den hauptsächlichen Ämtern der Bischöfe hat die Verkündigung des Evangeliums einen hervorragenden Platz.“ 2 Dieses Amt nehmen die Bischöfe auf unterschiedliche Weise wahr. Eine besondere Form bischöflicher Verkündigung ist der Hirtenbrief.3 Vor allem im Zuge der durch das Konzil von Trient wieder bewusst gewordenen vorrangigen pastoralen Aufgabe des Bischofs und den Bemühungen um die kirchliche Erneuerung im Zeichen des Konfessionalismus gewann der Hirtenbrief seit dem 18. Jahrhundert an Bedeutung. Er machte es dem Bischof möglich, ein belehrendes Wort an Klerus und Volk seines Bistums zu richten. Dabei spielten neben den im Rahmen der Diözesansynoden verlesenen Pastoralbriefe vornehmlich der am Beginn der österlichen Fastenzeit publizierte Brief mit seinen Hinweisen und Regelungen zur Fastenordnung und zum verpflichtenden Empfang der Sakramente von Buße und Eucharistie in der Osterzeit eine gewichtige Rolle. Darüber hinaus konnten Hirtenbriefe genutzt werden, um das kirchliche Leben zu vereinheitlichen, die Gläubigen zu bestimmten religiöse Haltungen anzuhalten und eine fromm-sittliche Le———— 1
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Pontifikale für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes. 1. Die Weihe des Bischofs, der Priester und der Diakone. Handausgabe mit pastoralliturgischen Hinweisen, hg. von den Liturgischen Instituten Salzburg-Trier-Zürich, Freiburg 1994, 44; vgl. zu diesem ausdeutenden Ritus Hans-Jürgen Feulner, Anmerkungen zur Ordination des Bischofs nach dem erneuerten Pontifikale, in: Manifestatio Ecclesiae. Studien zu Pontifikale und bischöflicher Liturgie. FS Reiner Kaczynski, hg. von Winfried Haunerland u.a. (Studien zur Pastoralliturgie 17) Regensburg 2004, 161-188, hier 183. II. Vatikanum, LG 25. – Das Konzil nimmt hier die Aussagen des Konzils von Trient auf (Decr. de reform., Sess. V, c. 2, n. 9; Sess. XXIV, can. 4). Vgl. Heinz-Günther Schöttler, Art. Hirtenbrief, in: LThK 5 (Freiburg u.a. 31996) 160f. sowie Harald Lang, Textsorte Hirtenbrief. Linguistische Untersuchungen zur Pragmatik der bischöflichen Schreiben (Diss. phil., Freiburg i. Br. 1987).
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bensführung einzufordern.4 Später nahmen Bischöfe mittels ihrer Hirtenbriefe auch Stellung zu erweiterten ethischen, pastoralen und gesellschaftspolitischen Fragen. Hirten- oder Pastoralbriefe waren und sind also ein eigenes Medium, mit dem der Bischof sein kirchliches Lehr- und Verkündigungsamt ausübt. Sie geben damit zugleich Auskunft über die theologischen und pastoralen Akzente, die ein Bischof in der Leitung seiner Diözese setzen möchte. In ihnen scheint durch, was er für besonders wichtig oder gar dringend hält, was er fördern möchte und wo er korrigierend und regelnd eingreift. Darum bilden Hirtenbriefe ein interessantes Objekt für die Diözesangeschichte wie für die Kirchengeschichte überhaupt. Aber auch für die Liturgiegeschichtsforschung können Hirtenbriefe eine Quelle sein, die es lohnt auszuschöpfen. Dies dürfte erwartungsgemäß vor allem für jene Phase der kirchlichen Zeitgeschichte gelten, in der die Erneuerung des Gottesdienstes als ein zentrales Anliegen der Kirche in Erscheinung trat und den Bischöfen die Aufgabe zufiel, diesen Erneuerungsprozess in ihren Bistümern umzusetzen. Gerade das Medium Hirtenbrief ermöglichte, wesentliche Aspekte der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils in der ganzen Diözese zur Sprache zu bringen, um die Neuorientierungen in Theologie und Gestalt des Gottesdienstes dem Klerus und den Laien zu erläutern und zu erschließen. Im Folgenden soll dies am Beispiel der Hirtenbriefe des Bischofs von Essen, Dr. Franz Hengsbach (1910-1991) untersucht werden.5 Es gilt zu fragen, wann und wie sich der Bischof zur konziliaren Liturgiereform äußerte, welche Gesichtspunkte er betonte, wie er den Verlauf der Reformen beurteilte und wo er Chancen oder Gefahren der Entwicklung sah. Diese kleine Studie soll – unter dem speziellen Fokus der Quellen – einen weiteren Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Liturgiereform des Zweiten Vatikani———— 4
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So hat etwa Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen im Zuge der jährlichen Frühjahrs- und Herbstsynoden den im Dom zu Münster zu verlesenden Briefen eine hohe Bedeutung für seine Erneuerungsbestrebungen beigemessen. Vgl. Die Pastoralbriefe des Münsterander Fürstbischofs Christoph Bernhard von Galen (1650-1678) in Verbindung mit den bischöflichen Lageberichten an den Papst und dem Testament des Bischofs, kommentiert und hg. von Alois Schröer, Münster 1998. Bislang gibt es nur eine kleine Studie zu den Pastoralbriefen des ersten Bischofs von Essen, die Heinrich J. F. Reinhardt vorgelegt hat: „Liebe Diözesanen!“ Die Hirtenbriefe des Bischofs von Essen, Dr. Franz Hengsbach, in: Das Münster am Hellweg 33 (1980) 209-222. Einbezogen hat Reinhardt Hirtenbriefe aus besonderen Anlässen wie Diözesansynode, Heiliges Jahr oder 20jähriges Bistumsjubiläum, Hirtenbriefe zu kirchlichen und gesellschaftlichen Fragen wie Schule, Ehe und Familie oder geistliche Berufe und schließlich Fastenhirtenbriefe, die stärker geistlich-theologische Aspekte betonten. Unter dem hier interessierenden Blickwinkel sind die Hirtenbriefe Bischof Hengsbachs noch nicht untersucht worden. Vgl. dazu Jürgen Bärsch, Winfried Haunerland, Liturgiereform und Ortskirche. Nachkonziliare Praxisgeschichte als Forschungsaufgabe am Beispiel des Bistums Essen, in: Liturgisches Jahrbuch 55 (2005) 199-234, hier 216f.
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schen Konzils auf der Ebene der Ortskirchen leisten.6 Sie reiht sich damit ein in die seit einigen Jahren intensivierte Erforschung der jüngsten Liturgiegeschichte, an der nicht zuletzt der mit dieser Festschrift Geehrte beteiligt war.7
1. Auf dem Weg zum Konzil – die Jahre 1958 bis 1961 Als am 1. Januar 1958 das Bistum Essen gegründet 8 und der erste Bischof, der vormalige Paderborner Weihbischof Dr. Franz Hengsbach 9 von seinem Sprengel Besitz ergriff, hatte der für die Liturgie von Bistumserrichtung und Bischofsinthronisation federführend verantwortliche Kölner Liturgiewissenschaftler Prälat Theodor Schnitzler (1910-1982) 1 0 auf die alte Tradition ———— 6
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Das von den liturgiewissenschaftlichen Lehrstühlen in Eichstätt und München betriebene Forschungsprojekt ist im Überblick dargestellt von Jürgen Bärsch, Liturgiereform in Bistum und Pfarrei. Wege und Umrisse eines liturgiewissenschaftlichen Forschungsprojekts zur Rezeptionsgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Zwischen Tradition und Postmoderne. Die Liturgiewissenschaft vor neuen Herausforderungen, hg. von Michael Durst und Hans J. Münk (Theologische Berichte 33) Freiburg / Schw. 2010, 63-105 (Lit.). – Als erstes Ergebnis konnte publiziert werden: Liturgiereform vor Ort. Zur Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in Bistum und Pfarrei, hg. von Jürgen Bärsch und Winfried Haunerland (Studien zur Pastoralliturgie 25) Regensburg 2010. Vgl. Norbert Trippen, Liturgische Erfahrungen vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Beispiele im Erzbistum Köln, in: Liturgiereform vor Ort (wie Anm. 6) 131-143. Die langwierigen und teils zähen Verhandlungen zur Errichtung einer Diözese für das Ruhrgebiet hat Norbert Trippen dargelegt: Josef Kardinal Frings (1887-1978). I. Sein Wirken für das Erzbistum Köln und für die Kirche in Deutschland (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B. 94) Paderborn u.a. 2003, 575-604; vgl. auch Josef Krautscheidt, Gründung des Bistums Essen – Die Jahre 1951-1957, in: Zeugnis und Dienst. FS Bischof Franz Hengsbach, hg. vom Domkapitel zu Essen, redigiert von Wilhelm Bettecken, Bochum 1980, 29-55; zu den kirchlich-gesellschaftlichen Hintergründen jetzt Wilhelm Damberg, Die Begründung des Bistums Essen 1958. Gesellschaftlicher Wandel und Kirchengeschichte im Ruhrgebiet, in: Das Ruhrbistum in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 50 Jahre Bistum Essen, hg. von Reinhard Göllner (Theologie im Kontakt 17) Berlin 2010, 9-25. Neuerdings hat der dritte Generalvikar des Bischofs von Essen, Heribert Heinemann, darauf aufmerksam gemacht, dass die Idee eines Bistums Essen vom damaligen Essener Oberbürgermeister Dr. Hans Toussaint ausging: Das Ruhrbistum als gelebte und erlebte Geschichte. Was geschah am 1. Januar 1958 in Essen?, in: ebd., 159- 178, hier 177f. – Dass die Überlegungen zur Errichtung eines eigenen Bistums für das rheinisch-westfälische Industriegebiet allerdings deutlich älteren Ursprungs sind, hat Reimund Haas detailliert erläutert: Warum scheiterte 1928 der erste Plan für ein Ruhrbistum Essen?, in: ebd., 27-63. Zu Person und Werke vgl. den biographischen Artikel von Erwin Gatz, Hengsbach, Franz, in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945- 2001. Ein biographisches Lexikon, hg. von dems., Berlin 2002, 192-198 sowie Hans Jürgen Brandt, Klaus Hellmich, Zeitzeuge Kardinal Franz Hengsbach. Zum Gedenken an den Gründerbischof des Bistums Essen 1910-1991, hg. im Auftrag des Bistums Essen, Bochum 1991 und die jüngste Skizze von Hans Jürgen Brandt, Der Bischof ist vor Ort gegangen! 100 Jahre Franz Kardinal Hengsbach, in: Jahrbuch für mitteldeutsche Kirchen- und Ordensgeschichte 6 (2010) 271-284. Eine wissenschaftliche Biographie zu Person und Werk Hengsbachs fehlt bislang.
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zurückgegriffen, wonach der Bischof an seinem Altar versus populum zelebrierte. Entsprechend stand die Kathedra des neuen Bischofs vor dem Flügelaltar im Hochchor des Essener Münsters, für die Messliturgie aber war ein Altar im Vordergrund des Chores errichtet, der die Feier versus populum ermöglichte.11 Wie Bischof Hengsbach später verschiedentlich schilderte, muss diese von Vertretern der Liturgischen Bewegung favorisierte Form der Messfeier für ihn nicht nur ungewohnt, sondern auch in gewisser Hinsicht unangenehm gewesen sein, denn er bekundete, dass er bei der Zelebration ganz unsicher war, da er nicht wusste, wohin er seine Augen richten sollte. Die kleine Episode zeigt bereits an, dass der Ruhrbischof, wie er bald im Volksmund genannt werden sollte, bis dahin nur wenig Berührungspunkte mit der gottesdienstlichen Erneuerung besaß, wie sie in Deutschland zunächst vor allem nach dem Ersten Weltkrieg durch einzelne Persönlichkeiten gefördert wurde und bestimmte Kreise im Katholizismus erreichte 12, nach dem Zweiten Weltkrieg aber zunehmend im kirchlichen Leben Fuß fasste.13 Tatsächlich war Hengsbach in seinen bisherigen Tätigkeiten als ———— 10
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Zu Person und Werk vgl. Hanns Peter Neuheuser, Theodor Schnitzler und die Liturgiereform des Zweiten Vatikanum, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln und Osnabrück 62 (2010) 358 - 365. Vgl. die Beschreibung der Feierlichkeiten zur Errichtung des Bistums Essen bei Eduard Hegel, Kirchliche Vergangenheit im Bistum Essen, Essen 1960, 281- 283, hier 282. Man denke hier an so unterschiedliche Protagonisten wie Abt Ildefons Herwegen und die Abtei Maria Laach, die Theologie und Spiritualität der Liturgie vorantrieben, an Romano Guardini, der über seine literarische Arbeit und sein Wirken auf Burg Rothenfels vor allem die Kreise der katholischen Jugendbewegung für die Liturgische Bewegung gewann, oder an Pius Parsch, dessen volksliturgisches Apostolat in Klosterneuburg bei Wien bis weit in die Pfarreien, auch des Ruhrgebiets wirkte. Vgl. Theodor Maas-Ewerd, Liturgie und Pfarrei. Einfluß der Liturgischen Erneuerung auf Leben und Verständnis der Pfarrei im deutschen Sprachgebiet, Paderborn 1969; ders., Die Krise der Liturgischen Bewegung in Deutschland und Österreich. Zu den Auseinandersetzungen um die „liturgische Frage“ in den Jahren 1939 bis 1944 (Studien zur Pastoralliturgie 3) Regensburg 1980; einen guten Überblick geben ders. und Klemens Richter, Die Liturgische Bewegung in Deutschland, in: Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen Gottesdienstes. II. Liturgiereformen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. FS Angelus A. Häußling OSB, hg. von Martin Klöckener und Benedikt Kranemann (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 88) Münster 2002, 629-648. Vgl. die exemplarischen Darstellungen für die Bistümer Münster und Trier: Dem Konzil voraus. Liturgie im Bistum Münster auf dem Weg zum II. Vatikanum, hg. von Klemens Richter und Thomas Sternberg, Münster 2004; Andreas Heinz, Liturgie und Frömmigkeit. Beiträge zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte des (Erz-) Bistums Trier und Luxemburgs zwischen Tridentinum und Vatikanum II (Geschichte und Kultur des Trierer Landes 9) 311- 478. Für Köln ist hinzuweisen auf Hanns Peter Neuheuser, Liturgierecht und Liturgiepastoral. Synodales Partikularrecht als Wegbereiter der Liturgiereform des Zweiten Vatikanums, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kan. Abt. 126 (2009) 341-396; ders., Liturgische Großveranstaltungen als kirchengeschichtliche Ereignisse. Impulse einer deutschen Teilkirche für die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 122 (2011) Heft 1, [im Druck].
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Leiter des Paderborner Seelsorgeamtes und als Geistlicher Assistent des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZDK) intensiver mit gesellschaftlich-sozialen Fragen betraut gewesen. So gehörte zwar die Feier der Liturgie für ihn stets zum selbstverständlichen Teil seines priesterlichen und bischöflichen Lebens, hatte aber ihn darüber hinaus nur wenig beschäftigt. Eine persönliche Beziehung Hengsbachs zu Zentren und Protagonisten der Liturgischen Bewegung lässt sich jedenfalls bislang nicht ausmachen. Insofern darf man durchaus feststellen, dass dem ersten Bischof von Essen verständlicherweise vor allem die im Ruhrgebiet besonders drängenden Fragen des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens am Herzen lagen, wogegen die Anliegen der Liturgischen Erneuerung wohl eher am Rande sein Interesse fanden. Diese Einschätzung bestätigt schon das erste Hirtenwort, die Predigt Hengsbachs bei der Besitzergreifung des Bistums, in der er zentrale Aspekte des Lebens im Ruhrgebiet wie Wohnverhältnisse, Arbeitsbedingungen in Industrie und Bergbau, Migranten und das ökumenische Zeugnis in den Mittelpunkt stellte.14 Und im Hirtenwort zum letzten Sonntag im Kirchenjahr 1958 gibt er in einer Art Rückblick Rechenschaft über die ersten Monate der Aufbauarbeit und appelliert an die Mitarbeit der Laien am Apostolat der Kirche. Auf das gottesdienstliche Leben in der neuen Diözese geht Hengsbach nur insofern ein, als er um Geduld bittet, dass nicht vor 1962 ein bistumseigenes Gesang- und Gebetbuch erscheinen kann 15 und neue Formen einer vertieften und bereicherten Marienverehrung ankündigt, „die ebenso der 1000jährigen Tradition der Essener Goldenen Madonna entsprechen wie den so zeitgemäßen Geheimnissen ihres schlichten Dienstes als mütterliche Frau.“ 16 Hier klingt bereits das Vorhaben an, im Folgejahr das Bildnis der Goldenen Madonna 17 aus der Schatzkammer in die Kathedrale zu überführen und damit Maria als Mutter vom Guten Rat zur Diözesanpatronin zu erheben.18 ———— 14
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Vgl. Predigt des Hochwürdigsten Herrn Bischofs von Essen, Dr. Franz Hengsbach, bei der Feier zur Errichtung des neuen Bistums und der Besitzergreifung durch den Bischof am 1. Januar 1958, in: Kirchliches Amtsblatt für das Bistum Essen [im Folgenden: KAE] 1 (1958) 8f. (Nr. 12). – Das Hirtenwort war am darauf folgenden Sonntag, 5. Januar 1958 in allen Kirchen und Kapellen zu verlesen. Vgl. Hirtenwort zum letzten Sonntag des Kirchenjahres, in: KAE 1 (1958) 115-117 (Nr. 260), hier 116. Ebd., 116. Die Goldene Madonna, um 980/990 in Westdeutschland entstanden, ist das älteste vollplastische Bild der Muttergottes überhaupt. Vgl. Der Essener Domschatz, hg. von Brigitta Falk, Essen 2009, 62f. (Lit.). Vgl. Fest der Diözesanpatronin, in: KAE 2 (1959) 130 (Nr. 244) und Päpstliche Bulle Essendiae in urbe frequenti. Bestellung der Gottesmutter zur Patronin des Bistums Essen, in: ebd., 137 (Nr. 268)
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Im Jahr 1960 bildete der Eucharistische Weltkongress in München einen liturgisch hervorgehobenen Schwerpunkt.19 Zur Vorbereitung verfassten die deutschen Bischöfe ein gemeinsames Hirtenwort, das der Essener Bischof für sich und seine Diözese übernahm. Darin betonen sie: „Es geht um Gottesdienst, um das große Danksagen, indem wir ,den Tod des Herrn verkünden, bis er wiederkommt‘“.20 Dass alle eucharistische Frömmigkeit, ja das ganze kirchliche Leben aus der zentralen Feier der Eucharistie erwachsen muss, war letztlich eine wieder gewonnene Erkenntnis der Liturgischen Bewegung, deren Anliegen sich umfangreich in Theologie und Gestalt des Eucharistischen Weltkongresses niederschlugen.21 Entsprechend konnten Bischof Hengsbach und seine Mitbischöfe erklären: „Was in den Jahrzehnten der liturgischen Erneuerung gewachsen ist an gewissenhaft durchdachtem und durchformtem Vollzug der heiligen Eucharistie, an Gestaltung des religiösen Lebens der Gemeinden und der Einzelnen vom Altare her, das wollen wir vollziehen.“ 22 Der Ruhrbischof greift noch einmal in seinem Hirtenwort zum Ende des Kirchenjahres 1960 auf die Erfahrung in München zurück, wenn er angesichts der von ihm konstatierten abnehmenden Solidarität und der zunehmenden Kontaktschwäche der Menschen untereinander die soziale Dimension der Eucharistiefeier anspricht und warnt: „Jede Abkühlung unserer Verbundenheit untereinander steht im Widerspruch zur eucharistischen Feier, die uns Sonntag für Sonntag eint, und deren alles einende Kraft uns ja gerade im Jahr des Eucharistischen Weltkongresses erneut zum Bewußtsein kam.“ 2 3 ————
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sowie den Hirtenbrief zur Vorbereitung der Erwählung der Gottesmutter zur Patronin des Bistums Essen, in: KAE 2 (1959) 79-81 (Nr. 156). Vgl. dazu auch Frömmigkeit im Revier, in: Unser gemeinsamer Weg. 25 Jahre Bistum Essen, hg. vom Bischöflichen Generalvikariat Essen, Mülheim a.d. Ruhr 1982, 66-85, hier 73-75. Vgl. die Dokumentation Statio orbis. Eucharistischer Weltkongreß 1960 in München, hg. im Auftrag des Präsidenten des Lokalkomitees S.E. Joseph Kardinal Wendel von Richard Egenter, Otto Pirner und Hubert Hofbauer. 1-2, München 1961; Für das Leben der Welt. Der Eucharistische Weltkongress 1960 in München, hg. von Peter Pfister (Schriften des Archivs des Erzbistums München und Freising 14) Regensburg 2010. Hirtenwort zur Vorbereitung des Eucharistischen Weltkongresses in München vom 31. Juli bis zum 7. August 1960, in: KAE 2 (1959) 138-140 (Nr. 269), hier 139. „Innerhalb der Geschichte der Eucharistischen Weltkongresse bringt der Münchener Kongress eine wichtige Akzentverschiebung. Bisher war der eigentliche Höhepunkt aller Kongresse die feierliche Prozession mit dem Allerheiligsten Altarsakrament gewesen. Jetzt aber wurde die eucharistische Feier selbst zum Mittelpunkt. Was in der Liturgischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewachsen war, hatte nun Konsequenzen für den Weltkongress. Nicht die Anbetung der Eucharistie außerhalb der Messfeier soll die Frömmigkeit bestimmen, sondern die Messfeier selbst.“ Winfried Haunerland, Die Eucharistischen Weltkongresse, in: Für das Leben der Welt (wie Anm. 19) 23-30, hier 28. Ebd., 139.
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Während Bischof Hengsbach sich also bislang in den persönlich verantworteten Hirtenbriefen eher am Rande zu Fragen des Gottesdienstes geäußert hat, wählte er in seinem Fastenhirtenbrief 1961 mit der eucharistischen Frömmigkeit einen liturgisch-aszetischen Schwerpunkt.24 Es geht ihm um einen vorbereiteten, würdigen Empfang der Osterkommunion, mit Verweis auf Papst Pius X. betont er den häufigen Kommunionempfang der Gläubigen und die rechtzeitige Erstkommunion der Kinder. Wenn er zugleich die stille Anbetung vor dem Tabernakel empfiehlt und die Gemeinden bittet, „daß die Feier unserer Fronleichnamsprozession ihrem Sinn entspricht, nämlich den Segen des eucharistischen Brotes in allen Bereichen des Lebens, bei uns vor allem des städtischen und industriellen Lebens, sichtbar zu machen“ 25, dann nimmt er damit zwar durchaus traditionelle Akzente der Eucharistiefrömmigkeit auf, macht aber zugleich klar, dass sich die Mitte dieser Spiritualität in der sonntäglichen Feier der Eucharistie vollzieht: „Was wir alljährlich in der Fasten- und Osterzeit im großen feiern, feiern wir zusammengefasst Sonntag für Sonntag. Darum ist die heilige Messe der Kern des Sonntags.“ 26 Und ermutigend fügt er hinzu: „Es ist gehört zu den beständigen Aufgaben von Priester und Volk in allen Gemeinden, immer wieder die Lebendigkeit, die Echtheit und – vergeßt das nicht – auch die Glaubwürdigkeit der Form unseres Gottesdienstes zu sichern. Welch ein Glaubenszeugnis ist ein lebendig gefeierter Gottesdienst!“ 27 Bemerkenswert sind in diesen Passagen etwa die theologische Bestimmung der Sonntagsfeier aus dem Ostermysterium, die die konziliare Liturgiereform breit entfalten wird 28, oder die gemeinsame Verantwortung von „Priester und Volk“ für die Feier der Liturgie, in der bereits die Überwindung der klerikalen AlleinZuständigkeit für den Gottesdienst der Kirche und die tätige Teilnahme aller Getauften an ihm anklingt. Und der Hinweis auf die „Glaubwürdigkeit der Form unseres Gottesdienstes“ kann vermuten lassen, dass Hengsbach ———— 23
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Hirtenwort zum letzten Sonntag im Kirchenjahr, in: KAE 3 (1960) 187-189 (Nr. 309), hier 188. – Den ekklesialen Communio-Charakter der Eucharistie spricht Hengsbach ein Jahr später noch einmal an, wenn er fragt: „Habt Ihr bei der Feier der heiligen Eucharistie das Bewußtsein, nicht nur als Einzelne zum Gottesdienst gekommen zu sein, sondern als Glieder einer Gemeinschaft, die miteinander und füreinander Verantwortung tragen?“ Hirtenwort zum letzten Sonntag nach Pfingsten, dem 26. November 1961, in: KAE 4 (1961) 159-161 (Nr. 300), hier 160. Vgl. Fastenhirtenbrief, in: KAE 4 (1961) 9 -11 (Nr. 17). Ebd., 10. – Möglicherweise war diese Bemerkung durch die eindrucksvolle, von Bischof Hengsbach miterlebte eucharistische Prozession bei der Feier des Eucharistischen Weltkongresses motiviert. Ebd., 10. Ebd., 11. II. Vatikanum, SC 102; 106; Der Römische Kalender. Grundordnung des Kirchenjahres (21.3.1969) 4; 18.
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hier vielleicht an eine weitergehende Neuordnung der Texte und Riten dachte 29, „daß sie das Heilige, dem sie als Zeichen dienen, deutlicher zum Ausdruck bringen und so, daß das christliche Volk sie möglichst leicht erfassen und in voller, tätiger und gemeinschaftlicher Teilnahme mitfeiern kann,“ 30 wie es das Zweite Vatikanische Konzil formulieren wird. Dennoch wird man rückblickend für die ersten Jahre im neuen Bistum sagen können, dass der Ruhrbischof sich in dieser Zeit in seinen Hirtenworten kaum zur Liturgie der Kirche und ihrer Erneuerung geäußert hat. Das lag einerseits nahe aufgrund seiner biographischen Prägung wie seiner speziellen Aufgaben und Arbeitsbereiche, dürfte andererseits aber auch dem Aufbau des neuen Bistums geschuldet sein, der die Kräfte des Bischofs band.31
2. Die Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils – die Jahre 1962 bis 1965 Als Papst Johannes XXIII. am 11. Oktober 1962 das Zweite Vatikanische Konzil feierlich eröffnete, waren auch Bischof Hengsbach und sein Weihbischof Julius Angerhausen (1911-1989) 32 unter den Konzilsvätern, die zur ersten Sessio zusammenkamen. Ganz unter dem Eindruck der ersten Wochen dieser großen Kirchenversammlung und der Begegnungen mit Bischöfen aus aller Welt richtete der Essener Bischof aus Rom sein Hirtenwort ———— 29
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Durch den neuen Codex Rubricarum waren bereits 1960 deutliche Vereinfachungen in den Riten vorgenommen worden. Zudem war zu vermuten, dass das bevorstehende Konzil hier weiterreichende Schritte vollziehen würde. Vgl. Theodor Schnitzler, Der neue Codex Rubricarum, in: Liturgisches Jahrbuch 11 (1961) 1-8. – In seinen liturgische Fragen berührenden Vorschlägen, womit sich das Konzil beschäftigen solle, blieb Hengsbach aber recht zurückhaltend. Allerdings datiert sein Schreiben vom 31. August 1959. 1961, als Hengsbach sich in seinem Hirtenbrief in der genannten Weise äußerte, waren die liturgierechtlichen Entwicklungen wie das kirchliche Klima für größere Reformen wohl offener. Vgl. das Votum von Bischof Hengsbach in: Acta et Documenta Concilio Oecumenico Vaticano II Apparando. Series I (Antepraeparatoria). Vol. II. Consilia et Vota Episcoporum et Praelatorum. Pars I: Europa, Typis Polyglottis Vaticanis 1960, 597-601, zur Liturgie 598f. II. Vatikanum, SC 21; vgl. auch SC 34. Vgl. Wilhelm Damberg, Johannes Meier, Das Bistum Essen 1958- 2008. Eine illustrierte Kirchengeschichte der Region von den Anfängen des Christentums bis zur Gegenwart. Unter Mitarbeit von Verena Schmidt, Münster 2008, 191-212; Jürgen Bärsch, Das Bistum Essen und das Zweite Vatikanische Konzil, in: Konzil und Bistum. Das II. Vatikanische Konzil und seine Wirkung im Bistum Aachen und bei den Nachbarn. FS Bischof Heinrich Mussinghoff, hg. von Karl Borsch und Johannes Bündgens, Aachen 2010, 77-136, hier 79 - 85. Zu Person und Werk des ersten Essener Weihbischofs vgl. Thorsten Rehberg, Gottsucher und Bischof für die Menschen am Rand – Weihbischof Julius Angerhausen (1911-1990), in: Christen an der Ruhr 1, hg. von Alfred Pothmann und Reimund Haas, Bottrop-Essen 1998, 252- 284.
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zum letzten Sonntag des Kirchenjahres an die Gläubigen in der Heimat.33 Darin geht er erstmals ausführlicher auf die Erneuerung der Liturgie ein, mit deren Beratung das Konzil seine Arbeit aufgenommen hatte. Angesichts der verwunderten Frage, ob es keine drängenderen Probleme der Kirche gäbe, stellt der Bischof klar: „Die Liturgie steht im Zentrum unseres kirchlichen Lebens“, denn „in allem steht die Kirche mit ihrem Haupt Jesus Christus vor unserem himmlischen Vater.“ 34 Nicht die äußeren, pragmatischen Gründe wie die allgemeine Einsicht in eine Reform des Gottesdienstes oder die weitreichende Vorarbeit der Liturgischen Bewegung führt Hengsbach an, vielmehr argumentiert er theologisch. Weil sich in der Liturgie das Wesen der Kirche offenbart, als Leib Christi Gott den Lobpreis darzubringen, beginnt das Konzil nicht mit irgendwelchen Äußerlichkeiten oder gar Nebensächlichkeiten, sondern mit dem, was die Mitte der Kirche ausmacht. Denn die Liturgie ist „der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“ 35, wie später die Liturgiekonstitution diese Erkenntnis formulieren wird. Dann aber kommt der Ruhrbischof auf die in Deutschland und anderen Ländern schon lang wirksame Erneuerung der Liturgie zu sprechen, die nun gewissermaßen für die ganze Kirche durchzuführen sei. Dabei stünden Fragen an, die für die Seelsorge bedeutsam sind. Bischof Hengsbach nennt aufzählend: „Wie kann die Liturgie einfacher, klarer, verständlicher werden? Wie kann der Reichtum der Hl. Schrift stärker in der Liturgie zur Geltung kommen? Wie kommen wir zu einer noch lebendigeren Teilnahme der Gläubigen am Meßopfer? Wie verbinden wir lebendig Liturgie und Muttersprache, Liturgie und Volksbrauch, Liturgie und Kunst? Was nehmen wir von unserer sozialen Wirklichkeit und von unserem sozialen Wollen hinein in den Gottesdienst? Welche Impulse zur sozialen Tat schöpfen wir aus ihm?“ 36 Wenn der Bischof hier explizit von seelsorglich wichtigen Fragen spricht, zeigt dies, dass er die konziliare Liturgiereform nicht isoliert als eine äußere Reform von Texten und Riten versteht, sondern als eine umfassende, auf das christliche Leben der Gläubigen ausgerichtete Erneuerung.37 Wegen ———— 33
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Vgl. Hirtenbrief zum letzten Sonntag im Kirchenjahr 1962 (25. November), in: KAE 5 (1962) 113-115 (Nr. 235). – Dieser Hirtenbrief wurde aus Rücksicht auf die Verlesung des Hirtenbriefs der deutschen Bischöfe zur ADVENIAT-Aktion am 1. Adventssonntag nicht von der Kanzel verkündet, sondern in der Bistumszeitung „Ruhrwort“ veröffentlicht. Ebd., 114. II. Vatikanum, SC 10. Hirtenbrief 1962 (wie Anm. 33) 114. Entsprechend hatten die Konzilsväter programmatisch für das ganze Konzilswerk der Liturgiekonstitution eine Art „Präambel“ vorangestellt: „Das Heilige Konzil hat sich zum Ziel ge-
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dieses pastoralen Zieles bedurfte es konkreter Maßnahmen, die Hengsbach in den genannten Fragen anspricht. Es ist bemerkenswert, dass er darin zentrale inhaltliche Aspekte der anstehenden Reform benennt: die Verständlichkeit und Durchsichtigkeit der Texte und Riten 38, die Heilige Schrift als erstrangige Quelle des ganzen Gottesdienstes 39, vor allem die lebendige, aktive Teilnahme der Gläubigen hier speziell an der Messfeier 40, wofür die Volkssprache eine wesentliche Voraussetzung ist 41, aber auch die Inkultu————
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setzt, das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen, die dem Wechsel unterworfenen Einrichtungen den Notwendigkeiten unseres Zeitalters besser anzupassen, zu fördern, was immer zur Einheit aller, die an Christus glauben, beitragen kann, und zu stärken, was immer helfen kann, alle in den Schoß der Kirche zu rufen. Darum hält es das Konzil auch in besonderer Weise für seine Aufgabe, sich um Erneuerung und Pflege der Liturgie zu sorgen.“ II. Vatikanum, SC 1. „Bei dieser Erneuerung sollen Texte und Riten so geordnet werden, daß sie das Heilige, dem sie als Zeichen dienen, deutlicher zum Ausdruck bringen, und so, daß das christliche Volk sie möglichst leicht erfassen und in voller, tätiger und gemeinschaftlicher Teilnahme mitfeiern kann.“ II. Vatikanum, SC 21; vgl. auch SC 34. „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift. Aus ihr werden nämlich Lesungen vorgetragen und in der Homilie ausgedeutet, aus ihr werden Psalmen gesungen, unter ihrem Anhauch und Antrieb sind liturgische Gebete, Orationen und Gesänge geschaffen worden, und aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihren Sinn.“ II. Vatikanum, SC 24. Vgl. dazu Jürgen Bärsch, „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift“ (SC 24). Zur Bedeutung der Bibel im Kontext des Gottesdienstes, in: Liturgisches Jahrbuch 53 (2003) 222 - 241. – Entsprechend wurde die Schriftlesung als integraler Bestandteil der liturgischen Feiern umfangreicher, vielfältiger und passender ausgestaltet. Vgl. II. Vatikanum, SC 35; 51; 92. „Die Mutter Kirche wünscht sehr, alle Gläubigen möchten zu der vollen, bewussten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern geführt werden, wie sie das Wesen der Liturgie selbst verlangt und zu der das ganze christliche Volk, 'das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, der heilige Stamm, das Eigentumsvolk' (1 Petr 2,9; vgl. 2,4 - 5) kraft der Taufe berechtigt und verpflichtet ist. Diese volle und tätige Teilnahme des ganzen Volkes ist bei der Erneuerung der Liturgie aufs stärkste zu beachten, ist sie doch die erste und unentbehrliche Quelle, aus der die Christen wahrhaft christlichen Geist schöpfen sollen.“ II. Vatikanum, SC 14; vgl. auch SC 21; 27; 30; 48 u.ö. – Zur Sache vgl. Winfried Haunerland, Participatio actuosa. Programmwort liturgischer Erneuerung, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio 38 (2009) 585- 595; Martin Stuflesser, Actuosa Participatio – Zwischen hektischem Aktionismus und neuer Innerlichkeit. Überlegungen zur „tätigen Teilnahme“ am Gottesdienst der Kirche als Recht und Pflicht der Gläubigen, in: Liturgisches Jahrbuch 59 (2009) 147-186. „Da bei der Messe, bei der Sakramentenspendung und in anderen Bereichen der Liturgie nicht selten der Gebrauch der Muttersprache für das Volk sehr nützlich sein kann, soll es gestattet sein, ihr einen weiteren Raum zuzubilligen, vor allem in den Lesungen und Hinweisen und in einigen Orationen und Gesängen...“ II. Vatikanum, SC 36 § 2. – Die noch vorsichtige Öffnung der Liturgie für die Volkssprache sollte sich angesichts der Forderung nach tätiger Teilnahme der Gläubigen am Gottesdienst im Zuge der nachkonziliaren Reform faktisch auf alle Teile der liturgischen Feiern ausdehnen. Vgl. Winfried Haunerland, Lingua Vernacula. Zur Sprache der Liturgie nach dem II. Vatikanum, in: Liturgisches Jahrbuch 42 (1992) 219-238; ders., Messbuchreformen im deutschen Sprachgebiet. Instanzen und Prozesse, in: Liturgiereform vor Ort (wie Anm. 6) 15- 42, hier 16- 21 und Andrzej Hoinkis, Bilinguale Altarmessbücher. Ein Phänomen der nachvatikanischen Liturgiereform, in: ebd., 63- 80.
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ration der Liturgie hinsichtlich Volksbräuche und Kunst 42 und schließlich die Beziehung zwischen dem alltäglichen Leben und der Feier des Gottesdienstes.43 Man darf wohl vermuten, dass Bischof Hengsbach hier seinen lebendigen Eindruck von den Diskussionen um das Liturgieschema in den 15 Generalkongregationen zwischen dem 22. Oktober und dem 13. November 1962 wiedergab 44, an denen er die Gläubigen seines Bistums teilhaben lassen wollte. Diese ersten Erlebnisse von einem Weltereignis, das bis dahin keiner der Konzilsväter aus persönlicher Erfahrung kannte, drückt sich denn auch in der diesen Teil abschließenden Passage im Hirtenbrief Hengsbachs aus: „All das bewegt uns und bewegt – dessen bin ich sicher – auch Euch. Ich bitte Euch, unser immer wieder in Euren Gebeten zu gedenken, damit wir das Rechte erkennen und beschließen.“ 45 ———— 42
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„... im Gegenteil pflegt und fördert sie [die Kirche; JB] das glanzvolle geistige Erbe der verschiedenen Stämme und Völker; was im Brauchtum der Völker nicht unlöslich mit Aberglauben und Irrtum verflochten ist, das wägt sie wohlwollend ab, und wenn sie kann, sucht sie es voll und ganz zu erhalten. Ja, zuweilen gewährt sie ihm Einlaß in die Liturgie selbst, sofern es grundsätzlich mit dem wahren und echten Geist der Liturgie vereinbar ist.“ II. Vatikanum, SC 37; vgl. auch SC 38 und 39. – „Die Kirche hat niemals einen Stil als ihren eigenen betrachtet, sondern hat je nach Eigenart und Lebensbedingungen der Völker und nach den Erfordernissen der verschiedenen Riten die Sonderart eines jeden Zeitalters zugelassen und so im Laufe der Jahrhunderte einen Schatz zusammengetragen, der mit aller Sorge zu hüten ist. Auch die Kunst unserer Zeit und aller Völker und Länder soll in der Freiheit der Ausübung haben, sofern sie nur den Gotteshäusern und den heiligen Riten mit der gebührenden Ehrfurcht und Ehrerbietung dient...“ II. Vatikanum, SC 123. – Zur Inkulturation der Liturgie als konziliare Leitlinie vgl. Hans Bernhard Meyer, Zur Frage der Inkulturation der Liturgie, in: ders., Zur Theologie und Spiritualität des christlichen Gottesdienstes. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Reinhard Meßner und Wolfgang G. Schöpf (Liturgia Oenipontana 1) Münster-Hamburg-London 2000, 130 -164 [Erstveröff. 1983]; Martin Klöckener, Zukunftsperspektiven: Gottesdienst als kulturelles Phänomen – eine katholische Betrachtung, in: Gottesdienst und Kultur. Zukunftsperspektiven, hg. von Hanns Kerner, Leipzig 2004, 17- 61. „In der Liturgie erschöpft sich nicht das ganze Tun der Kirche ... Andererseits treibt die Liturgie die Gläubigen an, daß sie, mit den ‚österlichen Geheimnissen‘ gesättigt, ‚in Liebe eines Herzens sind‘; sie betet, daß sie ‚im Leben festhalten, was sie im Glauben empfangen haben‘; wenn der Bund Gottes mit den Menschen in der Feier der Eucharistie neu bekräftigt wird, werden die Gläubigen von der drängenden Liebe Christi angezogen und entzündet.“ II. Vatikanum, SC 9 und 10. Vgl. Die diakonale Dimension der Liturgie. FS Klemens Richter, hg. von Benedikt Kranemann, Thomas Sternberg und Walter Zahner (Quaestiones disputatae 218) Freiburg-Basel-Wien 2006; „Ahme nach, was du vollziehst ...“ Positionsbestimmungen vom Verhältnis von Liturgie und Ethik, hg. von Martin Stuflesser und Stephan Winter (Studien zur Pastoralliturgie 22) Regensburg 2009. Als Bischof Hengsbach sein Hirtenwort unter dem Datum des 7. November 1962 unterzeichnete, waren die Diskussionen in vollem Gange, so dass die Abfassung des Hirtenbriefes ganz in diese erste große Phase der Konzilsarbeit fiel. – Zur Textgeschichte der Liturgiekonstitution vgl. den Überblick von Reiner Kaczynski, Theologischer Kommentar zur Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. 2, hg. von Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath, Freiburg-Basel-Wien 2004, 1-227, hier 44-52, bes. 48. Hirtenbrief 1962 (wie Anm. 33) 114.
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Im zweiten Jahr des Konzils hat der Essener Bischof nicht ausdrücklich in einem Hirtenwort zur Liturgiereform Stellung genommen. Zwar spricht er 1963 in seinem traditionellen Brief zum Ende des Kirchenjahres von der fortschreitenden und sich wandelnden Arbeit des Konzils, auch verweist er auf die ausführlichere Berichterstattung in der Kirchenzeitung, geht aber auf die vor dem Abschluss stehende Debatte um das erste Konzilsdokument nicht ein.46 Das ist verständlich, da vor der Schlussabstimmung über das ganze Schema und der Verabschiedung und Veröffentlichung der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium am 4. Dezember 1963 nichts in die Öffentlichkeit dringen konnte.47 Allerdings veranlasste die erste Frucht des Konzils die deutschsprachigen Bischöfe, sich am Tag der Verabschiedung des Konzilsdokuments in einem gemeinsamen Wort an den Klerus zu wenden.48 In ihrem „Pastorale“ blicken die Bischöfe dankbar auf die vielen Priester und Laien, die sich schon seit Jahren um die liturgische Erneuerung bemüht haben, möchten aber auch jene Seelsorger und Gemeinden ansprechen, die bislang eher abwartend und skeptisch den Entwicklungen gegenüber traten oder auch mit Angst den kommenden Veränderungen entgegen sahen. Ihnen wollen die Bischöfe das zentrale Anliegen der Reform verdeutlichen. Explizit verweisen sie darauf, dass es „nicht um äußere Änderungen in Formen und Rubriken, nicht um aufsehenerregende sichtbare Reformen“ oder „eine neue Seelsorgemethode“ geht.49 Mit Verweis auf die „Präambel“ der Konstitution und damit des ganzen Konzils heben sie die „innere Erneuerung der Ecclesia viva catholica“ 50 heraus. Die von den Konzilsvätern inaugurierte liturgische Erneuerung steht im Dienst der „Erneuerung und Stärkung des religiösen Lebens“.51 Als gemeinschaftliches Werk Christi und seiner Kirche bedarf die Liturgie einer Mentalitätsänderung, nämlich dass „sich die einzelnen als Glieder im heiligen Gottesvolk, als Teile eines geheimnisvollen Ganzen verstehen“ 52, eine Aufgabe, die Klerus und Volk gleichermaßen betreffe. ———— 46
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Vgl. Hirtenbrief zum Schluß des Kirchenjahres 1963, in: KAE 6 (1963) 93f. (Nr. 229). – Der Brief wurde am 5. November 1963 unterzeichnet und sollte am 24. November in allen Messfeiern der Diözese verlesen werden. Zu den letzten Arbeiten bis zur Schlussabstimmung und zur Verabschiedung vgl. Kaczynski, Kommentar SC (wie Anm. 44) 51f. Vgl. Pastorale der deutschsprachigen Bischöfe an ihren Klerus zur Konstitution „Über die heilige Liturgie“, in: KAE 6 (1963) 118-120 (Nr. 247). Ebd., 118. Ebd., 119. Ebd., 119. Ebd., 119.
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Davon ausgehend benennen die Bischöfe einige Aspekte, mit denen die Konstitution das Wesen der Liturgie und ihren Gehalt beschreibt. Besonders heben sie die vielgestaltige Gegenwart Christi in ihr hervor, betonen den dialogischen Charakter ebenso wie die gemeinschaftliche Feier der Kirche, die die innere Teilnahme und den äußeren Mitvollzug der Gläubigen voraussetzt.53 Abschließend bitten sie den Klerus um Mitarbeit bei der anstehenden Rezeption der Reform, mahnen aber auch, angesichts der vielfach noch ausstehenden konkreten Bestimmungen, „Zucht in liturgischen Dingen zu üben“ 54 und nicht auf eigene Faust zu handeln. Somit sollte das Schreiben administrative mit inhaltlichen Anliegen verbinden. Die Bischöfe suchten alle Seelsorger in ihrer je unterschiedlichen Stellung zur Liturgiereform anzusprechen, um sie für die Mitarbeit an diesem nun anstehenden Erneuerungsprozess zu gewinnen. Um diesen zu steuern und nach Maßgabe des gemeinsamen Vorgehens und des liturgischen Rechts zu gestalten, sollte zugleich eigenmächtiges Handeln der Priester unterbunden werden. Gerade weil die Konstitution neben allgemeinen Reformaufträgen auch ganz konkrete Reformen vorsah, war die Gefahr groß, dass sich nach Bekanntwerden des Konzilsdokuments einzelne Priester befugt sahen, die auf dem Papier stehenden Neuerungen sogleich umzusetzen. Darüber hinaus bot es sich an, das theologische Fundament der Reform in einigen zentralen Aspekten zu erläutern, um die verständliche, aber unsachgemäße Konzentration auf die materialen Reformen auszuweiten und das wesentliche Anliegen des Konzils, die Erneuerung und Förderung des christlichen Lebens der Gläubigen, in den Mittelpunkt zu stellen. Gewissermaßen ergänzend zum „Pastorale“ an den Klerus richteten die deutschen Bischöfe dann im Frühjahr 1964 einen Hirtenbrief an die Gläubigen anlässlich der Veröffentlichung der Liturgiekonstitution.55 Darin beruhigen die Bischöfe jene, die befürchten, das „Stück unveränderlicher Ewigkeit“ 56 im Gottesdienst würde durch die Reform angegriffen, vielmehr beziehe sich die Erneuerung nur auf jene Teile der Liturgie, die dem Wandel der Zeit unterworfen sind. Zugleich betonen sie, das liturgische Reformwerk ziele auf die Vertiefung des christlichen Lebens der Gläubigen, fördere die Einheit der Christen und solle der ganzen Welt das in der Kirche Christi aufgerichtete Zeichen der rettenden Nähe Gottes näher bringen. ———— 53 54 55
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Vgl. ebd., 119. Ebd., 120. Vgl. Hirtenbrief der deutschen Bischöfe zur Veröffentlichung der Konstitution des II. Vatikanischen Ökumenischen Konzils „Über die heilige Liturgie“, in: KAE 7 (1964) 32-34 (Nr. 52). Ebd., 32.
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Ausführlich legen die Bischöfe in einem eigenen Abschnitt den Grundgedanken dar, der Liturgiereform gehe es um die Erneuerung des Glaubens aller Getauften, denn sie sollten künftig in der Liturgie deutlicher „die Begegnung mit dem lebendigen Herrn“ 57 erfahren. Ein weiterer Abschnitt des Briefes erläutert die Gegenwartsweisen Christi im Gottesdienst nach SC 7. Hervorgehoben wird die Gegenwart des Herrn in der Lesung der Heiligen Schrift, die folglich ausführlicher und in der Muttersprache vorgetragen werden solle. Auch fehlt nicht der Hinweis auf eigenständige Wortgottesdienste und die Einheit von Wortgottesdienst und Eucharistiefeier in der Messe, die der verbreiteten Geringschätzung der „Vormesse“ entgegengestellt wird. Im Blick auf den Messritus bereiten die Bischöfe die Gläubigen auf einfachere und durchschaubarere Riten vor, deren Ziel es sei, „die Gegenwart des Herrn im Opfer und Mahl deutlicher erkennen zu lassen.“ 58 Schließlich machen sie deutlich, dass die Revision der Messordnung dazu beitrage, dass die Gläubigen die heilige Handlung bewusst, fromm und tätig mitfeiern können. Im letzten Absatz des Briefes erinnern die Bischöfe mit den Bildern von der Familie und dem heiligen Volk Gottes an die innere Einheit und Gemeinschaft der Getauften mit Gott und untereinander. In zeittypischer Diktion stellen sie fest: „Alle liturgische Reform wäre ja ein nutzloser Leerlauf, wenn sie uns nicht zu einer Brüderlichkeit führte, in welcher der eine die Last des anderen wirklich trägt.“ 59 Überblickt man diesen Hirtenbrief, dann sind im Wesentlichen zwei Motive erkennbar. Dem pastoralen Anliegen sind die Passagen gewidmet, die für die Notwendigkeit der Liturgiereform werben, auf künftige Veränderungen vorbereiten und die die Wechselwirkung zwischen Liturgie und kirchlicher Gemeinschaft betonen. Eher katechetische Anliegen finden sich dort, wo die Bischöfe auf zentrale Inhalte der Liturgiekonstitution eingehen. Getragen ist der Brief, hierin dem „Pastorale“ an den Klerus ähnlich, aber von dem Gedanken, vor und hinter aller materialen Veränderungen das größere pastorale Ziel der Liturgiereform, die Erneuerung des christlichen Leben der Gläubigen, deutlich zu machen. Der Essener Bischof hat dann im Jahr 1964 noch einmal persönlich in seinem Hirtenbrief zum Schluss des Kirchenjahres in Rückblick und Vorausschau die Liturgiereform thematisiert und die ersten Reaktionen und Entwicklungen im Bistum kommentiert: „Ich weiß, daß diese liturgische Erneuerung manche Unruhe in unsere Gemeinden bringen wird, ja hier und da schon gebracht hat. Ich weiß auch, daß Unsicherheit, Ungeduld oder ———— 57 58 59
Ebd., 33. Ebd., 33. Ebd., 34.
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vielleicht auch Ängstlichkeit schon jetzt zu unterschiedlicher Anwendung der neuen Richtlinien geführt hat. Ich kann Euch versprechen, daß alles in unseren Kräften liegende getan wird, um Euch allen – Priestern und Laien – zu helfen, unseren Gottesdienst so zu gestalten, wie es dem großen Erneuerungswillen des Konzils entspricht, wie es der Verlebendigung unserer Gemeinden dient, wie es die einheitliche Ordnung in Gemeinden und Bistümern erfordert.“ 60 Aus diesen Zeilen spricht die Sorge, die Liturgiereform könne, nicht zuletzt wegen eigenmächtiger Auslegung der Dokumente, zu Polarisierungen, gar zu Streit und Zerwürfnis in den Pfarreien oder zwischen Priestern und Gruppen der Gemeinden führen. Gleichwohl steht der Ruhrbischof hinter dem Erneuerungswillen des Konzils zur Verlebendigung des Glaubens, betont aber gegen jedes eigenmächtige Vorgehen die einheitliche Ordnung der Liturgie. Diese wie ähnliche Worte dieses Hirtenbriefs lassen ein wenig die kirchliche Situation in diesen Monaten und Jahren erahnen. Sie war geprägt von einem eigenartigen Spannungsverhältnis. Die konziliaren Entscheidungen wurden, gelegentlich mit manchen inhaltlichen Einseitigkeiten, rasch in der (kirchlichen) Öffentlichkeit kommuniziert. Priester und Gläubige sahen sich angesichts des Reformstaus dann oftmals berechtigt, den Inhalt der Konzilsdokumente schon auf eigene Faust umzusetzen. Schnelle Entscheidungen konnte es schon aufgrund der verschiedenen Handlungsebenen (römische Stellen, Bischofskonferenz, Bischof) kaum geben, weshalb in „vorauseilendem Gehorsam“ Fakten geschaffen wurden, die oft nur konfliktreich wieder zurück geholt werden konnten. Zugleich waren nicht wenige Gläubige von den rasanten Veränderungen verunsichert und hatten Angst, im allgemeinen gesellschaftlich-politischen Wandel nun auch „ihre“ Kirche nicht mehr wiederzuerkennen. Diese auch im Bistum Essen anzutreffende Gemengenlage dürfte die Passage im Hirtenbrief Hengsbachs wesentlich motiviert haben. Im Abschlussjahr des Konzils 1965 äußerte sich Bischof Hengsbach zur Liturgiereform, die in diesem Jahr die ersten einschneidenden Veränderungen in der Messordnung brachte, sowohl in seinem Fastenhirtenbrief als auch in seinem schon traditionellen Brief zum Abschluss des Kirchenjahres. Zwar steht im Fastenhirtenbrief die dogmatische Konstitution über die Kirche im Mittelpunkt seiner Darlegungen.61 Da der Brief aber nur drei Wochen vor dem 1. Fastensonntag, an dem der erste Schritt der Messre———— 60
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Hirtenbrief zum Schluß des Kirchenjahres 1964 (22. November), in: KAE 7 (1964) 113f. (Nr. 218), hier 113. Vgl. Fastenhirtenbrief, in: KAE 8 (1965) 17-19 (Nr. 34).
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form in Kraft trat, zu verlesen war 62, geht der Ruhrbischof auch auf die Liturgiereform ein. Er unterstreicht einmal mehr die hinter den Veränderungen stehenden Ziele der Reform: „Was das Konzil geändert hat, kommt nicht aus einer unguten Neuerungssucht, sondern aus dem Willen, die heiligen Worte und Riten allen verständlich zu machen und allen eine lebendigere Mitfeier zu ermöglichen ... Nicht Änderung um der Änderung willen ist der Sinn der Liturgie-Reform, sondern Verdeutlichung dessen, worauf es ankommt.“ 63 In der Sache betont Hengsbach die participatio actuosa der Gläubigen am Gottesdienst als Leitlinie der Neuordnung, um sie zugleich in doppelter Hinsicht in Schutz zu nehmen, einmal gegen jene, die auch in der Kirche die zeittypische Reformsucht am Werke sahen, zum anderen gegen jene, die allein auf die konkreten Veränderungen starrten, aber den eigentlichen liturgietheologischen und -pastoralen Impuls aus dem Blick zu verlieren drohte. Auf diesem Hintergrund sieht der Ruhrbischof zu Recht die drängende Notwendigkeit, die Liturgiereform als ein zentrales Werk der Kirchenreform angemessen zu vermitteln: „Es wird eine wichtige Aufgabe unserer Seelsorger sein, die erneuerte Liturgie allen Gemeinden richtig zu erschließen und so zu einem Kernstück unserer gesamtkirchlichen Erneuerung zu machen. Euer bereites Mitdenken und Mittun, liebe Brüder und Schwestern, ist dabei vor allem nötig.“ 64 Als Bischof Hengsbach sich dann zum Abschluss des Kirchenjahres an seine Diözese wandte 65, lagen seit rund acht Monaten Erfahrungen mit der erneuerten Messordnung vor, auf die er in einem Abschnitt seines Hirtenwortes einging. Wie schon mehrfach gesehen, vermittelt Hengsbach erneut die verschiedenen Haltungen zu den Veränderungen im Gottesdienst. So äußert er Verständnis für diejenigen, die sich mit den neuen Formen schwer tun und bestärkt in allem Wandel die haltende Kraft guter Tradition, zugleich aber er fordert auch den Willen, sich aufgeschlossen um die neuen ———— 62
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Als Termin war der Sonntag Septuagesima vorgesehen, damals der 14. Februar 1965. Die dann am 7. März 1965 erfolgte Neuordnung der Messliturgie bildete einen markanten Einschnitt und wurde auch von vielen Pfarreien im Bistum Essen als „die Liturgiereform“ wahrgenommen. Zur Rezeption im Bistum Essen vgl. Jürgen Bärsch, Das Bistum Essen und das Zweite Vatikanische Konzil (wie Anm. 31) 117-121; ausführlichere Hinweise zur Wahrnehmung der Liturgiereform in Pfarreien des Bistums Essen bei Jürgen Bärsch, Liturgiereform in Pfarreien des Bistums Essen. Eine exemplarische Durchsicht im Spiegel von Fest- und Jubiläumsschriften, in: Liturgiereform vor Ort (wie Anm. 6) 233- 280, hier v.a. 252 - 259; Verena Schmidt, Das Bistum Essen und das Zweite Vatikanische Konzil. Eine Untersuchung zum Rezeptionsprozess in den Pfarreien (Quellen und Studien IKF 13) Münster 2011. Fastenhirtenbrief 1965 (wie Anm. 61) 18. Ebd., 18. Vgl. Hirtenbrief zum Schluss des Kirchenjahres 1965, in: KAE 8 (1965) 210f. (Nr. 224).
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Form zu bemühen und die Bedeutung der Reform für die Verlebendigung der Gemeinden anzuerkennen. Seinen Appell verbindet er schließlich mit einem ersten, allgemein positiven Resümee für das Ruhrbistum: „Aufs Ganze gesehen, meine ich, daß unsere Gemeinden die Erneuerung der Liturgie mit guter Bereitschaft aufgenommen haben, Der eine oder andere mag vielleicht empfinden, die Feier der heiligen Messe sei weniger diskret als früher. Alle aber werden gewiß bestätigen, daß die erneuerte liturgische Feier die ganze Gemeinde lebendiger beteiligt, bis hin zum Empfang der heiligen Eucharistie, vorausgesetzt natürlich, daß sie mit Sorgfalt vorbereitet und mit Liebe und Ehrfurcht begangen wird. Es kann eigentlich jetzt niemand mehr unbeteiligt dabei sein.“ 66 Ähnlich früheren Äußerungen sieht Hengsbach auch diese erste Bilanz vor allem unter dem Aspekt der tätigen Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie.
3. Die Zeit der unmittelbaren Konzilsrezeption – die Jahre 1966 bis 1970 Die ersten Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bis 1970 können als eine Phase der unmittelbaren Rezeption betrachtet werden. In verschiedener Hinsicht setzte mit der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland 1971 bis 1975 eine neue Etappe ein, die der Umsetzung des Konzils in die speziellen Gegebenheiten der deutschen Ortskirchen dienen sollte 67, deren Wurzeln freilich in den gesellschaftlichen und kirchlichen Ereignissen wie dem Essener Katholikentag 1968 lagen.68 Überblickt man für diese Zeit die Hirtenbriefe des Bischofs von Essen lässt sich bereits ein gewisser Wandel im Tenor seiner Ausführungen erkennen. Die einst weithin positiv gestimmten und vom Aufbruch in Bistum und Konzil getragenen Hirtenworte weichen allmählich einem eher ernüchternden Blick, aus dem heraus der Bischof seine Sorge um die nachkonziliaren Entwicklungen und die gesellschaftliche Akzeptanz der Kirche formuliert. ———— 66 67
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Ebd., 210f. Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Offizielle Gesamtausgabe I: Beschlüsse der Vollversammlung, Freiburg u.a. 1976; Offizielle Gesamtausgabe II: Ergänzungsband. Arbeitspapiere der Sachkommissionen, Freiburg u.a. 1977. Vgl. dazu Manfred Plate, Das deutsche Konzil. Die Würzburger Synode. Bericht und Deutung, Freiburg u.a. 1975; Alfons Fischer, Pastoral in Deutschland nach 1945. 3. Kirche und Seelsorge in der Ära des Konzils und der Kulturrevolution, Würzburg 1990, 67- 81. Vgl. Damberg / Meier, Bistum Essen (wie Anm. 31) 213-240; Bärsch, Das Bistum Essen und das Zweite Vatikanische Konzil (wie Anm. 31) 91-113.
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In seinem Fastenhirtenbrief 1966 ist es ihm noch ein Anliegen, für das „Wachsen einer brüderlichen Gemeinschaft und Gemeinde“ zu werben 69, in der die Gläubigen, die zusammen an der Kommunionbank knieten, auch außerhalb „am Wohl und Wehe ihrer Glaubensbrüder Anteil“ nähmen, so dass „keiner [...] ganz verlassen sein“ könne.70 Aber schon ein Jahr später schreibt er in seinem nun an alle katholischen Haushalte im Bistum Essen verteilten Brief zum letzten Sonntag des Kirchenjahres 1967 über das Konzil: „Auch Sie haben gewiß empfunden, ein wie unerwartetes einzigartiges Ereignis, welch gnadenhafter Anstoß zur Erneuerung der Kirche und auch welche Beunruhigung für die Welt es geworden ist. Aber ist es nicht auch Ursache oder doch Veranlassung für mancherlei Unruhe und Unsicherheit in der Kirche geworden?“ 71 Von dieser Frage ausgehend entwickelt er seine Gedanken zur Glaubenskrise und – noch ausführlicher – zur Autoritätskrise, „durch die das Hirtenamt, ja selbst das Lehramt der Kirche in Frage gestellt wird.“ 72 Liest man diese Passagen, erwecken sie den Eindruck, Bischof Hengsbach sei erschrocken, wie die an sich gute und von ihm ausdrücklich betriebene konziliare Erneuerung auch in seinem Bistum eine Dynamik entwickelte, die nun mehr zentrale Wahrheiten in Struktur und Lehre der Kirche auf den Kopf zu stellen und aufzulösen drohte. Insofern lässt sich ein Zug zu einer deutlich kritischeren, bald auch pessimistischeren Sicht des Ruhrbischofs erkennen.73 Dies wird auch im Blick auf den nachkonziliaren Gottesdienst deutlich. In seinem Brief zum Ende des Kirchenjahres 1968 beklagt der Bischof den „Rückgang des sonntäglichen – und erst recht des werktäglichen – Gottesdienstbesuchs [...], obwohl – zumal nach der Einführung der Vorabendmessen in vielen Gemeinden – kaum jemand die Erfüllung der Sonntagspflicht unmöglich sein dürfte.“ 74 Mit diesem Rückgang in der Teilnahme an der ———— 69
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Fastenhirtenbrief 1966 des Bischofs von Essen: Christus im Nächsten, in: KAE 9 (1966) 15-17 (Nr. 28), hier 16. Ebd., 16. Brief an alle Katholiken im Bistum Essen zum letzten Sonntag im Kirchenjahr, dem 26. November 1967, in: KAE 10 (1967) 205- 208 (Nr. 196), hier 206. – Bereits 1966 hatte der Essener Bischof seinen traditionelles Hirtenwort zum Ende des Kirchenjahres ausdrücklich als einen Brief verfasst, der an alle Katholiken im Bistum Essen verteilt wurde, „in der Hoffnung, alle zu erreichen, die zu unserem Bistum gehören“ und in der „Bistumsgemeinde“ das Wissen umeinander und das Gespräch miteinander zu fördern. Brief an alle Katholiken im Bistum Essen zum letzten Sonntag im Kirchenjahr, dem 20. November 1966, in: KAE 9 (1966) 163f. (Nr. 198), hier 163. Brief an alle Katholiken 1967 (wie Anm. 71) 206. Vgl. Damberg / Meier, Bistum Essen (wie Anm. 31) 231. Brief an alle Katholiken im Bistum Essen zum letzten Sonntag im Kirchenjahr, dem 24. November 1968, in: KAE 11 (1968) 175-177 (Nr. 248), hier 175. – Noch deutlicher wird Bischof Hengsbach 1970: „Es gibt verschiedene Anzeichen, dass manche Tendenzen religiöser Gleichgültigkeit auch in
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Messe konstatiert er im Fastenhirtenbrief 1970 auch eine Abnahme des Gebets: „Wenn man bedenkt, daß für viele Christen die Meßfeier die einzige Form der Teilnahme am Beten der Kirche ist, muß man also befürchten, daß auch die Zahl der Betenden abnimmt.“ 75 In diesem Zusammenhang kritisiert er Abarten des Betens durch „politisierende Einschläge“ und eine vermeintliche Lebensnähe im Gebet, die man durch „jenes soziologisierende und politisierende Kauderwelsch, das öfters dem Beten eingemischt wird“, zu erreichen sucht.76 In die gleiche Richtung zielt schließlich seine Sorge, es gebe in der Kirche Strömungen, „die das Reden von und mit Gott, etwa in Gebet und Gottesdienst, für weniger wichtig oder sogar überflüssig halten, weil dadurch der vollen Entfaltung des Menschen im Engagement an der Welt Abbruch getan würde. Gottesdienst gerät in Konkurrenz zum Weltdienst des Christen.“ 77 In und hinter diesen Äußerungen des Essener Bischofs standen offenbar nicht nur die von ihm beklagten äußeren Entwicklungen, sondern letztlich eine gewisse Enttäuschung, dass mit dem Konzil auch die Liturgiereform nicht zu einer erkennbaren Verlebendigung der Kirche in Deutschland und in seinem Bistum geführt habe.78 Obwohl nach dem 1. Fastensonntag 1965 sukzessive die Entwicklungen in der nachkonziliare Reform des Gottesdienstes voranschritten und sich auch in der Ortskirche von Essen niederschlugen 79, traten in diesen Jahren umfangreichere Äußerungen zu einzelnen Reformschritten in den Hirtenbriefen Bischof Hengsbachs naturgemäß zurück, denn weitere Aufgaben in der Neuordnung der kirchlichen Struktur und in der Seelsorge standen an.80 Das heißt freilich nicht, dass der Ruhrbischof in seiner Verkündigungsauf————
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unserem Bistum wirksam werden. Da ist vielerorts unverkennbar ein Rückgang des Gottesdienstbesuches und der Sakramentenempfangs festzustellen.“ Brief an alle Katholiken im Bistum Essen zum letzten Sonntag im Kirchenjahr, dem 22. November 1970, in: KAE 13 (1970) 173-176 (Nr. 188), hier 174. Fastenhirtenbrief 1970 des Bischofs von Essen, in: KAE 13 (1970) 38- 40 (Nr. 19), hier 39. Ebd., 39. Brief an alle Katholiken 1970 (wie Anm. 74) 173. Explizit sprach Bischof Hengsbach im Jahre 1972 die „enttäuschende Entwicklung nach dem II. Vatikanischen Konzil, das sich ja nachdrücklich um eine Erneuerung des Gottesdienstes bemüht hat“, an. Brief an alle Katholiken zum letzten Sonntag im Kirchenjahr, dem 26. November 1972, in: KAE 15 (1972) 123-125 (Nr. 163), hier 163. Eine Übersicht über die einzelnen Maßnahmen in diesen Jahren findet sich bei Bärsch, Das Bistum Essen und das Zweite Vatikanische Konzil (wie Anm. 31) 121-129. Hier ist etwa an den Ausbau der Räte auf den Ebenen Diözese, Stadt-/Kreisdekanat und Pfarrei zu denken oder an die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit der Neuordnung des Schulsystems in NRW. Vgl. Bärsch, Das Bistum Essen und das Zweite Vatikanische Konzil (wie Anm. 31) 91-102.
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gabe via Hirtenbrief diesen Bereich des kirchlichen Lebens nicht mehr thematisiert hätte. So wandte sich Bischof Hengsbach gemeinsam mit den übrigen deutschen Bischöfen zur Fastenzeit 1967 an die Gläubigen, um ihnen die bleibende Bedeutung der christlichen Umkehr und Buße nahe zu bringen.81 Besonders die Notwendigkeit des Bußsakramentes in schwerer Schuld wie in der regelmäßigen Beichte wird hervorgehoben. Zugleich möchten die Bischöfe die „öffentliche Bußandacht“ gefördert sehen, also gemeindliche Bußgottesdienste, die zur Gewissenbildung beitragen und die ekklesiale Dimension von Buße und Vergebung erfahrbar machen als „eine gute Vorbereitung für den Empfang des Bußsakramentes, ohne es zu ersetzen.“ 82 Im Jahr 1969 wies Hengsbach in seinem Brief zum Ende des Kirchenjahres vorausblickend auf die liturgischen Neuerungen der Messliturgie hin, die zum 1. Adventssonntag 1969 in Kraft traten und erinnerte an die Intention der Änderungen, dass die Gläubigen leichter und unmittelbarer in das Opfer Christi eingehen können: „Und das ist eine Sache unserer Gesinnung. Sie ist nicht getan mit rituellen Änderungen.“ 83 Einen weiteren Punkt erwähnt der Bischof in diesem Brief, indem er ankündigte, dass möglicherweise zu Ostern 1970 das vorläufige „Essener Gesangbuch“ vorliegen werde. Die junge Ortskirche wollte 1958 verständlicherweise das Erscheinen der schon in Angriff genommenen Erarbeitung des deutschen Einheitsgesangbuches abwarten und sich bis dahin mit dem Gebrauch der Diözesangesangbücher der Essener Mutterbistümer Köln, Münster und Paderborn begnügen. Allerdings verzögerte sich durch die nachkonziliare Liturgiereform die Publikation des für alle deutschen Diözesen geltenden Buches, so dass man sich in Essen entschloss, eine einfache Interims-Ausgabe zu schaffen, denn, so der Bischof, „die angesichts der starken Binnenwanderung in unserem Bistum immer wieder notwendig werdende Anschaffung eines anderen Gesangbuches ist nicht mehr länger zu vertreten.“ 84 Zudem sollte die Zwischenlösung auch zum weiteren Zusammenwachsen des Ruhrbistums beitragen. Tatsächlich erschien das „Gesangbuch für das Bistum Essen“ erst im Herbst 1970, so dass Bischof Hengsbach in seinem Brief zum Ende des Kirchenjahres 1970 noch einmal kurz darauf ———— 81
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Vgl. Hirtenschreiben der deutschen Bischöfe zur Fastenzeit 1967. I. Teil: Christliche Buße, in: KAE 10 (1967) 41- 43 (Nr. 2). Ebd., 42. – Ausführlicher zum Horizont des Schreibens vgl. Bärsch, Das Bistum Essen und das Zweite Vatikanische Konzil (wie Anm. 31) 94f. Brief an alle Katholiken im Bistum Essen zum letzten Sonntag des Kirchenjahres, dem 23. November 1969, in: KAE 12 (1969) 160-163 (Nr. 213), hier 163. Ebd., 163.
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einging, wobei er erneut den länger dauernden Behelf mit den vorkonziliaren Gesangbüchern der Mutterbistümer als nicht mehr hinnehmbar und das Zusammenwachsen des Bistums zu sehr beeinträchtigt sah.85 Schließlich ist der bereits erwähnte Fastenhirtenbrief von 1970 über das christliche Beten besonders beachtenswert. Denn neben den Passagen, in denen Bischof Hengsbach die gegenwärtigen Schwierigkeiten des Gebets benannte, gab er auch Hinweise für eine Erneuerung des Betens. Und dafür griff er auf die Grundsätze zur Erneuerung der Liturgie zurück.86 Wie die Liturgiereform wertvolles Traditionsgut erhalten oder wiederherstellen wollte 87, so sollte auch der reiche Gebetsschatz der Kirche nicht verloren gehen. Das Prinzip der vorrangig gemeinschaftlichen Feier der Liturgie 88 deutete er auf die Verantwortung aller im Gebet, gerade auch hinsichtlich des Vorbilds von Eltern und Priestern für die Gebetserfahrungen der Kinder und Jugendlichen. Den Grundsatz, die Texte und Riten der Liturgie sollten den „Glanz edler Einfachheit an sich tragen“ 89, gelte auch für das Gebet als „wahrhaftes Sprechen mit dem lebendigen Gott.“ Und die Forderung, es müsse in der Liturgie Zeiten der Stille geben 90, beträfe schließlich einen Wesenszug des christlichen Betens. Abschließend stellte Hengsbach fest: „Immer schon bestand eine Wechselwirkung zwischen dem liturgischen Beten der Kirche und den übrigen Formen des Betens, dem privaten Gebet und den Gebeten der Volksfrömmigkeit. Die Kirche hat keines von ihnen monopolisiert, und so konnten sie sich gegenseitig befruchten. Wir müssen sorgen, daß das auch in Zukunft der Fall sein wird.“ 91 Der Fastenhirtenbrief zeigt, dass der Ruhrbischof nicht nur die enge Symbiose zwischen Gebet und Liturgie darlegte, sondern auch ausgehend von zentralen Prinzipien der Liturgiereform Anstöße für die Erneuerung des persönlichen Betens formulierte. ———— 85
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Vgl. Brief an alle Katholiken 1970 (wie Anm. 74) 174f. – In seinem Geleitwort erinnerte Bischof Hengsbach noch einmal an die Unterbrechung der 1959 begonnenen Arbeit an einem eigenen Diözesangesangbuch durch die erwarteten liturgischen Veränderungen. 1968 begann die Vorbereitung des „Interimsgesangbuches“, das ein zukünftiges Einheitsgesangbuch nicht überflüssig machen, sondern einen Schritt in diese Richtung darstellen sollte. So nahm es neben den Grundgebeten und zumeist Konzilsdokumenten entnommenen Texten und Hinweisen zu den Sakramentenfeiern die Messordnung von 1969 auf und bot neben den alten, aus den Mutterbistümern bekannten Liedern eine Anzahl neuer Lieder und Gesänge: „In manchen Gemeinden sind sie bereits beliebt, andere Gemeinden werden es jetzt leichter haben, sie einzuführen.“ Gesangbuch für das Bistum Essen, hg. vom Bischöflichen Generalvikariat Essen, Bochum 1970, 6. Vgl. Fastenhirtenbrief 1970 (wie Anm. 75) 39. Vgl. II. Vatikanum, SC 21; 23; 50 u.ö. Vgl. II. Vatikanum, SC 26; 27 u.ö. II. Vatikanum, SC 34; vgl. auch 50 u.ö. Vgl. II. Vatikanum, SC 30. Fastenhirtenbrief 1970 (wie Anm. 75) 39f.
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4. Das erste Jahrzehnt nach dem Konzil – die Jahre 1971 bis 1980 In den 1970er Jahren erschien der größte Teil der auf Grund der Liturgiekonstitution erneuerten deutschsprachigen Liturgiebücher, allen voran das deutsche Messbuch und das Einheitsgebet- und -gesangbuch „Gotteslob“. Während dem Anlass entsprechend die deutschen Bischöfe zur Einführung des neuen Messbuchs eine Erklärung mit auf den Weg gaben 92, äußerten sie sich zum „Gotteslob“, das die Gläubigen ja direkt betraf, aber auffälligerweise nicht. Es war wohl die besondere Sorge um das Bußsakrament, das die Bischöfe hingegen veranlasst hat, zum Erscheinen der Studienausgabe „Die Feier der Buße“ einen Hirtenbrief zu verfassen, in dem sie die Formen für den Vollzug der Buße vorstellten, die Rolle der Bußgottesdienste als nichtsakramentale Feiern in der Gemeinde betonten, vor allem aber die bleibende Bedeutung der Einzelbeichte in den Mittelpunkt rückten.93 Wie wichtig den Bischöfen dieser Bereich der Sakramentenliturgie war, zeigt das zwei Jahre später erschienene umfangreiche Hirtenwort an die Priester. Darin zogen sie eine erste „Zwischenbilanz“, betrachteten kritisch die neuen Entwicklungen der Bußpraxis, hoben die Dimension der Buße als liturgische Feier hervor und entwickelten entlang der erneuerten Absolutionsform eine theologische Besinnung als Hilfe für die Bußpraxis der Priester als Pönitenten und als Beichtväter.94 Auch der Essener Bischof hat in diesen Jahren verschiedentlich Umkehr, Versöhnung und Buße in seinen Hirtenbriefen thematisiert, etwa im Fastenhirtenbrief 1974, wo er von der Erneuerung des christlichen Lebens durch die Buße sprach 95, und im Fastenhirtenbrief 1978, in dem er den Anspruch der Zehn Gebote für das religiöse und gesellschaft———— 92
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Das Schreiben war an keinen speziellen Adressanten gerichtet und sollte auch nicht als Hirtenwort in den Gottesdiensten vorgetragen werden. Inhaltlich blickt es zurück auf die Entwicklung, wies auf das Studium der „Allgemeinen Einführung in das Römische Meßbuch“ und auf die Rubriken der „Feier der Gemeindemesse“ hin, erinnert daran, die Liturgie nach der Ordnung der Kirche zu feiern und wirbt für die Aufgabe, „auf der Grundlage der theologischen und spirituellen Aussagen dieses Buches, seiner Gebete und seiner Anweisungen für eine vertiefte Feier des eucharistischen Opfers eine erneuerte eucharistische Frömmigkeit in unseren Gemeinden zu wecken.“ Erklärung der deutschen Bischöfe zur Einführung des neuen deutschen Meßbuches, in: KAE 18 (1975) 205 - 208 (Nr. 140), hier 207. Vgl. Hirtenwort der deutschen Bischöfe zur Einführung der neuen Bußordnung, in: KAE 18 (1975) 27- 29 (Nr. 25). – Im Bistum Essen war es den Priestern freigestellt, dieses Hirtenwort entweder am 1. Fastensonntag 1975 zu verlesen oder an einem anderen Sonntag der Fastenzeit in geeigneter Weise zum Thema der Predigt zu machen. Vgl. Wort der deutschen Bischöfe an die Priester. Der Priester im Dienst der Versöhnung, in: KAE 21 (1978) 9 -17 (Nr. 9). Vgl. Fastenhirtenbrief 1974 des Bischofs von Essen, in: KAE 17 (1974) 15 - 17 (Nr. 20).
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liche Leben deutlich markierte. Gerade im letztgenannten Hirtenwort tritt die Wahrnehmung des Bischofs als Folie für die eminenten Bemühungen in der Moralverkündigung deutlich hervor: „Der moralische Niedergang der letzten Jahre ist unverkennbar. Das sittliche Verhalten wird inzwischen bei vielen Menschen mehr und mehr bestimmt von der so genannten Kraft des Faktischen [...] Danach ist gut und erlaubt, was gefällt und Erfolg verspricht. Im selben Maße, wie die Gebote Gottes vergessen wurden, ist der Appetit auf das Böse gewachsen.“ 96 Zwar finden sich im Blick auf die konkreten Schritte der liturgischen Erneuerung in den Hirtenbriefen des Ruhrbischofs in diesen Jahren gelegentlich Hinweise. So erinnerte er an das 1972 erstmals erschienene Liederheft „Halleluja“, das Gesänge für den Kindergottesdienst bereit stellte 97 oder an die erneuerte Taufliturgie, „die jetzt mehr als früher die Erstverantwortung der Eltern für die religiöse Erziehung ihrer Kinder“ herausstellt und mittels des Taufgesprächs hilft, den Taufglauben zu vertiefen und das Leben in der Gemeinschaft der Kirche zu festigen.98 Aber stärker konzentrieren sich thematischer Zuschnitt und stilistische Ausführung auf die Grundlagen des Glaubens und der christlichen Lebenspraxis, die apologetisch-erklärend dargelegt werden. Dies gilt auch hinsichtlich des Gottesdienstes. So beklagt Bischof Hengsbach 1972: „Wir sind besorgt, daß viele katholische Christen ihrer Sonntagspflicht überhaupt nicht mehr nachkommen, [...] vor allem darüber, daß das Bewußtsein von der Sonntagspflicht bei manchen zu schwinden scheint.“ 99 Diese Diagnose nimmt er zum Anlass, um in vier Punkten die Bedeutung des Sonntagsgebots argumentativ zu erschließen.100 Ähnlich sind auch die Hirtenbriefe über das Gebet, die Eucharistie, die Gesundung der Familie oder das Leben aus dem Heiligen Geist verfasst.101 ———— 96 97
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Fastenhirtenbrief des Bischofs von Essen 1978, in: KAE 21 (1978) 18 - 20 (Nr. 12), hier 18. Vgl. Brief an alle Katholiken 1972 (wie Anm. 78) 124. – Das Buch war bewusst als Ergänzung zum Gesangbuch für das Bistum Essen gedacht. 1976 erschien eine zweite Auflage, die nun für Kinder und Jugendliche konzipiert war. Weitere Neubearbeitungen erfuhr das Buch 1983, 1995 und 2010. Vgl. dazu Bärsch/ Haunerland, Liturgiereform und Ortskirche (wie Anm. 5) 222. Brief an alle Katholiken 1972 (wie Anm. 78) 124. Ebd., 123. Genannt werden im Einzelnen die Verherrlichung Gottes vor aller Bedürfnisbefriedigung, der Herrenauftrag, die apostolische Tradition des sonntäglichen Herrenmahles, die Gemeinschaft mit Jesus Christus und seiner Kirche. Vgl. ebd., 124. Vgl. Hirtenwort des Bischofs von Essen zum Heiligen Jahr 1975: „Betet ohne Unterlass! (1 Thess 5,17), in: KAE 17 (1974) 141-143 (Nr. 139); Fastenhirtenbrief des Bischofs von Essen für das Jahr 1975: Über die heilige Eucharistie – Wovon wir leben, in: KAE 18 (1975) 11-13 (Nr. 11); Fastenhirtenbrief des Bischofs von Essen für das Jahr 1979: Um die Gesundung der Familie, in: KAE 22 (1979) 17- 21 (Nr. 23); Fastenhirtenbrief des Bischofs von Essen Dr. Franz Hengsbach für das Jahr 1980: Leben aus dem Heiligen Geist, in: KAE 23 (1980) 39- 42 (Nr. 23).
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Besondere Aufmerksamkeit darf in unserem Zusammenhang aber der Fastenhirtenbrief des Jahres 1977 beanspruchen, den Bischof Hengsbach unter das Leitwort „Jeden Sonntag Ostern feiern“ gestellt hat und in dem er die sonntägliche Versammlung der Gemeinde zur Eucharistie thematisierte.102 Hier erinnerte er daran, dass nicht irgendein Thema, sondern die Feier des Pascha-Mysteriums Jesu Christi die Mitte jeder Messe ist. Diese Feier müsse auch festlich begangen und in den äußeren Formen, in Gewändern und Farben, Musik und Gesang, dem Raum und der Haltung sichtbar werden, was „manchem sogar aus ideologisch verengter Sicht verdächtig geworden“ sei.103 Er schließt eine Reihe von Fragen an, die er für die Gestaltung der Sonntagsmesse zu bedenken gibt: „Geschieht in unserer Gemeinde alles Nötige zu einer gründlichen Vorbereitung der sonntäglichen Eucharistiefeier? Sind die verschiedenen Dienste, Wort und Lied, so gewählt, daß die ganze Gemeinde zum lebendigen Mitvollzug ermutigt wird? [...] Ist in unserem Sonntagsgottesdienst Raum für Stille und Betrachtung? Nehmen sich alle, Priester und Gemeinde, Zeit für die Feier des heiligen Opfers oder verhindern Hektik und Betriebsamkeit die nötige Sammlung?“ 104 Denn, so der Bischof, „wo Liturgie mit dem Herzen gefeiert wird, mit vorbehaltloser Bereitschaft des Priesters und der Gemeinde, sich dem Anspruch dieser Feier zu stellen, da wird Gottesdienst zur Feier des Glaubens und zu ansteckendem Zeugnis.“ 105 Abschließend geht er noch einmal auf das Sonntagsgebot ein, das er nicht als äußere Verpflichtung sehen möchte, sondern der inneren Notwendigkeit erwächst, so dass für Außenstehende spürbar ist, „daß hier Christen versammelt sind, die ihren Glauben feiern wie ein Fest.“ 106 In gewisser Hinsicht spiegelt sich in diesem bischöflichen Wort ein Wandel in der Haltung vieler Priester und Gemeinden, die nach einer eher thematisch bestimmten, oft an Problemen in Kirche und Welt sich orientierender Gottesdienstgestaltung 107 nun wieder unbefangener die zweckfreie Festlichkeit liturgischer ———— 102
103 104 105 106 107
Vgl. Fastenhirtenbrief des Bischofs von Essen Dr. Franz Hengsbach für das Jahr 1977: Jeden Sonntag Ostern feiern, in: KAE 20 (1977) 20-22 (Nr. 18). – Der Brief war der Auftakt für eine größere pastorale Initiative des Bistums, um vor allem in den Familien einen Sinn für den Sonntagsgottesdienst und für eine sonntägliche Familienkultur zu entwickeln. Ebd., 21. Ebd., 21. Ebd., 22. Ebd., 22. In gewisser Hinsicht als typisch können die in jenen Jahren viel gebrauchten Bücher mit „Motivmessen“ bezeichnet werden: Alfred Schilling, Motivmessen 1. Thematische Meßformulare für jeden Tag, Essen 1970; Franz Franzen, Motivmessen 2. Thematische Meßformulare für jeden Tag, Essen 1971; Franz Voith, Motivmessen für Jugendliche. Werkbuch für thematische Meßfeiern mit Jugendlichen bis zum 13. Schuljahr, Essen 1972; Norbert Keller, Hans-Joachim Wagener, Motivmessen für Kinder.
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Feiern betonte. In den Fragen, die Bischof Hengsbach im Sinne einer Gewissenserforschung formulierte, lassen sich faktisch auch Defizite der ersten zehn Jahre nachkonziliarer Liturgiepraxis ablesen.
5. Das zweite Jahrzehnt nach dem Konzil – die Jahre 1981 bis 1991 Die 1980er Jahre können im Sinne einer gewissen Konsolidierung des kirchlichen Lebens in den Pfarreien gelesen werden. Die massiven Wandlungen, die innerkirchlich das Konzil auslöste und die mit den gesellschaftspolitischen Umbrüchen in Nordwesteuropa zusammentrafen, waren inzwischen in vielen Bereichen aufgenommen und nach Maßgabe der jeweiligen Möglichkeiten rezipiert worden, zudem begegnete man den einstigen Neuerungen inzwischen mit einer weitgehenden Selbstverständlichkeit. Das galt auch hinsichtlich der Liturgie, für die in jenen Jahren keine weiteren großen Neuordnungen oder herausragenden Veränderungen anstanden. Vielmehr kehrte auf dem Sektor des Gottesdienstes nach einer Zeit der Nüchternheit und betonten Alltagsorientierung nun wieder ein neuer Sinn für Fest und Feier, für Kirchenraum und Gewand, für Weihrauch und Prozession ein. Besonders markant zeigt sich diese Entwicklung an der Gestaltung der Fronleichnamsfeiern in den Pfarrgemeinden des Bistums Essen. Während schon seit Beginn der 1960er Jahre, noch mehr aber nach dem Konzil die traditionellen Formen der Fronleichnamsprozession nicht mehr befriedigen konnten, und in diesen Jahren kaum eine Gemeinde nicht in zum Teil heftigen Auseinandersetzungen und Debatten um die Gestaltung dieses Festes rang, kehrte man vielerorts Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre zu „klassischen“ Formen der eucharistischen Prozession zurück, freilich „gereinigt“ und unter Wahrung des in der Reform Erreichten.108 Zugleich zeigten sich in dieser Zeit auch durchaus positive Entwicklungen. In seinem Hirtenbrief zur 25-Jahr-Feier des Bistums Essen, in dem sich Bischof Hengsbach erneut mit dem Gebet auseinander setzte, nennt er als Anzeichen, dass die Psalmen und Cantica der Heiligen Schrift als alte Gebetsschätze der Kirche wieder neu entdeckt werden, die Wiederbelebung der Sonntagsvesper: „Wie wäre es sonst zu erklären, daß in vielen Gemeinden die Sonntagsvesper in wenigen Jahren zur guten Gewohnheit geworden ———— 108
Werkbuch für thematische Wortgottesdienste und Meßfeiern mit Kindern des 3. bis 6. Schuljahres, Essen 1972. Vgl. Bärsch, Liturgiereform in Pfarreien des Bistums Essen (wie Anm. 31) 272-274.
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ist.“ 109 Im gleichen Jahr sieht er in den etablierten jugendliturgischen Formen jener Zeit „Zeichen eines neuen religiösen Aufbruchs in unserer Jugend.“ 110 Dabei führt er u.a. die Gottesdienste am frühen Morgen in der Advents- und Fastenzeit („Frühschichten“), das gemeinsam verrichtete Morgenund Abendlob in der Kirche, den Jugendkreuzweg in der Fastenzeit und die jährlich stattfindende große Jugendwallfahrt des Bistums an: „All diese Formen verdienen Unterstützung und Förderung.“ 111 Weil eine weitere materiale Reform der Liturgie nicht auf der Tagesordnung stand, die nachkonziliare Erneuerung den pfarrlichen Gottesdienst in weiten Teilen bestimmte, sogar mancherorts abgelegte Formen eine Chance zur Wiederentdeckung hatten, ist es verständlich, dass der Essener Bischof in den Hirtenbriefen dieser Dekade nicht intensiver auf Fragen der Liturgie einging. Ausgehend vom genannten Hirtenbrief zur Bistumsjubiläum führte er wohl den Gedanken des Gebets als Schlüssel zum Leben in seinem Fastenhirtenbrief des Jahres 1983 weiter aus.112 Und im darauf folgenden Jahr nahm er sich eines in der Katechese länger gemiedenes Thema an, wenn er auf das Opfer als Gesetz des Lebens einging.113 Obgleich damit Themen angesprochen waren, bei denen es durchaus nahe lag, auf Theologie und Praxis des nachkonziliaren Gottesdienstes einzugehen, begegnen entsprechende Passagen kaum. Die Hirtenworte sind eher von einem dogmatischsystematischen Interesse geleitet. Allerdings ist hier ein Fastenhirtenbrief zu nennen, in dem der Ruhrbischof einen Bereich aufgriff, der zentral für die Kirche und ihre gottesdienstliche Versammlung ist: der Sonntag.114 Hatte Hengsbach 1977 unter dem Motto „Jeden Sonntag Ostern feiern“ die Aufmerksamkeit auf die Feier des Sonntagsgottesdienstes gerichtet, suchte er hier nun eine Erschließung des ersten Wochentages in seiner geistlich-liturgischen wie anthropologischen Dimension. Er nennt in einer nüchternen Bilanz die Probleme heutiger Sonntagsgestaltung, um darauf für die theologische Bedeutung des ———— Hirtenbrief des Bischofs von Essen Dr. Franz Hengsbach zur 25-Jahrfeier des Bistums Essen, in: KAE 25 (1982) 106- 108 (Nr. 144) hier 107. 110 Wort des Bischofs von Essen zur Jugendarbeit aus Anlaß des Dreifaltigkeitssonntags, 6. Juni 1982, in: KAE 25 (1982) 53-55 (Nr. 71), hier 55. – Vgl. dazu auch Bärsch / Haunerland, Liturgiereform und Ortskirche (wie Anm. 5) 221, 228-230. 111 Wort zur Jugendarbeit (wie Anm. 110) 55. 112 Vgl. Fastenhirtenbrief des Bischofs von Essen Dr. Franz Hengsbach für das Jahr 1983: Gebet – ein Schlüssel, in: KAE 26 (1983) 9-11 (Nr. 7). 113 Vgl. Fastenhirtenbrief des Bischofs von Essen Dr. Franz Hengsbach für das Jahr 1984: Opfer – Gesetz des Lebens, in: KAE 27 (1984) 15-17 (Nr. 20). 114 Vgl. Hirtenbrief des Bischofs von Essen zur Fastenzeit 1985: Das Geheimnis des ersten Wochentages – Ein „Wort zum Sonntag“, in: KAE 28 (1985) 49-51 (Nr. 18).
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Sonntags als Gedächtnistag der Auferstehung Christi und als Versammlungstag der Gemeinde zum österlichen Gedächtnis von Tod und Auferstehung des Herrn zu sensibilisieren. Zugleich differenziert er, wenn er die Abgrenzungen, aber auch die Bezüge zwischen dem jüdischen Sabbat und dem christlichen Sonntag erläutert. Abschließend plädiert er für die Gestaltung einer „Sonntags-Kultur“, die auch politisch in der Gesellschaft einzubringen und durchzusetzen sei als „Freiraum – für Gott und um der Menschen willen“.115 Es zeigt sich, dass dieser Hirtenbrief seinen speziellen Sitz im Leben in der politischen Debatte um die Modernisierung des Arbeitszeitgesetzes besaß. Tatsächlich protestierten die Kirchen im Sommer des Jahres 1985 gemeinsam gegen die beabsichtigte Lockerung des Verbots der Sonn- und Feiertagsarbeit.116
6. Resümee Versucht man die Ergebnisse unserer kleinen Studie zu überblicken, kann man sicher sagen, dass Bischof Hengsbach neben den mit den deutschen Bischöfen gemeinsam verantworteten Verlautbarungen sich in seinen eigenen Hirtenbriefen eher punktuell zu Fragen der gottesdienstlichen Erneuerung geäußert hat. Schon seine persönliche Prägung, in der kaum Berührungen mit Persönlichkeiten und Anliegen der Liturgischen Bewegung erkennbar waren, lassen diesen Sachverhalt verständlich erscheinen. Darüber hinaus lenkten die speziellen Aufgaben im Aufbau eines von der Schwerindustrie bestimmten Bistums, als Militärbischof und als Vorsitzender der Bischöflichen Aktion ADVENIAT das Interesse und die Anforderungen des Ruhrbischofs auf andere Bereiche des kirchlichen Lebens. Das heißt freilich nicht, dass Bischof Hengsbach Fragen der Liturgie in seinen Hirtenworten ignoriert hätte. Erwartungsgemäß häufig fanden wir Hinweise dazu vor allem in den Jahren 1962 bis 1965, in denen die Liturgiekonstitution mit ihrem Auftrag zu einer umfassenden Reform der Liturgie einen für Priester wie Gläubige augenfälligen Wandel im Verständnis und in der Feier des Gottesdienstes brachte. Dass Hengsbach sich in jenen Jahren verschiedentlich mit der Liturgiereform befasste, deckt sich mit der Beobachtung, wonach vor allem die Zeit von 1964 bis 1966 als Jahre des Umbruchs wahrgenommen wurden, weil viele Zeitgenossen die hier einsetzen———— 115 116
Ebd., 51. Vgl. Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz: Der Sonntag muß geschützt bleiben, in: KAE 28 (1985) 127f. (Nr. 127).
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den ersten Reformen im Messritus offenbar als einen tiefgreifenden Einschnitt, geradezu als Paradigmenwechsel empfunden haben.117 Interessant war zu sehen, dass Bischof Hengsbach immer wieder an die den äußeren Änderungen zugrunde liegenden theologischen und geistlichen Motive der Reform erinnerte und auf diese Weise bezeugte, wie groß ihm die Gefahr erschien, die Rezeption der Liturgiereform in den Pfarrgemeinden könne sich ausschließlich in den materialen Veränderungen erschöpfen, aber nicht zu den eigentlich intendierten Anliegen durchdringen. Ähnlich machten gelegentlich persönliche Einschätzungen und Beurteilungen deutlich, wie Hengsbach die Situation der Reform in seiner Diözese bewertete. Besonders aussagekräftig waren in diesem Punkt die Briefe, die der Bischof zum Ende des Kirchenjahres an alle Katholiken des Ruhrbistums versandte. Insofern lassen sich manche Passagen der Hirtenbriefe Hengsbachs durchaus spiegelbildlich zu den jeweiligen Gegebenheiten des gottesdienstlichen Lebens in den Pfarrgemeinden lesen. Nicht zu vergessen sind darüber hinaus jene Hirtenbriefe, die sich ausdrücklich mit Gebet und Gottesdienst befassten. Besonders ragte dabei der Fastenhirtenbrief des Jahres 1977 heraus, in dem unter dem Motto „Jeden Sonntag Ostern feiern“ vor allem die Sorge des Bischofs um die sonntägliche Feier der Eucharistie zum Ausdruck kam und der den geistlichen Sinn und die theologische Bedeutung der Sonntagsmesse zu erschließen suchte. Noch einmal behandelte der Ruhrbischof, nun aber im Rahmen konkreter sozialpolitischer Debatten des Jahres 1985, das Thema der Sonntagskultur, wobei er die eminente theologische und soziale Bedeutung des Sonntags hervorhob und in die Diskussion brachte. Auch der Fastenhirtenbrief 1970 war insofern bemerkenswert, da Bischof Hengsbach Leitlinien der Liturgiereform als Impulse für eine Erneuerung des christlichen Gebetslebens formulierte. Es ist wohl nicht zuviel gesagt, wenn man feststellt, dass dem Ruhrbischof, mit dem Gebet, dem er sich mehrfach in Hirtenbriefen widmete, und dem christlichen Sonntag zwei Themen besonders am Herzen lagen. Hirtenbriefe sind nicht die einzigen Zeugnisse für die Verkündigungspraxis des bischöflichen Amtes. Sie können deshalb nur einen gewissen Ausschnitt bieten. Es wäre also völlig verfehlt, allein aus diesen Quellen die theologischen und pastoralen Anliegen eines Bischofs bestimmen zu wollen. ———— 117
Demgegenüber wurden die Reformschritte der Folgejahre (Messordo 1969/70, Messbuch 1975, „Gotteslob“ 1975) längst nicht mehr in diesem Maße als umstürzende Novität erlebt. Diese Beobachtung ist aus vielen Beiträgen des Sammelbandes Liturgiereform vor Ort (wie Anm. 6) ersichtlich. Vgl. auch Bärsch, Liturgiereform in Bistum und Pfarrei (wie Anm. 31) 83f.
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Aber Hirtenbriefe geben dennoch einen Einblick in das, was dem Vorsteher einer Ortskirche bedeutsam erscheint und wozu und in welcher Weise er Stellung nehmen will. Sie sind damit ein bemerkenswerter Spiegel für die kirchliche Zeitgeschichte im Allgemeinen und die Diözesangeschichte im Besonderen.118 Weil es sich dabei immer zugleich um Praxisgeschichte handelt, gehört das gottesdienstliche Leben wesentlich dazu. Deshalb kann auch die Liturgiewissenschaft Hirtenbriefe mit Gewinn heranziehen. Dies gilt vor allem für die hier interessierende Frage nach der Rezeption der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils. Was nur exemplarisch zu zeigen möglich war, bedürfte einer intensiveren, interdisziplinären Analyse für verschiedene Bistümer und ihre Bischöfe, bei der Kirchengeschichte und Liturgiewissenschaft zu einer größeren Kenntnis des Lebens der Ortskirchen in und nach dem Konzil beitragen könnten.
———— 118
Vgl. jetzt Wilhelm Damberg, Diözesangeschichte nach dem Konzil, in: Konzil und Bistum (wie Anm. 31) 7- 20.
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Alfred Delp SJ – Widerstand aus dem Glauben. Ein Zeugnis seines Mitangeklagten Franz Reisert aus dem Kreis um Franz Sperr von Winfried Becker
Anlässlich der Gedenkfeier zum 15jährigen Todestag von Pater Alfred Delp SJ hielt Franz Reisert am 2. Februar 1960 im Alfred-Delp-Haus in Frankfurt am Main vor Studenten einen Vortrag über den ihm persönlich nahe stehenden Glaubenszeugen und Widerstandskämpfer. Der Augsburger Rechtsanwalt Dr. Franz Reisert (1889-1965), ein sehr angesehener Strafverteidiger, der mehrmals politisch Verfolgte des NS-Regimes vor Gericht vertreten hatte, war durch P. Professor Jean Lotz SJ, den Bruder seines Schwiegersohnes Franz Lotz, mit Delp bekannt gemacht worden. Delp führte ihn bald darauf, 1942, in den Kreisauer Kreis ein. In seiner Rede würdigte Reisert den „Bundes- und Leidensgenossen“ Delp so einfühlsam wie behutsam und mit größter Hochachtung für die Art, in der dieser sein Priestertum lebte. Seine Schilderung von Delps Geisteshaltung und Glaubenskraft eröffnet den Blick auf die inneren Bindungen, die den Zusammenhalt der Widerstandskreise um Moltke und Franz Sperr konstituierten und die sich in Folter und Tod so glaubhaft wie nur möglich bewährten. Die Rede ist ein erschütterndes Dokument des Widerstandes gegen die NS-Gewaltherrschaft. Sie verdient einen quellenkritischen Abdruck und lässt sich den Quellenzeugnissen an die Seite stellen, die Roman Bleistein SJ über Delp zusammengetragen hat. Dieser Biograph hat seine große Forschungsleistung über eine Zentralfigur des Widerstands vorgelegt, ohne dass er seinem Ordensbruder je persönlich hatte begegnen können, indem er nur die überlieferten Quellen sprechen ließ.1 Diesen lässt sich das vorliegende Dokument ergänzend an die Seite stellen, das zudem 1960 pädagogisch wirken, das christliche Vermächtnis des Widerstands so unbequem wie aufbauend der Gefahr der Orientierungslosigkeit und des raschen Vergessens entgegenhalten wollte. Doris Lotz hat die Rede aus dem Nachlass ihres Vaters Reisert 1998 Fred G. Rausch überlassen. Dieser damalige Referent für Öffentlichkeitsarbeit in der Bayerischen Staatskanzlei übergab sie 2004 dem Verfasser zur Vorberei———— 1
Vgl. Roman Bleistein, Begegnung mit Alfred Delp, Frankfurt am Main 1994, S. 9; vgl. ders., Alfred Delp. Geschichte eines Zeugen, Frankfurt am Main 1989; ders. (Hg.), Alfred Delp. Gesammelte Schriften, Bd. 1-5, Frankfurt am Main 1982-1988; ders. (Hg.), Alfred Delp. Kassiber. Aus der Haftanstalt Berlin-Tegel, Frankfurt am Main 1987.
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Winfried Becker
tung eines Vortrages, der anlässlich der 60. Wiederkehr des Todestages von Franz Sperr am 22. Januar 2005 in München gehalten wurde.2 Alfred Delp wurde am 15. September 1907 in Mannheim geboren. Als Sohn eines bei der Ortskrankenkasse beschäftigten evangelischen Kaufmanns und ältestes von sechs Kindern wurde er katholisch getauft, besuchte seit 1915 aber auf Wunsch des Vaters die evangelische Volksschule in Lampertheim und wurde 1921 konfirmiert. Danach ging er, noch im gleichen Jahr, zur Erstkommunion und wurde vom Mainzer Bischof Ludwig Maria Hugo gefirmt. Diese Wendung erfolgte auf das Drängen seiner katholischen Mutter Maria Delp und unter dem Einfluss des Pfarrers Johannes Unger von Lampertheim. Delp erhielt nun eine fundierte Erziehung im katholischen Glauben.3 Von 1922 bis 1926 besuchte er das Bischöfliche Konvikt und – wegen seiner Leistungen verkürzt – das Gymnasium von Dieburg. Er fiel durch seine rasche Auffassungsgabe, seine große Intelligenz, Disputierlust und ansteckende Fröhlichkeit auf. Er entwickelte früh eine sprudelnde geistige Kraft. Das Abitur legte er als Klassenbester ab. Zuvor hatte er sich dem Bund Neudeutschland angeschlossen. Dieses junge, erst 1919 gegründete Glied der katholischen Jugendbewegung bekannte sich zur Natürlichkeit, zur Selbstverantwortung und zur Gemeinschaft, richtete diese Werte aber bewusst auf Christus als die Mitte, das Ziel, das Vorbild des Lebens aus, unterwarf so die Natur der Übernatur. Wie viele „Neudeutsche“ trat Delp in den Jesuitenorden ein, der durch seine Disziplin und sein weltweites Wirken Faszination ausübte. 1926 wurde er in das Noviziat in Feldkirch/Vorarlberg, 1928 in das Berchmanskolleg in Pullach bei München aufgenommen. 1931 legte er dort das philosophische Examen ab. 1939 verlieh ihm der Jesuitengeneral P. Wladimir Ledóchowski den Titel eines Römischen Doktors der Philosophie. Am 24. Juni 1937 empfing Delp in der St. Michaelskirche in München von Michael Kardinal Faulhaber die Priesterweihe. Nach erfolgreichem Wirken als Präfekt an den Jesuitenkollegien Stella Matutina in Feldkirch (1931) und St. Blasien (1934) studierte Delp am Ignatiuskolleg in Valkenburg/Niederlande und an der Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main Theologie. Das Lizenziat in Theologie erhielt er im Juli 1939. Damit hatte er das Studium sowohl der ———— 2
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Winfried Becker, Der Widerstand in Bayern gegen das NS-Regime, in: Werner J. Patzelt / Martin Sebaldt / Uwe Kranenpohl (Hg.), Res publica semper reformanda. Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des Gemeinwohls. Festschrift für Heinrich Oberreuter zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2007, S. 455- 473; vgl. die vorbildliche Studie von Christina M. Förster, Der Harnier-Kreis. Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Bayern, Paderborn 1996. Roman Bleistein, Lebensbild Alfred Delps, in: ders., Delp. Gesammelte Schriften, Bd. 1, S.11- 42; Roman Bleistein, Begegnung mit Alfred Delp, Frankfurt am Main 1994, S. 73 -78 (Lebensdaten).
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Theologie als auch der Philosophie abgeschlossen. Was die Philosophie betraf, so rezipierte er nicht nur die an den Jesuitenkollegien vorgetragene Neuscholastik, sondern befasste sich auch erstmals als katholischer Theologe mit der Ontologie Martin Heideggers (Tragische Existenz, 1935), wenngleich seine Interpretation des Freiburger Philosophen zunächst unbeachtet blieb und dann Widerspruch auslöste. Dem Jesuiten wurde am 25. Juli 1939 die Immatrikulation an der philosophischen bzw. staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität München verweigert. So wurde Delp Mitarbeiter an der Zeitschrift „Stimmen der Zeit“, bis deren Redaktionsgebäude am 18. April 1941 im Zuge der Klosteraufhebungen beschlagnahmt wurde. Danach übernahm er die Funktion des Rektors der St. Georgs-Kirche in Bogenhausen, die zur Pfarrei Heilig Blut gehörte. Von Ende 1940 bis 1943 beteiligte er sich intensiv an der Arbeit der Fuldaer Hauptstelle für Männerseelsorge und Männerarbeit. Zugleich fand er Zeit und Gelegenheit, seine Studien zu vertiefen. 1941 legte er das Buch „Der Mensch und die Geschichte“ vor. Mag sich aus einer ideengeschichtlichen Untersuchung ergeben, dass Delps Denken zu sehr der theonomen Einstellung verpflichtet war und sich der Vorstellung einer ebenfalls christlich begründbaren „neuzeitlichen Autonomie“ noch nicht geöffnet hat 4, so unternahm es Delp doch, vor allem im Fuldaer Arbeitskreis, aus der christlichen Heilsbotschaft Antworten auf das säkulare „Weltverständnis“ seiner Zeit abzuleiten. Delp war patriotisch eingestellt, zog aber die Grenze gegenüber einem sich selbst genügenden völkischen Denken und dem Naturalismus, dem Kollektivismus und der falschen Heldenverehrung seiner Zeit. Er erkannte die Geschichte als den Ort existenzieller und freier Entscheidung des Menschen in den jeweils gegebenen Situationen. Aus seiner Sicht gehörte die Geschichte freilich nur dieser Welt an. Sie vermittelte keine Offenbarungsinhalte, sie gab keine Antwort auf die metaphysischen Fragen des Menschen.5 Damit hielt Delp Distanz zur Philosophie des deutschen Idealismus, mit der er sich in Rezensionen unvoreingenommen befasste. Die sich seiner Zeitanalyse erschließende, ihn sehr beunruhigende „Gottesunfähigkeit“ des modernen Menschen erklärte er aus einer geistesgeschichtlichen Entwicklungslinie, die den Menschen von der auf Gott gerichteten Ordo-Idee des Mittelalters über eine subjektiv gewor———— 4
5
Michael Pope, Alfred Delp S.J. im Kreisauer Kreis. Die rechts- und sozialphilosophischen Grundlagen in seinen Konzeptionen für eine Neuordnung Deutschlands, Mainz 1994, S. 222 - 226. Vgl. zu den Kreisauern erstmals Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967. Vgl. Karl H. Neufeld S.J., Geschichte und Mensch. A. Delps Idee der Geschichte. Ihr Werden und ihre Grundzüge, Rom 1983, S. 212 - 245; Bleistein, Delp. Geschichte eines Zeugen, S. 51f., 58f.
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dene Religiosität zur letztlich inhaltsleeren Leidenschaft totaler Weltaneignung und damit zum sittlich-religiösen Substanzverlust geführt habe.6 In seiner Kritik der Schriften Alfred Rosenbergs und anderer NS-Autoren entlarvte er den Trug der modernen weltimmanenten „Selbstentfaltung“, „Selbstverwirklichung“, ja „Selbsterlösung“, der keinen über das eigene Leben hinausführenden Sinn mehr anerkannte.7 München wurde seit 1942 von schweren Bombenangriffen heimgesucht. Delp erlebte diese hautnah mit. Kaum dass sie aufgehört hatten, machte er sich auf den Weg, um den Geschädigten und Verschütteten Erste Hilfe zu leisten. Er trug zur Rettung von zehn bis zwölf jüdischen Mitbürgern bei, erkundete Verstecke für sie und steckte ihnen von ihm erbettelte Lebensmittelkarten zu. Am 25. September 1941 segnete er die Schulkreuze, die christliche Frauen und Schüler in zwei Münchner Schulen wieder anbrachten. Er unterstützte damit ein Handeln, das sich tapfer dem ein paar Monate vorher ergangenen Kruzifixerlass des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus widersetzte. Delp wurde von seinem Mitbruder P. Augustin Rösch SJ im Frühjahr 1942 dem Kreisauer Kreis zugeführt, dem auch P. Lothar König SJ angehörte. Er informierte die Mitglieder des Kreises, der nach Prinzipien für eine Neuordung nach der Krieg suchte, über die Grundzüge der katholischen Soziallehre gemäß den Enzykliken „Rerum novarum“ (1891) und „Quadragesimo anno“ (1931). Vom Spätsommer bis Spätherbst 1942 vermittelte Delp den Kreisauern die Fühlungnahme mit den führenden Vertretern der Katholischen Arbeiterbewegung in Köln 8, Otto Müller, Nikolaus Groß und Bernhard Letterhaus, sowie mit dem Widerstandskreis um Franz Sperr in München. Graf Moltke wurde schon am 19. Januar 1944 verhaftet, ohne dass die Gestapo dadurch der ganzen Kreisauer Gruppe gleich auf die Spur gekommen wäre. Denn Delps Festnahme in Bogenhausen erfolgte erst am 28. Juli 1944, acht Tage nach dem Attentat Claus Schenk von Stauffenbergs, von dem Delp, wie er am Tage nach der Tat seinem Ordensbruder Franz von ———— 6
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14. März 1943. Ludwig Bertsch, „Nach Gottes Ordnung und in Gottes Freiheit“. Lebenszeugnis und Glaubensvision von Alfred Delp, in: Gotthard Fuchs (Hg.), Glaube als Widerstandskraft. Edith Stein. Alfred Delp. Dietrich Bonhoeffer, Frankfurt am Main 1986, S. 92 - 119, 98f.; Bleistein, Delp. Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 333- 339 (Rezensionen). Predigtentwurf „Der heldische Mensch“ (1936). Bleistein, Delp. Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 176f. Hugo Stehkämper, Protest, Opposition und Widerstand im Umkreis der (untergegangenen) Zentrumspartei. Ein Überblick, Teil I u. II, in: Jürgen Schmädeke / Peter Steinbach (Hg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München-Zürich 1986, S. 113 - 150, 888 - 916, 141f., 894 - 896; Michael Kißener, „Nach außen ruhig, nach innen lebendig“. Widerstand aus der katholischen Arbeiterschaft, in: Peter Steinbach / Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 153 -163.
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Tattenbach gestand, erst nachträglich erfuhr. Delp kam bald darauf in das Gestapo-Gefängnis Berlin-Moabit in der Lehrter Straße, dann nach Tegel, zuletzt zur Hinrichtung nach Berlin-Plötzensee. Der vom 9. bis 11. Januar dauernde Prozess gegen die Kreisauer endete für ihn mit dem Todesurteil, weil er „seine Wohnung als Schlupfwinkel für die Verschwörerbesprechungen zur Verfügung“ gestellt habe.9 Er wurde am 2. Februar 1945 erhängt. Seine Familie durfte keine Todesanzeigen versenden, seine Asche wurde auf den Berliner Riesel-(Kanalisations-)Feldern verstreut. Schon am 3. Februar fand auch Freisler den Tod bei einem schweren Bombenangriff auf Berlin und das Gebäude des Volksgerichtshofs, wo er die nationalsozialistische Terrorjustiz verkörpert hatte. Die zum Todesurteil führende Anklage konspirativen Verhaltens stützte sich unter anderem auf die wenigen Zusammenkünfte des Moltke- und Sperr-Kreises in Delps Bogenhausener Wohnung. Reisert hatte Delp mit dem Kreis um Sperr in Verbindung gebracht. Der historisch und philosophisch hoch gebildete, politisch und gesellschaftlich aktive Rechtsanwalt hatte von 1919 bis 1933 dem Bayerischen Heimat- und Königsbund angehört, war aber auch mit einem alten Freund Bert Brechts, einem NS-Gegner aus dem linken politischen Spektrum, eng vertraut, dem Staatsanwalt und Amtsgerichtsrat Rudolf Hartmann 10 – ein Signal dafür, dass der Widerstand frühere Parteigrenzen übersprang. Das galt auch für den Kreis um Sperr, dem, ohne dass alle voneinander wussten, Konservative, Liberale, BVPAnhänger und Parteilose angehörten. Der Berufsoffizier (zuletzt Oberst im Generalstab) Franz Sperr (1878-1945), 1919 Ministerialrat bei der Bayerischen Gesandtschaft in Berlin, war von 1932 bis 1934 Gesandter Bayerns beim Reich. Von der Verwerflichkeit des Nationalsozialismus früh überzeugt, trat er von seinem Amt zurück. Danach baute er in München unauffällig einen Widerstandskreis auf, der meist höhere Verwaltungsbeamte, Offiziere, Vertreter der Wirtschaft, Lehrende an Schulen und Universitäten umfasste.11 Drei Aspekte machten die Besonderheit dieses Kreises aus: Ihm ———— 9
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Aus der Urteilsbegründung vom 11. Januar 1945. Roman Bleistein, Alfred Delp SJ (1907-1945), in: Jürgen Aretz / Rudolf Morsey /Anton Rauscher (Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 6, Mainz 1984, S. 50-63, 61. Jürgen Hillesheim, Augsburger Brecht-Lexikon. Personen – Institutionen – Schauplätze, Würzburg 2000, S. 146f. Vgl. Winfried Becker, Franz Sperr und sein Widerstandskreis, in: Hermann Rumschöttel/ Walter Ziegler (Hg.), Franz Sperr und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Bayern, München 2001, S. 83-173; ders., Franz Sperr (1878-1945), in: Aretz / Morsey /Rauscher, Zeitgeschichte, Bd. 11, Münster 2004, S. 92-106; ders., Der bayerische Widerstandskreis um Franz Sperr und Otto Geßler, in: Ulrich Karpen (Hg.), Europas Zukunft. Vorstellungen des Kreisauer Kreises um Helmuth James Graf von Moltke, Heidelberg 2005, S. 33-51; Fred G. Rausch, Zur Erinnerung an Franz Sperr (1878-1945)
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gehörten – in einem fast staatstragend zu nennenden Querschnitt – führende und erfahrene Repräsentanten aus Politik und Wirtschaft an, die die Wiederherstellung von Anstand, Moral und sittlicher staatlicher Ordnung erstrebten.12 Die Geheimhaltung wurde gewahrt; die Gestapo konnte erst nach dem 20. Juli 1944 einiger Führungspersonen habhaft werden, ohne die ganze Reichweite des Kreises je zu überschauen. Er stützte sich auf Bayern als vermutlich noch kontrollierbare Basis für Widerstand oder für die Eindämmung der Endkatastrophe, in die das kollabierende Regime am Schluss das ganze Volk hineinziehen wollte. Mit fortschreitender Haft trat Delp immer deutlicher der Tod vor Augen. Aus dem Gefängnis heraus versuchte er, mittels seiner Kassiber und Kontakte den Nachweis seiner Verbindung zum konspirativen Hochverrat zu erschüttern. Durch die Distanzierung von Sperr wollte er den Prozessverlauf für sich günstig beeinflussen, nachdem Sperr angeblich ausgesagt hatte, auch er, Delp, habe von dem Attentat des 20. Juli gewusst.13 Sperr wurde zum Tode verurteilt, weil er Stauffenbergs Attentatsplan nicht angezeigt hatte. In Lebensgefahr schwebend, hat Delp Sperr einen „perplexen Typ“ genannt und bei Reisert mangelndes Durchhaltevermögen vermutet – nicht wissend, dass der erfahrene Jurist zur Selbstverteidigung vor Freisler „ein Meisterwerk anwaltlicher Camouflage“ inszenierte.14 In Einzelheiten genau, hielt Reiserts Rede nachdrücklich die Verantwortung des Referenten beim Reichssicherheitshauptamt, des früheren evangelischen Pfarrers Karl Neuhaus 15, für die brutale Misshandlung Delps fest. Doch wie Delp selbst und mancher Mithäftling wusste und die Forschung heute anerkennt, drangen prozesstechnische Modalitäten nicht in das Zentrum der sich vor dem Volksgerichtshof abspielenden dramatischen Auseinandersetzung zwischen Freisler und dem Jesuiten vor. Delp trat Freisler als der Repräsentant eines „überdimensionalen“ Widerstands gegenüber 16, einer ebenfalls den ganzen ———— 12
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aus Karlstadt am Main, in: Spessart (Juli 2004), S. 20-23; Waltraud Taschner, Franz Sperr. Föderalist und Nazigegner, in: Unser Bayern. Heimatbeilage der Bayerischen Staatszeitung, Januar 2005, S. 1-3. Ein Kernanliegen des Widerstands: Joachim Scholtyseck, Individuelle Freiheit als Leitmotiv? Religiöse Aspekte der Widerstandsbewegung im „Dritten Reich“, in: Jörg Dierken /Arnulf von Scheliha (Hg.), Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus, Tübingen 2005, S. 277-293, 291. Vgl. Delp an Tattenbach, Berlin-Tegel 24. - 31. Dezember 1944. Bleistein, Delp. Kassiber, S. 55f. Peter M. Reisert, Franz Reisert (1889-1965), in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 39 (2005), S. 547 - 570, 563. Diese vorzügliche Studie verdient besondere Beachtung. Vgl. über ihn Gerhard Besier, Die Kirchen und das Dritte Reich. Spaltungen und Abwehrkämpfe 19341937, Berlin-München 2001, S. 172f.; und die Ausführungen Bleisteins in seiner Biographie über Delp. Eugen Gerstenmaier, Ein „überdimensionales“ Modell, in: Alfred Delp. Kämpfer, Beter, Zeuge. Letzte Briefe. Beiträge von Freunden, 3. Aufl. Berlin 1978 [Hg. von Marianne Hapig], S. 81-96, 1. u. 2. Aufl. Berlin 1955 u. 1958.
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Menschen fordernden Gegenwelt zum Daseinsentwurf der sich anmaßend mit dem deutschen Volk und Land ineinssetzenden, doch in sich selbst inkohärenten nationalsozialistischen Ideologie, die im eigensten Interesse nach der Vernichtung des Vertreters der „Scholastik und des Jesuitismus“ streben musste.17 Sein ‚Verbrechen‘ war, sein Land und seine Kultur in einen höheren Zusammenhang hineingestellt zu sehen, den der Nationalsozialismus ihm von Grund auf streitig machte: „Christentum und Kirche als die geheime Sehnsucht und die stärkende und heilende Kraft dieses Landes und Volkes – der Orden als die Heimat geprägter Männer, die man haßt, weil man sie nicht versteht und kennt in ihrer freien Gebundenheit und weil man sie fürchtet als Vorwurf und Frage in der eigenen anmaßenden pathetischen Unfreiheit.“ 18
Vortrag anlässlich der Gedenkfeier zum Jahrestag des Todestages von Alfred Delp am 2.2.1960 im Alfred-Delp-Haus in Frankfurt am Main 19 Meine Damen und Herren! Als mir von Ihrem verehrten Herrn Pfarrer Dessauer 20 der mich ehrende Auftrag erteilt wurde, Pater Delp’s in einer Ansprache zu gedenken, der gerade heute vor 15 Jahren den Märtyrertod erlitt, hatte ich zuerst ernste Bedenken, ob ich diesen Auftrag annehmen sollte. Dies nicht etwa deswegen, dass ich es nicht als ein nobile officium gesehen hätte, Pater Delp, dem lieben Freunde, dem vorbildlichen Seelsorger, dem glänzenden Kanzelredner, dem Bundesgenossen in der Widerstandsgruppe, dem Leidensgenossen ———— 17
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Kassiber Delps an Marianne Hapig u.a., Berlin-Tegel, nach 11. Januar 1945. Rita Haub/ Friedrich Schreiber, Alfred Delp. Held gegen Hitler, Würzburg 2005, S. 80; Alfons Matzker SJ, Begegnung und Erfahrung mit Alfred Delp, in: Franz B. Schulte (Hg.), Alfred Delp. Programm und Leitbild für heute, Berlin 2007, S. 7 - 23, 21. Alfred Delp, Im Angesicht des Todes, Frankfurt am Main 1981, S. 232. Zit. nach Bleistein, Lebensbild Alfred Delps, S. 38; Delp an P. Odilo Braun OP, Berlin-Tegel 18. Januar 1945. Bleistein, Delp. Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 183. Vgl. Bernhard Höpfl, Katholische Laien im nationalsozialistischen Bayern. Verweigerung und Widerstand zwischen 1933 und 1945, Paderborn 1997, S. 17. S. 1- 22. Text aus dem Privatbesitz von Frau Doris Lotz, der ich für ihre mündlichen Auskünfte (11. November 2010) danke. Offensichtliche Schreibfehler, auch von Eigennamen, sind stillschweigend verbessert, zu kurze Absätze nicht nachvollzogen; Ergänzungen und Korrekturen stehen in eckigen Klammern [ ], die Orthographie ist meist beibehalten. Ottmar Dessauer (1914- 1997), zweitältester Sohn des 1934 verhafteten Physikprofessors, ZentrumsParlamentariers und Journalisten Friedrich Dessauer (1881-1963), 1950-1968 Studentenseelsorger an der Universität Frankfurt am Main, 1954 Mitgründer des später veräußerten Alfred-Delp-Hauses (Wohnheim) in der Beethovenstraße.
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in den schwersten Tagen meines Lebens, dem Manne, der durch seinen, ihm von den Henkern des 1000jährigen Reiches verhängten schmachvollen Tod mit dazu beitrug, dass die Welt daran glaubte, dass es auch noch ein anderes Deutschland gab, als das von Hitler und seinen Spießgesellen geführte 3. Reich, Worte des Gedenkens und des Dankes zu widmen, die nichts anderes sein können, als eine laudatio. Meine Bedenken gründeten darin, dass ich mir schwer vorstellen konnte, was ich anstelle des zuerst vorgesehenen Redners, des von mir so hoch verehrten Pater Rösch 21 geben könnte, der in erster Linie berufen gewesen wäre, die nun mir übertragene Gedenkrede zu halten für seinen Mitbruder, den er als damaliger Provinzial der Süddeutschen Jesuitenprovinz in seiner Entwicklung, von seinem Eintritt in den Orden bis zu seinem Tode, wie kein Zweiter kannte, der Pater Delp so hoch schätzte, dass er ihn, als der ebenfalls hingerichtete Graf Moltke 22, der Führer des Kreisauer Kreises, ihn bat, ihm einen Confrater zu schicken zu seiner Tagung auf Schloss Kreisau, der über besondere Erfahrungen und Kenntnisse auf dem Gebiete der christlichen Soziallehre verfügte, Pater Delp designierte, der in zahlreichen Aufsätzen in den „Stimmen der Zeit“ sich nicht nur mit diesem Problem auseinandergesetzt hatte, sondern auch in zwei tiefschürfenden Schriften und in Vorträgen sich mit der Tragik des Menschen in dieser Welt, mit dem Sinn der Geschichte und der Rolle des Menschen in der Geschichte in geistvollster Weise auseinandergesetzt hatte. Ich kann nicht verhehlen, dass mir gewisse Hemmungen auch daraus entstanden, dass ich zu den Wenigen aus dem Kreisauer Kreis gehöre, die noch einmal davon gekommen und dass der Mann, der berufen gewesen wäre, für die Kirche und Deutschland noch Bedeutsames zu leisten, sterben musste. Wenn ich mich trotzdem entschloss, heute Abend zu Ihnen zu sprechen, so deshalb, weil Pater Rösch mich Ihrem Herrn Pfarrer für diese Aufgabe vorschlug. Ich bin mir aber bewusst, dass ich aus den geschilderten Umständen heraus besonders auf Ihre Nachsicht angewiesen bin, die Sie mir gütigst gewähren wollen.
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P. Augustin Rösch (1893-1961), Provinzial 1935-1944. Helmuth James Graf von Moltke (1907-1945), 1935 Rechtsanwalt in Berlin, 1939-1944 Kriegsverwaltungsrat in der Abwehr (Abteilung Ausland), verurteilt am 11. Januar 1945, hingerichtet am 23. Januar 1945. Vgl. Günter Brakelmann, Helmuth James von Moltke. 1907-1945. Eine Biographie, München 2007.
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I. Vor wenigen Wochen war ich wieder einmal in dem alten romanischen Kirchlein St. Peter unter dem Perlachturm, dem Wahrzeichen der Augusta Vindelicorum. Auch in diesem Kirchlein hat der Bombenangriff vom 25./26. Februar 1944 auf Augsburg verheerende Wirkung gehabt. Vor allem ist die Kanzel verschwunden, sie wurde ein Opfer des Brandes, der das Innere der Kirche zerstörte, die Kanzel, auf der ich zum ersten Mal Pater Delp im Jahre 1941 reden hörte, als in Augsburg von Jesuiten, Dominikanern und Benediktinern eine Reihe von Vorträgen gehalten wurde. Auf meine Familie, auf meine Freunde und auf mich machten die Ausführungen von Pater Delp den tiefsten Eindruck. Er sprach über das Thema: Die Welt als Lebensraum des Menschen. Sie können diesen Vortrag nachlesen in der im Josef-Knecht-Verlag erschienenen Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen des Verstorbenen unter dem Titel: „Zur Erde entschlossen“, Seite 81.23 Sie werden bei der Lektüre gleich mir zu tiefst berührt sein nicht nur von der Sprache, sondern vor allem von der Hintergründigkeit der Gedanken, die er über dieses Thema vortrug, eine Hintergründigkeit, die besonders beeindruckt im Hinblick auf das jugendliche Alter des Referenten, der damals erst 35 Jahre alt war. Ohne irgendwie den Verdiensten der übrigen Referenten Abbruch tun zu wollen, darf festgestellt werden, dass der Vortrag von Pater Delp der Glänzendste war, den wir in Augsburg in der Reihe dieser Vorträge hören durften. Sie werden mir nachempfinden können, dass es mir ein Bedürfnis war, dem Manne näher zu kommen, der uns so viel zu geben vermochte für die Beantwortung der damals so akuten und drängenden Fragen. Im Anschluss an diesen seinen ersten Vortrag kam P. Delp oft in meine Familie als Gast und ich darf mit Dankbarkeit feststellen, dass die Gespräche, die bei mir zu Hause mit ihm und mit Freunden gleicher Gesinnung geführt wurden, sich in besonders wohltuender Weise für die Entwicklung meiner Kinder 24 ausgewirkt haben, die – und das war für mich ein besonderes Glück – mit mir völlig einig waren in der Ablehnung des Regimes, ohne aber die Liebe zum Vaterland zu verlieren. Es waren nicht nur Stunden erbaulicher und erhebender Reden. Es waren auch fröhliche Stunden, die wir miteinander verbrachten. Pater Delp hatte einen sonnigen Humor, einen schlagfertigen Witz, sodass jedes Gespräch mit ihm zu einem schönen Erlebnis wurde. ———— 23
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Alfred Delp, Zur Erde entschlossen. Vorträge und Aufsätze (Christ und Gegenwart, Bd. 1), Frankfurt am Main 1949. Doris Lotz, geb. 1923, Peter Reisert, geb. 1926, und Klaus Reisert, geb. 1931.
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Wie fröhlich er sein konnte, beweist das Bild in der Biographie: „Alfred Delp, Kämpfer, Beter, Zeuge“, erschienen im Morusverlag Berlin 25, dessen Lektüre ich all denen dringend empfehlen möchte, die sich für diesen Mann interessieren. Meine Frau erhielt dieses Büchlein als Geschenk von der Verfasserin, Frl. Marianne Hapig 26, einer Frau, die mit Dr. Marianne Pünder, der Schwester des gleichfalls in der Lehrterstrasse in Berlin inhaftierten Staatssekretärs Pünder 27, sich unerhörte Verdienste um die verhafteten Männer des 20. Juli erworben hat. Das Bild, eines der wenigen, das mir technisch Unbegabtem so wohl gelungen ist, wurde aufgenommen an Pfingsten 1943 im Garten meines Freundes Theodor Böhm in Augsburg, des Inhabers des bekannten katholischen Musikverlages Böhm u. Sohn.28 Es ist eingeheftet in dem angegebenen Buch an der Stelle Seite 24, wo Aufzeichnungen von P. Delp aus den Jahren 1942/43 wiedergegeben sind unter dem [für] ihn auch bezeichnenden Titel: „Gott ist gut und seine Welt ist schön.“ Zum letzten Mal begegneten wir uns als noch freie Menschen am 2. Weihnachtsfeiertag 1943. P. Delp kam unverhofft gegen Abend, als wir eben für die Kinder den Christbaum wieder angezündet hatten und Weihnachtslieder sangen. Es war schön, wie er in das Zimmer herein kam und in den Gesang der Kinder mit einstimmte. Wir ahnten nicht, dass wir uns erst als Gefangene wiedersehen sollten. Nach dem schweren Luftangriff auf Augsburg am 25./26. Februar 1944 kam P. Delp mit einem Sack voll Lebensmittel nach Augsburg, um uns zu helfen, da er annahm, dass wir in Not seien. Wir waren aber inzwischen schon in eine Ausweichwohnung in der Nähe von Donauwörth gezogen und so traf er uns nicht mehr an. Eine Erkrankung, die schlechten Zugverbindungen, die dauernden Fliegerangriffe machten ein Wiedersehn unmöglich. ———— 25 26
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Siehe oben Anm. 16. (1894-1973), 1921 Tuberkulosefürsorgerin im „roten“ Bezirksamt Berlin-Neukölln, 1929-1961 (bis zum Mauerbau) Fürsorgerin am St.-Hedwig-Krankenhaus; mit der Juristin Marianne Pünder (18981980), 1927 Dozentin an der Sozialen Frauenschule in Berlin, lenkte und förderte sie die Kontakte zwischen den Inhaftierten des 20. Juli und deren Angehörigen. Vgl. Elisabeth Prégardier (Hg.), Marianne Hapig. Tagebuch und Erinnerung (Edition Mooshausen, Bd. 6), Annweiler o.J., S. 14-17. Hermann Pünder (1888-1976), 1910 Dr. jur., 1909 preußischer Justizdienst, 1919 im Reichsfinanz- und Preußischen Justizministerium, 1926-1932 Staatssekretär, Chef der Reichskanzlei, 1932 -1933 Regierungspräsident von Münster, 1944 in Haft, 1945-1948 Oberbürgermeister von Köln, Mitgründer der CDU, 1948-1949 Oberdirektor der Verwaltung der Bizone, 1949-1957 Mitglied des Bundestags, 1952 Vizepräsident der Hohen Behörde der Montanunion. Theodor Böhm (1879-1946) übernahm 1906 die Leitung des 1803 gegründeten Musikalienverlages, der, durch den schweren Luftangriff vom 25. Februar 1944 zerstört, 1947 mit US-Lizenz wiederaufgebaut wurde.
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II. Wer ist nun dieser Pater Delp, den alle, die ihn kannten, meine Freunde und ich so lieben und schätzen lernten? Der Mann, von dem ich oft im Spaße sagte, welches Glück es sei, dass er bei seiner Gescheitheit nicht Gauleiter geworden sei, er wäre der gefährlichste Repräsentant der Partei geworden! Er wurde am 15. 9. 1907 in Mannheim geboren am Feste der 7 Schmerzen Mariä. Der Geburtstag gerade an diesem Tage ist für sein ganzes späteres Leben bedeutungsvoll! Wir werden noch sehen, welche Rolle die Marienfeiertage in seinem Leben spielen sollten. Mit 17 Jahren trat er, der evangelische Christ, zur katholischen Kirche über.29 In einem mir unbekannten Jahre, am 8. Dezember, also am Feste der Unbefleckten Empfängnis, trat er dem Neudeutschen Bund bei, wählte, wie Marianne Hapig in der Biographie „Alfred Delp S.J. Kämpfer, Beter, Zeuge“ sagt: „Das Ideal des ritterlichen Menschen.“ 30 „Wir weihen uns Dir, Siegerin über alle Feinde Deines Seins. Wir wollen eine Schar von Aposteln sein.“ Er wurde in der Tat ein Kämpfer, Beter, ein Zeuge und ein Apostel. Am 22.4.1926 trat er in den Jesuitenorden ein. Am 24.6.1937 wurde er zum Priester geweiht. Bald wurde der junge Pater Mitarbeiter an der Jesuitenzeitschrift „Stimmen der Zeit“, wo er sich durch seine tiefschürfenden Aufsätze über soziale Fragen im wirtschaftlichen und politischen Leben auszeichnete. 19[41] wurden Verlag und Redaktion der „Stimmen der Zeit“ von den Machthabern des Naziregimes geschlossen. Rückwärts schauend könnte man darin geradezu einen providentiellen Akt sehen. P. Delp wurde auf diese Weise seiner eigentlichen Aufgabe zugeführt: Der Menschenführung. Er wurde Verweser der Pfarrei St. Georg 31 in München-Bogenhausen. In dieser Eigenschaft machte er das kleine, schöne Kirchlein von St. Georg zum Wallfahrtsort aller der Menschen, die in diesen Tagen der Verfolgung der christlichen Kirche, in den Nöten des Krieges hungrig und durstig waren nach dem Worte Gottes. Der glänzende Kanzelredner wirkte so auf die Gläubigen, dass bald das Kirchlein die Menge der Zuhörer nicht mehr fassen konnte. Seine Predigten machten ihn in ganz ———— 29
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Das trifft so nicht zu: Delp wurde katholisch getauft, besuchte dann die evangelische Volksschule im Lampertheim und wurde zu Ostern 1921 konfirmiert. „Aufgrund einer Auseinandersetzung mit dem protestantischen Pastor wandte er sich dem katholischen Pfarrer Unger zu, der ihn zur ersten hl. Kommunion vorbereitete und zur Firmung führte.“ Bleistein, Delp. Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 87 Anm. 152. Vgl. auch Reiner Albert /Roland Hartung / Günther Saltin (Hg.), Alfred-Delp-Jahrbuch, Bd. 1- 4, Berlin 2007 -2010, hier Bd. 1. Vgl. Alfred Delp. Kämpfer, Beter, Zeuge (1978), S. 15. Siehe oben Anm. 16. Die Kirche hatte keine eigene Pfarrei, sondern gehörte zur Pfarrei Heilig Blut.
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München berühmt. Es darf festgestellt werde, dass keiner von denen, die ihn hörten, ohne Trost die Kirche verließ. In seinem Vortrag, den er auf einer Konferenz für Männerseelsorge 1943 in Fulda hielt, er ist abgedruckt in dem 1. Band der Sammlung „Christ und Gegenwart“ 32 [...] auf Seite 217, umschreibt er in eindringlicher Weise den Schwund des christlichen Selbstbewusstseins, die Macht des Kollektivismus, die Daseinsmüdigkeit des Menschen, seinen Pessimismus, den Tragizismus der Zeit, die Kirchenmüdigkeit und die Aufgaben, die aus dieser Situation für Kirche und Lehramt erwachsen. Sie können nachlesen oder werden es vielleicht auch nach dem Vortrag hören können, wie sehr er die Nöte der Menschen in unserer Gegenwart und damals und wie gesagt, die Bedeutung der Kirche für den Menschen und die Aufgabe des Priesters verstand und begriff. Er gehörte nicht zu den leider so zahlreichen Predigern, die das Wunder von Kanaan verkehren, indem sie bei der Verkündigung des Wortes Gottes Wein in Wasser verwandeln. Er verstand es, den goldenen Wein des Evangeliums in neue Schläuche zu gießen, des Evangeliums, dem der moderne, kollektivierte Maschinenmensch größtenteils verständnislos gegenübersteht und für den gilt, was schon Pascal 33 sagte: „Le Christianisme est étrange.“ Nebenbei glaubte auch ich einmal, dass Gott sich in der Bibel schwer erschließt, bis mir in einer Diskussion klar wurde, dass es mit der Lektüre der Bibel wie oft dem Lesen von Briefen ist, die zwei Liebende miteinander wechseln. Dem nicht im Liebeserlebnis Stehenden sind sie unverständlich, sind sie banal oder gar dumm. Für den im Liebeserlebnis Stehenden sind sie eine Offenbarung, für ihn steht hinter jedem Wort eine ganze Welt. So ähnlich ist es mit dem Glaubenden, für den das Wort der Schrift auf einmal eine Welt offenbart, eine Welt, die dem Ungläubigen nicht zugänglich ist. Lassen Sie mich an einem besonderen Erlebnis des P. Delp klar zu stellen versuchen, wie groß sein Einfluss und sein Eindruck auf die Hörer seiner Predigten war: Eine Studienrätin, die in der Nähe von St. Georg wohnte, hatte in einem Testament, das nach ihrem Tode P. Delp ausgehändigt werden sollte, Gott ihr Leben aufgeopfert, wenn durch dieses Opfer das Leben P. Delp’s gerettet würde.34 Da geschah nun etwas Sonderbares: Beim Abwurf von 4 Reihenbomben ging eine Bombe in der Gegend des Pfarrhofes ———— 32 33
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Siehe oben Anm. 23. Blaise Pascal (1623 -1662), Philosoph, Mathematiker und Physiker, Kritiker einer rationalistischen Schultheologie. „Lebensangebot“ von Frau Maria Urban (1891-1944), Direktorin des Städtischen Kindergärtnerinnenseminars in Bogenhausen, vom 15. Februar 1943; sie starb am 13. Juni 1944. Bleistein, Delp. Kassiber, S. 9 Anm. 4.
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von St. Georg nieder, die das Gebäude schwer beschädigte. P. Delp blieb unverletzt, aber die Studienrätin wurde von einer dieser 4 Bomben erschlagen, sie, die bereit war zu sterben, damit er lebe! Es wird erzählt, dass sie, die dieses Opfer gebracht hatte, mit größten Ängsten jeden Bombenangriff erlebte, bis sie der Tod wegnahm. P. Delp hat dieses Testament mit in der Zelle in Moabit und Tegel gehabt. Er soll, wie noch nie, erschüttert gewesen sein, als er das Testament dieser großen Seele öffnete und von ihrem Opfer erfuhr.
III. Im Jahre 1941 hatte sich in Berlin ein kleiner Kreis um die Grafen Moltke und Yorck 35 gesammelt, der bemüht war, die Probleme, die durch die politische Situation aufgeworfen waren, geistig zu durchdringen. Wie der spätere Ministerpräsident von Schleswig-Holstein und damalige Oberst und Chef des Transportwesens in Norwegen, Theodor Steltzer 36, in seinem Buch „Von deutscher Politik“ 37 darlegt, entstand im Winter 1941/42 der Plan, die verschiedenen politischen Sachgebiete gründlicher zu bearbeiten. Er stellte fest, dass aus dieser Arbeit später eine klare politische Konzeption und ein bestimmter politischer Wille erwuchs[en]. Es fanden in den Jahren 1942/43 in Schloss Kreisau 3 mehrtägige Arbeitsbesprechungen statt. Schloss Kreisau ist das Schloss, das dem Großonkel 38 des Grafen Helmuth Moltke, dem Sieger von 1866 und 1870 in Anerkennung seiner Verdienste von seinem König, dem Kaiser Wilhelm I.39 geschenkt worden war. An der dritten und letzten Tagung war ein Referat über Wirtschaftsprobleme aus christlicher Schau vorgesehen. Dieses hielt Pater Delp unter dem größten Beifall der anwesenden Mitglieder des Kreisauer Kreises. Welchen Eindruck er hervorrief, schildert die Witwe des Gra———— 35
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Peter Graf Yorck von Wartenburg (1904-1945), Dr. jur.,1931 Gerichtsassessor, dann 1932 Regierungsassessor im Kommissariat für Osthilfe in Berlin, 1935 Regierungsrat beim Oberpräsidium in Breslau, 1936 Oberregierungsrat beim Reichskommissar für die Preisbildung, 1942 im Feldwirtschaftsamt des OKW, hingerichtet am 8. August 1944. Th. Steltzer (1885-1967), 1909 Offizierslaufbahn, 1920-1933 Landrat in Rendsburg, 1939 für die Wehrmacht reaktiviert, 1945 Mitgründer der CDU, 1945 -1946 Ober-, 1946-1947 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, 1955 Gründer der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. Untertitel: Dokumente, Aufsätze und Vorträge, Frankfurt am Main 1949. Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke (der Ältere) (1800-1891), aus mecklenburgischer Adelsfamilie, war der Urgroßonkel Helmuth James Moltkes; Eintritt zunächst ins dänische, 1822 ins preußische Heer, 1857-1888 Chef des (Großen) Generalstabs, 1871 Generalfeldmarschall mit Immediatvortragsrecht (und politischem Einfluss) beim Kaiser. Wilhelm I. (1797-1888), 1858 Regent von Preußen, 1861 König von Preußen, 1871 Deutscher Kaiser.
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fen Moltke 40 in einem Brief vom 22.2.1954 in der Erinnerung an eine Wiederbegegnung mit P. Delp im Jahre 1943. Sie schreibt: „Wir suchten P. Delp in seiner schönen Pfarrei in St. Georg in Bogenhausen auf. Er war sprühend und wie immer voll Optimismus. Auf dem Heimweg in der Straßenbahn besprachen mein Mann und ich, welch hinreißenden Eindruck P. Delp auf junge Menschen ausüben müsse.“ P. Delp ging es als Priester und Seelsorger, und wenn man schon sagen darf, als Politiker vor allem um die soziale Gerechtigkeit. Er wusste, wie kein anderer, was schon der große Bischof Emmanuel von Ketteler 41 1854 einmal in einer Rede gesagt hatte: „Das Problem der Zeit ist das soziale Problem und wer dieses nicht erkannt hat, hat die Zeit nicht begriffen.“
IV. Im Winter 1942 erwies mir P. Delp mit Graf Moltke die Ehre, mich in die Beratung und Zielsetzung des Kreisauer Kreises einzuweihen, um mich für die Mitarbeit zu gewinnen. P. Delp schilderte mir voller Begeisterung seine Eindrücke. Besonders angetan war er von der Tatsache, dass die Vertreter erlauchter Adelsgeschlechter und Gewerkschaftsführer miteinander berieten, um ein neues Deutschland, ruhend auf den unzerstörbaren Grundlagen des Christentums zu schaffen, wenn der von allen vorausgesehene und unvermeidbare Zusammenbruch kommen sollte. Besonders begeistert war er, dass Aristokrat und Gewerkschafter zusammenstanden im Kampfe gegen den gemeinsamen Feind, den atheistischen Nationalsozialismus. Sie können sich bei dieser Einstellung vorstellen, wie glücklich er gewesen sein muss, als ihm Pater Rösch erzählte, was Dr. Mierendorf, ein Gewerkschaftssekretär 42, der jahrelang im KZ war, kurz vor seinem tragischen Tode – er wurde im Dezember 1943 von einer Bombe beim Angriff auf Leipzig erschlagen – gesagt hatte: „Ich habe lange ohne Religion gelebt, aber ich bin zu den Überzeugung gekommen, dass nur das Christentum dem Leben Sinn und ———— 40
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Freya von Moltke, geb. Deichmann (1911- 2010), 1931 Heirat mit Helmuth Moltke, 1935 Dr. jur., Mitorganisatorin der Kreisauer Zusammenkünfte im Mai 1942, Oktober 1942, Mai 1943, 1960 Übersiedlung nach Norwich / Vermont. Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811-1877), aus westfälischer Adelsfamilie, Studium der Rechte und der Theologie, 1846 -1848 Pfarrer in Hopsten, 1849 Propst an St. Hedwig in Berlin, 18501877 Bischof von Mainz. Karl (Carlo) Mierendorf (1897-1943), 1922 Dr. phil. (Volkswirtschaft), 1922-1924 Sekretär beim Hauptvorstand des Transportarbeiterverbands, 1926-1928 der SPD-Reichstagsfraktion, Journalist, 1930-1933 Reichstagsmitglied, 1933-1938 in mehreren Konzentrationslagern inhaftiert.
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Halt geben kann. Ich gehe jetzt diesen Weg zu Gott. Ich denke, es macht Ihnen Freude, Pater, dies von mir zu hören.“ Auch ich hatte noch die Freude, Mierendorf in einer Besprechung in München kennen zu lernen. Ein Mann, der gerade wegen des Wandels seiner Gesinnung uns heute in der Arbeiterführung bitter fehlt. Schon durch die Zusammensetzung des Kreisauer Kreises war P. Delp ein begeisterter Anhänger der Una-Sancta-Bewegung. Die Vereinigung aller Christen war eines der Ziele, die sich gerade der Kreisauer Kreis gesetzt hatte. Dieses Ziel fand sein ungeahnte Erfüllung, als vor dem Volksgerichtshof der protestantische Kirchenrat Dr. Gerstenmaier 43 und der Jesuitenpater Delp dem prononciertesten Feinde des Christentums, dem berüchtigten Präsidenten Freisler 44 als Angeklagte gegenüber standen und sich mit seinen blasphemischen Angriffen gegen dieses Christentum auseinandersetzen mussten. In den Jahren 1942/43 kam es in München zu wiederholten Besprechungen, an denen ich auch teilnahm. Es gelang mir, die Mitglieder des bayerischen Widerstandes, die unter der Führung des früheren bayerischen Gesandten an der Reichsregierung Franz Sperr [standen] und de[m] unter anderen die früheren Reichsminister Gessler 45 und Hamm 46 angehörten, zur Mitarbeit im Kreisauer Kreis zu gewinnen. Sperr wurde hingerichtet, Hamm wählte den Freitod. Gessler, den ich oft in Moabit in der Lehrterstrasse beim Spaziergang sah, wurde fürchterlich gequält, kam aber mit dem Leben davon. Von allen denen, die im Kreisauer Kreis mitwirkten, traf wohl das schwerste Los P. Delp. Die via dolorosa, die zum schmachvollen Tod am Galgen am 2. Februar 1945, also an Mariä Lichtmess, führte, trat er am 27.7.1944 an. Wie sonst immer las er auch an diesem Tage die hl. Messe in ———— 43
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Eugen Gerstenmaier (1906-1986), Dr. theol., 1937 Dr. habil., 1939 Konsistorialrat, 1945 zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt, 1945-1951 Leiter des Hilfswerks der EKD, 1949-1969 Mitglied des Bundestags, ab 1954 dessen Präsident. Roland Freisler (1893-1945), 1921 Dr. jur., 1924-1933 Rechtsanwalt in Kassel, für den Völkischsozialen Block im Stadtrat, 1925 NSDAP, 1932-1933 Mitglied des Preußischen Landtags, 1933-1945 des Reichstags, 1933 Staatssekretär im Preußischen Justiz-, 1934-1942 im Reichsjustizministerium, 1942-1945 Präsident des Volksgerichtshofs. Otto Geßler (1875-1955), Dr. jur., 1911 Bürgermeister von Regensburg, 1914 Oberbürgermeister von Nürnberg, 1919-1920 Reichsminister für Wiederaufbau, 1920-1924 Reichstagsmitglied (bis 1927 DDP), 1920-1928 Reichswehrminister, 1944-1945 KZ Ravensbrück, dann Moabit , 1950-1952 Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Eduard Hamm (1879-1944), Dr. jur. h.c., 1906-1919 in den Bayerischen Ministerien der Justiz, des Inneren und des Äußern tätig, 1919-1920 Mitglied des Bayerischen Landtags, 1920-1924 des Reichstags (DDP), 1919-1922 Bayerischer Minister für Handel, Industrie und Gewerbe, 1922-1923 Staatssekretär in der Reichskanzlei, 1923-1924 Reichswirtschaftsminister, verhaftet am 2. September 1944, nach schweren Misshandlungen stürzte er sich am 23. September 1944 aus dem Gefängnisfenster. www.gdwberlin.de (Einsicht 15.11.2010).
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St. Georg. Gerade als er die Worte der Opferung sprach: „Suscipe, sancta Trinitas, hanc oblationem, quam tibi offerimus ob memoriam passionis, resurrectionis et ascensionis Jesu Christi“ schoben sich 2 finster blickende Männer in ihren sie noch entsetzlicher machenden Ledermänteln in die Kirche, um die Beendigung des Messopfers abzuwarten. Es waren die Häscher der Gestapo. Der Gestapo, die gekommen war, P. Delp zu verhaften. Sie ließen ihn noch einmal in den Pfarrhof zurückkehren, erlaubten ihm, sein Frühstück einzunehmen, das er sofort wieder von sich gab, weil er ahnte, was seiner harrte. Dann nahmen sie ihn im Kraftwagen mit und er verschwand für immer aus seiner Pfarrei und aus München. Ich erfuhr von seiner Verhaftung am Samstag, dem 29.7.1944, als Pater Dr. Jean Lotz 47, der Bruder meines Schwiegersohnes 48, meine Familie und mich in einem kleinen Ort bei Donauwörth, wo wir eine Ausweichwohnung hatten, aufsuchte. Sie können sich denken, wie wir erschraken und sofort alles Schriftliche vernichteten, da wir aus der Verhaftung der Geschwister Scholl 49 wussten, dass die Gestapo bei all denen Haussuchung hielt, von denen sie durch Schriftstücke Kenntnis bekam, dass sie mit den Verhafteten in Kontakt gewesen waren. Der Führer des Kreisauer Kreises, Graf Moltke, war schon im Januar 1944 in das KZ Fürstenberg gebracht worden, von wo aus er im August 1944 in das Gestapo-Hausgefängnis Lehrterstrasse 3 in Berlin überstellt wurde. In der Folge wurden alle Mitglieder des Kreisauer Kreises verhaftet, ich selbst am 4.9.1944, um dann auch in die Lehrterstrasse zu kommen. Solange ich in der Lehrterstrasse war, hatte ich keine Gelegenheit, P. Delp zu sehen. Die Isolierung in den Zellen war so streng, dass – um Ihnen ein Beispiel zu nennen – ein Major v. Hösslin 50 – Ritterkreuzträger und Kämpfer bei El Alamein – ein Augsburger, am 13.10.1944 aufgehängt wurde, die wachhabenden SS-Männer sich aber ruhig von mir mein Essen für ihn geben ließen – ich litt damals schon schwer unter einem Magenleiden – obwohl Hösslin schon längst tot war, was ich erst Wochen später erfuhr. ———— 47
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Johannes Baptist (Jean) Lotz SJ (1903 -1992), 1921 Novize, 1932 Priesterweihe, Philosophiestudien an Jesuitenkollegien und in Freiburg im Breisgau, 1937 dort Dr. phil., ab 1936 Dozent, Professor, mehrfach Rektor an der Hochschule in Pullach und München, ab 1952 lehrte er auch an der Gregoriana in Rom, Heidegger-Schüler, Existenzphilosoph. Franz Lotz (1910-1994), später Prof. für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg, am Aufbau des Instituts für Sportwissenschaft und des Sportzentrums der Universität Würzburg 1973 beteiligt. Die Brüder Lotz stammten väterlicherseits aus dem Weinort St. Martin in der Pfalz. Gemeint sind Hans (1918-1943) und Sophie Scholl (1921-1943) von der Widerstandsgruppe Weiße Rose, zum Tode verurteilt und in München-Stadelheim enthauptet am 22. Februar 1943. Roland-Heinrich von Hößlin (1915-1944), Major, im Juli 1942 als Kommandeur einer PanzerAufklärungsabteilung des Afrikakorps verwundet. www.gdw-berlin.de
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Am 27. 9. 1944 wurde ich plötzlich ohne Angabe von Gründen mit Graf Moltke, dem Staatssekretär Planck 51 und vielen anderen nach Tegel verlegt. Auch P. Delp kam dorthin, aber in einem anderen Transportwagen, was ich beim Abtransport noch nicht wusste. Wir wurden in Tegel in einen großen Raum geführt. Darin befanden sich alle Häftlinge, die warten mussten, bis die umfangreichen Aufnahmeformalitäten erledigt waren und alle in die Zellen verteilt wurden. Bei dieser Gelegenheit sah ich P. Delp zum ersten Mal wieder. Er kam mit Graf Moltke, Fürst Fugger 52, dem Sohn 53 des Generals Lindemann 54, der später auf der Straße erschossen wurde, dem Landesbischof Lilje 55 und vielen anderen zusammen herein. Ich erschrak, als ich P. Delp wiedersah. Er war kaum mehr zu erkennen. Aus seinem Gesicht konnte man lesen, dass er Furchtbares durchgemacht hatte. Ich erfuhr später von Fürst Fugger, wie grausam er misshandelt worden war. Ich habe einen der Schläger, der sich besonders in der Misshandlung hervorgetan hatte, einen gewissen Bandow, in der Lehrterstrasse kennen gelernt. Fürst Fugger erzählte mir, dass er bei dem Bad, das wir alle nehmen mussten, gesehen habe, dass das Gesäß und der Rücken des P. Delp eine einzige blutende Wunde war. Diese Misshandlung war an ihm an eine[m] Marienfeiertag vollzogen worden, nämlich am Tage Mariä Himmelfahrt am 15. August 1944. Ich hatte auch den Eindruck, dass ihm die Zähne eingeschlagen wa———— 51
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Erwin Planck (1893 -1945), seit 1910 Offizierslaufbahn, 1926 a.D., 1926 Regierungsrat, 1932-1933 Staatssekretär in der Reichskanzlei, 1937-1940 beim Otto-Wolff-Konzern in Köln, hingerichtet am 23. Januar 1945 (Goerdeler-Kreis). Joseph Ernst Fürst Fugger von Glött (1895-1981), Landwirt, am 11. Januar 1945 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, 1946 Mitgründer der CSU, 1949-1953 Mitglied des Bundestags, 1954-1962 des Bayerischen Landtags. Es handelt sich um Oberfähnrich zur See Georg Lindemann, geb. 1925, der Moltke und Gerstenmaier in der Haft begegnete. Er wurde wegen Nichtanzeige eines Hochverrats, worauf eigentlich Todesstrafe stand, angeklagt und am 11. November 1944 zu fünf Jahren Zuchthaus, sein mitangeklagter Bruder Friedrich, der als Artillerieoffizier an der Nordfront diente, zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Das weckte bei seinen Mithäftlingen wieder Hoffnung. Auf die Frage Freislers, warum er die Attentatspläne seines Vaters nicht angezeigt habe, gab er die schwer hinterfragbare Antwort: „ich habe meinem Vater vollkommen vertraut.“ www.dhm.de/lemo/forum/.../index.html.Kollektives Gedächtnis. Georg Lindemann, Celle: Vor dem Volksgerichtshof, Eintrag April 2001 (Einsicht 13. 11. 2010). Fritz Lindemann (1894-1944), seit August 1943 General der Artillerie beim Chef des Generalstabes des Heeres, an der Vorbereitung des Attentats vom 20. Juli beteiligt, erlag am 22. September 1944 den schweren Schussverletzungen, die ihm bei seiner Verhaftung am 3. September zugefügt worden waren. Er blieb diese Zeit im Krankenbett gefesselt und schwieg konsequent in zwei Verhören der Gestapo. Ebd. Hanns Lilje (1899 - 1977), Dr. h.c. mult., 1924 Pfarrer der Inneren Mission, 1935-1945 Generalsekretär des Lutherischen Weltkonvents, am 18. Januar 1945 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, 1947-1971 Landesbischof von Hannover, 1952-1957 Präsident des Lutherischen Weltbunds, 1955 -1969 Abt von Loccum.
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ren. Er erteilte mir heimlich die Generalabsolution, was mir damals ein großer Trost war. Nach Abschluss der Formalitäten mussten wir noch länger in einem Raum vor der großen Waschküche der Anstalt warten. Ich stand zwischen Graf Moltke und dem Landesbischof Lilje, als plötzlich auf einer vor uns liegenden Treppe P. Delp mit anderen Gefangenen herunterkam, um mit diesen in die Abteilung geführt zu werden, die für sie bestimmt war. P. Delp grüßte Graf Moltke, der den Gruß erwiderte. Lilje frug mich, ob dies der bekannte P. Delp sei, worauf Moltke mir die Antwort abnahm und sagte: „Ja, das ist mein braver Kumpel Delp.“ In seinen Briefen aus der Zelle schreibt P. Delp, wie sehr er unter den Misshandlungen gelitten hat. Er schrieb anfangs September 1944 an Freunde nach München in einem Brief, der hinausgeschmuggelt wurde, wörtlich: „In einer Nacht, es war um den 15.8., bin ich beinahe verzweifelt. Ich wurde wüst verprügelt, in das Gefängnis zurückgefahren, abends spät. Die begleitenden SS-Männer lieferten mich mit den Worten ab: ,So, schlafen können Sie nun nicht. Sie werden beten und es wird kein Herrgott kommen und kein Engel, um sie herauszuholen. Wir aber werden gut schlafen und morgen früh Sie mit frischen Kräften weiter verhauen.’ [M]eine Reaktion war: Gott hat mich gestellt, nun heißt es, ihm gewachsen sein, so oder so. Ich glaube immer noch fest und zuversichtlich an die Hand, die uns nehmen und geleiten wird.“ Die Misshandlung erfolgte zweifellos auf Veranlassung des SSSturmbannführers im RSHA, Dr. Karl Neuhaus 56, einem Geistlichen der Deutschen Christen, der später aus seinem Beruf in das RSHA übergewechselt war und der, wie seine Sekretärin meiner Frau 57 versicherte, einer der brutalsten Männer des RSHA war. Dass Neuhaus geistiger Urheber dieser Misshandlungen gewesen sein muss, hat Dr. Gerstenmaier als Zeuge vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Siegen, wo Neuhaus wegen Aussagen-Erpressung verhandelt wurde [!] und drei Jahre Zuchthaus erhielt, bestätigt. Dr. Gerstenmaier gab an, dass er in Berlin-Tegel den P. Delp getroffen habe, dessen Rücken von zahlreichen Wunden bedeckt gewesen sei und dass P. Delp ihm gesagt habe, das habe Neuhaus fertig bringen lassen. ———— 56
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Geb. 1910, seit Mai 1944 Leiter des Kirchenreferats im Amt IV des Reichssicherheitshauptamts, Mitglied der Sonderkommission zur Aufklärung des Attentats vom 20. Juli, speziell zur Aufklärung der Rolle der Geistlichen. In sowjetischer Kriegsgefangenschaft denunzierte er für den NKWD in Moskau zahlreiche evangelische und sieben katholische Geistliche (davon mindestens einen zu Unrecht) als Zuträger des SD. Siehe oben Anm. 15 und, allerdings nur auf Neuhaus‘ eigene Angaben von 1988/89 zurückgreifend, Bleistein, Delp. Geschichte eines Zeugen, S. 304- 309. Meta Reisert ([1898]-1972), geb. Stalf.
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Aus seinen Briefen und Aufzeichnungen aus dem Gefängnis wissen wir, dass P. Delp die Angst der Kreatur vor dem gewaltsamen Tode nicht erspart geblieben ist. Wir wissen aber auch, wie er dieses Leid aus seiner christlichen Haltung heraus getragen hat, wie er sich immer wieder den Mut holte aus seinem Glauben, in Christus sein Vorbild sah und so mit seinem schweren Erlebnis – und wie ich noch zeigen werde – mit seinem Tode in vorbildlicher Weise fertig wurde. In Tegel gab es noch einmal eine Gelegenheit für mich, mit ihm in Kontakt zu kommen. Der Anstaltsgeistliche, Pfarrer Buchholz 58, brachte mir einen Kassiber von ihm, in dem er mir schrieb: „Noch ist nichts verloren! Wenn Sie vernommen werden, weisen Sie darauf hin, – was auch der Wahrheit entsprach – dass wenn bei den Besprechungen im Kreisauer Kreis rein politische Fragen besprochen wurden, ich und meine Confratres Pater Rösch und Pater König 59 das Zimmer verließen, weil wir nur an Gesprächen teilnehmen wollten, die sich mit kirchlichen Fragen befassten.“ Ich habe damals zu Pfarrer Buchholz gesagt, dass P. Delp offensichtlich die sog. Rechtspflege des Volksgerichtshofes völlig verkenne. Nach meiner Überzeugung sei unser Schicksal längst entschieden – wir würden alle zum Tode verurteilt und aufgehängt werden. Das war übrigens auch die Meinung von Graf Moltke, der einmal in einer Besprechung in meiner Augsburger Wohnung sagte, als ich ihn frug, ob er sich darüber im Klaren sei, was es bedeute, wenn unsere Besprechungen aufkämen, er habe sich schon erkundigt: das Köpfen dauere nur 11 Sekunden! Ich erinnerte ihn in Tegel im Warteraum, wo ich dank der Großzügigkeit des Wärters mit ihm sprechen konnte, an dieses Wort und meinte, dass wir wohl aufgehängt würden, was nach meinem Wissen länger dauere. Am 8.12.1944 nahm Pater Graf Tattenbach 60 seinem Confrater Delp in einem Sprechzimmer in Gegenwart eines Wärters das 2. Gelübde ab. Es war wieder ein Marientag, der Tag der Unbefleckten Empfängnis. Dieser Tag war für P. Delp ein besonders glücklicher Tag. Damals war ich nicht mehr in Tegel. Nach einem furchtbaren Fliegerangriff, den alle Gefangenen des 20. Juli gefesselt – ich selbst nicht gefesselt, weil ein Arzt sich gutachtlich ———— 58
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Peter Buchholz (1888 -1963), aus Königswinter, 1911 Priesterweihe, im Ersten Weltkrieg Divisionspfarrer, 1926 -1953 Gefängnisseelsorger, 1943 in Berlin-Plötzensee. P. Lothar König SJ (1906-1946), Professor am Berchmanskolleg in Pullach. P. Franz Graf von Tattenbach SJ (1910 -1992), aus niederbayerischem Uradel des oberen Rottals (sein Onkel Christian hatte in die Frankfurter Bankiersfamilie v. Metzler eingeheiratet), 1945 Vizerektor, 19651970 Rektor des Berchmanskollegs, 1946-1948 Seelsorger in deutschen Kriegsgefangenenlagern in Frankreich, 1949-1952 Spiritual am Priesterseminar in Freising, 1960-1965 am Priesterseminar in Freiburg, 1953-1959 Rektor des Collegium Germanicum.
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dahin geäußert hatte, dass ich mit Rücksicht auf mein körperliches Leiden nicht gefesselt werden könne – in ihren Zellen überstehen mussten, waren nämlich die Zellen neben mir sämtlich zerstört worden, die Gefangenen getötet. Es war ein furchtbares Geschehen! Ich musste erleben, wie die Gefangenen mit ihren gefesselten Händen gegen die Eisentüren schlugen und vor Angst schrien, man solle sie doch herauslassen. Durch die Vernichtung der Zellen war[en] die Wasserleitung, die Lichtleitung so zerstört, das ich mit den noch Überlebenden der Abteilung wieder nach der Lehrterstrasse zurückgebracht wurde und damit auch räumlich von P. Delp getrennt, den ich bei den täglichen Spaziergängen im Hof gesehen hatte. Die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof zog sich immer wieder hinaus. Was uns zur Last gelegt wurde, mögen sie aus dem Haftbefehl entnehmen, den ich aus der Zelle gerettet habe und der wohl gegen alle Mitglieder des Kreisauer Kreises gleichlautend erging, uns aber erst im November zugestellt wurde. Jeder einzelne Anklagepunkt bedeutete den Tod. Am 8. Januar 1945, abends 18 Uhr, wurde allen denen, die am anderen Tag vor den Volksgerichtshof gestellt wurden, die Anklageschrift ausgehändigt mit der geradezu naiv anmutenden Aufforderung, eventuelle Beweismittel anzugeben. Diese Anklageschrift wurde uns nach der Verhandlung wieder abgenommen, und so kam der von mir, angesichts meines Wissens um den Vorsitzenden Präsident Freisler, mit Angst und Sorge erwartete Verhandlungstag, der 9. Januar 1945. Dort sah ich P. Delp und die anderen Leidensgenossen wieder. Man muss diese Verhandlung erlebt haben, um zu wissen, was eine solche Verhandlung vor dem Volksgerichtshof bedeutete, von dem der Oberreichsanwalt Lautz 61, der heute noch seine Pension bezieht, erklärte, dass der Volksgerichtshof nicht dazu da sei, Recht zu sprechen, sondern um die Feinde des Regimes zu vernichten. Die Verhandlung war eine Farce. Aus Freisler sprach ein geradezu fanatischer Hass, insbesondere gegen die Jesuiten und damit gegen den Jesuitenpater Delp, der wohl in diesem Augenblick erkannt haben mag, dass er auf verlorenem Posten stand. Freisler, eine Mischung von Verbrecher, Psychopath und Schauspieler, jahrelang bolschewistischer Lebensmittelkommissar in Moskau 62, hatte es insbesondere auf P. Delp und Moltke abgesehen. Obwohl P. Delp in der Reihenfolge der Angeklagten der Letzte war, begann die Verhandlung damit, dass Freisler ihn als Ersten aufrief und ihm erklärte: „Nicht wahr, Pater Delp, Sie haben gedacht, dass ich Sie als Letzten ———— 61
Ernst Lautz (1887-1979), 1920 Staatsanwalt, 1936 Generalstaatsanwalt am Kammergericht in Berlin, 1936 -1939 am Oberlandesgericht Karlsruhe, 1939-1945 Oberreichsanwalt am Volksgerichtshof, 1947 Verhaftung zu zehn Jahren Zuchthaus, 1951 vorzeitig entlassen. Seine Pension wurde erst nach jahrelangen Auseinandersetzungen gekürzt.
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hören werde, damit Sie aus den Einlassungen der übrigen Angeklagten Ihr Verteidigungsvorbringen zusammentragen können, ähnlich wie die Biene den Honigseim aus den Blüten saugt.“ Die Haltung P. Delps war bewunderungswürdig. Man merkte ihm an, dass er mit dem Leben abgeschlossen hatte und so glich seine Verteidigung mehr oder minder der des Sokrates vor seinen Richtern, die, wie der Volksgerichtshof, entschlossen waren, auch ihn in den Tod zu schicken. Einen Vorgang möchte ich Ihnen doch nicht vorenthalten. Freisler hielt nämlich P. Delp vor, dass es 2 Jesuitenpatres gäbe, die den Tyrannenmord gebilligt hätten. Es seien das die Patres Mariana 63 und Suarez 64 gewesen, aber – fügte er hinzu: „Ich weiß wohl, der Vatikan hat sie desavouiert, aber, nicht wahr, Pater Delp, wir wissen beide, der Vatikan sagt nein, wenn er ja denkt und sagt ja, wenn er nein meint.“ Es war, beinahe hätte ich gesagt, amüsant, mit welcher Begeisterung die 3 Laienbeisitzer, kleine Spießbürger aus Berlin, auf den Herrn Vorsitzenden schauten. Man merkte ihnen an, dass sie sehr angetan waren von dem Wissen des Herrn Vorsitzenden. Erst später erfuhr ich, wie er zu diesem Wissen gekommen war. Ein bayerischer Adeliger, Freiherr v. Leonrod 65, der später ebenfalls hingerichtet wurde, hatte auf den Vorhalt Freislers, wie er als Katholik sich an einem Unternehmen beteiligen könne, das darauf hinauslief, den Führer zu ermorden, ihm erwidert, auch er habe Bedenken gehabt und habe deshalb seinen Beichtvater, den Pfarrer Wehrle 66 von Hl. Blut in München um Rat gefragt. ———— 62
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Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde Freisler, seit Oktober 1915 in russischer Gefangenschaft, in einem Kriegsgefangenenlager nach Lektüre marxistischer Schriften „bolschewistischer Kommissar“ und Lagerverwalter. Gert Buchheit, Richter in roter Robe. Freisler. Präsident des Volksgerichtshofs, München 1968, S. 16f. Juan de Mariana SJ (1536-1624), lehrte Theologie in Rom, Sizilien, Paris und Toledo. Gegenüber dem fürstlichen Absolutismus rechtfertigte er in „De rege et regis institutione“ (1599) den Tyrannenmord als äußerstes Mittel. Francisco Suárez SJ (1548-1617) („doctor eximius“), lehrte an spanischen Jesuitenkollegien, am Römischen Kolleg (an der späteren Gregoriana), in Alcalá, Salamanca und Coimbra. Seine aus der Vertragstheorie abgeleitete Widerstandslehre entwickelte er in der gegen König Jakob I. von England (15661625) gerichteten Schrift „Defensio fidei“ (1613). Ludwig Freiherr von Leonrod (1906 -1944), Berufsoffizier, Major, Bamberger Regimentskamerad Stauffenbergs, verhaftet am 21. Juli, hingerichtet am 26. August 1944. Leonrod berichtete unter der Folter über das Seelsorgsgespräch (keine Beichte) mit Wehrle vom 13. Dezember 1943. Genaue Schilderung der Vorgänge bei Jürgen Strötz, Ludwig Freiherr von Leonrod (1906-1944), in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 39 (2005), S. 615- 630; vgl. Helmut Moll (Hg.), Zeugen für Christus. Das Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Bd. 1-2, 4. Aufl. Paderborn 2006, S. 414f., 390f. (Beiträge von Georg Schwaiger). Dr. Hermann Joseph Wehrle (1899 -1944), 1942 Priesterweihe, Kaplan der Pfarrei Heilig Blut, verurteilt und hingerichtet am 14. September 1944. Er fehlt in den Biographien der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.
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Der hätte ihm gesagt, dass diese beiden Patres den Tyrannenmord für moralisch zulässig gehalten hätten, er aber – Wehrle – sei anderer Meinung. Dies hatte zur Folge, dass Freisler Wehrle sofort verhaften ließ, zum Tode verurteilte, worauf dieser hingerichtet wurde. Wehrle war ein guter Freund von P. Delp, den ich auch kennen gelernt hatte. Ich brauche nun nicht weiter auf die Verhandlung einzugehen. Am zweiten Tage wurde die Verkündung des Urteils nach Abschluss der Plädoyers auf den 11.1.1945 nachmittags zwischen 4-5 Uhr festgesetzt. Der Staatsanwalt beantragte, mit Ausnahme von Fürst Fugger, gegen alle Angeklagten die Todesstrafe. Bei dieser Gelegenheit kam ich zum letzten Mal mit P. Delp zusammen. Pater Delp, Graf Moltke und ich saßen nebeneinander auf dem Gang vor dem Sitzungszimmer, umgeben von Gestapoleuten, SS-Männern und Kriminalbeamten – einem Riesenaufgebot – und warteten auf den Beginn der Verhandlung. Ich frug P. Delp, wie es ihm gehe. Er sagte: Sehr gut. Er habe heute morgen, wie immer in seiner Zelle, wohin ihm der notwendige Wein und die Hostien geschmuggelt worden sind, die hl. Messe gelesen und später habe er eine sehr gute Zigarre geraucht. In Erinnerung an den hl. Augustinus, der bei der Belagerung Roms durch die Vandalen den Frauen und Jungfrauen Roms, als sie ihn frugen, ob sie den Freitod wählen sollten, um der Vergewaltigung zu entgehen, erklärt hatte, dass das nicht sein dürfe, frug ich ihn, ob er auch diese Meinung habe und ob es sich nicht moralisch rechtfertige, wenn man nach einem ergangenen Todesurteil wisse, dass man hingerichtet werde, sich dem schimpflichen Galgentod durch Selbstmord zu entziehen, worauf er mit dem ihm eigenen Humor, der ihn auch in diesem schweren Augenblick nicht verließ, erwiderte, er würde dem Henker nicht die Arbeit abnehmen. Während wir noch so sprachen, kam mein Verteidiger, rief mich zur Seite und eröffnete mir, während er mir gleichzeitig gratulierte, ich sei nicht zum Tode verurteilt, sondern bekäme 5 Jahre Zuchthaus. Auf meine Frage, was mit den anderen sei, sagte er mir, dass Dr. Gerstenmaier 7 Jahre Zuchthaus, Fürst Fugger 3 Jahre Gefängnis bekämen. Alle Anderen seien zum Tode verurteilt! Ich kehrte wieder an meinen Platz zurück – Sie werden verstehen, dass ich es nicht über das Herz brachte, Graf Moltke und Pater Delp zu sagen, welches Schicksal ihnen bevorstand. Wir wurden kurz darauf in den Sitzungssaal geführt und hörten unser Urteil, das P. Delp mit den andern zum Tode Verurteilten als Ehrlose feststellte, die aus der Volksgemeinschaft ausgemerzt werden müssten um der Sicherheit des Reiches willen. Das war meine letzte Begegnung mit P. Delp. Er wurde nach Tegel zurückgebracht, ich in die Lehrterstrasse. Delp musste noch schwe-
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re Tage durchstehen, wenn er auch immer wieder glaubte, dass ihm doch im letzten Augenblick der bittere Weg zum Galgen erspart bleiben würde. Am 23. Januar 1945 starben 10 Männer 67, darunter Graf Moltke, Sperr, Nikolaus Groß 68, Planck, der Sohn des berühmten Prof. Planck 69, den schmählichen Tod am Galgen. Was der Tod dieser seiner Freunde für P. Delp bedeutete, hat er in seinem Brief vom 24. 1. 1945 an Münchner Freunde niedergelegt. Er schrieb: „Heute ist ein harter Tag: nun sind alle meine Freunde und Gefährten tot und ich bin zurückgeblieben. Ich bin hier jetzt der Einzige im Eisen. Was dies bedeutet, weiß ich nicht, vermutlich nichts Gutes.“ Und noch einmal ein Hoffnungsschimmer: „Aber vielleicht ist es das notwendige Verbindungsstück zum Wunder. Ich bin sehr müde vor Traurigkeit und Schrecken. Menschlich wäre es leichter mitzugehen.“ Und er fügt hinzu: „Hoffentlich spürt ihr dort, wie es mir geht und helft mit viel beten in den nächsten Tagen.“ Was ihm trotz Trennung in den Zellen die Anwesenheit seiner Freunde in denselben bedeutete, bringt er in einem Brief vom gleichen Tag nach Berlin zum Ausdruck, wo er schreibt: „Bitte, helfen Sie mir die nächsten Tage viel beten. Mit Helmuth Moltke und den Anderen ist viel Hilfe weggegangen. Ich bin jetzt noch der Einzige hier, der das Eisen trägt.“ Am 26.1.1945 schreibt er: „Nächste Woche ist Herz-Jesu-Freitag und Marientag zugleich.“ Er ahnte es nicht, es war sein Todestag. Am 2. Februar 1945 starb er am Galgen. Pfarrer Buchholz berichtet hierüber, dass er in seinem ganzen Priesterleben noch nie einen solchen Menschen zum Tode vorbereitet hat. Wahrlich ein Vorbild der Starkmut und Geduld! Wie sein Geburtstag war sein Todestag ein Marienfeiertag. Die Tyrannen des 3. Reiches haben uns nicht einmal seinen Leib gelassen. Himmler gab den Befehl, dass die Leiche verbrannt und die Asche über die Felder zerstreut werde und Göring verlangte, dass die Asche über die Rieselfelder verstreut werde. Uns konnten sie ihn durch diese Gemeinheit nicht nehmen. Er lebt weiter in seinen Schriften, die er mit gefesselten Händen für uns schrieb und aus denen wir lernen, dass die Liebe Gottes auch über dem Leidgeprüften ———— 67
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Außer den genannten waren dies der Badische Staatspräsident a. D. Dr. Eugen Bolz (1881-1945), der Rechtsanwalt Reinhold Frank (1896-1945), der Journalist Dr. Theodor Haubach (1896 -1945), der Studienrat Hermann Kaiser (1885-1945), der Syndikus Ludwig Schwamb (1890-1945) und der Major Busso Thoma (1899-1945). Prégardier, S. 133. N. Groß (1898-1945), ab 1920 in den Christlichen Gewerkschaften, 1927 in der Verbandszentrale der Katholischen Arbeiterbewegung in Mönchengladbach und Köln tätig, 1927-1938 Schriftleiter der „Westdeutschen Arbeiterzeitung“. Max Planck (1858-1947) seit 1885 Physikprofessor in Kiel, seit 1889 in Berlin, über viele Jahre leitend in der Preußischen Akademie der Wissenschaften und in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft tätig. Siehe oben Anm. 51.
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wacht, um daraus Trost zu schöpfen in den Bedrängnissen unseres Lebens. Aber wir wissen ihn auch geborgen in einer besseren Welt, wo ihm die Krone des Lebens gereicht worden ist. Mir ist es seit [s]einem Tode gegangen wie Pfarrer Buchholz, zu dem er, [be]vor er zum Galgen ging, sagte: „Herr Pfarrer, in einer halben Stunde weiß ich mehr wie Sie.“ Buchholz sagte mit Recht, wer so vom Sterben spricht, für den hat der Tod seine Schrecken verloren. Für ihn ist der Tod ein Heimgang zu Gott und [er] fügt hinzu: „Ist es verwunderlich, wenn ich darum nicht für ihn, sondern zu ihm beten möchte, was ich seit der Zeit immer tue.“ Es hieße P. Delp völlig missverstehen, wenn ich mich darauf beschränken würde, ihn als Priester, als Widerstandskämpfer, als Märtyrer zu schildern. Sein Tod, sein Testament, das er uns in seinen Aufzeichnungen hinterließ, verlangen mehr. Sie verlangen die Beantwortung der Frage, ob wir sein Vermächtnis erfüllt haben, ob wir die Ernte in unsere Scheuern gebracht haben, deren Saat, nach einem Wort von ihm, er und seine hingerichteten Freunde gewesen sind. Sicher können wir die Ernte nur haben, wenn wir sein Vermächtnis erfüllen. Tun wir das? Bevor wir diese Frage beantworten und zwar mit aller Aufrichtigkeit beantworten wollen, lassen wir uns Rechenschaft geben über die Zeit, in der wir stehen. Der von mir schon einmal zitierte große Bischof Emmanuel Ketteler hat eine sehr einfache Geschichtstheologie entwickelt. Er sagt: „Gott hat eine gewisse Logik in die Weltereignisse gelegt, welche es mit sich bringt, dass die großen Verirrungen der Menschheit durch ihre Konsequenzen sich selbst zum Gericht und zur Zuchtrute werden.“ Wir leben in einer solchen Zeit des Gerichtes. Die Vorherrschaft der weißen Rasse ist endgültig vorüber. Sie, die einst Wind gesät haben, ernteten den Sturm des Hasses der farbigen Völker. Europa, das seine christliche Mission verraten hat, ist bedroht vom Bolschewismus. Es kann Wirklichkeit werden, was der große russische Philosoph Solowjew 70 im Jahre 1899 ausgesagt hat, dass die Chinesen ihre Pferde im Rhein tränken werden. Die Welt, für die Gott tot ist, ist bedroht vom Atomtod. Die Zeit des großen Unterganges scheint da zu sein, wie die großen Propheten Nikolaus Cusanus 7 1 , Donoso Cortez 7 2 , Jacob Burckhardt 7 3 , auch ein Oswald Spengler 7 4 mit Schaudern kommen sahen. Und Deutschland? Der von mir schon einmal zitierte Religionsphilosoph Theodor Haecker 7 5 hat im Dezember 1939 prophezeit: „Man darf anneh———— 70
Vladimir Sergeevič Solov'ev (1853-1900), am Neuplatonismus und an der christlichen Mystik orientierter Philosoph.
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men, dass die Deutschen bewusst und unbewusst alles tun werden, ungefähr alles, was heute gesprochen, geschrieben und getan wird, so rasch wie möglich zu vergessen. Erinnerungen an eine Schuld lasten, sie sind ‚lästig‘. Wo der Mensch kann, wirft er sie ab. Aber ob es gelingt, da hat Gott auch noch mitzureden.“ Wir wissen, wie sehr die Deutschen diese Prophetie wahr gemacht haben. Wir wissen, dass [...] der protestantische Pfarrer Lackmann 76 in seinem Aufsatz „Wer sind die ewig Gestrigen“ im „Rheinischen Merkur“ vom 22.1.1960 diese ewig Gestrigen verantwortlich macht für den Rassenhochmut und blinden Nationalismus, für den die an die Wand geschmierten Hakenkreuze ein Symptom sind. Vergeblich fragt man sich, wie angesichts der Ermordung von 6,5 Millionen Juden in grauenvollster Weise in den KZ’s es noch Menschen geben kann, die Judenhass predigen. Geben wir uns keinen Illusionen hin, die Nazis leben noch! Die Mörder sind noch unter uns. Aber nicht nur das. Der Materialismus, der im Osten gelehrt wird, wird bei uns im Westen gelebt. Was ist aus den Idealen geworden, für deren Verwirklichung die Märtyrer des 3. Reiches starben? Sind wir nicht alle erschüttert, wenn der gleiche „Rheinische Merkur“ mit Recht mit der Überschrift „Das grosse Ärgernis“ feststellt, dass während Tausende Katholiken, Priester und Laien, eines schrecklichen Todes starben, Papen 77, der ———— 71
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Nikolaus von Kues (1401-1464), 1448 Kardinal, 1450 Bischof von Brixen, 1458 päpstlicher Legat in Rom; Gott, Welt, Mensch in komplexen Beziehungen denkender, von Platon und der Mystik beeinflusster universaler Philosoph. Juan Donoso Cortés (1809-1853). Der Laie aus Spanien ging in seinem mehrfach übersetzten „Ensayo sobre el catolicismo, el liberalismo e el socialismo“ (1851) auf moderne Strömungen des 19. Jahrhunderts ein. J. Burckhardt (1818-1897), ab 1858 Professor für Geschichte in Basel, Vertreter der „Kulturgeschichte“. Eine alteuropäisch-humanistisch basierte zeitkritische Diagnostik bieten seine „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ (1905). O. Spengler (1880-1936), Hauptwerk: „Der Untergang des Abendlandes“ (1918/ 22), mit Betrachtungen über die Herausforderung der Europäer durch die anderen Völker der Welt und die bloße Nützlichkeitsmoral der Massen. Th. Haecker (1879-1945), 1921 konvertiert, Vertreter einer „christlichen Philosophie“ und der Rückbesinnung auf die Wurzeln des Abendlands, Mitarbeiter an der Zeitschrift „Hochland“, Gegner des Nationalsozialismus. Max Lackmann (1910-2000), 1940 Pfarrer, in der Bekennenden Kirche, später KZ-Haft in Dachau (im „Priesterblock“ Begegnung mit katholischen Amtsbrüdern). Der fruchtbare religiöse und ökumenische Schriftsteller setzte sich nach 1945 für eine mit Rom unierte evangelische Kirche ein. http://de.wikipedia.org/wiki/Max_Lackmann Franz von Papen (1879-1969), 1919 Major a.D., Gutsbesitzer, Zentrumspolitiker, 1932 Austritt aus dem Zentrum, 1932 Reichskanzler, 1933 Vizekanzler (gescheitertes Konzept der „Zähmung“), 19341939 Gesandter in Wien, 1939-1944 Botschafter in Ankara, nach Spruchkammerverfahren bis 1949 in Haft, 1960 verlieh ihm Papst Johannes XXIII. (erneut) den Titel „Geheimer Kammerherr“ (erste Verleihung 1923).
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Winfried Becker
einer der Hauptschuldigen ist, weil er Hitler zum Reichskanzler machen half, zum päpstlichen Geheimkämmerer ernannt wurde? Ist es für uns nicht schrecklich, so zu erleben, wie die großen Naziverbrecher auf diese Weise wieder rehabilitiert werden? Erleben wir nicht mit Schaudern, wie die Mehrzahl unserer Zeitgenossen ihre Seele verliert, ihr Persönlichkeitsbewusstsein, glücklich sind [!], untertauchen zu können in einer anonymen Kollektivität, den Himmel auf Erden suchen, um eines Tages das Opfer derer zu werden, die Europa schon immer bedroht haben. Konnte Friedrich Sieburg 78 nicht mit Recht ein Buch schreiben mit dem Titel „Lust zum Untergang“? 79 Sind wir alle bereit, nach besten Kräften mitzuwirken, um das Wirklichkeit werden zu lassen, was eines der Ziele der Männer des Widerstandes des Kreisauer Kreises war? In seinem Buch „Von deutscher Politik“ umschreibt dies Theodor Steltzer mit den Worten: „Unser ganzer Kreis war davon überzeugt, dass er nach dem Krieg seine Aufgabe darin sehen würde, das Christentum wieder im Leben der Völker, insbesondere auch im Leben des deutschen Volkes zur Geltung zu bringen.“ Was tun wir, dass das Christentum wieder lebendige Wirklichkeit wird? Was haben wir aus der furchtbaren Vergangenheit des 3. Reiches für die Gegenwart gelernt? Müssen wir nicht fürchten, dass der Historiker Prof. Valjavec 80 Recht bekommt, der mir einmal sagte: am meisten fürchte ich mich vor dem 5. Reich, in dem man sagen wird, Adolf Hitler hat doch Recht gehabt. Was sagt uns dazu Pater Delp? Auf seinem Gedenkstein an der Kirche von St. Georg in München steht: „Sein heiliges Anliegen war ein christliches Deutschland. Ihm opferte er mutig sein Leben.“ Seien wir uns klar, die Ernte, die uns die Toten des Widerstandes zudachten, kann von uns nur gewonnen werden, wenn wir ihr Vermächtnis erfüllen. Für sein christliches Ideal opferte P. Delp, wie gesagt, sein Leben. Zeigen wir uns dieses Opfers würdig.
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F. Sieburg (1893 -1964), Korrespondent, Literaturkritiker, Schriftsteller: historische Biographien und Übersetzungen; allerdings kein Mann des Widerstands. Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene, Hamburg 1954, weitere Ausgaben bis 2010. Gemeint wohl Fritz Valjavec (1909-1960), führender Südosteuropa-Historiker, 1943-1945 Professor in Berlin, 1952-1960 in München, Hg. des Handbuchs „Historia Mundi“, Bd. 1-10 (1952-1961), mehrerer periodischer Publikationen u.a., 1933 Beitritt zur NSDAP, beteiligt an der Volkstumsforschung des Dritten Reiches.
Vom Nutzen und Nachteil der Pfarrgeschichte für die Kirche von Josef van Elten
Im November 2010 veröffentlichte ein ehemaliger Ölmanager und späterer Spitzenpolitiker der USA ein umfangreiches Buch über die wichtigsten „Punkte der Entscheidung“ seiner politischen Laufbahn 1, in denen es auch um wichtige Fragen wie „Krieg und Frieden“ ging. Dabei formulierte er unter anderem in Bezug auf den Golfstaat Irak den Satz: „Die militärische Option war meine letzte Wahl, aber ich würde sie nutzen, sofern nötig.“ Diesem habe, so der Autor, ein ihm damals wichtiger Gesprächspartner, der heute als Gasmanager in Russland wirkt, auch zugestimmt und zugesagt, er werde im Ernstfall helfen. „Falsch!“, vernahm bald eine höchst erstaunte Öffentlichkeit aus Russland, „der Mann sagt nicht die Wahrheit!“ 2 Ein ehemaliger deutscher Bundeskanzler widersprach da ausdrücklich einem ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Was aber ist „Wahrheit“? Die Sachverhalte genau aufzuklären, jede Fußnote aller Beteiligten zu prüfen, wird der weiten Öffentlichkeit kaum und zeitnah gar nicht möglich sein. Lügt hier einer oder lügen zwei, erinnert sich einer nur schwach oder tun dies beide? Das zu untersuchen wird umfangreicher Aktenstudien in den Archiven der am Entscheidungsprozess beider beteiligter Partner bedürfen, für die es indes Sperrfristen zu beachten gibt, die den sofortigen Zugang zu den Brunnen der Erkenntnis blockieren. Sicher scheint an dieser Stelle nur, dass die „Wahrheit“ allein aus der Autobiographie, der Reaktion darauf und ihrer Behandlung in der Öffentlichkeit nicht zu gewinnen sein wird. Auch moderne und schnelle Medien mögen zwar viele Einzeldokumente indiskret weit verbreiten und damit die Neugierde der Heutigen an den Dingen von gestern bedienen, aufgrund ihrer fehlenden Vollständigkeit und mangels ihres Gesamtzusammenhangs jedoch sind diese „Quellen“ kaum abschließend zur Wahrheitsfindung geeignet. Welchen Nutzen mag dann ein solches ———— 1 2
George W. Bush, Decision Points, New York: Randomhouse (Crown Publishers) 2010. Aus den in Presse, Funk, TV und Internet weit verbreiteten (Des-)Informationen zum Ganzen sei an dieser Stelle auf Online-Ausgaben des Spiegel verwiesen: http://www. spiegel.de/politik/ausland/ 0,1518,728233-6,00.html und http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/0,1518,728205,00.html, gesehen am 28.2.2011. Der genaue Wortlaut und der exakte Verlauf der Kontroverse der beiden ehemaligen Staatsmänner sind nicht Gegenstand der vorliegenden Betrachtung.
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Buch haben? Geschichtsdarstellung? Rechtfertigung? Selbstdarstellung zur Befriedigung eigener Eitelkeiten? Unterhaltung? Aut prodesse volunt aut delectare poetae – nutzen möchten die Dichter oder doch wenigstens unterhalten! 3 – das gilt nicht nur für Dichter, sondern für jeden und alle Literaturschaffenden, zu denen auch Politiker, Journalisten und Historiker gehören. Jemandem schaden möchten sie in der Regel sicher nicht – und wenn, würden sie es kaum sagen. Selbst wenn am Ende der Zweck nur ein kommerzieller ist, ist es doch ein anerkannter Zweck. Bildung und Unterhaltung gleichermaßen zeichnen die Werke kluger Biographen aufs, welche manche Ungenauigkeiten der in ihrem Schreiben befangenen Autobiographen durch ihr forschendes Geschick richtigstellen 4 und somit der Geschichte und mittelbar „der Wahrheit“ dienen können. Es könnte daher angezeigt sein und der modernen Zeit sogar entsprechen, also „zeitgemäß“ sein, die überbordende Flut an Büchern, Zeitschriften- und Zeitungsartikeln zu geschichtlichen Themen und Personen umfassend in den Blick zu nehmen und auf ihren Sinn oder Unsinn, Nutzen oder Schaden zu prüfen. Eine solche Schau hätte dann mindestens ein großes Vorbild. Denn bereits 1869 machte sich der in Basel lehrende Gräzist und Professor der Klassischen Philologie Friedrich Wilhelm Nietzsche (18441900), damals gerade 25 Jahre alt, seine Gedanken „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ 5 und veröffentlichte sie als zweiten Teil einer Reihe, die er selbst „Unzeitgemäße Betrachtungen“ nannte. Viele der darin enthaltenen Äußerungen erscheinen höchst aktuell, und so soll an dieser Stelle der Versuch gewagt werden, die Grundgedanken und -ideen daraus vorzustellen und auf die moderne Literatur zur Geschichte anzuwenden. Um aber nicht ins Beliebige abzuschweifen, beschränkt sich die folgende Darstellung auf die Kirchengeschichte und näherhin auf die Geschichte der Pfarreien, der Ortskirche auf ihrer unteren Ebene. Jeder Christenmensch wird in seiner Ortskirche getauft, schließt hier seine Ehe, wird in den Stan———— 3 4
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Horaz, Ars poetica 333. Man vergleiche nur als beliebiges Beispiel die autobiographischen Skizzen „Für die Menschen bestellt. Erinnerungen des Alterzbischofs von Köln Josef Kardinal Frings“, Köln, 1. Aufl. 1973, mit dem zweibändigen Werk von Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887-1978), Band I: Sein Wirken für das Erzbistum Köln und für die Kirche in Deutschland, Paderborn 2003; Band 2: Sein Wirken für die Weltkirche und seine letzten Bischofsjahre, Paderborn 2005. Die hier benutzte Textausgabe ist: Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (= Reclams Universal-Bibliothek 7134 [2]), Stuttgart 1977. Der Text folgt nach den Angaben S. 2 der Nietzsche-Ausgabe von Karl Schlechta; der Reclam-Editor und Verfasser des kurzen begleitenden „Nachwortes“ (S. 113-117) bleibt mit seinen Initialen K. N. vornehm im Hintergrund.
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desregistern „seiner“ Pfarrei geführt und hat hier den normalen Ort für sein Totengedenken; die Christen erhalten vor allem hier ihre religiöse Bildung und Formung, erleben die Feier des Glaubens im Gottesdienst, und damit scheint auch die Geschichte der Pfarreien und Ortskirchen ausreichende Begründung zu besitzen, einer solchen (un)zeitgemäßen Betrachtung unterzogen zu werden.6 Doch der erste Blick in die kirchengeschichtlichen Bibliographien, in die kirchliche Publizistik überhaupt oder in die unzähligen kirchlichen Seiten des Internet führt zu der erstaunlichen Beobachtung, dass die Geschichte der Pfarreien viel weniger erforscht zu sein scheint als die Geschichte etwa der Bistümer und Bischöfe. Ist dieses Ergebnis möglicherweise doch nicht ganz überraschend, weil jahrhundertelang die Geschichte der Führungskräfte und -einrichtungen ganz im Stile einer Herrschaftsgeschichtsschreibung den Vorzug vor anderen Themen besaß, wird wiederum an anderer Stelle den Klöstern und Stiften der Vorzug wissenschaftlicher Bearbeitung gerne gewährt und gar ein Standard entwickelt, der die Geschichten der geistlichen Anstalten etwa in der „Germania Sacra“ vergleichbar werden lässt. Die eigentliche Normalform kirchlicher Organisation, die untere Verwaltungsebene der Kirche, die Pfarrei also, hat es zu solcher Normalisierung ihrer Geschichte nicht bringen können. Viele Versuche, die Geschichte der Pfarreien einer Diözese flächendeckend darzustellen, verliefen im Sande. Das ist erstaunlich, da die Pfarreien, zumal die älteren, in ihren Archiven oft uralte und reiche Überlieferungen vorhalten, die nicht selten älter sind als die kommunalen Akten ihrer Sitze und die sich gut auswerten lassen. Dabei fehlt es auch nicht an Empfehlungen oder gar Vorschriften, zumal an den Pfarrklerus, die Geschichte ihrer Kirchen kennenzulernen, zu beschreiben und ihrer Überlieferung getreu zu bewahren. Ehe nun einzelne Fragen um den Nutzen oder auch Nachteil der Pfarrgeschichte näher behandelt werden können, mag ein erster Blick in Nietzsches Text erfolgen. In seinem Traktat, der rund 100 Druckseiten umfasst, unterscheidet Nietzsche zunächst das erinnerungslos und damit auch geschichtslos lebende Tier vom Menschen (S. 7-8), welches im Glück des ewig selben Augenblicks lebt, während der Mensch aufgrund seines Erinnerungsvermögens an Vergangenes ein solches Glück nie erfahren kann. Die erste Erkenntnis Nietzsches ist, dass jede Erinnerung den Menschen positiv wie negativ prägen könne; der historische Zustand des Sich-erinnern-Könnens allein beunruhige den Menschen, und Glück und Ruhe erfahre der Mensch nur, wenn er auch unhistorisch leben könne (S. 11). Nun treibe die Erinne———— 6
Wenn nachfolgend der Terminus „Geschichte“ benutzt wird, ist damit vor allem „Geschichtsschreibung“ gemeint und somit auch die Darstellung der Geschichte und ihrer Abläufe.
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rung den Menschen zwar immer zu neuen Taten an, aber die Momente der Entscheidung fielen nicht im Zustand historischen Bewusstwerdens, sondern im Gegenteil in Phasen voller Leidenschaft und unhistorischer, sogar widerhistorischer Begehrlichkeit (S. 12-13). „Unzeitgemäß“ seien diese Beobachtungen, so Nietzsche (S. 4), weil sie die historisch-historistische Bildung ihrer Zeit in Frage stellten und den Stolz der kulturellen Leistung in Geschichtsbetrachtung und Geschichtsschreibung als möglichen Fehler entlarvten. Die Geschichte gehöre dem Menschen in dreierlei Hinsicht; „sie gehört ihm als dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen“. Von dieser Dreiheit der Nutzer von Geschichte her unterscheidet Nietzsche drei Formen von Geschichte: „eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie“ (S. 19). In ihrer jeweils reinen Form hätten alle drei Formen ihre Berechtigung und auch ihre Vorzüge; einseitig verwendet würde jede Form für sich aber schädlich wirken. Wenn die monumentalische Geschichte nur den Starken und Mächtigen gelte, würden die Nicht-Mächtigen, die unteren Gruppen also, in Nutzung der Monumentalität zum größten Kampf gegen die Übermacht des in der Geschichte Mitgeteilten aufstehen (S. 20-21). Auch berge die von oben herab betriebene Geschichte die Gefahr, man könne glauben, dass sich nahezu jeder Vorgang unter ähnlichen geschichtlichen Konstellationen wiederholen lasse (S. 2223). Den Unterschied zwischen den causae, den Ursachen, und den effectus, den Wirkungen, dürfe man nicht übersehen und verwischen (S. 23), und monumentalische Geschichte in falscher Hand könne die Vergangenheit selbst beschädigen. Die antiquarische Geschichte, das bewahrende und unreflektiert einfache Bewahren alter Traditionen und Erinnerungen, führe zwar zu einem gewissen „Wohlgefühl“ (S. 29), berge aber den Konflikt zwischen etwas als gut befundenem Alten und dem unbekannten Neuen in sich. Die Geschichte stehe somit in der Gefahr, der Entwicklung des Lebens entgegenzustehen. Die kritische Geschichte als dritter Teil führe zu anderen Gefahren; aus der Schau nachgewiesener oder gefühlter Unterdrückung könnten als Reaktion „Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen“ (S. 33) folgen. Nietzsches trübe Erkenntnis, die unterschiedlichen Formen von Geschichte als Wissenschaft zu begreifen und zu pflegen, gipfeln schließlich in dem Spruch Fiat veritas pereat vita – (Es geschehe die Wahrheit, es gehe zugrunde das Leben.) (S. 36). Welche einzelnen Autoren geschichtlicher Werke Nietzsche im Auge hatte, ist, da er kaum Namen nennt, unklar; deutlich ist jedenfalls seine Warnung, der Geschichte im Leben zu großen Raum einzuräumen (S. 44-
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45). Bemerkenswert ist seine Kritik, dass durch das sich verbreitende Buchund Pressewesen zu viel Unruhe ausgelöst werde: „Noch ist der Krieg nicht beendet, und schon ist er in bedrucktes Papier hunderttausendfach umgesetzt, schon wird er als neuestes Reizmittel dem ermüdeten Gaumen der nach Historie Gierigen vorgesetzt.“ (S. 45). Um wie viel schärfer würde diese Kritik wohl in einer Zeit ausfallen, in der Geschwindigkeit und Umfang der Informationen und ihrer Nutzer nahezu ohne Zeitverlust die Erde umgreifen! – Weitere Aspekte, die Nietzsche interessieren, betreffen den Zusammenhang von Historie und Gerechtigkeit (S. 44), von Geschichte und Geschichten (S. 47) oder den Satz: „Die Geschichte wird nur von starken Persönlichkeiten ertragen, die schwachen löscht sie vollends aus.“ (S. 49). Ebenso steht die Frage nach dem Objektiven und Subjektiven im Raum (S. 51), die wiederum sich auswirkt auf die Gerechtigkeit (S. 53-60). Insgesamt wirbt Nietzsche für eine Ausgewogenheit der von ihm festgestellten historischen Genera und für einen kreativen, ja fast künstlerischen Umgang mit Geschichte durch eine Generation, „dem eine Art von ironischem Selbstbewusstsein“ zu Eigen ist. Die gesamte Gedankenwelt Nietzsches in Bezug auf die Historie und ihre Vorzüge oder Nachteile wäre noch tieferer Analyse wert. Im Folgenden geht es aber um die Frage, ob sich einige von Nietzsches Ideen in der Pfarrhistorie finden lassen und welche das sind. An einem zentralen Thema, der Gründung, Umstrukturierung und Aufhebung von Kirchengemeinden und ihren Strukturen, lassen sich monumentalische, antiquarische und kritische Sichtweisen zeigen, die meistens nicht ganz rein daherkommen, sondern vermischt sind und überdies auch vom jeweiligen Publikationszweck abhängen. Der Vorgang selbst, die Gründung einer Pfarrei und die Herstellung kirchlicher Verwaltung auf der unteren Ebene, ist scheinbar einfach. Der zuständige Ortsbischof besitzt die Organisationsgewalt in seinem Sprengel und darf unter Beachtung verschiedener Regeln Strukturen bilden, zusammenlegen oder aufheben. Bei der laufenden Strukturreform im Erzbistum Köln, die mit breiter Diskussion aller am Prozess Beteiligten verbunden ist oder sein sollte, ist bisweilen zu hören, „Köln“ (als Synonym für „Erzbischof, Generalvikar, alle Verwaltungsleute im Generalvikariat“; gemeint sind auch, unausgesprochen: „alle, die gegen die kleine Ortskirche sind“) nehme alles weg, darunter auch pfarrliches Eigentum. Das strukturell dazu passende biblische Zitat aus Ijob 1,21: „Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter; nackt kehre ich dahin zurück. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn.“ fehlt zumeist. Wird die Pfarrgründung im Mittelalter, in der frühen Neuzeit, im 19. oder 20.
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Jahrhundert als nahezu gottgegeben begrüßt und als Erfolg der kirchlichen Arbeit in einem Ort regelmäßig bei Jubiläen gefeiert, geschieht das in der Regel nur auf Seiten der gegründeten Pfarrei und nicht in der Ursprungspfarrei, die Territorien und Menschen hatte abgeben müssen. Während also die einen ihre Gründung feiern und sich ihres Zustandes ganz antiquarisch freuen, verschweigen die anderen ihre Abgabe und ihre mögliche Kritik daran (ob es nun ein Verlust an Einfluss war oder ein Gewinn an Freiheit in der Seelsorgearbeit, steht dahin), und aus monumentalischer Sicht lässt sich einfach mitteilen, dass der Erzbischof eine Pfarrei gegründet hat. Während in der jüngsten Strukturreform die kritische Historie den Wiederverschmelzungsprozess beklagt und dagegen aufbegehrt, kann die monumental argumentierende Seite ganz ruhig bleiben und einfach das Faktum veröffentlichen. Gleiches gilt wesentlich auch für die Feier von Kirchenjubiläen. In der Freude über das 150-, 100- oder 50jährige Bestehen einer Pfarrkirche wird oft erwähnt, dass die örtliche Bevölkerung das Gotteshaus selbst gebaut und finanziert habe, und die Umwandlung dieser Kirche in eine „sonstige Kirche“ während der Neuaufstellung von Pfarreien wird oft als unbillige Härte empfunden. Indes wäre die Frage des Geldes dann auch zu berücksichtigen im Zusammenhang mit den Wiederaufbauarbeiten und Renovierungen nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Zeit, da die Solidargemeinschaft der Kirchensteuerzahler viele Bauprojekte ermöglichte, die ohne diese Steuer örtlich unfinanzierbar gewesen wären. Die kritisch sich gebärdende Geschichtsschreibung dieser Art entlarvt sich bei näherem Hinsehen als antiquarisch und dann auch noch als bewusst oder unbewusst verkürzend. Überhaupt scheint es eine auf die genaue Beschreibung rechtlicher, finanzieller und kultureller Begebenheiten ausgerichtete Historie sehr schwer zu haben. Das typische pfarreibildende Argument etwa der langen (Fuß-)Wege von einem entlegenden Vorort zur weit entfernten Pfarrkirche könnte, käme es nur auf die Wegstrecke selbst an, auch heute noch beigezogen werden, wirkt aber fremd in einer Zeit, die über andere, schnellere und durchaus erschwingliche Transportwege von einem Ort zum anderen verfügt. Manche Begründungen, obwohl gut formuliert, taugen letztlich nicht als Kampfinstrument der kritischen Historie, begründen auch nicht die Notwendigkeit der Erhaltung eines alten Zustandes und können auch nicht recht anspornen, wie in der alten Geschichte zu handeln und forsch nach vorne hin schwierige Wege einzuschlagen. Ein letzter Blick gilt noch den Forderungen an die Geschichte, wie sie an die Pfarrer und Seelsorger gestellt werden. Bestand in der alten Kirche vor 1800 vor allem ein rechtliches Interesse an alten Urkunden und Akten, um
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die Herleitung und Zweckbindung von Kapitalien zu dokumentieren und eine kluge und richtige Pfarrverwaltung zu ermöglichen, gründete sich der Rückgriff auf Nachrichten in den Kirchenbüchern vor allem auf erforderliche Standesnachweise zum Zweck einer Heirat oder zur Mitgliedschaft einer stipendienfähigen Familie, zur Feier einer Totenmesse am „richtigen“ Tag und anderen Zwecken, sind die pfarrlichen Quellen erst seit dem 19. Jahrhundert auch zu Brunnen der Ereignis- und Strukturgeschichte geworden, die ihren Zweck über die reine Pfarrverwaltung hinaus hatten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sind die Pfarrer und Rendanten (Rechnungsführer) der Kirchen auch gehalten, die wesentlichen Fakten zu ihren Bauten, zumal zur Kirche, aufzuschreiben, und dies zunächst in den „Lagerbüchern“, dann im „Urkundenbuch“ und zuletzt auch in der „Pfarrchronik“, deren Abfassung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verbindlich gemacht wurde. Den Bischöfen und Generalvikaren ging es bei dem Erlass einschlägiger Vorschriften7 zunächst darum, dass durch eine Chronik der Amtsnachfolger in einer Pfarrei wusste, woran er mit seiner neuen Stelle war, in welcher Tradition er sich begab und wo die Besonderheiten und das Normale seiner nach Pfarrei lag. Dabei erfuhr er auch in der Regel, ob man in den letzten Jahren am „Weißen Sonntag“, dem hinsichtlich der Klimadaten bestdokumentierten Sonntag der ganzen Kirche, die Kinder bei strahlender Sonne, schwerem Regen oder leichten Schneefall zur Erstkommunion führte. Diese Wetternachricht findet sich in der Regel nicht im Register der Erstkommunikanten. Man mochte das Wetter vielleicht schlecht finden und kritisieren, aber es blieb hier immer bei einer rein antiquarischen Darstellung. Was aber bezweckt die Pfarrchronik als amtlich verordnete Geschichtsschreibung dann sonst? Es geht weniger um die Faktendarstellung – diese ist nötig, soweit sie sich aus Akten nur schwer und unübersichtlich zeigt und ermitteln lässt. Die zur Abfassung der Chronik aufgerufenen Geistlichen sollen sich vielmehr in die kritische Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Wirken ihres Tuns begeben und sich dabei auch ihrer Meinung zum eigenen Handeln stellen. Dabei ist eigene Meinung, ausdrückliche Wertung und möglicherweise auch Distanzierung von Fehlwegen erwünscht – und diese Art der Geschichte, die enorm analytische Wirkung haben könnte, umfasst dann alle durch Nietzsche vorgezeichnete Arten der Historie, die viel Nutzen bringen kann, aber auch Schaden, wenn sie unter Missachtung von Sperrfristen (die vor allem Schutzfristen sind und keine Verhinderung von Forschung bewirken sollen) zur Unzeit, also zu früh, öffentlich gemacht ———— 7
Zuletzt: Ordnung zur Führung der Pfarrchronik, in: Amtsblatt des Erzbistums Köln, Jahrgang 2004, Nr. 103, S. 101-102.
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wird. Die moderne Pfarrgeschichtsschreibung ist öffentlich in ihrer Dokumentation, als Vorlage rückblickender und gleichzeitig vorausschauender Arbeit ein eher diskretes Instrument. Nietzsches Typologie, die unter den Bedingungen moderner Forschung sicher erweiterungsfähig ist, erweist auch 144 Jahre nach Erscheinen eine außergewöhnliche Frische im Denken.
Katholisches Leben in Leipzig. Eine historische Skizze von Ulrich von Hehl
Leipzig und namentlich sein vom Promenadenring umschlossenes historisches Zentrum, das inzwischen strahlend aus der Tristesse des DDRSozialismus wiederauferstanden ist, präsentiert sich dem auswärtigen Besucher nicht eben als Inbegriff einer christlich geprägten Stadt. Abgesehen davon, dass die Zahl der Konfessionslosen mit 84,1 Prozent exorbitant hoch ist und den Durchschnitt der mitteldeutschen Bundesländer noch übertrifft 1, haben in der Innenstadt lediglich zwei mittelalterliche Kirchenbauten die Zeitläufte überdauert: die als Heimstätte der Thomaner weithin bekannte Thomaskirche sowie die in besonderer Weise mit den Friedensgebeten und der Friedlichen Revolution von 1989 verbundene Nikolaikirche. Beide dienen den evangelisch-lutherischen Innenstadtgemeinden als Pfarrkirche.2 Alle übrigen einst innerhalb des Mauerrings gelegenen Gotteshäuser und Kapellen haben den mannigfachen baulichen Veränderungen der Handels- und Messestadt oder den Folgen von Kriegszerstörungen weichen müssen, darunter als letzte die 1968 gesprengte Universitätskirche St. Pauli. Sie freilich hatte den Zweiten Weltkrieg nahezu unbeschädigt überstanden, wurde dann aber ein Opfer der Kulturbarbarei der SED, die unter „sozialistischer Großstadterneuerung“ einen kirchenfreien Raum verstand.3 Immerhin nimmt der zurzeit fertiggestellte Neubau des Universitätshauptgebäudes in überzeu———— 1 2
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Stadt Leipzig. Statistisches Jahrbuch 2008, 25. Vgl. zu erster Orientierung Gerhard Pasch, Kirchen in Leipzig und Umgebung, Leipzig 1996, passim; Stephanie v. Aretin u.a., Leipzig und seine Kirchen, Leipzig 2006, 14 - 33. Zur insgesamt unbefriedigenden Forschungslage über die Leipziger Kirchen und Klöster im Mittelalter jetzt Markus Cottin, Leipzig im Mittelalter. Stand der Forschung, in: ders. / Detlef Döring / Michael Schäfer, 1000 Jahre Leipzig. Forschungsstand zur Stadtgeschichte im Vorfeld des Jubiläums der Ersterwähnung von 1015, Beucha 2009, 6- 35, hier 21-25. Aus der Fülle einschlägiger Publikationen vgl. Clemens Rosner (Hrsg.), Die Universitätskirche zu Leipzig. Dokumente einer Zerstörung, Leipzig 1992; Katrin Löffler, Die Zerstörung. Dokumente und Erinnerungen zum Fall der Universitätskirche Leipzig, Leipzig 1993; Christian Winter, Gewalt gegen Geschichte. Der Weg zur Sprengung der Universitätskirche Leipzig, Leipzig 1998; Matthias Middell / Charlotte Schubert / Pirmin Stekeler-Weithofer (Hrsg.), Erinnerungsort Leipziger Universitätskirche. Eine Debatte, Leipzig 2003 (= Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Reihe B, Bd. 2); Rüdiger Lux / Martin Petzoldt (Hrsg.), Vernichtet, vertrieben – aber nicht ausgelöscht. Gedenken an die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig nach 40 Jahren, Berlin 2008; Hartmut Mai, Die Universitätskirche St. Pauli, in: Geschichte der Universität Leipzig 1409-2009, Bd. 5: Geschichte der Leipziger Universitätsbauten im urbanen Kontext, Leipzig 2009, 77-132 und 608-611.
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Ulrich von Hehl
gender architektonischer Zitation und einfühlsamer Innenraumgestaltung die Erinnerung an die Paulinerkirche auf.4 In äußerer Hinsicht zählt Leipzig somit wie Frankfurt am Main und anders als etwa Köln oder Erfurt zu den Großstädten, in denen das Kirchliche, zumindest dem optischen Eindruck nach, ganz an den Rand gedrängt ist. Hierzu passt, dass die Pleißemetropole als die einzige deutsche Großstadt gilt, in der es keine katholische Kirche im Bereich der Innenstadt gibt. Denn die 1847 geweihte neogotische Propsteikirche St. Trinitatis, zwar außerhalb des Ringes, aber doch in Sichtweite des Neuen Rathauses gelegen, hat den Krieg nur als Ruine überstanden; ihr Wiederaufbau wurde trotz vielfältiger Bemühungen vom SED-Regime nicht genehmigt; ein überaus reparaturanfälliger Neubau entstand nach jahrzehntelangem Hinhalten erst Anfang der 1980er Jahre weit abseits der inneren Stadt, in der Nähe des Zoos. Eine Rückkehr der Gemeinde in die Nähe des alten Standorts wird derzeit jedoch vorbereitet. Angesichts der damit auf die Propsteigemeinde zukommenden Herausforderungen ist es naheliegend, sich zumindest überblicksartig der historischen Wurzeln kirchlichen, näherhin katholischen Lebens in Leipzig zu vergewissern, zumal 2010 an den 300. Jahrestag des Wiederingangkommens katholischer Seelsorge in Leipzig erinnert worden ist. Dabei ist nach den spezifischen Bedingungen zu fragen, wie sie sich für die Seelsorge aus den Folgen der Reformation, aber auch aus den Säkularisierungs- und Entchristlichungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts ergeben.5 Gerade eine Kirche in doppelter Diasporasituation – gegenüber der größeren evangelischen Schwesterkirche wie, gemeinsam mit dieser, gegenüber einer nichtchristlichen Bevölkerungsmehrheit – hat sich die Frage zu stellen, woher sie kommt, wenn sie wissen will, wohin es künftig gehen soll.
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Vgl. hierzu Birk Engmann, Der große Wurf. Vom schwierigen Weg zur neuen Leipziger Universität, Beucha 2008. Eine historisch-kritische Untersuchung katholischen Lebens in Leipzig fehlt. Allerdings ist eine vierbändige wissenschaftliche Stadtgeschichte in Vorbereitung, in der es angemessene Beachtung finden wird. Wichtige Aufschlüsse sind ferner von einem derzeit laufenden Dissertationsvorhaben „Die katholische Kirche in Sachsen 1850 - 1921“ von Benjamin Gallin zu erwarten. Als ersten Überblick vgl. einstweilen Johann Neudert, Katholische Kirche Leipzig seit 1710 und die Propsteigemeinde, Leipzig o.J. [1997], der indessen auf Quellen- bzw. Literaturnachweise verzichtet.
Katholisches Leben in Leipzig
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1. Mittelalterliche Anfänge 2015 wird Leipzig den tausendsten Jahrestag seiner schriftlichen Ersterwähnung feiern. Kaum zufällig verdankt die Stadt dieses Zeugnis einem Mann der Kirche, dem Bischof Thietmar von Merseburg (1009-1018). Von ihm ist eine Chronik auf uns gekommen, der wir wichtige Einblicke in die Markenund Missionspolitik der sächsischen Kaiser verdanken. Thietmar selbst agierte im engsten Umfeld der Ottonen; er verfügte also über eine besondere Königsnähe.6 Eher beiläufig hält er in seiner Chronik fest, dass Bischof Eid (992-1015), Oberhirte des Nachbarbistums Meißen, am 20. Dezember 1015 in der Burg Leipzig (in urbe Libzi) verstorben sei. Und noch ein weiteres Mal taucht der Name Leipzigs auf, als Thietmar unter dem 3. November 1017 notiert, Kaiser Heinrich II. habe ihm die drei Kirchen in Leipzig, Ölschütz und Geusa (tres quoque aecclesias in Libzi et in Olscuizi ac in Gusna) verliehen, womit offenkundig das Recht verbunden war, über deren Einkünfte und die Einsetzung der Pfarrer zu verfügen. Dass ausgerechnet ein kirchliches Zeugnis am Beginn der schriftlichen Überlieferung der Leipziger Stadtgeschichte steht, ist keine Überraschung. Denn abgesehen davon, dass im mittelalterlichen Reich die hohen Kleriker und die Mönche als nahezu einzige lesen und schreiben konnten, vor allem aber auch des Lateinischen kundig waren, kam der Kirche mit ihrer Glaubensbotschaft und ihren organisatorischen Strukturen auch erstrangige Bedeutung für die Missionierung der Slawen zwischen mittlerer Saale und Neiße zu. Mehr noch: Indem Heinrich I. und seine Nachfolger seit dem frühen 10. Jahrhundert die deutsche Herrschaft schrittweise nach Osten (und Nordosten) ausdehnten, eine lebhafte Kolonisationstätigkeit deutscher Siedler in Gang setzten und die ortsansässige slawische Bevölkerung dem deutschen Machtanspruch unterwarfen, war der Kirche die Aufgabe gestellt, die Ostsiedlung zu begleiten und zu festigen, auch deshalb, weil Otto I. 962 mit der Krönung zum römischen Kaiser zugleich das Amt des obersten Schutzherrn der Christenheit übernommen hatte. So wurden überall im Gebiet des ———— 6
Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung, hrsg. von Robert Holtzmann (= MGH SS rer. Germ., n.s. 9), Berlin 1935, ND 1996; Thietmar von Merseburg, Chronik, übers. und erläutert von Werner Trillmich (= Frhr. vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 9), 8. Aufl. mit Nachtrag von Steffen Pätzold, Darmstadt 2002; zu rascher Orientierung vgl. Helmut Beumann, Thietmar, Bischof von Merseburg, in: Verfasserlexikon, Bd. 9, 795-801; Gerd Althoff / Ernst-Dieter Hehl, Thietmar von Merseburg, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. VIII, 694-696; zum allgemeinen Umfeld jetzt überaus perspektivenreich: Arnold Angenendt, Die Welt des Thietmar von Merseburg, in: Zwischen Kathedrale und Welt. 1000 Jahre Domkapitel Merseburg. Aufsätze, Petersberg 2005, 35- 62.
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heutigen Sachsen seit etwa der Mitte des 10. Jahrhunderts befestigte Stützpunkte, so genannte Burgwarde, errichtet, in denen zugleich auch eine Kirche gebaut wurde. Einer davon ist die eben genannte Burg Leipzig.7 Das Ausgreifen der deutschen Macht erforderte zwingend auch die Neuerrichtung kirchlicher Administrationsbezirke. Sie erfolgte im Jahre 968 durch Gründung des Erzbistums Magdeburg und seiner drei Suffraganbistümer Merseburg, Zeitz und Meißen. Nach Umfang wie Besitzverhältnissen zählten letztere zu den kleineren Bistümern; sie vermochten nie jene Bedeutung zu erlangen, wie sie vielen ungleich reicher ausgestatteten Diözesen im Westen und Süden des Reiches zukam, deren Wurzeln großenteils bis in die Römerzeit zurückreichen. Zeitz verlor überdies 1028 den Bischofssitz an Naumburg; Merseburg wurde zeitweise wieder aufgehoben und erst 1004 in verkleinertem Umfang wieder errichtet. Bischof Thietmar hatte denn auch zeitlebens für die Festigung seiner Diözesangrenzen Sorge zu tragen. Das Bistum Meißen war am Sitz einer Hauptburg Heinrichs I. gegründet worden; es war der am weitesten nach Osten vorgeschobene christliche Vorposten und daher auch stets in die Kämpfe einbezogen, die sich in diesem Grenzland aus den konkurrierenden Machtansprüchen deutscher, polnischer und böhmischer Herrscher ergaben.8 Überhaupt wird man sich das Vordringen des Christentums in diesen rauhen und gewalttätigen Jahrhunderten nicht allzu friedfertig vorstellen dürfen. Für die unterworfenen Slawen war es die Religion der Eroberer; zeitweise wurde es eher als eine Religion des Feuers und des Schwertes denn als eine Religion der Nächstenliebe wahrgenommen, und „bei manchen Slawen [hieß der Christengott] einfach ‚deutscher Gott‘“.9 So halten sich noch lange Klagen über ein angeblich verstocktes Heidentum der Sorben. Dennoch schreitet der Ausbau des kirchlichen Lebens langsam, aber unauf———— 7
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Zum Vorstehenden wie Folgenden nach wie vor unverzichtbar Walter Schlesinger, Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter, 2 Bde., Köln-Graz 1962 (= Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 27); Karlheinz Blaschke, Geschichte Sachsens im Mittelalter, Berlin 1990, 160 -186; ders., Der Beitrag der Kirche zur Erschließung des Leipziger Landes im hohen Mittelalter; in: Lutz Heydick, Uwe Schirmer, Markus Cottin (Hrsg.), Zur Kirchen- und Siedlungsgeschichte des Leipziger Raumes, Beucha 2001, 925; sehr knapp Gerhard Graf /Markus Hein, Kleine Kirchengeschichte Sachsens, Leipzig 2005; zu Leipzig vgl. auch den Artikel im Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 8: Sachsen, Stuttgart 1990 (unveränd. ND der 1. Aufl. 1965), 178-197; Wolfgang Hocquél (Hrsg.), Archäologie und Architektur. Das frühe Leipzig, Beucha 2003; ders., Leipzig. Architektur von der Romanik bis zur Gegenwart, Leipzig 22004; eine aktuelle Bilanzierung des Forschungsstands jetzt bei M. Cottin (wie Anm. 2). Vgl. die Überblicke zur Bistumsgründung und Diözesanentwicklung bei Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches von ihren Anfängen bis zur Säkularisation, Freiburg i.Br. 2003. A. Angenendt (wie Anm. 6), 41.
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haltsam fort: Um 1100 rechnet man für den Raum des heutigen Sachsen mit etwa 60 Kirchen, also höchst weitläufigen Pfarrbezirken, die freilich der extrem geringen Besiedlungsdichte geschuldet waren. Erst in der Epoche des hochmittelalterlichen Landesausbaus, zwischen 1100 und 1300, infolge großer Siedlerströme und der Urbarmachung weiter Landstriche, verändert sich das Erscheinungsbild völlig. Damals wird Sachsen in großer Dichte von Dörfern und Städten überzogen, wie sie zumeist noch heute sein Aussehen prägen, und immer bildet ein Kirchbau den Mittelpunkt der Siedlung. Zahlreiche Beispiele dieser kulturmissionarischen Bedeutung der Kirche sind auch im heutigen Stadtgebiet Leipzigs auf uns gekommen, und oft sind die Kirchen die einzigen erhalten gebliebenen Baudenkmale aus dem Mittelalter.10 Das alte Leipzig, also vor allem das Gebiet der heutigen, einst ummauerten Innenstadt, bietet dafür hervorragende Beispiele. Die Stadt erwuchs südöstlich des alten Burgwards, der auf einem Geländesporn über der Elster-Pleiße-Aue gelegen war, etwa dort, wo sich heute das Runde Eck und Wünschmanns Hof befinden. Hier wurde im 13. Jahrhundert ein Franziskanerkloster errichtet, das in reformatorischer Zeit untergegangen ist, dessen Heiliggeistkirche nach mehrfachem Umbau und Patroziniumswechsel aber als evangelische Gemeindekirche die Zeiten überdauerte, bis sie 1943 ein Opfer des Bombenkrieges wurde. Die Straßenbezeichnung Matthäikirchhof erinnert an sie. Ob ein eventueller Vorgängerbau mit der von Thietmar erwähnten Kirche identisch ist, steht zu vermuten, ist archäologisch aber nicht nachgewiesen. Bedeutsame Kirchbauten prägten auch das Gesicht der mittelalterlichen Marktsiedlung, die sich zu Füßen der Burg, an der Kreuzung zweier bedeutender Fernstraßen, der von Westen nach Osten verlaufenden Hohen Straße und der Nord-Süd-Verbindung, der „Reichsstraße“, entwickelte. Dieser Marktort Lipzi, Libiz oder Lipz erhielt in den 1160er Jahren vom Markgrafen Otto von Meißen die Stadtrechte.11 Als älteste Gemeindekirche ist wohl St. Thomas anzusehen, auch wenn sie erst 1213 als zweite Stadtpfarrkirche genannt wird. Ihre baulichen Anfänge dürften in das frühe 12. Jahrhundert zu———— 10
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Angaben nach G. Graf / M. Hein (wie Anm. 7), 6f.; eine Übersicht über den aktuellen Bestand an Kirchen im Stadtgebiet Leipzig bei G. Pasch sowie St. v. Aretin u.a. (wie Anm. 2). Vgl. jetzt auch Ernst Eichler und Hans Walther, Alt-Leipzig und das Leipziger Land. Ein historisch-geographisches Namenbuch zur Frühzeit im Elster-Pleißen-Land im Rahmen der Sprach- und Siedlungsgeschichte, Leipzig 2010. Zum Stadtnamen zuletzt Hans Walther, Leipzigs Name im Lichte seiner Frühüberlieferung, in: Stadtgeschichte. Mitteilungen des Leipziger Geschichtsvereins e.V. Jahrbuch 2009, BeuchaMarkkleeberg 2010, 13-18; zur nicht genau datierbaren Stadtrechtsverleihung vgl. die Literaturhinweise bei M. Cottin (wie Anm. 3), 26f.
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rückgehen. 1212 übergab Markgraf Dietrich sie den nach Leipzig gerufenen Augustiner-Chorherren, die bis in die Tage der Reformation maßgeblichen geistlichen Einfluss ausübten und den Umbau zur heute noch bestehenden spätgotischen Hallenkirche veranlassten. Auf die Augustiner-Chorherren geht auch die Gründung des Thomanerchors zurück, der in Kürze sein 700jähriges Bestehen feiern kann.12 Hingegen war die um 1170 errichtete Nikolaikirche die Pfarrkirche der „Neustadt“; ihr Patrozinium erinnert an den Heiligen Nikolaus, den Patron der Kaufleute, und verweist damit auf die Bedeutung Leipzigs als Handelsund Umschlagplatz. Auch die Nikolaikirche hat in späteren Jahrhunderten wiederholt Umbauten erfahren, so Anfang des 16. Jahrhunderts zur spätgotischen Hallenkirche und Ende des 18. Jahrhunderts im klassizistischen Stil. Ihr Inneres zeugt noch heute vom hohen Selbst- und Kulturbewusstsein der damaligen Bürgerschaft. Zwei weitere mittelalterliche Pfarrkirchen lagen außerhalb der alten Stadtmauern, St. Jakob, schon 1544 abgebrochen, in der Nähe des Naundörfchens, Alt-St. Peter vor dem Peterstor (Ecke Peters-/Schillerstraße). Sie wurde 1886 abgetragen, nachdem zuvor am Schletterplatz ein Neubau errichtet worden war, der das Patrozinium übernahm. Untergegangen sind ferner im innerstädtischen Bereich die Katharinen- und die Marienkapelle, am oberen und unteren Ende des Brühl gelegen, die Kapelle in der landesherrlichen Pleißenburg und die nahebei, aber außerhalb der Stadtmauern gelegene Klosterkirche der Zisterzienserinnen; schließlich die barocke Johanniskirche, gleichfalls außerhalb des Ringes, doch in Sichtweite des Grimmaischen Tores. Doch am bekanntesten und dem heutigen Bewußtsein noch unmittelbar präsent ist die ehemalige Dominikanerkirche St. Pauli. Sie war nach Profanierung des Klosters 1543 in den Besitz der Universität übergangenen und hatte sogar die Stürme des Bombenkrieges überstanden, bis sie 1968 der Neugestaltung des Karl-Marx-, des heutigen Augustusplatzes, weichen musste.13
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Auf Einzelnachweise zum Vorstehenden kann hier verzichtet werden. Vgl. jedoch die einschlägigen Abschnitte im Neue[n] Leipzigische[n] Geschicht-Buch, Leipzig 1990, die allerdings erkennbar einem inzwischen eingemotteten Geschichtsbild verpflichtet sind. Neuerdings die einleitenden Hinweise zum Forschungsstand über das mittelalterliche Leipzig bei Henning Steinführer, Die Leipziger Ratsbücher 1466-1500. Forschung und Edition, 2 Bde., Leipzig 2003, hier Bd. 1, S. XI mit Anm. 5, XV mit Anm. 21; ders./Gerhard Graf (Hrsg.), Leipzig im Mittelalter. Befunde um 1300, Beucha 2004; M. Cottin, wie Anm. 2. Wie Anm. 3.
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2. Die Reformation und ihre Auswirkungen Vergegenwärtigt man sich die Existenz der zahlreichen Sakralbauten im alten Leipzig, so wird man sich an ein Wort von Willy Andreas erinnert fühlen, der von der „großartige[n] Selbstverständlichkeit“ gesprochen hat, mit der „im mittelalterlichen Leben die Kirche gestanden“ habe: „So wie ihre Dome über Stadt und Land hinragen, himmelwärts zeigend, ewigkeitskündend, während Generationen in ihrem Schatten dahinleben und vergehen, so scheint auch sie, an der die Jahrhunderte vorübergleiten, der Vergänglichkeit zu trotzen. Alles geht von ihr aus, alles ist auf sie bezogen: die Kirche ist sichtbarer Ausdruck einer göttlichen Weltordnung und eines Heilsplanes, der im Gange der Menschheit sich erfüllt.“ 14 Dennoch war die spätmittelalterliche Kirche bei aller ihr auch in Leipzig entgegengebrachten Glaubens- und Hingabebereitschaft von gärender Unruhe erfüllt. Lange unterbliebene Reformen wurden um 1500 immer dringlicher angemahnt. Zahlreiche Gläubige stießen sich am Verhalten eines Klerus, der die Kirche vielfach als sein Eigentum betrachtete und sich selbst nicht als Inhaber eines geistlichen Amtes, sondern als Inhaber einer kirchlichen Pfründe sah, aus der materielle Rechte erwuchsen. Eine Folge war, dass die Pfarrseelsorge vielfach schlechtbezahlten Stellvertretern übertragen wurde, während die eigentlichen Amtsinhaber sich wenig um ihre geistlichen Pflichten kümmerten. Und vielerorts hatte sich der Adel den Zugriff auf die einträglichsten Pfründen zu sichern gewusst, um damit seine nachgeborenen Söhne und Töchter zu versorgen. Eine häufig geübte Pfründenakkumulation, die von Rom hierfür geforderten Dispensgelder, überhaupt der allgemeine Geldhunger des Papstes und der geistlichen Fürsten und das damit in Verbindung stehende überbordende Ablasswesen sowie endlich Verknöcherungen in der zeitgenössischen Theologie ließen den Ruf nach grundlegender Reform der Kirche an Haupt und Gliedern immer lauter werden. Dies erklärt auch, warum Martin Luther mit seinem reformatorischen Anliegen solch ungeheuren Anklang fand.15 Hier kann die Geschichte der Reformation nicht in ihren Einzelheiten ausgebreitet werden.16 Aber da Sachsen ihr Kernland war, Luther 1517 im ———— 14 15
Willy Andreas, Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitenwende, Stuttgart 51948, 15. Vgl. aus zeitgenössischer Perspektive auch die Ende des 16. Jahrhunderts verfasste Chronik von David Peifer, Das religiöse Leipzig oder Buch III des Leipziger Ursprungs und seiner Geschichte, nach der Übersetzung von Erich von Reeken bearbeitet von Gerhard Löwe, Beucha 1996. Zur Reformation in Leipzig sei im übrigen auf die ältere wie neuere stadtgeschichtliche Literatur verwiesen, die mit dem in Anm. 7 angeführten Forschungsbericht „1000 Jahre Leipzig“ leicht zu ermitteln ist.
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benachbarten ernestinischen Wittenberg seine Thesen verkündet, 1519 auf der Pleißenburg in Leipzig mit Johann Eck über den rechten Glauben disputiert und hierbei den mit der kirchlichen Tradition brechenden Grundsatz aufgestellt hatte, dass allein die Heilige Schrift „Quelle und Richtschnur des Glaubens“ sein könne, so wird klar, dass Leipzig im Brennpunkt des reformatorischen Geschehens stand. Schon in den 1520er Jahren sind zahlreiche Lutheranhänger in der Stadt bezeugt, doch erst nach dem Tod des altgläubig gebliebenen Landesherrn, Herzog Georgs des Bärtigen, im Jahre 1539 wurde die Reformation auch im albertinischen Sachsen und damit in Leipzig flächendeckend eingeführt.17 Wer zunächst noch am alten Glauben festhielt, wurde von den Franziskanern betreut, bis diese 1543 aus der Stadt vertrieben wurden.18 Seitdem war Leipzig nach Selbstverständnis wie Lebenswirklichkeit eine rein evangelische Stadt. Auch die Universität hatte den Glaubenswechsel mitvollzogen, ja sie hatte von der Reformation in besonderer Weise profitiert, indem ihr von Herzog Moritz mit dem Dominikanerkloster und der Paulinerkirche auch dessen umfangreiche Besitzungen übertragen worden waren.19 Fortan galt in Leipzig wie überhaupt in den sächsischen Territorien, dass die Religion der Untertanen durch die evangelisch gewordenen Landesherren bestimmt wurde. Wer altgläubig, also „katholisch“, bleiben wollte, musste die Stadt verlassen. Seit den 1540er Jahren wurde der christliche Glaube in Leipzig also ausschließlich in seiner evangelisch-lutherischen Form praktiziert. Hugenottischen Glaubensflüchtlingen aus Frankreich, die Ende des 17. Jahrhunderts auch in Leipzig Aufnahme fanden, wurde zwar 1707 ein eigener Gottesdienstraum gestattet; ihre gleichberechtigte Anerkennung als Religionsge———— 16
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Vgl. zum Folgenden allgemein Helmar Junghans (Hrsg.), Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, Leipzig 2005. Zu Georg dem Bärtigen vgl. jetzt Christoph Volkmar, Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488-1525, Tübingen 2008 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, Bd. 41); Enno Bünz/Christoph Volkmar, Die Albertinischen Herzöge 1485-1541, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089–1918, München 2004, 76- 89 und 327-329. J. Neudert 15; vgl. auch Stefan Oehmig, Stadt und Säkularisation. Zum Verlauf und zu den Folgen der Aufhebung der Leipziger Klöster, in: Erich Donnert (Hrsg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 5: Aufklärung in Europa, Köln u.a.O. 1999, 135-186. Hierzu jüngst Manfred Rudersdorf, Weichenstellung für die Neuzeit. Die Universität Leipzig zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg 1539-1648/1660, in: Geschichte der Universität Leipzig 1409-2009, Bd. 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409-1830/31, Leipzig 2009, 327515, hier 351-391; ders., Die Einführung der Reformation an der Universität Leipzig – Beharrung, Erneuerung und evangelische Identität, in: Erleuchtung der Welt. Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften. Essays, hrsg. von Detlef Döring und Cecilie Hollberg unter Mitarbeit von Tobias U. Müller, Dresden 2009, 54- 63.
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meinschaft erfolgte aber erst 1818.20 Die stark auf das gemeindliche Leben, auf schulische, berufliche und universitäre Bildung gerichtete seelsorgliche und diakonische Praxis des Protestantismus hatte für die Alphabetisierung der Bevölkerung kaum zu überschätzende Auswirkungen.21 Die kulturelle Bedeutung des evangelischen Pfarrhauses für die deutschen Geistesgeschichte ist evident. Auch die Pflege der Kirchenmusik, in Leipzig durch den Thomanerchor traditionell verankert, fand im Kirchenlied, in Motetten und Oratorien zu neuer Blüte, ja erreichte unter dem Thomaskantor Johann Sebastian Bach einen Höhepunkt.22 Allerdings ist auch bezeichnend, dass pietistisches, stärker an praktizierter Frömmigkeit orientiertes Gedankengut sich in Sachsen nicht flächendeckend verbreiten konnte, mit Ausnahme der Herrnhuter Brüdergemeinde in der Oberlausitz. August Hermann Francke dagegen geriet mit der lutherischen Orthodoxie in Leipzig bald überkreuz und musste mit seinen sozialen und diakonischen Initiativen ins benachbarte preußische Halle ausweichen.23
3. Die Wiedererstehung einer katholischen Gemeinde Das zaghafte Wiederingangkommen katholischen Lebens in Leipzig entsprang gleichfalls nicht einer allmählich gewachsenen Tolerierungsbereitschaft oder Zugeständnissen, die die Handels- und Messestadt ihren katholischen Besuchern und Handelspartnern glaubte machen zu müssen; es hing vielmehr mit dem Übertritt Augusts des Starken zum Katholizismus zusammen. Der Kurfürst hatte diesen aufsehenerregenden Konfessionswechsel 1697 vollzogen, um in den Besitz der polnischen Königskrone zu gelangen. Er hatte aber wohlweislich darauf verzichtet, diesen Schritt auch seinen ———— 20
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Angaben nach G. Graf / M. Hein (wie Anm. 7), 31- 33; vgl. auch Katharina Middell, Hugenotten in Leipzig. Streifzüge durch Alltag und Kultur, Leipzig 1998. Vgl. hierzu Thomas Töpfer, Schulwesen und städtische Gesellschaft. Eine Studie zum Verhältnis von lokaler Schulentwicklung und territorialer Politik im Kurfürstentum und Königreich Sachsen 16001815, phil. Diss. Leipzig 2009; ders., Schulwesen und städtische Gesellschaft. Grundprobleme der Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts am Beispiel Leipzig, in: Historisches Jahrbuch 127 (2007), 175207; ders., Schulwesen, Bildungsnachfrage und konkurrierende Unterrichtsangebote in Leipzig im 18. Jahrhundert, in: Stadtgeschichte. Mitteilungen des Leipziger Geschichtsvereins, Jahrbuch 2008, 139158. Zusammenfassend und das „städtische“ Musikleben in zahlreichen Beiträgen miteinbeziehend jetzt Eszter Fontana (Hrsg.), 600 Jahre Musik an der Universität Leipzig. Studien anlässlich des Jubiläums, Wettin-Dößel 2010. G. Graf / M. Hein (wie Anm. 7), 33- 38; zur unzureichenden Forschungslage für Leipzig vgl. D. Döring, Leipzig in der frühen Neuzeit. Forschungsbericht, in: M. Cottin/D. Döring / M. Schäfer, 1000 Jahre Leipzig (wie Anm. 7), 36-78, hier 54-57.
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sächsischen Untertanen aufzunötigen. Dies ergab sich schon aus dem Umstand, dass der Kurfürst im „Kernland der Reformation“ stets eine exzeptionelle Rolle in „seiner“ Landeskirche eingenommen hatte. Er musste also den Übertritt ausdrücklich als rein „privat“ deklarieren und konnte seine Rechte als summus episcopus der sächsischen Landeskirche nicht länger persönlich wahrnehmen.24 Mit dem Konfessionswechsel der Dynastie fanden nun erstmalig wieder in der Kapelle der landesherrlichen Pleißenburg zu Leipzig katholische Messen statt. Dass ein erster „offizieller“ Gottesdienst am 28. Januar 1700 in Anwesenheit des Kurfürst-Königs vom Apostolischen Nuntius d’Avia persönlich gehalten wurde, „unter großem Zulauf des Volkes, aber auch unter dem heftigsten Widerspruche der [evgl.] Prediger“, sorgte für einige Aufregung in der Stadt.25 Jedenfalls dürfte mit der ablehnenden Haltung des Rates zusammenhängen, dass Gesuche der wenigen in Leipzig lebenden, offenkundig meist von auswärts stammenden Katholiken, ihnen die Herrichtung einer Kapelle zu gestatten, abschlägig beschieden wurden. Erst nachdem die ungleich größere katholische Gemeinde am Dresdner Hof ihre eigene Kapelle erhalten und ein päpstlicher Legat den König erneut gedrängt hatte, sagte August mit Schreiben vom 23. April 1710 zu, auch den Leipziger Katholiken einen eigenen Gottesdienstraum in der Pleißenburg zur Verfügung zu stellen, allerdings mit dem ausdrücklichen Hinzufügen, dass der evangelischen Landeskirche hieraus kein Nachteil erwachsen sollte und die Katholiken wie die Reformierten lediglich als „geduldet“ zu gelten hätten.26 Wie umstritten die kurfürstliche Entscheidung gleichwohl blieb, zeigte sich beim Eröffnungsgottesdienst zu Pfingsten 1710, als zahllose Schaulustige herbeiströmten und Studenten die Messfeier störten.27 Auch später hören wir wiederholt von studentischen Übergriffen auf die in Leipzig wohnenden Jesuitenpatres, die ihren Wohnsitz schließlich in die Pleißenburg verlegten. Die Entstehung eines eigenen Gemeindelebens wollte die Stadt auch in der Folgezeit nicht dulden, so dass für die Vornahme katholischer Taufen, ———— 24
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Vgl. zum Vorstehenden wie Folgenden die älteren Dissertationen von Paul Franz Saft, Der Neuaufbau der Katholischen Kirche in Sachsen im 18. Jahrhundert, Leipzig 1961; Siegfried Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg der Katholischen Kirche in Sachsen 1517-1773, Leipzig 1964 (= Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, Bde. 2 und 6); ferner Jakob Stranz, Wiedererblühtes katholisches Leben in Leipzig, in: Alexander Himmel (Hrsg.), Führer durch die katholischen Kirchen und Gemeinden von Leipzig und Umgebung, Leipzig 1931, 9-13. J. Stranz (wie Anm. 24), 10; vgl. auch die Hinweise bei J. Strieder, Zwei Jahrhunderte katholischen Gemeindelebens in Leipzig, in: Benno-Kalender 61 (1911), 109- 121. Einzelnachweise bei P.F. Saft, 131f. Ebd. 132-134.
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Trauungen oder Beerdigungen Strafgelder gezahlt werden mussten, wenn die Stolgebühren nicht beim örtlich zuständigen evangelischen Pfarrer entrichtet worden waren.28 Die gegen die seelsorgliche Tätigkeit katholischer Priester immer wieder laut werdenden Beschwerden sind kennzeichnend für ein Klima der Intoleranz und des wechselseitigen Misstrauens, das das Nebeneinander der Konfessionen im Alltagsleben der Vormoderne vergiftete. So wuchs die Gemeinde nur langsam. 1732 wurden 200 Katholiken gezählt, davon mehr als die Hälfte Ausländer, ein Hinweis, dass vor allem Zuwanderer die Gemeinde verstärkten.29 Die der Heiligen Dreifaltigkeit geweihte Kapelle war übrigens zu ebener Erde im ehemaligen Marstall des Festungskommandanten untergebracht. Sie musste 1738 erweitert werden und diente mehr als 100 Jahre gottesdienstlichen Zwecken, bis sie 1841 wegen bedrohlicher Gewölberisse geschlossen werden musste. Die Seelsorge wurde zunächst von Jesuitenpatres verrichtet, die nach Aufhebung ihres Ordens (1773) als weltliche Geistliche weiter amtierten. Wie die Reformierten, so erlangten auch die Leipziger Katholiken erst im frühen 19. Jahrhundert die vollen bürgerlichen Rechte, doch erst seit 1835 werden die katholischen Priester und Organisten im Leipziger Adressbuch unter der Rubrik „Kirchen“ geführt.30 Mit der erforderlichen Schließung der Kapelle in der Pleißenburg ergab sich zwingend die Notwendigkeit eines Kirchenneubaus. Für die Zwischenzeit stellten Bürgermeister Johann Carl Groß und die Evangelische Kirchenkommission die ehemalige Franziskaner- und spätere Matthäikirche zur Mitbenutzung zur Verfügung, eine Entscheidung, die damals keineswegs so selbstverständlich war, wie sie uns heute erscheinen will. Denn noch bei der Grundsteinlegung für den Neubau im Jahre 1845 wurde tunlichst alles vermieden, „was zur Vermehrung der damaligen religiösen Aufregung nur im Entferntesten hätte beitragen können“.31 Auch hatte die Gemeinde einen offenen Brief „An unsere Mitbürger !“ gerichtet, in dem sie um Verständnis und Unterstützung für ihr Neubauvorhaben bat.32 Um so größer war ihre Freude, als ———— 28
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Ebd. 135-145; S. Seifert 163-165; Heinrich Meier, Die katholische Kirche in Sachsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine Untersuchung zur Rechts- und Verfassungsgeschichte, Leipzig 1974 (= Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, Bd. 15), 4. Angaben nach P.F. Saft 138 mit Anm. 662. J. Neudert 25. Vgl. zum Vorstehenden Einst und Jetzt. Umschau in der Geschichte der katholischen Pfarrgemeinde Leipzig (1710 bis 1897). Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Pfarrkirche SSS. Trinitatis in Leipzig am 19. September 1897, Leipzig 1897, Zitat 17; zu den konfessionellen Spannungen auch die zahlreichen Hinweise bei H. Meier (wie Anm. 28), 4, 19, 45, 86ff. u.ö. Vgl. Carl Baptist Alippi, Die der Allerheiligsten Dreieinigkeit gewidmete neuerbaute katholische Kirche in Leipzig von ihrer Begründung bis zu ihrer Einweihung. Nebst den bei den heiligen Weihen
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bei der Kirchweihe 1847 zum ersten Mal seit 308 Jahren wieder feierliches Glockengeläute in Leipzig zu einem katholischen Gottesdienst rief. Die neue Trinitatiskirche, ein qualitätvoller dreischiffiger neogotischer Bau des Nürnberger Architekten Karl Alexander von Heideloff, lag an der Rudolphstraße, in Sichtweite der Pleißenburg, also nicht innerhalb des Rings, aber doch in unmittelbarer Nähe der Innenstadt. Ihre Errichtung war nur unter größten finanziellen Opfern und dank auswärtiger Spenden möglich geworden. Den Bauplatz hatte die Gemeinde von Karl Heine erworben, einem der Pioniere der Leipziger Stadtentwicklung. Zwar ließ die Fertigstellung des Kircheninnern noch lange auf sich warten, aber die vor allem durch Zuzüge stetig wachsende Gemeinde hatte endlich eine eigene, dauerhafte Bleibe.33
4. Diasporagemeinde in der Großstadt Mit der Entwicklung Leipzigs zur Großstadt und Metropole im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wuchs auch die kleine katholische Gemeinde. 1871, im Jahr der Reichsgründung, zählte Leipzig 107000 Einwohner, davon nahezu 99000 Lutheraner und knapp 3000 Reformierte. Die 2673 registrierten Katholiken stellten die drittgrößte Konfessionsgruppe dar, gefolgt von den Juden, die 1730 Personen umfassten. Mit den durch die Reichsgründung freigesetzten wirtschaftlichen und politischen Kräften entwickelte sich die Stadt in geradezu stürmischer Weise. Bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs, also in nur 40 Jahren, nahm ihre Bevölkerung um mehr als das Fünffache zu, auf 590000 (1910) zu über 90% evangelische Bewohner. Die katholische Gemeinde hatte ihre Mitgliederzahl im gleichen Zeitraum zwar nahezu verzehnfacht, blieb mit 26220 nominalen Mitgliedern aber gleichwohl eine verschwindende Minderheit.34 Immerhin hatte der Zuwachs die Gründung neuer Tochtergemeinden erforderlich gemacht: 1857 in Grimma, 1893 in Reudnitz, 1896 in Markranstädt, 1896 in Lindenau, 1899 in Wurzen, 1910 in Gohlis. Weitere Auspfarrungen folgten nach dem Ersten Weltkrieg.35 Das gewaltige Wachstum Leipzigs und die Wandlung der Stadt von einem Handels-, Verlags- und Messeplatz zu einer vielseitigen Industriemet———— 33
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gesprochenen Reden, Gebeten, Festliedern und der Festpredigt, Leipzig 1847; der erwähnte Offene Brief ebd. 6-7. Vgl. hierzu auch Christoph Kühn, Architektur und künstlerische Ausstattung der ersten Trinitatiskirche, in: J. Neudert (wie Anm. 5), 35-38. Statistisches Jahrbuch der Stadt Leipzig 1911, Leipzig 1913, 15f. J. Stranz (wie Anm. 24), 12f.; vgl. auch die chronologische Aufstellung bei J. Neudert (wie Anm. 5), Anhang, V- XI.
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ropole brachte für das religiöse Leben kaum zu bewältigende Herausforderungen, nicht zuletzt auch in organisatorischer Hinsicht. Doch im Mittelpunkt stand die „soziale Frage“. Bei ihrer Lösung war auch der Einsatz der Kirchen gefragt. Allerdings bescherte sie den Kirchen auch die Begegnung mit einem neuartigen Phänomen: einer von der frühen sozialistischen Arbeiterbewegung propagierten militanten Religions- und Kirchenkritik. Sie äußerte sich in rasch wachsender Glaubens- und Kirchenferne breiter Arbeiterschichten. Dieser Entkirchlichung lief eine in weiten bürgerlichen Kreisen verbreitete kirchendistanzierte, aber sich immerhin noch als kulturprotestantisch verstehende Haltung parallel.36 Hinsichtlich der Auswirkungen sprechen die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vorliegenden statistischen Daten für die lutherische Landeskirche Sachsens eine deutliche Sprache. Sie zeigen einen erst langsamen, in der Weimarer Republik sich massiv beschleunigenden Prozess der Kirchenentfremdung. Er war in der Arbeiterschaft zunächst stark von vulgärmarxistischer Perspektive aus vorangetrieben worden: Religion als Opium des Volkes und die Kirchen als Instrumente der Herrschenden. Damit verband sich die Vorstellung, dass eine als Wissenschaft verstandene Weltanschauung wie der Marxismus-Leninismus zur Erklärung der Welträtsel vollkommen ausreiche. Leipzig als eine Hochburg der organisierten Arbeiterbewegung bekam die Auswirkungen besonders deutlich zu spüren. Kirchliches Leben vermochte den Charakter der Stadt nicht mehr bestimmend zu prägen.37 Schon in den 1920er Jahren kamen organisierte Bestrebungen hinzu, die sich nicht mit Werbung für den Kirchenaustritt begnügten, sondern die Existenz Gottes überhaupt leugneten. Sie werden in zeitgenössischen kirchlichen Statistiken als „Gottlosenbewegung“ geführt. In den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts traten dann – aus gewiss unterschiedlichen ideologischen Beweggründen, aber mit gleichermaßen nachhaltigem Erfolg – zwei politische Systeme auf den Plan, die konkurrierende Weltdeutungen und gesellschaftliche Gestaltungsansprüche aus christlicher Perspektive radikal ausschalten wollten. Dank seiner langen Dauer war namentlich das SED-Regime hierbei unerhört erfolgreich. Es ———— 36
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Vgl. die allgemeinen Ausführungen hierzu bei Kurt Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, 230 - 233, 262- 268, 293 - 295 u.ö. Vgl. Paul Piechowski, Proletarischer Glaube. Die religiöse Gedankenwelt der organisierten deutschen Arbeiterschaft nach sozialistischen und kommunistischen Selbstzeugnissen, Berlin 21927; zu den mittel- und langfristigen statistischen Auswirkungen vgl. Lucian Hölscher (Hrsg.), Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, Bd. 2: Osten, Berlin-New York 2001, 527-658.
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propagierte den Atheismus mit Hilfe der 1954 gegründeten Urania, die mit ihren Schriften zwölf Millionen DDR-Bürger erreichte, aber das Regime warb auch „mit dem Angebot sozialer Wohlfahrt und individuellem Aufstieg“. „Dadurch gelang es, große Teile der Bevölkerung den Kirchen zu entziehen und der Religion gegenüber nachhaltig zu entfremden“.38 Und neben jenen die Entkirchlichung forcierenden Kräften läuft seit den Tagen der Aufklärung zumindest in Europa jener allgemeine Säkularisierungsprozess weiter, den man mit Max Weber als „Entzauberung der Welt“ bezeichnen könnte, als eine schleichende Loslösung des Staates, der bürgerlichen Gesellschaft und des Einzelnen von den Bindungen an die Kirche.39 Die Auswirkungen dieser hier lediglich angedeuteten Vorgänge sind in Leipzig mit Händen zu greifen: Nicht einmal mehr ein Fünftel der heutigen Einwohner gehören einer christlichen Kirche an, knapp 60000 evangelische Christen, ca. 21000 Katholiken, das entspricht einem prozentualen Anteil von 11,8 bzw. 4,1 Prozent.40 Leipzig ist seit ein, zwei Generationen eine mehrheitlich atheistische Stadt. Die christlichen Kirchen in Leipzig stehen also in einer Diasporasituation: die evangelische angesichts einer konfessionslosen Bevölkerungsmehrheit, während die katholische sich in gleich zweifacher Hinsicht in der Minorität sieht: zunächst, nach dem Wiederingangkommens eines Gemeindelebens, gegenüber der größeren Schwesterkirche, seit der durch die beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts beschleunigten Entchristlichung der Gesellschaft auch gegenüber den Nichtglaubenden. Die hieraus resultierenden besonderen seelsorglichen Anforderungen sind unschwer vorstellbar. Wie überall in Deutschland hat sich katholisches Leben in Leipzig nicht lediglich im engeren Umfeld gottesdienstlicher Verrichtungen vollzogen, sondern zur Ausprägung kirchlicher Substrukturen geführt: zur Gründung katholischer Schulen (seit 1719/1888), zur Bildung katholischer Vereine (seit 1849) und eines Caritasverbandes (1921), zur Eröffnung des St. Elisabeth-Krankenhauses im Jahre 1931, das die Arbeit einer seit 1893 bestehenden Krankenstation St. Joseph fortsetzt, schließlich zur Errichtung katholischer Kindergärten.41 Die Katholizismusforschung bezeichnet die Ausbil———— 38
39
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Thomas Schmidt-Lux, Wissenschaft als Religion. Szientismus im ostdeutschen Säkularisationsprozess, Würzburg 2008, Zitate 382 und 384. Aus der Fülle einschlägiger Titel vgl. etwa Hartmut Lehmann, Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2004 (= Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung, Bd. 5). Werte für 2007, wie Anm. 1. Wie Anm. 35; zum katholischen Schulwesen ergänzend Gustav Taute, Festschrift zum zweihundertjährigen Jubiläum der katholischen Schule in Leipzig, Dresden 1920.
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dung solcher Strukturen als Formierung eines katholischen Milieus, mit dem die Katholiken – ganz ähnlich wie gleichzeitig auch die sozialistische Arbeiterbewegung – durch demonstrativen Zusammenschluss auf die Herausforderungen einer antikatholischen oder glaubensfeindlichen Umgebung reagierten. Mit solchen katholischen Initiativen wurde gleichsam Lebensbegleitung „von der Wiege bis zur Bahre“ (M. Klöcker) angeboten, ein Zusammenhalt, der sicherlich manche Züge der Enge und Selbstgenügsamkeit trug, aber doch auch mit einigem Erfolg verhinderte, dass kirchliche Bindungen sich in doppelter Diasporasituation verflüchtigten.42 Einem solchen Zusammenhalt kam angesichts der Totalitätsansprüche der Nationalsozialisten wie später des SED-Regimes keine geringe Bedeutung zu. Allerdings ist das Gemeindeleben in diesen knapp 60 Jahren noch weithin unerforscht. Ein erster Blick in die Pfarrchronik vor wie nach 1945 führt zu enttäuschenden Ergebnissen: Zu politischen Ereignissen oder Pressionen findet sich nahezu nichts. Man könnte den Eindruck gewinnen, zumindest während der langen Amtszeit von Propst Jakob Stranz (1910-1944), als habe sich kirchliches Leben geradezu im Windschatten des Geschehens vollzogen.43 Keinerlei Hinweis beispielsweise 1935 auf die Verhaftung und den Prozess Bischof Legges, keinerlei Hinweis auf die Verlesung der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ 1937, mit der Papst Pius XI. die Kirchenpolitik des NS-Regimes angeprangert hatte.44 1938 erfahren wir immerhin, dass die katholischen Schulen geschlossen wurden, und 1939, dass es dem St. Elisabeth-Krankenhaus gelang, sich der Heeresverwaltung zu unterstellen und damit einen Zugriff von Parteiinstanzen abzuwehren. 1943 wird die vollständige Zerstörung der Trinitatiskirche durch einen „Terrorangriff “ festgehalten, dem weitere Fliegerangriffe folgten, so dass das Pfarrbüro bei Kriegsende „nur noch aus einem Tisch und zwei Stühlen“ bestand. Gottesdienste fanden fortan in St. Thomas statt. Immerhin erhielt die Gemeinde noch vor Kriegsende mit Propst Otto Spülbeck (1945-1955), dem späteren Bischof von Meißen, einen neuen tatkräftigen Pfarrer.45 ———— 42
43 44
45
Eine kritische Untersuchung dieser Phänomene fehlt sowohl für Leipzig wie für Sachsen. Vgl. aber die einschlägigen Beiträge in: Christoph Kösters/ Wolfgang Tischner (Hrsg.), Katholische Kirche in SBZ und DDR, Paderborn u.a.O. 2005; ferner Christoph Kösters (Hrsg.), Caritas in der SBZ / DDR 19451989. Erinnerungen, Berichte, Forschungen, Paderborn u.a.O. 2001; ders. (Hrsg.), Staatssicherheit und Caritas 1950 -1989. Zur politischen Geschichte der katholischen Kirche in der DDR, Paderborn u.a.O. 2001. Für Exzerpte aus der im Propsteiarchiv verwahrten Chronik danke ich Dr. Birgit Mitzscherlich. Vgl. hierzu Birgit Mitzscherlich, Diktatur und Diaspora. Das Bistum Meißen 1932–1951, Paderborn u.a.O. 2005. Zu Otto Spülbeck vgl. jetzt Christian März, Otto Spülbeck. Ein Leben für die Diaspora, Leipzig 2010.
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So stand die Propsteigemeinde bei Kriegsende erneut ohne eigene Kirche da. In den Jahren der Besatzungsherrschaft hatten sich alle Anstrengungen freilich zunächst darauf zu konzentrieren, kirchliches Leben überhaupt wieder in Gang zu bringen und die Riesenheere der Vertriebenen unterzubringen, mit dem Notwendigsten zu versorgen und in die Gemeinden zu integrieren. Allein die Propsteipfarrei war 1949 von ehemals 4000 auf nahezu 10000 Seelen angewachsen. Es mangelte in dieser frühen Nachkriegszeit an allem, an Nahrung, Kleidung, Brennstoffen, Wohnraum, aber die Hilfsbereitschaft war groß. Da an den Wiederaufbau des kriegszerstörten Gemeindezentrums einstweilen nicht zu denken war, fanden die Sonntagsgottesdienste seit 1946 bei riesiger Beteiligung in der Universitätskirche St. Pauli statt. Die 1948 erstmals genehmigten gemeinsamen Fronleichnamsfeiern aller Leipziger Pfarrgemeinden waren eindrucksvolle Glaubenskundgebungen in der Diaspora. Trotz aller Not herrschte Aufbruchstimmung, über Jahre hin zeigte sich gleichsam ein neuer missionarischer Geist, unterstrichen auch durch die Predigten Wahrener Dominikaner und neu nach Leipzig gekommener Jesuiten.46 Indessen ließ der atheistische SED-Staat keinen Zweifel aufkommen, dass dem Wirken der Kirche auch künftig enge Grenzen gesetzt sein würden.47 Die aus NS-Zeiten schon bekannten Beschränkungen des Religionsunterrichts wurden von den neuen Machthabern fortgesetzt und nötigten die Kirche schon Ende der 1940er Jahre, die religiöse Unterweisung ganz in kircheneigene Räume zu verlegen. Seit den 1950er Jahren wurden die Atheisierungskampagnen aggressiver, der politische Druck nahm zu. Die 1955 erstmals praktizierte, bald flächendeckend durchgesetzte Jugendweihe sollte Erstkommunion, Konfirmation und Firmung verdrängen. Wer als Christ auf schulisches oder berufliches Vorwärtskommen bedacht war, sah sich einer Fülle teils brutaler, teils subtiler Pressionen ausgesetzt. Der inzwischen zum Bischof von Meißen ernannte frühere Leipziger Propst Otto Spülbeck kennzeichnete die Lage auf dem Kölner Katholikentag 1956 mit den Worten: „[Wir] leben in einem Haus, dessen Grundfesten wir nicht gebaut haben, dessen tragende Fundamente wir sogar für falsch halten ... Dieses Haus bleibt uns ein fremdes Haus. Wir leben nicht nur kirchlich in der Diaspora, sondern auch staatlich.“ 48 Dies alles forderte seinen Preis. ———— 46 47
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Zum Vorstehenden J. Neudert (wie Anm. 5), 80- 88. Erste Informationen hierzu ebd. 103-109; zur allgemeinen Situation vgl. auch die verstreuten Hinweise bei Ch. Kösters/ W. Tischner (Hrsg.), Katholische Kirche in SBZ und DDR (wie auch Anm. 42), passim. Zitiert nach Ch. März (wie Anm. 45), 117.
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Überdurchschnittlich viele Katholiken, nicht nur aus Leipzig, wanderten in die Bundesrepublik ab, solange dies vor dem Mauerbau noch möglich war; andere hielten dem Druck nicht stand und traten aus der Kirche aus. So schrumpfte die Gemeinde wieder.49 1968 traf die Propsteigemeinde ein weiterer Schlag, als sie mit der Sprengung der Universitätskirche erneut ihr mittlerweile vertraut gewordenes Gotteshaus verlor. Seit 1946 hatte sie an diesem zentralen innerstädtischen Ort Gastrecht genossen. Ein Nutzungsvertrag mit der nahe gelegenen Peterskirche zerschlug sich; statt dessen fanden die Katholiken nach manchem Hin und Her in der Lutherkirche, also unweit der alten Trinitatiskirche, eine neue Bleibe, doch waren erst umfangreiche Instandsetzungsarbeiten notwendig. Allerdings ließ die verkehrsmäßig ungünstige Lage der Kirche die Zahl der Sonntagsmessbesucher deutlich sinken, obwohl mittlerweile die Umsetzung der Konzilsbeschlüsse auch in Leipzig erste pastorale und liturgische Auswirkungen zeitigte. Die seelsorgliche Arbeit der Leipziger Oratorianer, die Auswirkungen der Synode des Bistums Meißen 1969-1975, freilich auch kritische Anfragen des „Aktionskreises Halle“ an den kirchenpolitischen Kurs der Vorsitzenden der Berliner Bischofskonferenz oder schließlich die Auseinandersetzungen um das Dresdner Katholikentreffen 1987 – dies alles wirkte sich, in Zu- wie Widerspruch, fruchtbar auf das Gemeindeleben aus.50 Unterdessen schienen zu Beginn der 1970er Jahre alle Pläne, die auf einen Wiederaufbau der zerstörten Trinitatiskirche zielten, in weite Ferne gerückt. Hatte es 1954 zunächst den Anschein gehabt, als werde ein Neubau am alten Standort errichtet werden können, für den schon alle Vorbereitungen getroffen waren, so zog Walter Ulbricht am 24. Februar 1955 höchstpersönlich die erforderliche Genehmigung zurück. Ein Kirchenneubau passte nicht mehr in seine Vorstellung eines sozialistischen Leipzig. Die Entscheidung ist insofern ein Vorgriff auf die spätere Sprengung der Paulinerkirche. Auch sie hätte ja der gewünschten Umgestaltung des KarlMarx-Platzes, des heutigen Augustusplatzes, im Wege gestanden. Seither wurde die Gemeinde vom Rat der Stadt hingehalten, der 1972 und 1973 jedwede Verhandlungen als „nutzlos“ ablehnte. Die Entscheidung fiel schließlich auf höherer Ebene und nachdem das Ordinariat mit den Ostberliner Machthabern „auf Devisenbasis“ in Verhandlungen getreten war. Der ———— 49 50
Vgl. die Gemeindestatistik ebd., Anhang, I-IV. Zum Vorstehenden J. Neudert (wie Anm. 5), 89-102; zum allgemeinen Hintergrund Josef Pilvousek, Kirche und Diaspora. Die Katholische Kirche in der DDR und das Zweite Vatikanische Konzil, in: Hubert Wolf / Claus Arnold (Hrsg.), Die deutschsprachigen Länder und das II. Vatikanum, Paderborn u.a.O. 2000, 149-167.
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1976 offerierte Bauplatz an der Emil-Fuchs-Straße 5-7 ließ zwar aus Sicht der Gemeinde viele Wünsche offen, brachte aber wenigstens Bewegung in die Blockadepolitik der Stadt, so dass 1982, 38 Jahre nach Kriegsende, die neue Propsteikirche geweiht werden konnte. Ihre Lage in Zoonähe am Rande der inneren Stadt, „bei den Affen“, wie maliziös ein SED-Genosse bemerkte, mag die Stellung der Kirche im realsozialistischen System der späten DDR symbolisieren, vermochte aber ein außerordentlich lebendiges und gerade auch in der Kinder- und Jugendkatechese sowie in kirchenmusikalischer Hinsicht höchst attraktives Gemeindeleben nicht zu beeinträchtigen.51 Allerdings erwiesen sich sowohl der Kirchbau als auch das Gemeindezentrum schon bald als außerordentlich reparaturanfällig; sie sind, wie man schon bald durch Setzungsrisse feststellen musste, auf ungeeignetem Baugrund errichtet worden. Trotz ihrer Randlage konnte die Propstei ihr lebendiges Gemeindeleben über die Zeit der Friedlichen Revolution hinweg bewahren, ja sie empfing aus der deutschen Wiedervereinigung und den zahlreichen Zuzügen nach Leipzig neue Akzente. Umgekehrt halten ihr auch viele die Treue, die nach Ingangkommen einer lebhaften Bautätigkeit aus dem Gemeindegebiet verzogen sind. Hier wirken Bindungen und Freundschaften nach, die schon für die DDR-Zeit kennzeichnend waren.
5. Zur aktuellen Lage Zwanzig Jahre nach dem glücklichen Ausgang der Friedlichen Revolution und der deutschen Wiedervereinigung erscheinen die vielerlei Bedrängnisse und Schikanen, denen kirchliches Leben und die religiöse Entscheidung des Einzelnen in Leipzig wie in der gesamten DDR ausgesetzt waren, in weite Ferne gerückt. Zumindest der äußere staatliche Druck ist von den ostdeutschen Katholiken gewichen. Selbstbewusst haben sie sich in die Neugestaltung der politischen Verhältnisse eingebracht, so dass ihre zeitweilig überproportional starke Präsenz in politischen Führungsämtern schon gegenreformatorische Befürchtungen aufkommen ließ. Dass mit Wolfgang Tiefensee von 1998 bis 2005 in Leipzig ein Mitglied der Propsteigemeinde als Oberbürgermeister amtierte, ehe er die Leitung des Bundesverkehrsministeriums übernahm, wäre zu DDR-Zeiten, aber auch im alten Leipzig vor 1933, undenkbar gewesen. ———— 51
Die einschlägigen Unterlagen finden sich im Pfarrarchiv der Propsteigemeinde, hierauf fußend J. Neudert (wie Anm. 5), 110-145.
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Geblieben ist freilich die doppelte Diasporasituation, in kirchlicher Hinsicht wie namentlich gegenüber der glaubenslosen Bevölkerungsmehrheit. Mit 21162 Mitgliedern, die sich auf zehn Pfarrgemeinden verteilen, sind die Katholiken unter den 520000 Einwohnern Leipzigs eine verschwindende Minderheit.52 Auch wenn sie mit beachtlichen Angeboten im Gesundheitswesen, im caritativen und im schulisch-erzieherischen Bereich weit über den engeren Kirchenraum hinauswirken, bleibt die Bewahrung des Glaubens in den nachwachsenden Generationen eine existentielle Herausforderung. Sie ist durch einen von Gleichgültigkeit oder Beliebigkeit geprägten allgemeinen Säkularisierungsdruck nicht geringer geworden. Der einst vom Machtanspruch des SED-Regimes geweckte Wille zur Selbstbehauptung sieht sich nun subtileren Anfechtungen gegenüber, die der Seelsorge in der Diaspora neue Aufgaben stellen. Vor diesem Hintergrund ist es ein Hoffnungszeichen, dass die Propsteigemeinde seit 1986 um mehr als das Doppelte gewachsen und heute mit 4086 Mitgliedern die größte und „ jüngste“ unter den katholischen Pfarrgemeinden der Stadt ist: Jedes vierte Mitglied ist 25 Jahre und jünger; der Altersdurchschnitt liegt bei 36,8 Jahren.53 Diese Gemeindesituation hat letztlich den Ausschlag gegeben für die Entscheidung, einen Neubau von Kirche und Pfarrzentrum ins Auge zu fassen, da die Baumängel an der derzeit genutzten Propsteikirche nicht dauerhaft und mit vertretbarem Kostenaufwand zu beheben sind. Der gegenüber dem Neuen Rathaus errichtete Bau wird nicht nur ein Signal für verstärkte kirchliche Präsenz in der Innenstadt setzen, er wird darüber hinaus ein architektonisches Ereignis sein, hat doch der aus einem internationalen Wettbewerb hervorgegangene Siegerentwurf der Leipziger Architekten Ansgar und Benedikt Schulz weit über die Grenzen der Stadt hinaus die einmütige Zustimmung der Fachkritik gefunden.54 Die Entwürfe wurden sowohl im Gemeindezentrum als auch im Foyer des Rathauses einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Durch eine bundesweite Kollekte, die unter dem Motto „Wir brauchen eine neue Propsteikirche in Leipzig! Glaube versetzt Berge... und Kirchen. Machen Sie mit!“ am 7./8. Februar 2009 unter großem persönlichen Einsatz zahlreicher Gemeindemit———— 52
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Ermittelt nach den Angaben des Schematismus des Bistums Dresden-Meißen 2010/ 2011, [Dresden 2010]. Entnommen den zur Vorbereitung der Werbeaktion für den Kirchenneubau zusammengestellten Gemeindedaten. Vgl. stellvertretend für viele Kommentare in der überregionalen und regionalen Fach- und Tagespresse den renommierten Architekturkritiker Arnold Bartetzky, Diese Burg weist niemanden ab, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 290 vom 14. Dezember 2009.
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glieder gehalten wurde, ist zumindest eine Anschubfinanzierung gewährleistet. So einmalig und unabweisbar dank gründlich veränderter politischer Rahmenbedingungen die Chance ist, die sich der Gemeinde durch die Rückkehr in die Nähe ihres angestammten Platzes bietet, ist ihr die Entscheidung doch nicht leichtgefallen. Aber sie wird sich der großen Aufgabe mit dem gleichen „Feuereifer“ stellen, den ihre Vorgängerin beim Bau der ersten Trinitatiskirche 1845/47 gezeigt hat. In spiritueller Hinsicht mag sie sich eines Wortes erinnern, das sich im Testament Bischof Spülbecks, eines in Sachsen exilierten Rheinländers, gefunden hat: „Ich habe die Diaspora geliebt, ihre Einsamkeit und ihre Gemeinsamkeit. Mein ganzes Priesterleben habe ich hier zugebracht und habe das Staunen nicht verlernt über die reiche Frucht, die Gott aus steinigem Boden erwecken kann.“ 55
———— 55
Zitiert bei Ch. März (wie Anm. 45), 382.
Enttäuschte Hoffnungen und tragische Defizite. Katholische Kirche im Dritten Reich von Paul Meisenberg
Vorbemerkung Seit den fünfziger und besonders in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist über Verhalten und Funktion der katholischen Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus sehr vieles erforscht, diskutiert und lange Zeit heftig gestritten worden. Dabei ging es vor allem um die katholische Kirche (nicht minder die evangelische Kirche) im Jahre 1933, genauer vom März bis Spätherbst dieses Jahres. Hier soll es um die Herausforderungen und Reaktionen allein der katholischen Kirche in der Anfangsphase, aber auch um einige weitere markante Problemstellungen in der Zeit der Herrschaft des Nationalsozialismus (NS) bis zu deren Ende im Jahr 1945 gehen. Wer heute dieses Thema aufgreift, wird sich darüber im Klaren sein, dass die Ereignisse der damaligen Zeit, nicht zuletzt das Verhalten der katholischen Kirche, in einen größeren Zusammenhang zu stellen sind, anders als es anfangs geschah. Die Ursachen und Umstände des Endes der Weimarer Republik und der Machtübernahme durch Hitler und die Nationalsozialisten sind sehr vielfältig. Die Hauptursachen und Kernpunkte müssen benannt und kurz erörtert werden. Nur auf dieser Basis kann das Verhalten der katholischen Kirche angemessen dargestellt und können die notwendigen Folgerungen daraus gezogen werden. Letzteres sollte heute auch deshalb eher möglich sein als während der NS-Herrschaft und in der ersten Nachkriegszeit, weil unsere Kirche erst im Zweiten Vatikanum ein für die Moderne angemessenes Verhältnis zur Welt und den anderen Religionen gewonnen hat. Dadurch ist sie, so ist zu hoffen, nicht zuletzt einer so gefährlichen, unmenschlichen Diktatur wie dem NS gegenüber besser gewappnet und könnte angemessener reagieren, als es die Kirche in ihrer Situation unmittelbarer Herausforderung und Betroffenheit damals vermochte.
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Paul Meisenberg
Hitler ante portas – die Jahre 1930 bis 1933 „Jahrelang ging man davon aus, dass Kirche und Katholizismus von Anfang an entschiedene Gegner des Nationalsozialismus und des NS-Regimes waren, von diesem von Anfang an drangsaliert und verfolgt wurden und Zentren des inneren Widerstandes bildeten. Diese Vorstellung und Erinnerung wurde ... für die Anfangszeit des NS-Regimes, das Jahr 1933, grundlegend in Frage gestellt.“ 1 E.-W. Böckenförde sagt zu Recht, dass seine beiden Abhandlungen aus den Jahren 1961 und 1962 2 „zu einem Markstein für die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit“ 3 geworden sind. Worum es dabei geht, sei in Kürze noch einmal dargestellt. Durch die Septemberwahlen des Jahres 1930 4, bei denen die Nationalsozialisten von 12 auf 107 Reichstagsabgeordnete hochschnellten, fühlten sich die katholischen Bischöfe sehr bald zu Stellungnahmen zum Nationalsozialismus herausgefordert. Sie fielen eindeutig negativ aus. Immer wieder wurde „die Kulturpolitik des Nationalsozialismus“ für unvereinbar mit dem Christentum erklärt.5 Auch noch nach dem 30. Januar 1933, vor allem im Wahlkampf zur Reichstagswahl am 5. März 1933, änderte sich daran nichts. Den letzten noch freien Wahlen der Weimarer Republik ging ein intensiver Propagandafeldzug der Nazis, verbunden mit starken Pressionen gegen ihre Gegner, auch gegen das Zentrum 6, voraus. Die katholische Bevölkerung ———— 1
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Ernst-Wolfgang Böckenförde, Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, Vorbemerkung, 113, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, Berlin 2007 (zitiert: Böckenförde, Herausforderungen). Ders., Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933, Eine kritische Betrachtung (1961) (zitiert: Kath. 1933) und: Stellungnahme zu einer Diskussion (1962) (zit. Stellungnahme), damals zuerst erschienen in der Zeitschrift Hochland, mehrmals wieder abgedruckt, u.a. in: Böckenförde, Herausforderungen, 113 - 176. Ebd., 113. Vgl. zu den politischen Auswirkungen dieser verhängnisvollen Reichstagswahlen Karl Dietrich Erdmann, Die Zeit der Weltkriege, in: Hb. der deutschen Geschichte Bd. 4, Stuttgart 1963, 167-180, bes. 169. Die Reaktion der katholischen Kirche auf das Anschwellen des Nationalsozialismus belegt mit Quellen und Kommentaren Hans Müller (Hg.), Katholische Kirche und Nationalsozialismus, München 1965, 7- 67. Vgl. die ausführliche Antwort des Bischöflichen Ordinariates Mainz vom 30.9.1930 auf eine schriftl. Anfrage der Gauleitung Hessen der NSDAP. Die Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz warnten „mit tiefem Ernst vor dem Nationalsozialismus, solange und soweit er kulturpolitische Auffassungen kundgibt, die mit der katholischen Lehre nicht vereinbar sind.“, Quelle: Hans Müller (Hg.), ebd. 43. 50. Vgl. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. I, Frankfurt 1977, 301. „Die katholische Partei ... und ein großer Teil der katholischen Presse führten diesen letzten Wahlkampf mit bewundernswertem Mut ... Namentlich Brüning, der die Reichswahlliste der Partei anführte, prangerte ... die Rechtsbrüche der Regierung in aller Schärfe an.“ Ebd., 302.
Katholische Kirche im Dritten Reich
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ließ sich davon nicht beirren; sie blieb ihrer Partei in bemerkenswerter Weise treu. Die Ablehnungsfront der Katholiken wurde allerdings sehr bald deutlich zurückgenommen. Das Zentrum stimmte nach der Regierungserklärung Hitlers am 23. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zu – einem Blankoscheck, der es ihm erlaubte, ohne parlamentarische Mitwirkung oder Kontrolle zu regieren. Die deutschen Bischöfe zogen bereits fünf Tage später, am 28. März 1933, ihre Verbote (z.B. Mitgliedschaft in der Partei) und Warnungen zurück. E.-W. Böckenförde benannte in seinen Abhandlungen auch Gründe für dieses veränderte Verhalten. Anfangs wurde er dafür zum Teil heftig angegriffen; heute herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die komplexen Gründe richtig erkannt und geklärt worden sind. Haben die Bischöfe damals aus Furcht gehandelt? Die Frage ist nicht abwegig angesichts des nationalen Taumels, den das Regime fortwährend inszenierte und in den große Volksmassen einstimmten. Da konnte durchaus die Furcht aufkommen, für die Kirche das Schlimmste verhindern zu müssen, indem man der NS-Regierung entgegenkam. Das bot sich ja auch insoweit an, als Hitler in seiner Regierungserklärung am 23. März 1933 gesagt hatte: „Die nationale Regierung sieht in den beiden christlichen Konfessionen wichtige Faktoren der Erhaltung unseres Volkstums. Sie wird die zwischen ihnen und den Ländern abgeschlossenen Verträge respektieren ... Die nationale Regierung wird in Schule und Erziehung den christlichen Konfessionen den ihnen zukommenden Einfluss einräumen und sicherstellen. Ihre Sorge gilt dem aufrichtigen Zusammenleben zwischen Kirche und Staat.“ 7 Konnte man dem neuen Reichskanzler, der den Eid auf die Reichsverfassung geschworen hatte, nicht vertrauen, dass er das ernst meinte, zumal er mündlich die weitere Kooperation mit der Kirche in Aussicht stellte? 8 Dabei ließen sich die kulturpolitischen Belange, um derentwillen die katholische Kirche den Nationalsozialismus bisher einhellig abgelehnt hatte – Konfessionsschule; Betätigung katholischer Vereine und Verbände; Freiheit für bischöfliche Verlautbarungen und für die katholische Presse – doch wohl einvernehmlich klären. Waren das nicht günstige Voraussetzungen für ein gutes Miteinander der Kirche mit dem „neuen Staat“? ———— 7 8
H. Müller (Hg.), ebd. 83f. Der Vorsitzende der Zentrumsfraktion im Reichstag, Prälat Ludwig Kaas, hegte auf Grund seiner Unterredungen mit Hitler und Papen, die er vor der entscheidenden Abstimmung im Reichstag geführt hatte, diese Hoffnung. Vgl. dazu E.-W. Böckenförde, Stellungnahme, 154 -158.
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Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Breslauer Kardinal Bertram, hatte allerdings noch am 10. März 1933 wegen der fortdauernden Gewalttaten gegen kirchliche Einrichtungen einen dramatischen Appell an Reichspräsident Hindenburg gerichtet. Trotzdem hob derselbe Kardinal Bertram im Namen des deutschen Episkopates am 28. März die Warnungen und Verbote vor den Nationalsozialisten auf.9 Er schrieb, die Bischöfe glaubten das Vertrauen hegen zu können, dass die von Hitler in seiner Regierungserklärung gemachten Zusicherungen auch eingehalten würden. Die Frage stellt sich, ob diese Zusicherungen der einzige Grund für die plötzliche Kehrtwendung des Episkopates waren. Nach allem, was über die Unterredungen von Kaas mit Hitler und Papen und andere Vorgänge im März 1933 bekannt geworden ist 10, kann es keinem vernünftigen Zweifel unterliegen, dass dabei der mögliche Abschluss eines Reichskonkordates eine wichtige, ja entscheidende Rolle gespielt hat. Die Bemühungen um ein Reichskonkordat waren immer wieder gescheitert. Jetzt sah Prälat Kaas als Kanonist die Chance dafür gekommen. Auf der Gegenseite hatte Hitler nicht nur großes Interesse an der Zustimmung des Zentrums zum Ermächtigungsgesetz. Er strebte auch an, mit der katholischen Kirche ins Reine zu kommen, wenn anders die katholische Bevölkerung nicht zur Mitarbeit im neuen Staat zu gewinnen war. Deshalb zögerte er nicht, der Kirche die kulturpolitischen Zugeständnisse zu machen, die sie so dringend wünschte. Aber es ging ihm um noch Wichtigeres: einen dauerhaften Vertrag mit der höchsten Stelle der katholischen Kirche zu bekommen – wie die Lateranverträge des faschistischen Italien 1929. Bereits am 2. April begannen im Vatikan die Sondierungen. Ohne vorab erfolgte Absprachen wäre ein so früher Termin unmöglich gewesen. Die direkten Verhandlungen wurden auf kirchlicher Seite von Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, dem vormaligen Nuntius in Deutschland, geführt, auf deutscher Seite als Bevollmächtigtem des Reichspräsidenten durch Vizekanzler Franz von Papen. Die Beratungen kamen zügig voran, und bereits im Juli 1933 wurde die Paraphierung des Reichskonkordates gemeldet. Wer sich am Wortlaut des Dokumentes 11 orientierte, konnte den Eindruck gewinnen, dass der Vatikan und die katholische Kirche in Deutschland nahezu alle kulturpolitischen Ziele erreicht hatten und die Entfaltung und Freiheit ———— 9 10
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H. Müller, a.a.O. 82f. und 88f. Klaus Scholder, a.a.O. 300 - 321, hat die Vorgänge in allen Einzelheiten recherchiert und ihren genauen Ablauf geschildert. Vgl. auch ebd. 483. Damals veröffentlicht als Beilage zur Zeitschrift „Zeit und Volk“, München 1933, I -VIII. Neudruck bei Denzler / Fabricius, Die Kirchen im Dritten Reich, Bd. 2, 61- 74.
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der Kirche auf allen relevanten Gebieten gewährleistet sei. Da Hitler das Konkordat indes nur als Mittel dazu ansah, die katholische Kirche in „seinen“ Staat einzubinden, war der Streit vorprogrammiert. Er entzündete sich sehr bald an der Auslegung, in Sonderheit des Artikels 31,2. Streit und Konflikt sollten nie enden, solange das NS-Regime existierte. Hitler hatte Grund zu großer Zufriedenheit, weil das Reichskonkordat der erste internationale Vertrag war, den das NS-Regime zustande brachte. Vor allem aber sah er sein Ziel verwirklicht, die katholische Kirche in den Einparteienstaat einzuordnen – unter sein Regiment in allen öffentlichen Belangen, in Staat und Gesellschaft. Kirchenintern war man über den Abschluss nicht überall glücklich. Neben anderen warnte Bischof Konrad Graf Preysing vor einem Vertrag mit dem NS-Regime wegen dessen Verlogenheit und Täuschungsabsichten, die er wie kein anderer Bischof erkannt hatte.12 Aber die Verhandlungen im Vatikan nahmen ihren weiteren Verlauf bis zur feierlichen Ratifizierung des Konkordates am 10. September 1933 in Rom. Wie umstritten das Reichskonkordat von Anfang an war, zeigte sich u.a. darin, dass es neben den warnenden und besorgten Stimmen auch große Begeisterung gab, da man in dem Vertrag einen unbeschreiblichen Erfolg für den Katholizismus sah. Der Jesuit Ivo Zeiger bezeichnete ihn als „etwas ganz Großes“, sogar als ein „Meisterwerk“.13 Die emphatische Reaktion Kardinal Faulhabers in einem Brief an Hitler ist oft zitiert worden: „Was die alten Parlamente und Parteien in 60 Jahren nicht fertig brachten, hat Ihr staatsmännischer Weitblick in 6 Monaten weltgeschichtlich verwirklicht. Für Deutschlands Ansehen nach Westen und Osten bedeutet dieser Handschlag mit dem Papsttum, der größten sittlichen Macht der Weltgeschichte, eine Großtat von unermeßlichem Segen.“ 14 Eine Woche nach der Ratifizierung fand auf Anregung der NS-Partei in der Berliner Hedwigskathedrale ein festlicher Dankgottesdienst statt, den der Apostolische Nuntius, Erzbischof Orsenigo, zelebrierte. Das unterstrich die führende Rolle Roms beim Zustandekommen des Konkordats. Das äußere Dekor aber, die zahlreichen Fahnen nicht nur der katholischen Verbände und Gruppierungen, sondern auch des Staates und der NS-Organisationen in der Kirche und auf dem weiten Vorplatz der Kathedrale erweckte für die Bevöl———— 12
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Vgl. das Memorandum von Preysings zur Bischofskonferenz vom 31.5.1933 bei H. Müller, a.a.O. 161. Ivo Zeiger SJ, Das Reichskonkordat, in: Stimmen der Zeit 126, 1933/34, 1 und 7. Vgl. K. Scholder a.a.O. 513. K. Scholder, ebd. 514.
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kerung den Eindruck, dass die katholische Kirche nunmehr Frieden mit dem Staat Hitlers geschlossen habe. Damals war das die Bestätigung für die Geschehnisse seit dem Frühjahr 1933. Zahlreiche katholische Vereine verschiedener Ausrichtung hatten sich positiv zum „neuen Staat“ und seinen Zielen geäußert und zum Teil ihre Mitglieder zur Mitarbeit in den NS-Untergliederungen aufgerufen. Auch einige bekannte katholische Theologen äußerten sich damals sehr anerkennend und aufmunternd. Schließlich hatte der Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom Juni 1933 bei aller Treue zum katholischen Glauben dieselbe Tendenz.
Kirchliche Kooperationsbereitschaft Dieser gemeinsame Hirtenbrief 15 zeigt deutlich einige zusätzliche Gründe für die damals sehr positive Einschätzung des NS-Staates und seiner Ziele. Die Bischöfe bejahen die „starke Betonung der Autorität und [...] die unnachgiebige Forderung der organischen Eingliederung der einzelnen und der Körperschaften in das Ganze des Staates“ (165). Sie sehen Parallelen dazu in der Autoritätsauffassung und im Willen zur Gemeinschaft, wie sie die katholische Kirche lehrt, und sie erwarten deshalb von den Katholiken, sich jetzt auch der staatlichen Autorität zu unterwerfen. Dies sei nicht nur eine natürliche, sondern auch eine übernatürliche Tugend, „weil wir in jeder menschlichen Obrigkeit einen Abglanz der göttlichen Herrschaft und eine Teilnahme an der ewigen Autorität Gottes erblicken (Röm. 13,1ff.)“. Dabei wünschen die Bischöfe, dass der Staat „die menschliche Freiheit nicht mehr beschneide, als es das Gemeinwohl verlangt “ (ebd.). Die Bischöfe betonen die Übereinstimmung mit den Zielen, „die die neue Staatsautorität für die Freiheit unseres Volkes erstrebt“ (166), damit es wieder den „Ehrenplatz in der Völkerfamilie“ (ebd.) erhält, der ihm ungerechterweise von den „Siegernationen“ genommen wurde. Vor allem aber begrüßen die Oberhirten die Absicht, die vom Unglauben „entfesselte Unsittlichkeit“ und den mörderischen „Bolschewismus mit seinem satanischen Gotteshass“ zu bekämpfen, die „die deutsche Volksseele bedrohen und verwüsten“ (168). Nach der Forderung, die oben genannten kulturpolitischen Belange der Kirche zu schützen und zu bewahren, schließt der Hirtenbrief folgendermaßen: ———— 15
Vollständiger Text des Hirtenbriefes bei H. Müller, a.a.O. 163- 173. Dort alle Zitate; Hervorhebungen im Text.
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Die aufgezählten Forderungen bedeuten „nicht etwa einen versteckten Vorbehalt dem neuen Staat gegenüber. Wir wollen dem Staat um keinen Preis die Kräfte der Kirche entziehen, und wir dürfen es nicht, weil nur die Volkskraft und die Gotteskraft ... uns erretten und erheben kann. Ein abwartendes Beiseitestehen oder gar eine Feindseligkeit der Kirche dem Staat gegenüber müsste Kirche und Staat verhängnisvoll treffen“ (172f.). Die Bischöfe vertrauen darauf, dass „alles Unversöhnliche und Hasserfüllte ... sich nur als ein Gärungsvorgang erweist, der bei der Klärung der Verhältnisse als Hefe zu Boden sinkt“ (ebd.). Die Gründe für die erstaunlich kooperative Haltung des deutschen Episkopates und auch des Vatikans liegen nun offen zu Tage: Durch die offizielle Aufhebung der Verbote und Warnungen am 28. März 1933 und vor allem durch das Reichskonkordat hofften die päpstliche Kurie und die Mehrheit der deutschen Bischöfe, dem Katholizismus in Deutschland einen nachhaltigen Schutz gewähren zu können. Sie selbst waren allerdings dadurch eingebunden in die üblichen diplomatischen Gepflogenheiten. Einerseits konnten sie bei Verstößen und Gewaltanwendungen, die kein Ende nahmen, durch Eingaben an Regierungs- und Partei-Stellen intervenieren. Das auffallendste Dokument dieser Art ist die päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom Frühjahr 1937. Papst Pius XI. prangerte darin die eklatanten Verstöße gegen die Bestimmungen des Reichskonkordats mit aller Schärfe an. Eine Änderung der kirchlichen Situation wurde aber keineswegs erreicht. Andererseits bewirkte die offizielle Eingebundenheit in den NS-Staat, dass der Kirche eine grundsätzliche Opposition oder gar die Teilnahme am aktiven Widerstand gegen das inzwischen verbrecherische Regime verwehrt waren. Das blieb Sache Einzelner, die dafür Freiheit und Leben riskierten. Weitere Gründe lagen – außer den bekannten kulturpolitischen Anliegen – in einer vermeintlichen inneren Übereinstimmung des Katholizismus mit wichtigen Schwerpunkten des Regimes: Die Propagierung und Verwirklichung einer straffen Autorität, die Bekämpfung von Auswüchsen liberaler Freiheitsrechte („öffentliche Unsittlichkeit“) und des Bolschewismus mit seiner Gottlosigkeit entsprachen weitgehend den Zielen der Bischöfe. Bei alledem war in den ersten Monaten offensichtlich eine Mehrheit der Bischöfe davon überzeugt, dass man trotz aller gegenteiligen Fakten (Gewalttaten) dem neuen Reichskanzler Vertrauen entgegenbringen könne, hatte er doch die christlichen Konfessionen als Grundpfeiler seiner Politik bezeichnet und führte zudem wichtige christliche Begriffe wie Gott und Offenbarung häufig im Munde.
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Die kritische Reflexion solcher Vorstellungen muss versuchen, das Ganze des Politischen in den Blick zu nehmen. Dazu sagt E.-W. Böckenförde: „Die Bischöfe haben sich zu dem politischen Geschehen rein weltanschaulich ... verhalten. Sie haben deshalb das neue Regime anerkannt und die Gläubigen zur Mitarbeit aufgefordert, sobald es ‚Tatsache‘ geworden war und das Weltanschauliche, konkret: den kirchlich-kulturellen Bereich, nicht mehr gefährdete oder sogar zu sichern schien. Die Bischöfe mochten glauben, damit dem Politischen zu entgehen. Sie nahmen nur auf das Bedacht, was am Politischen weltanschaulich oder naturrechtlich war. Wenn sie aber den ‚neuen Staat‘ anerkannten und die katholischen Bürger zu Loyalität, Einordnung und Mitarbeit aufforderten, war das sehr wohl ein politisches Verhalten ... So war es möglich, dass der deutsche Katholizismus, ohne es recht zu bemerken, durch Zusagen für den kirchlich-kulturpolitischen Bereich und das Programm einer ‚sittlichen Volkserneuerung‘ in den entscheidenden Monaten der Machtstabilisierung ‚vor Hitlers Karren gespannt‘ werden konnte.“ 16 – Wenn es möglicherweise Bischöfe gab, die die Hoffnung hegten, mit Hitler einen christlich geprägten Staat errichten zu können 17, so sahen sie sich bald grausam enttäuscht, denn der Diktator brachte in Wirklichkeit der Kirche nur Verachtung entgegen und wollte mit „seinem“ Staat die verbrecherischen Ziele seiner Ideologie umsetzen. In diesem Irrtum liegt die Tragik derer, die im Jahre 1933 aus christlicher Überzeugung zum Handeln herausgefordert waren.
Die Stellung der Kirche zu den Juden im NS-Staat Schon längst besteht kein Zweifel mehr, dass im Schicksal der Juden eine Herausforderung von zentraler Bedeutung lag, die nicht erkannt wurde. Auch nach 1945 spielte der durch das NS-Regime begangene Völkermord an den Juden im Bewusstsein der bundesdeutschen Bevölkerung zunächst nur eine untergeordnete Rolle, obwohl das unglaubliche Ausmaß der Verbrechen bald nach dem Krieg bekannt und häufig dokumentiert wurde. Das änderte sich erst in den sechziger Jahren durch spektakuläre Ereignisse wie den Auschwitzprozess in Frankfurt, bald aber auch infolge intensiver Rückfragen der damaligen jungen Generation an ihre Eltern und Großeltern. So wurden nun auch die Kirchen nach ihrem Verhältnis und Verhalten zu den Juden im Dritten Reich befragt. Das Ergebnis war für beide Kirchen nieder———— 16 17
Böckenförde, Stellungnahme, 173ff. Vgl. Paul Meisenberg, Katholische Kirche und demokratischer Staat, Pastoralblatt 5/1995, 135 - 140.
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schmetternd: sie hatten von 1933 an bis zum bitteren Ende weitestgehend geschwiegen – wie die Gesamtbevölkerung. Hier seien die markantesten Fakten benannt. Wer nach dem 30. Januar 1933 gehofft hatte, der Judenhass, den Hitler seit den frühen zwanziger Jahren in immer neuen Reden und Schriften („Mein Kampf “) propagiert hatte, werde sich legen, sah sich bald bitter getäuscht. Schon im März setzten die ersten Gewaltausbrüche ein. In der schlesischen Hauptstadt Breslau wurden jüdische Juristen brutal eingeschüchtert und an ihrer Berufsausübung gehindert. Nach Bekanntwerden dieser Ereignisse kam es zu scharfen Protesten im Ausland. Daraufhin ordnete Hitler kurzfristig einen landesweiten Boykott jüdischer Geschäfte, Arztpraxen, Anwaltskanzleien und anderer Einrichtungen für den 1. April 1933 an. In den Augen der Nationalsozialisten war das eine Art Test, wie die deutsche Bevölkerung reagieren würde. Das Ergebnis war keine Begeisterung, aber auch kaum Protest. Alles blieb weitgehend ruhig, – und so sollte es bei den meisten antijüdischen Attacken der folgenden Jahre bleiben. Bezüglich der katholischen Bischöfe ist ein Dokument überliefert, das sehr bezeichnend für die Anfänge der Ausgrenzungspolitik ist. Auf Empfehlung des bekanntermaßen judenfreundlichen Domkapitulars Lichtenberg wandte sich der Direktor der Deutschen Bank in Berlin, Oscar Wassermann, am 18. April 1933 an Kardinal Bertram mit der dringenden Bitte, beim Reichspräsidenten und der Reichsregierung zu intervenieren, um die Aufhebung des Boykotts gegen jüdische Geschäfte zu erreichen. Als Vorsitzender der Bischofskonferenz erklärte sich Bertram schließlich bereit, die Anfrage mit der Bitte um Stellungnahme an die Metropoliten der Kirchenprovinzen weiterzuleiten. Bertram lieferte seine eigene Ablehnung gleich folgendermaßen 18 mit: Es handle sich um einen wirtschaftlichen Kampf in einem Interessenkreis, der „uns in kirchlicher Hinsicht nicht nahesteht“. Der Schritt könne als Einmischung in eine Angelegenheit erscheinen, „die das Aufgabengebiet des Episkopates weniger berührt“. Dieser habe aber „triftigen Grund, sich auf sein eigenes Arbeitsgebiet zu beschränken.“ Eine Intervention würde u.U. den Angelegenheiten der Kirche in der Öffentlichkeit schaden. Schließlich habe „die überwiegend in jüdischen Händen befindliche Presse gegenüber den Katholikenverfolgungen durchweg Schweigen beobachtet.“ – Fast alle Metropoliten waren gegen eine solche Intervention. Sie unterblieb daraufhin. ———— 18
Dokumentation bei H. Müller, a.a.O. 98. Alle Zitate stammen aus diesem Dokument.
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Anlässlich der ersten Unterredung, die Hitler als Kanzler mit Vertretern des Episkopats hatte 19, ging es um Fragen der Freiheit der Kirche und ihrer Einrichtungen, da man fortgesetzt unter Gewaltanwendungen durch NSOrgane zu leiden hatte. Dabei äußerte Hitler, die katholische Kirche habe 1500 Jahre lang die Juden als die Schädlinge angesehen, sie ins Ghetto gewiesen, usw. „Da hat man erkannt, was die Juden sind. ... Ich gehe zurück auf die Zeit, was man 1500 Jahre lang getan hat ... Und vielleicht erweise ich dem Christentum den größten Dienst.“ 20 Von einer Zurückweisung dieser Unterstellung und Gleichsetzung mit Hitlers Judenmaßnahmen wurde nichts bekannt. Vielleicht waren die beiden Gesprächspartner überrascht, gar irritiert, dass Hitler seine Judenpolitik überhaupt ansprach. Offensichtlich wollten sie andererseits den Gesprächsfaden über die Belange der Kirche nicht abreißen lassen. Auch die weiteren Ungeheuerlichkeiten gegen die jüdische Bevölkerung riefen von Seiten der katholischen (und der evangelischen) Kirche keinen nennenswerten Protest hervor, weder gegen die Ausgrenzungen aus der Gesellschaft, noch gegen die Reichspogromnacht und Ghettoisierung, noch schließlich gegen die Deportationen und die Massenvernichtung. Es blieb bei der Fremdheit den Juden gegenüber, wie sie Kardinal Bertram in seinem Schreiben im April 1933 zum Ausdruck gebracht hatte.
Die katholische Kirche und die weitere Entwicklung des NS-Staates Nach dem Tod des Reichspräsidenten Hindenburg am 2. August 1934 riss Hitler auch das Amt des Reichspräsidenten an sich. Die Wehrmacht ließ er nicht mehr auf die Verfassung, sondern auf seine Person vereidigen. Spätestens jetzt war Hitlers Alleinherrschaft besiegelt, zumal er wenige Wochen vorher, am 30. Juni 1934, seine innerparteilichen Gegner hatte ermorden lassen. Der anfangs autoritäre Staat war ein totalitärer geworden. Der „Führer“ brauchte nahezu keine Rücksichten mehr auf Menschen oder Gruppierungen anderer Überzeugung zu nehmen, auch nicht auf die katholische Kirche. Zwar ließ er den Kirchen ihre auf die „Sakristei“ reduzierte Eigenständigkeit, also im rein religiösen Bereich, duldete aber keinerlei „politische ———— 19
20
Ausführliche Dokumentation bei H. Müller, a.a.O. 126-130. Gesprächspartner Hitlers waren am 26. April 1933 Bischof Berning, Osnabrück und Prälat Steinmann, Berlin. das Gespräch dauerte 75 Minuten. Ebd. 129.
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Betätigung“ und bestimmte selbst, was darunter zu verstehen war. Die Konsequenzen: entgegen den Bestimmungen des Reichskonkordats, gab es ab 1936 keine katholischen Schulen mehr, ein Jahr später waren sämtliche katholischen Vereinigungen, vor allem die zahlreichen Jugendverbände verboten, die kirchliche Presse nach Belieben eingeschränkt und ständig drangsaliert, u.v.a. Zahlreiche missliebige Geistliche und katholische Laien kamen zeitweise in „Schutzhaft“ oder auf Dauer in Gefängnisse und Konzentrationslager. Immerhin war es der Kirche weiterhin möglich, ihre pastoralen Aufgaben wahrzunehmen und ihre Gläubigen – öffentlich oder geheim – in der Treue zum Evangelium zu bestärken, gelegentlich auch Gegenkräfte gegen Unrecht und Gewalt zu mobilisieren. Der nachhaltigste Protest von katholischer Seite gegen das NS-Regime war die schon genannte Enzyklika von Papst Pius XI. „Mit brennender Sorge“ vom 14. März 1937.21 Sie beklagte im ersten Teil in aller Deutlichkeit die eklatanten Verletzungen von Geist und Buchstaben des Reichskonkordates und gab die Schuld dafür allein dem NS-Regime. Im umfangreicheren zweiten Teil thematisiert das päpstliche Schreiben zentrale Aspekte der Glaubens- und Sittenlehre. Hier prangert das Dokument erneut die Rassenideologie des NS an, aber auch die Umdeutung theologischer Begriffe wie Gott, Offenbarung, u.a. durch das Regime. – Die Enzyklika wurde sofort nach ihrer Zustellung durch Kuriere am 21.3.1937 (Palmsonntag!) unter großen Schwierigkeiten von den Kanzeln verlesen. Die NS-Regierung ließ daraufhin eine Reihe von Priestern verhaften und Pressehäuser, die das Dokument gedruckt hatten, schließen. Indes blieb das Reichskonkordat trotz aller Missachtung durch das NSRegime weiter in Geltung – und die Kirche weiter eingebunden in die diplomatischen Gepflogenheiten.22 Ein weiteres sehr schwieriges Kapitel sind die kirchenamtlichen Stellungnahmen 23 zu den Kriegen, die Hitler entfesselte und die sich zum Zweiten Weltkrieg ausweiteten. Darauf kann im Rahmen dieser Darstellung nicht näher eingegangen werden.
———— 21 22
23
Text der Enzyklika mit Parallelen des Faulhaber-Entwurfs bei Denzler-Fabrizius, a.a.O. 104- 150. Vgl. dazu die hellsichtige Denkschrift des Berliner Bischofs Konrad von Preysing vom 17. Oktober 1937 bei Denzler / Fabricius, a.a.O. 161-166. Preysing analysiert schonungslos die Absichten des Regimes bzgl. Zurückdrängung des Einflusses der Kirche und gibt Empfehlungen für das künftige Verhalten der Kirche. Preysings Forderung, angesichts der ständigen Vertragsbrüche „sich von den Regeln feinster Diplomatie“ (166) im Umgang mit dem NS-Regime abzuwenden, fand keine Mehrheit in der Bischofskonferenz. Vgl. Gordon C. Zahn, Die deutschen Katholiken und Hitlers Kriege, Graz-Wien-Köln 1965.
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Josef Frings, Kölner Erzbischof seit 1942 Als der bisherige Regens des Kölner Priesterseminars, Josef Frings, am 21. Juni 1942 im Kölner Dom zum Bischof geweiht wurde, hatte Clemens August Graf von Galen seine berühmten Predigten 24 gegen Gewaltakte der NS-Regierung schon gehalten: gegen willkürliche Freiheitsberaubungen, für Rechtssicherheit im Staat und – als Höhepunkt – die Predigt über die geplante Ermordung Geisteskranker, verbunden mit der Warnung, jeder einzelne, beispielsweise der im Krieg schwer verwundete Soldat, könne in die Lage kommen, lebensunwert zu sein. Bischof Graf von Galen hatte damit im Sommer 1941 in Münster und Umgebung großes Aufsehen erregt. Seine Predigten sind auch der deutliche Beweis dafür, dass sich die Hoffnung auf ein gutes Einvernehmen oder zumindest auf gedeihliche Kooperation durch permanente Provokationen des NS-Regimes längst in Enttäuschung, Zorn und Angst gewandelt hatte. Am Beispiel von Josef Frings, des damals jungen Erzbischofs von Köln lässt sich zeigen, wie sich die Tätigkeit eines deutschen Bischofs in den letzten Jahren der Nazi-Herrschaft gestaltete.25 Kardinal Frings schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „Die erste Bekanntschaft mit den Nationalsozialisten machte ich schon im Jahr 1931, als ich noch Pfarrer in KölnBraunsfeld war. Im dortigen Vereinshaus fand eine Zentrumsversammlung statt, zu der etwa 50 Personen erschienen waren, darunter eine Reihe von uns ganz fremden Leuten, die sich nachher als Nazis entpuppten.“ 26 Gleich zu Beginn begannen sie zu randalieren und mit harten Gegenständen das Rednerpult zu traktieren. Sie verletzten u.a. Pfarrer Frings, der sich noch am Abend zur Behandlung ins Krankenhaus begeben musste. Bei einem gerichtlichen Nachspiel wurde der Rädelsführer Winkelnkemper, der Bruder des späteren NS-Oberbürgermeisters, schließlich freigesprochen. Einige Jahre später hatte Frings, inzwischen Regens des Priesterseminars, mit den NS-Behörden zu tun, als es aus nichtigem Anlass um die Beschlagnahme und schließlich die Konfiszierung des Gebäudes in Bensberg ging. Dann fährt er fort: „Noch ehe ich mein Amt als Erzbischof angetreten hatte, beging ich ein ‚Kapitalverbrechen‘. Ich machte Besuch bei den Be———— 24
25
26
Domkapitel Münster (Hg.), Clemens August Kardinal von Galen, Predigten in dunkler Zeit, Münster 1993. Josef Kardinal Frings, Für die Menschen bestellt. Erinnerungen des Alterzbischofs von Köln, Köln 1973 (zitiert: Frings, Erinnerungen). – Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887-1978), Bd. I, Paderborn 2003 (zitiert: Trippen, Kardinal Frings). Josef Frings, Erinnerungen, 35.
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hörden, aber nicht beim Gauleiter, weil ich der Identifizierung von Staat und Partei keinen Vorschub leisten wollte. Das wurde mir schwer verübelt. Die Behörden machten, offenbar auf höhere Anweisung hin, keinen Gegenbesuch bei mir ... der Presse [war] untersagt, irgendeine Nachricht über die Weihe zu bringen.“ 27 Gleichwohl war am 21. Juni 1942 im Kölner Dom der Andrang des Volkes, vor allem der Jugend, überwältigend. Das gleiche geschah bei allen Besuchen des neuen Erzbischofs, die er anschließend in den großen Städten des Erzbistums abstattete. Dabei legte Frings großen Wert darauf, dass neben einem Gottesdienst für Erwachsene, besonders Familien, eine eigene Jugendfeierstunde stattfand, weil die Jugendseelsorge durch die NS-Behörden stark behindert wurde.28 Im Anschluss an die Rundreise durch das Erzbistum versammelte Frings den Klerus zu Priesterkonferenzen, auf denen sein Seelsorgskonzept deutlich wurde. Bezüglich der Situation im NS-Staat gab er die Direktive aus, Priester sollten sich nicht in politische Fragen einmischen. „Jede Obrigkeit bleibe jedoch an den Willen Gottes und an das Gesetz Gottes gebunden.“ 29 Die Kirche habe in jeder staatlichen Ordnung darauf hinzuwirken, dass „die sittlichen Grundgesetze als Wille Gottes ihre strenge Beobachtung fänden ... Frings stellte damit den Alleingestaltungswillen des NS-Regimes in Frage.“ 30 Andererseits mahnte er aber auch zur Behutsamkeit; man solle auch das Positive anerkennen. „Die Priester und Seelsorger müssten hier mehr denn je selber prüfen, was in dieser neuen gesellschaftlichen Ordnung christliche Färbung habe, was also offen bejaht und auch mit gestützt werden könne, oder aber, was noch einer christlichen Umprägung bedürfe.“ 31 Im August 1942 nahm der neue Kölner Erzbischof erstmals an einer Fuldaer Bischofskonferenz teil. Frings gehörte bald zu den jüngeren Bischöfen, die gegenüber dem NS-Regime eine etwas deutlichere Sprache suchten als Kardinal Bertram. Sie wurden aber von Bischof Galen genau davor gewarnt: „Unsere Jungens an der Front müssen dafür zahlen.“ 32 Auf dem Konveniat der westdeutschen Bischöfe im November 1942 in Kevelaer wurde Bischof Preysing gebeten, einen Hirtenbrief über ‚Recht und Gerechtigkeit‘ zu verfassen, den jeder Bischof in eigener Verantwortung am 4. Adventssonntag verlesen lassen könne. Darin hieß es: „Wer immer ———— 27 28 29 30 31 32
Frings, Erinnerungen, 36. Vgl. Trippen, Kardinal Frings, 79 - 86. Ebd. 87. Ebd. Ebd. Frings, Erinnerungen 26.
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Menschenanlitz trägt, hat Rechte, die ihm keine irdische Gewalt nehmen darf ... Alle die Urrechte, die der Mensch hat, das Recht auf Leben, auf Unversehrtheit, auf Freiheit und Eigentum, eine Ehe, deren Bestand nicht von staatlicher Willkür abhängt, können und dürfen auch dem nicht abgesprochen werden, der nicht unseres Blutes ist oder nicht unsere Sprache spricht.“ 33 Zur Verärgerung des Kölner Gauleiters der NSDAP ließ Frings diesen Hirtenbrief am 20. Dezember 1942 verlesen, eines der deutlichsten Worte gegen die damalige NS-Rassenideologie. Erzbischof Frings scheute sich auch in weiteren Hirtenworten und Predigten im Jahr 1943 nicht, sich mit den NS-Behörden anzulegen, beispielsweise wenn es um die religiöse Betreuung der Kinder ging, die man damals aus den durch Luftangriffe gefährdeten westdeutschen Gebieten evakuierte. Zusammen mit Erzbischof Lorenz Jäger erarbeite Frings den Entwurf für den letzten Hirtenbrief der deutschen Bischöfe in der NS-Zeit. Sein Thema war der Dekalog. Kardinal Bertram mahnte ein rein religiöses Wort dazu an. Gleichwohl hieß es in dem am 12. September 1943 verlesenen gemeinsamem Brief zum fünften Gebot: „Tötung ist in sich schlecht, auch wenn sie angeblich im Interesse des Gemeinwohls verübt würde: An schuld- und wehrlosen Geistesschwachen ... an unschuldigen Geiseln und entwaffneten Kriegs- oder Strafgefangenen, an Menschen fremder Rassen und Abstammung.“ 34 Ulrich von Hehl urteilt: „Zu Recht hat man den Dekaloghirtenbrief unter die mutigsten Dokumente der Kriegszeit gezählt. Tatsächlich gehört er zu den bedrückend wenigen öffentlichen Protesten, die von kirchlicher Seite gegen die Ausrottungspolitik der Nationalsozialisten gerade auch in der Judenfrage ergangen sind.“ 35 Erzbischof Frings prangerte noch mehrmals die Verletzungen der Menschenrechte an. In seiner Weihnachtspredigt 1943 sagte er: „Wer mit Absicht Unschuldige und Nichtkämpfende tötet, sei es aus der Luft oder wie immer, wer ihnen das Leben nimmt, nur weil sie einem fremden Volk, einer fremden Rasse angehören, der sündigt wider Gottes Gebot: Du sollst nicht töten.“ 36 Deutlicher konnte damals auch der Erzbischof von Köln den Judenmord nicht ansprechen. Die Zerstörung der westdeutschen Großstädte durch Luftangriffe wurde – zumal im Erzbistum Köln – seit Mitte 1943 immer schlimmer. Jetzt galt die Sorge des Erzbischofs der pastoralen Begleitung der vielen Tausend Katholiken, die nach Thüringen, Sachsen, Niederschlesien und anderswohin ———— 33 34 35 36
Trippen, Kardinal Frings, 90. Trippen, ebd. 96. Ulrich von Hehl, Erzbistum Köln, 234f., zitiert bei Trippen ebd. Ebd. 97.
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evakuiert wurden. Frings veranlasste, dass Kölner Diözesanpriester den Evakuierten nachreisten und als Seelsorger zur Verfügung standen, soweit das unter den Diasporaverhältnissen möglich war. Als nach dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 eine Verhaftungswelle durch das Land ging, die auch völlig Unbeteiligte traf, verwandte sich Erzbischof Frings vielfach durch Bittgesuche für die baldige Freilassung der Inhaftierten. Auch schickte er ein leider vergebliches Gnadengesuch für den Arbeiterführer Nikolaus Groß an den Reichsjustizminister. Das vorhergehende Ansinnen des Geistlichen Dr. Otto Müller, sich dem Kreis um Karl Goerdeler anzuschließen, hatte Frings allerdings abgelehnt.37 In einer ganz anderen Situation als Josef Frings waren bezüglich der NSRegierung naturgemäß Bischöfe wie Kardinal Michael Faulhaber, der schon im Jahr 1933 im Amt war und die ganze Zeit der NS-Herrschaft als Erzbischof von München und Vorsitzender der Bayerischen Bischofskonferenz miterlebte.38 Faulhabers emphatischem Brief an Hitler zum Abschluss des Reichskonkordats (s.o.), dessen Einschätzung von Hitlers Gläubigkeit und Hochschätzung des Christentums, seinem Abscheu vor dem „Verbrechen“ des 20. Juli stehen die zahlreichen Eingaben des Kardinals zu NS-Übergriffen und seine Mitwirkung an der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ gegenüber. Seine Haltung zum Nationalsozialismus war schwankend. Das ganze Ausmaß der Gewaltverbrechen und Menschenrechtsverletzungen scheint Faulhaber auch nach dem Ende der NS-Herrschaft und nach Vorliegen der Dokumentationen darüber nicht klar geworden zu sein.
Der Nationalsozialismus als Versuchung Hitler hat mit seinen Reden, in denen er allen alles versprach und gleichzeitig die damals verantwortlichen Politiker hasserfüllt beschimpfte, seit dem Jahr 1929 mehr und mehr Massen von Menschen angezogen. Der Erfolg gab ihm Recht: in demokratischen Wahlen bekam er in den letzten Jahren der Weimarer Republik eine Zustimmung, von der andere Politiker und Parteien dieser Zeit nur träumen konnten: Bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 errang die NSDAP 37,4 % der Stimmen. Mehr als jeder dritte Wähler hatte damals Hitlers Partei seine Stimme gegeben. Als Ursache wird ———— 37
38
Vgl. Frings Erinnerungen, 37f. Vgl. zu den Aktivitäten des Erzbischofs im letzten Kriegsjahr und bis zum Kriegsende: Trippen, Kardinal Frings, 105 - 119. Vgl. u.a. Ludwig Volk, Kardinal Faulhabers Stellung zur Weimarer Republik und zum NS-Staat, in: StdZ 91. Jg. 173 -195 (zitiert: Volk, Faulhaber).
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meist die Weltwirtschaftskrise angeführt, vor allem die Massenarbeitslosigkeit. Es gibt jedoch tiefer liegende Gründe, die seit langem virulent waren. Der Staat von Weimar, nach der Niederlage von 1918 entstanden, war unbeliebt. In weiten Kreisen des Volkes wurde die demokratische Ordnung nicht angenommen oder zumindest gering geschätzt. Zudem war dieser Staat krisengeschüttelt. Nach zahlreichen politischen Unruhen der Anfangszeit und der Inflation im Jahr 1923 konsolidierte er sich zwar für kurze Zeit, und es bahnte sich sogar eine Aussöhnung mit Frankreich an. Aber nach dem frühen Tod des Außenministers Stresemann und der hereinbrechenden wirtschaftlichen Probleme geriet der Staat erneut in große Schwierigkeiten, die Hitler schamlos ausnutzte, wobei er vor Unruhestiftung und Gewaltanwendung nicht zurückschreckte. Die Stimmung im Volk war ambivalent: auf der einen Seite Angst vor Eskalation der Gewalt, auf der anderen die Faszination auf Grund der Versprechen Hitlers, unter seiner Führung werde sich alles zum Besseren entwickeln. Die Versuchung, Hitler zu glauben und zu folgen, bezog sich, wie Rainer Bucher 39 dargestellt hat, auf folgende Faktoren: die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Gemeint ist bei Hitler eine kulturell homogenisierte, „von allen modernen Pluralitätsirritationen ‚gereinigte‘ deutsche Volksgemeinschaft.“ 40 In ihr habe der Nationalsozialismus seine zentrale und überaus wirksame Utopie gehabt. Bedenkt man, dass Aktionen wie die Bücherverbrennung auch von den Eliten nahezu widerspruchslos hingenommen wurden, wird die utopische Sehnsucht nach Volksgemeinschaft dahinter sichtbar. Weitere Sehnsüchte waren die weitverbreitete Hoffnung auf Linderung der Kränkung, die die Deutschen durch die Niederlage von 1918 erlitten zu haben glaubten 41, und die nach einem heroischen Leben, wie sie beispielsweise im George-Kreis, aber auch in der Jugendbewegung verbreitet war. „Der Heroismus als Existenzkonzept ist eine Flucht ... vor der Realität, vor dem Alltag.“ 42 Überzeugt von einem religiösen Monismus, durch den alles wissenschaftlich erklärbar ist, teilte Hitler „wie viele damals, die Sehnsucht ... nach einer Erlösung nicht durch den Gott der Gnade ... sondern durch eigene Kraft und Anstrengung.“ 43 Es war das Verlangen nach Selbsterlösung, das im gedemütigten Volk geweckt wurde und plötzlich möglich erschien. Zudem beanspruchte Hitler, von der „Vorsehung“ dazu ausersehen zu sein, den Volkswillen in ———— 39 40 41 42 43
Rainer Bucher, Hitlers Theologie, Stuttgart 2008. (zitiert: Bucher, Theologie). Bucher, Theologie 159. Vgl. ebd. 164. Ebd. 167 Ebd. 169.
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seiner Person zu verkörpern. Die demokratische Ordnung des Weimarer Staates mit ihrer lästig gewordenen Pluralität der Parlamente – sie konnte gefahrlos zu Grabe getragen werden zugunsten des einen Willens des Führers an der Spitze. Hitlers „Diktatur als höchste Form der Demokratie“ 44 übte, so verstanden, eine große Faszination auf das Volk aus. Denn er versprach „die Segnungen der Moderne ohne deren Pluralitätszumutungen“.45 Und er begann schnell mit ihrer Verwirklichung: die intensivierte Industriealisierung und Technisierung aller Lebensbereiche, die Hitler betrieb, wurde bereitwillig angenommen. Auf die Frage, welche Bevölkerungsgruppen den Versprechungen Hitlers am ehesten erlagen, nannte der Historiker Fritz Stern 46 die deutschen Eliten. Ihnen gab er eine wesentliche Mitschuld am Erstarken des NS. „Die Grundstimmung der Eliten war Ablehnung und Ressentiment“ 47 gegen den demokratischen Staat. Deshalb sei es keineswegs ein Zufall gewesen, dass die Nationalsozialisten ihre ersten großen Erfolge in der Studentenschaft errungen haben. In der Akademikerschaft, vor allem bei den Professoren, gab es große Sympathien für eine autoritäre Staatsform. Das führte, wie Stern urteilt, zur „Selbstaufgabe der geistigen Eliten“.48 Nach der Machtergreifung bestand die Versuchung aus „Anpassung, Mitmachen, Parteieintritt, Begeisterung – und das trotz SA-Kellern und Verfolgungen, trotz des Verlusts der Bürgerrechte, trotz Bücherverbrennung, trotz der sogenannten Säuberung der Universitäten ... Trotz dieser Angriffe gegen Rechtstradition und Wissenschaftsehre haben sich die meisten Professoren – wie 1914 – zur Nation, zur neuen deutschen Erhebung sofort und leidenschaftlich bekannt“.49 Sie ließen sich vereinnahmen und gleichschalten, wo gerade bei ihnen kritische Distanz angebracht gewesen wäre. Über die Versuchungen und Verlockungen durch Hitler und den Nationalsozialismus, die besonders in den ersten Wochen und Monaten nach dem 30. Januar 1933 speziell auf die katholische Kirche zukamen, war schon ausführlich die Rede. Sie waren besonders groß, weil sich Hitler als neuer Reichskanzler zu dieser Zeit in für die katholische Kirche besonders wichtigen Belangen erstaunlich kooperationsbereit gab und auch persönlich den Eindruck zu ———— 44
45 46
47 48 49
Vgl. R. Zitelmann, Hitler, Selbstverständnis eines Revolutionärs, Stuttgart 1990, 437- 442, zitiert bei R. Bucher, Theologie, 153. Bucher, ebd. Fritz Stern, Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht, Berlin 1988. Hier: Der Nationalsozialismus als Versuchung, 164 - 213. – (zitiert: Stern, Versuchung). Stern, Versuchung 181. Ebd. 188. Ebd.
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erwecken verstand, ein gläubiger Christ zu sein. Es gab hellsichtige Menschen, die warnend ihre Stimme erhoben im Wissen um das wahre Gesicht des NS, das dieser ja schon deutlich gezeigt hatte. Wer aber konnte genau wissen, welches der richtige Weg für die Kirche sei; vor allem aber: wer konnte damals ahnen, dass man es in Hitler mit einem der schlimmsten Verbrecher zu tun haben werde, dem jedes Mittel der Lüge und Täuschung recht war, um zum Ziel zu kommen, hier zu dem vorläufigen Ziel, die Bischöfe in Sicherheit zu wiegen und dadurch die katholischen Christen in seinen Staat einzugliedern oder sogar zu seinen Bündnispartnern zu machen? In der Tatsache, dass man sich täuschen und einbinden ließ, liegt eine tiefe Tragik, die von persönlicher Schuld sehr wohl zu unterscheiden ist. Die Irritationen über die fortdauernde Gewalt, über willkürliche Verhaftungen und bald auch Vertragsbrüche führten bei manchen schnell zu Ernüchterung und Enttäuschung. Bei anderen, auch bei katholischen Christen, aber hielt die Faszination noch lange Zeit an – besonders über Hitlers Erfolge, die es bis in die Kriegszeit hinein zu verzeichnen und durch eine geschickte Propaganda zu bejubeln gab. Hoffnung, dass es in der neuen gesellschaftlichen Ordnung Elemente gebe, die bejaht und gestützt werden sollten, oder aber „noch einer christlichen Umprägung“ 50 bedürften, Zuversicht, dass der ‚Führer‘ doch ein Mensch sei, der Verehrung verdiene 51, gab es auch im katholischen Raum noch sehr lange. Ist es nicht einer Überlegung wert, auch zu den Irrtümern im Jahr 1933 eine offizielle kirchliche Stellungnahme abzugeben, wie sie zur Judenproblematik erfolgt ist? Es geht dabei nicht um Vorwürfe an längst Verstorbene, sondern um bittere Konsequenzen aus der Vergangenheit im Blick auf Gegenwart und Zukunft.
Lehren für heute und morgen Die Kritik E.-W. Böckenfördes am deutschen Katholizismus im Frühjahr 1933, er habe angesichts der Machtergreifung Hitlers nur seine eigenen Belange gesehen und nicht das Ganze des Politischen bedacht, ist nach anfänglich heftigen Kontroversen als richtig erkannt worden. Dabei räumt Böckenförde ein, dass für die Bischöfe als institutionelle Repräsentanten der Kirche die kirchlich-kulturpolitischen Belange legitimerweise im Vordergrund gestanden haben; denn es ist generell, insbesondere aber bei politischen Umbrüchen, ihre Aufgabe, die Interessen der Kirche zu schützen. Anders je———— 50 51
Trippen, Kardinal Frings, 87. Vgl. L. Volk, Faulhaber, 193.
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doch sieht die Funktion des Bürgers aus, der als aktiver Christ zum Handeln herausgefordert ist. Er muss seine Entscheidung „politisch, eben als katholischer Bürger, treffen, nicht als Mitglied eines katholischen Kaders. Damit werden, auf Dauer gesehen, die kirchlich-kulturpolitischen Ziele nicht vernachlässigt, sondern gerade sachgerecht zur Geltung gebracht, nämlich gemäß ihrer jeweiligen Bedeutung im Rahmen des Ganzen“.52 Eine solche Sichtweise aber hatten im Jahr 1933 weder die Bischöfe noch die katholischen Bürger, „denen die Stimme ihrer Kirche heilig“ 53 war. Vielmehr trafen die Bischöfe mit ihren Kundgebungen, Hirtenbriefen u.a. Entscheidungen für den Katholizismus insgesamt. Das wurde von der großen Mehrheit der katholischen Christen in dieser Weise damals auch so erwartet und gutgeheißen. In der Nachkriegszeit, genauer seit den sechziger Jahren, ergab sich daraus eine doppelte Aufgabe: Zum einen musste das Verhältnis der Kirchenleitungen, allgemeiner gesagt: des kirchlichen Amtes zur Politik neu positioniert werden. Die Kirche hat der politischen Welt gegenüber keine Machtmittel mehr, sondern nur eine potestas indirecta 54, d.h. sie kann ihre moralische Autorität ins Gewicht werfen. Das Zweite Vatikanum hat zu potentiellen kirchlichen Stellungnahmen wichtige Hinweise gegeben, die beispielsweise bei Aufrufen zu politischen Wahlen zu beachten sind. Das Konzil geht davon aus, dass solche Stellungnahmen das Ganze der politischen Gegebenheiten anzielen, das dabei aber auch unter Christen, was deren Verwirklichung angeht, Meinungsverschiedenheiten auftreten können – bis zu der realen Möglichkeit, dass Christen verschiedenen demokratischen Parteien angehören. Zudem ist wichtig, dass die Kirche selbst nicht für eine einzige politische Meinung oder Partei in Anspruch genommen werden darf (vgl. GS 43,3). Zum anderen betont das Konzil in vielfältiger Weise die veränderte Position der Laien, die deutlich gestärkt worden ist. Auf der Basis ihrer einzigartigen Würde, die sie durch Taufe und Firmung als aktive Bürger des Volkes Gottes erlangt haben (LG 31-38), tragen sie Verantwortung für Kirche und Welt. Sind sie politisch tätig, so werden sie nach der Leitlinie handeln: es gibt keine christliche Politik und erst recht keinen christlichen Staat, es gibt aber sehr wohl Christen in der Politik, die ihre Überzeugung nicht verbergen, sondern in ihre Entscheidungen einfließen lassen. ———— 52 53 54
Böckenförde, Stellungnahe, 102. Kundgebung der Fuldarer Bischofskonferenz vom 28. März 1933. Vgl. E.-W. Böckenförde, Kirche und Politik, in: ders., Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933, Kirche und demokratisches Ethos, Freiburg 1988, 105 - 120, bes. 117.
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Ein weiteres drängendes Desiderat tritt zutage, wenn man nochmals die Haltung der katholischen Kirche zu den Juden in der extremen Bedrängnis durch den NS-Staat betrachtet. Außer einzelnen katholischen Christen, die sich unter Lebensgefahr solidarisch mit jüdischen Mitbürgern und Freunden gezeigt und ihnen heimlich Unterkunft und Lebensunterhalt, vor allem Schutz vor den Häschern gewährt haben, hat die amtliche katholische Kirche nichts für die Juden getan – bei keiner noch so unmenschlichen Bedrängnis. Dahinter steckte gewiss Angst vor NS-Zwangsmaßnahmen gegen die Kirche selbst. Die Rechtfertigung aber lieferte von Anfang an die Nicht-Zuständigkeit, da die Juden keine Christen, also nicht Mitglieder der katholischen Kirche waren (vgl. den Brief Kardinal Bertrams vom April 1933). Man fühlte sich diesen Menschen gegenüber nicht zum Handeln verpflichtet. Das änderte sich erst durch Papst Johannes XXIII. Seine persönliche Haltung den Nichtchristen, insbesondere den Juden gegenüber war, eine ganz andere. Eine jüdische Delegation empfing der Papst im Vatikan mit den Worten: „Ich bin Josef, Euer Bruder!“ Vollends aber brachte „sein“ Konzil eine grundlegende Wandlung im Verhältnis zu Menschen und Völkern anderen Glaubens. Dazu war es notwendig, dass die Kirche die Abschottung gegen die Welt und gegen die Moderne durchbrach, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts üblich geworden war. Durch eine ganze Reihe von Konzilsdokumenten wurde Schritt für Schritt der Wandel vollzogen. Es waren die dogmatische Konstitution über die Kirche (LG), das Dekret über den Ökumenismus (UR), die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute (GS), die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (NAe) und die über die Religionsfreiheit (DH). Papst Johannes Paul II. betonte auf dieser Basis das neue Verhältnis zu den Juden. Er sagte bei seinem Besuch der Synagoge von Rom – der ersten eines Papstes – am 13. April 1986: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas Äußerliches, sondern gehört in gewisser Weise zum Inneren unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so können wir gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder.“ Anlässlich des 50. Jahrestages der Novemberpogrome von 1938 haben die deutschen und österreichischen Bischöfe im Oktober 1988 in ihrem gemeinsamen Hirtenwort „Die Last der Geschichte annehmen“ 55 ein bemerkenswertes Schuldbekenntnis abgelegt über die Versäumnisse in der NS———— 55
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Wort der Bischöfe (Nr. 43) zum Verhältnis von Christen und Juden aus Anlass des 50. Jahrestages der Novemberpogrome 1938 vom 20. Oktober 1988.
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Zeit im allgemeinen und über das Schweigen zur Pogromnacht im besonderen. Angesichts der Jahrhunderte langen Judenfeindschaft von Christen, die zum rassischen Judenhass der Nationalsozialisten beigetragen hat, rufen die Bischöfe zur weiteren Besinnung und zur Neuordnung des Verhältnisses der Christen zu den Juden auf. Predigt und Katechese bieten dazu ein weites Feld, damit der endlich begonnene Prozess der Aussöhnung weitergehe. Juden und Christen müssten schließlich ihre gemeinsamen Aufgaben in der Welt erkennen und wahrnehmen. Heute ist dieses Eingeständnis auch im Zusammenhang mit dem Schuldbekenntnis vom Jahr 2000 zu sehen, das Papst Johannes Paul II. für die ganze Kirche abgelegt hat. Dass die katholische Kirche seit den sechziger Jahren ein ganz neues Verhältnis zu den Juden und zur jüdischen Religion insgesamt gewonnen hat, mag vielen heute als selbstverständlich erscheinen, war es aber keineswegs. Vielmehr liegt dem ein langer Prozess zugrunde, bei dem das Dekret über die Religionsfreiheit (DH) eine entscheidende Rolle gespielt hat. Es geht dabei, wie E.-W. Böckenförde dargelegt hat, um eine kopernikanische Wende, und zwar im Verhältnis von Wahrheit und Freiheit bezüglich des Glaubensvollzuges. Die katholische Kirche sah sich bis dahin wie selbstverständlich im Besitz der Wahrheit, einer Wahrheit, die alle anderen (Religionen) von ihr ausschloss. Sie beanspruchte deshalb für sich Freiheit, während die der anderen, also auch der Juden, unwichtig war. Erst das Dekret über die Religionsfreiheit hat die „tragfähige und gültige Versöhnung von Wahrheit und Freiheit gebracht ... An die Stelle des Rechts der Wahrheit ist das Recht der Person getreten“.56 In DH geht es nämlich darum, jedem Menschen das Recht einzuräumen, seine Religion frei zu wählen, unabhängig von der Frage nach deren Wahrheit. Denn Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht. Deshalb verpflichtet sich die Kirche selbst in DH, immer für dieses Recht jedes Menschen zu kämpfen. Religionsfreiheit schließt dabei den Wahrheitsanspruch der Kirche keineswegs aus. Sie bleibt davon überzeugt, dass jeder Mensch – unabhängig von der rechtlichen Seite – die sittliche Verpflichtung hat, nach der wahren Religion zu suchen und ihr zu folgen. Auf dieser Grundlage vertritt Papst Johannes Paul II. einen christozentrischen Humanismus, der schlechthin allen Menschen angeboten wird. „Zur Verkündigung der christlichen Wahrheit gehört somit auch die Verkündigung der in Christus begründeten und offenbar gewordenen Wahrheit über den Menschen: seine Würde, seine erhabene Bestimmung, seine Rech———— 56
E.-W. Böckenförde, Wahrheit und Freiheit, in: Böckenförde, Herausforderungen, 457 -466, hier 460f.
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te, seine Freiheit. Dies ist die ‚menschliche Dimension‘ im Geheimnis der Erlösung“.57 Weil Johannes Paul II. die Erlösung durch Christus in so umfassender Weise sieht, ist auch die Religionsfreiheit in das Handeln Christi eingeschlossen; Wahrheit und Freiheit sind versöhnt. Es gibt keine Wahrheit ohne Freiheit. Weil es der Kirche jetzt nicht mehr nur um die Rechte ihrer eigenen Klientel geht, kann sie „als Lehrerin und Avantgarde in der Frage der Menschenrechte auftreten; sie vermag dafür die Breite der christologischen Aussagen der Offenbarung fruchtbar zu machen“.58 Dadurch ist sie in der Lage, einen universalen „Anspruch der christlichen Wahrheit in einer pluralistischen Welt“ 59 zu erheben, ohne die Freiheit Andersdenkender einschränken zu wollen. Fazit: die These ist höchst bedenkenswert, dass das Dekret über die Religionsfreiheit, recht verstanden im Kontext aller relevanten Konzilsdokumente, eine so verhängnisvolle Verengung des Blickwinkels, wie er in der NS-Zeit vorhanden war, heute und für alle Zukunft ausschließt, vorausgesetzt, diese kopernikanische Wende bleibt in der Kirche lebendig, hängt doch die Wirkung der christlichen Botschaft in die Welt hinein nicht von ihrem vorgegebenen Wahrheitsanspruch ab, sondern „von der Glaubwürdigkeit und der Intensität, mit der [er] von ihren Anhängern vertreten und auch gelebt wird“.60
———— 57
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Das neue politische Engagement der Kirche, Zur „politischen Theologie“ Johannes Paul II., in: Böckenförde, ebd. 295 - 315, hier: 297. Ebd. 298. Ebd. 313. Ebd. 315.
„ ... und gehe zu den Hottentotten, wenn es der hl. Vater befiehlt “. Eine ergänzende Quelle zur Rolle des Fuldaer Bischofs Georg Kopp beim Abbau des Kulturkampfs in Preußen 1886/87 von Rudolf Morsey
I. Der entscheidende Anteil des Bischofs von Fulda (1881-1887) und Fürstbischofs von Breslau (1887-1914) Georg (seit 1906: von) Kopp beim Abbau des Kulturkampfs durch die beiden „Friedensgesetze“ von 1886 und 1887 ist bekannt. Seit Mitte der 1950er Jahre, im Zuge von Archivstudien für meine Dissertation „Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck (18671890)“ (1957), bin ich immer wieder auf das außergewöhnlich umfang- und inhaltsreiche kirchenpolitische Briefwerk Kopps gestoßen. Daraus entstand die Absicht, eine Auswahl zu edieren.1 Das Projekt ließ sich jedoch nicht verwirklichen. Wohl aber habe ich Briefe Kopps in Arbeiten über ihn und Windthorst sowie zur Geschichte der Zentrumspartei verarbeitet, vor allem in dem Beitrag, „Georg Kopp, Bischof von Fulda (1881-1887) und Fürstbischof von Breslau (1887-1914). Kirchenfürst oder Staatsbischof ?“ 2 Dafür konnte ich auch dessen Briefe 1882-1892 an seinen Mittelsmann in Rom, Prälat Johannes von Montel (1831-1910), österreichischer Auditor der S. Rota Romana (seit 1877) und Berater der österreichisch-ungarischen wie der preußischen Vertretung beim Hl. Stuhl, auswerten. Christoph Weber hatte sie im Nachlass Montel „wieder aufgefunden“ 3, mir Kopien davon ———— 1
2
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Erwähnt in: Bismarck und der Kulturkampf, in: Archiv für Kulturgeschichte 39 (1957), S. 232- 270; hier S. 264, Anm. 103; ders., Probleme der Kulturkampf-Forschung, in: Historisches Jb. 83 (1964), S. 217245, hier S. 220. In: Wichmann Jb. für Kirchengeschichte im Bistum Berlin XX-XXIII (1967-1969), S. 42-65. Ferner ders., Georg Kardinal Kopp (1837-1914), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 20. Jahrhunderts, hrsg von Rudolf Morsey. Mainz 1973, S. 13-28, 297. – Die Kopp-Biographie von Hans-Georg Aschoff, Kirchenfürst im Kaiserreich, Hildesheim (1987), ist eine „Zusammenfassung des gegenwärtigen Forschungsstandes“ (S. 7), ohne ungedruckte Quellen einzubeziehen. S. seine in Anm. 4 zitierte Dissertation, S. 3f.; ders., Quellen und Studien zur Kurie und zur vatikanischen Politik unter Leo XIII. Tübingen 1973, S. 57. – Über Johannes (Giovanni) Montel von Treuenfest vgl. Severino Vareschi, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 18. Berlin 1997, S. 48f.
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zur Verfügung gestellt und sie für seine Dissertation „Kirchliche Politik zwischen Rom, Berlin und Trier 1876-1888“ 4 benutzt; dieser Bestand ist allerdings nicht vollständig. Nach Berichten des preußischen Vatikangesandten (1882-1892) Kurd von Schlözer hat Montel, mit dem er engste Verbindung hielt und von dessen Informationen er abhängig war 5, ihn häufig von Schreiben Kopps informiert, aus denen er in seinen Berichten bisweilen ganze Passagen zitierte. Einige Briefe des Bischofs an Montel sind verbrannt worden 6, zwei an ihn gerichtete vom 14. und 16. April 1886 in den Akten des Staatssekretariats zu finden 7, Abschriften von weiteren Kopp-Schreiben (27. und 30. März 1888) im Archiv des Auswärtigen Amts. Montel hatte sie Schlözers Nachfolger (1892-1897), Otto von Bülow, nebst einem KoppBericht an den Papst vom 22. Juni 1888, „zu streng vertraulicher Einsicht“ zur Verfügung gestellt und der Diplomat Abschriften von ihnen, ergänzt um Schreiben Montels an Kopp vom 15. und 16. Oktober 1888, am 10. Juli 1895 nach Berlin weitergeleitet.8 Bereits am 8. April 1893 hatte Bülow berichtet, dass ihm Montel einen Brief des „patriotischen und zugleich klugen und versöhnlichen“ Kardinals ———— 4
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Untertitel: Die Beilegung des preußischen Kulturkampfes. Mainz 1970. Ebd. S. 173 ist die von mir beabsichtigte Edition aus Kopps Briefwerk erwähnt. – Von Kopps Restnachlass in Breslau liegen mir kleine Teile in Kopie vor. Vgl. Paul Curtius, Kurd von Schloezer. Ein Lebensbild. Berlin 1912, S. 129, 138. Ein Schreiben Kopps vom 21. Mai 1886 an Montel hat der Prälat („Confidentiell“) Schlözer ausgeliehen. Nach Anton de Waal (1911) verstand es der Gesandte, Montels Anschauungen im Sinne der preußischen Regierung „zu bearbeiten“, insbesondere „in Beziehung auf Windthorst“. Vgl. C. Weber, Quellen und Studien (Anm. 3), S. 39. Windthorst rechnete damit, dass sich in der Umgebung Leos XIII. Männer befinden, die Schlözer „alles mitteilen“. So am 25. Februar 1887 an Georg Arbogast Frhr. von Franckenstein. Vgl. Ludwig Windthorst, Briefe 1881-1891. Um einen Nachtrag mit Briefen von 1834 bis 1880 ergänzt, bearb. von Hans-Georg Aschoff unter Mitwirkung von Heinz-Jörg Heinrich. Paderborn u.a. 2002, S. 541. Im April 1886 hat Montel zwei Briefe Kopps, auf dessen Bitte, „jetzt vernichtet“. Nach einem Bericht des Legationssekretärs Graf Monts aus Rom vom 20. April 1886. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin (künftig: PAAA), Preußen 2, Kirche 1, Bd. 4. (Dazu s. Anm. 39.) In einem Bericht Schlözers vom 25. November 1886 (PAAA, Vatikan 13) ist ein Kopp-Schreiben an Montel vom 14. d.M. erwähnt, das in dessen Briefbestand fehlt. Am 27. Dezember 1889 ging der Bischof davon aus, dass Montel einen Brief „mit preußischen und östreichischen Mittheilungen“ (o.D.) „dem Feuer übergeben“ habe: „Ich erfahre alle Tage von Neuem, daß man nicht vorsichtig genug sein kann.“ Der Brief fehlt im Bestand Montel. Erwähnt bei Graf Edoardo Soderini, Leo XIII. und der deutsche Kulturkampf. Deutsche Bearbeitung von Richard Bauersfeld. Innsbruck u.a. 1935, S. 192, Anm. 415. Ebd., S. 239, ein „langer Brief “ Kopps vom 30. August 1887 an Montel. PAAA, Preußen 2, Kirche 1, Bd. 14. Die erwähnten Briefe Montels: PAAA, Preußen 1, Nr. 4g, Bd. 2. Nach einem Bericht Bülows vom 12. Januar 1895 hatte Montel ihm einen Kopp-Brief „gezeigt“. Vgl. Norbert Trippen, Das Domkapitel und die Erzbischofswahlen in Köln 1821-1929. Köln u.a. 1972, S. 283.
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(seit Januar 1893) vom 24. März 1893 an den Papst zu lesen gegeben habe.9 Am 25. März 1898 ergänzte der Gesandte, Kopp habe ihm Berichte über seine Papstaudienzen übergeben und mitgeteilt, dass er davon weder Konzepte noch Abschriften zurückbehalten habe, „damit in seinen Akten nichts gefunden werde“.10 Bekannt sind ferner zwei Briefe Kopps an Montel vom 31. Oktober und 2. November 1910.11 Hingegen fehlt – mit Ausnahme der in Anmerkung 8 erwähnten beiden Stücke – Montels Gegenkorrespondenz. Vermutlich hat der Fürstbischof sie, mit anderen eigenen Akten, ebenso verbrannt 12 wie seine Briefe an Montel ab 1893, denn nur diese waren ihm 1911, nach dessen Tod (21. November 1910), in Rom vom Wiener Vatikanbotschafter zurückgegeben worden.13 Montel ist verschiedentlich in den „Akten der Fuldaer Bischofskonferenz“ 14 erwähnt. So lohnt es sich, die an ihn gerichteten Briefe Kopps, eine bisher nur punktuell zitierte Quelle, für eine Bewertung von dessen Rolle bei der Beilegung des Kulturkampfs in Preußen ausführlicher heranzuziehen. Aus ihnen lassen sich zusätzliche Einsichten für Kopps Informationsbeschaffung und weitergabe sowie Argumentationsweise und Wortwahl gewinnen, auch für seine Stimmungswechsel. Deutlicher wird zudem die Distanz des Bischofs zu Windthorst, die bisher überwiegend durch einschlägige Äußerungen aus dem Briefwerk des Zentrumsführers belegt ist. Nicht berücksichtigt in den im Folgenden zitierten Schreiben Kopps werden darin behandelte innerdiözesane Themen wie „Peterspfennig“, Auszeichnungen und Ablässe. Die Auszüge erfolgen in chronologischer Reihenfolge und in authentischer Schreibweise, d.h. mit den durchgehend falsch geschriebenen Namen Bismarck (Bismark) und Windthorst (Windhorst). Hervorzuheben ist die enorme Arbeitsleistung Kopps, der, zudem auf eigene Kosten, zwischen ———— 9 10 11
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PAAA, Preußen 1, Kirche 4g, Bd. 5. Vgl. R. Morsey, Kopp (wie Anm. 2), S. 59, Anm. 4. Der Vatikangesandte (1907-1919) Otto von Mühlberg hatte sie am 17. November 1910 von Bethmann Hollweg geschickt. Vgl. Rudolf Brack, Deutscher Episkopat und Gewerkschaftsstreit 19001914. Köln 1976, S. 186 f. Mühlbergs Bericht erwähnt auch Horstwalter Heitzer, Georg Kardinal Kopp und der Gewerkschaftsstreit 1900-1914. Köln 1983, S. 174, Anm. 97. Vgl. Eugen von Jagemann, Fünfundsiebzig Jahre des Erlebens und Erfahrens (1840 -1924). Heidelberg 1925, S. 208: Kopp habe ihm 1898 berichtet, dass er alle Briefe verbrenne. Vgl. C. Weber, Quellen und Studien (Anm. 3), S. 57, Anm. 113. Deren Bände I: 1871-1887 und II: 1888-1899, bearb. von Erwin Gatz, Mainz 1977-1979, enthalten für 1882 -1892 insgesamt 17 Kopp-Briefe, überwiegend an Krementz, fünf die ebenfalls von Gatz bearb. Akten zur preußischen Kirchenpolitik in den Bistümern Gnesen-Posen, Kulm und Ermland 1885-1914. Mainz 1977. Die Einleitungen des Bearbeiters sind durchgehend (zu) kritisch gegenüber Kopp.
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Fulda bzw. später Breslau und Berlin pendelte und seine Korrespondenz, darunter lange Denkschriften, eigenhändig schrieb.
II. Die sämtlich eigenhändigen Briefe Kopps enthalten oft kritische und bittere Urteile des selbstbewussten Bischofs („Ich bin nicht gewohnt, um Rat zu fragen, wenn ich mit mir völlig im reinen bin“) 15, auch über Kurienkardinäle und Amtskollegen. Sie belegen sein Vertrauen in die Diskretion wie in die Fähigkeit Montels 16, seine jeweiligen Intentionen der Kurie wie auch Schlözer in geeigneter Weise – häufig unter Vorlage oder Weitergabe der Briefe – zu vermitteln. Das gilt vornehmlich für Informationen, die nur für Leo XIII. bestimmt waren wie für solche an Kardinalstaatssekretär (1880 1887) Mariano Jacobini und dessen Nachfolger (1887-1903) Mariano Rampolla, an Prälat Luigi Galimberti oder andere Kurienmitarbeiter. In seiner Mittlerfunktion bei dem von Kopp schon früh angestrebten Abbau des Kulturkampfs handelte er im Sinne Leos XIII. – den er über Montel direkt erreichte. Dabei suchte er den Papst durchaus zugunsten von Konzessionen an die Regierung zu beeinflussen. In seiner undankbaren und aufreibenden Vermittlertätigkeit wusste er sich von Bismarck gestützt, der den Bischof jedoch seinerseits instrumentalisierte.17 Deswegen konnte er sich seiner Stellung in der Reichshauptstadt nie sicher sein, so sehr er auch seine „Liebe zum Vaterlande“ betonte.18 Gleichwohl gelang es dem Bischof, mit der Rückendeckung in Berlin und Rom, das von Windthorst beherrschte ———— 15
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So am 7. Januar 1889 an Kultusminister von Goßler. PAAA, Preußen 2, Kirche 2a, Bd. 1. Ein späteres Diktum im schlesischen Klerus über den ‚regierenden‘ Fürstbischof lautete: „Ich bin der Herr, dein Kopp, du sollst keine anderen Köppe neben mir haben.“ R. Morsey, Kopp (Anm. 2), S. 49. In einem Schreiben Kopps vom 31. Juli 1888 an Bismarck heißt es über Montel: Ein „ruhiger, allen Übertreibungen abholder Herr, uns treu ergeben; auch macht er sich sonst nicht viel aus den wechselnden Strömungen im Vatikan“. PAAA, Deutschland 132, 1. Am 4. April 1901 lobte Kopp den Prälaten als „das einzige sichere Bindeglied“ mit dem Vatikan; er sei „unersetzlich und lasse sich nur von kirchlichen Gesichtspunkten leiten“. Vgl. Ludwig Freiherr von Pastor (1854-1928), Tagebücher – Briefe – Erinnerungen, hrsg. von Wilhelm Wühr. Heidelberg 1950, S. 360. Umgekehrt hielt Montel, wie der Vatikangesandte von Bülow am 19. März 1895 berichtete, Kopp „nicht frei von Eitelkeit“. R. Morsey, Kopp (Anm. 2), S. 44, 60, Anm. 20. N. Trippen beurteilte Kopp, „trotz seiner [nicht näher ausgeführten] charakterlichen Schwächen als den bedeutendsten Vertreter des deutschen Episkopats im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts“. Das Domkapitel (Anm. 8), S. 264. Kopps Schreiben an Bismarck, oft mit weiteren Informationen Goßlers auf Grund zusätzlicher Berichte Kopps, sind vielfach erstmals in den in Anm. 1 und 2 zitierten Studien zitiert worden und werden hier ergänzt. Einige Goßler-Berichte an Bismarck sind gedruckt: Bischofskonferenz I (Anm. 14). Sie weise ihm, so schrieb Kopp am 6. April 1884 Bismarck, einen Weg, „in engem Anschluß an die Staatsregierung seines Amtes zu walten“. PAAA, Italien 56, Bd. 57.
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Zentrum und eine Mehrheit des vom Kölner Erzbischof Krementz geführten preußischen Episkopats, die eine Rückkehr zum kirchenpolitischen status quo ante von 1871 forderten, zugunsten einer – realistischen – modus vivendiLösung zu überspielen. Kopp, der Montel bereits aus seiner Zeit als Generalvikar in Hildesheim (1872-1881) kannte, gab in seinem ersten Schreiben an ihn als Bischof, vom 6. Januar 1882, seiner Freude darüber Ausdruck, „daß wir wieder zusammen arbeiten“. In den wenigen Briefen an Montel, die bis Anfang 1886 vorliegen – in den Jahren, in denen der Kulturkampf „versumpfte“ – beklagte er wiederholt die „hoffnungslose Lage“ der kirchlichen Zustände (1. März 1882, 27. März 1883: „trostlos“), die „immer unerträglicher und unhaltbarer“ würde, „trotz der Treue des Clerus und des Volkes; ersterer reibt sich auf und letzteres schläft allmählich ein“ (7. Januar 1883); „Jede Stunde“ Fortdauer des Kampfes schlage der Kirche „tiefe Wunden, welche viele Jahre zu ihrer Heilung bedürfen“ (23. Dezember 1883). Am 2. März 1884 sah Kopp die kirchlichen Angelegenheiten in ein „Dunkel gehüllt, welches anfängt, recht unheimlich zu werden“. Noch Anfang 1885 befürchtete er weitere „Rückschritte“ in der „Friedensstimmung der betheiligten Kreise“; Windthorst habe er „sehr deprimirt und muthlos“ gefunden (17. Januar 1885). Da der Bischof 1885 mit seiner Transferierung nach Köln gerechnet hatte, konnte er seine Enttäuschung über die Ernennung Krementz’ nur schwer verwinden. Am 17. Dezember 1885 beklagte er bei Montel die „volle Unzuverlässigkeit und Rücksichtslosigkeit“ der preußischen Regierung: „Seit 3 Jahren hatte sie der ganzen Welt verkündet, ich sei ihr Kandidat für Koeln“. Durch dieses „unwürdige Spiel“ sah Kopp „leider seinen Glauben an die aufrichtigen Absichten“ der Regierung zerstört. Er nahm dem Hl. Stuhl „übel“, dass er ihn in den Verhandlungen „zum Handelsobjecte hat machen wollen“.19 Unbeschadet seiner resignativen Stimmung widersprach er der an der Kurie verbreiteten Ansicht, die Regierung wolle die „katholische Religion unterdrücken“; sie wolle den Katholiken vielmehr „ganz und voll gerecht werden“, könne es aber „leider nicht aus Unkenntnis katholischer Verhältnisse“.
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Nach C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 119, war Kopp über seine „glatte Übergehung mit Recht empört“. Zur Berufung von Krementz vgl. N. Trippen, Das Domkapitel (Anm. 8), S. 257ff.
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Im Januar 1886 wurde Kopp in das Preußische Herrenhaus berufen, um dort an der parlamentarischen Beilegung des Kulturkampfs mitzuwirken. Gegenüber massiver Kritik Windthorsts 20 und der Zentrumspresse an der Annahme des Mandats 21 versicherte Kopp am 31. März 1886 Montel, dass er auf die – im Vorjahr noch abgelehnte – Berufung nur eingegangen sei, „weil der hl. Vater es auch für gut hielt“.22 Der Verlierer dieser neuen Direktverbindung war Windthorst, der sich wegen seiner Ausschaltung aus den diplomatisch geführten (Geheim-)Verhandlungen vom Papst „verraten“ fühlte.23
III. Kopp begann seine Vermittlertätigkeit nach Gesprächen mit Bismarck, Goßler und „einzelnen Räten des Kultusministeriums“ Ende Januar/Anfang Februar 1886. Deren Ergebnis leitete er am 3. Februar 1886, über Montel, an „die hohe Stelle“.24 Es ging um einen dem Papst bereits mitgeteilten Entwurf zur Abänderung der Kulturkampf-Gesetzgebung – für den Kopp schon im Frühjahr 1875 Leitsätze übermittelt hatte –, mit der Bismarck seine „gute Gesinnung“ gegenüber den Forderungen des Hl. Stuhles dokumentieren wolle. Er, Kopp, habe jedoch die nunmehrige Fassung der Vorlage – u.a. wegen des darin vorgesehenen „unlimitierten Aufsichtsrechts über die kirchlichen Lehranstalten“ – für den Papst als nicht annehmbar bezeichnet 25 und seine Ablehnung im Herrenhaus angekündigt. Der Bischof legte stattdessen einen „Gegenentwurf “ vor, den er dort durchzubringen hoffte, eingeschlossen die „Zulassung“ der dauernden Anzeigepflicht für die Besetzung der Pfarreien. Für diese Vorlage erwartete er vom Papst nicht mehr als Tolerierung, im negativen Falle allerdings einen „präcisirten und specificirten Entwurf “. ———— 20
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Dazu vgl. „Der Bruch mit Rom 1884- 1887“ bei Margaret Lavinia Anderson, Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks. Düsseldorf 1988, S. 330 - 370 (mit durchgehend kritischer Wertung Kopps). Nach einem Bericht Schlözers vom 28. Januar 1886 äußerte Leo XIII. sein Missfallen über entsprechende Kritik der „Germania“. PAAA, Italien 56, Bd. 66. Am 30. Januar 1886 teilte Kopp, über Goßler, Bismarck mit, dass der Papst über seine Berufung „sehr befriedigt und erfreut“ sei. Bundesarchiv, Abt. Berlin (künftig: BAB), Reichskanzlei 861a. Vgl. seine zahllosen Klagen in der Folge in: L. Windthorst, Briefe (Anm. 5), im Register s.v. Kopp. Erwähnt bei C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 126, Anm. 34. Zu den Verhandlungen über das „1. Friedensgesetz“ vgl. auch H.-G. Aschoff, Kopp (Anm. 2), S. 53- 58. Kopp hatte bereits am 30. Januar 1886 Bismarck, via Goßler, mitteilen lassen, dass der Papst die ihm übermittelte Vorlage als „völlig ungenügend“ bezeichnet habe. BAB, Reichskanzlei 861a.
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In weiteren sechs, teilweise umfangreichen Briefen bzw. Denkschriften informierte Kopp zwischen dem 11. und 31. März 1886 Montel detailliert über den Fortgang der Beratungen der am 15. Februar 1886 im Herrenhaus eingebrachten Regierungsvorlage zur Revision der Kulturkampfgesetze von 1873. Er berichtete über Schwierigkeiten im eigenen Lager (Bischöfe, Presse) und über seine Interventionen bei Kronprinz Friedrich – der ihn in einer kritischen Situation „wacker unterstützt“ habe 26 –, bei Kaiserin Augusta und bei Bismarck. Kopp glaubte, mit seinen Verbesserungsvorschlägen erreicht zu haben, „was irgend zu erlangen war“ und was angesichts der „noch etlichen enragierten Culturkämpfer“ innerhalb der Kirchenpolitischen Kommission des Herrenhauses „kein Katholik jetzt zu erlangen gehofft“ habe (11. März 1886). Bismarck wolle, so referierte der Bischof weiter, aus „politischen und persönlichen Gründen“ Frieden mit dem Papst, den er „verehrt“, und den Katholiken, wobei er von der kaiserlichen Familie unterstützt werde; der „unglückliche Culturkampf“ könne nur durch „irgend einen großen Act beseitigt“ werden: „Wenn ich nicht dafür stimmen kann, ist alles umsonst gewesen.“ Dem mache jedoch das Zentrum Schwierigkeiten, das „wegen der Vergangenheit sehr mißtrauisch“ sei.27 Kopp erwartete vom Papst „genaue und bestimmte“ Instruktionen, um dem Gesetzentwurf zustimmen zu können, eingeschlossen die Anerkennung der vollen Anzeigepflicht bei der Wiederbesetzung vakanter Pfarreien. Würde das Gesetz nicht durchkommen, werde er „wahrscheinlich aus dem Herrenhause austreten“.28 Am 13. März 1886 kritisierte der Bischof die zunehmende „Agitation“ der katholischen Presse gegen seine Mitwirkung – anstelle der des Zentrums – am „Friedenswerk“, die das Kirchenvolk „verwirre“ und die Protestanten „furchtbar verbittere“. Windthorst sei mit dem Ergebnis der Kommissionsberatungen deswegen nicht zufrieden, weil er, Kopp, sich „nicht vollständig unter seine Vormundschaft gestellt habe“. Es habe den Zentrumspolitiker, den er gegen sich „wenigstens nicht immer aufrichtig gefunden“ habe, „tief geschmerzt“, dass der Papst ihm, durch seine, Kopps, Mitgliedschaft im ———— 26
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Am 10. März 1886 informierte Kopp über den Stand der Vorlage den Kronprinzen – dem er, ebenso wie Bismarck, im Februar einen Antrittsbesuch gemacht hatte –, der diesen Brief Bismarck weiterleitete. Ebd. Dazu vgl. Windthorsts Klage vom 18. Februar 1886 an Krementz und vom 22. d.M. an den Vorsitzenden der Reichstagsfraktion des Zentrums, Georg Arbogast Frhr. von Franckenstein, über fehlende Instruktionen des Vatikans. L. Windthorst, Briefe (Anm. 5), S. 434f.; Karl Otmar von Aretin, Franckenstein. Eine politische Karriere zwischen Bismarck und Ludwig II. Stuttgart 2003, S. 193. Vgl. C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 131.
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Herrenhaus, „die Führung genommen“ habe: „Der sonst so verdienstvolle Mann ist nicht ganz frei von kleinen Regungen der Eigenliebe und das bringt ihn so gegen mich und auch gegen den hl. Stuhl auf.“ Der Bischof sah sich zwischen zwei Stühlen: Windthorst werfe ihm vor, er hätte durch Konzessionsbereitschaft seine vatikanischen Instruktionen überschritten, Bismarck und Goßler hingegen, dass er mehr „fordere, als vom hl. Vater gefordert“ sei. Dabei habe er „Alles aufgeboten, um die Ansprüche der Kirche durchzusetzen“ (15. März 1886).29 Zwei Tage später sah Kopp seine Linie durch eine Gegenaktion des Kölner Erzbischofs beim Papst, vornehmlich wegen der vollen Anzeigepflicht 30, und durch „Hindernisse“ des Zentrums erneut gestört – während der Kultusminister ihn unterstützt habe –, wollte aber die Entscheidung Leos XIII. abwarten.31 Am 23. März 1886 ließ er Montel einmal mehr seinen Ärger über den Zentrumsführer spüren: „Was Windhorst denkt, weiß ich nicht, da ich mit dem Mann absolut nicht zusammen kommen kann, ohne die bischöfliche Würde in den Koth treten zu lassen“.32 Auch zwei Tage später wartete der Bischof noch auf die Zustimmung des Papstes zur vollen Anzeigepflicht, ohne die er nicht an der weiteren Beratung teilnehmen werde, da andernfalls das Gesetz gescheitert und „Alles zu Ende“ sei: „Ich glaube nicht, daß daran zu Lebzeiten des Fürsten Bismark noch jemals wieder angeknüpft werden kann.“ 33 ———— 29
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Zu Kopps Auseinandersetzungen mit Windthorst und anderen Zentrumspolitikern in diesen Wochen vgl. K. O. von Aretin, Franckenstein (Anm. 27), S. 194- 200. Ebd. S. 196 Kopps Äußerung vom 13. März 1886, dass er Windthorst seit 1866 kenne, aber mit ihm „nicht zurecht komme“. Am 15. d.M. berichtete Schlözer, dass der Papst über die „feindselige Haltung unserer klerikalen Presse“ gegen Kopp „sehr erregt“ sei und versprochen habe, „dem abzuhelfen“. PAAA, Preußen 2, Kirche 1, Bd. 2. Am selben Tage teilte der Bischof, via Goßler, Bismarck mit, dass ihm nunmehr auch der Papst – wie bereits der Kultusminister und der Regierungschef – vorwerfe, er gehe über seine Instruktionen hinaus. BAB, Reichskanzlei 861a. Erwähnt bei C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 132f. Am 19. März 1886 wies Kopp Vorwürfe Krementz‘ wegen seiner „provisorischen Abstimmung“ in der Kommission des Herrenhauses zurück, da für seine „definitive Abstimmung“ die noch ausstehende Entscheidung des Papstes maßgebend sein werde. In der Kommission sei es darum gegangen, die bis dahin erzielten „Errungenschaften einstweilen sicher zu stellen“ und nicht einfach den unbefriedigenden Regierungsentwurf „wiederherzustellen“. Bischofskonferenz I (Anm. 14), S. 674 f. Bereits einen Tag vorher hatte Kopp, via Goßler, diese Information Bismarck übermitteln lassen. BAB, Reichskanzlei 861a. Zitiert bei C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 137, Anm. 27; M.L. Anderson, Windthorst (Anm. 20), S. 341. C. Weber spricht von einem „schlimmen Beschwerdebrief “ Kopps, aus dem er andere Passagen über die Anzeigepflicht zitiert. Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 136f. Vgl. auch Montels Schreiben an Schlözer vom 30. März 1886 bei Kurd von Schlözer, Letzte römische Briefe 1882 - 1904, hrsg. von Leopold von Schlözer. Berlin u.a. 1924, S. 81f.
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In diesen Tagen standen die Beratungen der Gesetzesvorlege im Herrenhaus, auch durch die Gegenvorstellungen der von den rheinischen Bischöfen und Zentrumsvertretern alarmierten Kurie, auf der Kippe. Am 31. März 1886 berichtete Kopp seinem römischen Vertrauensmann von Bismarcks Verärgerung über das Zögern des Vatikans, während „Kaiser, Kaiserin und Kronprinz in fieberhafter Spannung“ auf ein „Gelingen“ der „Friedensarbeit“ hofften. Er selbst könne der Empörung des Kaisers über die „wahre Infamie“ Windthorsts – der seine Warnungen vor einem Scheitern des Gesetzes als „eitle Drohungen“ darstelle – nicht widersprechen, sondern müsse dessen Verhalten gegen sich „noch viel schlimmer characterisiren“. Kopp drängte weiter auf ein Einlenken des (im gegenteiligen Sinne von Jacobini beeinflussten) Papstes bei der Gewährung der vollen Anzeigepflicht, da durch die Beschlüsse der Herrenhaus-Kommission mit den von ihm am 26. März 1886 noch einmal eingebrachten – vorher der Kurie vorgelegten – drei Amendements 34 „den Maigesetzen [von 1873] das Rückgrad ausgebrochen“ worden sei. (Die Kirchenpolitische Kommission des Herrenhauses lehnte seine Anträge jedoch am 30. März 1886 erneut ab.) Der Bischof beklagte die unzureichenden vatikanischen Instruktionen umso mehr, als Schlözer inzwischen – allerdings voreilig – von entsprechenden Konzessionen des Hl. Stuhles berichtet hatte.35 Gegenüber Montel zeigte sich Kopp vom Verhalten des Kardinalstaatssekretärs Jacobini zermürbt („Nerven ... zerrüttet“) und empört. Zudem sei einem „deutschen Priester“ (dem Trierer Generalvikar Reuß, Windthorsts Vertrautem) in Rom Einsicht auch in seine Korrespondenz gegeben und damit das „Amtsgeheimnis“ nicht bewahrt worden. In seiner Verärgerung über eine immer noch fehlende Instruktion Jacobinis rief er am 31. März 1886 „inständig die göttliche Barmherzigkeit an, mir den lebendigen Glauben zu stärken und die Liebe und das Vertrauen zum hl. Stuhl zu erhalten!“ 36 Der Bischof bat Montel, diesen Brief dem Kardinals———— 34 35
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Die drei Anträge Kopps u.a. bei M.L. Anderson, Windthorst (Anm. 20), S. 340. Bismarck hatte Kopp – nach einem Schreiben vom 31. März 1886 an Monts – den einschlägigen Telegrammwechsel mit Schlözer vorgelegt, der „die ganze Sache verwirrt“ habe und wegen seiner lückenhaften Berichterstattung Ende März nach Berlin zitiert wurde. Dazu C. Weber, Quellen und Studien (Anm. 3), S. 369, Anm. 30. Auch Schlözers Vertreter, Monts (Anm. 6), hielt enge Fühlung mit seinem „Gewährsmann“ Montel. Dazu vgl. Erinnerungen und Gedanken des Botschafters Anton Graf Monts. Berlin 1932, S. 78f., 486f. Am 22. Februar 1886 hatte Windthorst Franckenstein geschrieben, dass Kopp, der auch die Telegramme Schlözers (und aus ihnen Papstschreiben an das Zentrum) kenne, „mit einem Fuße bei uns, mit dem andern bei Bismarck“ stände. Abschließend hieß es: „Der Herr [wohl Leo XIII.] hat zugestanden, daß Bismarck das Centrum zerbröckeln wolle. Der Herr aus Fulda, obwohl dies einsehend, wirkt daran mit.“ L. Windthorst, Briefe (Anm. 5), S. 434f. Der letzte Satz zitiert bei C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 138, auch Jacobinis Reaktion.
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staatssekretär auszuhändigen, „damit dort später aus den päpstlichen Acten ersichtlich ist, wie ein Bischof in einer der wichtigsten kirchlichen Angelegenheiten instruirt und unterstützt wurde, und woran es lag, daß das Friedenswerk im letzten Augenblicke scheitern mußte“. Kopps Empörung klang allerdings rasch ab. Bereits einen Tag später sah er Bismarcks Stimmung für Leo XIII. als „außerordentlich günstig“ an und übermittelte Montel einen neuen Vorschlag zur Gestaltung der dauernden Anzeigepflicht, die der Papst, mit einer spektakulären „Kehrtwende“ 37, durch Jacobini am 4. April 1886 zugestand. Das geschah auf ein entsprechendes Schreiben Bismarcks an Leo XIII. vom 30. März 1886 hin, in dem er auch die negativen Folgen einer Ablehnung von Kopps Vorschlägen erwähnt hatte. Daraufhin brachte der Bischof, mit Zustimmung des Papstes, am 12. April 1886 seine Ergänzungsanträge zur Wiedereinsetzung der Kirche in ihre Rechte wieder ein. Am folgenden Tage nahm das Herrenhaus die neue Fassung, mit entscheidender Nachhilfe Bismarcks, an. Im Gegenzug versicherte die Regierung dem Hl. Stuhl, eine weitere Revision der „kirchlichen Gesetze“ vorzunehmen 38 Am 14. April 1886 ließ Kopp, via Montel, die Kurie wissen, dass der Regierungschef für den Papst und die Forderungen der Kirche mit einer „Wärme wie ein Bischof “ einträte.39 Sechs Tage später dankte Kopp seinem römischen Vertrauensmann für die „großen Verdienste“, die er sich „um die das ganze deutsche Reich jetzt so tief ergreifende Angelegenheit und daneben auch um mich selbst“ erworben habe. Er klagte über fortgesetzte Angriffe der katholischen Presse gegen sich („Staatsbischof “), sah das „Friedenswerk“ noch nicht gesichert und wartete (am 24. April 1886 an Bismarck) weiter auf römische Instruktionen zu seiner, Kopps, Interpretation der Jacobinischen Note vom 4. April 1886 – der die „Germania“ widersprochen habe –, wollte aber „alles der Weisheit des hl. Vaters“ überlassen.40 Die Antwort des Kar———— 37
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So M.L. Anderson, Windthorst (Anm. 20), S. 342. Dazu vgl. Windthorsts Kritik an dieser Wende bei L. Windthorst, Briefe (Anm. 5), S. 470, 476. Bismarck, Die Gesammelten Werke (Friedrichsruher Ausgabe). Bd. 6c: Politische Schriften 18711890, bearb. von Werner Frauendienst. Berlin 1935, S. 333f. Aus einem bisher nicht bekannten Schreiben Kopps an Montel, erwähnt bei Graf E. Soderini, Leo XIII. (Anm. 7), S. 192, Anm. 415. In einem Bericht Monts‘ vom 4. April 1886 über die technischen Schwierigkeiten bei der Zustellung dieses Schreibens an den Papst hieß es, dass Montel bei der Ausschaltung Jacobinis (und seiner Ersetzung durch Galimberti) „unermüdliche treue Beihilfe“ geleistet habe. Das Zugeständnis der dauernden Anzeigepflicht hätte dem Papst mühsam „abgerungen“ werden müssen. PAAA, Preußen 2, Kirche 1, Bd. 4. BAB, Reichskanzlei 861a. Aus diesem Schreiben hat C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 139, einen anderen Satz zitiert. Nach dem in Anm. 6 erwähnten Bericht Monts’ vom 20. April 1886 an Bis-
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dinalstaatssekretärs vom 19. April 1886 – mit einer im Sinne Kopps liegenden Bestätigung der dauernden Anzeigepflicht – leitete der Bischof sofort Bismarck zu.41 Am 10. Mai 1886 stimmte das Zentrum im Abgeordnetenhaus, auf Weisung des Papstes und nur widerwillig, dem bereits vom Herrenhaus angenommenen „1. Friedensgesetz“ zu, ohne Änderungsanträge zu stellen. Daraufhin brach Windthorst zusammen und lehnte es ab, dem Papst einen Dankesbrief zu schreiben.42 Am folgenden Tage würdigte Kopp die Leistung Bismarcks, „dem allein dieses für das Vaterland segensreiche Resultat“ zu verdanken sei; er sah dadurch „das Band treuer Anhänglichkeit und hingebender Verehrung“ zum Regierungschef „noch enger gezogen“.43 Am 21. Mai 1886 sanktionierte König Wilhelm I. das „1. Friedensgesetz“, das die Mehrheit des preußischen Episkopats für unzureichend hielt, Kopp hingegen verteidigte.44 Strittig blieb die „korrekte Füllung der Anzeigepflicht“. Einen in diesen Wochen diskutierten Wechsel Kopps nach Freiburg, den Großherzog Friedrich I. von Baden wünschte, verhinderte Bismarck, da der Bischof das Vertrauen des Papstes „mit dem der Regierung“ vereinige und deshalb „gleich geeignet als Mittelsperson“ sei.45 Mit derselben Begründung vertrat auch Kopp die Notwendigkeit seines Verbleibens in Preußen: „Gehe ————
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marck hatte Kopp Ende März in einem „außerordentlich bitteren Schreiben“ an Montel dem Papst seine Demission angeboten und den Prälaten in den letzten Wochen regelmäßig mit Berichten versehen, die dieser übersetzt und dem Papst resp. Jacobini und Galimberti vorgelegt habe: „Mgr. Montel hat mich succesive in diese Beriefe einsehen lassen, welche klar und freimüthig geschrieben, in der gewandten Hand unseres Freundes eine gute Waffe gewesen sind.“ Leo XIII. habe „mehrfach höchst anerkennend“ Kopps „besondere Verdienste“ hervorgehoben. Am 23. d.M. ergänzte Monts, dass der „unermüdliche“ Montel „unsere Interessen aufs beste wahrgenommen“ habe. PAAA, Preußen 2, Kirche 1, Bd. 4. Am 27. April 1886. BAB, Reichskanzlei 861a. Schlözer hatte bereits am Vortag die zustimmende Antwort des Papstes mitgeteilt. PAAA, Preußen 2, Kirche 2, Nr. 1, Bd. 4. M.L. Anderson, Windthorst (Anm. 20), S. 343f. BAB, Reichskanzlei 861b. In einem Promemoria Kopps vom 22. Oktober 1886 über den Stand der Revision der kirchenpolitischen Gesetzgebung, das Goßler vier Tage später Bismarck zuleitete, würdigte der Bischof die „wirklichen positiven Errungenschaften“ für die Staatsregierung, zählte aber auch die noch nicht erreichten kirchlichen Desiderata auf: In erster Linie eine Rückkehr der Orden, eingeschlossen die der „Jesuiten und ihrer Verwandten“. Bismarck versah Kopps Denkschrift am 30. d.M. mit mehr als 30 Randbemerkungen und bezeichnete die zum Schluss geforderte „Wiederherstellung der katholischen Abtheilung im Kultusministerium“ als „Unsinn“. Goßler erhielt dessen Monita (durch Graf Rantzau) mit dem Vermerk, dass Bismarck die von Kopp eingenommene Stellung bedaure und der Ansicht sei, „dass wir in der Frage der Jesuiten und Schulorden nicht nachgeben dürften“; der Minister möge den Bischof zu diesen Punkten „über unser non possumus“ aufklären. PAAA, Preußen 2, Kirche 1, Bd. 7. So am 11. Mai 1886 an Schlözer. Vgl. R. Morsey, Kopp (Anm. 2), S. 47, 61, Anm. 49.
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ich fort, so genügt die geringste Unvorsichtigkeit unsererseits, das jetzt angebahnte Friedenswerk über den Haufen zu werfen, ... d.h. der Culturkampf beginnt in anderer Weise von neuem“.46 Einen Vorschlag Goßlers vom 6. Juni 1886, Kopp für seine Vermittlertätigkeit mit einer staatlichen Ehrung auszuzeichnen, lehnte Bismarck mit der Begründung ab, dass der Bischof sonst in den falschen Ruf eines „Staatskatholiken“ kommen könne.47
IV. Hingegen hielt die Regierung die inzwischen diskutierte Transferierung Kopps nach Breslau, als Nachfolger des kranken Fürstbischofs Herzog, „für politisch am meisten erwünscht“.48 Am 31. Oktober 1886 „störte“ den Bischof (an Montel) „nicht wenig“ eine Meldung der Berliner „Germania“, nach der er, wegen einer Reise nach Berlin „im Interesse der Orden“, mit der Krankheit Herzogs „in Verbindung gebracht“ werde: „Warum soll ich mich denn jetzt wieder für Breslau in den Zeitungen herumzerren lassen, wie ich wegen Coeln und Freiburg genugsam herumgezerrt worden bin?“ Im Übrigen – das hatte er Montel bereits am 31. März 1886 mitgeteilt – seien „alle Neigungen meines Herzens den östlichen Provinzen entgegen gesetzt!“ Dabei wusste man in Berlin seit Herbst dieses Jahres von Kopps Bereitschaft, nach Schlesien zu wechseln, wenn „dies von Regierung und Papst für durchaus nützlich“ gehalten, während er selbst „dereinst gern den Paderborner Stuhl besteigen würde“.49 Den Wechsel des Bischofs nach Schlesien, zudem als ‚Preis‘ für seine erfolgreiche Vermittlung bei der Beendigung des Kulturkampfs, suchten Windthorst, die schlesische Zentrumspartei und das Breslauer Domkapitel ———— 46
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Am 26. Mai 1886 an einen Freiburger Adressaten. Vgl. Großherzog Friedrich I. von Baden und die Reichspolitik 1871-1907. 2. Bd.: 1879-1890, hrsg. von Walther Peter Fuchs. Stuttgart 1975, S. 423. Dass Kopp „keine Neigung habe, nach Freiburg zu gehen“, hatte Goßler schon am 5. Mai 1886 Bismarck mitgeteilt. PAAA, Baden 32, Nr. 1, Bd. 1. Vgl. R. Morsey, Bismarck und der Kulturkampf (Anm. 1), S. 265, Anm. 103. Goßler erinnerte Bismarck am 21. August 1886 daran, dass der Regierungschef bereits vor einem Jahr Kopp als Nachfolger Herzogs genannt habe. R. Morsey, Kopp (Anm. 2), S. 61, Anm. 48. Am 30. d.M. erklärte sich Bismarck einverstanden, Kopp für Breslau vorzusehen. BAB, Reichskanzlei 861b. – Im Oktober behandelten Kopp und Goßler mehrfach „Revisionsvorschläge“ des preußischen Episkopats (von einer Fuldaer Tagung vom 10. - 12. August 1886 (Bischofskonferenz I [wie Anm. 14], S. 710-715) für die kirchliche Gesetzgebung, über die Goßler am 20. und 21. d.M. Bismarck informierte. Ebd., S. 724-728. Von diesen Verhandlungen ist in Kopps Korrespondenz mit Montel nicht die Rede. So Goßler am 23. Oktober 1886 an Bismarck. R. Morsey, Kulturkampf-Forschung (Anm. 1), S. 237.
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gemeinsam zu verhindern.50 Vermutlich von Windthorst beeinflusst, polemisierten führende Blätter des Zentrums („Germania“, „Kölnische Volkszeitung“ und „Niederrheinische Volkszeitung“) gegen die kirchenpolitische Linie des „staatstreuen“ Bischofs. Als in diesem Zusammenhang die „Germania“ von Kopp eine Äußerung „zugunsten des Zentrums“ erwartete, wehrte er sich dagegen in einer am 9. oder 10. November 1886 publizierten Erklärung in der „Fuldaer Zeitung“.51 Als die gegen ihn gerichteten Angriffe dennoch andauerten, erbat der Bischof am 14. November 1886, via Montel, eine Rückenstärkung durch die Kurie. Sie erfolgte durch ein vom Papst verfügtes Schreiben des Kardinalstaatssekretärs vom 4. Dezember 1886.52 Darin wandte sich Jacobini gegen jüngst „verbreitete Erdichtungen“ und „gänzlich unwahre Behauptungen“, als ob der Bischof „Anteil gehabt hätte oder noch hätte“ an den Verhandlungen, die „hierselbst“ zur Beilegung des „kirchlichen Streites“ geführt wurden oder noch geführt werden würden. Diese Behauptungen seien „gänzlich unwahr“ und Kopp möge überzeugt sein, dass Alles, was er, „wie auch die übrigen Bischöfe [!], für die Freiheit der Kirche und die Wiederherstellung ihrer Rechte“ getan hätten, „ganz zur rechten Zeit und zweckentsprechend geschehen“ sei: „Hierdurch erwirbst Du Dir um die gesamte Kirche Preußens, ja um die Religion selbst, die größten Verdienste“.53 ———— 50
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Vgl. M.L. Anderson, Windthorst (Anm. 20), S. 372; K.o. von Aretin, Franckenstein (Anm. 27), S. 231. Ohne Tagesdatum erwähnt bei Winfried Jestaedt, Der Kulturkampf im Fuldaer Land. Fulda 1960, S. 190. Nach einem Bericht Schlözers vom 25. November 1886 (Anm. 6), der auf Informationen Montels beruhte, seien „unwürdige Anklagen“ intransigenter Blätter der Anlass von Kopps Eingabe gewesen. Sie hätten den Papst derart beeindruckt, dass er Galimberti beauftragt habe, Kopp „in warmen Worten“ für seine Verdienste „um die Kirche“ zu danken und darin das „Auftreten einiger klerikaler Blätter“ zu bedauern. PAAA, Vatikan 13. Druck: W. Jestaedt, Kulturkampf (Anm. 51), S. 191; Joseph Gottschalk, Georg Kardinal Kopp (1837 - 1914), in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 43 (1985), S. 102 (ebenfalls ohne Tagesdatum). Am 20. Dezember 1886 teilte Kopp Kultusminister von Goßler mit, dass ihm der Papst durch Montel und Jacobini seine „volle Indignation über das Treiben eines Teiles der katholischen Presse“ ausgesprochen und ihm sein „volles Vertrauen“ habe bezeugen lassen: „Alles, was ich bislang zur Herbeiführung des kirchlichen Friedens getan habe, opportune factum esse, und hätte ich mir dadurch die größten Verdienste um die katholische Kirche in Preußen und die Religion selbst erworben“. Er, Kopp, habe allerdings von diesen „tröstlichen Zuschriften“ keinen Gebrauch gemacht, um nicht den Papst „in die Polemik“ hineinzuziehen. Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Preußisches Geheimes Staatsarchiv, Berlin (künftig: PrGStA), Rep. 76 I Sekt. 28 A I Gen. 5, Bd. 10. Am 5. Januar 1887 wies Bismarck, von Goßler entsprechend informiert, Schlözer an, vom Papst die Genehmigung zur Veröffentlichung des Jacobini-Schreibens einzuholen: Es werde „von Nutzen“ sein, Kopps Stellung im Herrenhaus „stärken und für das Zustandekommen des in Aussicht genommenen Revisionswerkes wertvoll“. Schlözer konnte am 10. d.M. die Zustimmung des Papstes berichten. PAAA, Vatikan 348. – Jacobinis Schreiben (referiert bereits in Schulthess‘ europäischem Geschichtskalen-
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Am 11. Dezember 1886 dankte der Bischof, wiederum über Montel, dem Kardinalstaatssekretär „ehrerbietigst“ für diese „wohlwollenden und ehrenden Zeilen“, wollte sie jedoch nicht – wie von der Kurie erwartet – publizieren; denn inzwischen rege sich zunehmende Kritik an dem „ungebührlichen Gebahren der ‚Germania‘ und anderer Blätter“, die leicht zu „bedauerlichen Zwistigkeiten“ unter den Katholiken führen und das „Band der Einigkeit“ lockern könnten. Kopp interpretierte die derzeitigen Auseinandersetzungen als „Divergenz in der Auffindung des richtigen Weges zum kirchlichen Frieden“: Auf der einen Seite werde ein „stufenweises Fortschreiten, ein allmähliches Abringen der Concessionen bis zur völligen Aufhebung der Maigesetze [von 1873] für das Richtige gehalten“, während das Zentrum, dessen Presse und auch ein Teil des Episkopats „das Diplomatisiren“ für schädlich“ hielten und stattdessen forderten, „geraden Schrittes auf das Endziel“ loszugehen und „lieber noch zu warten, als mit einzelnen Concessionen voranzukommen suchen“. Nach Kopps Überzeugung hingegen würde man durch „solche schroffe Haltung“ nichts gewinnen, wohl aber die Regierung auf einen Weg bringen, welcher der katholischen Kirche „recht nachtheilig werden“ könne. Der Bischof litt unter der „Divergenz der Ansichten“, auch unter seinen Amtsbrüdern („Gegenpartei“), deren Einigkeit er nicht gefährden wolle, wie unter der Pressepolemik („bis zum Unwohlsein“); dabei habe er sich bemüht, „in- und außerhalb der Bischofskonferenz lieber durch Nachgiebigkeit auszugleichen“. Er tröstete sich damit, dass der Papst sein Verhalten bisher nicht korrigiert habe. Infolge der unterschiedlichen Auffassung über das Vorgehen zur weiteren Verbesserung der kirchenpolitischen Lage hielt Kopp es nunmehr für zweckmäßig, die inzwischen von der Regierung angekündigten neuen „Erleichterungen“ der Kulturkampf-Gesetzgebung nicht zunächst vom Herrenhaus, sondern vom Abgeordnetenhaus „beratschlagen“ zu lassen. Dann nämlich könnten Windthorst und das Zentrum versuchen, den Entwurf nach ihren Vorstellungen zu verbessern; durch dieses Procedere würden zudem – wenn „bezüglich des Ordensgesetzes“ die „weitgehendsten Ansprüche“ des Zentrums nicht erfüllt worden seien – der Hl. Stuhl und er selbst von der „Verantwortlichkeit entlastet“; allerdings könne bei diesem Verfahren der Entwurf auch an den Konservativen und Liberalen scheitern, falls das Zentrum ihn umzugestalten suche. Kopp bat Montel, „die Sache ———— der, NF, Bd. 3. München u.a. 1887, S. 63) ist in vielen Würdigungen Kopps erwähnt (fehlt aber bei Graf E. Soderini, Leo XIII. [wie Anm. 7], C. Weber, Kirchliche Politik [wie Anm. 4] und H.-G. Aschoff, Kirchenfürst [wie Anm. 2]) und stets als Belobigung interpretiert worden. Die später erfolgte scharfe Kritik Kopps an diesem Schreiben (s. Anm. 58) ist bisher nicht beachtet worden.
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nach beiden Seiten wohl zu überlegen“ und dem Kardinalstaatssekretär „gelegentlich“ vorzutragen. In einem kurzen Begleitschreiben zu diesem Brief versicherte Kopp, dass er in einem Wechsel nach Breslau – den er sehr wohl anstrebte – „irgend eine Wohlthat nicht erblicken“ würde; der Papst möge darauf jedoch keine Rücksicht nehmen, sondern „lediglich auf das Wohl der Kirche und die Lage der Verhältnisse“. Am 31. Dezember 1886 dankte der Bischof, nach einem für ihn „in jeder Beziehung schweren Jahr“, Montel für die „so wohlwollende und umsichtige Art und Weise“, in der er über seine Interessen gewacht „und ganz besonders das große Friedenswerk gefördert“ habe; dessen Abschluss erhoffte er für das kommende Jahr, auch wenn es noch „wirklich recht grau“ aussähe. Kopp rechnete damit, dass die inzwischen erzielte Verständigung die „Grundlage“ für den neuen kirchenpolitischen Gesetzentwurf der Regierung bilden werde, „so daß der Landtag nur Ja zu sagen hat“. Andernfalls hätte er Bedenken, in eine „Action“ wie die des Vorjahrs „einzutreten, wo auf beiden Seiten kein bestimmtes Ziel“ vorgelegen habe und erst eine „Basis, materiell und formell, geschaffen werden mußte“. Der Bischof wiederholte seine drei Wochen zuvor mitgeteilte „Erwägung“, einen „eventuellen Gesetzentwurf “ zunächst im Abgeordnetenhaus beraten zu lassen, aber auch seine Warnung, dass er dort „in die Brüche“ gehen könne, weil Windthorst „mit den Conservativen schwer und mit den Liberalen gar nicht fertig werden kann“.54 Damit war Jacobini deutlich signalisiert, dass Kopp erneut den Gesetzgebungsweg über das Herrenhaus – und damit seine Einschaltung – für den richtigen hielt.
V. Im Winter 1886/87 überlagerte der „Septennatsstreit“ den Fortgang der Friedensbemühungen, für die Kopp bereits Ende Oktober 1886 Goßler Vorschläge übermittelt hatte.55 In diesen Auseinandersetzungen, in denen Bismarck den Papst gegen das Zentrum – und nicht nur in Erwartung einer weiteren Revision der Kulturkampf-Gesetzgebung – instrumentalisierte, stand die Mehrheit der preußischen Bischöfe und des Kirchenvolks auf der Seite Windthorsts. Entgegen der Aufforderung Leos XIII. lehnte die Konfessionspartei am 14. Januar 1887 den für sieben Jahre festgeschriebenen ———— 54 55
Auch zitiert bei C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 160. Vgl. Bischofskonferenz I (Anm. 14), S. 794-796, dazu Goßlers Schreiben vom folgenden Tage an Bismarck. Ebd., S. 796 -798.
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Heeresetat ab. Nachdem daraufhin der Reichstag aufgelöst worden war, sah der Bischof, so am 18. Januar 1887 an Montel, in der „augenblicklichen Berliner Stimmung“ einen „Haß gegen das Centrum und dessen sonstige Gefolgschaft“, der den „weiteren Fortgang des Friedenswerkes“ gefährden könne. Kopp lastete Windthorst die Schuld für die „Verschlechterung des politischen Klimas“ an, befürchtete negative Folgen und kritisierte den Politiker, trotz dessen „unleugbarer Verdienste“ im Kulturkampf, in bisher nicht gekannter Schärfe: „Er übt eine Tyrannei über die Katholiken [aus], die schrecklich ist; jeder, der sich nicht vollständig ihm unterordnet, wird moralisch todtgeschlagen und als Verräther der Kirche in allen Zeitungen gebrandmarkt. Die langjährige Führung hat den Mann zudem so herrschsüchtig und eitel gemacht, daß er auch niemand neben sich aufkommen lassen will. Darin liegt ja auch der tiefste Grund des Mißverhältnisses zwischen mir und ihm. ‚Der hl. Vater hat mich abgesetzt und dem Bischof von Fulda die Direction der kirchenpolitischen Verhältnisse übertragen.’ So klagte er, als meine Berufung ins Herrenhaus bekannt wurde. ‚Was wollen Sie hier?’ schrie er mich an, als ich ihn in Berlin besuchte, ‚Sie gehören hier gar nicht her!‘“ Im Winter habe er, Kopp, sich von Windthorst „Alles gefallen“ lassen, um ihn „zu einer positiven Mitarbeit“ zu veranlassen: „Allein, wochenlang hat er mich auf das Äußerste moralisch mißhandelt, mir nur Steine in den Weg werfen und mich von dem betretenen Wege herabzerren wollen.“ Noch im „vorigen Herbste“ habe Windthorst ihn „einen Verräther an der Kirche genannt“, der den Papst zu „Concessionen gedrängt“ habe. Demgegenüber sei das katholische Volk „im allgemeinen des Unfriedens müde“ und dankbar für die Segnungen des neuen Gesetzes. Der rheinisch-westfälische Episkopat allerdings liege, außer Paderborn, „in den Banden“ Windthorsts und mache alle „Verunglimpfungen und Vorwürfe“ auch gegen den Papst „tapfer mit“, der seinerseits gegen alle „geschilderten Zustände und Gefahren“ nichts ausrichten könne. „Nebenbei“ erwähnte Kopp, dass er ein ihm von einem „Regierungsbeamten“ in Fulda angebotenes Reichstagsmandat „absolut abgelehnt“ habe: „Jetzt ist meine Position trotz allem Gekläffe unerreichbar.“ Aus dem Kampf der letzten Monate sei er „unversehrt und siegreich hervorgegangen“, die katholische Presse jedoch „mit der denkbar größten Niederlage“; wenn er jetzt in die „Arena der politischen Kämpfe hinabstiege“, würde er „niemand nutzen, aber zerbrechen“; deswegen warte er ruhig auf „Weisung
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und Instruction“ vom Papst. Kopp befürchtete, dass die Neuwahl des Reichstags die derzeitige Lage noch „unerfreulicher“ machen werde. Noch am selben Tag, 18. Januar 1887, schrieb der Bischof einen zweiten, einen „Brandbrief “, an Montel, in dem er daran erinnerte, dass er vor einer Veröffentlichung von Jacobinis Schreiben vom 4. Dezember 1886 56 gewarnt habe. Nachdem er jedoch, am 13./14. Januar, von Berlin und Rom gezwungen worden sei, das vom Papst zu seinem „Schutze befohlene Schreiben“ zu veröffentlichen, habe er das („ungern“) getan, aber nur in der „Fuldaer Zeitung“, „um die Sache möglichst unauffällig zu machen“. Obwohl der dem Abdruck beigefügte „Artikel von wenigen Linien sicher keine Provocation“ enthalte, habe die „Germania“ darüber einen „wüsten Lärm erhoben“ und dem Brief durch ihre Übersetzung einen Sinn gegeben, „der lächerlich ist, aber mich und den Herrn Cardinal lächerlich macht. Sie sagt nämlich ihren Lesern. der zweite Satz beziehe sich lediglich auf mein künftiges Verhalten und heiße: ‚Sei überzeugt, daß Du in Zukunft opportun handeln wirst, wenn Du, was Du immer kannst, für die Freiheit der Kirche wie die übrigen Bischöfe thuest‘.“ 57 Ein Brief mit dieser Intention, so räsonierte Kopp, wäre besser ungeschrieben geblieben; denn dann enthielte er für ihn „keinen Schutz, sondern eine bittere indirecte Kritik“ seines bisherigen Verhaltens „und eine, wie eine Correctur lautende Mahnung für die Zukunft“. Nachdem nun, durch die ihm „aufgezwungene“ Veröffentlichung, der „Skandal“ gegen seinen Willen „heraufbeschworen“ worden sei, verlangte der Bischof, der „Germania endlich einmal gründlich das Handwerk“ zu legen; sie achte keine Autorität mehr und bereite das katholische Volk „direct zur Revolution“ vor. Deswegen erbat Kopp, via Montel, von Galimberti eine „authentische Erklärung“ über Jacobinis Intention; denn die deutschen Katholiken müssten „endlich einmal klar und deutlich“ wissen, wie der Hl. Stuhl über seine, Kopps, kirchenpolitische Tätigkeit urteile: „Ich lasse mir jede Correctur und jeden Tadel gern gefallen und nehme denselben dankbar entgegen; ich trete auch mit größter Freude aus dem Herrenhaus aus und gehe zu den Hottentotten, wenn es der hl. Vater befiehlt.“ Wenn ihm jedoch eine „solche offene Erklärung“, so schloss Kopp, verweigert werden würde und die „Germania“ fortfahre, ihn ———— 56 57
Vgl. den Bezug in Anm. 52. Nach W. Jestaedt, Kulturkampf (Anm. 50), S. 191, Anm. 131, hatte die „Germania“ den Brief „entstellt wiedergegeben“ (ohne aber diese Wiedergabe zu kennzeichnen); dadurch sei ein „neuer Pressekrieg“ mit der „Fuldaer Zeitung“ heraufbeschworen worden. Als Beleg zitiert Jestaedt drei Nummern der Zeitung von Januar 1887 (ohne Tagesdatum).
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„in solch infamer Weise dem katholischen Volke zu zeichnen“, würde er das Herrenhaus nicht wieder betreten. Bereits vier Tage später änderte Kopp seine Meinung über das so hart kritisierte Jacobini-Schreiben. Er riet nunmehr, wiederum über Montel, „entschieden“ von einem „Eingreifen“ des Papstes („auch wegen der bevorstehenden [Reichstag-]Wahl“) ab, da sich die katholische Presse dem Schreiben des Kardinalstaatssekretärs gegenüber „ziemlich correct und objectiv“ verhalte; nur die „Germania“ setze ihre „Ungezogenheiten“ fort, verfalle damit aber „mehr und mehr der Lächerlichkeit und Verachtung“. Nach dem Wiederbeginn der kirchenpolitischen Verhandlungen im Herrenhaus werde er es „dem hl. Vater gegenüber machen, wie der Hauptmann im Evangelium von seinem Knechte sagte“.58 Während des Septennatsstreits im Januar und Februar 1887 hielt sich der Fuldaer Bischof – dessen „hohe Verdienste“ Leo XIII. „immer noch in vollem Maße“ anerkenne 59 –, nach außen zurück. Intern unterstützte er, wie auch Montel, die im Wahlkampf erfolgten Pressionen Leos XIII. auf das Zentrum zugunsten einer Zustimmung zur Heeresvorlage. Diese Politik, u.a. zur Ausschaltung Windthorsts und als Vorleistung für einen weiteren Abbau des Kulturkampfs, sollte gleichzeitig die konservativen Mächte gegen revolutionäre Kräfte stärken.60 In diesem Sinne gab Kopp am 29. Januar 1878 Goßler den wenig christlichen Rat, mit der Veröffentlichung einer (bisher noch zurückgehaltenen) Stellungnahme des Papstes („2. Jacobinische Note“), in den Wahlkampf einzugreifen und damit Windthorst, der durch den Papst „desavouirt“ worden sei, „den Hals zu brechen“.61 Das ‚Eingreifen‘ ———— 58
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Auf das strittige Jacobini-Schreiben vom 4. Dezember 1886 (s. Anm. 52) kam Kopp einige Jahre später unvermittelt zurück, als er das Scheitern seiner (angestrebten und erwarteten) Ernennung zum Kardinal befürchtete. Dafür machte er, am 9. Dezember 1891, wiederum gegenüber Montel, Kardinalstaatssekretär Rampolla verantwortlich: Seinerzeit hätte ihm am Kardinalat gelegen, „um der katholischen Welt gegenüber zu zeigen, der hl. Vater billige Alles, was ich zur Beilegung des preußischen Culturkampfes gethan habe“. Deswegen habe selbst Bismarck seine Ernennung gewünscht, „allein der hl. Vater ließ mich schutzlos weiter arbeiten, ja noch mehr“: So werde er das Schreiben Jacobinis „vom Herbst 1886 niemals“ vergessen, das ihn angeblich hätte verteidigen sollen: „Es ist das perfideste Actenstück, das jemals die päpstliche Kanzlei verlassen hat.“ Demnach hatte Kopp inzwischen die vor fünf Jahren als „entstellt“ bezeichnete Übersetzung der „Germania“ (s. Anm. 57) als zutreffend erkannt. Nach einem Bericht Schlözers vom 2. Februar 1887. PAAA, Preußen 2, Kirche 2, Bd. 2. Zur Septennatskrise vgl. M.L. Anderson, Windthorst (Anm. 20), S. 346 - 370; H.-G. Aschoff, Kirchenfürst (Anm. 2), S. 58- 61; K.o. von Aretin, Franckenstein (Anm. 27), S. 231-254. Die in diesem Zusammenhang von Leo XIII. erhoffte Unterstützung Bismarcks zur Wiederherstellung des Kirchenstaats spielte auch in Kopps Briefen wiederholt eine Rolle. Dieses Thema bleibt hier jedoch (mit Ausnahme des Hinweises in Anm. 76) ausgeklammert. R. Morsey, Kulturkampf-Forschung (Anm. 1), S. 233; seitdem häufig zitiert.
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erfolgte auch, wurde jedoch von dem erfahrenen Zentrumspolitiker in seiner berühmten Kölner „Gürzenich-Rede“ neutralisiert. Seine Partei ging aus der Reichstagswahl vom 21. Februar 1887 ungeschwächt hervor, verlor allerdings ihre bisherige Schlüsselrolle an die rechtsgerichteten „Kartellparteien“. Deren neue Mehrheit stimmte am 11. März 1887 der erneut eingebrachten Septennatsvorlage zu, unterstützt von sieben Zentrumsabgeordneten. Unmittelbar darauf begannen die Beratungen des Entwurfs des „2. Friedensgesetzes“, den die Regierung wiederum (am 22. Februar 1887) in das Herrenhaus eingebracht hatte. Dieses Mal sprach Kopp seine Amendements mit Windthorst und auch Krementz ab.62 Dabei schätzte er allerdings die Durchsetzung der Vorlage pessimistisch ein und bezeichnete, am 3. März 1887 an Montel, die Stimmung – nach den Auseinandersetzungen vor der Reichstagswahl – für den Katholizismus als „nicht sehr freundlich“. Er sah alle Autorität von den Bischöfen an die „katholische Demagogie übergegangen, welcher sich die Bischöfe theils angeschlossen, theils unterworfen hätten“ 63, während Bismarck an seiner Verehrung für den Papst festhalte. Dessen positive Einstellung zu der neuen Vorlage bestätigte der Bischof seinem römischen Vertrauensmann am 8. März 1887, erläuterte ihm das inakzeptable Ergebnis der von der Kommission des Herrenhauseses angenommenen Fassung und empfahl dem Papst, die Abstimmung darüber in beiden Kammern „völlig frei“ zu lassen.64 Erzbischof Krementz hingegen drängte Leo XIII. auf eine Intervention zugunsten einer Ablehnung. In dieser Situation kam Kopp zugute, dass Galimberti, der sich als Sondergesandter des Papstes vom 20. bis 26. März 1887 in Berlin aufhielt – aus Anlass des 80. Geburtstags Wilhelms I. –, Kopps Linie stützte: Verabschiedung der Vorlage auch ohne die von ihm im Herrenhaus nicht erreichten Verbesserungen zur Entschärfung der Anzeigepflicht und Distanz gegenüber opponierenden Bischöfen und dem Zentrum. Das Ziel Windthorsts, den Galimberti brüskierte, beschrieb Kopp (am 21. März 1887) dem Kurienprälaten so: „Alles oder nichts“; dabei habe ihm der Zent-
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Über den Fortgang der Beratungen vgl. H.-G. Aschoff, Kirchenfürst (Anm. 2), S. 61- 64. Zitiert bei C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 161. Vgl. auch das (vermutlich von seinem Vater beeinflusste) kritische Urteil Herbert Bismarcks, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, vom 16. und 24. März 1887 über Kopp: „ ... denkt nur an Breslau und möchte sich das durch möglichst viele Amendements erobern“. Vgl. Graf Herbert Bismarck in seiner politischen Privatkorrespondenz, hrsg. von Walter Bußmann unter Mitwirkung von Klaus Peter Hoepke. Göttingen 1964, S. 431, Anm. 2, ferner S. 433f. (jeweils an seinen Bruder Wilhelm Graf Bismarck).
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rumspolitiker jedoch „niemals gesagt, was ihm Hoffnung gibt, Alles auf einmal zu erreichen“.65 Am 24. März 1887, bei der Schlussabstimmung im Herrenhaus, akzeptierte der Bischof, obwohl er seine Verbesserungsvorschläge nicht hatte durchsetzen können, das „2. Friedensgesetz“ 66, entgegen seinen vorherigen Ankündigungen – was ihm heftige Vorwürfe einbrachte. Er befürchtete, andernfalls die „ganze Friedensarbeit“ zu gefährden und schob nunmehr dem Zentrum die Aufgabe zu, im Abgeordnetenhaus entsprechende Verbesserungen der Herrenhaus-Fassung zu erreichen. So riet er am 30. März 1878 – via Galimberti – Leo XIII., den Abgeordneten die Annahme „ganz einfach“ zu raten.67 Mit diesem Ziel bedrängte auch Schlözer, in Bismarcks Auftrag, den Papst – mit Erfolg. Am 7. April 1887 überbrachte Montel bei einer „Geheimreise“ die entsprechende Anweisung den Bischöfen in Köln, Trier und Fulda zur Weitergabe an die Abgeordneten. Das Bekanntwerden dieser Intervention löste im Kirchenvolk weithin Unverständnis, bei Windthorst schiere Verzweiflung aus.68 Unmittelbar zuvor hatte Kopp seine Meinung jedoch wieder geändert und, so am 7. April 1887 an Montel – noch ohne Kenntnis von dessen bevorstehendem Eintreffen –, dem Papst von einer „Weisung“ an das Zentrum, „pure für das Gesetz zu stimmen“, abgeraten; denn dadurch würde die „Verantwortlichkeit allein dem hl. Stuhle zufallen“. Stattdessen sollte die Kurie versuchen, die von ihm, Kopp, vorgeschlagene „Beschränkung der Einspruchsgründe“ gegen die Anzeigepflicht nachträglich von der Regierung annehmen zu lassen, womit „auf allen Seiten Zufriedenheit erreicht“ werden würde. Windthorst könne dann sein, Kopps, Amendement wiederholen, hätte zudem noch den „Ruhm, auch etwas nachgeholfen zu haben“, und das Zentrum das Verdienst, das neue Gesetz in einer „wie es meint annehmbareren Fassung zu Stande gebracht“ zu haben, was ihm „wohl zu gönnen wäre“.
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Vgl. Franz X. Seppelt, Georg Kopp, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 49 (1910), S. 293 - 326, hier S. 304. Diese Sätze sind häufig zitiert worden. Zu den Einzelheiten der in diesen Tagen unübersichtlichen politischen Lage in Berlin vgl. C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 164-166; M.L. Anderson, Windthorst (Anm. 20), S. 373- 379. Nur dieser Satz des „langen Briefes“ ist bei E. Soderini, Leo XIII. (Anm. 7), S. 239, Anm. 508, erwähnt. Vgl. dessen Klage vom 11. April 1887 an Clemens Perger. L. Windthorst, Briefe (Anm. 5), S. 568.
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Nachdem das Eingreifen des Papstes die Situation verändert hatte, verständigte sich Kopp am 12. April 1887 in Hannover mit einem zutiefst verunsicherten Windthorst über das weitere Vorgehen.69 Danach habe sich der Politiker, wie der Bischof zwei Tage später Montel berichtete, aus dem öffentlichen Leben zurückziehen, aus dem Zentrum austreten und „in Tyrol niederlassen“ wollen. Er, Kopp, habe ihn jedoch davon überzeugt, noch bleiben zu müssen, um „als nothwendiges Werkzeug“ die Einigkeit zwischen den Katholiken, den Bischöfen und dem Papst „ganz intact zu erhalten“. Wenn er, Windthorst, jetzt nach dem „Wunsche“ des Papstes dem Gesetz zustimme, würde der Hl. Stuhl „sozusagen durch ihn gedeckt und das katholische Volk ganz beruhigt sein“. Ohnehin habe er noch die Aufgabe, die „gegenwärtige Haltung“ der katholischen Presse gegen die kirchlichen Autoritäten „in das richtige Bett zu lenken“, um „jeden Schatten von Mißtrauen und der Divergenz der Ansichten aus dem katholischen Lager zu beseitigen“. Umgestimmt und zu „Thränen gerührt“ habe Windthorst ein ihm von Kopp übergebenes Schreiben des Papstes.70 Durch die anschließend vereinbarte Zustimmung des Zentrums zum „2. Friedensgesetz“ sei die „Einigkeit zwischen uns vollständig wieder hergestellt“. Über diese Absprache habe er die Regierung informiert 71, damit sie etwaigen „Verschlechterungen“ des Entwurfs durch Konservative und Liberale entgegenwirken könne, während Windthorst beim Episkopat und in der Presse „im Sinne des hl. Vaters“ wirken wolle. Der Bischof teilte Montel weiter mit, dass Bismarck an seiner Ansicht festhalte, er, Kopp, sei durch seine „bisherige Action“ viel zu weit gegangen und hätte damit für Windthorst „gearbeitet“. Bismarck habe sich deswegen bereits in einen „großen Zorn gegen mich hineingewüthet“, den er nicht fürchte, wenngleich es „für die Sache nicht gut“ wäre, wenn der Fürst gegen Leo XIII. „mißtrauisch“ werden würde. Deswegen riet Kopp dem Papst, dem Zentrum für seine Abstimmung „völlig freie Hand“ zu lassen, falls die ———— 69
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Nach C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 169, hat Kopp bei diesem Treffen die „näheren Modalitäten der Kapitulation des Zentrums“ festgelegt. Er zitiert das im Folgenden referierte Schreiben jedoch nicht, kritisiert stattdessen Kopps Verhalten in einer Deutlichkeit, die vom Text nicht gedeckt ist. Windthorst erwähnte das Treffen in Hannover kurz in einem Brief vom 13. April 1887 an Schorlemer-Alst, mit Abschriften an Krementz, Reuß, Perger und (am 16. d.M.) auch Kopp. L. Windthorst, Briefe (Anm. 5), S. 569f., 573f. Nach dem Urteil von Karl Bachem hat diese Besprechung (ohne Datums-, Orts- und Inhaltsangabe) Windthorst „das innere Gleichgewicht“ wiedergegeben. Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei. Bd. 4. Köln 1928, S. 228. Vom 7. April 1887. L. Windthorst, Briefe (Anm. 5), S. 575f., Anm. 4. Am 16. April 1887. Wegen dieser Weitergabe bezweifelte C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 169, Kopps „prinzipielle Loyalität“ gegenüber „seinen Mitbrüdern“ und dem Zentrum. Dabei profitierten beide Seiten von diesem – ihnen inzwischen bekanntem – Vorgehen.
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Vorlage, wie sie aus dem Herrenhaus gekommen sei, nicht nachträglich noch „wesentlich verschlechtert“ würde. In seinem nächstem Brief an Montel, vom 26. April 1887 72, konnte der Bischof bereits berichten, dass am Vortag das „2. Friedensgesetz“ im Abgeordnetenhaus in 2. Lesung, wobei Bismarck sogar dessen Annahme mit einem Vertrauensvotum verbunden habe – und mit den Stimmen des Zentrums, wie mit Windthorst abgesprochen –, unverändert angenommen worden sei. Das bedeute dessen „definitive Annahme“. (Sie erfolgte einen Tag später, am 29. April 1887 die Sanktionierung.) Diese Haltung des Zentrums werde den Papst ebenso „trösten“ wie die für ihn „treu anhänglich“ gewordene Stimmung und der inzwischen erfolgte „Umschwung“ im Episkopat. Auch Krementz stelle sich jetzt „ganz auf den Boden“ der vom Papst geforderten Linie. Kopp konstatierte „in allen Punkten der preußischen Kirchenpolitik“ eine neue Einigkeit im Katholizismus. Hingegen habe sich sein Verhältnis zu Bismarck „etwas verdüstert“, der an seiner Meinung festhalte, er, Kopp, sei dem Zentrum „zu weit entgegengekommen“ und habe die päpstlichen Instruktionen „erheblich überschritten“. Demgegenüber sah der Bischof, gegenüber Montel, seine derzeitige Position gänzlich anders: „Thatsächlich hat nicht mich das Centrum, sondern ich habe das Centrum geleitet, und das ist der größte Gewinn bei den ganzen Verhandlungen“. Hätte er das Zentrum „zurückgewiesen“, würde er es „und mit ihm den größten Theil der Katholiken auf den Weg der Revolution getrieben“ haben; das Gesetz wäre abgelehnt worden und der Papst hätte das Friedenswerk „wieder von vorn anfangen müssen unter weit schwierigeren Verhältnissen“. Das Zentrum sei ihm, Kopp, deswegen gefolgt, weil er sich dessen Vertrauen erworben habe, wenn auch „erst nach manchem kleinen Kampfe“. Auch wenn der Bischof die „Verstimmung“ Bismarcks gegen ihn „wohl ertragen“ wollte, hielt er sie dennoch, wegen seiner „eigenen weiteren Thätigkeit in den kirchenpolitischen Verhandlungen“, für ein Hindernis, falls der Papst sich weiterhin seiner „schwachen Kräfte“ bedienen werde. Um sich dieser ‚Bedienung‘ sicher zu wissen, bat er Montel, ihm durch den Papst „baldigst, ... am besten direct“, von Bismarck ein Vertrauensvotum zu verschaffen.
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Kopp-Briefe vom 16. und 18. April 1887 an Windthorst sind zitiert bei Herbert Gottwald, Politischer Katholizismus, Kapitalismus und soziale Frage. Zum Anpassungsprozeß des deutschen Katholizismus an die kapitalistische Gesellschaftsordnung. Diss. B. Jena 1982, S. 176 -179), ein Schreiben Windthorsts an Kopp vom 16. April 1887 in: L. Windthorst, Briefe (Anm. 5), S. 573.
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Am 5. Mai 1887 informierte Kopp, über Montel, die Kurie von der derzeit beruhigten Lage. So habe er den Entwurf einer Dankadresse „regierungsfreundlicher Katholiken“ an den Papst für die Beilegung des Kulturkampfs, wegen so vieler „offener und versteckter Angriffe auf das Centrum“, entschärft und die von ihm erwartete „Mitbetheiligung“ abgelehnt.73 Gleichwohl blieb der Bischof mit seinen (adligen) „Staatskatholiken“, in Fühlung. Acht Tage später berichtete er Montel, nach einer gemeinsamen Besprechung mit Windthorst und Schorlemer-Alst, von deren „Dankbarkeit“ für die Vertretung der „Interessen der deutschen Katholiken“ durch den Papst; das Zentrum habe sich dessen Weisung, dem „2. Friedensgesetz“ zuzustimmen, „freudig unterworfen“, lehne jedoch angesichts der noch fortbestehenden gesetzlichen Behinderungen eine von Kopp angeregte „Dankadresse“ ab. Demnach konnte von ‚freudiger Dankbarkeit‘ keine Rede sein.
VI. Am 13. April 1886, zu Beginn der Beratungen über das „1. Friedensgesetz“, hatte der Bischof im Herrenhaus von der Aufgabe gesprochen, den „welthistorischen Abschluss eines großen Streites“ anzustreben. Dieses Ziel war bereits ein Jahr später, mit der Annahme des „2. Friedensgesetzes“, erreicht. Leo XIII. bestätigte am 23. Mai 1887, in einer Allokution vor dem Kardinalskollegium, das Ende jenes Kampfes, „der die Kirche belastet und auch dem Staat geschadet hat“. Dabei würdigte er indirekt die Verdienste des Zentrums und des Episkopats, eingeschlossen ihm erteilter „Ratschläge“, ohne jedoch Kopp zu erwähnen. Das aber tat Bismarck, allerdings nur intern. In einem Immediatbericht vom 8. Dezember 1887 begründete er seinen Vorschlag, zum 50jährigen Priesterjubiläum Leos XIII. (Januar 1888) Graf Brühl nach Rom zu schicken; denn dieses katholische Herrenhausmitglied habe sich, ebenso wie Kopp, bei dem „letzten kirchlichen Friedensschluß erhebliche persönliche Verdienste“ erworben. Brühl werde nicht über kirchliche Fragen verhandeln, was Sache Schlözers sei, dem Kopp „darin durch fortdauernde Korrespondenz mit Rom“ sekundiere.74
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C. Weber, Kirchliche Politik (Anm. 4), S. 181. Gesammelte Werke, Bd. 6c (Anm. 37), S. 375.
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Als sich der Fürstbischof Ende Mai 1888 aus Verhandlungen mit der Kurie wegen „weiterer Revision der kirchenpolitischen Vorschriften“ ausgeschaltet sah und dadurch – wie Goßler am 30. Mai 1888 Bismarck berichtete – „verletzt“ fühlte, beruhigte ihn der Regierungschef am 2. Juni 1888: Er habe keineswegs auf dessen „wertvolle Unterstützung“ verzichten, sondern die Verhandlungen mit der Kurie von „parlamentarischer Erörterungen“ frei halten wollen, um sie nicht der Gegnerschaft derjenigen Parteien auszusetzen, „in deren Interesse es liegt, den Frieden zwischen Kirche und Staat zu stören“; dass dieser Friede, so fuhr Bismarck fort, „in so glücklicher Weise“ herbeigeführt worden sei, sei „wesentlich den fruchtbringenden und selbstlosen Bemühungen“ Kopps zu danken, er rechne auch in Zukunft auf dessen „für die Kirche und für unser Vaterland gleich segensreiche Mitwirkung“.75 In seinem Dankschreiben versicherte Kopp, auch künftig das Bemühen des Fürsten für ein „friedliches Verhältniß zwischen der Regierung meines Vaterlandes und meiner Kirche“ zu unterstützen.76 Abschließend seien noch vier Urteile des Breslauer Fürstbischofs aus den Jahren 1888 und 1889 über den kirchenpolitischen Friedensschluss zitiert. Während einer Romreise (Ende Dezember 1887 bis etwa Mitte Januar 1888) – bei der Kopp dem Papst, wie er am 21. Dezember 1887 Montel geschrieben hatte, „über alles und jedes klaren Wein“ einschenken wollte –, erhielt er von Leo XIII. eine Reihe von „Aufträgen“. Darüber informierte er am 24. Januar 1888 Bismarck in Friedrichsruh und bestätigte ihm, acht Tage später, seine Mitteilungen brieflich. Danach habe er Leo XIII. ein „getreues Bild“ der durch die Friedensgesetze erwirkten „günstigen Lage der kirchlichen Verhältnisse“ und der „wachsenden Befriedigung der preußischen Katholiken“ gegeben, aber von einer „weiteren legislatorischen Aktion“ (der
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PAAA, Preußen 2, Kirche 1, Bd. 13, erwähnt bei R. Morsey, Kulturkampf-Forschung (Anm. 1), S. 239. 15. Juni 1888. PAAA, Preußen 2, Kirche 1, Bd. 14. In einem über Montel geleiteten langen eigenhändigen Schreiben Leos XIII. vom 6. Januar 1890 an Kopp, in dem er die bedrängte Lage des Hl. Stuhles durch „fortbestehende Verfolgung“ der italienischen Regierung beklagte und den Fürstbischof um entsprechende Unterstützung in Berlin bat, hob der Papst Kopps „Liebe zum Vaterlande“ hervor, appellierte aber gleichzeitig an dessen „Liebe zur Kirche und zu ihm“. Mitte Januar 1890 leitete der Bischof eine Übersetzung dieses Schreibens an Bismarck und knüpfte daran folgendes Bekenntnis: „Meine Liebe zum Vaterland schließt keinen Gegensatz zu Regierung und Papst in sich. ... Natürlich aber können Ansprüchen des hl. Stuhles Ansprüche gegenüberstehen, die das Vaterland an mich stellt, und darüber bin ich keinen Augenblick im unklaren, welche die Priorität erhalten werde; ich brauche nur mein Herz zu fragen.“ Nachl. Kopp (Anm. 4).
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kirchenpolitischen Gesetzgebung) abgeraten; dem habe der Papst zugestimmt, in der Hoffnung auf eine Fortdauer der „guten Beziehungen“.77 Am 27. März 1888 beklagte Kopp bei Montel – nachdem Kultusminister Goßler Einzelheiten der Anzeigepflicht problematisiert habe – einmal mehr sein „dornenvolles Mittleramt“, zumal bei unklaren Zielen. So im habe Kulturkampf niemand begriffen, „was noth that, um aus demselben herauszukommen“. Seit 1882 habe er sich auf beiden Seiten – unter „beständiger Verkennung und vielen Vorwürfen“ von Jacobini und unter dem Druck „beständigen Mißtrauens“ – um dessen Beilegung bemüht: „Oft haben Bismarck und Goßler die Sache aufgegeben und liegen lassen wollen und nachher selbst gesagt, nur meine Beharrlichkeit habe sie ermuthigt, immer wieder von Neuem zuzugreifen“.78 Am 22. Juni 1888 informierte der Fürstbischof den Papst über die Ausführung der von ihm im Januar „erhaltenen Aufträge“. Dabei bezeichnete er die Lage der Kirche in Preußen als „keineswegs vollkommen“, aber „als erträglich“, jedoch verbesserungsbedürftig.79 Die Bedeutung des Friedensschlusses unterstrich er mit dem Hinweis auf dessen „Errungenschaften“, die den Protestanten „so ungeheuer“ vorkämen, „daß ihr ganzer Fanatismus erregt“ und im (1886 gegründeten) Evangelischen Bund gegen die katholische Kirche organisiert werde.80 Als Kopp am 9. April 1889, via Montel, eine Dispens zugunsten der protestantisch getauften und geschiedenen Tochter Gerson von Bleichröders – für deren Heirat mit dem „reichen Bankier von Biedermann zu Wien, katholisch“, erbat, begründete er sein Gesuch so: Bleichröder, Bismarcks „intimer Freund, täglicher Gast und Rathgeber“, habe ihm, Kopp, 1886 und 1887 „wesentliche Dienste“ geleistet, „indem ich ihn zu demselben schickte, wenn die Verhandlungen ins Stocken geriethen“. Der Bankier, „wohl der angesehenste und einflußreichste Mann“ im Reich, sei den Katholiken „stets wohlgesinnt gewesen, auch im Culturkampfe“; selbst Windthorst sei „we———— 77
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PAAA, Preußen 2, Kirche 1, Bd. 12. Am 31. Januar 1888 informierte Kopp auch Goßler. Bischofskonferenz I (Anm. 14), S. XVI. Kopp berichtete weiter von neuen Schwierigkeiten mit Windthorst und zitierte aus einem gleichzeitigen Schreiben an Schorlemer-Alst: „Was ist das Centrum? Windhorst! Wer ist die katholische Presse? Windhorst! Wer ist das katholische Volk in Deutschland? Windhorst! Wer ist Schuld daran, daß es so ist? Das Centrum selbst und das katholische Volk, die Bischöfe zum Theil nicht weniger, welche Herrn Windhorst fast abgöttische Verehrung erweisen, auf Kosten des hl. Vaters.“ Zum Schluss hieß es: „Für Windhorst würde ich nie eine päpstliche Decoration beantragen; das weiß und fühlt er auch selbst, daß das unmöglich ist.“ PAAA, Preußen 2, Kirche 1, Bd. 14. Mit diesem Schreiben unterlief Kopp Revisionswünsche von Krementz. Vgl. E. Gatz, Bischofskonferenz I (Anm. 14), S. XVII. Wie Anm. 8. Ein eigenhändiger Entwurf im Nachl. Kopp 20 (Anm. 4).
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nigstens wöchentlich einmal bei ihm“. Eine Antwort aus dem Vatikan ist nicht bekannt. Kopp hatte eine Beendigung des Kulturkampfs nur durch Bismarck, der ihn faszinierte und dem er, ungeachtet der unüberbrückbaren Distanz, vertraute, für erreichbar gehalten und daran entscheidend mitgewirkt. Seine vom Papst gestützte, aber der Öffentlichkeit zunächst nicht erkennbare und häufig undankbare Mittlerrolle trug Kopp Verdächtigungen und Anfeindungen („Staatsbischof “) ein. Er ließ sich jedoch nicht entmutigen und blieb auch künftig, im „Wilhelminischen Deutschland“, das Bindeglied zwischen Berlin und dem Vatikan. Dabei hielt er, in zunehmend erreichten Einvernehmen mit dem Episkopat, aber fortdauernder Distanz zur Zentrumspartei, an seinem Ziel fest: Das durch den Kulturkampf bedrängte und verunsicherte katholische Volksdrittel aus seiner konfessionellen Minderheits- und Ghettosituation herauszuführen und in die preußisch dominierte „Reichsnation“ einzugliedern – unter seiner Führung.81
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Nach Abschluss des Manuskripts erschienen: Winfried Becker, Der Kulturkampf in Preussen und in Bayern. Eine vergleichende Betrachtung, in: Der Heilige Stuhl in den internationalen Beziehungen 1870-1939, hrsg. von Jörg Zedler. München 2010, S. 51-91; Massimiliano Valente, Leo XIII. und die diplomatischen Aktivitäten des Heiligen Stuhles zur Beilegung des Kulturkampfs in Preussen. Ebd., S. 93-114.
Aufklärung durch Bibliotheken – Bildung durch Büchereien. Von Polling nach Bonn – Gedanken zur Bibliothekstheorie und zur Bibliothekspraxis in der Kirchengeschichte von Engelbert Plassmann
In seinem Leben als Seelsorger und als Gelehrter hat Norbert Trippen Wissenschaftliche Bibliotheken (und Archive) intensiv genutzt und Öffentliche Büchereien wie auch kirchliche Schulen in hohem Maß gefördert. So kann der Bibliothekar, der hier das Wort ergreift, gar nicht anders, als diese Lebensleistung in den weiteren historischen Rahmen zu stellen, in den sie gehört, um sie in diesem Rahmen noch besser zu verstehen und zu würdigen. Der Jubilar selber mag den Blick, der seinetwegen auf die große Geschichte der klösterlichen Bibliothekskultur der älteren Zeit gerichtet wird, ebenso übertrieben finden wie denjenigen auf die Geschichte der kirchlichen Bildungsarbeit seit dem 19. Jahrhundert. In Hinsicht auf den Jubilar wagt der Schreiber dieser Zeilen gleichwohl einen solchen Blick in die Vergangenheit und auf das scheinbar aus einander Liegende; dank einer Freundschaft von gut 55 Jahren Dauer weiß er, dass es die authentischen Traditionsstränge kirchlicher Bildungsarbeit wie wissenschaftlicher Wahrheitssuche sind, in denen der gelehrte Priester wurzelt, beiden Strängen aus christlicher Überzeugung verpflichtet: Norbert Trippen war sich immer bewusst, dass er auf diesen Feldern sein Bestes geben kann und es darum zu geben hat – abundet quisque in suo genere! (Secundum Sanctum Augustinum) Der Heilige Benedikt von Nursia (480-547) hat in seiner Regel die Forderung nach der täglichen Lectio divina aufgestellt 1, das Hören auf die geistliche Lesung zu den guten Werken gerechnet 2, und die geistliche Lesung bei Tisch 3, in Gemeinschaft 4 und mit Gästen 5 den Brüdern verpflichtend vorgeschrieben; Benedikts Zeitgenosse Cassiodorus Senator (ca. 485- ca. 580) hat der gelehrten Gemeinschaft von Vivarium 6 – über Benedikts Lectio divina weit und prinzipiell hinausgehend – das Abschreiben, Korrigieren ———— 1
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Regula Sancti Benedicti 8,3; 48,5; 48,10; 48,14; 49,4 [hier benutzte Ausg. s. Lit.-Verz.; in dieser Ausg. auch aktuelle Lit.-Angaben zur Bedeutung Benedikts von Nursia und seiner Regel]. a.a.O. 4: Quae sunt instrumenta bonorum operum, dort 55: „Lectiones sanctas libenter audire“. a.a.O. 38,1. a.a.O. 42,3-7. a.a.O. 53,9.
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und Übersetzen von Büchern aufgetragen, auch von Büchern weltlicher Autoren.7 Seitdem ist, vom südlichen Italien ausgehend, die gesamte europäische Buch- und Bibliothekskultur durch das abendländische Mönchtum geprägt worden. Dies geschah durch die Jahrhunderte hin in wechselnder Art und Weise und mit wechselndem Nachdruck. Die letzte kraftvolle Zeit in dieser langen Folge war die Spätblüte der Prälatenklöster im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im 18. Jahrhundert. Kundige Touristen unserer Tage, die Oberschwaben und den Breisgau, Altbayern oder die Länder der früheren Donaumonarchie bereisen, sind sich dieser Blüte bewusst und suchen die Stätten auf, an denen Glaube, Kunst und Wissenschaft zu der einzigartigen Symbiose gefunden haben, welche noch die Menschen des 21. Jahrhunderts tief berühren kann.8 Die erhaltenen Kirchen und Kreuzgänge, die Kaisersäle, Bibliotheken und naturgeschichtlichen Sammlungen, ja Theater 9 jener Stifte machen die gelungene Einheit in Vielfalt noch heute präsent und erlebbar.10 Es gab Stifte, die wegen der Gelehrsamkeit ihrer Konventualen und der bedeutenden wissenschaftlichen und künstlerischen Unternehmungen ihrer Äbte und Pröpste über das klösterliche Leben hinaus fast den Charakter von Akademien angenommen haben (u.a. Polling, St. Emmeram in Regensburg, Ottobeuren, Ritterakademie Ettal) – eine späte Konvergenz von Benedikt und Cassiodor. Dass die Stifte verfassungsrechtlich gut verankert, „integraler Teil der Gesellschaft“ waren, wie man heute sagen würde, und durchweg auf solider ökonomischer Grundlage standen, springt dem aufmerksamen Besucher bis in unsere Zeit in die Augen. Diese Stifte, speziell die bayerischen und oberschwäbischen, haben durch die Säkularisation im Jahre 1803 ein abruptes, wenn auch nicht unvorhergesehenes Ende gefunden; dies steht jedoch auf einem anderen Blatt.11 ———— 6
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Gelegentlich liest man „Vivarium bei Neapel“. Dies ist nicht zutreffend; das alte Vivarium liegt vielmehr unweit des heutigen Squillace in der Nähe von Catanzaro, d.h. an der jonischen Seite Kalabriens. Institutiones divinarum et saecularium literarum. – Klauser: Vivarium; Ders.: War Cassiodors Vivarium ein Kloster oder eine Hochschule? Ein anrührender Bericht dieser Art (über St. Peter im Schwarzwald), wissenschaftlich fundiert und für weitere Kreise mit christlichem Bildungshintergrund geschrieben, ist jüngst in der Wochenschrift „Christ in der Gegenwart“, Beilage „Bilder der Gegenwart“, erschienen: Hans Otto Mühleisen: Im Licht des Geistes (s. Lit.-Verz.). In Ottobeuren beim Rundgang durch die historischen Räume noch heute zu besichtigen. Die Internetpräsentation www.bibliotheksbauten.de macht dies in ihrem Album 4 Barock und Rokoko sowie 5 Frühklassizismus unter dem speziellen Gesichtspunkt der Bibliotheken anhand von etwa 30 Beispielen unmittelbar anschaulich.
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* Polling in Oberbayern, nahe Weilheim gelegen, ist ein Musterbeispiel für die Blüte klösterlich-akademischen Lebens jener Zeit. Es war im 18. Jahrhundert ein Augustiner-Chorherrenstift 12, das immer wieder das Interesse der Theologen und Geschichtsforscher, ebenso das der Kunsthistoriker wie der Bibliothekare findet.13 Es sei hier nur daran erinnert, welchen enormen Aufschwung das Stift unter den gelehrten, tatkräftigen und lange regierenden Pröpsten Albert Oswald (1701-1744) und Franz Töpsl (1744-1796) genommen hat. Franz Töpsl steht als Gründungsmitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1759 auch in einem größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhang 14; weniger bekannt ist, dass zahlreiche Werke aus Töpsls Feder bis heute unveröffentlicht in der Bayerischen Staatsbibliothek liegen. Unter den Gelehrten der Zeit, die Mitglieder des Stifts waren 15, ragt der Theologe Eusebius Amort (1692-1775) 16 durch seine umfangreichen, durchweg noch in lateinischer Sprache verfassten moralund pastoraltheologischen wie kanonistischen Schriften hervor, etwa die 1758 in Augsburg erschienene Ethica Christiana, von der ein originales Pollinger Exemplar in den 1975 restaurierten Bibliothekssaal zurückgekehrt ist. Unveröffentlicht gebliebene Werke von Amort befinden sich – wie die seines Propstes – nur in handschriftlicher Form in der Bayerischen Staatsbibliothek.17 ———— 11
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Im Jahre 2003 ist in vielen, z.T. großen und umfassenden Ausstellungen der Ereignisse von 1803 gedacht worden; eine knappe Nachlese zum 200-Jahr-Gedenken unter buch- und bibliotheksgeschichtlichem Gesichtspunkt bei Plassmann: Büchervernichtung, Bücherverschiebung, Neuer Aufbruch. Polling war im frühen Mittelalter als Benediktinerkloster gegründet worden. Nach wechselvoller Geschichte übernahm es im 12. Jahrhundert die Regel der Augustiner-Chorherren. Die Schriftenreihe Pollinger Drucke spiegelt das seit der Restaurierung der Bibliothek in den 1970erJahren wiederum gewachsene Interesse an dem 1803 untergegangenen Stift und seinen bedeutenden Mitgliedern. Zur Ausstattung dieser Bibliothek (wie auch zahlreicher weiterer Klosterbibliotheken der Zeit) s. die in Anm. 10 genannte Internetpräsentation. – Zur heutigen Nutzung des restaurierten Bibliothekssaales s. Dreißig Jahre Pollinger Bibliothekssaal. Van Dülmen: Propst Franz Töpsl (1711-1796) und das Augustiner-Chorherrenstift Polling; ferner: Precht-Nußbaum: Zwischen Augsburg und Rom, S. 602ff (mit zahlr. Belegen). Buzás: Polling und die Universitätsbibliothek Ingolstadt-Landshut-München, zählt auf S. 17 sechs weitere Namen von Pollinger Chorherren aus den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auf, die in Ingolstadt studierten; für eine etwas spätere Zeit sind besonders Gerhoh Steigenberger (17411787) und Sebastian Seemiller (1752-1798) zu nennen, die beide Oberbibliothekare der Universität Ingolstadt wurden, Seemiller danach Vorstand der kurfürstlichen Hofbibliothek in München, a.a.O., S. 19f. Bauer: Eusebius Amort (Pollinger Drucke; 3). – Zu Amort neuerdings umfassend: PrechtNußbaum.
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Amort ist darüber hinaus als Begründer und Herausgeber der Zeitschrift Parnassus Boicus oder Neu eröffneter Musen-Berg bekannt, eines im damaligen Kurfürstentum Bayern noch ungewohnten Periodicums, das Gedanken der Aufklärung verbreitete, und zwar in deutscher Sprache; die Zeitschrift wandte sich somit eindeutig an weitere Kreise. Der Parnassus Boicus enthielt geographische, naturwissenschaftliche und astronomische Berichte, stellte Neuerscheinungen vor und widmete sich der bairischen Landesgeschichte, ist somit dem geistigen Aufbruch zuzuordnen, den wir heute die Frühaufklärung nennen; das Wort „neu“ im Titel gibt einen stillen Hinweis.18 1722, zwei Jahre, bevor Immanuel Kant das Licht der Welt erblickte, begann die bayerische Aufklärungszeitschrift ihr Erscheinen, hat sich allerdings nicht länger als 18 Jahre gehalten. Immerhin steht die Gründung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erkennbar in ihrem Gefolge. Der Band IV von 1726/1727 enthält – wahrscheinlich aus Eusebius Amorts Feder – drei Beiträge zu Bibliotheken, die, wie Fridolin Dressler 19 mit Recht gesagt hat, die erste Bibliothekstheorie in deutscher Sprache darstellen.20 Sie stehen unter den Überschriften: Von denen Büchereyen oder Bibliothecken ins gemein (137. Bericht, S. 53-62), Von Ordnung und Einrichtung der Bibliothecken (157. Bericht, S. 299-320) und Von den Bibliothecken Bayrlands (162. Bericht, S. 376-397). Eine alte, selbstverständliche und gar nicht hinterfragte Buch- und Bibliothekskultur wird hier erstmals intellektuell reflektiert; sie wird in eine gedankliche Ordnung gebracht, die ihr Anerkennung und Dauer sichern kann und soll. Die drei Beiträge sind ein wirklich begeisterndes Zeugnis dafür, wie der gelehrte, ebenso fromme wie aufgeklärte Chorherr 21 auf die vox temporis hört, um die geistigen Quellen zu sichern, ohne die auch das geistliche Leben allzu leicht verdorrt. Er wusste, dass das Christentum als Buchreligion diese schriftlichen Quellen braucht und daher wollte er das genuine, dauerhafte Profil der Büchersammlungen herausarbei———— 17
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Eine Auflistung dieser Werke bei Precht-Nußbaum, S. 17- 22. – Vgl. auch Grabmann, S. 200 und S. 336. Zum Parnassus Boicus ausführlich: Precht-Nußbaum passim, besonders aber S. 199 - 222 (sehr materialreich). – Die Zeitschrift ist als Volltext-Digitalisat über die Bayerische Staatsbibliothek zugänglich, ferner als Microfiche über den Harald Fischer Verlag Erlangen erhältlich (ISBN 3-89131210-5); das Bielefelder Digitalisierungsprojekt „Zeitschiften der Aufklärung“ www.ub.-unibielefeld.de/diglib/aufklaerung/, das 160 Zeitschriften jener Zeit enthält, verzeichnet sie merkwürdiger Weise nicht. Von 1972 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1986 Generaldirektor der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken (Jahrbuch der Deutschen Bibliotheken). Dreßler: Die Pollinger Bibliothek, S. 11. – Auszüge aus Amorts Texten zu Bibliotheken bei PrechtNußbaum im Anhang (S. 657- 661). Vgl. die Anmerkungen 16 und 17.
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ten; nicht auf die Menge des Wissens kommt es ihm an, sondern auf seine Ordnung: „Ein Bibliotheck ohne Ordnung, was ist das anders als ein Steinhauffen, auß welchem noch kein Gebäu auffgeführet, ein vom Wind untereinander getribnes Gmisch Gmäsch der Sibyllinischen Blätter, auß welchem man keinen Verstand zusamm klauben kundte ... Mit einem Wort: ein Mänge Bücher ohne Ordnung ist kein Bibliotheck zu nennen.“ 22 Der große Nutzen, den der Jubilar für all seine wissenschaftlichen Arbeiten aus den verschiedenen von ihm genutzten – wohl gutgeordneten – Bibliotheken ziehen konnte 23, hat hier seinen Grund. So ist es in hohem Maße angebracht, zur Jubiläumsfeier des Kirchenhistorikers Norbert Trippen an die Anfänge der Bibliothekstheorie zu erinnern, und das umso mehr, als diese Anfänge nicht an einer Hofbibliothek, einer Ratsbücherei oder einer Universitätsbibliothek entwickelt worden sind, sondern in einer Mönchszelle.
* Der von Eusebius Amort an den Beginn des zweiten seiner drei „Berichte“ gestellte oben zitierte Satz enthält nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit; eine Banalität, wie man meinen könnte, ist er schon gar nicht. Die ausführlichen Ordnungsregeln, die Amort aus dem Grundprinzip entwickelt, waren in den 1720er -Jahren vielmehr neu und zukunftsweisend. Schon bald nach dem Grundsatz liest man nämlich weiter: „Das erste und fürnembste Absehen der ordentlichen Einrichtung einer Bibliothec, ist gewißlich die Bequemblichkeit der jenigen, zu deren Dienst und Gebrauch solche Bibliothec angesehen ist: wird also jene Ordnung die beste seyn, welche disem Zihl zum nächsten kommet und die Bücher also stellet und einthailet, daß jedes geschwind mit leichter Mühe gefunden werde, und nit nöthig seye lang nachzusinnen oder nachzusuchen, wo diß oder jenes müsse hergenommen werden.“ 24 Heute nennt man das „Erschließung durch Aufstellung“ und die dahinter stehende Grundeinstellung „Benutzerfreundlichkeit“. Der norddeutsche Historiker und Privatgelehrte Philipp Wilhelm Gercken (1722-1791), der u.a. süddeutsche Klosterbibliotheken bereiste, hebt die „Dienstfertigkeit“ des Prälaten und des Bibliothekars von Polling ———— 22 23
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So beginnt der 157. Bericht Von Ordnung und Einrichtung der Bibliothecken (S. 299). Wer die Literaturverzeichnisse und die Fußnoten in Trippens Werken aufmerksam verfolgt, bekommt eine Ahnung von dem immensen Fleiß und der Konsequenz, mit welchen der Autor nicht nur die Archive, sondern auch die Bibliotheken benutzt hat. 157. Bericht, S. 300.
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hervor 25; da mit diesen beiden nur Töpsl und Amort gemeint sein können, darf man sagen, dass es die Benutzerfreundlichkeit in Polling nicht nur in Amorts Theorie, sondern auch in seiner und des Propstes Praxis gab. Die moderne Version: Ein amerikanischer Bibliothekar soll auf die Frage, was die Aufgabe einer Bibliothek sei, nur zur Antwort gegeben haben: Firstly to get the books for the readers and secondly to get the readers for the books. Amort (und sein Propst) wollten nicht nur the books for the readers (das Stift kaufte ja in großem Stil), sie wollten auch the readers to the books führen. – Der Verfasser dieser Zeilen hat sich angewöhnt, auf die ihm häufig gestellte Frage, wofür man eigentlich studieren müsse, wenn man Bibliothekar werden wolle, zu antworten: Um die Ordnungsprinzipien zu lernen. Einzig die sorgfältige Beachtung vernünftiger Ordnungsprinzipien durch den Bibliothekar macht ja – erstens – aus einer Ansammlung von Büchern eine Bibliothek (wie Amort ausführte) und führt – zweitens – die Leser zu den verborgenen Schätzen, the readers to the books. Die Einsichten, die der Müllersohn aus der Bibermühle der Pfarrei Tölz bei Wackersberg an der Isar 26, der Chorherr geworden war, vor fast 300 Jahren formuliert hat, gelten im Zeitalter der Informationstechnik genauso wie in früheren Zeiten. Amort hatte, darin darf man den Impuls der Aufklärung sehen, der in Polling gegenwärtig war 27, verstanden, dass die Bücher für die Leser da sind und dass es Aufgabe des Bibliothekars ist, ihnen den Zugang zu erleichtern. Wer die Berichte der Bibliotheksreisenden des 18. Jahrhunderts liest,28 weiß genau, dass dies vielerorts nicht der Fall war, viele Bibliothekare jener Zeit sich selbst vielmehr für die Herren der Bücher hielten und den Lesern den Zugang mitunter erschwerten oder verwehrten. Die unvoreingenommene und daher glückliche Verbindung christlichen und aufgeklärten Denkens, wie sie in Polling im 18. Jahrhundert bestand, hat, das ist die hier vertretene Auffassung, zu den beiden ebenso fundamentalen wie einfachen Sätzen und natürlich zu Amorts weiteren detaillierten Gedankengängen geführt; sie enthalten Aussagen, die in jener Zeit neu waren, jedenfalls in deutscher Sprache. Erstaunlich, dass es noch achtzig bis neunzig Jahre dauern sollte, bis Schrettinger und Ebert ihre moderne Bibliothekstheorie entwickelten.29 Ebenso erstaunlich ist die mangelnde Rezeption ———— 25 26 27
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Plassmann: Geschichtliche Grundlagen des Benutzungsrechts, S. 156. Bauer: Eusebius Amort, S. 7. Hier ist von einer Zeit die Rede, in der die Aufklärung noch nicht ihre späteren radikalen, religionsund kirchenfeindlichen Züge angenommen hatte. Als Amort seine Bibliotheksberichte schrieb, war Diderot erst dreizehn Jahre alt! Plassmann: Geschichtliche Grundlagen des Benutzungsrechts (passim).
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von Amorts früher Bibliothekstheorie in der bisherigen deutschen Bibliotheksgeschichtsschreibung; lediglich Buzás bezieht sich – allerdings wiederholte Male – auf Amort und dessen Berichte im Parnassus Boicus; im Lexikon des gesamten Buchwesens (LGB²), meistens ein informatives und zuverlässiges Nachschlagewerk mit zahlreichen bibliotheksgeschichtlichen Lemmata, fehlen beide Stichworte. Dem Grundsatz der benutzerfreundlichen Erschließung durch Aufstellung folgt sogleich die praktische Präzisierung: „Zweytens ist auch dahin zu sehen, daß die Bücher von einer Claß nit allzu weit voneinander gesetzet seyen, damit jener, so in einer Matery nachschlagen will, nit von einem End der Bibliotheck zu dem anderen immer zu laufen habe.“ 30 In den Zeiten der entstehenden und schon bald geräumig werdenden Saalbibliotheken ein weiser Ratschlag, der heute, nach der Reduzierung der Magazinbibliotheken und der Verbreitung der Freihandaufstellung erneut Geltung erlangt hat. Das gilt auch von Amorts weiterer Forderung, „daß die Bücher in ein richtige Ordnung und Reihen gebracht, der Classen aber nit gar zu vil gemacht werde, weilen die Mänge die Gedächtnuß mehr verwürret als stärcket: Über diß sollen die Indices und Cathalogi gebührend eingerichtet seyn und so wol selbe als die Bücher selbst mit übereinstümmigen Merckzeichen versehen.“ Ferner solle „jede Classis nicht zu weitschichtige seyn und all zu vil Bücher begreiffen, sondern ehender in zwey oder mehr untere Classen verthailt werden.“ 31 Der weitere Grundsatz, dass bei Aufstellung der Bücher auf die „Zierlichkeit“ geachtet werden sollte, also ästhetische Gesichtspunkte zu berücksichtigen seien, wird vielen heutigen Bibliothekaren befremdlich erscheinen; jedenfalls all den wissenschaftlichen Bibliothekaren, welche die in Öffentlichen Bibliotheken schon lange realisierte „leserfreundliche Ausstattung der Bibliothek“ für ihre eigene Sparte als überflüssig ansehen. Sie mögen bedenken, dass der Pollinger Bibliothekar, selber von der sinnenfrohen Barockarchitektur seiner Zeit umgeben und der „Zierlichkeit“ wohl zugetan, dieser doch eine klare Grenze setzt: Man solle nämlich auf die Zierlichkeit bedacht sein, „in so weit selbe den vorbemeldten zweyen Absehen [die innere Ord———— 29
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Martin Schrettinger (1772 -1851) und Friedrich Adolf Ebert (1791-1834) gelten dank ihrer aus der Praxis an den Königlichen Bibliotheken zu München bzw. Dresden erwachsenen umfangreichen Schriften als die Väter der Bibliothekstheorie in Deutschland. Auf ihre große Bedeutung kann hier nicht näher eingegangen werden. In der Festschrift für den Kirchenhistoriker sei aber doch darauf hingewiesen, dass Schrettinger, der die Säkularisationsmassen in der Münchner Bibliothek zu bewältigen hatte, bis 1803 Mönch der Benediktinerabtei Weißenohe in der Fränkischen Schweiz war. 157. Bericht (1727) S. 300f. a.a.O., S. 301.
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nung betreffend, E.P.] nicht sonders hinderlich ist.“ 32 Auch in dieser Hinsicht darf man Amort als weiterhin aktuell bezeichnen. Jedenfalls hatte er erkannt, dass die damals rasch steigende Buchproduktion weit reichende Folgen für Aufstellung und Präsentation der Bücherbestände wie auch für ihre Erschließung und Nutzung nach sich ziehen werde. An diesem Punkt würde man gerne den weiten und verschlungenen Weg von den Bücherkammern des 17. Jahrhunderts über die Saalbibliotheken des achtzehnten und die Magazinbibliotheken des neunzehnten und zwanzigsten zu den Freihandbibliotheken des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts nachzeichnen; dies würde aber den Rahmen des Festschriftbeitrags sprengen. Immerhin so viel: Eusebius Amort kannte noch die nur wenigen Gelehrten zugänglichen Bücherkammern, aber auch schon die weiträumigen und einladenden Saalbibliotheken; der herrliche Bibliothekssaal in Polling ist im Jahre 1779 eingeweiht worden. Amort hat, da er 1775 gestorben ist, diesen Tag nicht mehr erlebt, auch nicht den Baubeginn im Jahre 1776. Dass er über die von seinem Propst tatkräftig betriebenen Vorbereitungen noch im Bilde war, wird man aber annehmen dürfen; desgleichen, dass er eine Reihe schon früher errichteter barocker Klosterbibliotheken kannte, die dem neuen Geist einen prachtvollen Ausdruck gaben. Spricht er doch selber von „etlich und dreißig Bibliothecken unsers Bayrlands“, die er besucht habe.33 Der gewachsene und weiter wachsende Umfang der Bibliotheksbestände erfordert, das war Amorts grundlegende Erkenntnis, über die Erschließung durch Aufstellung und die „zierliche“ Präsentation hinaus spezielle externe Hilfsmittel: Kataloge, welche die Bestände nach verschiedenen Gesichtspunkten erschließen: „... daß sich bei einer wohlgeordneten Bibliotheck drey Register oder Catalogi befinden sollen: als erstlich Localis, welcher die Bücher nach der Ordnung, wie sie gestellet seynd, ansetzet. Bey jedem Buch wird erstlich der Vor- und Zuenamen des auctoris ... sodann des Buchs Titl, Format ... Orth und Jahreszahl des Drucks angesetzet. ...“ „Der zweyte und nothwendigste Index sollte seyn Alphabeticus, in welchem die Bücher in Alphabetischer Ordnung nach dem Haupt-, nit dem Vor- oder Tauffnamen deß Auctoris, ob schon auch diser solle beygefügt, jedoch nachgesetzt werden, eingeschriben zu finden. In den Büchern, denen der Auctor seinen Namen nit beigesetzt, gibt man Acht auf das Hauptwort des Titels und ordnet nach selben das Buch in den Indicem. ...“ ———— 32 33
a.a.O. 162. Bericht (1727) S. 377.
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Der dritte und überauß nutzliche Index ist materiarum: Es werden nemblich die Materien nach Ordnung des Alphabets angesetzet ...“ 34 Arbeitet man sich durch die skurrile Sprache und Orthographie des frühen 18. Jahrhunderts durch35, so bleibt eine knappe Charakterisierung der drei wichtigsten Katalogarten, wie sie zweieinhalb Jahrhunderte lang in jeder größeren wissenschaftlichen Bibliothek zu finden waren, zunächst in der Form des Bandkatalogs, dann in der des Zettelkatalogs, schließlich in der des Microfichekatalogs; erst in unseren Tagen mussten diese Kataloge den anders aufgebauten digitalen Katalogen endgültig weichen. Der von Amort zuerst genannte ist unser Standortkatalog, hauptsächlich Revisionszwecken dienend; der zweite unser Alphabetischer Katalog, treffender Nominalkatalog genannt; der dritte der Sachkatalog. Dem Bibliothekar fällt auf, dass Amort schon für den Standortkatalog alle wichtigen Teile einer korrekten und zweckdienlichen Titelbeschreibung aufzählt; an heutigen Maßstäben gemessen, fehlen lediglich die Angabe der Auflage und des Verlegers sowie die Paginierung. Für den Nominalkatalog ist festzuhalten, dass Amort bereits die Inversion des Namens verlangt (erst Familienname, dann Taufname) – keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass ältere Kataloge die Schriften nach dem Alphabet der Vornamen ihrer Verfasser ordneten; Amort hat solche Kataloge noch gekannt und genutzt. Im 162. Bericht (Von denen Bibliothecken Bayrlands): „Es verdrosse mich aber sehr, wann ich in dem Catalogo den Tauffnamen des Authoris, nit aber den Zunamen suchen mußte.“ 36 Ebenso ist festzuhalten, dass Amort bereits die Sachtitelschriften im Blick hatte und ihre Einordnung unter dem „Hauptwort“ des Titels vorsieht; ob er dabei an das substantivum regens dachte, das später in den Preußischen Instruktionen 37 eine so große Rolle spielen sollte? Der Index materiarum schließlich ist unser Sachkatalog, der die Bibliotheksbestände nach dem Inhalt der Bücher erschließt und nicht – wie der Nominalkatalog – nach ihren mehr äußerlichen, formalen Kennzeichen. ———— 34
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Die Aufzählung und Beschreibung der Kataloge findet sich im 157. Bericht: Von Ordnung und Einrichtung der Bibliothecken S. 317 - 320. Der Parnassus Boicus ist wiederholt Gegenstand sprachgeschichtlicher Untersuchungen gewesen, z.B. Franz Bay: Der Lautstand des Parnassus Boicus, 1910. – Hans Birlo: Die Sprache des Parnassus Boicus, 1908. – Ingo Reiffenstein: Gottsched und die Bayern, 1989. 162. Bericht, S. 395. Instruktionen für die Alphabetischen Kataloge der Preußischen Bibliotheken vom 10. Mai 1899. Diese Instruktionen, 2. Ausg. in d. Fassung vom 10. Aug. 1908, wurden in vielen deutschen Bibliotheken angewandt, bis sie in den 1970er-Jahren durch die Regeln für die Alphabetische Katalogisierung (RAK) abgelöst wurden.
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Amort hat sich in den drei „Berichten“ im Parnassus Boicus mit einer ganzen Reihe weiterer Bibliotheksthemen beschäftigt, ausführlich mit der Aufstellungssystematik 38, auch mit Bau und Einrichtung.39 Die Themen können nicht weiter ausgebreitet werden, doch finden sich, wie bei der knappen Charakteristik der erforderlichen Kataloge, auch an anderen Stellen staunenswerte neue Einsichten und Ideen sowie nützliche, praktikable Vorschläge. Als wirklich bewundernswerte, damals wohl gänzlich neue Idee ist sein Vorschlag zu nennen, dass „ein allgemeiner Catalogus von allen Bibliothecken in Bayrn gedruckt wurde ...“ 40 Das heißt, Amort hatte den Grundgedanken, den die preußische Kultusverwaltung am Ende des 19. Jahrhunderts (!) mit dem Preußischen Gesamtkatalog ins Werk zu setzen suchte und der nach dem Zweiten Weltkrieg (!) mit dem Aufbau der regionalen Zentralkataloge – endlich – seine überzeugende Realisierung gefunden hat. Es ist der Grundgedanke, auf dem auch noch unsere heutigen digitalen Verbundkataloge beruhen, die dank ihrer leichten kumulativen Zugänglichkeit über den Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK) jedem Wissenschaftler den Zugang zu den Beständen zahlreicher Bibliotheken umstandslos gewähren. Amorts Idee des „allgemeinen Catalogus“ geht auf eine einfache Beobachtung zurück, die er gemacht hat, als er sich „Von denen Bibliothecken Bayrlands“ einen persönlichen Eindruck verschaffte: „Ich fande auch keine Bibliotheck so vollkommen, in welcher nicht vil tausend Authores abgiengen [= fehlten, E.P.], die ich in anderen Bibliothecken gefunden hatte.“ Es war derselbe Grund, der Friedrich Althoff und Fritz Milkau zum Aufbau des preußischen Gesamtkatalogs veranlasst hat; derselbe Grund, der nach den schweren Bücherverlusten des Zweitens Weltkriegs zum Aufbau der Zentralkataloge führte; derselbe Grund, der in unserer Zeit zur Digitalisierung der Zentralkataloge geführt hat. Ein weiterer, schon damals praktikabler Vorschlag, für die Zeit, in der er gemacht wurde, verblüffend, ist der, die Fachböden nicht fest mit den Seitenwänden zu verbinden, sie vielmehr lose auf Leisten ruhen zu lassen, damit sie, falls das Format der einzustellenden Bücher dies erfordert, leicht verstellt werden können.41 Antonio Panizzi (1798-1879), Bibliothekar am Britischen Museum in London, der berühmte Erfinder des später nach ihm ———— 38 39 40 41
Im 157. Bericht. Im 137. Bericht. 162. Bericht, S. 393 (Bachmann gibt irriger Weise S. 395 an). 137. Bericht, S. 61.
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benannten Stellstiftes, hatte also nicht als erster den klugen Gedanken; er hat ihn aber – über hundert Jahre später – geschickt genutzt. Die wenigen Bemerkungen müssen genügen. Was den gelehrten Bibliothekar Eusebius Amort auszeichnet, ist die klare Erkenntnis der Probleme, ihre gedankliche Einordnung und die Praktikabilität der daraus zu ziehenden Folgerungen; das Ziel der bibliothekarischen Überlegungen, die bessere Nutzung der Bücherbestände, stand Amort stets vor Augen – Aufklärung im besten, ursprünglichen und unverstellten Sinn des Wortes. Amort hat eine Bibliothekstheorie grundgelegt, welche vor allem die Aufstellung der Bücherbestände und den leichten Zugang zu ihnen durch zweckmäßige Kataloge fortan ungemein fördern konnte; bedenkt man, dass Amort selbst viele andere Klosterbibliotheken, jedenfalls in Bayern, besucht hat, so darf man von einem regen Gedankenaustausch über bibliothekarische Themen in diesem Kreise ausgehen. Das umso mehr, als zwei andere, und zwar deutlich jüngere Pollinger Chorherren ihrerseits Bibliothekare an der Universität Ingolstadt waren, einer von ihnen später sogar an der Kurfürstlichen Bibliothek in München.42 Zieht man weiterhin die enge Beziehung des Pollinger Stifts zur neu gegründeten Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Betracht, so erscheint die Verbreitung und Weitergabe von Amorts fortschrittlichen Gedanken wahrscheinlich. Schrettinger 43 wird sie gekannt haben; vielleicht nicht nur wegen mündlicher Verbreitung von Amorts bibliothekstheoretischen Gedanken, sondern auch aus dem Parnassus Boicus selbst. Schrettinger gilt wohl zu Recht als „aufgeklärt“; noch als Mönch rühmte er sich seiner „unter Kapuzen ungewöhnlich hellen Denkungsart“ 44, in der Diktion der damaligen Zeit das Zeichen für „Aufgeklärtheit“. So mag er den Parnassus Boicus, speziell Amorts Bibliotheksbeiträge gekannt haben. Schrettingers praktische Arbeit in der Münchner Bibliothek und seine daraus erwachsenen mehr theoretischen Arbeiten zeigten jedenfalls denselben, sagen wir: aufgeklärten Geist, der Amorts Gedanken ausgezeichnet hatte.
* Mit Schrettinger begeben wir uns vom 18. ins 19. Jahrhundert. Hatte der Augustiner Amort seine Gedanken noch unter den Bedingungen des Alten Reiches entwickeln können, selbstverständlich und unbefangen von dessen ———— 42 43 44
Vgl. Anm. 15. Vgl. Anm. 29. Hilsenbeck: Martin Schrettinger, S. 128 mit Quellenangabe.
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Bedingungen ausgehend und seine Einsichten auf der persönlichen Anschauung zahlreicher Klosterbibliotheken aufbauend, so hatte der Benediktiner Schrettinger viele Jahrzehnte später die mühevolle Aufgabe, die bibliothekarischen Trümmer des ancien régime zu einem neuen, einigermaßen sinnvollen Ganzen zusammen zu fügen. Das kostete langwierige und mühselige Arbeit. Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich geschaffenen Handschriften- und Druckschriftenkataloge der Hofbibliothek in München wurden zu dem, was Amort hundert Jahre zuvor – wahrlich unter anderen Rahmenbedingungen – vorgeschwebt hatte: Sie wurden, auch wenn man das nur unter vielen Einschränkungen sagen kann, „ein allgemeiner Catalogus von allen Bibliothecken in Bayrn“; dieser allgemeine Catalogus brauchte freilich noch lange, bis er über die Staatsbibliothek hinaus ging und seinen Namen wirklich verdiente; er sollte erst in unseren Tagen durch www.Gateway-Bayern.de vollendet werden. Haben die beinahe zu Akademien gewordenen Klöster des 18. Jahrhunderts ihren Untergang selber verschuldet oder doch mitverschuldet? „War der Untergang der Klöster und ihrer Bibliotheken bestimmt, unvermeidlich? War er am Ende sogar aus dem Geist entstanden, dem man hier mit der Versammlung aller geistigen Meinungen und Strömungen, mit einer Relativierung allen Strebens auf das Brauchbare, das Nützliche hin Vorschub geleistet hatte? Gewiß scheint zu sein, daß der Reformkatholizismus als Förderer der Aufklärung zugleich Förderer der staatlichen Omnipotenz über Bildung und Kirche geworden war, ohne daß seine Fürsprecher das klar erkannt hatten.“ Auf die von Fridolin Dressler 45 gestellten Fragen soll hier nicht weiter eingegangen, seine vorsichtige Antwort sollte aber nicht verschwiegen werden; die Antwort gibt jedenfalls Stoff zum Nachdenken über die Lage des gläubigen und deshalb weltoffenen Christen 46, die dieser als Bürger zweier Welten zu ertragen und immer neu zu bewältigen hat. Insofern hat sie ihren Platz nicht nur in dem bibliotheksgeschichtlichen Werk, dem sie entnommen ist, sondern ebenso in der Festschrift für den Theologen und Priester.
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46
s. oben Anm. 19 und 20. Das hier wiedergegebene Zitat findet sich in dem Beitrag von Dressler auf S. 13. Hier wird Bezug genommen auf ein Schlüsselwerk zum Verständnis der heutigen Theologie (Alfons Auer: Weltoffener Christ).
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* Wenden wir uns von Bayern zum Rheinland, von Polling nach Bonn. Als bewusste Bürger zweier Welten und verantwortungsbewusste Bürger dieser Welt haben sich auch diejenigen katholischen Christen erwiesen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weniger die Aufklärung durch Bibliotheken, als vielmehr die Bildung durch Büchereien zum Ziel gesetzt hatten. Sie gründeten den Verein vom Hl. Karl Borromäus. Die Verhältnisse im Königreich Preußen in den 1840er-Jahren, in denen Freiherr Max von Loë (1801-1850) und August Reichensperger (1808-1895) den Anstoß zur Gründung eines Vereins zur Verbreitung guter Schriften gegeben und damit den Verein vom Hl. Karl Borromäus auf den Weg gebracht haben, waren gänzlich verschieden von denjenigen, unter denen Eusebius Amort die Aufklärung durch Bibliotheken hatte voranbringen wollen; sie waren auch verschieden von denjenigen, unter denen Martin Schrettinger genau dieses in einem gänzlich neuen Rahmen zu tun, fast möchte man sagen: zu vollstrecken hatte. Die auch auf die Aufklärung zurück gehende Staatsomnipotenz der preußischen Monarchie und ihre einseitige Begünstigung protestantischer und Benachteiligung katholischer Aktivitäten waren es jetzt, welche die Gründung des Borromäusvereins geradezu provoziert hatten.47 In der Geschichte des öffentlichen Bibliothekswesens gilt neben den Arbeiterbildungsvereinen und den Büchereivereinen bürgerlich-liberaler Prägung (u.a. Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung, 1871) die kirchliche Büchereiarbeit als eine der drei Säulen, auf denen – historisch gesehen – das heutige öffentliche Bibliothekswesen beruht.48 Auf evangelischer Seite ist die vom Pastor Johann Hinrich Wichern (1808-1881) im Rahmen der Inneren Mission begonnene Büchereiarbeit zu nennen, der spätere Deutsche Verband Evangelischer Büchereien (Evangelisches Literaturportal e.V.); auf katholischer Seite ist es der Verein vom Hl. Karl Borromäus, mit dem sich seit über 150 Jahren eine überzeugende, in sich schlüssige und konsistente Büchereiarbeit verbindet.49 ———— 47 48 49
Im Einzelnen sehr gut dargestellt bei Spael: Das Buch im Geisteskampf. Näheres bei Thauer/ Vodosek, S. 37ff. Knapp und überzeugend dargestellt in einem Beitrag des Jubilars – Trippen: 150 Jahre katholische Büchereiarbeit. Dazu ebenfalls sehr lesenswert Maier: Lese-Zeichen: 150 Jahre Borromäusverein. Im Übrigen nimmt die geschichtliche Entwicklung des Borromäusvereins in den meisten allgemeinen Darstellungen der deutschen Bibliotheksgeschichte einen gebührenden Platz ein, desgleichen seine heutige Bedeutung in den Darstellungen des deutschen Bibliothekswesens der Gegenwart, s. weiter unten!
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Hans Maier hat dies, auf die rasche Entwicklung des Vereins nach seiner Gründung 1844 und der staatlichen Genehmigung 1845 anspielend, auf die bündige Formel gebracht: „In einem knappen Jahrzehnt wurde der Borromäusverein zu dem, was er bis heute ist: eine Organisation zur Förderung des Lesens, zur Verbreitung von Büchern, zur Gründung und Unterstützung von Bibliotheken, zur literarischen Information und Beratung. Er hat diesen Zielen 150 Jahre lang mit Treue und Stetigkeit gedient.“ 50 Genau das hat auch der Jubilar getan, nicht 150, aber immerhin fünfzehn Jahre lang (1986-2001), und zwar an der Spitze der Organisation, die sich diese Verdienste um das Lesen erworben hat.51 Versetzen wir uns in die von Umbrüchen und Neuanfängen übervolle Bibliotheksgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die im 18. Jahrhundert entstandenen Lesegesellschaften und kommerziellen Leihbüchereien, die zur Vorgeschichte des heutigen öffentlichen Bibliothekswesens gehören (beide von der Obrigkeit zeitweise argwöhnisch betrachtet), spielten am Beginn des 19. Jahrhunderts längst eine wichtige Rolle. Anders wäre Heinrich von Kleists gern zitiertes Diktum über die „Lesebibliotheken“ nicht verständlich: „Nirgends kann man den Grad der Kultur einer Stadt und überhaupt den Geist ihres herrschenden Geschmacks schneller und doch zugleich richtiger kennen lernen, als in den Lesebibliotheken“ (Kleist in einem Brief an Wilhelmine v. Zenge vom 14. September 1800). Die Lesegesellschaften und Leihbüchereien stehen zeitlich lange vor der Gründung des Borromäusvereins, die Bibliotheken der Arbeiterbildungsvereine und der nicht-sozialdemokratischen Vereine nach seiner Gründung. Die Entstehung der kommunalen Öffentlichen Bibliotheken liegt lange nach seiner Gründung. Diese Bibliotheken, damals noch durchweg Volksbüchereien genannt, haben sich, nach englischem und amerikanischen Vorbild (Public Library), erst am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt; die zahlreichen Hundertjahrfeiern, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben, geben davon Kunde. Die Gründung des Borromäusvereins im Jahre 1844 steht, so gesehen, mitten in einer ungemein facettenreichen Entwicklung, die nur im Zusammenspiel von Bildungsgeschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Rechtsgeschichte und Kirchengeschichte voll verständlich gemacht werden ———— 50 51
Maier: Lese-Zeichen, S. 14f. Notiz über Norbert Trippens Berufung zum Präsidenten des Borromäusvereins in: KÖB 1987,1, S. 35; Bericht über seine Verabschiedung in KÖB 2002, 1, S. 6 - 8: Sachverstand, Wärme und ein Herz für Bücher: Domkapitular Dr Norbert Trippen wurde als Präsident des Borromäusvereins verabschiedet.
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kann. Für die Bildungsgeschichte sei an die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts stärker werdende Literalisierung weiterer Bevölkerungskreise erinnert, für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte an die Folgen der Industrialisierung und die Entstehung des Proletariats, für die Rechtsgeschichte an den Kampf gegen die staatliche Zensur und für die Pressefreiheit, für die Kirchengeschichte endlich an die Folgen der Säkularisation (bildungsmäßige und ökonomische Zurücksetzung des katholischen Bevölkerungsteiles), die Kölner Wirren und später den Kulturkampf. Dieser historischen Zusammenhänge waren sich, wie könnte es anders sein, die Gründer des Borromäusvereins im Jahre 1844 als die Zeitgenossen der genannten Entwicklungen nicht in der Weise bewusst wie wir es heute sein können; auch im späteren 19. Jahrhundert sahen die Repräsentanten des Borromäusvereins sich noch nicht als Teil einer größeren bibliotheksgeschichtlichen Entwicklung. In den schriftlichen, gedruckten Zeugnissen jener Zeit kommen die Zusammenhänge bzw. die anderen, konkurrierenden Institutionen allenfalls andeutungsweise vor, und das in negativer Blickrichtung. Man beklagt, teilweise sicherlich zu Recht, die Niveaulosigkeit der Leihbibliotheken: „Besonders bedenklich sah es aus um den Lesestoff, womit die Leihbibliotheken das Publicum versahen. In dem Durcheinander traten auf Sinnlichkeit speculierende Romane besonders hervor; Belehrendes oder gar Erbauliches, überhaupt gesunde Geistesnahrung war von da nicht, oder doch nur sehr ausnahmsweise zu beziehen. Daß es dringend noth thue, Wandel zu schaffen, lag auf der Hand.“ 52 Auch die „sogenannten“ Volksbildungsvereine erfahren von katholischer Seite harsche Kritik, und zwar vom Katholischen Presseverein, der dem Borromäusverein natürlich nahe stand.53 Dieser Wandel sollte nicht – das erkannt zu haben, gereicht den Gründervätern des Borromäusvereins zur Ehre – in Klagen und Verurteilen bestehen, sondern in positiver Aktion: „Somit stellte sich nun der Verein als nächstes Ziel die Aufgabe, ‚dem verderblichen Einflusse, den die schlechte Literatur auf alle Klassen der bürgerlichen Gesellschaft ausübt, durch die Begünstigung und Verbreitung guter Schriften entgegen zu wirken‘.“ 54 Das Ziel, Bildung durch Büchereien, hatten die Gründerväter von Anfang an vor Augen. Man hörte auf die vox temporis, schrieb diese vox gar in die Satzung: „Das Bedürfnis zu lesen, wächst täglich und in allen Ständen und mit ihm ———— 52
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Felten: Die Gründung und Thätigkeit des Vereins vom Hl. Karl Borromäus, S. 8 (Zitat aus der Vereinssatzung von 1844). Katholische Volksbibliotheken 1902, hier zitiert nach Vodosek 1985, S. 57. Felten: Die Gründung und Thätigkeit des Vereins vom Hl. Karl Borromäus, S. 22.
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die Zahl der Schriften.“ 55 Und man zog umgehend die Konsequenz: „Unter diesen [den Schriften, E.P.] eine Auswahl zu treffen, die in gleichem Maße erbauend, belehrend und unterhaltend ist ... und deren Verbreitung zu fördern, dieses Mittel wird der Verein zunächst wählen ...“ 56
* So wie der Borromäusverein sich selbst im 19. Jahrhundert noch nicht als Teil einer größeren Entwicklung sah, so wurde er umgekehrt, von außen her, auch nicht in dieser Weise wahrgenommen. In den Werken der Protagonisten des (kommunalen) öffentlichen Bibliothekswesens ist der Borromäusverein kaum zu finden. Das gilt etwa für Eduard Reyer (1849-1914), Erwin Ackerknecht (1880-1960) und Walter Hofmann (1879-1952), in deren Schriften der Verfasser den Borromäusverein vergeblich gesucht hat. Doch ist der größere Zusammenhang, in dem die Gründung und die weitere Arbeit des Borromäusvereins stehen, schon bald nach der Entstehung einer konsistenten Bibliotheksgeschichtsschreibung erkannt und benannt worden. Die „Geschichte der Bibliotheken“ von Alfred Hessel, erschienen 1925, ist noch auf die lange Geschichte der Wissenschaftlichen Bibliotheken fixiert und behandelt die damals noch sehr jungen Öffentlichen Bibliotheken nur am Rande. Bei Joris Vorstius hingegen, dessen „Grundzüge der Bibliotheksgeschichte“ nur zehn Jahre später erschienen sind und von 1935 bis 1980 acht Auflagen erfahren haben, wird der Borromäusverein zwar äußerst knapp, doch genau treffend in die größere bibliotheksgeschichtliche Entwicklungslinie gestellt, in die er gehört. Im Zusammenhang mit den frühen volksbibliothekarischen Aktivitäten von Karl Preusker (1786-1871) in Sachsen und Friedrich v. Raumer (1781-1873) in Berlin sagt Vorstius: „Zur gleichen Zeit erkannte die katholische Kirche die Bedeutung der Volksbüchereiarbeit: 1844 wurde der ‚Verein vom hl. Karl Borromäus‘ gegründet, der sowohl private Hausbüchereien unterstützte wie öffentliche Vereinsbüchereien in großer Zahl ins Leben rief.“ 57 In den nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Darstellungen ist der Borromäusverein ausführlich gewürdigt worden. Mit viel Verständnis für die ———— 55
56 57
§ 3 der Satzung von 1844 (hier zitiert nach Hummel: Der Borromäusverein 1845- 1920, Anhang, S. 189). a.a.O. Vorstius: Grundzüge der Bibliotheksgeschichte, 4. Aufl., 1948, S. 102. In späteren Auflagen ist der Borromäusverein allerdings nicht zu finden.
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katholische Kirche und ihre Lage im 19. Jahrhundert und mit bibliothekshistorischer Präzision kennzeichnet Ladislaus Buzás – nach einer Abhandlung über die Wissenschaftlichen Bibliotheken in kirchlicher Trägerschaft – die Entstehung des Borromäusvereins wie folgt: „Völlig neue Wege beschritt die katholische Kirche im kirchlichen Bibliothekswesen mit der Schaffung einer Volksbüchereiorganisation. Die höhere Bewertung der Volksbildung hing einerseits mit der Verlagerung der kirchlichen Wirkung von der theoretisch-theologischen Ebene auf die Volksseelsorge zusammen, andererseits mit dem Bestreben, sowohl dem verderblichen moralischen Einfluß der Schmutz- und Schundliteratur als auch der weltanschaulich-politischen, religionsindifferenten oder antikirchlichen Wirksamkeit der Volksbildungsvereine entgegenzuwirken. Das Hauptmerkmal der katholischen Initiative war jedoch, daß sie die Vorteile der Zusammenfassung der zersplitterten kirchlichen Volksbildungsunternehmungen und die dadurch sich eröffnenden Möglichkeiten zur Steigerung des religiösen, moralischen und politischen Einflusses erkannte.“ 58 Dieser trefflichen Einführung lässt Buzás eine ausführliche und korrekte Darstellung des katholischen (wie auch des evangelischen) Volksbüchereiwesens in der weiteren geschichtlichen Entwicklung folgen. Man darf den Abschnitt dankbar zur Kenntnis nehmen. Entsprechendes gilt von der Darstellung des Borromäusvereins durch Wolfgang Schmitz; in seiner 1984 vorgelegten „Deutschen Bibliotheksgeschichte“ 59 charakterisiert Schmitz Werden und Wachsen des Borromäusvereins und ordnet die Darstellung als Teil des Kapitels „Die Entwicklung des Volksbüchereiwesens“ treffend in die Bibliotheksgeschichte des 19. Jahrhunderts ein. Auch im Lexikon des gesamten Buchwesens (LGB²) 60 nimmt der Borromäusverein den ihm gebührenden Platz ein. Der Artikel von Erich Hodick beschreibt Geschichte und Gegenwart des Vereins präzise und mit einer Fülle von Fakten-Informationen, ein Kabinettstück lexikographischer Arbeit. Das gilt auch von dem knapp gehaltenen „Wörterbuch des Buches“ 61, Stichwort „Kirchliche öffentliche Büchereien“. Keineswegs selbstverständlich ist es hingegen, dass auch das 1974 in Leipzig (!) erschienene Lexikon des Bibliothekswesens 62 einen sachlich ausreichend informierenden ———— 58 59 60 61 62
Buzás: Deutsche Bibliotheksgeschichte der neuesten Zeit, S. 88f. Bibliographischer Nachweis im Lit.-Verz. Desgl. Desgl. Desgl.
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Beitrag über den Borromäusverein bringt, dazu noch aus der Feder von Erwin Marks. Dies darf man mit Respekt zur Kenntnis nehmen. Besonders hervorzuheben ist der umfangreiche, mehrseitige Beitrag zum Borromäusverein in der „Geschichte der Öffentlichen Bücherei in Deutschland“ von Wolfgang Thauer und Peter Vodosek.63 Die Autoren stellen Entstehung und weitere Arbeit des Borromäusvereins nicht nur in den bibliothekshistorischen Zusammenhang mit den Stichworten Arbeiterbewegung, Arbeiterbildung, Arbeiterbibliotheken einerseits und Bürgerlich-liberale Volksbildung und ihre Bibliotheksarbeit andererseits; sie weisen vielmehr auch auf den (kirchen)politischen Hintergrund hin, auf dem die Geschichte des Borromäusvereins im 19. Jahrhundert zu sehen ist: den Kampf gegen das preußische Staatskirchentum, speziell das Kölner Ereignis von 1837 und später den Kulturkampf.64 Es seien noch zwei Darstellungen des Borromäusvereins genannt, die von Insidern stammen, aber in Sammelwerken veröffentlicht worden sind, die sich keineswegs an eine kircheninterne Leserschaft wenden, sondern – wie die vorgenannten Werke – an die bibliotheksfachliche Öffentlichkeit: Alexander Schnütgens zweiteiliger Aufsatz im Zentralblatt für Bibliothekswesen von 1924 65 sowie der Beitrag von Leo Koep und Alfons Vodermayer im Handbuch des Büchereiwesens von 1965.66 Schnütgen bringt eine ungemein kenntnisreiche Schilderung von Vergangenheit und (damaliger) Gegenwart des Vereins, greift historisch weit aus, betrachtet die Situation der katholischen Kirche in der Restaurationszeit und ihre Bemühungen um Präsenz in der Literatur und Literaturvermittlung – auch in Deutschlands Nachbarländern – und geht auf die innerkirchlichen und vereinsinternen Auseinandersetzungen ein, mit es der Borromäusverein um die vorletzte Jahrhundertwende und danach zu tun hatte, ungemein lesenswert.67 Die z.T. heftigen Debatten über die Frage des Anschaffungsprogramms und des Bestandsprofils der Borromäusbibliotheken erinnern den Bibliothekar von ferne an den fast gleichzeitigen Richtungsstreit im öffentlichen Bibliothekswesen; dort ging es natürlich nicht um die Frage, wie der christliche Charakter einer Bücherei zu definieren, wohl aber um die Frage, welcher Standard literarischer Qualität einzuhalten sei. Die Heftigkeit ———— 63 64 65 66 67
Desgl. Thauer / Vodosek: Geschichte der öffentlichen Bücherei in Deutschland, 1990, S. 40ff. Bibliogr. Nachweis im Lit.-Verz. Desgl. Zu diesen Auseinandersetzungen ausführlich Hummel: Der Borromäusverein 1845-1920 (passim); ferner: Dalton: Catholicism, popular Culture, and the Arts in Germany (passim, bes. S. 64ff. und S. 99ff.; S. 102 kommt Dalton auch auf den Richtungsstreit zu sprechen).
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und die ideologische Aufladung waren in beiden Fällen durchaus vergleichbar. – Im Vergleich damit erscheinen heutige Debatten, in denen es um die Qualität digitaler Medien in der Bücherei geht, recht friedlich. Koep und Vodermayer bieten eine umfassende, in allen Einzelheiten sorgfältig belegte Darstellung der katholischen Volksbüchereien in historischer und aktueller Betrachtung; der Beitrag im Rahmen des voluminösen Handbuchs hat fast den Charakter eines Nachschlagewerks; nach hier vertretener Ansicht fehlt kaum eine wichtige Frage. Dass die Verfasser im Übrigen die Gründungszeiten und die spätere deutsche Geschichte mit ihren wechselnden Mentalitäten hinter sich gelassen haben und mitsamt dem Borromäusverein in der Bundesrepublik angekommen sind, beweisen sie mit dem letzten Satz ihres 34 Seiten (Großformat!) umfassenden Beitrags: „Somit ist die kirchliche Volksbüchereiarbeit nicht zuletzt Konsequenz aus der pluralistischen Gesellschaft, in der die verschiedenen Gruppen das Recht und die Möglichkeit haben müssen, die ihnen gemäße Applikation des Buches an den Menschen zur Darstellung zu bringen.“ Es bleibe nicht unerwähnt, dass das evangelische Büchereiwesen im Handbuch ebenfalls eine umfassende, übrigens noch ausführlichere Darstellung gefunden hat. Die Herausgeber bibliothekarischer Sammelwerke und die Verfasser größerer Darstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg haben nicht mehr die Berührungsangst (oder Ignoranz?) ihrer Vorläufer aus der Frühzeit des öffentlichen Bibliothekswesens, welche die kirchliche Bücherei nicht zur Kenntnis nahmen. Genug der Hinweise auf die Akzeptanz der kirchlichen Büchereiarbeit im bibliothekshistorischen Schrifttum. Ebenso erfreulich ist die Feststellung, dass die kirchliche Büchereiarbeit, speziell der Borromäusverein, sich im bibliothekarischen Leben der Bundesrepublik eines Ansehens erfreut, mit dem man zu preußischen Zeiten wahrlich nicht rechnen konnte. Im Bibliotheks-Kalender und im Jahrbuch der Öffentlichen Bibliotheken, den alltäglich genutzten praktischen Nachschlagewerken, schon im Handbuch für Öffentliche Büchereien, dem Vorgänger des Jahrbuchs, sind die kirchlichen Büchereiverbände mit Selbstverständlichkeit präsent; darüber hinaus finden sich weitere detaillierte Angaben zur kirchlichen Büchereiarbeit, wie die Kontaktdaten sämtlicher diözesanen Fachstellen und weiterer Stellen und Arbeitsgemeinschaften – ein deutliches Zeichen dafür, dass die Arbeit des Borromäusvereins als integraler Bestandteil der gesamten Bibliotheksarbeit in Deutschland betrachtet wurde und wird: Bildung durch Büchereien, auf die man nicht verzichten will!
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Auch der objektive Befund kann sich sehen lassen, doch sollen die Zahlen und Fakten hier nicht weiter ausgebreitet werden. Den Lesern dieser Festschrift werden sie ja durchweg bewusst sein. „Zahlen als Spiegel der Wirklichkeit“, Untertitel: „Eindrucksvolle Ergebnisse der kirchlichen Büchereiarbeit“ lautet die Überschrift zu dem respektablen Rechenschaftsbericht, der erst neulich in der Vereinszeitschrift zu lesen war.68 Vor allem der hohe Einsatz einer großen Zahl ehrenamtlicher Mitarbeiter(innen), über 35 Tausend (einschließlich des St. Michaelsbundes in Bayern), ist ein Grund, auf die kirchliche Büchereiarbeit stolz zu sein. Ein Repräsentant des Borromäusvereins, dessen Dienstzeit als Direktor sich mit der Dienstzeit des Präsidenten Trippen z.T. deckte, Erich Hodick, hat viel zur Akzeptanz der kirchlichen Büchereiarbeit beigetragen. Der Schreiber dieser Zeilen hat Erich Hodick, Vertreter der kirchlichen Büchereiarbeit in verschiedenen überregionalen Gremien, als besonders fachkundiges und aktives Mitglied erlebt und nach jeder gemeinsamen Sitzung mit stiller Genugtuung gedacht: Hier war unsere Kirche mal wieder gut repräsentiert. Hodick war immer das auf die Sitzung am besten vorbereitete Mitglied des betreffenden Gremiums. Die Fachhochschule für das öffentliche Bibliothekswesen in Bonn war in den Jahrzehnten, die der Verfasser überschaut, ein angesehenes Mitglied der Konferenz der bibliothekarischen Ausbildungsstätten; dass sie „die kleinste Hochschule der Welt“ war, störte niemanden und tat ihrem Ansehen in den Kollegenkreisen keinen Abbruch. Um die große Zahl namhafter Kollegen, die Lehrbeauftragte der kleinen Hochschule in Bonn waren, wurde die Fachhochschule des Borromäusvereins von mancher wesentlich größeren staatlichen Hochschule beneidet.
* Eine Festschrift ist gewiss der Ort zu loben und zu preisen; dazu beizutragen hat der Verfasser sich auch hier aus gutem Grund und mit Überzeugung bemüht. Die Festschrift verlöre aber ihre Glaubwürdigkeit, würden ihre Mitarbeiter die weniger preiswürdigen Seiten der einzelnen Themen verschweigen. Das kann auch im Beitrag über den Borromäusverein nicht anders sein. Die Schließung der Fachhochschule in Bonn im Jahre 2004 wirft, auch wenn man Gründe für diese Maßnahme anführen kann, einen tiefen Schatten ———— 68
Rolf Pitsch in: BiblioTheke. – 2010, 3, S. 23- 26.
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auf die an sich so erfreuliche Borromäus-Bilanz. Die Schließung bedeutete für manchen nachdenklichen Betrachter ein erstes schlimmes Vorzeichen für den Rückzug der Kirche in Deutschland aus ihrer bisherigen Bildungsarbeit (Schließung von Akademien) und für ihren generellen Rückzug aus der Öffentlichkeit: Reduzierung von Gemeinden und Beendigung von deren religiösen und sozialen Aktivitäten, Schließung und gar Abbruch von Kirchengebäuden – Selbstabwicklung der Kirche. Eine andere irritierende Beobachtung: Liest man in einer offiziellen Publikation des Borromäusvereins von dessen „Unternehmensphilosophie“, so traut man seinen Augen nicht. Stehen wir vor einem – höchst fragwürdigen – Mentalitätswandel? Haben wir es vielleicht gar mit einer Abwendung von den Idealen der Gründungsväter zu tun? Das Wort Unternehmen für den Borro ist nicht durch die fraglos notwendige kaufmännische, betriebswirtschaftlich durchdachte Führung des Vereins zu rechtfertigen; denn das Wort Unternehmen erinnert mit Nachdruck an Profit, an Gewinnmaximierung, der Verein jedoch hatte solches nie im Sinn. Und dann noch das schreckliche Kompositum! Das – sit venia verbo! – aufgeblasene Wort gibt jedenfalls Stoff zu kritischem Nachdenken. Das schöne, uralte Wort Philosophie sollte gerade im kirchlichen Gebrauch nicht banalisiert, sondern exklusiv der praeambula fidei vorbehalten bleiben. Mit dieser kritischen Bemerkung soll die segensreiche Arbeit des Borromäusvereins nicht herabgesetzt, wohl aber eine Warnung ausgesprochen werden. Die vielen guten Beiträge zur Bewältigung der „katholischen Krise“ 69, die gerade in den letzten Monaten von engagierten gläubigen Christen zu lesen und zu hören waren, geben Grund, zuversichtlich zu bleiben. In ihnen ist viel überzeugende christliche Hoffnung und Phantasie zur Gestaltung der Zukunft enthalten, auch viel Unbefangenheit gegenüber den Problemen der Vergangenheit. In diesen Äußerungen erscheint ein Feindbild wie „die“ Aufklärung, das den Pollinger Chorherren noch fremd war, sich später in der Kirche aber verhängnisvoll ausgewirkt hat, als überholt; eine Frontstellung gegenüber dem „Kulturkampf “, wie sie in der Frühzeit des Borromäusvereins verständlich war, erst recht. So dürfen wir auch im 21. Jahrhundert unter gänzlich veränderten Verhältnissen erneut Aufklärung durch Bibliotheken und Bildung durch Büchereien erwarten, vorausgesetzt, wir bemühen uns in Kirche und Gesellschaft mit den Mitteln unserer Zeit auch weiterhin redlich darum. ———— 69
Hier wird Bezug genommen auf die gleichnamige Schrift, in der vier Jahrzehnte geistlicher und theologischer Arbeit von Erich Przywara präsentiert werden und die 1967 mit Kölner Imprimatur erschienen ist; bibliogr. Nachweis s. Lit.-Verz.
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Aufklärung durch Bibliotheken – Bildung durch Büchereien
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Kontroverse um das zweibändige Werk von Albert Maria Weiß OP „Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart “ von Karl Josef Rivinius
Prolegomena Zur sachgemäßen Einordnung, dem adäquaten Verständnis und der korrekten Bewertung der spannungsreichen Auseinandersetzungen im Kontext der hochexplosiven Atmosphäre innerhalb des Katholizismus in Deutschland mit dem zur Diskussion stehenden Werk des an der katholischen Universität zu Freiburg in der Schweiz viele Jahre lehrenden Dominikaners werden folgende Bemerkungen vorangestellt: Um die Wende zum 20. Jahrhundert setzte in etlichen Ländern eine Bewegung ein, die man als „Modernismus“ beziehungsweise als „Reformkatholizismus“ bezeichnet hat.1 Konfrontiert ———— 1
Eine sachkundige, ausgewogene und konzise Zusammenfassung der Grundanliegen und Zielsetzungen dieser geistigen Bewegung wie der daraus resultierenden Kontroversen im Umfeld von Integralismus und Modernismus bietet: Wilhelm Spael, Das katholische Deutschland im 20. Jahrhundert. Seine Pionier- und Krisenzeiten (1890-1945), Würzburg 1964, S. 148-175. Ferner auswahlweise zu dieser komplexen und kontrovers erörterten Thematik: Karl Holl, Der Modernismus, Tübingen 1908; Johannes Kübel, Geschichte des katholischen Modernismus, Tübingen 1909; Oskar Schroeder, Aufbruch und Missverständnis. Zur Geschichte der reformkatholischen Bewegung, Graz 1969; Erika Weinzierl (Hrsg.), Der Modernismus. Beiträge zu seiner Erforschung, Graz-Wien-Köln 1974; Thomas Michael Loome, „Die Trümmer des liberalen Katholizismus“ in Großbritannien und Deutschland am Ende des 19. Jahrhundert (1893 -1903): Die kirchenpolitische Grundlage der Modernismuskontroverse (19031914), in: Kirchen und Liberalismus im 19. Jahrhundert, hrsg. von Martin Schmidt / Georg Schwaiger, Göttingen 1976, S. 197-214; Georg Schwaiger (Hrsg.), Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Zum Streit um Reformkatholizismus und Modernismus, Göttingen 1976; Norbert Trippen, Theologie und Lehramt im Konflikt. Die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus im Jahre 1907 und ihre Auswirkungen in Deutschland, Freiburg-Basel-Wien 1977; Manfred Weitlauff, „Modernismus“ als Forschungsproblem, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 93, (1982), S. 312- 344; wieder abgedruckt in: ders., Kirche zwischen Aufbruch und Verweigerung. Ausgewählte Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, hrsg. von Franz Xaver Bischof / Markus Ries, Stuttgart-BerlinKöln 2001, S. 498- 544; Bernard M. G. Reardon, Modernismus, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 23, Berlin-New York 1994, S. 130-138; Otto Weiß, Der Modernismus in Deutschland. Ein Beitrag zur Theologiegeschichte, Regensburg 1995; ders., Modernismus und Antimodernismus im Dominikanerorden. Zugleich ein Beitrag zum „Sodalitium Pianum“ (Quellen und Studien zur neueren Theologiegeschichte, Bd. 2), Regensburg 1998; ders., Der katholische Modernismus. Begriff-SelbstverständnisAusprägungen-Weiterwirken, in: Hubert Wolf (Hrsg.), Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche. Beiträge zum theologiegeschichtlichen Vorfeld des II. Vatikanums (Programm und Wirkungsgeschichte des II. Vatikanums, Bd. 2), Paderborn 1998, S. 107-139; Bernhard Steinhauf, Die Wahrheit der Geschichte. Zum Status katholischer Geschichtsschreibung am Vorabend des Modernis-
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mit den gravierenden Umbrüchen in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur empfanden die diese Geisteshaltung repräsentierenden Personen trotz der mitunter stark voneinander abweichenden Ideen und Intentionen ein ausgeprägtes Unbehagen angesichts der ihrer Meinung nach obsoleten, traditionalistischen Denk- und Argumentationsweise. Sie verband ein gemeinsames Anliegen und identische Grundüberzeugungen, nämlich das mit religiöser Verinnerlichung inhärente Bemühen, vor allem der Theologie unter Berufung auf die eigenständige Bedeutung der menschlichen Vernunft für die Begründung des Glaubens den nötigen innerkirchlichen Freiraum zu verschaffen, sie umfassend und grundlegend zu reformieren sowie den Katholizismus intellektuell neu zu fundieren, ferner das Bestreben, das katholische Bildungsdefizit zu überwinden, der Propagierung des diskriminierenden und ehrenrührenden Schlagworts „catholica non leguntur“ durch entsprechende Anstrengungen den Boden zu entziehen und die von gegnerischer Seite ventilierte Behauptung zu entkräften, katholische Wissenschaftler sähen sich aufgrund ihrer dogmatischen Gebundenheit außerstande, voraussetzungslose Forschung zu betreiben.2 Vorrangiges Ziel der deutschen „Modernisten“ beziehungsweise „Reformkatholiken“, Theologen und Laien, war es, die Ghettomentalität zu überwinden. Ohne Berührungsängste suchten sie gemäß ihrer aufgeschlossenen, realistischen Einstellung und Sensibilität für den vielschichtigen wie tiefgreifenden Wandlungsprozess innerhalb der Gesellschaft die offene Begegnung und die konstruktive Auseinandersetzung mit den geistigen, politischen und sozio-kulturellen Zeitströmungen; darüber hinaus erstrebten sie die Aussöhnung der Kirche und des Katholizismus mit der modernen Wissenschaft.3 Gegen diese „liberale“ Geisteshaltung liefen die konservativen Katholiken, die so genannten Integralisten, Sturm; sie waren vielfach vergangenheitsfixiert und versagten sich vehement gegenüber jeder Neuerung. Die———— 2
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mus (Bamberger Theologische Studien, Bd. 8), Frankfurt a. M. 1999; Victor Conzemius, „Antimodernismus und katholische Theologie“, in: Stimmen der Zeit 221 (2003), S. 736-750. Johannes Horstmann, Die Mommsen-Affäre: Der Streit um die „voraussetzungslose“ Wissenschaft, in: ders., Katholizismus und moderne Welt. Katholikentage, Wirtschaft, Wissenschaft – 1848 bis 1914 (Abhandlungen zur Sozialethik, Bd. 13), München-Paderborn-Wien 1976, S. 114-129; Manfred Weitlauff, „Catholica non leguntur“? Adolf von Harnack und die „katholische“ Kirchengeschichtsschreibung. Mit einem Briefanhang, in: ders., Kirche zwischen Aufbruch und Verweigerung, S. 316- 387. Drei zeitgenössische Belege zu diesen Bemühungen: Hermann von Grauert, Katholizismus und Wissenschaft, in: Akademische Monatsblätter. Organ des Verbandes der katholischen Studentenvereine Deutschlands 8 (1895), S. 29- 32; Katholischer Glaube und wissenschaftlicher Fortschrift, in: ebd. 10 (1898) 411- 416, Georg Freiherr von Hertling, Das Princip des Katholicismus und die Wissenschaft. Grundsätzliche Erörterung aus Anlass einer Tagesfrage, 2. und 3. unveränderte Aufl. Freiburg i.Br. 1899.
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sen skandalösen Streit trug man vor aller Öffentlichkeit aus 4, den areligiöse und kirchenfeindliche Gruppierungen mit unverhohlener Schadenfreude nicht nur aufmerksam registrierten und genüsslich bilanzierten, sondern auch als willkommene Argumentationshilfe gegen den Katholizismus, die Kirche und ihr Glaubenssystem benutzten. In seinem Verlauf nahm der sich über zwei Jahrzehnte hinziehende Disput immer schärfere Formen an, ohne dass die Kontrahenten in den strittigen Punkten zu einer für beide Seiten einvernehmlichen Lösung gelangten oder einen akzeptablen Konsens in den essentiellen Grundüberzeugungen zustande brachten. Selbst innerhalb des deutschen Episkopats herrschte bezüglich der heftig und kontrovers diskutierten Sachverhalte ein tiefer Dissens, als dessen Folge sich die Bischöfe einem der beiden sich befehdenden Lager anschlossen, entweder der „Kölner“ beziehungsweise „M.-Gladbacher“ oder dem der „Berliner“ beziehungsweise „Trierer“ Richtung. Unversehens sahen sich beide Gruppen innerhalb des Katholizismus gleichsam einem Zweifrontenkrieg gegenüber, in dem sich die jeweilige Position aus ihrer religiösen Grundüberzeugung und Weltsicht vehement verteidigte, glaubte doch die je andere Seite die richtige, allein legitime Erkenntnis der Wahrheit zu besitzen und die gewichtigeren Argumente zur Rechtfertigung ihres Aktionsprogramms ins Feld zu führen. Neben genuin theologischen Sachthemen ging es bei dieser Polemik vornehmlich um drei Problemkreise, die eng miteinander verzahnt und durch vielfältige Querfäden verknüpft waren: um den Literatur-, Gewerkschafts- und Zentrumsstreit. Besonders weittragend in seiner Konsequenz und beunruhigend für die Stellung des katholischen Volksteils innerhalb der deutschen Gesellschaft waren die aus dem gleichen Gegensatz herausgewachsenen und zum großen Teil von denselben Personen verfochtenen Positionen hinsichtlich der Organisationsform der Katholiken auf politischem und sozialem Gebiet: „Theoretisch, ob ‚katholische‘ oder ‚interkonfessionelle‘ Organisation; praktisch, ob das Zentrum eine ‚katholische‘ Partei oder eine ‚politische nichtkonfessionelle‘ Partei sein solle, ob die katholischen Arbeiter sich den christli———— 4
Dieser Meinungsstreit erfuhr eine nachhaltige Verschärfung durch den programmatischen Aufsatz von Julius Bachem, Wir müssen aus dem Turm heraus!, in: Historisch-politische Blätter 137/ I (1906), S. 376 - 386. Gemeint war damit die Kritik an der Abschottung der Zentrumspartei gegenüber allen anderen politischen Kräften jenseits des Katholizismus. Der Verfasser kritisierte die wachsende Überbetonung des konfessionellen Prinzips, plädierte für die Unabhängigkeit der Politik von päpstlichen Weisungen sowie für die Stärkung der Laien. Mit seiner Forderung nach einer Zusammenarbeit mit den Protestanten und letztlich für eine überkonfessionelle christliche Partei löste er den so genannten Zentrumsstreit aus.
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chen Gewerkschaften oder katholischen gewerkschaftlichen Organisation anzuschließen hätten.“ 5
1. „Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart“ Am 20. Mai 1911 erschien im Verlag Herder das zweibändige Werk von P. Albert Maria Weiß OP 6 unter dem in der Überschrift genannten Titel. Es enthält insgesamt sechzig teils unveränderte, teils redaktionell überarbeitete oder aus gegebenem Anlass neu geschriebene beziehungsweise so geschickt aktualisierte Aufsätze, dass sie zu einer einseitigen polemischen Kampfschrift zugunsten der „Berliner Richtung“ im Zentrums- und Gewerkschaftsstreit wurden. Die meisten Beiträge waren in der Linzer Theologisch-praktischen Quartalschrift erschienen. Mit seinem Eintritt in ihre Redaktion Anfang 1890, der P. Weiß bis Ende 1910 angehörte, hatte er nach eigenem Bekunden das „schwere und verantwortungsvolle Amt eines Turmwächters auf Sion übernommen und auf jede Gefahr und jeden Feind des Glaubens“ aufmerksam gemacht. Wie ihr Autor, der sich gern mit den Epitheta „moderner Prophet“, „Jeremias II.“ und „Eliasjünger“ schmückte, im Vorwort hervorhebt, bot er darin eine „Darstellung der modernen Weltanschauung oder, wie man jetzt sagt, des Modernismus“.7 Sämtliche Beiträge sind von dem Leitgedanken ———— 5
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Heinz Brauweiler, Der Kern und die Bedeutung des Zentrumsstreits“, in: Hochland 11/ II (1914), S. 75-90, hier: S. 75. Zur Gesamtthematik: Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 75), Düsseldorf 1984; ders., Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Neue Aspekte der reichsdeutschen Sozialgeschichte 1871-1918, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 297-310. Zu Person und Werk: Josef Beck, Ein Leben im Dienste der Wahrheit. Zum 70. Geburtstag von P. Albert Maria Weiß, in: Sonderbeilage der Schildwache am Jura, Nr. 29 vom 18. April 1914; Des Propheten Abendrast, in: Schweizerische Republikanische Blätter, Nr. 49 vom 12. Juli 1919; Gallus M. Häfele, P. Albert Maria Weiß OP, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 79 (1926), S. 281 - 296, 552-567, 774-784; Anton Landersdorfer, Albert Maria Weiß OP (1844 -1925). Ein leidenschaftlicher Kämpfer wider den Modernismus, in: Wolf, Antimodernismus und Modernismus, S. 195-216 (Lit.); Karl Josef Rivinius, Weiß, Albert Maria, in: Bautz, Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 13, Herzberg 1998, Sp. 647-652; O. Weiß, Modernismus und Antimodernismus im Dominikanerorden, S. 133203. Weiß, Lebens- und Gewissensfragen, Bd. 1. S. VI. Beim „Ansturm einer neuen Zeit“ um die Jahrhundertwende fühlte sich der Dominikaner genötigt, den Schwerpunkt seines apologetischen Schaffens entscheidend zu verlagern. Im Rückblick auf diese Vorgänge konstatierte er: „Bisher hatte ich die Prophetentätigkeit fast ausschließlich im Hinblick auf die Feinde des Christentums ausgeübt, entsprechend der herkömmlichen Ansicht, dass die Apologetik keinen andern Zweck habe, als diese zu bekämpfen und wenn möglich zu gewinnen. Allmählich sah ich jetzt ein, dass die Gefahren der Zeit auch im Schoße der Christenheit selber ihre Wirkungen äußern und dass der Apologet noch weit mehr die Aufgabe
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geprägt, dass ein unversöhnbarer „Gegensatz zwischen dem Modernismus und der christlichen Heilsordnung“ bestehe.8 Die in dem Werk versammelten Aufsätze hatte P. Weiß zunächst in der Absicht geschrieben, „den Seelsorgeklerus der Deutsch sprechenden Länder über den Gang der modernen Ideen auf dem Laufenden zu halten und bei dieser Gelegenheit teils die uralten theologischen Lehren und Grundsätze ins Gedächtnis zurückzurufen, teils durch Anwendung auf die neu geschaffenen Verhältnisse deren Bedeutung klarer zu stellen, teils darauf hinzuweisen, in welchem Sinne sie auch heute noch Geltung besitzen und ihren entscheidenden Einfluss wahren. Um der beiden zuletzt genannten Gründe willen, so glauben wir ohne Anmaßung urteilen zu können, dürften sie aber da und dort manches enthalten, was auch für weitere Kreise nicht ganz bedeutungslos sein möchte.“ 9 Der Dominikaner prangert Tendenzen innerhalb der katholischen Kirche an, deren Bestreben darin bestehe, das gesamte öffentliche Leben, namentlich auf dem Gebiet der Erziehung und Wissenschaft, von Presse und Literatur vom Klerikalismus und dem „verhängnisvollen Einfluss der Theologen“ zu befreien, „also die Enttheologisierung oder die ‚Entklerikalisierung‘“ 10, und die leitende Macht an das Laientum zu übertragen, weil nur auf diese „die Katholiken auf die ihnen gebührende Höhe des Kulturlebens zurückzuführen“ seien. Verharmlosend und kaschierend betone man, dadurch sollten „die inneren Organisationsprinzipien des Katholizismus“ nicht geändert werden, lediglich die „Wiederherstellung seines Kontakts mit dem allgemeinen Kulturleben soll durch die Laien“ erfolgen.11 ————
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hat, ihr Eindringen in die Kreise der Treugebliebenen zu verhindern und diese selbst so zu belehren und zu unterrichten, dass sie ihres übernatürlichen Besitzes froh und gegen alle Verwirrung gefestigt werden. Von dieser Einsicht Gebrauch zu machen, ergab sich jetzt überreich Gelegenheit. Jene rückläufigen Regungen [...] hatten sich allmählich zu einer gemeinsamen Strömung vereinigt, die im Gefühle ihrer Stärke und mit dem Feuer jugendlicher Begeisterung seit dem Anfang der neunziger Jahre voranzudringen begann, entschlossen, eine neue Zeit herbeizuführen. Ihre Losung hieß modern. Daher der Name Modernismus, der ihr schließlich verblieb“ (Albert Maria Weiß, Lebensweg und Lebenswerk. Ein modernes Prophetenleben, Freiburg i. Br. 1925, S. 394). Weiß, Lebens- und Gewissensfragen, Bd. 1, S. X. Ebd., Bd. 2, S. 486. Ausführungen von Weiß zur „Entklerikalisierung“, die als Thema wie ein Leitmotiv, etwa in den aktualisierenden Fußnoten, in deutlicher Anspielung auf Martin Spahn immer wieder kehrt: Bd. 1, S. 62, 276, 397; Bd. 2, S. 172 und S. 488- 505. Als dezidierte Wortführer der „Entklerikalisierung“ des deutschen Katholizismus galt den integralkonservativen Katholiken neben der von Karl Muth (1867-1944) herausgegebenen Zeitschrift Hochland, der Zentrumspartei, dem Volksverein für das katholische Deutschland, dem Augustinusverein sowie dem Katholischen Frauenbund insbesondere Martin Spahn (1875-1945), der als historischer Publizist für eine Versöhnung der Katholiken mit dem preußisch-kleindeutschen Geschichtsbild wirkte. Gegen diese boshaften Unterstellungen hatten sich die Kölnische Volkszeitung und die Germania entschieden zur Wehr gesetzt. Speziell zu Martin Spahn stellte die liberale Vossische Zeitung am 27. Okto-
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Demgegenüber hebt P. Weiß mit allem Nachdruck hervor, dass der geborene Repräsentant der Kirche nicht die Laienschaft sei, sondern der Klerus, und „dass jede Politik und jede soziale und literarische Tätigkeit irregeht, wenn sie sich nicht an jene Grundsätze hält, welche die kirchliche Lehre vom Verhältnis des Natürlichen zum Übernatürlichen an die Hand gibt“.12 Eine rein politische Partei existiere heute nicht mehr. Jede politische Partei sei auch, „oft sogar in erster Linie, eine religiöse“. Der Satz, das Zentrum sei keine religiöse Partei, bedeute lediglich, „dass es eine religiöse Partei nicht mehr und nicht minder sei als jede andere“. Die Religion von seiner politischen Tätigkeit auszuschließen, stehe nicht in seiner Macht. Die Verquickung der Politik mit den religiösen Fragen werde ihm das immer unmöglich machen.13 In etlichen Beiträgen, deren Diktion durchgehend „bald sarkastisch, bald prophetisch feierlich“ 14 gehalten und mit aktuellen Bezügen gewürzt sind, verurteilte der Dominikaner die Definition des Zentrums als einer politischen Partei, die vorgebe, auf christlicher Weltanschauung zu basieren. Seine Vorwürfe gipfelten in der Behauptung, man beabsichtige, die Kirche gewollt oder ungewollt an die „Moderne“ auszuliefern und damit den religiösen Kern des katholischen Glaubens zu zerstören. ————
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ber 1910 fest: Dieser sei „für die waschechten Ultramontanen als enfant le plus terrible dreimal gekennzeichnet. Die integralistische Correspondance de Rome von Msgr. Umberto Benigni (1862-1934) bezeichnete ihn 1912 als den „Benjamin des Bachemismus“. Unter der Überschrift „Das Ende der Entklerikalisierung“ führte Österreichs Katholisches Sonntagsblatt in der Nr. 49 vom 3. Dezember 1911 aus: „Seit etwa acht Jahren ist durch den Straßburger Professor Martin Spahn das Programm der Entklerikalisierung des Katholizismus offen ausgesprochen und zielbewusst durch Organisation und Presse erstrebt worden. Auf politischem, auf sozialem, auf literarischem Gebiete wurde der Feldzug der Entklerikalisierer gegen die treuen Katholiken eröffnet. Er flammte im Gewerkschaftsstreit und im Literaturstreit mächtig und alles verheerend auf [...]. Der Sieg des Entklerikalisierungsgedankens, der Verrat an dem deutschen katholischen Volk schien besiegelt zu sein, als Martin Spahn ein Zentrumsmandat erhielt und trotz des Widerspruches der Getreuen des alten Zentrumsgedankens in die Fraktion förmlich aufgenommen wurde. Es schien, als ob so der Klerus, die Bischöfe, der Papst bereits tatsächlich ‚unschädlich‘ gemacht worden seien. Ein neuer Laienkatholizismus, eine Staatskatholizismus, der nichts Katholisches mehr an sich gehabt hätte, schien begründet zu sein [...]. Nun, Gott sei Dank, das Ärgste ist nicht geschehen. Die größte Gefahr ist abgelenkt. Sie ist abgelenkt durch einige getreue Kämpfer für die Kirche, die ihre ganze Persönlichkeit für sie eingesetzt haben, die weder Verfolgung, die Verleumdung von Seiten der Gegner, noch die Verkennung und die Lauheit von Seiten deren gescheut haben, für die sie kämpften.“ Weiß, Lebens- und Gewissensfragen, Bd. 2, S. 514. Ebd., Bd. 1, S. 39. Besprechung des Sammelbands von Matthias Reichmann SJ in: Stimmen aus Maria-Laach 83 (1912), S. 426- 430, hier S. 429. Dem Rezensenten zufolge war die Tonart „allerdings auch geeignet, anders gestimmte Naturen nervös zu machen und zum Widerspruch herauszufordern. Etwas mehr Honig und etwas weniger Essig wären auch unserem Geschmack lieber gewesen“ (ebd.).
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2. Reaktionen von Seiten der „Köln-M.-Gladbacher Richtung“ Das zweibändige Werk, das reichlich Zündstoff enthielt, löste bald nach seinem Erscheinen eine derart heftige Polemik aus, so dass sein Autor selbst „über die Summe von Leidenschaft, die sich nun kundgab“, sehr erstaunt war.15 In formaler Hinsicht wurde unter anderem die Überfülle an Redundanzen beanstandet, die dadurch zustande gekommen waren, weil sein Verfasser an den ersten Entwürfen der über zwei Dezennien sich hinziehenden Aufsätze keine substantiellen Kürzungen vorgenommen hatte. Demzufolge litten die Grund- und Leitgedanken an organischer Einheit, logischer Geschlossenheit und Schärfe, wodurch ihre volle Durchschlagkraft verhindert werde. Ferner vermisste man die Angabe von Namen getadelter Schriftsteller, die Weiß bewusst verschwiegen hatte, weil es ihm nur um die Sache zu tun sei. Dem wurde entgegengehalten, dass jemand, der sich in der Öffentlichkeit geoutet habe, sich die Nennung seiner Person jederzeit gefallen lassen müsse. Ein schonendes Verschweigen könne böswilligem Raten, Vermuten, Verdächtigen unter Umständen erst recht lockenden Anreiz schaffen. Vor allem rügte man die „polemische Methode“, die „methodischen Fehler“ und „eine Art von Induktionsmethode mit bunter Zitatenmosaik“, mittels derer der Autor möglichst effektvoll die Gefährlichkeit moderner Kulturströmungen nachzuweisen suche. Zudem klagte man darüber, dass Sätze aus Publikationen von katholischen, protestantischen, freidenkerischen, agnostischen und nihilistischen Schriftstellern unterschiedslos nebeneinandergereiht worden waren, mit der Folge, dass dadurch die faktische Realität der katholischen Zustände nicht selten völlig verzerrt werde. Wer die tatsächlichen Verhältnisse im katholischen Deutschland nicht kenne, wurde geklagt, müsse anhand der überzeichneten Negativschilderungen, der starken Missverständnisse, maßlosen Übertreibungen, unbegründbaren Verallgemeinerungen und der Wortklaubereien zwangsläufig annehmen, dass die dortige Lage „fast hoffnungslos“ sei. Vor allem wies man angebliche Beanstandungen gegen die politische Betätigung bestimmter Gruppen der deutschen Katholiken sowie die Andeutungen, katholische Geistliche, die in Berlin studierten, liefen Gefahr, durch den Besuch der Vorlesungen von Adolf Harnack und Friedrich Delitzsch, in ihrem Glauben wankend zu werden, entschieden und scharf zurück.16 ———— 15 16
Zitiert in: Häfele, P. Albert Maria Weiß, S. 556. Karl Braig, Übersicht über „Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart“, in: Literarische Rundschau für das katholische Deutschland 37 (1911), S. 321-328, hier S. 325. Zur letzteren Mutmaßung die schar-
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Insbesondere wehrte man sich gegen die Annahme des Dominikaners, eine gewisse Richtung laufe darauf hinaus, „die katholischen Grundsätze aus dem öffentlichen Leben zu verbannen [...] und alles, was katholisch ist, zu verleugnen und herabzusetzen“, sowie gegen die Behauptung, das verhängnisvolle Streben nach Interkonfessionalisierung habe zuletzt dahin geführt, „dass wir uns fast nicht einmal mehr katholisch zu nennen wagen, sondern dass wir uns ein unbestimmtes und unbestimmbares Christentum, oder wie wir zu sagen lieben, eine allgemeine christliche Basis ausgedacht haben, auf der wir uns alle brüderlich die Hand reichen können“.17 Als einzigen Anhaltspunkt für diese Ansicht habe der Verfasser die interkonfessionelle Gewerkschaftsbewegung und den politischen Charakter des Zentrums im Blick. Dabei dürfe er doch wissen, dass es sich hier lediglich um ein Zusammengehen mit Protestanten in rein wirtschaftlichen Fragen handle, was mehrmals bis in die jüngste Zeit hinein von der höchsten kirchlichen Autorität für statthaft erklärt worden sei; und was das Zentrum betreffe, so beweise seine Geschichte von Beginn an, dass seine katholischen Mitglieder in der Öffentlichkeit nie einen Hehl von ihrer katholischen Überzeugung gemacht hätten. Den deutschen Katholiken Teilnahmslosigkeit dem Unglauben gegenüber vorzuwerfen, sei daher „ein starkes Stück“.18 Ein weiterer Kritikpunkt, der in beiden Bänden einen breiten Raum einnimmt, war die bereits erwähnte Behauptung, die deutschen Katholiken befänden sich unter dem Bann eines „Entklerikalisierungsprogramms“, demzufolge die katholischen Laien sich ganz von der kirchlichen Leitung loslösen und in sämtlichen Fragen des öffentlichen Lebens, so auch auf den Gebieten der Kunst und Wissenschaft, den Klerus vollständig ausschalten wollten. Ja nach dem Verfasser stehe zu befürchten, dass die katholischen Laien sich von der Teilnahme an kirchlichen Fragen im öffentlichen Leben vollends dispensierten. Diese maßlose wie sachlich ungerechtfertigte Anklage wurde entschieden zurückgewiesen mit dem Hinweis, dass im katholischen Deutschland Klerus und Laien bisher stets im besten Einvernehmen für die gemeinsame große Sache gearbeitet hätten; man hoffe sehr, dass die
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fe Zurückweisung des Privatdozenten für semitische Philologie Dr. Franz Cöln sowie eines namentlich nicht genannten angesehenen Geistlichen: P. Albert Weiß und die in Berlin studierenden Priester, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 544 vom 26. Juni 1911. Dieser Protest habe „großes Aufsehen gemacht und sehr eingeschlagen“, worauf auch Vatikankreise hingewiesen werden sollten (F.-X. Bachem an Kappenberg, Köln, den 29. Juni 1911, in: HASt Köln, Depositum Karl Bachem 1006/331 b). Weiß, Lebens- und Gewissensfragen, Bd. 1, S. 357f. Kölnische Volkszeitung, Nr. 529 vom 22. Juni 1911.
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Verdächtigungen nach Art der erwähnten nicht imstande sein werden, verderbliches Misstrauen zwischen ihnen zu säen.19 Da die Gesinnungsgenossen von P. Weiß dessen „herrliches Werk“ (Franz Xaver Heiner) als „ein wahrhaft providentielles Buch“ priesen, das „ein Markstein der Zeit und eine Feuersäule“ sei, um „die Katholiken durch die Wüste dieses Lebens ins gelobte Land Kanaan zu führen“ 20, und dem sie als „einer katholischen Leistung von hoher Bedeutung“ 21 höchstes Lob zollten und das sie als „Evangelium für Zeit- und Streitfragen“ (Josef Frohberger) stilisierten sowie die darin enthaltenen „ernsten und beachtenswerten Worte über die wahre Reform“ als „das richtige Heilmittel für die Schwächen unserer Zeit“ angesichts der herrschenden religiösen Indifferenz und der Abkehr von der Heilsordnung in kräftigen Tönen empfahlen 22, sahen „Köln-M.-Gladbacher“ Kreise – namentlich maßgebliche Persönlich———— 19
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Hierzu das in Anm. 11 Ausgeführte. Als einer der ersten Kritiker des Sammelbands hatte sich der im Zentrum einflussreiche Julius Bachem (1845- 1918) unter anderem gegen diese infame Denunzierung und gegen die irrige Interpretation eines von ihm im Berliner Tag vom 11. September 1909 veröffentlichten Artikels, auf den Weiß sich bezog (Bd. 1, S. 405), vehement zur Wehr gesetzt: „Wie ist es möglich, dass solche ‚Missverständnisse‘ entstehen? Ich habe jedenfalls nicht vor, mir dieselben gefallen zu lassen. Wer weiß, was sonst noch weiter aus meinem Satz gemacht wird, was insbesondere eine gewisse angenehme Presse Frankreichs und Italiens daraus macht, die in ‚Missverständnissen‘ auf Kosten einer ihr missliebigen ‚Richtung‘ der deutschen Katholiken ohnehin das Menschenmögliche leistet!“ (Kölnische Volkszeitung, Nr. 470 vom 2. Juni 1911). Unter Bezug auf diese Veröffentlichung erklärte Weiß schon am folgenden Tag in einem Brief an J. Bachem, der von diesem verwendete Ausdruck „Sorge für die Selbständigkeit und Freiheit der katholischen Kirche“ sei „dogmatisch nicht korrekt“. Denn weder das Zentrum noch irgendein gewöhnlicher Christ könne für die Kirche, für ihre Freiheit usw. eine Sorge ausüben. Nach kirchlichem Sprachgebrauch bedeute „Sorge“ (cura, sollicitudo) die Ausübung der Kirchengewalt, die allein dem Papst zustehe. Selbst den Bischöfen stehe laut Gregor dem Großen lediglich ein „Teil der Sorge“ (partum sollicitudinis) zu (Weiß an J. Bachem, Freiburg / Schweiz, den 3. Juni 1911; Abschrift in: HASt Köln, 1006 / 311 b). In einer Replik präzisierte Letzterer seine Auffassung, indem er unterstrich, einen politischen Sachverhalt in einem politischen Blatt und nicht in einer theologischen Zeitschrift abgehandelt zu haben. „Sorge“ im Sinn seines Artikels heiße auch für den unbefangenen Laien nichts anders als „eintreten“. Bei diesem Ausdruck werde niemand an einen „Übergriff in die kirchliche Domäne“ denken. Im Übrigen verderbe die seit einiger Zeit oft in kleinlichster Art betriebene „Silbenstecherei und -tüftelei“ den noch „auf Selbstachtung und Unabhängigkeit innerhalb der berechtigten Grenzen haltenden katholischen Laien die Lust am Eintreten für die katholischen Interessen in unserem Vaterlande. Überall stößt man auf dieses Empfingen, auch bei den kirchlich korrekten Laien.“ Seine „rückhaltlosen Bemerkungen“ rechtfertigte Bachem abschließend mit der lapidaren Feststellung, dass ihn dazu die tiefe Sorge um die gegenwärtige Entwicklung der Dinge veranlasst hätte (J. Bachem an Weiß, Köln, den 16. Juni 1911; Durchschrift: ebd.). Zwei Tage später hat Weiß geantwortet: versöhnlich im Ton, streng in der Sache (Abschrift: ebd.). Kommentar von J. Bachem zum Brief: P. Weiß sei kein „Bösewicht, nur ein überspannter weltfremder Skrupulant“ (Abschrift: ebd.). Canisiusstimmen, zugleich Stimme Mariä 34 (1911), S. 231. Alfons Bellesheim, Das neue Werk von Albert Maria Weiß O. Pr., in: Historisch-politische Blätter 148 / II (1911), S. 224- 229, hier S. 229. Hierzu ein markanter Beleg eines Auditors der Rota Romana: Franz Heiner, Eine Diagnose, in: Allgemeine Rundschau. Wochenblatt für Politik und Kultur, Nr. 23 vom 10. Juni 1911, S. 387f.
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keiten der Bachem-Familie – die politischen Anliegen und programmatischen Ziele des Zentrums, die in mühseliger Arbeit langer Jahre geschaffen worden waren, ernstlich bedroht. Nach Meinung von Julius Bachem werde deshalb unter den derzeitigen Verhältnissen das „geradezu unheilvolle Buch“, das von einem „ungesunden, fast krankhaften Pessimismus“ geprägt sei, nachhaltig dazu beitragen, den Unmut und die Verdrossenheit in engagierten katholischen Laienkreisen, die Veröffentlichungen wie die von P. Weiß als „eine schreiende Ungerechtigkeit, fast als eine persönliche Beleidigung“ empfänden, zu steigern. Diese besorgniserregende Situation erführe eine zusätzliche Verschärfung, wenn es den Anhängern der Weiss’schen Richtung in Rom gelänge, ein päpstliches Belobigungsschreiben zu erwirken, denn dann erreichte „die Verwirrung den Höhepunkt“. In diesem Fall sei es unmöglich, „eine große einheitliche Aktion angesichts der Reichstagswahlen zu machen“. Man müsse sich vielmehr darauf gefasst machen, dass die Zentrumspartei im Deutschen Reich einer ähnlichen Katastrophe entgegentreibe, wie sie soeben die „Christlichsoziale Partei“ in Österreich – das Pendant zum Zentrum – habe erleben müssen.23 Um ein derartiges Unheil abzuwenden, wäre es das Beste, der deutsche Gesamtepiskopat oder wenigstens der preußische Episkopat machte seine ganze Autorität geltend, „um in Rom einen Schritt zu verhindern, der von ganz unabsehbaren Konsequenzen sein würde. Vielleicht könnte der Episkopat auch ein Wort der Beruhigung und Ermunterung an die katholische Bevölkerung richten, wie es die Lage erheischt.“ 24 Man war vielfach unschlüssig, wie man sich besagter Publikation gegenüber verhalten solle. Karl Bachem (1858-1945) beispielsweise hatte anfänglich gemeint, man solle sie einfach ignorieren oder allenfalls „nur eine ganz kühle Ankündigung“ bringen. Unter allen Umständen wollte er jedoch vermieden wissen, dass „wieder ein Spektakel aus der Sache“ entstehe.25 Man ———— 23
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Diese 1893 von Karl Lueger gegründete demokratische Partei, die sich unter ihm zu einer Massenpartei entwickelte, erlitt bei den Wahlen 1911 eine empfindliche Niederlage; in Wien verlor sie ihre Stimmenmehrheit an die Sozialdemokraten. Zu Person und Wirken: John W. Boyer, Karl Lueger (1844 -1910). Christlichsoziale Politik als Beruf. Eine Biografie (Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 93), WienKöln-Weimar 2010. J. Bachem in gleichlautenden Schreiben vom 21. Juni 1911 an den Paderborner Bischof Karl Joseph Schulte (1871-1941), dem späteren Erzbischof und Kardinal von Köln (1920 -1941), sowie an den Bischof von Hildesheim, Adolf Bertram (1859- 1945), dem späteren Fürstbischof bzw. Erzbischof und Kardinal von Breslau (1914-1945); Durchschrift in: HASt Köln, 1006/311 b. K. Bachem an Froberger, Steglitz, den 12. Juni 1911; Durchschrift: ebd. Offensichtlich dachte hier der rheinische Justizrat und Zentrumspolitiker an die ungestüme Polemik mit den integral-konservativen Kontrahenten im Zusammenhang mit dem am 3. Juli 1907 von der Kardinalkongregation der Inquisition erlassenen Dekret „Lamentabili sane exitu“ sowie insbesondere an die am 8. September 1907 er-
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befand sich in einem echten Dilemma. Denn jede zu weit gehende unfreundliche Behandlung des neuesten Werks des Dominikaners würde die einseitig kirchlich denkenden Elemente der Zentrumspartei zurückstoßen, die man jedoch unbedingt benötige, falls man bei den nächsten Wahlen nicht scheitern wolle. Derzeit stelle das Zustandekommen einer liberalsozialistischen Mehrheit die größte „religiöse Gefahr“ für das Zentrum dar. Deshalb sei es unerlässlich, „auch die einseitig kirchlich denkenden Elemente stramm bei der Stange zu halten, damit die Einigkeit, welche sowieso schon gelitten hat, nicht noch mehr leidet“. Dies könne erreicht werden durch „eine freundlich entgegenkommende Besprechung“, die „in möglichst milden und sanften Worten die Übertreibungen zurückweist“ und die im Übrigen „den Eifer des Pater Weiß für die Reinerhaltung der kirchlichen Lehre warm anerkennt“.26 Zwischen Befürwortern und Gegnern verschärfte sich binnen Kurzem der Ton im Bewerten der Darlegungen des Freiburger Gelehrten. Da dessen neuestes Oeuvre von seinen Gesinnungsgenossen in der Öffentlichkeit für ihre Zwecke ungestüm instrumentalisiert wurde, sahen sich die Redakteure der Kölnischen Volkszeitung veranlasst, sich damit eingehend zu beschäftigen und sich über das Prozedere in der misslichen Angelegenheit Gedanken machten. Sie gelangten schließlich einmütig zum Ergebnis, dass man an einer maßvollen Sachkritik nicht herumkomme. Zwei Gründe waren für diese Entscheidung ausschlaggebend: Ließe man Bücher wie das des Dominikaners kritiklos passieren, so trüge man selbst dazu bei, dass dessen Ideen sich allmählich in den bedeutsamsten katholischen Kreisen durchsetzten. Weiter zu schweigen führe dazu, den Ast abzusägen, auf dem man sitze, weil man die eigene Grundposition untergrübe und elementare politische Interessen verriete. Deshalb sei es wegen der zu befürchtenden fatalen Folgewirkungen sehr wichtig, maßgebende Persönlichkeiten, beispielsweise Bischöfe, die der „Politik“ der Kölnischen Volkszeitung näher stünden, auf ————
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schienene Enzyklika „Pascendi dominici gregis“ Pius‘ X., in der über die unter dem Terminus „Modernismus“ zusammengefassten Ideen, Postulate und Zeitirrtümer lehramtlich das vernichtende Pauschalverdikt gesprochen worden war, und an die turbulenten Vorgänge um die Borromäus-Enzyklika vom 26. Mai 1910. Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen hatte man „die besten Männer des deutschen Katholizismus [...] verdächtigt und das ganze Zentrum als modernistisch gerichtet verketzert“ (Karl Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei, Bd. 7, Köln 1930, S. 185). Josef Eisele (1876-1957), Repräsentant und Chefredakteur der Kölnischen Volkszeitung in Berlin, meinte am 17. Juni 1911 gegenüber der Schriftleitung bezüglich der Reaktion auf die skandalöse Publikation von P. Weiß, auch aufgrund der facettenreichen Strömungen innerhalb der Zentrumspartei: „Nur keine Staatsaktion. Nur kein Donnerkeil, als wollten wir mal wieder einen abschlachten. Wenn’s nötig wird, dann können wir das immer noch“ (HASt Köln, 1006 / 311 b). K. Bachem, Pro not[itia]! [Gedächtnisvermerk] vom 12. Juni 1911, ebd.
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die gravierenden Bedenken hinsichtlich der in diesem Werk propagierten Ansichten aufmerksam zu machen, die „sonst vielleicht zu arglos“ sich der Lektüre widmeten. Die Redaktionsteilnehmer hielten Josef Froberger (18711931) 27, der als theologischer Berater der Kölnischen Volkszeitung fungierte, für die geeignetste Person, eine diesbezügliche Stellungnahme zu entwerfen, die man hinterher sorgfältig prüfen wolle. Karl Bachem solle sich mit Froberger in Verbindung setzen und ihn um eine entsprechende Expertise ersuchen.28
3. Frobergers „Bericht“ über das neueste Werk von P. Weiß Schon bevor K. Bachem gebeten wurde, Kontakt mit Froberger aufzunehmen, hatte er diesem die beiden Bücher von P. Weiß zur Lektüre gesandt mit der Bitte, ihm seine Meinung darüber zur eigenen Urteilsbildung mitzuteilen. Froberger zufolge enthielten sie „wieder sehr starken Tabak“. So behaupte beispielsweise ihr Verfasser, dass die Vertreter der „christlichen“ Weltanschauung nicht bloß eine Mischreligion für Katholiken und Protestanten kreierten, vielmehr „sogar auf die „christliche Basis“ Harnacks zurückgehen wollten, was nach K. Bachem „skandalöser Unsinn“ sei. Trotzdem befand er, man solle die Angelegenheit möglichst kühl und ruhig behandeln. Ginge man gegen den Dominikaner scharf vor, obwohl er es redlich verdient hätte, so gäbe das wieder „einen ungeheuren Skandal“, der jetzt vor den Wahlen unbedingt vermieden werden müsse 29, zumal derzeit der Katholizismus in mehreren europäischen Ländern empfindliche Einbußen ———— 27
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Josef Froberger, von 1905 - 1910 Provinzial der Weißen Väter, war ein absolut zuverlässiger, korrekter, überaus sachkundiger Theologe und prominenter Wissenschaftler. Von den Ultrakonservativen war er als Modernist verdächtigt und geschmäht worden. Von Rom war er vor die Wahl gestellt worden, seine publizistische und literarische Tätigkeit aufzugeben oder seinen Orden zu verlassen. Ein halbes Jahr nach Beendigung seines Provinzialats im Juni 1911 hatte er sich für die Exklaustrierung entschieden. Unter Mithilfe des Kölner Erzbischofs Antonius Fischer (1840 -1912) ließ er sich in seine Straßburger Heimatdiözese als Weltpriester inkardinieren. Ein aufschlussreicher wie beeindruckender Nachruf von Karl Hoeber, Dr. Josef Froberger, in: Die Bücherwelt. Zeitschrift des Borromäusvereins 28 (1931), S. 442 - 444. J. Bachem an K. Bachem, Köln, den 14. Juni 1911, in: HASt Köln, 1006 / 311 b. Nach dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stagnierte die Zentrumswählerschaft. Bei der Reichstagswahl 1912 verlor das Zentrum, wohl auch wegen der internen Querelen, etwa 183.000 Wähler, was neben anderen Gründen die Parteiführung zwang, die Organisation auf Reichsebene zu straffen. Zu den Wahlen von 1912: Jürgen Bertram, Die Wahlen zum Deutschen Reichstag vom Jahre 1912. Parteien und Verbände in der Innenpolitik des Wilhelminischen Reiches, Düsseldorf 1964; speziell zum Zentrum: Winfried Becker (Hrsg.), Die Minderheit als Mitte. Die deutsche Zentrumspartei in der Innenpolitik des Reiches 1871-1933, Paderborn 1986.
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erlitte. Auch in Deutschland sei zu befürchten, dass die „Großblockpolitik“ siegen werde. Da P. Weiß und andere Leute diese „religiöse Gefahr“ nicht sähen, sei es umso mehr Pflicht der „Kölner“, ihr zu begegnen. Zu diesem Zweck wolle Froberger eine Instruktion für den Korrespondenten der Kölnischen Volkszeitung in Rom 30 anfertigen, damit er sich den Büchern von P. Weiß entsprechend zu verhalten wisse. Ferner beabsichtige er, einen detaillierten Bericht über die gesamte Sachlage an Kardinal Fischer 31 zu schicken, damit er sie in Rom zur Sprache bringe, sowie einen Artikel für die Kölnische Volkszeitung zu schreiben.32 Am 18. Juni 1911 hatte Froberger sein Gutachten fertiggestellt und es dem Kölner Erzbischof, Kardinal Antonius Fischer in Berlin übergeben. Dieser hatte unter anderem, wie jener von K. Bachem erfuhr, im Preußischen Herrenhaus eine Rede zu halten. Fischer war über den Inhalt des Weiß’schen Werks „sehr betroffen“ und wollte deswegen sogleich dem Papst schreiben, denn auch er fürchtete ein Breve. Außerdem setzte Froberger den Breslauer Rechtsanwalt Felix Porsch (1853-1930) in seiner Eigenschaft als Fraktionsvorsitzenden des Zentrums in Preußen davon umfassend in Kenntnis, der seinerseits die Landtagsfraktion darüber unterrichtete. Wegen der harschen Kritik des Dominikaners an der Zentrumspar———— 30
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Es handelt sich um Ernst Kappenberg – Pseudonym Romanus –, der für die Berichterstattung über kirchliche Angelegenheiten zuständig war. Am 22. Juni 1911 hat der Kardinal in Rom schriftlichen Protest gegen das Buch erhoben (F.-X. Bachem an Kappenberg, Köln, den 29. Juni 1911; Abschrift in: HASt Köln, 1006 / 311 b). Antonius Fischer, von 1903 bis zu seinem Tod 1912 Erzbischof von Köln, vertrat gegenüber dem Reformkatholizismus und neueren Bestrebungen der Theologie eine eher ablehnende Position. Dagegen zeigte er sich im so genannten Gewerkschaftsstreit aufgeschlossen, da er davon überzeugt war, dass die katholischen Arbeiter ihre berechtigten Anliegen am wirksamsten in interkonfessionellen Christlichen Gewerkschaften erreichten statt in katholischen, von der Hierarchie abhängigen Verbänden. Froberger hatte am 14. Juni 1911 K. Bachem in dessen Wohnung in Steglitz aufgesucht. Bei der Gelegenheit unterhielten sie sich eingehend über das Opus von Weiß. Der Zentrumspolitiker war empört, als er von Verleumdungen hörte, wonach besagtes Werk bereits vor seinem Erscheinen Verfolgungen ausgesetzt gewesen sei und dass die Berliner Dominikaner behaupteten, „die Bachems“ hätten alles Mögliche versucht, damit es der Herder Verlag zurückziehe. Bei diesen Versuchen sei er selbst beteiligt gewesen. Er habe aber erst in der Zeitung von den beiden Büchern erfahren. Verbittert notierte er: „Es ist wirklich ein Jammer, dass hier in Berlin kein einziger Geistlicher ist, der den nötigen weiten Blick hat, um alle diese törichten Treibereien richtig einschätzen zu können. Ich bin jetzt hier vollständig isoliert, und auf Schritt und Tritt begegnen mir die Geistlichen, wo immer ich einen treffe, mit einer solchen Zurückhaltung, dass es mir geradezu peinlich ist, mit einem Geistlichen zusammenzutreffen. Nicht ein einziges Mal ist von den Dominikanern einer bei mir gewesen, um mich zu fragen, ob alle die Dinge, die erzählt werden, richtig sind. Das hält man nicht für nötig. Dagegen wird unausgesetzt Stimmung gegen mich gemacht wie überhaupt gegen die Bachems und die ‚Kölner Richtung‘ [...]. Es bleibt uns nichts übrig, als einstweilen ruhig stille zu halten und abzuwarten [...]. Wenn es so weitergeht, wird nicht nur die Stellung des Katholizismus im öffentlichen Leben, sondern auch das religiöse Leben in der Kirche schwere Einbuße erleiden“ (Gedächtnisvermerke von K. Bachem vom 16. Juni 1911, in: ebd.).
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tei verfassten die Mitglieder der preußischen Abgeordnetenkammer Domprobst Franz Dittrich (1839-1914) von Frauenberg und Stiftsprobst Franz Kaufmann (1862-1920) in Aachen im Auftrag ihres Vorsitzenden eine offizielle Stellungnahme gegen die Vorwürfe.33 Porsch selbst wandte sich im Namen des Vorstands der Zentrumsfraktion des Preußischen Abgeordnetenhauses am 28. Juni an die Herdersche Verlagsbuchhandlung und ersuchte sie, „dafür sorgen zu wollen, dass in einer etwaigen zweiten Auflage des Buches derartige unrichtige und ungerechte Äußerungen über das Zentrum ausgemerzt werden, wenn Sie nicht schon jetzt Schritte zu einer Richtigstellung tun wollen“.34 ———— 33
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Nochmals: Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart von P. Albert Maria Weiß, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 540 vom 24. Juni; wieder abgedruckt in der Schlesischen Volkszeitung, Nr. 287 vom 27. Juni sowie unter der Überschrift „P. Albert Maria Weiß und das Zentrum“ in der Germania, Nr. 145 vom 28. Juni 1911; zur Verfasserschaft des Artikels: O. Weiß, Modernismus und Antimodernismus, S. 167f. Bei seiner Kritik der Missstände im Zentrum hatte sich P. Weiß in einer „bodenlosen Leichtfertigkeit“ auf den Berliner Korrespondenten der Neuen Züricher Nachrichten, einen einundzwanzigjährigen Studenten, berufen, der als „ein bekannter Korrespondent“ bezeichnet worden war. Der Vorstand der Preußischen Zentrumsfraktion hatte dessen Veröffentlichungen über das Zentrum als „vollständig unmaßgeblich“ abgelehnt (Porsch an die Herdersche Verlagsbuchhandlung, Berlin, den 28. Juni 1911; Abschrift in: Archiv der Görres-Gesellschaft, Nr. 4). Dieser in mehreren Zeitungen publizierte Artikel, den Weiß charakterisierte als einen „übelwollenden und gröblich entstellenden Bericht“, in dem zum Kampf gegen sein Buch aufgerufen werde und der den Zweck verfolge, „damit nicht etwa der Papst ins Mittel trete“, „denn dann könne man sich kaum noch wehren“, hatte ihn sehr erbost. Auch deshalb, weil das Zentrum einen armseligen Ordensmann offenbar nicht für hoffähig hielt und weil man an seinen Verleger herangetreten war, um von ihm Erklärungen verlangte. Um der Gerechtigkeit und Wahrheit willen schlug Weiß eine Erklärung zur „Klarstellung der Sache“ vor, welche „die Ehre des Zentrums“ schone (Abschriftlicher Auszug aus dem Brief von P. Weiß an Oppersdorff, in: HASt Köln, 1006 / 311 a). Im gleichen Anliegen wandte sich Weiß am 1. Juli 1911 an die Herdersche Verlagshandlung und verlangte Genugtuung für seine Person (Abschrift: ebd.); diese setzte ihrerseits Porsch Tags darauf davon in Kenntnis: ebd. Von der Beschwerde des Dominikaners in Kenntnis gesetzt, warf Graf Oppersdorff dem Vorstand der Preußischen Zentrumsfraktion vor, als Steigbügelhalter von Julius Bachem zu fungieren (Oppersdorff an Porsch, Berlin, den 4. Juli 1911; Abschrift: ebd.). Porsch wehrte sich gegen „diese wenig geschmackvolle Unterstellung“ und stellte klar, dass der Vorstand bei diesem Schritt mit J. Bachem „nicht die geringste Fühlung gehabt“ habe, sondern dass er „lediglich zur Wahrung von Interessen des Zentrums gehandelt“ habe (Porsch an Oppersdorff, Breslau, den 5. Juli 1911; Abschrift: ebd.). Zur weiteren aus diesem Vorgang sich ergebenen Korrespondenz zwischen beiden Kontrahenten siehe folgende Anmerkung. HASt Köln, 1006 / 311 a. Am selben Tag informierte Porsch Georg Freiherr von Hertling über diesen Vorgang und fügte als Anlage sein Schreiben an den Verleger Hermann Herder bei (Archiv der GörresGesellschaft, Nr. 4). Als Vorsitzender der Zentrumsfraktion der Reichstags fühlte sich Hertling verpflichtet, sich am 30. Juni 1911 an Herder zu wenden und ebenfalls gegen die dem Zentrum gemachten Vorwürfe Verwahrung einzulegen (Abschrift: ebd.). Am 21. Juni 1911 hatte auch Franz-Xaver Bachem seinem Verlegerkollegen Herder sehr eindringlich geschrieben und ihm auch ein Exemplar der Expertise Frobergers mitgesandt, „um ihm den ganzen Ernst der Sache klar zu machen“ (Durchschrift des Briefs vom 23. Juni 1911 von F.-X. Bachem an Peregrinus, Pseudonym von Josef Froberger, in: HASt Köln, 1006 / 311 b). Durch Hermann Herder von diesen kritischen Stimmen verständigt, reagierte P. Weiß äußerst empfindlich (Weiß an Herder, Freiburg / Schweiz, den 1. Juli 1911). Der Streit um die
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Am 20. Juni traf Frobergers Bericht über die Schrift „Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart“ in der Redaktion der Kölnischen Volkszeitung ein, wo er an einigen wenigen Stellen geringfügig verändert wurde.35 Danach enthielt sie „die schwersten Angriffe gegen die deutschen Katholiken“ und war geeignet, „große Verwirrungen anzurichten, und das gerade in einem Zeitpunkte, in dem wegen der nahenden Reichstagswahlen Einigkeit und Sicherheit doppelt notwendig wären“. Es sei vorauszusehen, dass das neueste Werk von P. Weiß mit dessen „unglückseliger Zitatenmethode“, die er schon früher ungeschickt betätigt habe, wieder Anlass zu einem gewaltigen Widerstreit der Meinungen geben werde, zumal er aus seinem pessimistischen Lebensgefühl „ein überaus düsteres Bild“ des deutschen Katholizismus zeichne, das hauptsächlich in maßgebenden Kreisen des Auslands geradezu verhängnisvoll wirken könne. Seine Attacken richteten sich primär gegen die politischen und sozialen Organisationen der deutschen Katholiken, als deren Grundübel er die so genannte „christliche Basis“ ausmache, die alle Dogmen ablehne und sich „auf einige moralische Prinzipien beschränke“.36 P. Weiß zufolge hatten das Zentrum und die christlichen Gewerkschaften als Organisationen sich vollständig von der Kirche losgelöst. Das gesamte gesellschaftlich-politische Engagement und die soziale Tätigkeit der deutschen Katholiken seien auf einer dogmenlosen Basis aufgebaut.37 Den Politikern werfe er vor, die Grundsätze des christlichen Lebens und die katholische Glaubensdoktrin nach den Bedürfnissen der Politik auszulegen, und behaupte, die politische Wirksamkeit und das nationale Leben seien der Maßstab, nach dem entschieden werden müsste, was vom Christentum in der Öffentlichkeit noch Geltung und Anwendung finden solle und was nicht. Wer die Ausführungen über Politik und Politiker lese, gewinne den Eindruck, „das Zentrum sei vollständig verrottet und verrate geradezu die katholischen Inte————
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Schrift eskalierte, als Hans Georg Graf Oppersdorff (1886-1948), geborenes Mitglied des Preußischen Herrenhauses und entschiedener Gegner der „Köln-M.-Gladbacher Richtung“, das Vorgehen von Porsch gegen den Ordenspriester eine massive Agitation gegen jenen und die „Kölner“ in Szene setzte: Zu den Einzelheiten: August Hermann Leugers-Scherzberg, Felix Porsch (1853 -1930). Politik für katholische Interessen in Kaiserreich und Republik (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen, Bd. 54), Mainz 1990, S. 165 -177. Die beiden Fassungen: HASt Köln, 1006 / 311 b; in der Literatur wird Frobergers „Bericht“ meist mit „Gutachten“, „Denkschrift“ oder „Zirkular(e)“ wiedergegeben. Die Annahme von Manfred Bierganz, wonach Chefredakteur Cardauns das Gutachten verfasst habe, ist in seiner Biographie „Hermann Cardauns (1847-1925). Politiker, Publizist und Wissenschaftler in den Spannungen des politischen und religiösen Katholizismus seiner Zeit“, Diss. Aachen 1977, S. 325 zu korrigieren. Siehe: Weiß, Lebens- und Gewissensfragen, Bd. 1, S. 67 und S. 152. Bericht Frobergers, S. 1f.
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ressen; in der Öffentlichkeit dürfe man nicht mehr das Wort ‚katholisch‘ nennen.“ Ebenso erhebe der Verfasser eine lange Reihe von massiven Anklagen gegen die katholischen Laien, die er unter dem Schlagwort „Laisierung des öffentlichen Lebens“ subsumiere. Das Heil erwarte man allein von Politik und Wissenschaft. Selbst den Bischöfen werfe er vor, ihre Pflicht vernachlässigt zu haben, weil sie gegen Übelstände und Missbräuche nicht rechtzeitig eingeschritten seien.38 Man könne, so Froberger, über hundert lange Passagen anführen, die ähnliche Übertreibungen und Maßlosigkeiten wie die zuvor erwähnten enthalten. Er verwerte bloß auf Klatsch beruhende mündliche Schilderungen, etwa die Geschichte des katholischen Journalisten, der am Pfingstsonntag noch am Mittag im Bett liege, weil er während der Woche genügend für die katholische Sache gearbeitet habe, um sich den Kirchenbesuch zu schenken, und halte diesen Fall als typischen Beleg für die von P. Weiß beklagte laxe Glaubenshaltung. Überhaupt spreche dieser schlecht von der katholische Presse.39 Als Fazit hält Froberger fest: „Das Buch wimmelt also von großen Ungerechtigkeiten, ist mit verletzender Bitterkeit geschrieben und kann der katholischen Sache wenig nützen, wohl aber schweren Schaden zufügen. Es wird auf Jahre hinaus für gewisse Kreise eine Fundgrube zu maßloser Hetze sein [...]. Mit dem ‚Germania docet‘ ist es wohl gründlich vorbei. Es ist besonders zu fürchten, dass man in Rom dieses Buch als eine objektive Darlegung unserer Lage betrachte; und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, ist ohne Schwierigkeit abzusehen. Den in Rom so einflussreichen Franzosen ist es recht, wenn Deutschland in einen möglichst großen Geruch der Häresie gelangt. Und hat sich die ungünstige Meinung einmal in Rom festgesetzt, namentlich in den untergeordneten Prälatenkreisen, so wird sie sobald nicht verschwinden. Wenn noch zudem ein Breve des hl. Vaters an P. Weiß seinem Buch einen offiziellen Stempel aufdrücken sollte, wie zu befürchten ist, so ist die Lage doppelt schwer, weil man aus Ehrfurcht gegen den hl. Vater sich ———— 38 39
Ebd., S. 2 - 4. Ebd., S. 4. Seit längerem wurde diese Journalistengeschichte mit dem Messeversäumnis am Pfingstsonntag von gewissen Kreisen eilfertig kolportiert. Mehrmals sei sie schon bei geistlichen Exerzitien angeführt worden, um zu beweisen, wie schlecht die deutschen Katholiken seien. Man sollte sie sachlich, in möglichst humoristischer Weise beleuchten und ihr endlich den Garaus machen (Froberger an K. Bachem, Berlin, den 25. Juni 1911, in: HASt Köln, 1006 / 311 b). Wie aus der Randbemerkung von P. Weiß auf seinem Exemplar des Gutachtens von Froberger zu entnehmen ist, gab es de facto besagten Journalisten. Bei ihm handelt es sich um den streitlustigen Nationalbayern und Herausgeber des Bayerischen Vaterlands, Johann Baptist Sigl (1839 -1902), „der beim besten Willen nicht als der Normalfall im katholischen Journalismus gelten konnte“ (O. Weiß, Modernismus und Antimodernismus, S. 170 Anm. 103).
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kaum mehr wehren kann. Darum ist das Erscheinen dieses Buches ein großes Unglück. Unter den gebildeten Katholiken Deutschlands herrscht ohnehin infolge ungesund pessimistischer und ungerecht nörgelnder Schriften aus dem katholischen Lager schon eine große Müdigkeit; und bei vielen hat der rechte Schwung für die katholische Sache bedeutend gelitten. Es ist zu befürchten, dass durch solche Übertreibungen und Ungerechtigkeiten diese Müdigkeit zunehme und viele gute Kräfte sich von der Vertretung der katholischen Sache in der Öffentlichkeit ganz zurückziehen. Wäre nicht noch viel Vertrauen zu unseren Bischöfen vorhanden, so würde es noch weit schlimmer stehen.“ 40 Froberger hatte darüber hinaus für die Kölnische Volkszeitung einen Artikel konzipiert, der weithin dem Grundduktus seines Berichts folgte. Darin werden bestimmte Aspekte und neuralgische Punkte näher expliziert sowie der Unmut von P. Weiß über die Zustände innerhalb des deutschen Katholizismus als ungerechtfertigt zurückgewiesen. Bei aller handfesten Kritik ist der Beitrag insgesamt sachlich gehalten. Um nicht alles noch schlimmer zu machen, hat man bewusst auf Polemik verzichtet. Die Ausführungen schließen mit dem Wunsch, der Verfasser möge den Katholiken in Deutschland, aber ebenso denen in Österreich, die sich in einer vergleichbaren schwierigen Lage befänden, ein Buch schenken, das als zentrale Botschaft „Einigkeit, Freudigkeit und Ermutigung“ zum Inhalt hat.41 Inzwischen waren in Zeitungen und Zeitschriften der Antagonisten weitere, betont anerkennende Besprechungen des neuesten Werks von P. Weiß erschienen, unter anderem in der Fribourger Liberté 42 drei Artikel vom ———— 40
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Bericht Frobergers, S. 4f. Wegen der Brisanz wie auch der Intransigenz der Weiß’schen Darlegungen und ihrer denkbaren Negativfolgen waren die „Kölner“ Akteure vor allem darauf bedacht, die ihnen wohlgesinnten Bischöfe auf diese Gefahr für den deutschen Katholizismus aufmerksam zu machen. Zu diesem Zweck gab man zunächst dem Kölner Erzbischof Fischer Frobergers Gutachten, außerdem schickte man es den Bischöfen von Paderborn und Hildesheim zur Kenntnisnahme (beachte hierzu Anm. 24). Bischof Schulte von Paderborn teilte die Befürchtung, „dass das neue Buch von Weiß wegen vieler Übertreibungen die Verstimmung in weiten katholischen Kreisen Deutschlands steigern wird“. Der Autor sei „ein viel zu pessimistischer und rücksichtsloser Kritiker der Gegenwart, der es nicht liebt, seine Urteile mit vorsichtig abgewogenen Bedingungen auszusprechen“ (Schulte an F.-X. Bachem, Paderborn, den 29. Juni 1911; Abschrift in: HASt Köln, 1006 / 311 b). Der anonyme Artikel erschien unter der Überschrift „Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart“ in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 529 vom 22. Juni 1911. Er ist mit dem Korrespondentenzeichen von Franz Xaver Bachem versehen. Dies lässt vermuten, dass dieser beziehungsweise die Redaktion Frobergers Fassung überarbeitet und ergänzt haben, jedenfalls dass der Verleger selbst für den Inhalt verantwortlich zeichnete. Die am 10., 13. und 14. Juni erschienenen Beiträge sind am 21., 22. und am 27. Juni 1911 ebenfalls in der von Msgr. Umberto Benigni (1862-1934) herausgegebenen Correspondance de Rome publiziert
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Nationalrat Caspar Decurtins (1855-1916), einem ultramontanen christlichen Sozialpolitiker und Mitbegründer der Universität Freiburg/Schweiz, in dem von Anton Mauß (1868-1917), einem aus Köln stammenden und in St. Pölten geweihten Priester, herausgegebenen Österreichs Katholisches Sonntagsblatt 43 und in den Historisch-politischen Blättern von dem als Antimodernisten bekannten Zentrumspolitiker Matthias Erzberger (1875-1921).44 Durch diese Veröffentlichungen wurde die feindselige Atmosphäre zwischen beiden Lagern zusätzlich angeheizt, und der Meinungsstreit über die jeweiligen Grundpositionen erhielt durch sie frische Nahrung. Um der heillosen Zerrissenheit und zunehmenden Polarisierung im deutschen Katholizismus zu wehren, wurde das Gutachten von Froberger in hoher Zahl angefertigt und prominenten Persönlichkeiten in Kirche und Staat zugestellt, um diese auf das nach Überzeugung der „Kölner“ besorgniserregende neueste Werk von P. Weiß hinzuweisen. Mehrere Exemplare ließ Verleger F.-X. Bachem (1857-1936) verschiedenen Prälaten mit einem Begleitschreiben durch den römischen Korrespondenten der Kölnischen Volkszeitung Kappenberg im Vatikan übergeben.45 Zugleich sollte dieser Kardinalstaatssekretär Raffaele Merry del Val (1865-1930) auf die Erklärung der Preußischen Landtagsfraktion des Zentrums sowie auf den Protest der in Berlin studierenden Priester aufmerksam machen.46 Kappenberg hatte dann überdies dem bayerischen Vatikangesandten Otto Freiherr Ritter zu Groenesteyn (1864-1940) ein Exemplar des Gutachtens anlässlich eines ————
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worden. Unter Bezugnahme auf das „L’œuvre du P. Albert-Maria Weiß O.P, redigée en allemand“, heißt es: „Nous souhaitons qu’on en fasse sans retard une traduction française.“ Dieses Ersuchen veranlasste den Korrespondenten der Kölnischen Volkszeitung gegenüber ihrem Verleger zum Kommentar: Wie der Wind wehe, könne er auch an dieser Bemerkung sehen (Kappenberg an F.-X. Bachem, Rom, den 27. Juni 1911, in: HASt Köln, 1006 / 311 b). Katholisch oder christlich, Nr. 25 vom 18. Juni 1911. [Matthias Erzberger], Zeichen der Zeit, in: Historisch-politische Blätter 148/II (1911), S. 149-156. Im anonym erschienenen Artikel heißt es: „Aus den beiden Büchern von Pater Weiß kann das katholische Deutschland viel lernen, und es wäre schade, wenn man dies Werk mit der bisherigen Kritik totmachen wollte. Unter den Zeichen der Zeit hat Pater Weiß mit Recht die Halbheit so fest unterstrichen, mit der man schönen Worten zujubelt, aber vor der katholischen Tat zurückschreckt. Es ist eigentlich die Krankheit unserer Zeit, dass man nicht den Mut hat, den Worten konsequente Taten folgen zu lassen; und nirgends ist diese Krankheit mehr verbreitet als auf politischem Gebiete und im parlamentarischen Leben [...]. Man soll uns kennenlernen als Katholiken und Bekenner des Katholizismus ‚sans phrase‘; denn nur dieser Geist in uns kann siegreich bestehen“ (ebd., S. 150 und S. 156). Kappenberg an F.-X. Bachem, Rom, den 27. Juni 1911, in: HASt Köln, 1006 / 311 b. Auf Wunsch des Letzteren hatte Kappenberg die Expertise ins Italienische übersetzt, die Stelle mit dem befürchteten Breve jedoch ausgelassen, was K. Bachem indes für falsch und für eine übertriebene Ängstlichkeit hielt (siehe Anm. 48). F.-X. Bachem an Kappenberg, Köln, den 29. Juni 1911, ebd.
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Besuchs ausgehändigt. Dieser versprach, bei passender Gelegenheit ebenfalls über die Angelegenheit mit dem Kardinalstaatssekretär zu sprechen.47
4. Resonanz auf Frobergers Stellungnahme zum Buch von P. Weiß Am 4. Juli 1911 erschien in der Correspondance de Rome, dem offiziösen Organ des päpstlichen Staatssekretariats, der Artikel „Le «péril religieux» en Allemagne, documenté par ceux qui le nient“, der Frobergers Gutachten mit der von Kappenberg ausgelassenen Passage 48 in einer französischen Übersetzung brachte.49 Das mit sehr kritischen Anmerkungen versehene und „in einem ganz widerwärtigen, frivolen Ton“ geschriebene Schriftstück (Felix Porsch) wurde als Geheimzirkular der deutschen Modernisten und als Pendant mit den geheimen Dokumenten der „Anti-Index-Liga“ in Münster / Westf. bezeichnet.50 Einleitend heißt es darin, dieses Rundschreiben werde von einem nicht näher bezeichneten „Generalstab des deutschen Modernismus“ an alle mit ihm in Verbindung stehenden Zentren geschickt, um das Werk des Freiburger Professors mit allen Mitteln zu unterdrücken. Nach Meinung des bayerischen Vatikangesandten dokumentierte dieser offiziöse Ausfall wieder einmal, wie leichtfertig und falsch Vertrauensleute ———— 47 48
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Wie Anm. 45. Wegen besagter Auslassung befürchteten die Verfasser, der Verlag und die Redaktion der Kölnischen Volkszeitung, dass diese von den Opponenten nachteilig ausgelegt werden könnte. Deshalb sollte Kappenberg dem Kardinalstaatssekretär das Gutachten nochmals in Gänze überreichen und dabei bemerken, er habe von sich aus jene Passage weggelassen und sei deshalb beauftragt worden, den vollen Wortlaut erneut zu überreichen, denn man wünsche „keinerlei Heimlichkeiten und Hinterhältigkeiten“. Hinter dieser Maßnahme stand die taktische Überlegung: Komme die Sache zur Sprache, dann könne man erklären, die Denkschrift sei dem Kardinalstaatssekretär in ihrem vollem Wortlaut überreicht worden, sie sei also kein geheimes Dokument. Dieses Vorgehen erweise sich als umso nötiger, da die Correspondance de Rome diesen Passus inzwischen besonders auf die Gabel genommen habe (F.-X. Bachem an Kappenberg, Köln, den 12. Juli 1911; Abschrift in: HASt Köln, 1006 / 311 b). Da man in katholischen Kreisen über diesen Artikel sehr aufgebracht war und ihn vom päpstlichen Staatssekretariat inspiriert sah, brachte der Popolo Romano elf Tage später eine Wolff-Depesche, wonach Nuntius Andreas Frühwirth OP (1845-1933) in München nach entsprechender Rückfrage bei Merry del Val kategorisch dementierte, dass er vom Vatikan ausgegangen sei. Der Text der veröffentlichten Erklärung des Nuntius: Ein autoritatives Wort zur rechten Zeit, in: Bayerischer Kurier, Nr. 196 vom 15. Juli 1911. Beachte die starke Skepsis des preußischen Vatikangesandten gegenüber dieser offiziellen Mitteilung: Otto von Mühlberg an den Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Theobald von Bethmann Hollweg, Rom, den 15. Juli 1911, in: PA, Päpstlicher Stuhl 22, Bd. 4. „Cette circulaire secrète fait un beau pendant avec les fameux documents secrets de la Ligue de Münster. Elle ne vient pas de cette source-là; tant mieux, cela démontre que ce n’est pas seulement l’ineffable Ligue contre l’Index, qui emploie ces moyens un peu rouillés.“
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des Vatikans, untergeordnete Prälaten, die Zustände in Deutschland beurteilten. So sei nach Überzeugung eines hohen Prälaten der Römischen Kurie der Katholizismus in Preußen sehr verwässert und das Zentrum antirömisch geworden, dem es im Übrigen auch nicht gut anstehe, die Gründung interkonfessioneller Gewerkschaften zu fördern. Das Übel gehe von den Bachems und Genossen aus, die sogar den deutschen Episkopat gegen Rom ausspielten.51 Unter der Überschrift „Il modernismo in Germania“ sekundierte am selben Tag der Mailänder Corriere della Sera die Erläuterungen der Correspondance de Rome; und unter Bezugnahme auf das lobenswerte „opuscolo battagliero“ von P. Weiß rekapitulierte er in ironischer und boshafter Weise die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen dem Breslauer und dem Kölner Kardinal, der die „Köln-M.-Gladbacher Richtung“ unterstütze, die zur „frondista e recalcitrante“ gehöre. Der Modernismus in Deutschland sei kein sporadisches und individuelles Phänomen, sondern eine Organisation, die auf dem Gebiet von Exegese und Apologetik die alte Parole „Los von Rom“ wiederhole. Den besten Beweis dafür liefere das besagte Zirkular. Das Blatt zeigte sich überzeugt, dass sich deshalb der Hl. Stuhl veranlasst sehen werde, speziell den Modernismus in Deutschland, wo er seine Heimat habe („il modernismo, specie nella Germania che si può dire essergli patria“) und sich stetig weiter entwickle, von Neuem zu bekämpfen.52 In noch schärferer Weise argumentierte drei Tage später der Pariser Univers gegen die „Kölner Richtung“, die gefährlich sei. Denn die Persönlichkeiten, Vereinigungen und Blätter, die sie repräsentierten, bildeten eine politisch-modernistische Organisation mit dem Hauptsitz in und bei Köln. Die Abneigung gegen den Konfessionalismus, die die „Kölner Richtung“ charakterisiere und ihre Tendenz, sich mit den ordentlichen Leuten
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Ritter an das königliche Staatsministerium des Königlichen Hauses und des Äußern, Rom, den 6. Juli 1911, in: BayHStA, MA 99365. Dem bayerischen Vatikangesandten zufolge soll der Artikelschreiber ein Vertrauensmann von Msgr. Umberto Benigni (1862-1934) sein (Ritter an das königliche Staatsministerium des Königlichen Hauses und des Äußern, Rom, den 10. Juli 1911, ebd.). Benigni, der einem extrem konservativen Kurialsystem huldigte, war von 1906 bis 1911 Unterstaatssekretär für außerordentliche kirchliche Angelegenheiten und 1911/ 12 Apostolischer Protonotar. Er hatte eine antimodernistische Geheimorganisation geschaffen, die sich nicht nur auf Italien und Frankreich, sondern auch auf Deutschland erstreckte und systematisch Widersacher denunzierte. Durch Spitzel ließ er sich auf eigene Faust über alles berichten, was als „Modernismus“ verdächtigt werden konnte und was dann von ihm in seiner Corrispondenza Romana verwertet wurde. Denn nach Ritter fühlte sich Benigni berufen, durch seine Feder agitatorisch das zu ergänzen, was dem Kardinalstaatssekretär am Mut im Kampf gegen den Modernismus fehlte.
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(„honnêtes gens“) aller Kulte zu solidarisieren, seien noch in letzter Zeit deutlich geworden.53 Anlässlich eines Diplomatenempfangs beim Kardinalstaatssekretär Merry del Val beklagte sich Ritter über die gehässigen Berichte und ungerechtfertigten Angriffe der italienischen und französischen Presse gegen die Katholiken in Deutschland und deren politische Vertretung durch die Zentrumspartei: Derartige allgemeine bittere Vorwürfe verdienten die deutschen Katholiken nicht. Der katholischen Sache in Deutschland entstünde sicherlich ein vielleicht nicht wieder gut zu machender Schaden ernster Art, „wenn man auf diese Weise von Rom aus die Katholiken in ihrer bisher der Kirche sicherlich mehr als in irgend einem anderen Lande förderlichen Bestrebungen entmutigte oder einen Keil in das Zentrum trieb. Man dürfte nicht die Gesamtheit für die Fehler Einzelner, wenn solche Fehler vielleicht vorhanden seien, büßen lassen und schon gar nicht zu unserer Zeit die Gemüter brüskieren.“ Er konzediere ein Vorgehen nach der Devise „fortiter in re“, aber dann auch „suaviter in modo“. Der Kardinalstaatssekretär parierte mit dem Bedauern, „dass die Kölnische Volkszeitung, die doch ein katholisches Blatt sein wolle, sich darin gefalle, ausländischen Zeitungen und noch dazu in Italien zu sekundieren, von denen bekannt sei, dass der Hl. Stuhl ihre Haltung missbillige und dass sie gern Maßnahmen des Hl. Stuhls wie die Indizierung von Büchern, die doch gewiss nicht auf die leichte Schulter genommen werde, ins Lächerliche ziehe“.54 Auf die sarkastischen, kompromittierenden und polemischen Attacken der Correspondance de Rome und der ihr nahestehenden Gazetten reagierten die Hauptbetroffenen, allen voran die Kölnische Volkszeitung, überaus gereizt und aggressiv, zumal sie das Gerede arg beunruhigte, dass das Werk von P. Weiß auf ausdrücklichen Wunsch des Papstes bereits ins Italienische übersetzt werde. In einem längeren Beitrag setzte sich Karl Bachem mit den von der gegnerischen Presse verbreiteten Insinuationen und den irreführenden wie ———— 53
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Diese ehrverletzenden Auslassungen wies etwa das Stuttgarter Deutsche Volksblatt, das Hauptorgan der württembergischen Zentrumspartei, als „Absurditäten“ kraftvoll zurück. Unter der Überschrift „Französische Machenschaften gegen die deutschen Katholiken“ ist der Wortlaut unter anderem wiedergegeben in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 585 vom 10. Juli 1911. Im Schreiben vom 12. Juli 1911 an Merry del Val verwahrte sich der öffentlich diskreditierte Kardinal Fischer von Köln entschieden gegen die „exagérations et insinuations“ der italienischen und französischen Organe (Landersdorfer, Albert Maria Weiß, S. 211). Einen Tag später richteten ebenfalls die Herausgeber und Redakteure der Kölnischen Volkszeitung ein Schreiben an den Kardinalstaatssekretär, worin sie gegen die Bezeichnung „modernistisches Zentrum“ in der Correspondance de Rome energischen Protest erhoben: ebd.). Ritter an das königliche Staatsministerium des Königlichen Hauses und des Äußern, Rom, den 14. Juli 1911, in: BayHStA, MA 99365.
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beleidigenden Anklagen kritisch auseinander: Er demaskierte den suggerierenden Eindruck der kryptischen Einleitung in der Correspondance de Rome vom 4. Juli 1911, wonach es sich bei dem angeblichen „Geheimzirkular“ um „ein außerordentlich gefährliches und bösartiges Schriftstück“ handeln soll, das geeignet sei, „die Axt an die Wurzeln der Kirche zu legen, mindestens den vollständigen Feldzugsplan des Modernismus zur Untergrabung der Grundlagen des katholischen Glaubens“. Diese Behauptung sei ein Hirngespinst. In Wirklichkeit handle es sich vielmehr um „eine ernste und gewissenhafte Denkschrift, welche ein streng kirchlich gesinnter Theologe ausgearbeitet hatte, um eine hohe kirchliche Stelle über Inhalt und Tragweite des Buches von P. Weiß zu orientieren [...]. Es ist ein ernster Mahnruf, in diesen schweren Zeiten die deutschen Katholiken vor weiteren Spaltungen, Aufregungen und Beunruhigungen zu schützen, welche dem Heil der Kirche ebenso widerstreben wie dem Heil der Seelen.“ 55 Die Verantwortlichen der Correspondance de Rome, die immerzu von dem „Generalstab des deutschen Modernismus“ [Verlag und Redaktion der Kölnischen Volkszeitung] spreche und „von den zahlreichen Zentren, die mit dem Generalstab in Verbindung stehen“, forderte der Artikelschreiber mit allem Nachdruck auf, den Nachweis für ihre Behauptung zu erbringen.56 ———— 55
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Karl Bachem, Einiges über die Correspondance de Rome, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 592 vom 12. Juli 1911. Ebd. Damit die resolute Zurückweisung der feindseligen Verunglimpfungen und die Richtigstellung der eigenen Position in diesem umfänglichen Artikel eine nachhaltige Breitenwirkung in der Kurie und in der italienischen Öffentlichkeit erziele, wurde der römische Korrespondent der Kölnischen Volkszeitung beauftragt, denselben, zumindest aber die wesentlichsten Punkte, ins Italienische zu übersetzen und Msgr. Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII., in der Kongregation für außerordentliche kirchliche Angelegenheiten sowie Giambattista Bressan, dem Mittelsmann zwischen dem „Sodalitium Pianum“ und Pius X., davon eine Durchschrift zu überreichen: F.-X. Bachem an Kappenberg, Köln, den 12. Juli 1911; Abschrift in: HASt Köln, 1006 / 311 b. Unter Bezugnahme auf die Darlegungen von K. Bachem verlangte P. Weiß am 16. Juli 1911 von der Redaktion der Kölnischen Volkszeitung die „Berichtigung“ eines Passus über sein Buch (Antwortschreiben von K. Bachem an Weiß, Köln, den 20. Juli 1911; beide Schreiben: ebd.). Die publizierte Korrespondenz: In Sachen des Buches von P. Weiß, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 619 vom 21. Juli und Nr. 621 vom 22. Juli 1911. Vermutlich stammt die verlangte „Berichtung“ nicht von P. Weiß selbst, sondern sie soll von Graf Oppersdorff, einem dezidierten Anhänger des Dominikaners, verfasst und mit seiner Schreibmaschine geschrieben worden sein (Porsch an K. Bachem, Breslau, den 27. und 31. Juli 1911, ebd.). Zur Verteidigung des Dominikaners durch Oppersdorff: Wie gegen Pater Weiß gehetzt wird !, in: Der Arbeiter. Organ des Verbandes der katholischen Arbeiter-Vereine (Sitz Berlin), Nr. 28. Vom 9. Juli 1911. Mehrere Zentrumsblätter, unter anderem die Germania, hatten zwar die von P. Weiß verlangte „Berichtigung“ gegen K. Bachem abgedruckt, ohne jedoch dessen sehr ausführliche Antwort und Richtigstellung zu publizieren. Dieser beschwerte sich deswegen über diese Unterschlagung: „Wer die ‚Berichtigung‘ des Herrn P. Weiß abdruckte, hätte doch wenigstens die Verpflichtung dazu zu bemerken, dass ich eine Gegenerklärung veröffentlicht habe. Wer ein objektives Bild der Kontroverse geben wollte, musste wenigstens auch Inhalt und Richtung meiner
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Von gegnerischer Seite wurden die auf „trübsten Quellen“ basierenden feindseligen Ausführungen des Corriere della Sera vom 4. Juli 1911 als Märchen und als wohl kaum noch zu überbietender Gipfel einer fatalen Verdächtigungssucht bezeichnet. Deshalb sei es vielleicht gut, dass das grassierende Übel einmal in derart unerhörter Weise zutage trete. Denn deutlicher als alle Warnungen zeige diese gleichsam krankhaft erscheinende „Gespensterseherei“, wo eine wirkliche religiöse Gefahr zu suchen sei. Da man selbst den Modernismus verwerfe und entschlossen bekämpfe, bedauere man eine Polemik wie diejenige der Correspondance de Rome und des Corriere della Sera. Denn ihre feindseligen Auseinandersetzungen seien es, aus denen alles, was modernistisch und dem Modernismus gewogen sei, Honig sauge. Es existiere ja eine kirchenfeindliche Presse in Deutschland, die von diesen Querelen lebe und es verstehe, „damit den deutschen Katholiken das Leben sauer zu machen“.57
Resümee Selbst nach dem kategorischen Dementi des Münchener Nuntius, der beruhigenden Erklärung, die Kardinalstaatssekretär Merry del Val dem Leiter des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft Stephan Ehses (1855-1926) gegeben hatte 58, nahm der Konflikt über das zweibändige Werk von P. Weiß sowie die Polemik der Integralisten, angeführt von Msgr. Benigni gegen die Führung des Zentrums und die „Kölner Richtung“ mit voller Wucht seinen Fortgang. Nicht unwesentlich trug dazu die Correspondance de ———— 57
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Gegenerklärung, wenn auch nur kurz, skizzieren“ (In Sachen P. A. M. Weiß, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 649 vom 31. Juli 1911). Mit dem Korrespondentenzeichen von F.-X. Bachem versehener Artikel „Wahnsinn mit Methode“, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 579 vom 8. Juli 1911. Bei ihren diversen öffentlichen Aktionen gegen die polemischen Ausfälle von Seiten der Kontrahenten erhielt die Kölnische Volkszeitung nachhaltige Unterstützung durch die Zentrumspresse und den Augustinus-Verein zur Pflege der katholischen Presse, durch den ebenfalls desavouierten Erzbischof Fischer sowie durch den Münchener Nuntius Frühwirth. O. Weiß, Modernismus und Antimodernismus, S. 171-173; Köln und Rom, in: Kölnische Zeitung vom 8. Juli 1911; Ultramontane Gegensätzlichkeiten, in: Augsburger Abendzeitung, Nr. 194 vom 15. Juli 1911; Joseph Mauch, Eine „religiöse Gefahr“ für die deutschen Katholiken?, in: Allgemeine Rundschau, Nr. 29 vom 22. Juli 1911; Walther Köhler, Noch einmal: Modernismus und Zentrum, in: Die christliche Welt, Nr. 34 vom 24. August 1911, S. 805 - 812. Ritter an das königliche Staatsministerium des Königlichen Hauses und des Äußern, Rom, den 16. Juli 1911, in: BayHStA, MA 99365. Detaillierte Informationen hierzu: Eine heilsame Lehre für den Univers und andere Blätter, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 608 vom 17. Juli 1911; Der Hl. Vater und der Kardinalstaatssekretär gegen die Correspondance de Rome und Co., in: Augsburger Postzeitung, Nr. 160 vom 18. Juli.
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Rome bei, die durch bewusste Fehlinformationen und Verfälschung der Tatsachen unentwegt Zwietracht stiftete. Die in ihr geäußerten Ansichten wurden vielfach von etlichen hochgestellten Prälaten, die in Rom wohnten und Ansehen im Vatikan genießten, geteilt und dezidiert vertreten, zumal wenn sie das Gebiet der Bekämpfung des Modernismus tangierten. Somit bestünde die permanente und ernste Gefahr, dass auf diese Weise das Gift des Modernistenriecherei, der Verleumdung, der Gehässigkeit doch eindringe und Unheil anstifte.59 Unter der Überschrift „Die Römer schießen wieder “ heißt es zum angesprochenen Sachverhalt: Trotz der vatikanischen Verlautbarungen, dass die Correspondance de Rome weder offiziell noch offiziös sei, habe es ihr keineswegs die Sprache verschlagen. In ihrer Nummer 110 werde nämlich bewiesen, dass sie beziehungsweise ihre Hintermänner die amtliche Abschüttelung nur als eine Art Formalität ansähen, denn sie erklärten: „Wäre die Correspondance de Rome, ein katholisches Unternehmen weder von offiziellem noch offiziösem Charakter, von dem Heiligen Stuhl desavouiert oder verurteilt worden, so würde sie schon nicht mehr bestehen, denn wir würden sie vernichtet haben, ohne einen Augenblick zu warten, wie es jeder päpstlich und römisch gesinnter Katholik in einer solchen Lage tun muss.“ Gemäß ihrem Programm, das sich niemals geändert habe, wolle sie daher ihren Weg fortsetzen. So lehne sie strikt Geistliche ab, die sich für die Verchristlichung der Welt engagierten, die sich aber tatsächlich damit beschäftigten, das Christentum zu säkularisieren.60 Die heftigen Auseinandersetzungen zwischen den sich unversöhnlich gegenüberstehenden Kontrahenten um die konträren Standpunkte verschärften sich zunehmend. Angesichts dieses Szenarios konstatierte P. Weiß gegenüber seinem Freiburger Kollegen Decurtins verbittert: „Für mich ist mein Buch das schlimmste aller Gräben. Wir brauchen Geduld, damit nicht auch unsere Sache begraben wird. Dass man die Existenz des Bösen fürchten muss, das weiß ich wohl, aber dass es so tief geht und so allgemein verbreitet ist, darüber habe ich mich getäuscht. Wo sagt denn die katholische ———— 59
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Ritter an das königliche Staatsministerium des Königlichen Hauses und des Äußern, Rom, den 30. Juli 1911, in: BayHStA, MA 99365. Seine Einschätzung belegt der bayerische Vatikangesandte mit den boshaften Auslassungen „Aux amis de la «Correspondance de Rome»“ in ihrer jüngsten Ausgabe Nr. 110 vom 29. Juli 1911. Kölnische Zeitung vom 31. Juli 1911. Der Artikelschreiber zeigte sich davon überzeugt, dass der letzte Satz auf die „Kölner Richtung“ gemünzt sei. Dieser Annahme wurde energisch widersprochen in einer Erwiderung, die mit folgender Bemerkung schließt: „Mag die Correspondance de Rome eine Autorität für die Kölnische Zeitung sein und bleiben, für uns hat sie alle Bedeutung verloren“ (Correspondance de Rome und Kölnische Zeitung, in: Kölnische Volkszeitung vom 1. August 1911).
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Presse überhaupt noch ein Wort? Zur Entschuldigung der katholischen Presse ist freilich zu sagen, dass ihr das Zentrum verboten hat, von mir und zu meinen Gunsten zu sprechen; und es gibt niemand, der es wagt, mich gegen einen solchen Terrorismus zu verteidigen [...]. Ich müsste in der [liberalen] Frankfurter Zeitung schreiben, um mich zu verteidigen, da die katholischen Organe für mich völlig verschlossen sind [...]. Dass Gott uns helfe, die Menschen helfen uns nicht.“ 61 Diese resignierenden Äußerungen bedeuteten indes nicht, dass P. Weiß nicht nach wie vor im Hintergrund kräftig schürte. So bestärkte er den Wiener Dogmatiker Ernst Commer (1847-1928) in ähnlicher Weise wie seinen Ordensmitbruder P. Thomas Esser (1850-1926), Sekretär der Indexkongregation in Rom, in ihren literarischen Fehden fortzufahren. Vor allem jedoch focht er gemeinsam mit seinen Gesinnungsgenossen in den Trierer Petrusblättern und im Wiener Katholischen Sonntagsblatt.62 Sein Lebenskampf galt dem „Liberalismus“ und „Modernismus“, die er in eins sah. Denn beide verbinde „der Hass gegen die kirchliche Denk- und Lehrweise, gegen den Scholastizismus [...], die blinde Anhänglichkeit an die Grundsätze der modernen Denkweise und Philosophie [...], das Schwören auf die moderne historisch-kritische Methode und so vieles andere“. Beide erstrebten dasselbe Ziel. Daher sei es so überaus schwer zu sagen, wo die Grenzlinien zwischen beiden lägen. „Sie liegen eben nirgends. Da kein wesentlicher Unterschied besteht, können auch keine deutlichen Abgrenzungen festgestellt werden.“ 63 Zum Schluss bleibt festzuhalten, dass der Dominikaner und Apologet Albert Maria Weiß einseitig nach rückwärts gewandt war und in der Moderne mit ihrem Denken die größte Gefahr für die Kirche erblickte und dass er nicht davor zurückschreckte, in Rom Klage gegen ideologische Gegner, selbst gegen seine Mitbrüder, zu führen.
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Ziert in: O. Weiß, Modernismus und Antimodernismus, S. 174. Eindrucksvolle Belege: ebd., S. 174-189. Albert Maria Weiß, Liberalismus und Christentum. Mit dem Anhang „Rückblick auf eine Lebensarbeit gegen den Liberalismus“, Trier 1914, S. 104. Zu diesem Sachverhalt: Liberalismus und Christentum, in: Historisch-politische Blätter 154/II (1914), S. 200 - 217; Landersdorfer, Albert Maria Weiß, S. 213 - 216.
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Archivangaben PA
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes / Berlin. Päpstlicher Stuhl 22: Die innerhalb der katholischen Kirche in Bezug auf Lehre und Erziehung sich geltend machende freieren Bestrebungen.
BayHStA
Bayerisches Hauptstaatsarchiv/München. MA 99365: Berichte des bayerischen Gesandten beim Päpstlichen Stuhl über verschiedene kirchenpolitische Angelegenheiten (1893-1918).
Görres-Archiv
Archiv der Görres-Gesellschaft/München. Nr. 4: Politische und wissenschaftliche Korrespondenz von Hertlings.
HASt Köln
Historisches Archiv der Stadt Köln. Depositum Karl Bachem 1006 / 331 a: P. Weiß, Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart (Juni/Juli 1911); 1006 / 331 b: P. Weiß, Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart (Juni-August 1911).
Eine unbekannte Kölner Ausgabe von Dietrich Coeldes Christenspiegel aus dem Jahre 1493 von Wolfgang Schmitz
Immer wieder gibt es bei alten Drucken Überraschungen. So wurde vor kurzem in der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle eine offensichtlich bislang unbekannte Kölner Ausgabe von Dietrich Coeldes „Christenspiegel“ aus dem Jahre 1493 aufgefunden. Eine Absolventin der Bonner Fachhochschule für das Öffentliche Bibliothekswesen in der Trägerschaft des Borromäusvereins, dem unser Jubilar viele Jahre präsidierte, Frau Dipl.-Bibl. Andrea Joosten, die jetzt die Bibliothek der Hamburger Kunsthalle leitet, hatte bei mir während ihres Studiums die Vorlesung zur Buchgeschichte gehört und informierte mich über diesen Fund, weil sie wusste, dass ich mich seit langem mit dem Kölner Verlagswesen der frühen Neuzeit beschäftige. Mit Genehmigung der Kunsthalle mache ich hiermit diese Ausgabe bekannt, die einen weiteren Faszikel zur Kölner Frömmigkeitsgeschichte an der Zeitenwende darstellt. Für freundliche Unterstützung, die Genehmigung zur Publikation und die Möglichkeit, dies in der Festschrift für den verdienten Kirchenhistoriker Norbert Trippen tun zu können, bin ich sehr dankbar! Dieser Fund ist gleichzeitig ein weiterer Beleg dafür, dass deutlich mehr volkssprachliche Kölner Ausgaben existiert haben als Ernst Voulliéme trotz seiner intensiven Suche in seiner vorzüglichen Bibliographie zusammengetragen hat.1 Sie wurden offenbar als Gebrauchsgut (und daher nicht bibliothekswürdig) in starkem Masse zerlesen und selbst die Rettung eines Exemplars von ursprünglich vielleicht zwei-, drei- oder vierhundert ist vom Zufall geprägt.
Autor und Werk Dietrich Coelde oder – nach seinem Geburtsort Dietrich von Münster – war einer der großen Prediger des späten Mittelalters. Um 1435 geboren kam er als Augustinereremit aus dem Kloster Osnabrück zum Studium der Theolo———— 1
Ernst Voulléme: Der Buchdruck Kölns bis zum Ende des 15. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Inkunabelbibliographie, Bonn 1903 (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde xxiv) (ND 1978), im Folgenden zitiert als VK.
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gie nach Köln 2 und wirkte danach in der Domstadt, im Rheinland und den Niederlanden als Prediger und Ordenslektor. Um 1483/86 wechselte er zu den Franziskaner- Observanten, 1515 ist er in Löwen gestorben.3 Der Ordenswechsel ist mit einiger Sicherheit Ausdruck seines Zieles, als Ordensmann noch stärker seelsorgerisch und den Menschen nahe zu dienen. In diesem Sinne pflegte er während der Pestepidemie in Brüssel (1488-1490) hingebungsvoll viele Kranke und bewährte sich als menschlich ansprechende Priestergestalt. Konsequent erreichte er die Menschen nicht nur durch Predigt und praktische Seelsorge, sondern auch durch seine schriftstellerischen Arbeiten. Sie erwuchsen aus seiner Begegnung mit den Menschen als Volksprediger und wirkten gerade durch die Einheit von Lehre und Tat und seine volkstümliche Sprache so überzeugend. Daher war seinem berühmtesten Werk im Geiste der devotio moderna, dem „Christenspiegel“, im 15. und 16. Jahrhundert sehr große Breitenwirkung beschieden. Der Christenspiegel will dem gläubigen Laien alles bieten, um nach einem guten christlichen Leben die Seligkeit zu erlangen. Er präsentiert in Kapitel gegliedert drei Hauptlehren (Troeyer) – Vorweg Einleitung und Register: 1. Eine Brevierfassung des apostolischen Glaubenbekenntnisses und in der Form der Symbolums eine ausführliche Gottes-, Christus- und Ewig-Leben-Lehre, dann ein Bittgebet um einen starken Glauben. (Kap. 1- 4) 2. Einen umfassenden Katechismus mit allen Hauptstücken der Gebote und Sünden, der Sakramente und der anderen Heilsmittel (Kap. 543); ausführlich darin das Gebetsleben (Kap. 24-32) und Darlegung, was die Eltern ihren Kindern an christlicher Lehre beibringen sollen ———— 2
3
Ein Eintrag in die Matrikel war bei studierenden Ordensangehörigen nicht notwendig vgl. Clemens Drees: Der Christenspiegel des Dietrich Coelde von Münster. Münster 1954 (Franziskanische Forschungen 9), S. 4*. Zur Biographie: Jerome Goyens: Un héros du vieux Bruxelles, le bienheureux Thiérri Coelde. Mecheln 1929 (spielt auf sein Engagement bei einer schweren Pestepedemie in Brüssel an); Autbert Groeteken: Der älteste gedruckte deutsche Katechismus des seel. Dietrich Coelde. In: Franziskanische Studien 37 (1955), S. 53- 74, 189- 217, 388 - 410; ders.: Dietrich Kolde von Münster. Kevelaer 1935; Patricius Schlager: Beiträge zur Geschichte der Kölner Franziskaner-Ordensprovinz im Mittelalter, Köln 1904, S. 190ff. Benjamin de Troeyer, VL 2. Aufl. Bd. 5 Sp.19- 26; Dieter Berg in: LThK 3. Aufl. Bd. 6, Sp.175f. und LMA Bd. 3, Sp. 1037. Grundlage der biographischen Literatur ist häufig die Zusammenstellung bei Arnold Raisse: Vita Reverendissimi Patris Theodorici a Monasterio, Douai 1631 und Münster 1636 und ihm folgend Jacobus Pollius: Chronotaxis vitae R.P. Theodorici a Monasterio, Handschrift 1654, veröffentlicht durch Patricius Schlager in Beiträge zur Geschichte der sächsischen FranziskanerOrdensprovinz, Düsseldorf 1907.
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(Kap. 40). Es folgen „Einschübe“ (Troeyer) Marias Mantel, SalvatorBruderschaft und Rosenkranzbruderschaft. (Kap. 41- 43) 3. Eine Ars moriendi (Kap. 44- 46) Diese katechetische Hauptschrift ist um 1480 in einer ersten Fassung (Ausgabe Löwen 1480) publiziert worden. Der kurze „scoon spieghel der simpelre menschen“ enthält in seinen 24 Kapiteln als frühestes Werk in niederländischer Sprache eine christliche Lehre für ein gottgefälliges Leben und Sterben und war vornehmlich für die Jugend und den einfachen Laien gedruckt worden.4 Anders sieht es mit dem großen „De speegel des kerstens gelouen“ aus, der sich an den gebildeten Leser wendet und die Glaubenswahrheiten gründlicher unterbaut. Dieses Werk, dessen Verfasserschaft umstritten ist 5, liegt in einem Kölner Druck Johann Koelhoffs d.Ä. vor.6 Bemerkenswert ist die Provenienz des heutigen Hildesheimer Exemplars, es gehörte nämlich den Brüdern vom gemeinsamen Leben und bestätigt damit die Verbreitung dieses Werkes in den Kreisen der devotio moderna.7 Am erfolgreichsten war der sog. mittlere Katechismus, der als „Christenspiegel“ bezeichnet wird 8 Er war ursprünglich in niederländischer Sprache verfasst und wurde für Köln ins Ripuarische umgesetzt, vermutlich vom Autor selbst. Die Zahl der Auflagen dokumentiert ihn als eines der beliebtesten Erbauungsbücher des ausgehenden Mittelalters mit einer sehr reichen niederländischen Drucküberlieferung im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jhs. und auch einigen wenigen niederdeutschen Ausgaben. In Köln übertrifft seine Auflagenzahl die des gleichfalls populären Seelentrostes bei weitem: Sechzehn Ausgaben hier stehen nur vier dort gegenüber, dazu kommen noch zwei Separatausgaben.9 ———— 4 5
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Niederlande 1480 (GW 7135). Drees (wie Anm. 2), S. 39 mit A. 63, der den Text des Leipziger Exemplars Ludolf von Göttingen zuweisen wollte; zurückgewiesen von Groeteken, Katechismus (wie Anm. 3), S. 389. B-Cl 50, datiert dort „um 1480“ vgl. a. Conrad Ernst: Incunabula Hildesheimensia. Leipzig 1909, S. 23, Nr. 102. Dort der Provenienzvermerk: Liber Fratrum communis vitae in domo horti luminum. Nach Groeteken, Katechismus (wie Anm. 3), S. 392 repräsentieren das Hildesheimer und das Leipziger Exemplar im Gegensatz zur Angabe bei B-Cl 50 zwei verschiedene Ausgaben. Von diesem Werk gibt es eine Kurzfassung, die aber nicht in Köln gedruckt wurde. Groeteken, Katechismus (wie Anm. 3), S. 55: Coeldes Werke „atmen ganz und gar Geist der devotio moderna“. Ausg. (nd.) von Cl. Drees (wie Anm. 2); Ausg. (hochdt.) bei Christoph Moufang: Katholische Katechismen des 16. Jhs. in deutscher Sprache I. Mainz 1881, S. I-L; Paul Bahlmann: Deutschlands katholische Katechismen bis zum Ende des 16. Jhs. Münster 1894, S. 16-19; Groeteken, a.a.O., spricht S. 58 von einem „Bestseller“. Kölner Ausgaben: 1. GW 7144 Köln: Bartholomäus von Unkel(?) 7.III.1486. 8° (B-Cl 103. Schr 3759. VK 340. ISTC ic00747700); 2. GW 7145 Johann Koelhoff d.Ä., 1489. 8° (B-Cl 145, VK 341. ISTC ic00747800); 3. GW 714520N Johann Koelhoff d.J., 4. GW 7146 Johann Koelhoff d.J., 1498. 8°(B-Cl
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Der Drucker Der Druck ist genau firmiert im Kolophon (fol. l 8recto): „Und hait gedruckt tzo der eren gotz Johan koelhoff burger tzo Collen Jn dez iair vns heren M.cccc.xciij.“ Da zwei aufeinanderfolgende Drucker gleichen Namens in Köln gearbeitet haben 10, ist diese Aussage zunächst nicht eindeutig. Beide werden als „Burger zu Collen“ bezeichnet (vgl. für den jüngeren VK 695 von 1494, VK 637 incola civitatis usf.) Johann Koelhoff d.Ä., aus Lübeck gebürtig, kam 1471 nach Köln 11, nachdem er mutmaßlich in Venedig bei Wendelin von Speyer das Druckerhandwerk erlernt hatte, und gründete hier eine recht umfängliche und bedeutende Offizin. Stärker als andere hat er die Bedingungen des Marktes berücksichtigt und kann deshalb als einer der ersten Vertreter des Frühkapitalismus verstanden werden, indem er vor allem auch Kaufmann war und Handel im internationalen Rahmen betrieb. Seine Druckproduktion ist vor diesem Hintergrund ambivalent: wissenschaftliche Literatur auch für den weiten Export und volkstümlich-ripuarisches (vor allem nach 1487) vielfach erbaulichen Inhalts für die nähere Umgebung. Besonders in dieser Hinsicht folgte ihm sein gleichnamiger Sohn, der vielleicht schon seit 1491 im Geschäft war, diese Sparte besonders förderte und nach dem die bei ihm verlegte berühmte „Chronica der hilligen stat van Coellen“ von 1499 benannt ————
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296. VK 342. ISTC ic00748000); 5. GW 7147 Hermann Bungart, 1500. 8°(B-Cl 322. Schr 3761. Schramm VIII Abb. 864. 865. VK 343. VB 1082. ISTC ic00748100. Privatex., verkauft von Venator & Hanstein [Köln] 93 [2005] Nr. 756 [m. Abb.]).; 6. VD 16 C 4488 Ruloff Spot 1501 (B-Cl 350); 7. Johann Landen 1508 (B-Cl 432); 8. Heinrich v. Neuß 1508 (B-Cl 433); 9. VD 16 C 4492 Hermann Bungart 1514 (B-Cl 551); 10. VD 16 C 4483 Arnt von Aich 1520 (B-Cl 657); 11. VD 16 C 4493 Arnt v. Aich, um 1520 (B-Cl 659 = Benzing, Lupuspresse Nr. 16 = H. Beckers, Lupuspressendrucke Nr. 19); 12. VD 16 C 4484 Johann Soter 1524 (B-Cl 776); 13. VD 16 ZV 3750 Arnt v. Aich 1525 ; 14. VD 16 C 4486 Arnt v. Aich 1529 (B-Cl 980 = H. Beckers, Lupuspressendrucke Nr. 41). 15. VD 16 C 4485 Arnt von Aich 1526 (B-Cl 859); 16. B. de Troyer: Dietrich Coelde/Kolde, Sp. 19-26, Bd. 5, 1985, Sp. 20 erwähnt noch eine Ausgabe ca. 1570. Das 25. bzw. 26. Kap. des Christenspiegels ist 1518 bzw. ca. 1520 in Köln in der Lupuspresse hrsg. worden (VD 16 C 4487= B-Cl 658 = Benzing Nr. 15); 1518 durch Joh. v. Solingen (Groeteken, Katechismus des Dietrich Kolde, 1955, S. 400). Josef Benzing: Die Drucke der Lupus-Presse in Köln (Arnd und Johann von Aich). In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 1 (1958), S. 365-370; Hartmut Beckers: Bauernpraktik und Bauernklage. Faksimile des Volksbuches von 1515/18 gedruckt zu Köln bei St. Lupus durch Arnd von Aich mit ... einem Gesamtverzeichnis der Lupuspressendrucke. Köln 1985 (Alte Kölner Volksbücher um 1500 5). Der Text ist jetzt in GW verzeichnet als GW 714520N Coelde, Dietrich: Christenspiegel, ripuarisch. Köln: Johann Koelhoff d.Ä. oder Johann Koelhoff d.J., 1493. 8°; ISTC ic00747900. Hamburg Kunsthalle. Wolfgang Schmitz: Die Überlieferung deutscher Texte im Kölner Buchdruck des 15. und 16. Jahrhunderts. Habil-schr. Köln 1990, S. 320- 329, elektronisch unter kups.ub.unikoeln.de/volltexte/2004/1234/.
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ist, deren Verfasser bislang unbekannt ist. Volkssprachliches hatte in Köln im Druck eine sehr untergeordnete Bedeutung, im Gegensatz zu den süddeutschen Druckorten Ulm, Augsburg, Straßburg und Nürnberg. Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass im Allgemeinen die hier übliche Druckersprache des Ripuarischen Anwendung fand, das als eine Facette des rheinischen Fächers in der Stadt Köln und in ihrem Umkreis zwischen Düsseldorf und Koblenz gesprochen und geschrieben wurde. Dieses Ripuarische war also als bodenständige Lesart auf einen verhältnismäßig kleinen Raum beschränkt und daher außerhalb schwerer verkäuflich. Köln war eine der frühesten Druckerstädte nach Mainz und nach der Zahl der Drucke die bedeutendste im 15. Jhs. in Deutschland und eine der bedeutendsten in Europa. Texte in lateinischer Sprache prägten ihr Profil, abhängig von der starken theologischen und wissenschaftlichen Ausrichtung, zugleich von den Exportchancen dieser am westlichen Rand des deutschen Sprachraums gelegenen Stadt mit weiten Handelsbeziehungen nach Frankreich, England und in die Niederlande. Neu aufgefundene volkssprachliche Texte sind also für Köln immer etwas Besonderes. Vater und Sohn Johann Koelhoff unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Drucktypen so gut wie nicht. Das macht die Entscheidung, wer von beiden unseren Druck hergestellt hat, schwierig, da das genaue Todesdatum des Vaters im Jahre 1493 unbekannt ist. Ein Hinweis findet sich im Kolophon zu Nicasius de Voerda Lectura libri institutionum, datiert 6. April 1493 (VK 830 = GW M 26141). Dort wird berichtet, dass der ältere Koelhoff „in ipso opere ad superos vocat(us),“ also während der Drucklegung gestorben ist. Wie lange dauerten dafür Satz und Druck, d.h. in welchem Zeitraum haben wir den Tod des älteren Koelhoff anzusetzen? Der Druck umfasst 268 Blätter mit je 2 Kolumnen und 46 Zeilen. Seit den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts wurde das „Drucken in Formen“ (= Doppelseiten) praktiziert, das war sehr arbeits- und zeitsparend 12; bei Koelhoff d.J. haben wir an der sog. Kölner Chronik von 1499 ein derartiges Drucken in Formen bezeugt. In italienischen Verträgen der Zeit wurden zwei Formen pro Tag = 4 Seiten gesetzt und 1000 Kolumnen pro Tag gedruckt = 1000: 8 Kolumnen pro Doppelblatt/Bogen = 125 Bogen pro Tag (Corsten S. 156). Das bedeutet für die Setzerzeit des Nicasius: 268 Blatt : 2 (Setzerleistung 2 Blätter = 4 Seiten pro Tag) ergibt 134 Tage. Diese Gesamtdauer geteilt durch die Monatstage: 26 (31-5 Tage, abzüglich der Sonn- und Feiertage) ergibt ungefähr fünf Monate, d.h. November 1492 – April 1493. ———— 12
Severin Corsten: Die Erfindung des Buchdrucks. In: Die Buchkultur im 15. und 16. Jh., Bd. 1 Hamburg 1995, S. 125-202, hier 154-157.
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In dieser Zeit muss Johann d.Ä. nach unserer Berechnung gestorben sein. Soweit die Setzerzeit.13 Bei einer geschätzten Auflage von 250 Exemplaren (so Koelhoffsche Chronik von Koelhoff d.J.) bedeutet das für die Druckzeit bei 125 Bogen pro Tag und Presse- da man sich mühte, das gesetzte Material zeitnah auszudrucken - die Notwendigkeit von zwei Pressen (125 x 2). Für die Entscheidung der Frage, ob Vater oder Sohn als Drucker in Frage kommen, ist nicht unwesentlich, dass es nach der Auflistung der Drucke Koelhoffs d.Ä. und des Jüngeren in der Phase 1492/93 keinen Hinweis gibt, dass Werke parallel gesetzt wurden, d.h., dass mehr als ein Setzer am Werk war. Damit war im Frühjahr 1493 die Arbeitskraft der Offizin ganz von der Drucklegung des Nicasius beansprucht und unser Coelde-Druck folgte später. Einen weiteren möglichen Hinweis, dass Johann Koelhoff d.J. den Druck von 1493 hergestellt hat, bietet ein Vergleich der Kolophone 1489 (fol. 63 verso) und 1493 (sign. fol. l 8recto). 1489 heißt es „Johan koelhoff van Lubeck burger in Coellen“, 1493 nur: „Johan koelhoff burger tzo Coellen“. Der für den Sohn sinnlose Hinweis auf die Herkunft aus Lübeck (wie beim Vater) fehlt konsequent. Eine Auszählung anhand der genannten Bibliographie von Ernst Voulliéme ergab, dass der Senior in 50 von 68 firmierten Kolophonen den Zusatz de Lubeck führte, das sind über 70%.
Beschreibung des Drucks Der Druck bietet einen Lagenaufbau von großer Einheitlichkeit: Die Lagenformel lautet a8-l8, mit meist 22 Zeilen.
Typographie: Mehrere Schriften werden verwendet, die sowohl Vater wie Sohn eigen sind: große Textura auf dem Titelblatt Koelhoff d.Ä. Type 18, 5ll = 73 mm mit M 94 (GfT 196 und 134) = Koelhoff d.J. Type 2 (GfT 341) dazu kleinere Rotunda im Text als Auszeichnungsschrift Koelhoff d.Ä. Type 15, 10ll = ca. 90 mm mit M 60 (GfT 196) = Koelhoff d.J. Type 1 (GfT ———— 13
Ein herzlicher Dank geht an die Herren Dr. Kurt Hans Staub, Erwin Müller und den Drucker Volker Mackenbach (alle Michelstadt / Odenwald) für eine kritische Begutachtung der Berechnungen.
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Titelblatt der Kölner Coelde-Ausgabe von 1493
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232) Texttype oberrheinische Bastarda Koelhoff d.Ä. Type 19, 20ll = 94/95 mm mit M44 (GfT 193 und 197) = Koelhoff d.J. Type 4. Zusätzlich zum Musteralphabet bei Voullième verwendete man ein durchstrichenes v = ver fol. c3recto, im Typenalphabet bei Voulliéme nicht vorhanden, aber belegt bei Koelhoff VK 830 Kolophon, ebenfalls haben wir mehrfach eine abweichende links gefiederte Form des I (in Voulliémes Kölner Typen nicht vorhanden!) und eine abweichende Form des O. Häufig sind Repräsentanten eingedruckt (nicht immer), darüber malten dann die Briefmaler hsl. Initialen in Rot, kunstlos in Form von Lombarden.
Bilder Eine Bebilderung wie im „Christenspiegel“ ist in Köln seltener, da die wissenschaftlichen oder theologischen Texte vielfach ihrer nicht bedurften, wohl aber die volksprachlichen Texte wie hier. In der vorliegenden Ausgabe sind ausschließlich Illustrationen verwendet, die auch in anderen Drucken vorkommen. 14 Jede ist anders gestaltet und deshalb wirken sie ziemlich zusammengewürfelt. Das Ganze macht von daher einen lieblosen, betont unaufwändigen Eindruck und das gilt auch für die Beziehungen Bild und Text: Zwar greifen die Illustrationen Gedanken und Motive aus dem Christenspiegel auf, aber von einer den Text deutenden Illustration kann keine Rede sein. Für den volkstümlichen Text wollte oder brauchte man offenbar nicht zu viel aufwenden. Bilder in Koelhoffs Coelde-Ausgaben mit Schramm Nummern: 1489 Nr. 284 Nr. 285 Nr. 286 Nr. 287 Nr. 288 Nr. 289
Motiv Kreuzigung Büßer vor Christus Beichte Salvator mundi Fegefeuer Verkündigung
Nr. 95 Krankensalbung
Motiv 1493 284 (fol. a2verso) 285 an gleicher Stelle vor xx. Kapitel (fol. g7 verso) 286 an gleicher Stelle vor xxi. Kapitel (fol. f3 verso) 285 an gleicher Stelle, aber Nr. 285. (fol. i6 verso) fehlt 289 1489 im Text, 1493 ganzseitig mit Rahmen links und oben (fol. k1 recto) 95 an gleicher Stelle, 1489 im Text, 1493 mit Rahmen links und oben. (fol. k2 verso)
1489 ist ein Teil der Bilder vom Text umrahmt, 1493 stehen sie frei ganzseitig. ———— 14
Albert Schramm: Der Bilderschmuck der Frühdrucke, Bd. 8, Leipzig 1924 [ND Stuttgart o.J.], zum Christenspiegel Abb. 284 - 289 u. 95, hier S. 6.
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Kreuzigung, fol. a2 v
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Signaturen, Einband, Eintragungen auf Vorsatz Unser Exemplar hat die Signatur Hamburger Kunsthalle, Bibliothek Ill. XV. Köln 1493-8. Ältere Signaturen oder handschriftliche Einträge gibt es leider nicht. Das Exemplar wurde vermutlich Ende des 19. Jahrhunderts neu gebunden. Es handelt sich um einen roten Leineneinband mit Goldprägung auf dem Rücken. Im Buch sind zwei Inventarnummern verzeichnet: Die Nummer 186385/37 besagt, dass es sich bei dem Buch um Altbestand handelt. Inventarbücher oder einen Katalog, die die Herkunft verzeichneten, gibt es für diesen Bestand der Kunsthalle nicht. Nach dem heutigen Forschungsstand wird das Buch aber mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Nachlass von Georg Ernst Harzen stammen. Die zweite Inventarnummer 1915/569 wurde während des Direktoriats von Dr. Gustav Pauli (1866-1938) vergeben. Er hat den gesamten Bibliotheksbestand neu inventarisieren lassen und Zugangsbücher sowie einen Bibliothekskatalog begonnen. In diesen Zugangsbüchern findet man bei der Herkunft aber leider auch nur den Hinweis auf den Altbestand.
Provenienz Der Band stammt also mit ziemlicher Sicherheit aus dem Besitz des Hamburger Mäzens, Kunsthändlers, Auktionators und Sammlers Georg Ernst Harzen (1790-1863), der der Freien und Hansestadt Hamburg seine Gemälde, seine fast 30.000 Blatt zählende Sammlung von Handzeichnungen und Kupferstichen und seine umfangreiche Kunstbibliothek schenkte. Durch diese Schenkung wurde die Gründung der Hamburger Kunsthalle, die 1869 ihre Pforten öffnete, erst ermöglicht. Ziel seines Sammelns war eine Geschichte der graphischen Künste, die aber über Vorstudien in verschiedenen Zeitschriften nicht hinaus kam. Harzen kaufte seine zum Teil erstklassigen Objekte auf den nationalen wie internationalen Auktionsmarkt unter Einsatz erheblicher finanzieller Mittel. Einen Höhepunkt der Kunstentwicklung sah Harzen im 15. und 16. Jh., deren Zeugnissen seine besondere Vorliebe galt.15 Unser Coelde-Band hat Harzen offenbar wegen der darin enthaltenen Druckgraphik des 15. Jh. interessiert, der Druck wurde also nicht primär wegen des Textes (Inhaltes), sondern wegen der Abbildungen erworben. ———— 15
Ulrich Luckhardt: „ ... diese der edlen Kunst gewidmeten Hallen“. Zur Geschichte der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1994, S. 16-18, Peter Prange: Deutsche Zeichnungen 1450- 1800. Katalog. Köln usw. 2007, S. 2- 6.
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Verkündigung, fol. k1r
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Abweichungen zur Ausgabe von 1489 und Stemma Schon vom Äußeren Gestaltung unterschieden sich die beiden KoelhoffAusgaben des Christenspiegels: 1489 verwendete er die Typen 15:175G, 16:80G, 17:86G (Text), jetzt 1493 die Typen 15:175G, 18:290G und 19:96G (Text). Texttype war 1489 die international verbreitete Type 17 (GfT 133) ohne speziell kölnischen Charakter (so Voulliéme). Ihr Gebrauch stimmt nicht zu der von mir herausgearbeitete Typentradition für die volkssprachlichen Texte Koelhoffs, für die ab 1487 eine gewisse Einheitlichkeit festzustellen ist, nämlich die hauptsächliche Verwendung der Type 19 (oberrheinische Bastarda) als Texttype. Type 17 ist immerhin damals ebenfalls in Verwendung. Die Ausgabe von 1493 folgt demgegenüber dem Mainstream der Koelhoffschen Typenverteilung. Ein Vergleich der beiden Ausgaben von 1489 und 1493 zeigt, dass es sich schon wegen der unterschiedlichen Typen um keinen einfachen Nachsatz handelt. Allein durch die unterschiedliche Größe der Texttypen ist ein zeilengetreuer Nachsatz nicht möglich. Gewichtiger sind aber zahllose orthographische Abweichungen, die sich nicht auf Abbreviaturen u.ä. beschränken, in Einzelfällen auch verschiedene Lautstände wiedergeben; gelegentlich sind 1493 einige notwendige Wörter gegenüber 1489 ausgelassen. Möglicherweise stand der Setzer von 1489 dem Hochdeutschen näher, aber das bedürfte noch eingehender lautlicher Analyse. Am Schluss fehlt 1493 gegenüber 1489 das letzte Gedicht, das wohl platzmäßig nicht mehr hinpasste. 1489 folgt noch mit gleicher Signaturenzählung und damit als Bestandteil des Drucks: „Eyn oeffunge geystlicher persoen vp alle dage in der wechen mit vil anderen goiden leren.“ 16 In 1493 gibt es keinen Hinweis auf einen entsprechenden Folgetext. Die Typographie des folgenden Koelhoff-Drucks von 1498 ist ebenfalls nicht mit der von 1493 identisch, sie hat nach Auskunft des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke die Typen 4:95G, 5:140G. Das bedeutet, die genau dem Mainstream der Typographie Koelhoffs folgende Ausgabe von 1493 ist nicht 1498 nachgesetzt worden. Die Abhängigkeit der Kölner Drucke des Christenspiegels voneinander und ihre Eingruppierung in den Gesamtzusammenhang der Textüberlieferung ist von Clemens Drees sorgfältig untersucht.17 Demnach ist die Ausgabe des Bartholomäus von Unckel 1486 der Ausgangspunkt für alle folgenden Drucke gewesen. Koelhoff d.Ä. orientierte sich 1489 an diesem Druck, der seinerseits ———— 16
17
Zum Vergleich diente das Exemplar der Ausgabe von 1489 aus der Stadtbibliothek Trier. Es zeigt Textverlust (Lagenverlust): Lagen a und b, ebenso fehlen Signatur d6-d8, fehlt Kap. xiii (Rest), xiv, xv (Anfang), die Lagen m i - p iii, der Text bricht ab. Drees (wie Anm. 2), S. 48*- 59*. Im Folgenden orientiere ich mich an den entsprechenden Ausführungen in meiner Habilitationsschrift von 1990 (vgl. Anm. 12), S. 37- 41.
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wieder auf eine niederländische Vorlage zurückging.18 Die folgenden Ausgaben, mit Koelhoff d.J. 1498 beginnend, bringen eine leicht veränderte Version. Drees liefert dazu den ansprechenden Gedanken, dass Coelde damals in Brühl weilte und Einfluss auf die Textgestaltung nahm, so dass sich alle künftigen Ausgaben nach diesem „autorisierten Text“ richteten. Vom buchwissenschaftlichen Standpunkt aus ist aber seine Folgerung wenig wahrscheinlich, die alle folgenden Ausgaben auf eine neue handschriftliche Zwischenstufe NK* zurückführen will, „denn daß N, Kö, RS, K in so schneller Folge von einander abdruckten, läßt sich kaum wahrscheinlicher machen“.19 Bei der Stufe NK* wird es sich erfahrungsgemäß um eine handschriftlich korrigierte Fassung einer Druckausgabe handeln, die sicher im Besitz Koelhoffs d.J. blieb und nicht an die anderen Drucker weitergereicht wurde 20, denn die Drucker haben schon aus Gründen der Kalkulation einen Satz nach gedruckter Vorlage dem nach einer Handschrift vorgezogen und die zeitlichen Abstände sind hier so groß (1-2 Jahre), dass ein solches Nachsetzen möglich war. Koelhoffs Druck von 1498 (Drees Sigle N) ist damit Vorlage für alle folgenden. Wie ordnet sich nun der neu gefundene Druck von 1493 in dieses Stemma ein? Eine systematische quellenkritische Analyse ist nicht Aufgabe dieses buchwissenschaftlich ausgerichteten Beitrages, sondern muss einer germanistischen Studie vorbehalten bleiben. Wenn wir uns aber die Tabelle II bei Drees ansehen, in der die Unterschiede zwischen den einzelnen Ausgaben an Hand ausgewählter Beispiele vorgeführt werden (S. 49*), dann zeigt sich, dass unsere Ausgabe von 1493 in allen Fällen mit T (= 1489) übereinstimmt, eben auch gegen N (1498), wir nennen sie daher T2. Ein ähnlicher Befund zeigt sich in Tabelle III (S. 54*-57*), wobei allerdings in einzelnen wenigen Fällen (z.B. Nr.2 und 4) T2 zur Gruppe NK* gegen T steht! Die Veränderungen in NK* gegen T könnten aufgrund eines von Coelde durchkorrigierten Exemplars der Ausgabe T2 von 1493 erfolgt sein, jedenfalls lässt sich die Revision jetzt durch das Auffinden unserer Ausgabe auf die Zeit 1493/98 verengen. Andererseits belegen die wenigen Abweichungen von T2 zu T, dass sich offenbar eine laufende Revision des Textes, vermutlich durch Coelde selbst, der im Köln nahen Brühl lebte, vollzogen hat. Nicht so eindeutig lässt sich ein Illustrationskanon feststellen. Während man mit einiger Sicherheit davon ausgehen kann, dass die Ausgaben von 1486,
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Drees, a.a.O., S. 58* folgert das aus niederländisch-deutschen Doppelausdrücken. Drees, a.a.O., S. 51*. Die Sigel NK* wäre demzufolge besser durch Tkorr. zu ersetzen, um anzudeuten, dass die korrigierte Fassung T Vorlage für die weitere Kölner Überlieferung gewesen ist. Für die weiteren Drucke gilt, dass wohl späteren Auflagen ihre eigene frühere zugrundegelegt wurde, so auch bei der Lupuspresse. Drees kannte diese Drucke offensichtlich noch nicht.
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1489, 1493, 1498 und 1501 denselben Holzschnitt auf fol. 1v zeigen 21 und Landen 1508 an dieser Stelle das gleiche Motiv verwendet 22, ist über die Ausgabe Bungarts von 1500 und Heinrichs von Neuß von 1508 nichts auszusagen; Bungart gibt 1514 am Schluss nur ein Bild, Arnt von Aich deutlich andere. Außerhalb der Gestaltung von fol. 1v weicht die Illustration generell sehr stark ab, nur die Drucke der beiden Koelhoffs haben auch da weitgehende Gleichförmigkeit.23 Offensichtlich wurden also nicht zugleich mit dem Text die Bilder imitiert. Einen Grund kann man nur vermuten, die hohe Beliebigkeit des Buches machte solche Anstrengungen für die Verkäuflichkeit entbehrlich. Der Christus am Kreuz aber trifft eine der zentralen Erfahrungen Dietrichs und die wiederholte Abbildung in den frühen Ausgaben könnte auf seine unmittelbare Anregung zurückgehen.24 1518 und vermutlich 1520 erscheinen daraus Separatausgaben der „Seuen getzide“, die gerade wieder dieses Anliegen, zur Betrachtung des Lebens und Leidens Christi hinzuführen, ausgewählt haben.25 Noch 1570, 1677 und sogar 1708 sind Ausgaben nachzuweisen, die das Fortleben des Textes beweisen. Bereits 1489 war in der Ausgabe des Christenspiegels auch das „Boychelgyn van inwendiger oeuynge“ mit abgedruckt worden, das mit eben diesen Gedanken in der Form täglicher geistlicher Übungen auf die Abkehr von der Welt und auf eine innere Heiligung abzielt.26 Es fehlt in der Ausgabe von 1493. Die Überlieferung des Christenspiegels in den zwanziger Jahren wie des Separatdrucks der „Getzijden“ ist durch Arnt von Aich und seine Lupuspresse bewerkstelligt worden. Ihm ist auch mit sechs Ausgaben Coeldes „Boechelgyn der ewiger selicheit“ in Köln zu verdanken.27 Es mag auf den ersten Blick etwas ———— 21
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Die Bilder von Koelhoffs Ausgabe 1489 bietet Schramm (wie Anm. 14). Dass das Kreuzigungsbild schon von Bartholomäus v. Unckel verwendet wurde, legen die Ausführungen Schramms S. 8 nahe. Zu der Ausgabe von 1489 Schramm S. 13. Werner Grebe: Der Kölner Frühdrucker Johann Landen und die Druckwerke seiner Offizin. Wiesbaden 1983, Nr. 39 mit Abb. 16. Albert Schramm (wie Anm. 14), S. 13 mit offensichtlichem Druckfehler 1498 statt 1489. Zu den Abbildungen vgl. Groeteken, Katechismus (wie Anm. 3), S. 407- 410, seine Ausführungen stecken allerdings voller Ungenauigkeiten und Fehler; J. B. Nordhoff: P. Dederich Coelde und sein „Christenspiegel“. In: Monatsschrift für rheinisch-westfälische Geschichtsforschung und Altertumskunde 1 (1875), S. 67- 75,. 166-173, 351- 365, 560-575, hier S. 565. Ausgabe 1518 bei Johann von Solingen (Groeteken, a.a.O., S. 400) und ca. 1520 bei Arnt von Aich (B -Cl 658). B - Cl 145 = GW 7145 = VK 341; Groeteken, a.a.O., S. 397f. VD 16 C 4483 = B - Cl 657 = J. Benzing , Lupus-Presse, Nr. 14 = H. Beckers, Lupuspressendrucke, Nr. 18; VD 16 C 4487 = B - Cl 658; VD 16 C 4485= B - Cl 859 = J. Benzing, Lupus-Presse, Nr. 26 = H. Beckers, Lupuspressendrucke, Nr. 33; VD 16 C 4486 =B -Cl 980 = J. Benzing, Lupus-Presse, Nr. 33 = H. Beckers, Lupuspressendrucke, Nr. 41; von Arnt von Aich stammen noch VD 16 C 4493 = B - Cl 659 von 1520 und VD 16 ZV 3750 von 1525. Es handelt sich nicht wie Groeteken, a.a.O. angibt um Kupferstiche, sondern um Holzschnitte Anton Woensams, vgl. Johann Jakob Merlo, Kölnische Künstler in alter und neuer Zeit. Neubearb. und erw. Auflage hrsg. von Eduard Firmenich-
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überraschend wirken, dass ausgerechnet ein so dezidiert zum Protestantismus neigender Drucker wie Arnt von Aich diese Texte hergestellt und verlegt hat. Wenn wir aber nicht rein kommerzielle Interessen unterstellen, hat der dezidiert persönliche Gebetscharakter mit seinem leidenschaftlichen Verlangen nach Erlösung durch Christus den Text für Arnt akzeptabel gemacht.
Einordnung in die zeitgenössische Situation der Kölner Kirche Coelde hat sein Werk noch als Augustiner begonnen wie es im Kolophon der Ausgabe von 1489 genannt ist: „Dit hantboichelgyn hait gemacht ... Dederich ... van sent Augustinus orden tzo Coellen in dem cloister deseluen ordens. Mer naemals gegangen in sent Franciscus orden.“ Da die Rosenkranzbruderschaft erwähnt ist, die 1475 gestiftet wurde und 1476 von Rom bestätigt wurde, ist der Termin nach 1476 und vor 1480 (niederländische Ausgabe) anzusetzen. Anfang der 90er Jahre finden wir Coelde wieder in Köln in der Nähe Hermanns IV. von Hessen, der von 1480 bis 1508 Erzbischof von Köln, ab 1498 auch Fürstbischof von Paderborn war. Als dritter Sohn des Landgrafen Ludwig I. von Hessen wurde er bereits als Kind für eine geistliche Laufbahn ausersehen und erhielt demzufolge schon früh eine beachtliche Zahl von Pfründen, darunter das Dechantenamt an St. Gereon in Köln und ein Kanonikat am Kölner Dom, hier wurde er 1461 in das Domkapitel gewählt und schon 1473 von diesem Gremium zum Administrator und wenig später auch zum Stiftsverweser bestimmt. In dieser Funktion organisierte er 1474 die Verteidigung von Neuss während der fast einjährigen Belagerung durch Karl den Kühnen. 1480, erst nach Erzbischof Ruprechts Tod, der bereits 1478 sein Amt niedergelegt hatte, wurde Hermann zum neuen Erzbischof von Köln gewählt. Hermann bemühte sich nun um eine innere Stabilisierung seiner Länder, wobei er die seelsorgerische Seite seines Amtes sehr ernst nahm, häufig die Messe las und selbst die Sakramente spendete.28 ————
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Richartz. Düsseldorf 1895², Sp. 1049 und anderer Künstler. Außer der Abbildung des Gnadenstuhls (1520?, 1526, 1529) differieren Zahl und Aussehen der Abbildungen sehr. Die von Groeteken, a.a.O., S. 400, erwähnte Ausgabe durch Arnt von Aich habe ich nicht nachweisen können, vielleicht handelt es sich um eine Verwechslung mit der undatierten Ausgabe um 1520. Werner Beutler: Hermann IV. der Friedsame von Hessen, Erzbischof von Köln (1480 -1508). In: Rheinische Lebensbilder 13 (1993), S. 51-71; Maria Fuhs: Hermann IV. von Hessen. Erzbischof von Köln 1480-1508. Köln, Weimar 1995 (Kölner Historische Abhandlungen 40); Gabriel Zeilinger: Hermann von Hessen (1450- 1508). In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 23, Nordhausen 2004, Sp. 656-658.
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Bei seiner vergleichsweise außergewöhnlich intensiven Beschäftigung mit der geistlichen, seelsorgerischen Seite seines Amtes im Sinne der devotio moderna schätzte er besonders die Observanten wegen ihres Ansehens und ihrer Zucht. Vor allem Dietrich Coelde stand ihm nahe. Hermann gründete mit päpstlicher Erlaubnis in Brühl für die Observanten Kirche und Kloster. Dietrich lebte hier, 1492 zum Praedicator generalis für Rheinland und Westfalen ernannt, 1497 zum Guardian in Brühl vermutlich bis 1502, als er Guardian von Bodendaal wurde. Erzbischof Hermann pflegte häufigen Umgang mit den Patres des von ihm gegründeten Franziskanerklosters. Als er am 19. Oktober 1508 in Poppelsdorf starb, hielten die Franziskaner von Brühl die Totenwache. Coeldes Werk war dem Erzbischof vertraut; es ist sicher, dass er es geschätzt und gefördert hat. Es gehörte zum Frömmigkeitswerk in der Kölner Kirche und war durch die ripuarische Sprache ausdrücklich für die hiesige Bevölkerung bestimmt. Dagegen ist es nach unserer Erfahrung bei der Beziehung Buchdruck und Kirche im 15. Jh. kaum anzunehmen, dass die Kirche die Drucklegung des Christenspiegels finanziert hat, vielmehr ist wegen der außerordentlich leistungsfähigen Kölner Verlagsszene schon im 15. Jh. Eigeninitiative und Risiko der Drucker, in unserem Falle Johann Koelhoffs d. J. zu vermuten. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass kirchliche Kreise an der Drucklegung mitgewirkt bzw. sie empfohlen haben. Das Entscheidende jedoch Coeldes große Wirkung als Prediger in Köln, von der Johannes Trithemius berichtet und die sich auch in seinen Schriften nachspüren lässt.29 Der Wunsch, die Worte des begeisternden Predigers auch in gedruckter Form nach Hause tragen zu können, hat die immer wieder neuen Ausgaben ermöglicht.30 Später teilt er das Schicksal des Seelentrostes: Unter dem Eindruck der Reformation und eines gewandelten Frömmigkeitsverständnisses kommt die kontinuierliche Tradierung im Kölner Buchdruck am Ende der zwanziger Jahre zum Erliegen. Vom Befund der Drucküberlieferung her bedarf also Groetekens These von der Wirkung des Christenspiegels bis hin zum Katechismus des Petrus Canisius (1558) einer kräftigen Korrektur.31 ———— 29
30
31
Johannes Trithemius, De scriptoribus ecclesiasticis (1495), Paris 1512, fol. 208 f. Trithemius war Coelde vor 1494 in der Kölner Benediktinerabtei Groß St. Martin begegnet. Groeteken, Katechismus (wie Anm. 3) trägt S. 194 ff die These vor, dass der Christenspiegel von Coelde als Bruderschaftsbüchlein für die Salvatorbruderschaft verfasst worden sei. Coelde habe noch als Augustiner in der Konventskirche St. Sebastian die dort errichtete Salvatorbruderschaft als geistlicher Leiter betreut. Da das Kapitel über die Bruderschaft knapp gehalten war, habe er eine religiöse Lebenskunde damit verbunden. Später sei es dann auch bei der Rosenkranzbruderschaft der Dominikaner eingeführt worden (a.a.O., S. 195 f.). Groeteken schließt das aus Coeldes Ausführungen über den Rosenkranz und aus der alleinigen Nennung dieser beiden Bruderschaften vor allen anderen. Die Gründung der Rosenkranzbruderschaft hat auch Spuren im Kölner Buchdruck hinterlassen, vgl. EV 1255 und VK 427. Groeteken, a.a.O., S. 396.
Die Förderung von Wohnungsbau und Siedlung durch die Katholische Kirche 1932-1965 von Michael P. Vollert
I. Wohnen gehört wie Kleidung und Nahrung zu den elementaren Grundbedürfnissen des Menschen. Da jeder Mensch eine Wohnung braucht, ist diese nicht nur ein Wirtschafts-, sondern auch ein Sozialgut. Die Besonderheiten des Wirtschaftsgutes „Wohnung“ erschweren jedoch die Entstehung eines durch Angebot und Nachfrage ausgeglichenen Marktes. Sie ist standortgebunden, die Planungs- und Produktionszeit ist länger, der Preis höher als bei fast allen anderen Wirtschaftsgütern. Dies schließt kurzfristige Reaktionen auf Veränderungen des Marktes aus. Da in Deutschland fast immer Wohnungsmangel herrschte, förderte der Staat den Wohnungsbau im Rahmen seiner Pflicht zur Daseinsvorsorge und zum Erhalt des sozialen Friedens. Die Katholische Kirche ließ und lässt sich dabei von christlicher Caritas leiten, hat aber auch noch weiter gehende Interessen. Nach ihrer Vorstellung ist die Wohnung elementare Voraussetzung für eine sittliche Lebensform und -gestaltung. Daher sollten entsprechend dem Leitbild für Familie und Eigentum – zumindest bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – in den von der Kirche geförderten Wohnsiedlungen möglichst nur Katholiken leben. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts betätigten sich die Amtskirche, katholische Organisationen und einzelne Geistliche im Marktsegment Wohnungsbau. Sie sammelten und spendeten Geld, gründeten (gemeinnützige und kommerzielle) Wohnungsgesellschaften und stellten Kirchenland als Baugrund in Erbpacht zur Verfügung. Die Grundsätze und Ziele der Kirche für den Wohnungsbau ergaben sich aus den dafür relevanten Enzykliken und programmatischen Erklärungen der Päpste, der deutschen Bischöfe und deren Beauftragte für Bauen und Siedeln. Darüber hinaus waren und sind die katholischen Soziallehre, das Menschen- und Familienbild der Kirche sowie die Erklärungen einzelner katholischer Persönlichkeiten bestimmend für den kirchlich geförderten Wohnungsbau. Die Kirche handelte im Marktsegment Bauen und Wohnen im Rahmen der aktuellen politischen und rechtlichen Bedingungen. Eigene Wege, um ihre familien- und wohnungspolitischen Ziele zu erreichen, konnte sie nur in diesem Rahmen gehen. Gleich-
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wohl hat die Kirche wiederholt versucht, Einfluss auf die staatliche Wohnungspolitik zu nehmen, was ihr insbesondere während der Regierungszeit von Bundeskanzler Konrad Adenauer durchaus gelungen ist. Mit der Enzyklika Rerum Novarum (RN) 1 des Papstes Leo XIII. (geb. 1810, Pontifikat 1878-1903) gelang der Katholischen Kirche im Jahre 1891 erstmals ein „Durchbruch zu einer aktiven katholischen Sozialpolitik.“ 2 Damit konnte sie ihre bisherige weitgehende Isolierung in sozialen Fragen durchbrechen und eine Zuständigkeit für die Lösung der Probleme der Industriegesellschaft für sich beanspruchen. RN wurde von Papst Pius XI. (geb. 1857, Pontifikat 1922-1939), einem der Nachfolger Leos XIII., als die Magna Charta der christlichen Sozialarbeit bezeichnet.3 In dieser Enzyklika wurde die Lösung der Arbeiterfrage durch soziale Reformen, und zwar durch Kirche und Staat gefordert, deren unterschiedliche Rollen Leo XIII. in RN erläutert hatte. Die Katholische Kirche in Deutschland und ihre Repräsentanten beriefen sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder auf die Aussagen in RN zur Würde des Menschen, Familie, Eigentum sowie zu Bauen und Wohnen. Diese sollten als Ordnungsfaktoren der Gesellschaft dazu beitragen, den Lebensraum der Familie zu sichern. RN enthielt bei einem insgesamt konservativen Weltbild die Aufforderung an die Arbeiterschaft, (Selbsthilfe-) Vereine zu gründen, ihre sozialen Probleme aus eigener Kraft zu lösen und dabei nur subsidiär die Hilfe des Staates in Anspruch zu nehmen. Im Jahre 1931 griff Papst Pius XI. die soziale Frage erneut auf. Während die Überschrift von RN Über die Arbeiterfrage lautete, ging es Pius XI. um die Gesellschaftspolitik als Strukturpolitik, also die gesellschaftliche Ordnung als Ganzes. Die Enzyklika Quadragesimo Anno (QA) 4, vierzig Jahre nach RN, enthielt keine neuen Forderungen zu Bauen und Wohnen, bestätigte gleichwohl deren segensreichen Auswirkungen. Auch der Nachfolger Pius’ XI., Papst Pius XII. (geb. 1876, Pontifikat 1939-1958), äußerte sich wie seine Vorgänger wiederholt zum Thema Wohnen und Wohnungsbau. Zur 50Jahr-Feier von RN stellte er im Jahre 1941 die Bedeutung des Bodens heraus, als „des Stück[es] Land, auf dem die Familie wohnt oder von dessen Früchten sie ganz oder wenigstens zum Teil lebt.“ 5 „Die Stabilität der Fami———— 1 2 3 4 5
Texte zur katholischen Soziallehre, S. 31- 67. Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft, S. 29. Enzyklika Quadragesimo Anno (QA), Nr. 39, zitiert nach den Texten zur Katholischen Soziallehre. Ebd., S. 91-148. Pfingstbotschaft Pius’ XII, zitiert nach Texte zur katholischen Soziallehre, S. 162.
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lie als Lebenszelle der Gesellschaft kommt nur vom eigenen Boden, vom eigenen Heim und Herd.“ Und in seiner Weihnachtsansprache im Jahre 1942 erklärte Pius XII.: „Wer will, daß der Stern des Friedens über dem menschlichen Gemeinschaftsleben aufgehe und leuchte, der denke daran, jeder Familie ihren eigenen häuslichen Herd zu besorgen, wo sich ein moralisch und materiell gesundes Familienleben in seiner Kraft und seinem Wert auswirken kann.“ 6 Diese Forderung ging über das in RN noch sehr allgemein gehaltene Recht auf Wohnung hinaus. Die Familie solle einen eigenen häuslichen Herd haben, nur im eigenen Heim könne sich ein Familienleben nach den Vorstellungen der Kirche entfalten. Das eigene (und nicht das gemietete) Familienheim wurde in sämtlichen Erklärungen nicht nur der Päpste, sondern auch der Katholischen Kirche in Deutschland und ihrer führenden Repräsentanten seit der Weimarer Zeit zu einer zentralen Forderung. Im Jahre 1949, nicht als päpstliche Enzyklika, sondern in einer Ansprache Pius' XII. an Fachleute des Wohnungsbaus, wurde die Notwendigkeit ausreichenden Wohnraums für Familien nicht technisch oder wirtschaftlich, sondern pastoral begründet. Die beiden Erklärungen bzw. Forderungen des Papstes von 1942 und 1949 wurden im April 1954 wörtlich in einer von Paul Lücke, zu dieser Zeit MdB (CDU) und Vorsitzender des Ausschusses für Wiederaufbau und Wohnungswesen im Deutschen Bundestag, herausgegebenen Schrift zitiert. Die Vorstellungen der Amtskirche und ihres höchsten Repräsentanten fanden so Eingang in die von Lücke veröffentlichte Broschüre Vorgeschichte, Begründung und Stand der Beratungen im Zweiten Deutschen Bundestag 7 (zum 2. Wohnungsbaugesetz). Der Politiker Lücke begründete also den Entwurf des 2. Wohnungsbaugesetzes seiner Partei unter anderem mit Forderungen des Papstes. Auch die Nachfolger von Papst Pius XII. forderten wiederholt eine angemessene Wohnung mit Hilfe der Kirche als eigenen Lebensbereich, besonders für Familien. Seit dem Jahre 1891 meldeten sich somit fast alle Päpste mit Enzykliken oder in anderer Form zu sozialen Fragen, zur Lage der Arbeiterschaft, zum Recht auf und zur Verpflichtung von Eigentum sowie zum Anspruch auf eine Wohnung für Jedermann (vorzugsweise als eigenes Heim, möglichst nicht als Mietobjekt) zu Wort. Bei allen sozialen Fragen, so auch beim Wohnungsbau, galt das Prinzip der Subsidiarität und der Solidarität. Diese Aussagen der Päpste zu Familie, Eigentum, Wohnen und Siedeln verstanden die deutschen Bischöfe und andere Geistliche, aber auch ———— 6 7
Zitiert nach Kirchlicher Anzeiger 1951, Nr. 176. Lücke, Paul, Gesetz zur Schaffung von Familienheimen, Vorwort.
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katholische Wohnungsbaugesellschaften als verbindliche Leitlinie für ihr Handeln. Die päpstlichen Verlautbarungen waren insoweit Grundlage der katholischen Soziallehre und damit Legitimation für kirchliche Organisationen und katholische Persönlichkeiten, Initiativen für Wohnungsbau und Siedlung zu ergreifen.
II. Während die Enzykliken und sonstigen Verlautbarungen der Päpste zum Thema Bauen und Wohnen weltweit galten, in ihrem überwiegend pastoralen Charakter sehr allgemein gehalten waren und keine speziellen Handlungsanweisungen enthielten, waren die Erklärungen der Bischöfe in Deutschland viel konkreter. Anstöße und Initiativen dazu kamen seit der Mitte der 1920er Jahre nicht nur von den Bischöfen, sondern von anderen. Monsignore (Prälat) Dr. Otto Müller, Verbandspräses der Katholischen Arbeiter- und Knappenvereine, aus denen im Jahre 1926 der katholische Verband Wohnungsbau und Siedlung (VWS) 8 hervorging, sowie Oswald von Nell-Breuning S.J. äußerten sich dazu. Der Jesuitenpater war bereits in der Weimarer Zeit und nach 1945 der führende Vertreter der katholischen Soziallehre. 1930 ernannte die Fuldaer Bischofskonferenz Prälat Maximilian Kaller, zu diesem Zeitpunkt Apostolischer Administrator von Schneidemühl, ab 1932 Bischof von Ermland, zu ihrem Siedlungsreferenten. Präsident des VWS wurde Kaller 1932. Um mit Hilfe der Katholischen Kirche in der Notzeit Lösungen für die drängende Wohnungsnot in der Weimarer Zeit zu finden, mussten dafür nicht nur einzelne Bischöfe, sondern die Mitglieder der Fuldaer Bischofskonferenz in ihrer Gesamtheit gewonnen werden. Wie wichtig die Unterstützung durch die deutschen Bischöfe war, zeigte sich bereits im Jahre 1930, als Kaller Hilfe für den in finanziellen Schwierigkeiten geratenen VWS forderte. Alle deutschen Bistümer sollten eine Unterstützung von 0,70 bis 1 Reichsmark pro 1.000 Seelen zahlen.9 Prälat Müller wandte sich mit einem Schreiben vom 5. Juli 1926 10 an den Erzbischof von Köln, Karl Joseph Kardinal Schulte, der für das im Gebiet des Erzbistums gelegene Mönchengladbach, dem Sitz der Verbandszentrale der Arbeiter- und Knappenvereine, zuständig war. Dem Schreiben an Kar———— 8 9 10
Der VWS wurde in der Rechtsform eines e. V. und als GmbH gegründet. Kritischer Bericht Kaller v. 29. Juli 1930. Archiv des Erzbistums Köln (AEK) CR I 14.24,2. AEK, CR I 14,24, Bl .9.
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dinal Schulte fügte Müller eine Informationsschrift über den VWS bei, um Schulte als zuständigen Ortsbischof für die Anliegen des Verbandes zu gewinnen. In dieser Schrift beklagte Müller, dass die Kirche bisher kein Konzept für Wohnungsbau und Siedlung entwickelt habe sowie die Zersplitterung der wenigen, im katholischen Volksteil bisher entstandenen Bau- und Siedlungsgemeinschaften. Dies könne mit der Gründung des VWS überwunden werden, dem die katholischen Arbeiter-, Beamten-, Gesellenvereine, die kaufmännischen Vereine, sowie die Jünglings- und JungfrauenKongregationen, also fast alle katholischen Organisationen von Bedeutung, korporativ beigetreten seien. Müller forderte, dass „im katholischen Volksteil eine Stelle vorhanden sein [müsse], die systematisch die außerordentlich verwickelte Gesetzgebung in der Bodenfrage, im Siedlungswesen [...] studiert und nach katholischen Grundsätzen beurteilt.“ Ein technisches Büro solle beim Entwurf von Bauplänen beraten. Geplant sei ein kostengünstiger Haustyp, der „wohnlich, gesund, praktisch und ohne falschen Schein ist, dabei allen Forderungen wahrer Sittlichkeit und Menschenwürde entspricht.“ Aufgabe der Zentrale des VWS wäre es, Sparsinn und Gemeinschaftsgeist zu wecken und die „Baulustigen“ durch Wort, Schrift und Bild auf die zahlreichen katholischen Verbandsblätter hinzuweisen. Außerdem wollte der VWS die Wohnkultur in den katholischen Familien durch Hinweise auf geschmackvolle und preiswerte Haushaltsgegenstände fördern. Schließlich wurde in der Informationsschrift noch ein zentrales Problem des Wohnungsbaus angesprochen, die Grundstücksfrage. Die „Kirche [solle] mit ihrem Landbesitz der Wohnungsnot abhelfen“, entweder als Reichsheimstättenausgeber 11, durch Bereitstellung von Baugelände in Erbpacht oder durch Grundstückstausch mit der jeweiligen politischen Gemeinde. In dieser Schrift aus dem Jahre 1926 fanden sich die wichtigsten Grundsätze für die Unterstützung des Wohnungsbaus durch die Kirche wieder. Die Katholische Kirche und katholische Organisationen sollten die Initiative für den Wohnungsbau ergreifen. Es sollten Eigenheime (keine Wohnungen) für Katholiken gebaut, die bauwilligen Katholiken beraten, katholische Institutionen bei Planung und Bauausführung unterstützt und Kirchenland als Baugelände zur Verfügung gestellt werden. Im Jahre 1927 wurde ein zwischen den deutschen Oberhirten abgestimmtes Bischöfliches Schreiben zur Wohnungsnot 12 als Hirtenbrief in den Gemeinden verlesen, in dem die schwierige Lage auf dem Wohnungsmarkt ———— 11
12
Das Reichsheimstättengesetz von 1920 regelte die Vergabe von Bau- und Siedlungsland durch Reich, Länder und Gemeinden, später auch durch die Kirchen. AEK, CR I 14.24.
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dargestellt wurde. Die gegenwärtigen Wohnverhältnisse ließen „kein freudiges, kein christlich gesittetes Familienleben“ zu. Der Geburtenrückgang, die sittlichen Ausartungen, Kindersterblichkeit und Krankheiten hätten ihre Ursache in den miserablen Wohnverhältnissen. „Es sei nicht Sache der Kirche, die [...] praktisch besten Wege der Wohnungsfürsorge aufzuweisen“. Dies sei gemeinsame Aufgabe des ganzen Volkes. Der Staat müsse zugunsten des Wohnungsbaus (andere) Prioritäten setzen. Die katholischen Geistlichen wurden aufgefordert, ihren Einfluss geltend zu machen und, soweit möglich, mit Kirchenvermögen zu helfen. „Mit besonderer Freude billigen wir es deshalb auch, daß die katholischen Standesvereine den Verband Wohnungsbau ins Leben gerufen haben.“ Das Hirtenwort schloss mit der Erwartung, dass das katholische Volk Verständnis, Tatkraft, Opfersinn und Ausdauer offenbare. „Tuet Gutes allen, besonders aber den Glaubensgenossen (Gal. 6,7)“ (Hervorhebung: M. V.). Das Hirtenwort beklagte die für jedermann offenkundige miserable Wohnungssituation in Deutschland im Jahre 1927. Es stellte fest, dass diese mit den Vorstellungen der Kirche unvereinbar sei, verwies auf die Zuständigkeit des Staates und der Kommunen, lehnte jedoch eigene Maßnahmen der Amtskirche ab. Die beiden einzigen darüber hinausgehenden Aussagen waren der Hinweis auf den VWS und auf die sehr vorsichtig angedeutete Möglichkeit, auf das Vermögen der Kirche zurückzugreifen. Dabei blieb offen, ob damit nur der Grundbesitz oder das gesamte Vermögen der Kirche gemeint war. Im Jahre 1928 versuchte der VWS ein weiteres Mal (nach dem ersten Versuch im Jahre 1926), die deutschen Bischöfe für seine Anliegen zu gewinnen. Die grundlegende Denkschrift vom 26. Juli d.J. über „Die Notwendigkeit einer großzügigen Wohnungs- und Siedlungspolitik mit ausgesprochen katholischer Prägung“ 13 wurde wie das Schreiben des VWS vom 5. Juli 1926 wiederum dem zuständigen Ortsbischof, Kardinal Schulte, Erzbischof von Köln, vorgelegt. Bereits das Anschreiben enthielt Hinweise auf den Inhalt der als Anlage beigefügten Denkschrift. Von einer „äußerst wichtigen Frage des katholischen Lebens“ wurde gesprochen. Die Formulierung des Titels der Denkschrift, die Adressaten (die in der Fuldaer Bischofskonferenz vereinigten deutschen Bischöfe), die ausführliche und differenzierte Darstellung der Wohnungssituation im Jahre 1928 und die Forderungen an Staat und Amtskirche rechtfertigen es, diese Schrift als die wichtigste programmatische Erklärung ———— 13
AEK, CR I 14.1.
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der Katholischen Kirche in Deutschland zum Wohnungsbau in der Weimarer Zeit zu werten. In der Einleitung wurde als Ausgangspunkt für alle folgenden Überlegungen „die Rettung der katholischen Familie“ als „dringendste Aufgabe unserer Zeit“ genannt (Seite 1). Sodann wurde ausführlich der Vorsprung der Sozialisten auf dem Gebiet des Wohnungsbaus beklagt. Deren Bauvorhaben würden „restlos“ durch die (den Gewerkschaften unterstehende) Versicherungsgesellschaft Volksfürsorge und die Arbeiterbank finanziert (Seite 3). Durch die Erfolge sozialistischer, liberaler und kommunaler Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften würde die sozialistische und liberale Weltanschauung gefördert, die Katholiken verlören ihren Einfluss (Seite 6). Dazu wurde in der Denkschrift ein nicht namentlich genannter Vertreter des Deutschen Caritasverbandes zitiert: „Wir Katholiken sorgen für die Kranken und Gebrechlichen; die Sorge für die Gesunden überlassen wir den Sozialisten und Liberalen“ (Seite 6). Der einzige Erfolg der Katholiken sei bisher die Gründung des VWS. „Dieser Verband bedarf der hingebendsten Förderung und unserer aufmerksamsten Sorge. Hier liegt die Keimzelle für eine großzügige Wohnungs- und Siedlungspolitik des katholischen Volksteils.“ Allein der VWS könne ein „sozialistisches, liberales Machtmonopol verhüten“ (Seite 7). Ausführlich wurden in der Denkschrift die Erfolge sozialistischer Wohnungspolitik am Beispiel der Stadt Wien erläutert, wo seit 1922 „wahre Wohnfestungen“ entstanden seien, die nach „strategischen Rücksichten für die Beherrschung der Stadt verteilt sind“ (Seite 8). Ein monatlich erscheinender Beamter kontrolliere dort nicht allein den baulichen Zustand, er lasse sogar Kruzifixe und Heiligenbilder entfernen. Die Wiener Wohnungen seien so klein, dass sich eine gesunde Familie nicht entwickeln könne. „Echt sozialistisch ist auch die durch die Wohnungsenge sich ergebende Fortnahme der Kinder aus dem Schoß der Familie und Betreuung derselben in gemeinschaftlichen Räumen“ (Seite 9). Die Denkschrift schloss mit Vorschlägen und Forderungen an die Fuldaer Bischofskonferenz und führte zu folgenden ersten Ergebnissen: - Ernennung eines ihrer Mitglieder zum Referenten für katholische Wohnungs- und Siedlungspolitik. Dieser Forderung wurde im April 1930 mit der Ernennung von Prälat Kaller durch die Fuldaer Bischofskonferenz entsprochen. - Werbung für den VWS in Kirchenzeitungen und Unterstützung durch die Bischöfe. - Förderung des Zwecksparens (d.h. des Bausparens). Am Fest der Heiligen Familie sollten die Geistlichen in der Predigt auf das Familienle-
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ben nach dem Bild der Katholischen Kirche und die Sorge für ein (eigenes) Heim hinweisen.14 Mit der Denkschrift vom 26. Juli 1928, deren Vorschläge und Forderungen zu Wohnungsbau und Siedlung von den Bischöfen überwiegend aufgenommen bzw. entsprochen wurde, trat die Amtskirche aus ihrem theologischen Elfenbeinturm heraus. Das Leitbild für Familie, Wohnungsbau und Siedlung sollte jetzt durch praktisches Handeln verwirklicht werden. Bereits In der Überschrift „Wohnungs- und Siedlungspolitik mit ausgesprochen katholischer Prägung“ war erstmals von Politik die Rede, was die Fuldaer Bischofskonferenz in ihrem Hirtenbrief 1927 noch mit Hinweis auf die Zuständigkeit des Staates und der Kommunen für den Wohnungsbau verneint hatte. Nach der Denkschrift des Verbandes VWS vom 26. Juli 1928 und der Erörterung der Probleme durch die Fuldaer Bischofskonferenz im August dieses Jahres wurden zahlreiche Persönlichkeiten aus dem Bereich der Katholischen Kirche in Deutschland zu einer Tagung in Düsseldorf am 27. November 1928 eingeladen. Da das Protokoll dieser Tagung als Niederschrift über die Verhandlungen Wohnungsbau und Siedlung im Lichte der katholischen Weltanschauung 15 vorliegt, sind Teilnehmer, Themen der gehaltenen Referate, die Meinungsbildung und Absichten für das weitere Vorgehen dokumentiert. Dem späteren Siedlungsreferenten der Fuldaer Bischofskonferenz, Prälat Kaller, wurde die Leitung der Düsseldorfer Tagung angetragen, die er annahm, was für seinen Einfluss spricht. An der Tagung nahm u.a. Oswald von Nell-Breuning teil. Er sprach über die Themen Bausparkassen, Hypotheken und Lebensversicherungen, nicht etwa über katholische Sozialethik. Domkapitular Dr. Albert Lenné (1878-1958), im Erzbistum Köln zuständig für das Bauwesen, redete über die Möglichkeiten der Kirche als Reichsheimstättenausgeber. Aus der Niederschrift ist eine Aufbruchstimmung unter den für Wohnungsbau und Siedlung maßgeblichen Persönlichkeiten der Katholischen Kirche zu erkennen. Bei dieser Tagung wurde in Übereinstimmung mit der Überschrift des Protokolls einmal mehr gefordert: Bau von Wohnungen und Siedlungen für katholische Familien, Leben und Wohnen in einem möglichst abgeschlossenen katholischen Milieu (jedoch ohne Verwendung dieses Begriffs) sowie die Abwehr von sozialistischem Gedankengut zur Immunisierung der Bewohner gegen alles, was nicht katholisch ist. ———— 14
15
Das Erzbischöfliche Generalvikariat Köln wies die Geistlichkeit darauf mit Schreiben v. 4. Januar 1930 hin. Dem Schreiben war ein Predigtentwurf zum Sparsonntag beigefügt. AEK, CR I 14.24,2, Bl. 0589f. Erzdiözesanbibliothek Köln, Typoskript, Stand Nr. D 1277.
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Die schlechte Lage auf dem Wohnungsmarkt während der gesamten Weimarer Zeit war auch Anlass zu programmatischen Entschließungen auf den Katholikentagen in Magdeburg (1928) und Freiburg im Breisgau (1929) 16, die nicht von den deutschen Bischöfen, sondern vom Zentralkomitee der Deutschen Katholiken veranstaltet wurden. In der Entschließung von 1928 wurde auf den Hirtenbrief der deutschen Bischöfe von 1927 zur Wohnungsfrage und auf den VWS verwiesen. Bemerkenswert ist, dass die Entschließung von 1928, abgesehen von dem Hinweis auf den VWS, lediglich einen Katalog von Forderungen an außerkirchliche Stellen enthielt, jedoch theologische, sozial-ethisch-kirchliche Begründungen oder die Berufung auf päpstliche Enzykliken fehlten. Dies unterschied die Entschließung von 1928 von der des Freiburger Katholikentages im folgenden Jahr, in der RN als Begründung für das eigene Familienheim und das Recht auf Eigentum zitiert wurde. Die Entschließung von 1929 forderte einen „Lastenausgleich“ durch den Staat zugunsten der Familie, damit die Hausfrau der Familie erhalten bleibe (und nicht einen außerhäuslichen Beruf ausüben müsse). Die weibliche Jugend solle entsprechend diesem Leitbild erzogen werden. Alle Katholiken wurden aufgerufen, den VWS zu unterstützen, „der unter Führung der hochwürdigsten Herren Bischöfe die städtische und vorstädtische Wohnsiedlung [...] nach katholischen Grundsätzen und nach den Erfordernissen echt katholischen Familienlebens zu gestalten sucht.“ Die Freiburger Entschließung von 1929 unterschied sich von der des Vorjahres somit erheblich. Unter Berufung auf RN wurde das Recht auf Wohnung und Eigentum betont und das Leitbild der katholischen, kinderreichen Familie mit der nicht berufstätigen Hausfrau und Mutter aufgezeigt. Kaller vertrat unmittelbar nach seiner Ernennung zum Siedlungsreferenten der Fuldaer Bischofskonferenz in zahlreichen Schriften und Erklärungen, u.a. auch bei Katholikentagen, seine Meinung zu Bauen und Siedeln. Die Generalversammlung der Katholiken Deutschlands (Katholikentag) im September 1930 in Münster i. W. bot ihm erstmals Gelegenheit, seine Auffassung zu Boden und Wohnraum vor einer größeren (katholischen) Öffentlichkeit darzulegen und dabei die familien- und gesellschaftspolitischen Ziele der Kirche vorzustellen.17 Dabei nahm er nicht nur seine Kirche, sondern auch den Staat in die Pflicht, die in der Wohnungsfrage ein gemeinsames Interesse hätten, und stellte fest, dass die Wohnungsnot nicht allein durch die Kräfte des Marktes überwunden werden könne. In einem weiteren Vortrag bei ———— 16 17
AEK, CR I 14,24,2, Bl. 0626, 0627. Kaller, Die Bedeutung des Wohnungsbaus, S. 365.
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der Generalversammlung der Katholiken 1932 in Essen 18 betonte Kaller seine dreifache Autorität: „als Bischof unserer heiligen Kirche, als Siedlungsreferent der Fuldaer Bischofskonferenz und als Präsident des VWS e. V.“ Unter der Überschrift „Wir Katholiken und Wohnungsbau und Siedlung“ formulierte er drei zentrale Forderungen: „- Wir Katholiken müssen siedeln, - Wir Katholiken müssen katholisch siedeln, - Wir Katholiken werden durch gemeinschaftliche Arbeit unser Ziel erreichen.“ Dabei fasste er alle Arten von Siedlung zusammen: die Vorstadt- bzw. Stadtrandsiedlung, die landwirtschaftliche Siedlung, die Umsiedlung von Städtern auf das Land und die so genannte Primitivsiedlung. Zunächst wurden wiederum die päpstlichen Enzykliken RN und QA mit ihren Aussagen zu Familie und Eigentum zitiert und die Entproletarisierung durch Vermögensbildung gefordert. „Die Lösung ist: Das Eigenheim, die eigene Scholle, die Siedlung, die naturgetreue katholische Familie.“ Kaller verwies auf die Vorteile der geschlossenen katholischen Siedlung mit eigener Kirche und Schule, die den Siedlern Halt und Stütze biete. Nach der Angabe von Zahlen über die ländliche Siedlung von Katholiken in Ostdeutschland erklärte er, dass die Siedlung „für viele Menschen die Errettung aus einem sündhaften Zustand [sei], [daher] haben wir die heilige Pflicht [Hervorhebung: M. V.] zu siedeln.“ Der Vortrag schloss mit dem (erneuten) Hinweis auf den VWS, zu dessen Präsident er gewählt worden sei. Vorsitzender würde in Kürze Minister Hirtsiefer 19, 2. Vorsitzender Msgr. Dr. Müller, 3. Vorsitzender Prälat Dr. Kreutz, der Präsident des Deutschen Caritasverbandes. In seiner Schrift Siedlung und Katholizismus 20 vertrat Kaller 1933 erneut und nicht überraschend zu Wohnungsbau und Siedlung die Grundsätze seiner Kirche und erklärte: „Wir haben die Wahrheit.“ Unter Berufung auf die päpstlichen Enzykliken RN und QA forderte er, „wenn der Lohn des Mannes [...] nicht ausreicht, [...], wenn andererseits die Frau Erwerbsarbeit nicht übernehmen soll, woher kann dann die Familie ausreichend Einkommen beziehen? Die Lösung ist: Das Eigenheim, die eigene Scholle, die der Frau und den Kindern Gelegenheit zu gesunder Betätigung gibt.“ Der Katholik „muß die naturgetreue Familie wünschen und mit der Familie ein Heim.“ Kaller verurteilte die „Streusiedlung“ und forderte auch an dieser ———— 18 19
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Schriftenreihe des VWS, Nr. 1/1933, S. 3 (Erscheinungsort Köln). Heinrich Hirtsiefer (1876 -1941), preußischer Wohlfahrtsminister, 1933 kurzzeitig preußischer Ministerpräsident. Kaller, Siedlung und Katholizismus, S. 7.
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Stelle erneut: „Wir Katholiken müssen katholisch siedeln.“ Der große Kinderreichtum katholischer Familien rechtfertigte nach Kallers Auffassung eine entsprechend größere Zuteilung von Grund und Boden als an andere gesellschaftliche Gruppen. Die katholische Siedlung in Stadt und Land erleichtere den Besuch der nahe gelegenen Pfarrkirche und Schule, die „Streusiedlung“ müsse dagegen entschieden abgelehnt werden, schon allein deshalb, weil durch Diaspora und Mischehen der Katholischen Kirche jährlich 75.000 Kinder verloren gingen. In der Schrift wurde außerdem auf die richtige Auswahl und Schulung der Siedler, auf Schrifttum zu Wohnungsbau und Siedlung (u.a. von Oswald von Nell-Breuning) sowie auf die Möglichkeiten des VWS zur Förderung von Wohnungsbau und Siedlung hingewiesen.21 Die nationalsozialistischen Machthaber schränkten Kallers Wirkungsmöglichkeit ab 1933 durch Schließung des Kölner Büros des Katholischen Siedlungsdienstes (KSD), der Nachfolgeorganisation des VWS für die städtische Siedlung erheblich ein. Das für ländliche Siedlungen in Ostdeutschland zuständige Büro des KSD in Berlin konnte zunächst unter Kallers (geistlicher) Leitung weiterarbeiten, bis es 1941 von den Nationalsozialisten ebenfalls geschlossen wurde. Erst 1929 meldete sich der Deutsche Caritasverband (DCV), später als der VWS, die Katholikentage und die deutschen Bischöfe, zu Wohnungsbau und Siedlung mit einer Denkschrift 22 zu Wort. Es kann daher nicht überraschen, dass diese Grundsatzerklärung des DCV vom 10. Oktober 1929 weder neue oder gar abweichende Vorstellungen enthielt. Auch der DCV forderte in der genannten Denkschrift die Verwurzelung der Familien durch ausreichenden Besitz an Wohn- und Produktionsmitteln. Außerdem wurden Kasernierung, Geburtenrückgang, Verfall der sittlichen Kräfte, Trunksucht, Geschlechtskrankheiten, Kindersterblichkeit und Tuberkulose als Folge der Wohnungsnot beklagt. Wie andere katholische Organisationen und Persönlichkeiten der Kirche verurteilte der DCV die „genormte Frankfurter Wohnung und Küche“ 23, die „Freizügigkeit und Mischung der Mietermassen [...] in sozialistischen Wohnblocks“. Die Schilderung der Lage der katholischen Familien infolge der Wohnungsnot stimmte weitgehend mit den Überlegungen von Oswald von Nell-Breuning überein, der in der Denkschrift des DCV auch zitiert wurde. Die Forderungen des DCV zum Wohnungsbau waren somit weitgehend ———— 21 22 23
Ebd., S., 17, 20, 29, 34. Denkschriften und Standpunkte der Caritas, S. 454 - 459. Damit waren die Konzepte des Frankfurter Stadtbaurates Ernst May für Kleinwohnungen und die von der Innenarchitektin Grete Schütte-Lihatzki entwickelte, standardisierte Kleinküche gemeint.
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identisch mit denen des VWS, dem Hirtenwort der Bischöfe von 1927 und anderen Erklärungen aus dem Bereich der Katholischen Kirche. Der DCV hatte keine eigenen oder abweichenden Vorstellungen zum Wohnungsbau entwickelt. Auch fehlten Vorschläge, wie 1929, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise und bei der äußerst angespannten wirtschaftlichen Lage im Deutschen Reich, Eigenheime (als Einfamilienhäuser) mit Garten und Kleintierzucht nicht nur für wirtschaftlich schwache Katholiken zu finanzieren seien. Außer dem Hinweis auf Förderung und Beratung durch den VWS in Köln enthielt die Denkschrift keine realisierbaren Vorschläge zur Lösung des Problems der Finanzierung. Auch wenn der DCV als Ausnahme „städtische Wohnblocks“, aber nur in weltanschaulichem Nachbarschaftsverband mit der Kirche zulassen wollte, blieb das wohnungspolitische Ideal für Katholiken das Eigenheim mit Nutzgarten. Insgesamt blieb der Einfluss des DCV auf den Wohnbau für Katholiken ideell und faktisch während der Weimarer Zeit gering. An der Formulierung von Grundsätzen und Zielen der Katholischen Kirche in Deutschland für Wohnungsbau und Siedlung beteiligten sich auch weitere Persönlichkeiten, die weder für einen mitgliederstarken katholischen Verein sprechen konnten noch ein bischöfliches oder anderes Amt in der Hierarchie der Kirche bekleideten. An erster Stelle ist hier der bereits erwähnte Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning zu nennen, seit 1928 Professor für Moraltheologie, Kirchenrecht und Gesellschaftswissenschaften in Frankfurt am Main, der sich seit der Mitte der 1920er Jahre inner- und außerhalb der Kirche ein hohes Ansehen in seinem besonderen Fachgebiet, der katholischen Soziallehre, erworben hatte. Von Nell-Breuning beriet den VWS, andere katholische Organisationen und Siedlungsgenossenschaften nicht nur bei Fragen der Bodenpolitik. In zahlreichen Aufsätzen äußerte er sich in der Weimarer Zeit zu Hausbesitz, Heimstätten, Kleingärten, Erbbaurecht, Siedlung, Wohnungsbau und Wohnungswirtschaft, Kirche und Eigentum sowie zum Begriff und den Pflichten des Eigentums. Seine Mitarbeit an der päpstlichen Enzyklika QA (1931) spricht für sein hohes Ansehen in der Weltkirche. Im Gegensatz zu sämtlichen Erklärungen der Katholischen Kirche zu Wohnungsbau und Siedlung hatte von Nell-Breuning die wohl einmalige Einsicht: „Auch andere Wohnformen [können als Zwischenlösung bis zu einem eigenen Einfamilienhaus, M. V.] zweckmäßig und notwendig sein.“ 24 Sehr viel grundsätzlicher waren von Nell-Breunings Überlegungen zu Bo———— 24
Flugschrift des VWS Nr. 3, S. 11.
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denreform, Wohnung und Siedlung.25 Unter Berufung auf RN und den Kirchenvater Thomas von Aquin (1224-1274) bestätigte er, dass unter Beachtung der Gesetze der Gerechtigkeit nach Auffassung aller christlichen Sozialphilosophen und katholischen Theologen die Staatsgewalt rechtmäßig Eigentum einziehen dürfe, wenn dies für das menschliche Gemeinschaftsleben notwendig sein sollte (Seite 4). Nur im Wege katholischer Gemeinschaftsarbeit würden durch Schaffung von Wohnungen, durch Gestaltung ganzer Wohnsiedlungen in unserem Sinne die Wohnverhältnisse so beeinflusst, wie es dem „Erblühen eines christlich-katholischen Familienlebens frommt.“ (Seite 7) Dies sei Aufgabe einer starken und geschlossenen katholischen Volksbewegung in Sachen Wohnungsbau und Siedlung (Seite 8). Von Nell-Breunings Formulierungen, von anderen Repräsentanten der Kirche übernommen, blieben bis in die Zeit nach 1945 Leitlinie für den Wohnungsbau von und für Katholiken. Seine Unabhängigkeit als Wissenschaftler und Professor erlaubten es von Nell-Breuning, obwohl als Priester und als Jesuit der Kirche zu besonderem Gehorsam verpflichtet, nicht nur theologische oder sozialethische Thesen zu formulieren, sondern sich auch politisch zu exponieren. Titel und Inhalt seines Aufsatzes Wohnstätten als Kampffeld der Weltanschauungen 26 kennzeichnen diese als eine derartige politische Kampfschrift. Von Nell-Breuning entwarf in seinem Aufsatz auch ein Gegenmodell zu den Wiener Gemeindebauten. In den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte er das katholische Familienideal: die nicht berufstätige Hausfrau, der ein Wirkungsfeld im Bereich ihres Heimes zu schaffen sei, um in der Gartenpflege und in der Kleintierzucht produktiv zu sein. Damit sollten in einem höherem, nicht wirtschaftlichen, Sinn kulturelle und moralische Werte geschaffen, gepflegt oder gerettet werden. In der Erziehung der Kinder, in der Pflege wahrer Häuslichkeit könnten gesunde sittliche Grundsätze und lebendiges Christentum am leichtesten und besten gedeihen. Mit diesen Sätzen präzisierte von Nell-Breuning Mal seine familien- und wohnpolitischen Vorstellungen. Die katholische Familie, in der die Hausfrau keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, solle in einer katholischen Gemeinschaftssiedlung mit katholischer Kirche und Schule auf eigenem Boden leben, immunisiert gegen anderes als katholisches Gedankengut, abgeschirmt gegen Liberalismus und Sozialismus „mit ihrer mechanistischen Lebens- und Weltanschauung, für die der Mensch nur Nummer ist, die den Menschen vermaßt.“ 27 ———— 25 26
Flugschrift des VWS Nr. 5/6. Stimmen der Zeit, Bd. 118 (1930), S. 46-58.
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Auch einzelne katholische Laien äußerten sich in den letzen Jahren der Weimarer Republik zu Wohnungsnot und Wohnungsbau für Katholiken. Abgesehen von Politikern der Zentrumspartei vertrat vor allem Nikolaus Ehlen (1886-1965) in Aufsätzen, Büchern und Reden sowie durch persönliches Vorbild zu Fragen von Wohnungsbau und Siedlung für Katholiken eine dezidierte, nahezu kompromisslose Auffassung. Er suchte und fand Gelegenheit, sich in zahlreichen Gremien der Katholischen Kirche, bei Katholikentagen, Bischöfen und katholischen Siedlergemeinschaften in Wort und Schrift für das familiengerechte Heim auf eigener Scholle einzusetzen, zumeist in Verbindung mit der Forderung nach einer umfassenden Bodenreform. Unter dem Eindruck der Elendsquartiere des Proletariats in den Mietskasernen der Großstadt, besonders in Berlin, bezeichnete Ehlen den sich nach seiner Meinung darin äußernden Materialismus als Verstoß gegen das Gebot der Nächstenliebe und das 7. Gebot (Verbot des Diebstahls). Er verurteilte die Bodenspekulation. Boden sei keine Ware, und nach Gottes Wort stehe jedem Menschen ein Stück zu.28 Mietwohnungen in Geschossbauten hatten in Ehlens Vorstellungen dagegen keinen Raum. In der rheinischen Kleinstadt Velbert, im Gebiet des Erzbistums Köln gelegen, konnte er seine Vorstellungen vom familiengerechten Heim auf eigener Scholle in einer kleinen Siedlung in die Praxis umsetzen. 1933 musste Ehlen auf Druck der Nationalsozialisten seine Ämter in der Velberter Siedlung aufgeben und war weitgehend zum Schweigen verurteilt. Nach 1945 setzte er sich wieder mit unverminderter Kraft für seine Siedlungsideen ein. Ehlens kompromissloser Einsatz für das Siedlungshaus mit eigenem Garten zur Selbstversorgung vor 1933 und nach 1945 sowie die Ablehnung von Mietwohnungen ignorierte die nicht vermehrbare Ressource Boden. Sein Siedlungsprojekt in Velbert mit gerade 40 Siedlerstellen, in einer besonderen wirtschaftlichen und politischen Situation 1932 entstanden, war keine Bestätigung seiner grundsätzlichen Ideen. Dass er in seiner Kirche so viel Gehör fand, ist auch damit zu erklären, dass die Ideen des „Siedlervaters“ Nikolaus Ehlen den Vorstellungen der Kirche zu Wohnungsbau und Siedlung weitgehend entsprachen. Im Grunde war er, auch bei Würdigung seines unermüdlichen Einsatzes, ein Sozialromantiker, dem in der Weimarer Zeit und nach 1945 nur in bescheidenem Maße Erfolg beschieden war. Die Denkschriften des VWS von 1926 und 1928, die Düsseldorfer Tagung am 27. November 1928, die zahlreichen Aufrufe, Ansprachen und Aufsätze, insbesondere von Kaller und von Nell-Breuning, die umfassende ———— 27 28
Ebd., S. 59. Brüne, Das familiengerechte Heim, S. 137.
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Information des Klerus und der deutschen Katholiken über Grundsätze und Ziele der Kirche für Wohnungsbau und Siedlung führten nicht zu einem nachhaltigen Erfolg. Dies kann mit der beispiellosen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage infolge der Weltwirtschaftskrise ab 1929, aber auch mit den begrenzten Möglichkeiten und Kenntnissen der Amtskirche und der katholischen Organisationen auf dem Gebiet des Wohnungsbaus erklärt werden. Mit Schreiben vom 29. Juli 1930 an die Mitglieder der Fuldaer Bischofskonferenz legte Kaller einen Kritischen Bericht über den Verband Wohnungsbau und Siedlung 29 vor. Es sei zu unüberwindlichen Differenzen innerhalb des VWS bei Personal, Finanzen und Zuständigkeitsfragen gekommen. Ebenso seien Spannungen zwischen dem Deutschen Caritasverband einerseits und den katholischen Arbeitervereinen und den Christlichen Gewerkschaften andererseits entstanden, „wo allein das Lebensinteresse des katholischen Volksteils und der Katholischen Kirche in Deutschland maßgebend sein müsse.“ Die katholische Wohnungsbaubewegung sei „bedenklich beeinträchtigt [worden]“.30 Erforderlich sei ein personeller und organisatorischer Neubeginn. Besonders kritisch äußerte sich Kaller über seinen Confrater, Prälat Otto Müller, den Vorsitzenden des VWS e.V. Seine durchaus substantielle Kritik an Müller und der Arbeit des VWS war mehr als eine Querele zwischen zwei Prälaten, zumal der Verband auch in finanzielle Bedrängnis geraten war. Dies mag erklären, dass Kaller 1932 Präsident des VWS e. V. und Heinrich Hirtsiefer 1. Vorsitzender, Otto Müller nur noch 2. Vorsitzender wurden. Der VWS überlebte also zunächst den Kritischen Bericht von 1930. Der Verband klagte über schleppende Einzahlungen und ausbleibende Mitgliedsbeiträge, so dass die Information bauwilliger Katholiken, die selbst gestellte Hauptaufgabe, stark eingeschränkt werden müsse. Noch ungünstiger entwickelte sich die finanzielle Situation des VWS als GmbH. Nachdem das Stammkapital von 50.000 Reichsmark bei der Gründung mit Mühe aufgebracht worden war, und die GmbH am 19. November 1929 gegründet werden konnte, überstiegen die Ausgaben (Sach- und Personalkosten für die Zentrale und die inzwischen gegründeten Bezirksstellen) alsbald die Einnahmen und das Stammkapital. Auch ein zinsloses Darlehen der Bausparkasse Wüstenrot, das für den Verzicht auf die zeitweilig erwogene Gründung einer eigenen katholischen Bausparkasse gewährt wurde, konnte den Untergang nicht verhindern. Die GmbH beendete am 1. November 1931 ihren Geschäftsbetrieb und wurde sechs Wochen später liqui———— 29 30
AEK, CR I 14.24,2. Ebd., S. 1-7.
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diert.31 Damit verlor die Katholische Kirche in Deutschland ihre wichtigste Institution zur Förderung von Wohnungsbau und Siedlung, mit der der Rückstand gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen hätte aufgeholt werden können. Ab 1933 bestimmte das nationalsozialistische Regime alle Bereiche der Politik, auch den für Wohnungsbau und Siedlung. Die Einflussnahme der Katholischen Kirche auf die Wohnungspolitik wie in der Weimarer Zeit über die Zentrumspartei war nach deren Auflösung am 5. Juli 1933 nicht mehr möglich. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges musste sich die Kirche in zunehmendem Maße mit den Folgen der Zerstörung des Wohnungsbestandes auseinandersetzen, auch dem der katholischen Wohnungsgenossenschaften, soweit es diese noch gab. Das Schicksal der Ausgebombten wurde in der Kriegszeit zu einer viel größeren und drängenden Herausforderung für praktizierte christliche Nächstenliebe als etwa Wohnungspolitik oder Wohnungsbau von Katholiken für Katholiken. Die Kirche verschloss sich ab 1933 jedoch nicht den Bitten der Regierung, weiterhin Kirchenland für Wohnungsbau und Siedlung zu Verfügung zu stellen. Mit dem Nationalsozialismus ergaben sich dagegen in steigendem Maße Konflikte im Bereich der Religionsausübung, was 1937 Papst Pius XI. in seinem Schreiben „Mit brennender Sorge“ zum Ausdruck brachte. In der NS-Zeit erhöhte das nationalsozialistische Regime den Druck auf die Kirche, auch auf die katholischen Wohnungsbaugesellschaften. So wurden in Köln einige traditionsreiche, seit Jahrzehnten erfolgreiche katholische Gesellschaften aufgefordert, sich mit anderen, weltanschaulich neutralen zusammenzuschließen.
III. Ab 1946 entfaltete die Katholische Kirche in Deutschland wieder eine vielfältige programmatische Tätigkeit auf dem Gebiet von Wohnungsbau und Siedlung. Sie versuchte, dazu an Ideen und Organisationen aus der Weimarer Zeit anzuknüpfen. Auch die Persönlichkeiten, die bereits vor 1933 Ideengeber für den Wohnungsbau waren, meldeten sich wieder zu Wort, vor allem Oswald von Nell-Breuning und Nikolaus Ehlen sowie Bischof Kaller, der jedoch bereits 1947 verstarb. Im Bereich der Politik suchte und fand die Katholische Kirche jetzt Kontakt zur CDU/CSU. Der spätere ———— 31
Diese Darstellung folgt Schillinger, Wenn der Herr nicht baut, S. 179.
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Bundeskanzler und Bundesvorsitzende der CDU, Konrad Adenauer, hatte bereits 1941 in einem privaten Schreiben an seinen Sohn Paul 32, den späteren Prälaten, die Grundsätze der Wohnungspolitik für die Nachkriegszeit skizziert: Nur bei Verwurzelung durch Grundeigentum sei ein menschenwürdiges Leben, und bürgerliches Engagement in Kirche und Staat möglich. Die Bischöfe hatten richtig erkannt, dass sie sich beim Wiederaufbau nicht auf den religiösen Bereich beschränken konnten. In einem der ersten Hirtenbriefe der Nachkriegszeit vom 25. April 1946 33, der von den Kanzeln am 15. September 1946 verlesen wurde, forderten die Bischöfe den Schutz der Familie durch den Staat, deren „positive Förderung“ und „die Förderung des Wohnungsbaus als vordringlichste Aufgabe.“ Dabei blieb offen, wer oder was mit dem Staat gemeint war, da im August 1946 einzelne Bundesländer sich gerade erst mit Billigung der Alliierten konstituiert hatten. Kardinal Frings übernahm als neuer Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz eine führende Rolle. In seinem Fastenhirtenbrief vom 20. Januar 1947 34 entfaltete er die Grundsätze eines sozialen Programms für die Kirche in der Nachkriegszeit. „Sein Schreiben liest sich wie ein aktualisierter Abriss der katholischen Soziallehre.“ 35 Die Fuldaer Bischofskonferenz ernannte den Aachener Bischof Johannes van der Velden zum Nachfolger des 1947 verstorbenen Bischofs Kaller als ihrem neuen Siedlungsreferenten. Geschäftsführer des Katholischen Siedlungsdienstes wurde nach dem Tode Kallers Prälat Franz Wosnitza. Kardinal Frings meldete sich in seinen Hirtenbriefen 1946 und 1947 auch zu den Problemen von Wohnungsbau und Siedlung zu Wort. Aufgrund seiner Persönlichkeit, der Nähe zum künftigen Regierungssitz Bonn und seiner Verbindungen zum ersten Bundeskanzler Adenauer nutzte er seine Einflussmöglichkeiten in zahlreichen Politikfeldern, so auch für den Wohnungsbau. Frings erinnerte an die päpstliche Enzyklika RN mit ihren Aussagen zur Eigentumsordnung und Eigentumsverteilung, zur gerechten Verteilung des Ertrages der Arbeit und zum Recht eines jeden, Eigentum zu erwerben. In seinem Fastenhirtenbrief, vermutlich Ende 1946, unter dem Eindruck der Lage im Nachkriegsdeutschland entstanden und im Januar 1947 verkündet, ging Frings auf die Wohnungsfrage ein, die für die Menschen zu dieser Zeit von herausragender Bedeutung war. Dabei wurde trotz ———— 32
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Unveröffentlichtes Schreiben Konrad Adenauers an seinen Sohn Paul v. 30. Oktober 1941. Nachlass Prälat Paul Adenauer. Baadte, Neuordnung in den Hirtenbriefen 1945-1949, S. 105. Löhr, Hirtenbriefe, S. 154-161. Baadte, Neuordnung in den Hirtenbriefen 1945-1949, S. 106.
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Nationalsozialismus und Krieg eine ungebrochene Kontinuität der Auffassungen der Katholischen Kirche zu Wohnungsbau und Siedlung deutlich: „Jeder Familie ein Stück Erdboden muß als Ziel unverrückbar festgehalten werden. Das Eigenheim mit Garten und der Möglichkeit zur Kleintierzucht sollte von jeder Familie angestrebt und vielen auch möglich gemacht werden.“ 36 Der durch die Kriegszerstörungen, die Rückkehr der Ausgebombten, den Zuzug von Flüchtlingen und Vertriebenen in der unmittelbaren Nachkriegszeit bereits sehr große Wohnungsmangel verschärfte sich ab 1946 weiter. Da ein Ende der Besatzungszeit vorerst nicht absehbar war, entschlossen sich die Alliierten, die Familien ihrer Soldaten nach Deutschland nachziehen zu lassen. Hierzu wurden zum Beispiel ab 1946 in Köln für Briten und Belgier zahlreiche unzerstörte Häuser und Wohnungen einschließlich Mobiliar beschlagnahmt und die bisherigen Bewohner in andere Quartiere eingewiesen. Die Besatzungsbehörden sahen in einer längeren Familientrennung ein soziales und moralisches Problem. Frings wandte sich in mehreren Briefen in scharfem Ton an den Stadtkommandanten mit der dringenden Bitte, die Beschlagnahmungen zu beenden. Um seinem Anliegen mehr Nachdruck zu verleihen, schrieb Frings an die Kardinäle Griffin in London sowie van Roey in Mechelen (Belgien) und schilderte die Auswirkungen der Beschlagnahmungen. Ein Erfolg seiner Bemühungen blieb Frings versagt. Sein belgischer Mitbruder wies auf die Beschlagnahme belgischer Häuser durch deutsche Truppen während des Zweiten Weltkrieges und auf die moralischen Gefahren für die von ihren Familien getrennten belgischen Soldaten hin.37 Unmittelbar nach dem Ende des Krieges nahm auch das ZDK, Veranstalter der Katholikentage in Deutschland, seine Tätigkeit wieder auf und lud zum ersten Katholikentag in Mainz (September 1948) ein. Hier wollte man bewusst an die „sozialen Traditionen“ 38 des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel Frhr. von Ketteler (1811-1877) anknüpfen. Mit dem Leitwort Der Christ in der Not der Zeit wurde zur Solidarität mit den Flüchtlingen, Obdachlosen und Hungernden aufgerufen. Die drängende Wohnungsfrage müsse durch Eigenheime mit Garten für möglichst viele Familien gelöst werden. Deutschland, das klassische Land der Mietskaserne, müsse diese Wohnform schleunigst aufgeben. Nur das Eigenheim mit Garten sei Voraussetzung für eine gesunde Familienentwicklung. Obwohl dies kurzfristig ———— 36 37 38
Kirchlicher Anzeiger1946, Nr. 321. Diese Darstellung folgt Trippen, Kardinal Frings, S. 313-318. Mathy, Ein katholischer Vorort, S. 87.
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nicht erreichbar war, wurde deutlich, dass damit bewusst an die Grundsätze und Ziele der Katholischen Kirche für den Wohnungsbau in der Weimarer Zeit angeknüpft werden sollte. Außerdem wurde beschlossen, den Wohnungsbau über den 1947 neu gegründeten Katholischen Siedlungsdienst (KSD) und die regionalen Diözesansiedlungswerke zu organisieren. Wohnen und Siedeln hatten aufgrund des kriegsbedingten Mangels am Ende der 1940er Jahre in Deutschland eine solche Bedeutung, dass dieses Thema wie 1948 in Mainz auch beim Katholikentag in Bochum 1949 erneut breiten Raum einnahm. Hier kamen die wichtigsten Akteure für Wohnungsbau und Siedlung der Katholischen Kirche in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu Wort.39 Sämtliche Redner ließen keinen Zweifel daran, dass ausschließlich das Siedlungshaus mit Garten zur Selbstversorgung, nicht etwa Mietwohnungen in einem Mehrfamilienhaus, dem Bild der katholischen Familie entspräche. Heinrich Lübke, 1949 Minister für Ernährung und Landwirtschaft in NRW, forderte unter Berufung auf RN und die Ansprache von Papst Pius XII. zur 50-Jahr-Feier von RN 1941 „ein eigenes Heim und einen eigenen Herd, die Kleinsiedlung.“ Mit Heinrich Lübke meldete sich, erstmals auf einem Katholikentag der Nachkriegszeit, ein namhafter CDU-Politiker zu Wort, dessen Auffassungen zu Wohnungsbau und Siedlung vollständig mit denen der Katholischen Kirche übereinstimmten. Auf einem Katholikentag, bei dem es nach dem Selbstverständnis der Kirche um die Verkündigung und Festigung des Glaubens und um die Darstellung der Kirche in der Öffentlichkeit ging, wurden grundsätzliche Forderungen zu Wohnungsbau und Siedlung gestellt, was im Hinblick auf das Familienbild der Katholischen Kirche, die Erklärungen der Päpste, der Bischöfe und die 1949 herrschende Not noch verständlich ist. Das Kleinsiedlungs- und Einfamilienhaus wurde als die ausschließliche Wohnform für die katholische Familie postuliert. Kein Redner des Katholikentages äußerte sich jedoch dazu, wie im Jahre 1949 in Bochum, im Zentrum des Ruhrgebietes, Kleinsiedlungen mit „Landzulage“ für jedermann oder zumindest für Katholiken gebaut werden könnten. Nachdem während des Katholikentages Bischöfe und andere Geistliche, Laien und Helfer ein „Stundenopfer“ bei den etwa 500.000 Katholikentagsbesuchern gesammelt hatten, wurde unter Vorsitz des Präsidenten des Zentralkomitees der Deutschen Katholikentage, Karl Erbprinz zu Löwenstein, und auf Anregung von Nikolaus Ehlen eine Stiftung für den Bau eines Katholikentagsdorfes im Bochumer Vorort Harpen beschlossen. In dieser ———— 39
Entschließungen und Reden beim Bochumer Katholikentag, veröffentlicht in der Broschüre Gerechtigkeit schafft Frieden.
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Siedlung konnten bis 1952 in voller Übereinstimmung mit den Erklärungen und Forderungen des Katholikentages auf 6,6 Hektar Kirchenland in drei Bauabschnitten 76 Siedlungshäuser mit 98 oder 78 qm Wohnfläche, Stall und Garten errichtet werden, und zwar für Kinderreiche, Ausgebombte, Flüchtlinge, Kriegsbeschädigte und Familien aus Notquartieren.40 Noch einmal wurde 1954 die Idee aufgegriffen, aus Anlass eines Katholikentages eine Siedlung nach den Vorstellungen der Kirche zu bauen. In Waldkappel (Hessen) entstand ein Katholikentagsdorf, die Bonifatiussiedlung, teilfinanziert mit Spenden der Teilnehmer am Katholikentag in Fulda 1954.41 Die Bemühungen, bei den Katholikentagen in der Nachkriegszeit für Bauen und Siedeln ein sichtbares Zeichen zu setzen, also nicht nur programmatische Reden zu halten, sondern Wohnraum zu schaffen, hatten damit einen bescheidenen Erfolg. Das im damaligen ländlich strukturierten Zonenrandgebiet gelegene Katholikentagsdorf Waldkappel bei Fulda unterschied sich vermutlich nicht von anderen ländlichen Neusiedlungen der 1950er Jahre. Die Katholikentagssiedlung in Köln (1956) wurde dagegen nach einem grundlegend anderen Konzept errichtet. Eine Selbstversorgung aus dem Garten war dort wegen der kleinen Grundstücke nicht möglich und wegen der wirtschaftlichen Erholung der Bundesrepublik auch nicht mehr notwendig. Unmittelbar nach Kriegsende begannen zahlreiche gesellschaftliche Gruppen Konzepte für die politische Zukunft im Nachkriegsdeutschland zu entwickeln – auch für den Wohnungsbau. Daran beteiligten sich katholische Laien und Geistliche, die dabei die Nähe zur CDU suchten und fanden. Höhepunkt dieser Kontakte war das Altenberger Treffen 42 im September 1951, bei dem Erbprinz Karl zu Löwenstein, der Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholikentage, mehrere Bischöfe, Oswald von NellBreuninig, Nikolaus Ehlen und führende Politiker der CDU zusammen kamen. Die Schlusskundgebung des Altenberger Treffens fand im Plenarsaal des Bundestages in Bonn statt. Aus den Reden von Adenauer, Lücke, Löwenstein und anderen Teilnehmern ergab sich eine große Übereinstimmung bei den Grundsätzen und Zielen für den Wohnungsbau zwischen der im Bund regierenden CDU/CSU und den Repräsentanten der Katholischen Kirche in Deutschland. ———— 40
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Das Dorf des Katholikentages, unveröffentlichtes Typoskript. Archiv des Zentralkomitees der Deutschen Katholikentage, Bonn o.J. Unveröffentlichtes Typoskript, Archiv des Zentralkomitees der deutschen Katholikentage, Bonn, (Katholikentag 1954). Teilnehmer, Texte der Reden des Altenberger Treffens wurden 1954 in Bonn in einer Broschüre des Zentralkomitees der Deutschen Katholikentage veröffentlicht. AEK, CR II 14.24,28.
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IV. Theologische und pastorale Grundlage für das Handeln der Katholischen Kirche im Bereich Wohnen und Siedeln waren seit 1891 die Enzyklika RN, danach mehrere programmatische Erklärungen der Päpste und die daraus abgeleiteten Grundsätze der katholischen Soziallehre. Auf die Wohnungsnot der Katholiken in Deutschland reagierte erst 1926, später als andere gesellschaftliche Gruppen, nicht etwa die Amtskirche, sondern der Volksverein für das katholische Deutschland mit Gründung des VWS. Auch danach blieb es zunächst nur bei (berechtigten) Klagen über die miserable Wohnungssituation: Im Hirtenbrief der deutschen Bischöfe von 1927, bei der Tagung in Düsseldorf 1928 sowie den Entschließungen der Katholikentage 1928 und 1929. Nach den Denkschriften des VWS von 1926 und 1928 formulierten Kaller, von Nell-Breuning, Ehlen und andere die Grundsätze und Ziele der Katholischen Kirche für Wohnen, Eigentum und Familie. Es sollten Eigenheime, nicht Mietwohnungen, möglichst in geschlossenen Siedlungen für Katholiken, gebaut werden. Entproletarisierung und Verwurzelung seien nur durch Eigentum an Grund und Boden erreichbar. Kinderreichtum, biblisch begründet, sei nur in Einfamilienhäusern, nicht in kleinen Mietwohnungen möglich. Der zum Einfamilien- oder Siedlungshaus gehörende Garten solle die (Teil-) Versorgung mit Lebensmitteln ermöglichen und damit auch der „Krisenfestmachung“ in Zeiten der Not dienen. Die Kirche unterstützte den Bau dieser Häuser nicht nur ideell, sondern auch mit Geld. Wichtigste materielle Hilfe war dabei die Bereitstellung von Kirchenland in Erbpacht, vor allem im ländlichen Raum, bis 1945 jedoch nur selten in Großstädten. Nach der NS-Zeit und den großen Verlusten des Wohnungsbestandes infolge der Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg griff die Kirche wieder Ideen und Konzepte aus der Weimarer Zeit auf. Sie förderte Einfamilienhäusern mit möglichst katholischen Bewohnern und Familien mit der nicht berufstätigen Hausfrau und Mutter. Zum Einfamilien- oder Siedlungshaus sollte eine „Landzulage“ gehören, um den Mangel an Lebensmitteln in der Nachkriegszeit zu mildern. Unterstützung fand die Kirche bei der im Bund regierenden CDU sowie den Politikern Adenauer, Lübke und Lücke. Gleichwohl mussten vorwiegend Mehrfamilienhäuser gebaut werden, vor allem in den Ballungsgebieten. Das von der Kirche angestrebte besondere katholische Sozialmilieu war seit Ende der 1950er Jahre aufgrund des allgemeinen gesellschaftlichen Wandels nicht mehr durchzusetzen.
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QUELLEN UND LITERATUR Archiv des Erzbistums Köln, Cabinett-Registratur I und II (AEK, CR I und II). Archiv des Zentralkomitees der deutschen Katholikentage, Veröffentlichungen zu den Katholikentagen 1930, 1932, 1948, 1949, 1951, 1952, 1954, 1956. Denkschriften und Standpunkte der Caritas, bearb. von Matthias Reininger, hg. vom Deutschen Caritasverband, Freiburg i.B. 1987. Denkschriften und Flugschriften des Verbandes Wohnungsbau und Siedlung, Erscheinungsort Mönchengladbach, ab 1930 Köln. Kirchlicher Anzeiger, Amts- und Mitteilungsblatt des Erzbistums Köln, Erscheinungsort Köln. Stimmen der Zeit, katholische Monatszeitschrift, Erscheinungsort Freiburg i.B. Texte zur katholischen Soziallehre, hg. vom Bundesverband der Katholischen ArbeitnehmerBewegung, 4., erweiterte Auflage, Kervelaer 1977. Baadte, Günter, Grundfragen der politischen und gesellschaftlichen Neuordnung in den Hirtenbriefen der deutschen Bischöfe 1945-1949, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften, 27. Band (1986), Münster 1986. Besier, Gerhard, Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, München 1998. Brüne, Rolf, Das familiengerechte Heim. Nikolaus Ehlen (1886-1965), Frankfurt a. M. 2002. Kaller, Maximilian, Die Bedeutung des Wohnungsbaus für die deutsche Katholiken, in: 69. Generalversammlung der Deutschen Katholikentage in Münster i. W. 1930, Münster o.J. Ders., Siedlung und Katholizismus, Karlsruhe 1933. Löhr, Wolfgang, Hirtenbriefe und Ansprachen zu Gesellschaft und Politik 1945-1949, 2. Auflage, Würzburg 1986. Lücke, Paul, Gesetz zur Schaffung von Familienheimen, Bonn 1954. Mathy, Helmut, Ein katholischer Vorort. Mainz und seine Katholikentage, in: von Hehl, Ulrich u.a., Zeitzeichen, 150 Jahre Deutsche Katholikentage 1848-1998, Paderborn u.a. 1999, S. 71-99. Schillinger, Frank, Wenn der Herr nicht baut, bauen die Bauleute vergebens, Diss., Berlin 2001. Trippen, Norbert, Joseph Kardinal Frings (1887-1978), Band I und II, Paderborn u.a. 2005.
Priesterseminar und Universität. Das Konzil von Trient und die Wege der Priesterausbildung von Heinz Finger
Vorbemerkungen So sehr das Priesteramt theologisch definiert ist, dogmatisch verbindliche Formalien für die Ausbildung der Priesteramtskandidaten kann es nicht geben. Priester wird niemand auf Grund einer Schulung, sondern durch das sacramentum ordinis. Art und Weise der Vorbereitung der Weihekandidaten sind – vor allem soweit es die äußere Form der Vermittlung von notwendigen theoretischen und praktischen Kenntnissen betrifft – gänzlich dem historischen Wandel unterworfen. Ein solcher Wandel hat in der Kirchengeschichte mehrmals stattgefunden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Kirchenhistoriker für recht lange Zeiträume, ja für ganze Epochen aus Mangel an Quellen nur äußerst wenig wirklich konkrete Aussagen über die Modalitäten der Priesterausbildung machen können.1 Schließlich sind sicher nicht nur in der frühen Kirche Priester geweiht worden, die zuvor durch keine institutionalisierte Ausbildung vorbereitet worden waren. (Die gelegentlich anklingende Auffassung, vor dem für die Ausbildung des Klerus so wichtigen Trienter Konzil habe es überhaupt keinerlei „exklusive Einrichtungen“ für die Priesterausbildung gegeben 2, geht aber wohl zu weit, vor allem in Hinblick auf Spätantike und Frühmittelalter.) Der bedeutendste Kölner Theologe des 16. Jahrhunderts und pflichtbewusste Priester Johannes Gropper (1503-1559), der für Petrus Canisius als Retter der Kölner Kirche galt 3, hat mit Sicherheit weder jemals als Studierender oder gar als Dozent einer theologischen Fakultät angehört 4 noch wurde er höchstwahrscheinlich in irgendeiner Institution für die priesterlichen ———— 1
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Dies belegt schon ein Blick in die Sachregister aller renommierten für die Alte Kirche und das Mittelalter einschlägigen Kirchengeschichten. Erich Garhammer: [Artikelabschnitt] Priesterseminar. Historisch. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. neubearb. Aufl. Bd. 8. Freiburg [u.a.] 1999, Sp. 580 -581, hier 580. Canisius an Nausea am 20. Januar 1546: „Unus pene D. Gropperus causam Religionis suis ipse humeris fortiter sustentat.“ (Otto Braunsberger [Hrsg.]: Beati Petri Canisii Societatis Jesu Epistulae et Acta. Bd. 1. Freiburg 1896, S. 201-205, hier S. 204.) – Zum Verhältnis des Canisius zu Gropper: Norbert Trippen: Die Förderer der ersten Jesuiten in Köln. Johannes Gropper und die Kartäuser. In: Die Anfänge der Gesellschaft Jesu und das erste Jesuitenkolleg in Köln. (Libelli Rhenani. 17.) Köln 2006, S. 35 -38.
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Aufgaben förmlich geschult.5 Es kann als sicher gelten, dass in fast allen vorausgehenden Jahrhunderten stets auch solche „Autodidakten“ zur Priesterweihe gelangten. In Groppers Zeitalter, dem von Reformation und Katholischer Reform, hat sich dies aber weitestgehend geändert. In der Frühen Neuzeit entstand eine regulierte Priesterausbildung, für die es vor allem zwei Wege gab, auch wenn es nach wie vor – nun aber sehr seltene – Ausnahmen gegeben haben dürfte, und beide Wege natürlich nur den Säkular-, nicht den Ordensklerus betrafen. Diese beiden Wege waren das Universitäts- und das Seminarstudium. In vielen Ländern, vorzugsweise den deutschsprachigen, sind Universität und Seminar noch heute die beiden bedeutenden Ausbildungsstätten für Priesteramtskandidaten, freilich in deutlich getrennter Funktion und zeitlicher Abfolge, was lange so nicht der Fall war. In der Weltkirche hat sich – nicht ohne triftige Gründe – der Schwerpunkt zum Seminar verschoben, das sogar in vielen Fällen ein Monopol erlangte. In Deutschland war dies aus staatskirchenrechtlichen Gründen praktisch kaum möglich.6 Dabei kann es als wahrscheinlich gelten, dass ein Teil der deutschen Katholiken dies auch gar nicht gewollt hat. Hier ist es also bei der Ausbildung in beiden Institutionen geblieben und die Theologischen Fakultäten haben nicht zuletzt deshalb eine besondere Rechtsstellung innerhalb der Universitäten, für die es freilich auch andere Gründe gibt.7 Der Jubilar war mehr als drei Jahrzehnte als Professor in der universitären Priesterausbildung tätig und leitete anderthalb Jahrzehnte als Regens das Kölner Priesterseminar.8 Nur sehr wenige Priester und Theologen haben in ———— 4
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Hansgeorg Molitor: Das Erzbistum Köln im Zeitalter der Glaubenskämpfe 1515-1628 (= Geschichte des Erzbistums Köln. Bd. 3). Köln 2008, S. 429. Wenn man mit Molitor, ebenda, das Datum der Priesterweihe 1526 oder früher ansetzt, entfällt wohl auch die sonst recht wahrscheinliche Vermutung, Gropper habe seine persönliche spirituelle Vorbereitung unter Anleitung der Kölner Kartäuser durchgeführt, da er mit diesen erst später in engere Verbindung trat. Auch nach der Beendigung des „Kulturkampfes“ blieb die Forderung des Staates, dass diejenigen Priester, die in das Amt des Pfarrers eingesetzt wurden, eine bestimmte Zeit an einer deutschen Universität studiert haben (bzw. ein Reifezeugnis für den Zugang zu einer deutschen Hochschule besitzen) mussten (Reichskonkordat von 1933, Artikel 14). – Speziell zur Unmöglichkeit, im Erzbistum Köln die Theologische Fakultät in Bonn durch ein Vollseminar zu ersetzen: Norbert Trippen: Zur Geschichte des Collegium Albertinum in Bonn 1885-1903. In: Im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche. Hrsg. von Wilfried Everts. Siegburg 1992, S. 109-169, hier S. 111. Alexander Hollerbach: Theologische Fakultäten und staatliche Pädagogische Hochschulen. In: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland. 2. neubearb. Aufl. Berlin 1995, S. 549 - 599. – Ilona Riedel-Spangenberger: Theologie zwischen Konkordat und Wissenschaftsfreiheit. Zur Rechtsstellung kath.-theol. Fakultäten an staatlichen Universitäten. In: Bindung an die Kirche oder Autonomie? Theologie im gesellschaftlichen Diskurs. Hrsg. von Albert Franz. Frankfurt [u.a.] 1999, S. 219- 241.
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einem solchen Umfang in beiden Bereichen der Priesterausbildung gewirkt und Einfluss genommen.9 Diese Feststellung gilt nicht nur für die jüngere Vergangenheit. Eine so umfassende, ja – sit venia verbo – breitgefächerte Teilnahme an der Aufgabe der Vorbereitung der Priesteramtskandidaten während eines so langen Zeitraums war auch in den Jahrhunderten der Frühen Neuzeit, mit denen sich dieser Beitrag beschäftigt, eher selten.
Einleitung Priesterausbildung in der Frühen Neuzeit, d.h. vom Ende des Mittelalters bis zur Französischen Revolution, und neuzeitliche Priesterausbildung im 19. und 20. Jahrhundert sind schwer zu vergleichen. Absolut sicher ist auch, dass die gegenwärtigen Leitlinien, wie sie richtungsweisend vom Dekret Optatam totius des II. Vaticanum 10 formuliert wurden, nicht als simple Fortschreibung der Gegebenheiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu verstehen sind. Wie bedeutsam das II. Vaticanum für die Priesterausbildung war, geht nicht zuletzt daraus hervor, dass der neue Codex Iuris Canonici, promulgiert 1983, in Buch II, Titel III, Kapitel I nicht weniger als 33 Canones über die Ausbildung der Kleriker enthält.11 Der extremen Quellenarmut in Bezug auf die Priesterausbildung besonders in den ersten anderthalb Jahrtausenden der Kirchengeschichte steht so eine außerordentliche Fülle von Vorschriften für die Gegenwart gegenüber.12 Niemand wird daraus den Schluss ziehen, die ———— 8
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1975 erhielt Norbert Trippen die venia legendi als Privatdozent an der Bonner Theologischen Fakultät, 1978 wurde er dort Professor. Von 1976 bis 1989 war er Regens des Priesterseminars. Vgl.: „Regierungswechsel“ in der Hauptabteilung Schule/Hochschule. In: Impulse aus der Hauptabteilung Schule und Hochschule des Erzbistums Köln 18, 2 (1991), S. 2-3, hier S. 3. 1971 bis 1973 war Norbert Trippen Referent für Priesterfortbildung im Generalvikariat, 1973 bis 1975 Assistent an der Theologischen Fakultät in Bonn. Zehn Jahre lang, 1991 bis 2001, war er Direktor der Hauptabteilung Schule/Hochschule im Generalvikariat und als solcher z.B. mit der kirchlichen und staatlichen Anerkennung der Philosophisch-Theologischen Hochschule in St. Augustin, aber auch mit die Bonner Katholisch-Theologische Fakultät betreffenden Geschäften befasst. Vgl.: Nach zehn Jahren wieder „Regierungswechsel“ in der Hauptabteilung Schule/Hochschule. In: Impulse 60, 4 (2001), S. 2-3, hier S. 2. Dekret vom 28. Oktober 1965. – 1992 nahm das Apostolische Schreiben Pastores dabo vobis Johannes Pauls II. auf dieses Dekret unmittelbaren besonderen Bezug. CIC, cc. 232-264. Schon im Promulgationsjahr des neuen Kirchenrechtscodex wurde daran zum Teil herbe Kritik geübt. Heribert Schmitz: Der Codex Iuris Canonici von 1983. In: Handbuch des katholischen Kirchenrechts. Hrsg. von Joseph Listl, Hubert Müller, Heribert Schmitz. Regensburg 1983, S. 33-56, hier S. 54: „Dagegen ist die ausufernde Breite der Normen über die Priesterseminare (cc. 237-264) eher als ein Schönheitsfehler des Klerikerrechtes anzusehen“. In der 2. verbesserten Aufl. von 1999
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Priesterausbildung habe weder die Alte Kirche noch die Kirche des Mittelalters interessiert. Wohl aber darf man daraus folgern, auch die katholische Kirche rücke die Didaktik und ihre Methoden wie auch die Institutionen der Bildung zunehmend stärker in den Mittelpunkt ihres Interesses, was einem allgemeinen „neuzeitlichen“ Trend entspricht. Das größte Problem des vorliegenden Beitrags besteht darin, dass seine Hauptbegriffe, Priesterseminar und Universität, ihren Inhalt seit dem 16. Jahrhundert in radikaler Weise wenigstens je zweimal verändert, aber natürlich dennoch gewisse Kontinuitäten bewahrt haben. Die frühneuzeitliche Universität entsprach – allen humanistischen Anfechtungen gegen ihren Lehrbetrieb zum Trotz – in ihrem Wesen immer noch der Universität des Mittelalters, dieser großartigen Schöpfung der Scholastik, die im 13. Jahrhundert, zumindest was den allgemein vorherrschenden Pariser Universitätstyp betraf, ihre vollendete Gestalt annahm. Nach dem endgültigen Verfall dieses ersten Typs einer Hohen Schule, deren drei „Höhere Fakultäten“ durchaus den drei Berufsgruppen der Theologen, Juristen und Mediziner entsprachen, war die Humboldtsche Universität des 19. Jahrhunderts etwas völlig Anderes. Sie definierte sich nicht nur rein wissenschaftlich, sondern scheute zumindest in der Theorie den Praxisbezug. Die Gegenwart verschult die unter dem gleichen Namen fortbestehende Institution und gleicht sie – mit verschiedener Intensität in den einzelnen Ländern Europas – den fachlich ausgerichteten Hochschulen an. Die Priesterseminare veränderten sich ebenso radikal, aber nach anderem Muster und nicht synchron zum Wandel der Universitäten, obwohl sie von diesen oft beeinflusst wurden. Sie veränderten sich regional, wie näher ausgeführt werden wird, schon im 17. Jahrhundert durch die Übernahme von Funktionen, die man heute nicht der Ausbildung, sondern der Fortbildung zurechnen würde, und erlebten im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, also vor und nach der Französischen Revolution, jeweils einen großen Wandel. Deren erster brachte sie unter den, freilich auch zuvor gelegentlich nicht fehlenden Einfluss des Staates, deren zweiter führte nach teilweise heftigen Kämpfen zu ihrer weitgehenden Emanzipation von staatlicher Bevormundung. Vom großen gesellschaftlichen Wandel der Gegenwart blieben die Priesterseminare genau wie die Universitäten natürlich nicht unberührt. Doch ist auch dieser Wandel im Einzelnen keineswegs wirklich analog zu dem der Universitäten zu verstehen, und er begann zeitlich früher.13 ———— findet sich dieser Satz unverändert S. 71. – Hier ist sicher zu bedenken, dass auch CIC/1917 bereits die Priesterseminare in 20 Canones (cc. 1352-1371) behandelte.
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Da Seminar und Universität in den vergangenen vierhundert Jahren Teile ihrer Identität geändert haben, verbietet sich jede Simplifizierung ihrer jeweiligen Rolle in der Priesterausbildung. Wertungen ihrer jeweiligen Effizienz für die priesterliche Ausbildung sind eigentlich nur für eng beschränkte Zeiträume möglich. Der vorliegende Beitrag ist ausschließlich historisch ausgerichtet. Da der Historiker kein Prophet ist, kann er keine Voraussagen über die Zukunft machen. Ein freilich stets nur implizit gegebener Gegenwartsbezug ist wie bei jeder historischen Arbeit dennoch nicht radikal auszuschließen. Im Übrigen ist die gegenwärtige durch das II. Vaticanum geprägte Situation in der Priesterausbildung nur schwer mit den dafür früher bestehenden Bedingungen zu vergleichen. Letzteres wird dadurch verstärkt, dass in der Weltkirche von heute die außereuropäischen Ortskirchen an Bedeutung nicht mehr faktisch hinter den europäischen zurückstehen wie dies lange, – viel zu lange – der Fall war. Im bereits genannten Konzilsdekret Optatam totius wird die Institution Seminar ganz selbstverständlich als zentral für die Priesterausbildung vorausgesetzt.14 Im CIC von 1983, in dem die Vorbereitung des Klerus auf seine Aufgaben so ausführlich behandelt wird, ist auch recht ausführlich von den Universitäten die Rede.15 Die Priesterausbildung wird an dieser Stelle des gültigen Kirchenrechtscodex eigentlich nur indirekt und extrem marginal behandelt.16 Tatsächlich finden aber nach wie vor in einigen Ländern, insbesondere gerade auch in Deutschland, wesentliche Teile der für die Klerikerbildung notwendigen Wissensvermittlung an den Universitäten statt. Deren Theologische Fakultäten haben sich aber im Laufe des 20. Jahrhunderts in einem hier noch nicht angesprochenen Punkt zusätzlich entscheidend in ihrer Funktion gewandelt. Bis weit ins vergangene Jahrhundert dienten sie gewiss auch der ———— 13
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Während die deutschen Universitäten in den geisteswissenschaftlichen Bereichen im Grunde bis 1968 an den Idealen Wilhelm von Humboldts trotz aller Modifikation irgendwie festhielten, begann in den Priesterseminaren schon spätestens unmittelbar nach Abschluss des II. Vatikanischen Konzils 1965 ein wirklich großer Wandel. Vgl. Rudolf Weigand: Die Ausbildung und Fortbildung der Kleriker. In: Handbuch des katholischen Kirchenrechts (wie Anm. 12), S. 222- 229, hier S. 222. CIC, cc. 807- 821. – Von größter Bedeutung für das kirchliche Hochschulrecht ist außerdem besonders die Apostolische Konstitution Papst Johannes Paul II. Ex corde ecclesiae vom 15. August 1990. Man kann in Canon 811 eine Funktion der Universitäten und Fakultäten in der Priesterausbildung hineinlesen, da ausdrücklich bestimmt wird, dass wenigstens ein Lehrstuhl für Theologie zu errichten ist, von dem dann gesagt wird, dass an ihm Vorlesungen auch für Laienstudenten gehalten werden sollen. – Im Canon 819 wird bestimmt, dass Bischöfe und Ordensobere Kleriker an die kirchlichen Universitäten und Fakultäten zur Ausbildung schicken sollen, wobei es aber eindeutig um einzeln dafür ausgewählte Personen geht.
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wissenschaftlichen Forschung, aber ganz wesentlich eben der Priesterausbildung. Heute sind die Laientheologen die übergroße Mehrheit der Studierenden. Auch bei den Lehrenden, vor einigen Jahrzehnten noch praktisch ausschließlich Kleriker, stellen nun die Laien einen großen Anteil. Dies erschwert zusätzlich einen sinnvollen Vergleich zwischen den in diesem Beitrag behandelten Institutionen der Priesterausbildung mit denen der Gegenwart.
1. Das „Seminardekret“ von Trient und sein Vorbild Es ist wohl nie bezweifelt worden, dass die Entstehung, man könnte sogar sagen die Erfindung von Priesterseminaren dem Konzil von Trient zu verdanken ist. Am 15. Juli 1563 beschlossen die Konzilsväter im 18. Canon der 23. Sitzung, dass alle Diözesen ein solches Seminar einzurichten hätten. Für sehr große Diözesen waren sogar mehrere Seminare vorgesehen. Der Begriff des Seminars als Einrichtung der Priesterausbildung hatte sich erst kurz zuvor herausgebildet. Der Canon war sehr deutlich und äußerst konkret formuliert. Er war der letzte und mit Abstand längste Canon der 23. Sitzung 17 und wird im Allgemeinen das „Seminardekret“ genannt. Die unmittelbare Vorgeschichte und das eigentliche Zustandekommen des Konzilsdekrets sind recht gut erforscht, nicht zuletzt durch die 1957 gedruckte kanonistische Dissertation von James O'Donohoe an der Universität Leuven.18 Die wichtigste Quelle für den Inhalt des Seminardekrets war seit dem 17. Jahrhundert durch die Forschungen des gelehrten Oratorianers Louis de Thomassin d'Eynac (1619-1695) bekannt.19 Es handelt sich um den Canon 11 der Londoner Reformsynode von 1556 20, die in der kurzen Phase der katholischen Restauration unter Königin Maria I. stattfand. Dieser war mit Sicherheit durch den Leiter dieser Synode, den Kardinal Reginald Pole (1500-1558), wesentlich formuliert worden. In Trient wurde am 10. Mai 1563 der erste von insgesamt drei Entwürfen zum Seminardekret vorge———— 17
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In den Canones 6 bis 8 dieser Sitzung war es um dogmatische Fragen des ordo gegangen und man hatte die protestantische Lehre vom Bischofsamt zurückgewiesen. James A. O'Donohoe: Tridentine Seminary Legislation. Its Sources and Its Formation. (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium. Vol. IX.) Boston, Louvain 1957. – Unter den Rezensionen dieser Abhandlung kommt der von Hubert Jedin besondere Bedeutung zu. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 44 (1958), S. 469 - 470. Ludovicus Thomassinus: Vetus et nova ecclesiae disciplina circa beneficiarios. Paris 1678-1679. Pars II, lib. I, cap. 102. Text: Mansi, Tom. 33, Sp. 1029 - 1031.
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legt 21, der mit dem Londoner Canon noch weit mehr als die endgültige Fassung übereinstimmte 22, den Thomassin aber nicht kannte.23 Heute ist es allgemeine Überzeugung, dass die Väter von Trient in noch höherem Maße, als man früher annahm, posthum der Anregung eines der herausragendsten Mitglieder ihrer Versammlung folgten, eben dem viereinhalb Jahre zuvor als Erzbischof von Canterbury am 17. November verstorbenen Kardinal Reginald Pole, der 1545/46, also in der Anfangsphase, einer der päpstlichen Legaten beim Konzil gewesen war. Bezeichnenderweise hatte das Konzil von Trient zunächst in seiner ersten Tagungsperiode (innerhalb Sessio V im Juni 1546) versucht, ältere Ausbildungsvarianten zu reaktivieren.24 Erst in seiner Schlussphase schuf es das neue Seminar. Interessanterweise trat der neue Begriff seminarium für die neue Ausbildungsstätte erst unmittelbar vor Abfassung des Dekrets in den Vordergrund. Noch im ersten Entwurf vom 10. Mai 1563 war der Begriff schola vorherrschend.25 Im zweiten Entwurf vom 6. Juli hielten sich die Bezeichungen seminarium und collegium die Waage. Daran änderte sich dann im dritten Entwurf und im verbindlichen Text nichts mehr. Die Benennungen wurden auch nach dem Konzil in Bezug auf die Priesterausbildungsstätten noch lange synonym gebraucht. Dies bedeutet wohl, dass der Bezug zum wörtlichen Bedeutungsinhalt von seminarium als „Pflanzstätte“ zunächst kaum eine Rolle gespielt hat. Auf keinen Fall kann übersehen werden, dass die Konzilsväter sehr realistisch an die bei der Ausbildung von Priestern entstehenden Kosten gedacht haben. Nicht zuletzt sollen die Priesterseminare als neuer Ausbildungsweg eingerichtet werden, um bedürftigen Knaben aus armen Familien den Weg zum Priestertum zu ermöglichen, denn nicht nur der Unterricht, sondern auch Unterkunft und Verpflegung werden ihnen kostenlos gewährt. Man übertreibt nicht, wenn man feststellt, dass die Ausbildung der Bedürftigen sogar der Hauptzweck der neuen Einrichtung ist. Die Söhne der Armen ———— 21
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Conciliorum Oecumenicorum Generaliumque Decreta. Hrsg. vom Istituto per le scienze religiose, Bologna. Vol. III. Turnhout 2010, S. 120 -123. Vincent P. Brassel: Praeformatio reformationis Tridentinae de seminariis clericorum. Diss. der Kanonistischen Fakultät der Gregoriana 1938, S. 66 -70. Die übrigens sehr summarischen Protokolle des Konzils von Trient waren noch nicht publiziert. Eine wissenschaftlich fundierte Edition des Protokolls der Sessio XXIII liegt erst seit 1924 vor: Diariorum, actorum, epistularum, tractatuum nova collectio. Hrsg. von der Görres-Gesellschaft. T. IX. Freiburg i. Br. 1924. Conciliorum Decreta, a.a.O. (wie Anm. 21), S. 20- 23. Hubert Jedin: Domschule und Kolleg. Zum Ursprung der Idee des Trienter Priesterseminars. In: Trierer Theologische Zeitschrift (vormals Pastor Bonus) 67 (1958), S. 210-223, hier S. 219 - 221. Dort auch zum Folgenden.
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sollen bevorzugt (praecipue) aufgenommen werden, die Reichen werden nicht ausgeschlossen (nec tamen divitiorum excludit ), vorausgesetzt sie zahlen.26 Grundsätzlich hatte das Trienter Seminardekret wohl ein zweigeteiltes Seminar im Auge, ein Seminar für Knaben und eins für die im Alter fortgeschritteneren eigentlichen Alumnen.27 Eine solche Zweiteilung hat sich in weiten Teilen der Kirche über einen längeren Zeitraum entwickelt.28 Sie war zwar nicht bindend verlangt, sollte aber nach Möglichkeit erfolgen. Die „Kleinseminarien“ nahmen zunächst Knaben vom zwölften Lebensjahr an auf 29, also in einem Alter, in dem man auch im 16. Jahrhundert nicht davon ausging, dass die Berufung zum Priestertum bereits gefestigt war. Diese Tatsache führte dazu, dass das „Kleinseminar“ oft nicht mehr eigentlicher Teil des Priesterseminars war.30 Über den geeigneten Weg der Finanzierung der Seminare haben sich die Väter von Trient selbstverständlich auch Gedanken gemacht. Dieser Punkt wird sogar besonders ausführlich im Dekret behandelt. Die Kosten sollen aufgebracht werden aus Einkünften des Bischofs, der Kapitel, der Dignitäre, der Klöster etc. Im Grunde sollten alle in der jeweiligen Diözese ansässigen kirchlichen Institutionen und Personen belastet werden. Diese Abgabe wurde schließlich in vielen Diözesen erhoben als das vom Klerus zumeist wenig beliebte seminaristicum (auch alumniaticum genannt). Anders als auf der Londoner Synode von 1556 wurden aber in Trient für die Höhe der Beiträge keine Prozentzahlen der Einkünfte genannt.31 Es werden aber auch Ausnahmen genannt, besonders alle Mendikanten und die Kommenden und Häuser der Malteser. Die Tatsache, dass über die Finanzierung vor Erlass des Dekrets am meisten diskutiert worden war, entsprach der schwierigen Problemlage. Der Hauptgrund für die zunächst geringe Realisierung des Projekts lag in diesem Punkt. ———— 26 27
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Conciliorum Decreta, a.a.O. (wie Anm. 21), S. 121. Im Niederländischen ist diese Einteilung sprachlich fixiert worden. Man nennt öfter das Priesterseminar nach wie vor „Grootseminarie “. Lange Zeit hatte in den Diözesen Flanderns und der gesamten südlichen Niederlande auch das „Kleinseminarie “ große Bedeutung. (Auch u.a. im Französischen ist die alte Einteilung sprachlich teilweise erhalten geblieben.) Noch der CIC/1917 ging von der erwünschten Existenz eigener Knabenseminare aus (c. 1354). Dieses war auch ein nicht ganz seltenes Jahr für die tonsura prima im 16. und 17. Jahrhundert. (Der spätere Kölner Erzbischof Ferdinand I. wurde schon im Alter von sieben Jahren tonsuriert. Vgl. Molitor, a.a.O., wie Anm. 4, S. 238.) Es wurde nicht selten zu einem einfachen katholischen Elitegymnasium, deren Absolventen überwiegend nicht Kleriker wurden, aber oft mit denen, die Priester geworden waren, auf Grund der gemeinsamen Schule lebenslange soziale Kontakte unterhielten, ein für die Sozialgeschichte des katholischen Klerus bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht unbedeutendes Phänomen. Dort war vom vierzigsten Teil, also von 2,5 Prozent des Einkommens der Bischöfe und auch derjenigen Kleriker mit 20 englischen Pfund und mehr Jahreseinkommen die Rede.
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2. Rückblick auf die mittelalterliche Priesterausbildung und mögliche Vorstufen des Seminars Wie in der Forschung allgemein vermutet, kannte das Mittelalter drei bzw. vier Wege der Priesterausbildung. Vor der Weihe wurde der Kandidat dann vom Bischof, später auch Weihbischof oder Generalvikar auf seine Eignung zum Priesteramt geprüft. Die Orden bildeten ihre Priester intern innerhalb ihrer Gemeinschaften aus. Bei den Mendikanten geschah dies auf der Ebene der Ordensprovinzen, bei den Mönchen, vergröbernd gesagt, im Hochmittelalter in den Klöstern, im Spätmittelalter zunehmend innerhalb der sich überall in Europa bildenden Reformkongregationen. Besonders für den Säkularklerus war das Theologiestudium an den Universitäten auch eine der Möglichkeiten der Priesterausbildung. Dabei ist allerdings zu betonen, dass dort an der Theologischen Fakultät auf intellektuell hohem Niveau Theologie gelehrt, aber keine Einführung in die Praxis der Seelsorge vermittelt wurde.32 Daher ist auch für das Mittelalter anzunehmen, dass häufig genug – wie auch noch in der Neuzeit, und dort sehr deutlich, belegt (s.u.) – die Ausbildung der universitär ausgebildeten Priesteramtskandidaten an der Artistenfakultät stattgefunden hat. An dieser wurde zwar weder Theologie noch Seelsorge gelehrt, aber gehobene Lateinkenntnis und durchaus religiös fundierte Bildung vermittelt. Außerdem war das Leben in den Bursen dieser Fakultät zumindest in der Theorie in jeder Beziehung kirchlich geprägt.33 Der größte Teil der zukünftigen Priester wurde aber wohl auf dem dritten Wege, nämlich von den Pfarrern in den jeweiligen Pfarreien ausgebildet. Man könnte es salopp so formulieren: Diejenigen, die Priester werden wollten, gingen sozusagen bei ihrem Pastor in die Lehre.34 Der parochus (oder auch curator ———— 32
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Vgl. Hubert Jedin: Die Bedeutung des Tridentinischen Dekretes über die Priesterseminare für das Leben der Kirche. In: Theologie und Glaube 54 (1964), S. 181-197, hier S. 183. – Der fehlende Bezug auf die Seelsorge gilt aber nicht für die Generalstudien der Mendikantenorden, die – studium generale war übrigens auch ein allgemeines Synonym für Universität – den Universitäten intellektuell in aller Regel schwerlich nachstanden. Zwar vermittelten die Generalstudien der Orden speziell philosophisch-theologische Kenntnisse, aber diese theologische Ausbildungsform brachte wie die schlichteren studia provinciales auch bedeutende Prediger (und Beichtväter) hervor. Es war also in gewisser Weise manchen späteren neuzeitlichen Priesterseminarien – mit dem freilich entscheidenden Fehlen einer eindeutigen Zielrichtung – nicht besonders unähnlich, wenn man von später befremdlich erscheinenden, damals zeitbedingten Formen der Gestaltung des Lebens in den fast einem Konvent ähnlichen Gemeinschaften absieht. (Vgl. Astrik L. Gabriel: The college system in the Fourteenth-Century Universities. Baltimore 1962. – Jacques Verger: Les universités au Moyen Âge. Paris 1973, S. 187-193. – Allan B. Cobban: The Medieval Universities. London 1975, S. 122-159.) Hubert Wolf: Priesterausbildung zwischen Universität und Seminar. In: Römische Quartalschrift 88 (1993), S. 218 -236, hier S. 229: „Was blieb einem Priesteramtskandidaten anderes übrig, als sich bei
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oder plebanus genannt) hatte einen scolaris (auch scolarius), der ihm diente als ein promovendus ad sacerdotium. Als eine beträchtlich abweichende Sonderform dieser ganz praxisorientierten Ausbildung bei einem Priester wird man die unten näher behandelte Ausbildung in den Domschulen mit ihrer Einbindung in die Kathedralliturgie bezeichnen können. Man könnte sie auch als den vierten Weg bezeichnen. Der übliche Dienst dieser Priesterschüler in den Pfarreien bezog sich auch auf die Unterstützung des Priesters bei dessen religiösen Aufgaben. Es ist nämlich vergleichsweise häufig davon die Rede, zu bestimmten Amtshandlungen solle der parochus mit seinem scolarius erscheinen. Man denkt dabei automatisch an Ministranten, obwohl deren Dienst später vom Trienter Konzil ausdrücklich den Minoristen zugewiesen wurde 35 und überhaupt erst 1947 in einem päpstlichen Dokument, nämlich der Enzyklika Mediator Dei Papst Pius’ XII., eindeutig von nicht-klerikalen Knaben als Messdiener die Rede ist.36 Aber dies sagt wenig für das Mittelalter, und außerdem waren vermutlich viele dieser scholares Minoristen oder wenigstens Tonsuristen. Letzteres liegt auch deshalb nahe, weil gelegentlich dem scolaris ein kleinerer Anteil an den Stolgebühren zugesprochen wurde.37 In jedem Fall waren die ———— 35
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einem Pfarrherren zwei Jahre als ‚Stift‘ zu verdingen, bei ihm in die Lehre zu gehen und sich dann beim Bischof zur Weihe anzumelden?“ Sessio XXIII, c. 17. – Bemerkenswert ist, dass die Väter von Trient den Dienst am Altar nicht etwa auf den ursprünglich in der christlichen Spätantike allein dafür vorgesehenen höchsten Rang innerhalb der Minoristen, den der Akolythen einschränkten. Dies geschah wohl deshalb, weil man erkannte, dass die Zahl der jeweils verfügbaren Akolythen für den Altardienst nicht ausreichte, denn grundsätzlich wollte das Konzil deren Amt wieder aufwerten, indem man ihnen Aufgaben in der Pfarrverwaltung zuwies, was aber nie wirklich in die Realität der Gemeinden umgesetzt werden konnte. In der Praxis bestand der Ministrantendienst von Nicht-Klerikern natürlich schon Jahrhunderte zuvor. Dies belegen die Kritiken an diesem Brauch, z.B. in Frankreich durch Pierre de Goussainville, Claude Martin (Prior des Maurinerkonvents von Marmoutier) und den Maurinergelehrten Edmond Martène im 17. und 18. Jahrhundert. (Vgl. Josef Andreas Jungmann: Missarum Sollemnia. Bd. 1, 3. verbesserte Aufl. Freiburg 1952, S. 302-303.) Interessanterweise vermutete Jungmann, dass dieser Brauch, auch noch nicht tonsurierte Knaben für den Ministrantendienst zu verwenden, aus alter Tradition in der Klerikerausbildung stammt (Jungmann, ebenda). Vermutlich wurde während längerer historischer Zeiträume bei der Zulassung zum Ministrantendienst auch ein Unterschied zwischen der so genannten Privatmesse und dem öffentlichen Amt gemacht (vgl. Jungmann, ebenda S. 276277, 295-299, S. 302-303). Gelegentlich wurde auch die kirchenhistorische Auffassung vertreten, dass die Niederen Weihen in ihrer Stufung eigentlich grundsätzlich ein System der Priesterausbildung dargestellt haben. Vgl. Walter Croce: Die niederen Weihegrade und ihre hierarchische Wertung. Eine geschichtliche Studie. In: Zeitschrift für Katholische Theologie 70 (1948), S. 257-314. (Obwohl der Empfang der einzelnen Niederen Weihen vor den Höheren allerspätestens seit dem Hochmittelalter Pflicht war, haben die Minoristengrade, die übrigens im römischen und gallikanischen Ritus zunächst sehr verschiedene waren, gewiss ihren ursprünglichen Sinn nicht in der Vorbereitung auf das Priestertum. Dies legt beson-
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Priesterschüler Knaben oder junge Männer, die sich zum Priestertum berufen fühlten, auf dieses vorbereiteten und in aller Regel aus der Gemeinde des sie ausbildenden Pfarrers stammten. Die unmittelbare Berufung von Knaben aus den Pfarreien und die ganz unkompliziert erfolgende Übernahme dieser Berufenen in den Dienst der Pfarrkirche war viele Jahrhunderte lang kirchlicher Brauch. Am Ausgang des Mittelalters und mehr noch unter dem Einfluss der Reformation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ging die Anzahl dieser Berufungen zum Priestertum in Teilen Europas ganz dramatisch zurück. Diese Tatsache war wichtigster Anlass, ja sogar weitgehend Grund für das Trienter Seminardekret. Ein zusätzlicher Grund war aber die Erfahrung, dass die bei einem Pfarrer als eine Art von Lehrling ausgebildeten Priester wenig geeignet waren, in ihren späteren Tätigkeitsfeldern den intellektuellen Anforderungen in der Auseinandersetzung mit der Reformation zu entsprechen. Schon im ausgehenden Mittelalter hatte das Problem bestanden, dass sich das Bildungsniveau der Gläubigen hob, während das des Seelsorgeklerus weiter nur dem älteren Standard entsprach.38 Weil die Ausbildung von Priesteramtskandidaten im Bereich der Pfarren großenteils nicht mehr funktionierte, lag es eigentlich nahe, sich zunächst an die überörtlichen älteren Ausbildungsstätten zu erinnern, nämlich an die Domschulen.39 Ursprünglich waren diese (bzw. ihre spätantiken und frühmittelalterlichen Vorgänger) die eigentliche Ausbildungsinstanz für Priester gewesen.40 Von dieser Funktion konnte aber im 16. Jahrhundert kaum noch irgendwo die Rede sein. Die oft altehrwürdigen Kathedralschulen befanden sich im Allgemeinen auch nicht mehr in der Verfügungsgewalt der Bischöfe, sondern in der der Domkapitel. Überdies hatten sie insgesamt seit Entstehen der Universitäten außerordentlich an Bedeutung verloren. In manchen der Diözesen, wo sie ————
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ders auch die Tatsache nahe, dass zumindest in einigen Ortskirchen – so sehr wahrscheinlich in Rom – auch die Totengräber [fossores, fossarii, fossatores ], sei es als eigener Grad oder als Untergruppe der Ostiarier, zu den Minoristen gerechnet wurden. Ihr gewiss kirchliches Amt war aber sicher keine notwendige Durchgangsstufe auf dem Weg zum Priestertum.) Jedin, a.a.O. (wie Anm. 32), S. 185. – Zur spirituellen Seite der mittelalterlichen Säkularklerikerausbildung existieren auf Grund der wenigen Quellen so gut wie keine Untersuchungen. Besondere Beachtung findet das Thema bei Friedrich Wilhelm Oediger: Über die Bildung der Geistlichen im späten Mittelalter. (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters. 2.) Leiden, Köln 1953. Vgl. auch ders.: Um die Klerusbildung im Spätmittelalter. In: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft 50 (1930), S. 145 -188. Sie entstanden in der Spätantike als Ausbildung im episcopium und kamen im Hochmittelalter endgültig in den Verantwortungsbereich der Kapitel. Die Ausbildung in den Pfarreien war übrigens erst in der Karolingerzeit aufgekommen. Theodulf von Orléans († 821) war einer ihrer Anreger. Man hatte erkannt, dass in den großflächigen Diözesen des außermediterranen Europa die Ausbildung an den Kathedralen nicht realisierbar war.
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überhaupt noch bestanden, besaßen sie eigentlich nur noch eine mehr formale Existenz, weil man das Amt des Domscholasters, zumeist einer der Dignitäre des Kapitels, mit einer zumindest theoretischen Aufgabe verbinden wollte. Wo noch Unterricht stattfand, wurde er von einem oft schlecht bezahlten Magister im Auftrag des Scholasters erteilt. Doch es gab einige Ausnahmen, also noch wirklich funktionsfähige Kathedralschulen. An diese hatte das Konzil von Trient wohl schon zu einem früheren Zeitpunkt gedacht, als es am 17. Juni 1546 im Decretum secundum der Sessio V. („Super lectione et praedicatione “ ) bestimmte, dass Lektorate der Heiligen Schrift an allen Kathedralen und größeren Kollegiatskirchen einzurichten seien.41 Dies war nichts Anderes als die Erneuerung einer Anordnung des IV. Laterankonzils 42, die in den seither verflossenen dreihundert Jahren wenig Wirkung gezeigt hatte. Nun gab es aber an den Bischofssitzen ganz vereinzelt Institutionen, die wirklich der Priesterausbildung dienten. Eine solche war die Akolythenschule von Verona, die im 15. Jahrhundert entstanden war.43 Zu einer Stätte besonders effektiver Priesterausbildung wurde sie aber erst seit ihrer Umgestaltung durch Bischof Gianmatteo Giberti (1495-1543). Dieser ließ auch jeden Absolventen vor der Priesterweihe genau von seinem Generalvikar prüfen und prüfte ihn dann selbst. Entscheidend war, dass die Schüler zum gemeinsamen Leben verpflichtet waren und ihre Ausbildung im Haus erhielten. Außerdem wurden, obwohl die Ausbildungsinhalte eher auf Grammatik und Musik ausgerichtet und anscheinend kaum theologisch oder gar speziell pastoraler Art waren, Laien grundsätzlich vom Unterricht ausgeschlossen. In der Rigorosität dieser Bestimmung, die wenig traditionell „mittelalterlich“ erscheint, lag m.E. ein ganz entscheidender Schritt in Richtung auf eine neue „gegenreformatorische“ Mentalität, die die zukünftigen Priesterseminare prägen sollte. Schon im 15. Jahrhundert zu datieren waren das von Kardinal Domenico Capranica 1475 in Rom und das von Kardinal Stefano Nardini 1484 ebenfalls in Rom gegründete Kolleg für zukünftige Priester. Beide Institutionen sind aber allenfalls im weitesten Sinne als Vorläufer der Priesterseminare aufzufassen. Es ist denkbar, dass das von Hernando de Talavera (†1507), dem ersten Erzbischof von Granada, gegründete Kolleg 44 bereits zur Zeit seiner Ent———— 41
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Decreta Conciliorum, a.a.O. (wie Anm. 21), S. 20- 23. (Zur Möglichkeit, dieses Dekret in die Praxis umzusetzen, vgl. Hubert Jedin: Geschichte des Konzils von Trient. Bd. II. Freiburg 1957, S. 85- 86.) Jedin, ebenda, S. 87. Antonio Spagnolo: Le scuole accolitali in Verona. Verona 1905. Olegario González Hernandez: Fray Hernando de Talavera y Mendoza. Un aspecto nuevo de su personalidad. In: Hispania Sacra 13 (1960), S. 143 -174.
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stehung um 1500 oder aber in der Zeit von Talaveras unmittelbaren Nachfolgern ähnlich strukturiert war wie die Veroneser Akolythenschule. Für eine echte Bewertung fehlen aber die notwendigen Quellen. Ebenfalls könnten zwei weitere Institutionen, und zwar bezeichnenderweise ebenfalls in Spanien, einen gewissen Vorläufercharakter für die Idee des Priesterseminars gehabt haben. Es handelt sich um die Kollegien San Antonio de Portacoeli in Sigüenza (gegründet 1477) 45 und Santa Maria de Jesús in Sevilla (gegründet 1500).46 Beide waren zwar Kollegien in Universitätsstädten, aber sie waren speziell für die Ausbildung von Priestern bestimmt. Zur Zeit des Konzils von Trient hatten sie aber jede echte Sonderstellung bereits verloren und waren normale Universitätskollegien geworden. Die Liste möglicher partieller Vorformen des Priesterseminars ließe sich noch um einige Beispiele verlängern, aber es erscheint nach derzeitigem Forschungsstand schwer möglich, hinreichende Klarheit über die einzelnen Institutionen zu gewinnen. Es ist verlockend, auch die zur Zeit des Trienter Konzils ein Jahrtausend zurückliegenden Lektorenschulen 47 der Spätantike, die teilweise noch im Frühmittelalter bestanden, als Vorbild der Priesterseminare zu bewerten. Tatsächlich dürften aber die Väter von Trient in ihrer Mehrheit schwerlich an diese gedacht haben. Auszuschließen ist das aber auf Grund des starken vom Humanismus geförderten Interesses an der Alten Kirche keineswegs.
3. Die Intention des Seminardekrets und die Universitätsausbildung Die Diskussion über die Frage, ob die Seminarausbildung der Priesteramtskandidaten anstelle eines Universitätsstudiums zum Regelfall werden sollte oder ob gar das Studium an der Universität zu verhindern sei, begann eigentlich erst im 19. Jahrhundert und reichte noch weit ins 20. Jahrhundert hinein. Im deutschen Sprachraum wurde sie mit besonderer Intensität geführt.48 Gerade auch dort wurde sie nach 1907 durch den Kampf um den ———— 45 46
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Dies bot Ausbildungsplätze für 13 Kleriker (Jedin, a.a.O., wie Anm. 32, S. 185). In diesem mussten die Alumnen bei ihrem Eintritt schwören, Säkularpriester zu werden (Jedin, ebenda). E. Josi: Lectores, schola cantorum, clerici. In: Ephemerides liturgicae 44 (1930), S. 280 -290. – J. M. Lungkofler: Die Vorstufen zu den höheren Weihen nach dem Liber pontificalis. In: Zeitschrift für Katholische Theologie 66 (1942), S. 1-19, hier S. 12. Hierzu folgende Literatur in Auswahl: Augustin Theiner: Geschichte der geistlichen Bildungsanstalten. Mainz 1835. – Anton Lutterbeck: Geschichte der Katholischen-Theologischen Fakultät zu Gießen.
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Modernismus unter einem neuen Aspekt wieder angefacht.49 In Großbritannien vertrat Kardinal John Henry Newman einen sehr abgewogenen Standpunkt in dieser Frage. Er sah in universitärer Ausbildung keine grundsätzliche Gefahr für Priesteramtskandidaten und setzte sich in gewisser Weise dafür ein.50 Das 16. Jahrhundert hat eine solche Diskussion nicht gekannt. In der frühen Neuzeit war eine andere und zwar nur praktische Frage viel wichtiger, nämlich ob die Einrichtung von Priesterseminaren gemäß dem Konzilsauftrag überhaupt in die Realität umzusetzen war. Dahinter trat die Frage nach der Aufgabenverteilung von Universität und Seminar noch weitestgehend zurück. Über ein „Entweder-Oder“ wurde im Grunde nur aus Kostengründen gestritten. Heute gilt in der Forschung als absolut sicher, dass von einem gegen die Universität gerichteten Dekret des Konzils von Trient in keiner Weise die Rede sein kann. Das Konzil hat vielmehr das Universitätsstudium der Kleriker vielfältig gefördert.51 Für die Bischöfe und die Hälfte der Dignitäre in den Kathedralkapiteln wurde ein universitäres Theologiestudium außerdem verpflichtend verlangt. Dies geht aus Canones der 22. und 24. Sitzung (das Seminardekret wurde, wie gesagt, in der 23. beschlossen) deutlich hervor.52 Priesterseminar contra Theologische Fakultät war kein Leitsatz der Väter von Trient. ————
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Gießen 1860. – Joseph Hergenröther: Universitäts- oder Seminarausbildung der Geistlichen. In: Chilianeum NF 1 (1869), S. 438 - 458. – Franz Heinrich Reusch: Theologische Fakultäten oder Seminare? Bonn 1873. – Irenäus Themistor [ Pseudonym, richtiger Name Johann Bernhard Endres]: Die Bildung und Erziehung der Geistlichen nach katholischen Grundsätzen und nach den Maigesetzen. Trier 1884. – Justinus Friedemann [Pseudonym, richtiger Name Johann Heinrich Joseph Brüll]: Die Bildung und Erziehung der Geistlichen. Aachen 1884. – Irenäus Themistor [i.e. Johann Bernhard Endres]: Friedemann’s Vorschläge in Betreff der Bildung und Erziehung der Geistlichen. Trier 1884. – Franz Xaver Kraus: Über das Studium der Theologie sonst und jetzt. 2. Aufl. Freiburg i.Br. 1890. – Franz Heiner: Theologische Fakultäten und tridentinische Seminarien. Paderborn 1890. – Ders.: Nochmals Theologische Fakultäten und tridentinische Seminarien mit besonderer Berücksichtigung der Straßburger Universitätsfrage. Paderborn 1901. – Johann Baptist Holzammer: Die Bildung des Clerus in kirchlichen Seminarien oder an Staatsuniversitäten. Mainz 1900. – Sebastian Merkle: Das Konzil von Trient und die Universitäten. Würzburg 1905. – Carl Mirbt: Die Katholisch-Theologische Fakultät zu Marburg. Marburg 1905. – Heinrich Schrör: Gedanken über zeitgemäße Erziehung und Bildung der Geistlichen. 2. Aufl. Paderborn 1910. – Ernst Commer: Heinrich Schrörs „Gedanken über zeitgemäße Erziehung und Bildung der Geistlichen“ im Lichte der kirchlichen Lehre und Gesetzgebung. Graz 1911. Norbert Trippen: Zur Geschichte des Collegium Albertinum in Bonn 1885- 1903. In: Im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche. Hrsg. von Wilfried Evertz. Siegburg 1992, S. 109- 169, hier S. 111, Anm. 7. The Letters and Diaries of John Henry Newman. Vol. 19. Ed. Charles Stephen Dessain. London [u.a.] 1969, S. 551- 560, besonders S. 554- 557. (Vgl. auch Newmans 1873 publizierte Schrift „The Idea of University“.) Zahlreiche Beispiele bei Merkle, a.a.O. (wie Anm. 48) S. 23- 26.
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Dann bleibt aber die Frage, warum man die neue Ausbildungsform erfunden hat. Letztlich geschah dies „aus Not“. Man schuf eine neue Ausbildungsvariante, die im Grunde als zusätzliche gedacht war, um die dringend geforderte gute Priesterausbildung besser als bisher abzusichern. Die Seminarausbildung sollte nicht an die Stelle der Universitätsausbildung treten, sondern an die Stelle schlechter, unzureichend durchdachter und unzureichend durchgeführter Ausbildung. Die „klassische“ Ausbildung von Priesterschülern durch die Pfarrer hatte sich – wie schon gesagt – weitgehend als nicht mehr möglich erwiesen. Teilweise blieb ihre Qualität massiv hinter den notwendigen Anforderungen zurück, teilweise fand sie überhaupt nicht mehr statt, weil auf der Ebene der Pfarreien keine ausbildungswilligen Priesterschüler und keine ausbildungsfähigen Priester mehr vorhanden waren. Somit kann man noch einen Schritt weiter gehen. In weiten Teilen Europas, unter anderem ganz besonders in Deutschland fehlte es nicht nur an gut ausgebildeten Priestern, sondern an Priestern überhaupt.53 Letztlich hat der Priestermangel deshalb zur „Erfindung“ des Priesterseminars geführt, weil man auf dem bisher wichtigsten Weg der Ausbildung keinen Priesternachwuchs mehr erhielt und die Priesterausbildung an der Universität einen quantitativ viel zu geringen Umfang hatte. Wo der alte Hauptausbildungsweg noch funktionierte, sah man daher die Notwendigkeit von Priesterseminaren nicht wirklich ein. So widersprachen der vom Konzil von Trient beschlossenen Einrichtung von Priesterseminaren zunächst mehrere Bischöfe Italiens, die an der Priesterausbildung auf der Ebene der Pfarreien festhalten wollten.54 Tatsächlich hat man allerdings nur in Süditalien an dieser Praxis bis ins 19. Jahrhundert so sehr festgehalten, dass man dort auch die Ausbildung noch bis in diese Zeit teilweise den Pfarrern überließ.55 Das heißt aber keineswegs, dass dort überhaupt keine Seminare gegründet wurden. 1568 wurde ein Priesterseminar in Neapel eingerichtet.56 Es entstanden innerhalb des neapolitanischen spanischen Königreichs 57 auch sehr bald Seminare ———— 52
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Dort wird ausdrücklich bestimmt, dass die Bischöfe, die genannten Dignitäre und die Archidiakone den Doktoren- oder Lizentiatengrad erworben haben müssten, und diesen verliehen die Universitäten. (Conciliorum Decreta, a.a.O., wie Anm. 21, S. 105- 106 und 139- 140). Daran änderte auch der in einigen Ländern Europas vorhandene Überfluss an minoristischen Klerikern rein gar nichts. Auch von einigen spanischen Konzilsvätern, also aus einem Land, in dem damals die Reform der Kirche (bereits seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert) schon beste Fortschritte gemacht hatte, kam Widerspruch gegen die Seminareinrichtung, aber mit anderer Begründung. Diese waren aber, wie dies auf Grund der meist kleinen Diözesen möglich war, auch in diesem Punkt in engem Kontakt mit ihren Bischöfen. Romeo de Maio: Le origini del Seminario di Napoli. Napoli 1958, S. 7- 8.
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in Avellino, Nola und Salerno sowie im zum Kirchenstaat gehörenden süditalienischen Benevent. Auch dort, wo man wie in Spanien viel für die universitäre Ausbildung der Priester getan hatte, war naturgemäß der Eifer für die Gründung von Seminaren gemäß dem Trienter Dekret zunächst sehr gering. Dies zeigt ebenfalls, dass die Erfindung des Priesterseminars nicht vom Wunsch nach einer neuen Ausbildungsform bestimmt war, sondern wesentlich von der Notwendigkeit, nicht mehr begehbare Formen zu ersetzen. Spanien hatte eben teilweise bereits andere Ersatzformen gefunden. Diese bestanden u.a. in einem speziellen Ausbau der universitären Priesterausbildung. Als dies dann nicht hinreichte, kam es auch hier zu einer verstärkten Gründung von Priesterseminaren.58
4. Die Wirkung des Seminardekrets von Trient in den verschiedenen Ländern Europas Man kann ohne weiteres summarisch feststellen, dass das die Errichtung der Priesterseminare betreffende Konzilsdekret die geringste Wirkung in den Gebieten hatte, für die es vornehmlich bestimmt war! Wo der Mangel an geeigneten Priestern, ja an Priestern überhaupt besonders groß war wie in Deutschland, tat man sich mit der Gründung außerordentlich schwer. Die in Trient versammelten Bischöfe hatten außerdem gewiss an die Teile Europas gedacht, die wie England und Skandinavien sozusagen äußerlich und tagespolitisch der katholischen Kirche bereits verloren waren, in denen aber große Teile der Bevölkerung noch bis ins 17. Jahrhundert hinein katholisch gesinnt waren, ohne seelsorglich „versorgt“ zu sein. Hier hing die Gründung von Seminaren zunächst einmal vom erhofften politischen Umsturz ab, der nicht stattfand. Für England gründete man elitäre Seminare, volkstümlich „Kollegien zukünftiger Martyrer“ genannt, doch waren diese „alltäglich-normalen“ Priesterseminaren recht unähnlich.59 Sie waren seltener Idealtyp und überwiegend jesuitisch, nicht säkularpriesterlich geprägt, ja sie waren den Ausbil———— 57
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Offiziell regnum Siciliae im Unterschied zum sizilischen regnum Trinacriae, italienisch regno di Napoli, neapolitanisch reame. Während die nicht wenigen „Seminare“ des 16. Jahrhunderts weitgehend Universitätskollegien entsprachen, galt dies für die späteren im geringeren Maße. Im 17. Jahrhundert wurden acht und im 18. siebzehn Seminare gegründet, die wesentlich dem tridentinischen Muster folgten. (Quintín Aldea: Spanien und Portugal bis 1815. In: Handbuch der Kirchengeschichte. Hrsg. von Hubert Jedin. Bd. 5. Freiburg, Basel, Wien 1970. S. 180-193, hier S. 189.) – In Portugal wurden im 18. Jahrhundert fünf Priesterseminare gegründet (ebenda).
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dungsstätten der Missionare für Übersee ähnlicher als biederen „normalen“ Priesterseminaren. Die Länder, die das Tridentiner Dekret am ehesten umsetzten, waren Frankreich und Italien. In diesen beiden Ländern kam es auch zu recht eigenständigen Ausprägungen der neuen Institution, die so differenziert waren, dass ihre Eigenheiten fast das beiden Gemeinsame übertrafen. Erstaunlich schnell wurden in Mittelitalien und Teilen Oberitaliens Priesterseminare eingerichtet. In Rom entstand schon 1565 durch die Gründung Papst Pius IV. „dem von Gott eingegebenen Dekret entsprechend“ ein Priesterseminar.60 Kurze Zeit später folgte die Erzdiözese Mailand unter dem Kardinal Carlo Borromeo (1538-1584), dem Neffen Papst Pius’ IV. In diesem in der Tat sehr großen Sprengel wurden – wörtlich der Anregung des Dekrets für große Diözesen folgend – von Anfang an gleich mehrere Seminare eingerichtet. In Mailand selbst gründete er ein Seminar für die Ausbildung des Stadtklerus und eins für die Ausbildung der Seelsorger der Landbevölkerung sowie eine besondere Institution für die Priester, die in die konfessionell umkämpfte Südschweiz und in Teile der Zentralschweiz geschickt werden sollten.61 Carlo Borromeo förderte auch die Gründung von Seminaren in den Suffraganbistümern der Mailänder Kirchenprovinz.62 Der große Bischofsheilige der Katholischen Reform, der zunächst einmal als Papstnepote begann, wurde erst in den zwei Jahrzehnten seiner Amtsführung als Erzbischof von Mailand zum sich persönlich aufopfernden erfolgreichen Seelenhirten. Die Anfänge seiner eigentlichen geistlichen Laufbahn (vor allem seit dem Tod seines Bruders Federico) waren sicher frei von Heuchelei, aber nicht ohne eine Neigung zu äußerlicher Perfektion, die fast als Frömmelei erscheinen konnte. Als entsprechend kleinlich könnte man die Details seiner ———— 59
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Das bedeutendste war das (mit der 1562 errichteten Universität verbundene !) 1586 gegründete englische Seminar in Douai (1578- 1593 vorübergehend nach Reims verlegt), neben dem am gleichen Ort später ein irisches und ein schottisches Seminar gegründet wurden. Alle diese drei Seminare wurden gleichzeitig zumeist und besonders in offiziellen Dokumenten als collegia bezeichnet. Monumentum ad historiam concilii Tridentini spectantium collectio. Ed. Jodocus Le Plat. Tom. VI. Lovanii 1786, S. 306: „Quod a Tridentino concilio divinitus decretum est“. – Da die Gründung in das letzte Pontifikatsjahr Papst Pius' IV. fiel und geraume Zeit nach „Bekehrung“, Priester- und Bischofsweihe seines Nepoten Carlo Borromeo, ist es nicht unwahrscheinlich, in diesem die treibende Kraft für die Gründung zu sehen. Norbert Trippen: Der heilige Karl Borromäus und die Reform der Seelsorge nach dem Konzil von Trient. In: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Köln, Osnabrück 36 (1984), S. 322-329, hier S. 326- 327. – Zum 1579 gegründeten Seminarium Helveticum außerdem: Claudia di Filippo Bareggi: San Carlo e la Riforma cattolica. In: Storia religiosa della Svizzera. Hrsg. von F. Citterio und L. Vaccaro. Milano 1996, S. 193- 246. So in den Bischofsstädten Bergamo, Brescia, Lodi und Vercelli.
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Seminarbestimmungen interpretieren.63 Doch wird man hier bei Beachtung von Ort und Zeit ihrer Entstehung von einem großen Unterschied zwischen Theorie und Praxis ausgehen müssen. Grundsätzlich wurde der vom hl. Karl Borromäus geschaffene Seminartyp zumindest äußerlich zum Prototyp des italienischen Priesterseminars schlechthin, für den sogar eine ganz bestimmte Gebäudeform charakteristisch war. In Frankreich wurde 1567 im Erzbistum Reims der Grundstein für das erste Seminar gelegt. Fundator war der zuvor auf dem Konzil sehr hervorgetretene Erzbischof Charles de Guise (1525-1574), der „Kardinal von Lothringen“.64 Bis 1610 entstanden in Frankreich nicht weniger als 14 Priesterseminare 65 bei allerdings insgesamt weit über 100 Diözesen.
5. Seminare und Universitäten des 16. bis 18. Jahrhunderts in Übersee Da Spanien in seinem riesigen amerikanischen Kolonialbereich praktisch von der Eroberung an eine äußerlich den europäischen Verhältnissen entsprechende Kirchenstruktur aufbaute 66, kam es dort schon sehr bald nach der Mitte des 16. Jahrhunderts, also fast unmittelbar nach dem Konzil von Trient, zur Gründung von Priesterausbildungsstätten, die freilich zunächst noch nicht eigentlich tridentinisch geprägt waren 67, und gleichzeitig zur Errichtung von ———— 63
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Dies ergab sich auch aus dem ganz extrem hohen Anspruch, den der Heilige an Priesterseminare stellte. Für die mit einer allgemeineren Aufgabe betrauten Scuole della Dottrina Christiana, deren Gründung eine seiner Lieblingsideen war, stellte er vielmehr großzügig fest, der Unterricht der (freilich zumeist kindlichen) Schüler müsse den Unterrichteten unbedingt zunächst einmal Freude bereiten. – Vgl. Paul F. Grendler: Borromeo and the Schools of Christian Doctrine. In: San Carlo Borromeo. Ed. by John M. Headley and John B. Tomaro. Cranbury, NJ [u.a.] 1988, S. 158- 171. – Angelo Bianchi: Le scuole della dottrina Cristiana: Linguaggio e strumenti per una azione educativa „di massa“. In: Carlo Borromeo e l'opera della „Grande Riforma“. Ed. Franco Buzzo e Danilo Zardin. Milano 1997, S. 145 - 158. Michael Arneth: Das Ringen um Geist und Form der Priesterausbildung im Säkularklerus des siebzehnten Jahrhunderts. (Schriften zur Religionspädagogik und Kerygmatik. 7.) Würzburg 1970, S. 4. Antoine Degert: Histoire des séminaires français jusqu'à la Révolution. T. 1. Paris 1912, S. 58 - 81. Dabei ist nicht auszuschließen, dass gerade der äußerlich perfekte Ausbau der kirchlichen Strukturen mit wirklich allen Stufen der Hierarchie den Blick auf Mängel in der seelsorglichen Betreuung in den Gemeinden der indigenen Bevölkerung getrübt hat, also indirekt vielleicht sogar Mitursache für die Erhaltung teilweise katastrophaler Zustände außerhalb der eigentlichen Missionsreduktionen war. Dies gilt natürlich erst recht für die Versuche, Ausbildungsstätten sogar noch vor Abschluss, ja Einberufung des Tridentinums einzurichten, wie dies beispielsweise durch Bischof Vasco de Quiroga 1540 in San Nicolás im mexikanischen Michoacán geschah. (Leon Lopetegui und Felix Zubillaga: Historia de la Iglesia en la América española. [Bd. 1.] México, América Central, Antillas. Madrid 1965, S. 358 - 359). Diese „Seminare“, die zunächst einmal der Ausbildung von Katecheten
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Universitäten mit theologischen Fakultäten. Auch in den folgenden Jahrhunderten blieb Lateinamerika das mit Abstand wichtigste außereuropäische Gebiet mit eigenständiger Priesterausbildung, aber es war nicht das einzige. In Indien bemühte sich die portugiesische Mission ebenfalls um Einrichtungen zur Vorbereitung von Priesteramtskandidaten, und zwar auch schon seit dem 16. Jahrhundert. Auf den spanischen Philippinen wurde 1611 eine Universität gegründet. Im französischen Kanada entstand das erste Priesterseminar kurz nach der Mitte des 16. Jahrhunderts. 1546 wurde die gemäß der Planung aus dem Jahre 1528 dann 1530 errichtete Diözese der Ciudad de México zum Erzbistum erhoben.68 Mit der Schaffung eines Metropolitansitzes war die dann folgende Gründung der Universität, deren Theologische Fakultät 1553 eröffnet wurde, letztlich kausal verbunden. Zuvor war schon 1538 eine Universität im Sprengel von Santo Domingo (Hispaniola) in Santiago de la Paz gegründet worden, wo die Errichtung der Universität der Erhebung des Bistums zur Erzdiözese – ebenfalls 1546 – allerdings zeitlich voranging.69 In der dritten 1546 zum Erzbistum erhobenen Diözese Amerikas, in Lima, war die Theologische Fakultät der dann bald gegründeten Universität schon 1551 „funktionsfähig“.70 Aber die Schaffung einer vierten und fünften amerikanischen Kirchenprovinz mit Metropolitansitz in Bogotá (1565) bzw. Charcas 71 (1609) führte nicht zur unmittelbaren ————
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in der Hoffnung auf spätere Priesterberufungen dienten, hatten mit der Konzeption des Tridentinischen Seminars nichts zu tun und sind deshalb auch nicht oben als mögliche „Vorformen“ aufgeführt. Sie waren wohl ausschließlich Folge des anfangs in Mexico herrschenden Optimismus der vor allem franziskanischen ersten Missionare, Mitglieder der indigenen Eliten zu Neupriestern auszubilden, und eine spontane Erfindung. Der Gründung des Bistums México vorausgegangen war die der Diözese in Tlaxcala (Lopetegui / Zubillaga, ebenda, S. 296), dem wichtigsten indigenen Verbündeten der Spanier bei der Eroberung des Aztekenreiches, dem die spanische Verwaltung (ausnahmsweise) jahrhundertelange Dankbarkeit erwies. Dort hat es auch extrem frühe – allerdings gescheiterte – Versuche zur Ausbildung eines indianischen Klerus gegeben, aber es entstand kein eigentliches Priesterseminar. Bei der Universität in Santiago ist allerdings zweifelhaft, ob sie je eine Theologische Fakultät besaß (Hans-Jürgen Prien: Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika. Göttingen 1978, S. 247- 248). – Auf den Großen Antillen war nach den Eroberungen auf dem Festland (der tierra firme) durch die Auswanderung dorthin die gesamte Infrastruktur weitgehend zusammengebrochen. Ein ausschließlich für die ordensinterne Priesteraus- und -weiterbildung der Dominikaner im selben Jahr geschaffenes studium generale in San Juan auf der Insel Puerto Rico scheint trotz päpstlicher Confirmation wegen fehlender königlicher Bestätigung nie wirklich in Funktion getreten zu sein (ebenda, S. 248). Prien, ebenda, S. 247. Die heutige Stadt Sucre, die zeitweilig auch La Plata genannt wurde. – Mit dem Namen Charcas wurde ursprünglich nicht nur die Stadt, sondern das gesamte Gebiet von „Oberperu“, in etwa das heutige Bolivien, bezeichnet. Die Kirchenprovinz Charcas reichte aber nach Süden bis zur Mündung des Rio de la Plata mit dem 1582 gegründeten Bistum Buenos Aires, wo anders als in einigen zwischen Charcas und der La-Plata-Mündung gelegenen Diözesen während der Frühen Neuzeit kein Priesterseminar entstand.
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Begründung von wirklichen Universitäten. Maßnahmen zur Priesterausbildung wurden aber auch in den Bereichen dieser neuen Kirchenprovinzen nicht vergessen.72 Das erste eindeutig grundsätzlich tridentinische Priesterseminar Lateinamerikas wurde 1590 in Lima errichtet. Gründer war Erzbischof Toribio Alfonso de Mogrovejo. Dieser war einer der großen Kirchenreformer im tridentinischen Sinne in der Neuen Welt, und während seiner langen Amtszeit (1579/80-1606) war er fortwährend um die Priesterausbildung bemüht.73 1603 wurde in Santo Domingo ein tridentinisches Seminar gegründet 74 und 1609 dasselbe für Caracas auf einer Diözesansynode beschlossen, wo aber der Zeitpunkt der Realisierung möglicherweise viel später liegt. Spätestens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bestand aber im späteren Venezuela ein Priesterseminar.75 Schon 1597 hatte man sogar die Gründung eines Seminars in Santiago del Estero, im Inneren Südamerikas in unmittelbarer Nähe des „wilden“ Gran Chaco beschlossen, das aber nicht Realität wurde.76 Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurden weitere Seminare errichtet 77, die wie die gleichzeitig in Europa gegründeten häufig in die Hände der Jesuiten gegeben wurden. Im 18. Jahrhundert wurden noch einige Lücken im schließlich fast flächendeckenden Netz der Priesterausbildungsstätten Spanischamerikas geschlossen.78 Von letzterem kann man um so mehr sprechen, weil auch die Gründung von Universitäten mit Theologischen Fakultäten voranschritt. 1603 wurde die bereits 1586 formal errichtete Universität in Quito eröffnet, 1681 trat die 1676 konzipierte Universität von Guatemala in Funktion. Beide hatten eine Theologische Fakultät.79 ———— 72
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So wurde in der Stadt Charcas 1595 während einer Vakanz des bischöflichen Stuhls, also vor der Erhebung des Bistums zur Metropolie, ein Seminar gegründet. (Angel Santos: Bolivia: La Iglesia diocesana [Teil I und II]. In: Historia de la Iglesia en Hispanoamérica y Filipinas. Ed. Pedro Borges. Vol. II. Madrid 1992, S. 567.) 1582 - 1583 hielt er ein Provinzialkonzil in Lima ab (Concilium provincialis Limensis III), das oft als das Tridentinum Südamerikas bezeichnet wird. (A. Oyarzun: La organización eclesiastica en el Peru y en Chile durante el pontificado de Santo Toribio de Mongrovejo. Roma 1935.) Er wurde 1726 kanonisiert und ist heute einer der volkstümlichen Heiligen Lateinamerikas. Lopetegui / Zubillaga, a.a.O. (wie Anm. 67), S. 780. Prien, a.a.O. (wie Anm. 69), S. 248. Es wurde zwar 1605 bis 1607 in rudimentärer Form recht provisorisch errichtet, aber dann schon 1613 wieder aufgegeben. Man vereinigte es mit dem Jesuitenkolleg im weiter südlich gelegenen Córdoba. So in Peru, in Huamanga (1625) und Trujillo (1627), im mexikanischen Puebla (1641) und in der damaligen Hauptstadt Nicaraguas, in León (1680). Schließlich folgte 1690 unter Erzbischof Francisco Aguiar y Seijas auch die Metropole México, die ja schon 150 Jahre zuvor eine Universität erhalten hatte. Es entstanden Seminare im chilenischen Bischofssitz Concepción (1718) und in Asunción (1783), in letzterem bezeichnenderweise nach dem Ende des benachbarten Jesuitenstaates von Paraguay.
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Das Problem bei der Priesterausbildung in Lateinamerika der Frühen Neuzeit lag also nicht im Mangel an dafür vorgesehenen Institutionen, es lag vielmehr in der Auswahl der Kandidaten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen wurden keine Angehörigen der indigenen Bevölkerung zu Priestern ausgebildet, so sehr Rom auch darauf drängte, schon im 16. Jahrhundert, und dann verstärkt wieder seit 1622, dem Gründungsjahr der PropagandaKongregation. Die spanisch-amerikanischen Bischöfe haben nicht von Anfang an, aber seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kontinuierlich die Ausbildung eines einheimischen Klerus verhindert, und entsprechend fielen die Beschlüsse der Provinzial- und Diözesansynoden aus. Wenn Rom sich an die Regierung in Madrid wandte, verschanzte sich diese hinter den Beschlüssen der amerikanischen Ortskirchen.80 Der dortige Hochklerus war aber nicht selten auch der Priesterweihe von Kreolen eher abgeneigt. Rom konnte in Fragen der Priesterausbildung in Spanischamerika seine eigene Konzeption in keiner Weise wirklich durchsetzen. Der PropagandaKongregation gelang es nicht, die Macht des königlichen Patronats, das bis auf mehrere Bullen Papst Alexanders VI. zurückging, in den die Auswahl der Priesteramtskandidaten betreffenden Punkten zu unterlaufen. Spätestens seit der Junta Magna (1568) war das Entscheidungsmonopol der spanischen Krone praktisch unangefochten.81 Im portugiesischen Brasilien entstanden Priesterseminare erst im 18. Jahrhundert, und zwar nicht mehr als drei.82 Weit eher bemühte man sich um eine Institution für die Priesterausbildung in Goa, dem Sitz des portugiesischen Vizekönigs in Indien. Goa wurde schon 1558 Sitz eines Erzbischofs. Die ersten Bemühungen um einheimische Priester begannen aber sogar noch früher.83 1541 wurde bereits die erste Vorgängerinstitution des späteren St.-Paulus-Kollegs gegründet. Auf den spanischen Philippinen wurde 1611 eine Art Universität gegründet, die auch eine Theologische Fakultät erhielt und die insgesamt unter der Leitung von Dominikanern ———— 79
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Dies galt auch für die Universitäten von Córdoba (heute Argentinien) und Mérida in Yucatán, die 1623 bzw. 1648 aus Jesuitenkollegien hervorgingen. – Speziell zur Gründung der Universität von Quito und ihrer Ausstattung mit theologischen Lehrstühlen: Antonio de Egaña: Historia de la Iglesia en la América española. [Bd. 2.] Hemisferio Sur. Madrid 1966, S. 434. Prien, a.a.O. (wie Anm. 69), S. 252. Dies ist eindeutig dadurch belegt, dass die Krone, wenn sie es im Einzelfall wollte, indigene Priester in der amerikanischen Hierarchie durchsetzte. So zwang König Karl II. 1682 das Metropolitankapitel von Lima, den indianischen Kleriker Juan de Espinosa Medrano als Mitglied zu akzeptieren. Die beiden wichtigsten entstanden kurz vor der Jahrhundertmitte in Rio de Janeiro und Belem do Pará, also sowohl im eigentlichen Brasilien wie im verwaltungsmäßig davon getrennten Maranhão. Das dritte wurde im neubesiedelten Hinterland Brasiliens, in Mariana im Gebiet von Minas Gerais gegründet.
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stand.84 1645 wurde sie von Papst Innozenz X. als Universität bestätigt. Ein einheimischer Klerus wurde aber erst seit dem 18. Jahrhundert ausgebildet 85, und zwar hauptsächlich an einem Priesterseminar, das nach gescheitertem Gründungsversuch von 1704 erst 1772 wirklich gegründet wurde. In Kanada, der seit 1604 entstandenen französischen Kolonie „NouvelleFrance“, wurde das erste Priesterseminar bereits durch den ersten kanadischen Bischof François de Montmorency-Laval (†1708) gegründet. Bischof Laval kam im Sommer 1659 in die nordamerikanische französische Kolonie, die damals nur wenig mehr als 2000 europäische Einwohner zählte. Schon 1663 gründete er in Québec ein Priesterseminar.86 Zu diesem Zeitpunkt war François de Laval noch nicht Bischof von Québec, sondern als Titularbischof von Petr(e)a 87 Apostolischer Vikar von Neufrankreich. Erst 1674, also elf Jahre nach der Seminargründung, wurde durch Papst Clemens X. die Diözese Québec kanonisch errichtet. Schon 1668 hatte Laval neben dem Hauptseminar ein seminarium minus als Vorbereitungsinstitution gegründet. Es war in diesem Fall wohl weniger als Knabenseminar gedacht, sondern zur Unterrichtung von Huronen (Wendat ), einem einheimischen Volk, das in engem Bündnis mit der französischen Kolonie lebte. Schon zu Anfang wurden sechs junge Huronen aufgenommen. Dennoch ist es auch in Kanada nicht gelungen, während der Frühen Neuzeit einen wirklichen indianischen Klerus heranzubilden. Laval, der 1980 seliggesprochen wurde, hat 1684 aus politischen Gründen auf sein Bischofsamt verzichtet, kehrte aber später nach Kanada zurück und vertrat seinen Nachfolger Jean-Baptiste de Saint-Vallier häufig bei Pontifikalhandlungen. Schon 1688 gab es in der Kolonie Neufrankreich 102 Kleriker, von denen allerdings ein großer Teil seine Ausbildung in Frankreich erhalten hatte. Das von Laval geschaffene Priesterseminar, Keimzelle der 1852 gegründeten heutigen Laval-Universität, hat auch nach der englischen Eroberung von Québec (1759, von Frankreich 1763 abgetreten) nach vorübergehender Krise erfolgreich und dauerhaft weiterbestanden.88 ———— 83
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Carlos Merces de Melo: The Recruitment and Formation of the Native Clergy in India. Lissabon 1955. Lucio Gutiérrez: Historia de la Iglesia en Filipinas (1565 - 1900). Madrid 1992, S. 144- 145. – Zum 300. Jubiläum 1911 erschien eine sehr aufwendige und umfangreiche Festschrift, die allerdings mehr die Feierlichkeiten beschrieb als historische Fakten vermittelte: El Tricentenario de la Universidad de Santo Tomás de Manila. Manila 1912. H. de la Costa: The Development of the native Clergy in the Philippines. In: Studies in Philippine Church History. Hrsg. von G. H. Anderson. Ithaca, London 1969, S. 64-104. Jean Hamelin: Les Catholiques d'expression française en Amérique du Nord. Maredsous 1995, S. 16. – Terence J. Fay: A History of Canadien Catholics. Montreal [u.a.] 2002, S. 23. Als solcher wurde Laval 1658 in Paris konsekriert.
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In Lateinamerika hingegen haben weder die tridentinischen Seminare noch die Theologischen Fakultäten die Unabhängigkeitskriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts in für die Priesterausbildung funktionsfähiger Form überlebt.
6. Die französischen Sonderformen des Priesterseminars im 17. Jahrhundert Es gab mehrere Gründe dafür, dass die „Normalform“ des vom Konzil gewollten Priesterseminars in Frankreich schließlich überwiegend modifizierten Sonderformen wich. Die Hauptursache lag aber gewiss in einer weit im ganzen Land verbreiteten Ablehnung der Trienter Reformbeschlüsse überhaupt. Man hat dies – sicher ganz zu Recht – mit der nationalkirchlichen Tradition der ecclesia Gallicana begründet, die nur die Annahme der dogmatischen Konzilsentscheidungen zugelassen habe. Im Übrigen hatten sich alte gallikanische Traditionen unlösbar mit modernen staatskirchlichen Prinzipien vermischt. Letztere waren bei den „Parlamenten“, den obersten Gerichtshöfen, oft stärker sogar als bei den Monarchen bestimmend. Die Reformdekrete wurden jedenfalls in Frankreich innerhalb der Frühen Neuzeit niemals vollständig promulgiert und offiziell angenommen. Das hat natürlich reformfreudige Bischöfe (s.o.) nicht daran gehindert, Priesterseminare zu gründen. Der Verbreitung der Diözesanseminare waren aber wegen mangelnden allgemeinen kirchlichen Einsatzes, vor allem wegen der mangelnden Bereitschaft der Kleriker mit wohl dotierten Benefizien, finanzielle Beiträge zu leisten, recht enge Grenzen gesetzt. Daher wurde die Seminaridee mehr von neuen Priesterkongregationen als von den Diözesanbischöfen aufgenommen. Alle anderen Kongregationen übertraf dabei die von Pierre de Bérulle (1575-1629) gegründete Gemeinschaft der französischen Oratorianer. Aber auch der Säkularpriestergemeinschaft von Saint-Nicolas du Chardonnet kam eine gewichtige Bedeutung zu. Letztere wurde von Adrien Bourdoise (1584-1655) gegründet, und deren Vorstellungen richtiger Priesterausbildung zeichneten sich durch eine sehr große Besonderheit aus, nämlich den Rückgriff auf die alte Tradition der Ausbildung in den Pfarreien, die nun freilich mit der in Seminaren gekoppelt wurde. Das von Bérulle gegründete französische Oratorium hatte zwar das von Filippo Neri (1515-1595) in Rom gegründete zum Vorbild, doch waren die ———— 88
Honorius Provost: Le Séminaire de Québec. (Publications des archives du Séminaire de Québec. 2.) Québec 1964.
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Oratorianer Frankreichs kein Zweig des italienischen Verbandes. Im Unterschied zum römischen Vorbild war es von Anfang an ein zentralistisch organisierter Verband, und es hatte klare Richtlinien interner Priesterausbildung. Es füllte sozusagen den Platz aus, den die zu wenigen diözesanen Seminare offengelassen hatten. Das gilt zwar prinzipiell auch für die Seminare der Gemeinschaften von Saint-Nicolas du Chardonnet, doch hatten diese eine durch Bourdoise, ihren Gründer, vermittelte besondere Ausbildungskonzeption.89 Bourdoise selbst kam in einer Pfarrei zur priesterlichen Berufung, und er erfuhr seine Priesterausbildung noch ganz auf die herkömmliche Art, nicht auf einem Seminar, wie er es später entschieden verlangte. Bourdoise wurde durch den Pfarrer von Yèvres (Diözese Chartres) in den priesterlichen Aufgaben unterwiesen. Dieser schickte ihn dann zum Empfang der Niederen Weihen nach Chartres. Danach hat er in der Pfarre von Brou liturgische und pastorale Hilfsdienste verrichtet und gleichzeitig weitere theologische Unterweisung erhalten. 1613 wurde er zum Priester geweiht. Für den Seelsorger und Theologen Adrien Bourdoise standen Priestertum und Pfarrgemeinde im absoluten Zentrum seines Interesses. Beim Priestertum dachte er bezeichnenderweise vor allem an den Seelsorgeklerus an der Basis, die Pfarrer und Vikare in den Gemeinden. Ein Grauen war ihm, dass die Bezeichnungen für den Pfarrer curé (Seelsorger), pasteur (Hirte) damals im alltäglichen französischen Sprachgebrauch gerne durch bénéficier (Pfründeninhaber) ersetzt wurden.90 Pfarrpriester und Pfarrgemeinde sah er sowohl durch gemeinsame wie durch unterschiedene, dann aber komplementäre Pflichten miteinander verbunden. Nach seiner Auffassung sollte ein Pfarrer das Gebiet seiner Pfarrei am besten nie verlassen und kein Gemeindemitglied an Sonntagen eine andere Kirche anstelle seiner Pfarrkirche besuchen. Erbittert bekämpfte er die Privatkapellen in den Schlössern des Adels, wenn sie nicht nur Oratorien, sondern Orte „privater“ Sonntagsmessen, waren. Alle in einer Pfarre lebenden Priester sollten am Unterricht der Kinder in der Pfarrei beteiligt sein und im „übernatürlichen Geiste“ Schule halten, um aus dem Gottesvolk neue Priester zu gewinnen. („Der heilige Paulus und der heilige Dionysius [Saint Denis, einer der Hauptpatrone Frankreichs] würden, wenn sie jetzt nach Frankreich kämen, an den Pfarrschulen die Kinder unterrichten.“ 91) ———— 89
90 91
Zur Persönlichkeit von Bourdoise: Jean Harang: Bourdoise 1584-1655. Paris 1947. – Zum Seminar von Saint-Nicolas: Pierre Schoenher: Histoire du séminaire de Saint-Nicolas de Chardonnet. 2 Vol. Paris 1909- 1911. Arneth, a.a.O. (wie Anm. 64), S. 54 - 55. Dort auch zum Folgenden. Ebenda, S. 60.
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Auf der Basis dieser Vorstellungen wurden die Seminare seiner Priestergemeinschaft als zentrale Ausbildungsstätten errichtet. Sie arbeiteten nicht gegen das Trienter Konzept, aber es ist doch sehr zu bezweifeln, dass die Väter des Konzils geglaubt haben, so ideale Ansprüche mit so starker Praxisorientierung verbunden in der Weltkirche durchsetzen zu können. Unter den nicht wenigen weiteren Seminaren von neuen Priesterkongregationen Frankreichs sei besonders das vom hl. Jean Eudes (1601-1680) initiierte erwähnt. Eudes gehörte zunächst den Oratorianern an, gründete aber nach seinem Austritt aus dem Oratorium 1643 im Jahre 1644 eine eigene Priesterkongregation, die „Religieuses de Notre Dame de Charité du Refuge“.92 Das Priesterseminar der Eudisten war nicht prinzipiell, aber faktisch beinahe gegen die Prinzipien des Tridentinischen Seminars ausgerichtet. Es unterschied verschiedene Arten von Seminaristen.93 Insgesamt betrachtet diente es mindestens ebenso der Weiterbildung und asketischen Erbauung von Priestern wie der Ausbildung von Priesteramtskandidaten. So lässt sich zusammenfassend sagen, dass mit Ausnahme der ersten bischöflichen Gründungen keines der französischen Seminare der Frühen Neuzeit sich mit den Zielen begnügte, die das Trienter Konzil für Priesterseminare vorgegeben hatte. Dies galt auch für die Priesterausbildung der Säkularpriesterkongregation der vom hl. Vinzenz von Paul (1581-1660) gegründeten Lazaristen („Congrégation de la Mission“), die für die Mission in Übersee, die Betreuung und Mission in den extremen Diasporagebieten Europas und ganz besonders speziell auch für die „Sonderseelsorge“ ausbildete.94
7. Die Entwicklung in Deutschland: Universität contra Seminar Grundsätzlich hatte man im deutschsprachigen Teil des immer noch auch romanische Regionen umfassenden Reichsgebiets 95 die Notwendigkeit einer verbesserten Priesterausbildung ebenso erfasst wie in anderen Ländern. Dies war allein schon durch die hier weit existentiellere Krise in Folge der Reformation bedingt. Selbstverständlich hatte Johannes Eck (1486-1543) schon lange vor dem Trienter Seminardekret in seinen seit 1523 vorgebrach———— 92 93 94 95
Paul Milcent: Un artisan du renouveau chrétien au XVIIIe siècle, Saint Jean Eudes. Paris 1985. Arneth, a.a.O. (wie Anm. 64), S. 117-118. Pierre Coste: La Congrégation de la Mission. Paris 1927. In Lothringen, der Wallonie und im Herzogtum Savoyen, Gebieten deren Reichszugehörigkeit teilweise freilich nur noch eher formal war oder wie der Franche Comté im Laufe des 17. Jahrhunderts verloren ging, galten für die Priesterausbildung insgesamt bessere, zumindest aber stärker tridentinische Bedingungen als in Deutschland.
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ten Reformvorschlägen auf die Notwendigkeit einer verbesserten Priesterausbildung hingewiesen.96 In der Praxis geschah aber in Deutschland bis ins 17. Jahrhundert hinein weniger als wahrscheinlich irgendwo sonst zur Änderung der misslichen Situation. In Deutschland gehörte der Sprengel des Kölner Erzbistums gewiss nicht zu den am meisten durch die Reformation gefährdeten Gebieten. Die nichtsdestoweniger dort dringend notwendige Seminargründung blieb in Ansätzen stecken und erfolgte überhaupt erst mit einer durchaus beträchtlichen Verspätung.97 Dies gilt deshalb, weil die Erstgründung von 1615 ein fast totaler Fehlschlag war; dreißig Jahre später wurde sie wieder aufgelöst. Sie war von Erzbischof Ferdinand von Bayern initiiert worden und dieser hatte den Jesuiten Johannes Kessel als ersten Regens eingesetzt. Das Ende der Einrichtung 1645 fiel noch in die Amtszeit desselben Erzbischofs. Bezeichnenderweise hatte Erzbischof Ferdinand das Seminar aus eigenen Mitteln errichtet; schließlich war dies die einzige Möglichkeit, ein Seminar unter bischöflicher Leitung – wie ja vom Trienter Konzil vorgesehen – ins Leben zu rufen. Der Kölner Oberhirte hat diese weise Einsicht erst durch Erfahrung gewinnen müssen, sonst hätte er nicht wenige Wochen vor der Gründung vergeblich um die finanzielle Unterstützung des Domkapitels gebeten. Nur der Dompropst Eitel Friedrich von Hohenzollern stiftete sozusagen als Privatmann für dieses bischöfliche Seminar unter jesuitischer Beteiligung.98 Dieses erste Kölner Priesterseminar hat in den 30 Jahren seines Bestehens etwa 90 Priester ausgebildet, darunter viele nach deren Weihe. Wie niederschmetternd negativ diese Bilanz war, wird erst richtig deutlich, wenn man bedenkt, dass die Erzdiözese über mehr als 800 Pfarreien verfügte.99 Kaum besser erging es dem Seminargründungsversuch von 1658, den Erzbischof Maximilian Heinrich unternahm. 1675 wurde dessen Seminarbetrieb eingestellt; 1683 erfolgte dann das vermögensrechtliche Ende.100 Es ist ———— 96
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Vgl. Joseph Lortz: Die Reformation in Deutschland. 4. Aufl. Bd. 2. Freiburg, Basel, Wien 1962, S. 98. Zum Folgenden Ernst Reckers: Geschichte des Kölner Priesterseminars bis zum Untergang der alten Erzdiözese. Köln 1929. – Vgl. auch Heinz Finger: Die Beziehungen der Jesuiten zu den Kölner Erzbischöfen. In: Die Anfänge der Gesellschaft Jesu und das erste Jesuitenkolleg in Köln. (Libelli Rhenani. 17.) Köln 2006, S. 187- 202, hier S. 199 - 202 [Abschnitt: „Die Jesuiten und das erste Kölner Priesterseminar“]. – Zum neuesten Forschungsstand Molitor, a.a.O. (wie Anm. 4), S. 491- 493. Graf Eitel Friedrich, Kölner Dompropst seit 1612, war selbst Jesuitenschüler in Porrentruy (Pruntrut), der Residenzstadt des Fürstbistums Basel, gewesen. Er starb 1625 als Kardinal und Bischof von Osnabrück. ( Willi Eisele: Kardinal Eitel Friedrich, Bischof von Osnabrück, Kleriker und Diplomat. In: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte [NF] 6. 1970, S. 9-36.) Molitor, a.a.O. (wie Anm. 4), S. 326. Ebenda, S. 493.
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eindeutig, die meisten kirchlichen Kreise im Kölner Erzbistum sahen in einem bischöflichen Seminar vor allem eine Beeinträchtigung der Standesinteressen des Klerus und vielleicht noch mehr eine leidige Konkurrenz für die altehrwürdige Kölner Universität. Erst 1738 wurde ein Seminar geschaffen, das langsam im Stande war, diesen Namen zu verdienen.101 Es verdankte sein Stiftungskapital dem hochherzigen Legat eines frommen Laien, des früheren Syndikus der westfälischen Grafenbank Johann Jakob von Broich. Da dieser mit seinem Testament auch die Satzung der zukünftigen Einrichtung in recht eigenartiger Weise beeinflusst hatte (er wollte eine Klausur „strenger als bei den Kartäusern“), ergaben sich bis zur völligen Aufhebung dieser Bestimmungen größere Probleme. Früh kam es im Reichsgebiet zur Gründung von Priesterseminaren in den Bistümern Eichstätt (sogar schon 1564!), Würzburg (1570) und Bamberg (1586). Doch bald verebbte die Gründungswelle. Die Erzdiözese Mainz folgte erst 1662. In Salzburg war wie in Köln die erste Gründung (1582) ein Fehlschlag. Das Straßburger Seminar wurde erst 1682, also nach dem Übergang von Stadt und Fürstbistum an Frankreich, gegründet. Einige der vor und während des Dreißigjährigen Krieges gegründeten Seminare konnten für längere Zeit kaum wirklich in Funktion treten. Die Gründe für die Schwierigkeiten waren überall im Reich dieselben. Der Pfarrklerus hatte wenig Interesse an der Ausbildung des Nachwuchses und die mächtigen Domkapitel hatten keine Neigung, zur Finanzierung beizutragen. Das Urteil von Hermann Tüchle über die deutschen Priesterseminare in der Frühen Neuzeit erscheint generell berechtigt, wenn er für Deutschland feststellt: „Hier ist das Seminar immer eine Institution, die wie ein Fremdgewächs von oben her ins Leben gerufen werden muß“.102 Der wesentlichste Grund dafür war die absolut höhere Einschätzung der Universität gegenüber dem Seminar. Als der Klerus im Erzbistum Köln 1574 aufgefordert wurde, eine beabsichtigte Seminargründung mitzufinanzieren, war die Antwort, man brauche kein Seminar, die Universität sei selbst eines.103 Vierzig Jahre später hatte der Kölner Klerus seine Meinung noch keineswegs geändert. Anlässlich der von ihm abgelehnten Gründungspläne Erzbischof Ferdinands 1615 (s.o.) wies er in einer Denkschrift auf die blühenden Bursen bzw. Gymnasien der universitären Artistenfakultäten hin, aus denen „tamquam uberrimis seminariis“ genug Kandidaten für die Beset———— 101 102
Reckers, a.a.O. (wie Anm. 97), S. 131-132. Hermann Tüchle: Das Seminardekret des Trienter Konzils und Formen seiner geschichtlichen Verwirklichung. In: Theologische Quartalschrift 144 (1964), S. 12-30, hier S. 25.
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zung aller Pfarrstellen hervorgehen würden.104 Vielerorts wurde außerdem überlegt, ob bei beschränkten Mitteln eine Seminargründung oder eine Universitätsreform der Kirche mehr Nutzen verspräche.105 Erst im 18. Jahrhundert, und zwar bezeichnender Weise erst in dessen zweiter Hälfte, kam es in Deutschland zu einer wahren Gründungswelle von Priesterseminaren. Die wichtigsten Neugründungen waren Wien (1759), Konstanz (1760) und Paderborn (1777). Das schon im 16. Jahrhundert gegründete Seminar in Eichstätt erlebte unter Fürstbischof Raymund Anton von Strassoldo (1757-1781), dem Verfasser der berühmten „Instructio pastoralis“, eine ganz besondere Blüte 106, die auch noch unter seinem Nachfolger Anton von Zehmen (1781-1790) anhielt, der stärker von der Aufklärung beeinflusst war. Die Gründe für den späten Aufschwung des Seminarwesens in Deutschland waren die Katholische Aufklärung, die Bedrohung durch die weltliche Aufklärung und vor allem der nun sichtbar gewordene Niedergang der Universitäten.
8. Die Beeinflussung des Tridentinischen Seminars durch Universität und Jesuitenkolleg Die 1563 neugeschaffene Institution Priesterseminar war von ihrem Anfang an nicht ohne die weiterbestehende universitäre Theologenausbildung auch nur denkbar. Schließlich hatte das Seminardekret selbst suggeriert, dass die Lehrer des neuen Seminars selbst eine universitäre Ausbildung haben sollten.107 Dies erscheint ganz selbstverständlich, wenn man bedenkt, wie universitätsfreundlich das Konzil von Trient in allen Sitzungsperioden war.108 Die Beeinflussung der neuen Seminare durch die etablierte Institution Universität war umso natürlicher, weil man mancherorts keinen wirklichen Unterschied zwischen den beiden Einrichtungen erkennen wollte. ———— 103
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Arno Seifert: Weltlicher Staat und Kirchenreform. (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte. 115.) Münster 1978, S. 98. – Bemerkenswerterweise enthielt die Antwort außerdem den Vorschlag, man solle statt eines Seminars mehr Stipendien an der Universität und zwar an der Artistischen (!), nicht etwa an der Theologischen Fakultät einrichten. Reckers, a.a.O. (wie Anm. 97), S. 46. Eduard Hegel: Organisationsformen der diözesanen Priesterausbildung in Deutschland. Grundlinien ihrer geschichtlichen Entwicklung. In: Die Kirche und ihre Ämter und Stände. Festschrift für Joseph Kardinal Frings. Köln 1960, S. 645 - 666, hier S. 646. Vgl. Marcus Brunner: Statuta Seminariorum Clericorum. (Münchener Theologische Studien, III. Kanonistische Abt. 60.) St. Ottilien 2005, S. 205-208. Wolf a.a.O. (wie Anm. 34), S. 231. S.o. Anm. 51 und 52.
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Der Einfluss der Institution Universität auf die Institution Priesterseminar war somit zunächst ständig gegeben. Schon das erste deutsche Priesterseminar, das in Eichstätt (s.o.), richtete seinen Lehrplan nach der Studienordnung der Universität Ingolstadt aus. Außerdem gab es Seminare, die teilweise Konviktcharakter hatten, also in denen die Priesteramtskandidaten gemeinsam lebten, aber nur einen Teil ihrer Ausbildung erhielten und zusätzlich Vorlesungen an der Universität besuchten. Indirekte Folge dieser Entwicklungen war, dass auch der Lehrbetrieb da, wo er ausschließlich oder zumindest überwiegend intern in den Seminaren erfolgte, weitgehend universitären Charakter hatte. Mit anderen Worten, die Grundform der Wissensvermittlung war die Vorlesung, und diese variierte in Niveau und Form in derselben Weise wie an den Universitäten, an denen die Seminarlehrer ja in den meisten Fällen ausgebildet worden waren. Dies bedeutete in der Praxis, der Wissensstoff wurde häufig den Alumnen zum Mitschreiben diktiert. Stärker noch als der Einfluss der Universität war freilich der Einfluss der Jesuitenkollegien auf die Seminare. Daher hat man früher sogar angenommen, die Kollegien der Gesellschaft Jesu, genauer das älteste in Rom, sei Vorbild für das Seminardekret von Trient gewesen. Dies stimmt nicht, wohl aber hat das Vorbild der Jesuitenkollegien dann Jahrzehnte lang auf die faktische Entwicklung der Priesterseminare mächtig eingewirkt. Außerdem wurde der Gesellschaft Jesu ein beträchtlicher Teil der neugeschaffenen Priesterseminare schon bei ihrer Gründung anvertraut. Dies galt u.a. besonders für Deutschland.109 Eine den von den Jesuiten geleiteten Priesterseminaren eigene Prägung bestand vor allem darin, dass die jesuitische Ratio studiorum den Lehrplan weitgehend bestimmte.110 Fast immer war bei diesen Seminaren auch das Vorbild des Collegium Germanicum et Hungaricum in Rom zu erkennen. Das galt zumeist auch für die den Tridentinischen Seminaren eigentlich fremde unmittelbare Anbindung an eine Universität. Im übrigen waren es gerade die jesuitischen Seminare, die Externe, nämlich katholische Laien, nicht selten zu den Lehrveranstaltungen zuließen.
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Tüchle, a.a.O. (wie Anm. 99), S. 25 - 26. – Auch in den Niederlanden war die Leitung eines Priesterseminars durch Jesuiten nicht unbekannt. In Lüttich war die vorübergehende Übernahme durch die Jesuiten (seit dem Ende des 17. Jahrhunderts) freilich nicht unproblematisch (Léon Halkin: Les origines du collège de jésuites et du Séminaire de Liège. In: Bulletin de l'Institut archéologique liègeois 51. 1926, S. 90-103). Das Priesterseminar wurde dann ähnlich wie ein Großkolleg nach der Kolleg-Einteilung des Diego Laínez behandelt.
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9. Priesterausbildung im Aufgeklärten Absolutismus: Seminar contra Universität Nach mehr als einjähriger Vorbereitung hat Kaiser Joseph II. 1783 im habsburgischen Herrschaftsbereich zwölf Generalseminare für die Priesterausbildung eingerichtet. Die vier „Großen Seminare“ befanden sich in Wien, Budapest, Leuven und Pavia, weitere acht wurden in Graz, Innsbruck, Freiburg i. Br., Luxemburg, Prag, Olmütz und Lemberg (hier zwei, eins für den lateinischen und eins für den griechischen Ritus) geschaffen. Sie sollten sowohl die bischöflichen Seminare ersetzen wie auch die Priesterausbildungsstätten innerhalb der Orden. An die weitgehende Autonomie innerhalb der Priesterausbildung war innerkirchlich für die exempten Orden bislang niemals ernsthaft gerührt worden. Den Diözesanbischöfen fehlte dafür die kanonische Rechtsgrundlage und die Kurie hatte sich in weitgehender Zurückhaltung geübt. Bemerkenswert war auch die schon unter Kaiserin Maria Theresia vorbereitete Unbekümmertheit, mit der Joseph II. die „Gleichschaltung“ der unierten Kirche betrieb und nun auch in der Priesterausbildung anwandte, in der bislang dort ganz andere Prinzipien gegolten hatten. Diese neuen Seminare wurden für alle Priesteramtskandidaten verpflichtend gemacht und hatten eine Regelstudienzeit von sechs Jahren.111 Anders als das Konzil von Trient wollte Joseph II. diese Seminare als Monopolstätten der Priesterausbildung. Ihm war anders als den Vätern jenes Konzils die Universität als korporative Institution zu wenig autoritär. Schließlich pflegte er die gewählten Dekane möglichst durch ernannte Direktoren zu ersetzen. Außerdem erschien ihm wahrscheinlich der universitäre Lehrbetrieb als nicht recht effizient, und er war auch im 18. Jahrhundert wirklich weniger gut als im 16. Jahrhundert. Im Grunde waren die Inhalte der josephinischen Priesterausbildung vermutlich nicht so antitraditionell, wie sie der so genannte Ultramontanismus des 19. Jahrhunderts sah (der auch nicht so einheitlich konservativ war, wie man ihn sich bis vor nicht allzu langer Zeit vorstellte). Abweichend von der kirchlichen Tradition war letztlich weniger der dogmatische und pastorale Inhalt im Einzelnen – in diesem Bereich sind wohl hauptsächlich echte didaktische Fortschritte zu verzeichnen – als vielmehr die betont aufklärerische Atmosphäre in den Seminaren. So demontierte die josephinische Seminarausbildung die dem ———— 111
Diese war gegenüber den sonst bis dahin üblichen „Normalzeiten“ erheblich heraufgesetzt. Selbst in der Gegenwart beträgt sie gesamtkirchlich nur vier Jahre (CIC, c. 235). Die in Deutschland üblichen sechs Jahre kommen durch die vier vorgeschalteten philosophischen Semester zu Stande.
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Priesterbild der Katholischen Reform und Gegenreformation entsprechende klerikale Lebensform.112 Die Errichtung des Generalseminars in Leuven durch Erlass vom 16. Oktober 1786 113 führte bei dessen Eröffnung am folgenden 1. Dezember zu den allerersten Unruhen, die die für ganz Europa folgenreiche Brabanter Revolution einleiteten, deren Ergebnisse nicht ohne Bedeutung für die Anfänge der Französischen Revolution waren. Aus den Protestaktionen in Leuven entwickelte sich der Aufstand im ganzen Herzogtum Brabant, der dann auch auf die anderen Provinzen der Österreichischen Niederlande übergriff und schließlich 1790 zur Proklamation der „Confédération des Etats Belges Unis“ führte. Dies allein belegt schon die Bedeutung der in den südlichen Niederlanden insgesamt vom Kaiser aufgehobenen, zuvor nach tridentinischem Vorbild errichteten bischöflichen Priesterseminare.114 Muster für die Generalseminare war das Priesterseminar von Brünn (Brńo) in Mähren gewesen, dass in der Forschung als stark jansenistisch geprägt gilt. Nun ist der Begriff „Jansenismus“ zumindest in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so außerordentlich komplex und vieldeutig gewesen, dass es wenig Sinn macht, aus dieser vermuteten Tatsache eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen. Allerdings war in den südlichen Niederlanden die Jansenismus-Frage für Seminare so virulent, dass zuvor in etlichen Bistümern die Ordinarien auf eine dominikanische Leitung in der Priesterausbildung zurückgriffen, um sie der erbitterten Kontroverse zwischen den ———— 112
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Zu diesem Priesterbild des Konzils mit direktem Bezug auch auf das Seminardekret Hubert Jedin: Le Concile de Trente a-t-il créé l'image-modèle du prêtre? In: Sacerdoce et Célibat. Ed. Joseph Coppens. (Bibliotheca ephemeridum theologicarum. 28.) Louvain 1971, S. 111-131, hier S. 124-126. Vgl. auch ders.: Das Leitbild des Priesters nach dem Tridentinum und dem Vaticanum II. In: Theologie und Glaube 60 (1970), S. 102-124, hier S. 114. – Zu den grundsätzlichen theologischen Grundlagen dieses Priesterbildes Josef Freitag: Sacramentum ordinis auf dem Konzil von Trient. (Innsbrucker theologische Studien. 32.) Innsbruck, Wien 1991. [Joseph Kropatschek (Hrsg.):] Handbuch aller unter der Regierung Kaiser Josephs des II. für die K. K. Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze in einer sistematischen Verbindung. 18 Bde. Wien 1785- 1790. Bd. X, S. 654. (Vgl. Paul Hamans: Geschiedenis van de katholieke kerk in Nederland. Brugge 1992, S. 382- 383.) Zwar durften die beiden Seminare von Antwerpen und Roermond weiterbestehen, aber ihnen war nur noch die Ausbildung ausländischer Priesteramtskandidaten (die in der Regel aus dem Gebiet der Generalstaaten stammten) erlaubt. – Von bischöflicher Seite war zunächst nur in der Diözese Namur vom dortigen Bischof Albert Ludwig van Lichterfelde wirklicher Widerstand geleistet worden. D.h., dieser hatte als einziger dem Beschluss der südniederländischen Bischöfe vom November 1786 nicht zugestimmt, die Alumnen trotz Bedenken zunächst einmal nach Leuven zu schicken. Schriftlich hatten zuvor auch Cornelius Franz de Nelis, der Bischof von Antwerpen, und (weniger deutlich) Philipp Damian van Hoensbroeck, der Bischof von Roermond, besonders aber der Erzbischof von Mechelen Kardinal Johann Heinrich von Franckenberg protestiert. Vgl. Paul Hamans: Geschiedenis van het eerste seminarie van het bisdom Roermond (1570 - 1813). Brugge 1986, S. 278 - 279.
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Jesuiten und den (oft jansenistischen) Säkularklerikern zu entziehen. Die Bischöfe haben im 17. und 18. Jahrhundert sowohl in den wallonischen wie in den niederländisch sprechenden Regionen nachweislich Probleme gehabt, die Verbreitung des „Jansenismus“ in ihren Diözesen richtig einzuschätzen. Außerdem hatte der „Jansenismus“ verstärkt in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts auch eine eminent politische Dimension. So hat Joseph II. den Eid der Brabanter Beamten auf die Blijde Inkomst, die faktische Landesverfassung, zusammen mit dem Eid auf die antijansenistische päpstliche Bulle Unigenitus Papst Clemens' XI. von 1713 aufgehoben.115 Nur in Belgien hatte übrigens die Einrichtung eines der neuen Generalseminare so große indirekte Folgen für die gesamte Staatsverwaltung. Innerkirchlich betrachtet stellte aber das schon zuvor in Pavia errichtete Seminar die Krönung antitridentinischer Priesterausbildungskonzeption dar. Noch bevor dieses zu einem eigentlichen Generalseminar des in allen österreichischen Ländern angeordneten Typs wurde, zeigte sich sein absolut antitridentinischer Zweck. Es wurde nämlich 1782, also ein Jahr vor dem ersten Generalseminar als deutsch-ungarisches Kolleg errichtet und sollte das römische Collegium Germanicum et Hungaricum ersetzen.116 Das Studium an jenem hatte Joseph II. ja auch bereits ausdrücklich 1781 wie schließlich jede im Ausland absolvierte Priesterausbildung für seine Untertanen verboten.117 Nicht im Sinne des Seminardekrets der Väter des Konzils von Trient war auch gewiss die besondere 1783 erlassene Vorschrift, die Seminaristen sollten – das Trienter Seminardekret hatte besonders die Armen im Auge gehabt – bei ihrem Eintritt „eine gewisse Summe Geldes [...] hinterlegen, um sowohl besondere Ausgaben als auch die Rückkehr in das Vaterland damit zu bestreiten“.118 Noch tiefgreifender an den josephinischen Änderungen der Priesterausbildung war die 1783 durchgesetzte Verordnung 119, die Ausbildung der Ordenspriester mit der der Weltpriester zu vereinigen. An der Eigenständigkeit der Ausbildung der Priester innerhalb der Orden hatte das Seminardekret von Trient in keiner Weise gerüttelt. In den folgenden zwei———— 115
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Heinz Finger: Der „fröhliche Einzug“ (Blijde Inkomst, Joyeuse Entrée) als Grundlage der Brabanter Verfassung. In: Landes- und Reichsgeschichte. Festschrift für Hansgeorg Molitor zum 65. Geburtstag. Bielefeld 2004, S. 23 - 40, hier S. 38. Kropatschek, a.a.O. (wie Anm. 113), Bd. 2, S. 24- 47. Dies geschah durch Erlass vom 12. November 1781. Kropatschek, a.a.O. (wie Anm. 113), Bd. 2, S. 25. – Harm Klueting: Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-josephinischen Reformen. (Freiherr vom SteinGedächtnisausgabe. XIIa.) Darmstadt 1995, S. 325- 326. Erlass vom 30. März 1783. Kropatschek, ebenda, S. 15-18.
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hundert Jahren war selbst eine einfache Einmischung in diesem Bereich unmöglich gewesen (s.o.). Bemerkenswert ist, dass gerade ein Ordensmann, der um Pastoraltheologie und Kirchengeschichte verdiente Benediktinerabt Franz Stephan Rautenstrauch (1734-1785) 120, durch seine Entwürfe 121 die Studienordnung der josephinischen Seminare prägte. Diese wurde 1782 in Kraft gesetzt und blieb im Wesentlichen bis 1857, also Jahrzehnte über die Frühe Neuzeit hinaus, in der Donaumonarchie gültig. Unter den vielen untridentinischen, ja sogar eindeutig antitridentinischen Aspekten der Studienordnung war der gravierendste der, dass den nach dem konziliaren Seminardekret letztlich alleinverantwortlichen Bischöfen jeder Einfluss auf die Priesterseminare genommen wurde. (Die faktisch einzige Verantwortung, die den Bischöfen teilweise belassen wurde, war die der Finanzierung mittelloser Alumnen.) Den absolut untridentinischen Charakter der josephinischen Seminare hat von den Zeitgenossen besonders Kardinal Franckenberg, der Erzbischof von Mechelen, nicht nur erkannt, sondern auch recht deutlich formuliert.122 Dieser Tatsache kommt nicht nur für die belgische Kirchengeschichte Bedeutung zu.123 Sicherlich stellten die josephinischen Generalseminare nicht den einzigen antitridentinischen Seminartyp in der Epoche der Aufklärung dar, aber sie waren der mit Abstand radikalste.124 Das Staatskirchentum der bourbonischen ———— 120
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Beda Franz Menzel: Abt Franz Stephan Rautenstrauch von Břevnov-Braunau. (Veröffentlichungen des Königsteiner Institut für Kirchen- und Geistesgeschichte der Sudetenländer. 5.) Königstein / Taunus 1969. Kernstück war der „Entwurf einer besseren Einrichtung der theologischen Schulen“ von 1774. – Josef Müller: Der pastoraltheologisch-didaktische Ansatz in Franz Stephan Rautenstrauchs „Entwurf einer besseren Einrichtung der theologischen Schulen“. Wien 1964. (Rautenstrauch wird sogar gelegentlich als „Vater der Pastoraltheologie“ bezeichnet. Dass seine ehrlichen Bemühungen durchaus religiös motiviert waren, lässt sich schwerlich bezweifeln. Unbestritten ist auch seine partielle Abhängigkeit von Johannes Opstraets 1689 in Mechelen erschienenem „jansenistischen“ Werk „Pastor bonus“.) Arthur Verhaegen: Le cardinal de Franckenberg archevêque de Malines, 1726 - 1804. Paris 1889, S. 155 -156. – Zu einem Brief an den Bischof von Roermond vom 16. Juni 1786, in dem er auch besonders auf den Widerspruch der josephinischen Seminarordnung zum Konzil von Trient hinweist, auch Hamans a.a.O. (wie Anm. 111), S. 279. Der im schlesischen Glogau geborene Graf Franckenberg, der lange die besondere Gunst des Hauses Habsburg erfahren hatte, war einer der bedeutendsten Kirchenfürsten in der österreichischen Gesamtmonarchie überhaupt. Seine Flucht vor drohender Verhaftung 1787 fand in ganz Europa Beachtung und verfehlte nicht ihren Eindruck auf die römische Kurie. Einen interessanten Sonderfall von freilich nur regionaler Bedeutung stellte die Theologenschule dar, die 1787 in der Stadt Geldern gegründet wurde und ausdrücklich für die Priesterausbildung im preußischen Anteil Gelderns (Diözese Roermond), im Herzogtum Kleve und in der Grafschaft Mark bestimmt war. Hier unternahm ein protestantischer Staat einen der ersten Versuche, die Ausbildung der katholischen Seelsorger seines Territoriums im Sinne von Staatskirchentum und Aufklärung in die
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Staaten hat in speziell diesem kirchlichen Bereich weniger massiv eingegriffen.125 Schließlich ist zu beachten, dass der Josephinismus die Priesterausbildung im Sinne des Konzils von Trient nicht nur dadurch veränderte, dass er die Priesterseminare völlig umfunktionierte, sondern er zerstörte auch vorübergehend die anderen Wege der Priesterausbildung, die das tridentinische Seminardekret ja keineswegs nur irrtümlich, sondern sicher ganz bewusst hatte bestehen lassen. Die ordensinterne Klerikerausbildung war abgeschafft, und die Universitäten, die ja übrigens gleichzeitig von kirchlichen Körperschaften in staatliche Anstalten umgewandelt wurden, standen der Priesterausbildung ferner denn je. Vom Josephinismus im engeren Sinne zu unterscheiden sind die Reformen, die der Bruder des Kaisers, Großherzog Leopold, in der Toskana durchführte.126 Sie waren im theologischen Sinne nicht weniger, sondern eher mehr radikal, aber der Großherzog war zumindest in seinen späteren Jahren konzilianter und in seinem Auftreten weniger schroff als sein kaiserlicher Bruder. Der führende Kopf bei den kirchlichen Reformen war Scipione de’ Ricci (1741-1810) 127, Neffe des letzten Jesuitengenerals vor der Ordensaufhebung 1773 Lorenzo Ricci. Scipione war seit 1775 Generalvikar des Erzbistums Florenz und seit 1780 Bischof der Diözese Pistoia-Prato. 1783 gründete er eine theologische Akademie, in der nicht zuletzt ein neues Priesterbild vermittelt wurde. Diese wurde auch durch die von Großherzog Leopold veranlasste und von Ricci 1786 einberufene Synode von Pistoia 128 gefördert. Einer der wichtigsten Teilnehmer, ja der eigentliche Promotor, war Pietro Tamburini 129, der von 1782 bis 1794 Studienpräfekt des oben genannten großen josephinischen Seminars im lombardischen Pavia war, das das römische Collegium Germanicum et Hungaricum ersetzen sollte. Auch in der Toskana sollte die ordensinterne Priesterausbildung nicht länger neben den staatlich überwachten Seminaren bestehen. ———— 125
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Hand zu bekommen. – Gregor Hövelmann: Die philosophisch-theologische Hochschule in Geldern und Emmerich. In: Kalender für den Kreis Kleve 1976, S. 45-58. In dem von den Bragança regierten Portugal kam es hingegen während der Zeit, in der der Marquês de Pombal die Staatsgeschäfte führte, zu extremen Eingriffen mit Folgen für die Priesterausbildung. Francesco Scaduto: Stato e chiesa sotto Leopoldo I di Toscana. Firenze 1885. – Adam Wandruszka: L'opera riformatrice di Pietro Leopolda. In: Rassegna Storica Toscana 11 (1965), S. 179- 191. Pietro Zovatto: Scipione de' Ricci. In: La Scuola Cattolica 115 (1987), S. 394 - 411. Atti e decissioni del concilio diocesano di Pistoia dell' anno 1786. Ed. Pietro Stella. Bd. 1-2. Firenze 1986. – Il sinodo di Pistoia del 1786. Ed. C. Lamioni. Roma 1992. (1794 verurteilte Papst Pius VI. 85 Sätze der Synode von Pistoia durch die Bulle Auctorem fidei.) Ettore Rota: Pietro Tamburini di Brescia, „teologo piacentino“ e la controversia giansenista a Piacenza. In: Bolletino della Società pavese di storia patria 12 (1912) S. 343-364. – Giovanni Mantese: Pietro Tamburini e il giansenismo bresciano. Milano 1942.
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Insgesamt entsprach die Kirchenpolitik Großherzog Leopolds auch in Bezug auf die Priesterausbildung in etwa der seines kaiserlichen Bruders. Theologisch war sie, wie gesagt, wohl sogar radikaler, aber sie wurde weniger rabiat vertreten. So konnte 1787 eine Synode in Florenz zusammentreten, die gegen Ricci und die Synode von Pistoia Stellung bezog.130 Nachdem Leopold 1790 seinem Bruder als Kaiser gefolgt war, hob er bezeichnenderweise die Generalseminare auf131, jedenfalls in der Gestalt, die sie in ihrer Ziel gerichteten Vollendung bekommen hatten. Das bedeutet natürlich nicht, dass diese Maßnahme zu einer wirklichen Wiederherstellung der Tridentinischen Seminare führte. Eine beschränkte Mäßigung, keine Abschaffung des Staatskirchentums stand auf dem Programm. Wie sehr die grundsätzliche antitridentinische Ausrichtung der Priesterseminare dennoch im Habsburgerreich (außer in den Österreichischen Niederlanden) erhalten blieb, lässt sich deutlich an einer Episode zeigen, nämlich an dem Versuch des Bistums Chur, in Tirol ein Seminar zu gründen. Die Diözese Chur, deren Kernraum im seit der Reformation zu zwei Dritteln reformierten Graubünden lag, hatte im 17. und 18. Jahrhundert vergebliche Versuche zu einer Seminargründung gemacht. Im Frühherbst 1800 begann man mit einem bescheidenen, aber sehr ernsthaften Versuch in Meran 132, das seit frühesten Zeiten zum Churer Sprengel gehörte. Regens wurde der gebürtige Tiroler und Priester der Diözese Chur Gottfried Purtscher (1767-1830). Sehr bald begannen große Schwierigkeiten mit der österreichischen Verwaltung, zu denen freilich auch Purtschers dreiste Bemerkungen über das Innsbrucker Seminar entscheidend beitrugen. Nachdem Innsbrucker Seminaristen aus dem Bistum Chur nach Meran übersiedeln sollten, erklärte der fest zu den tridentinischen Idealen stehende Purtscher, er wünsche, „dass die Zöglinge von den seichten und wohl gar verdorbenen Grundsätzen der Innsbrucker Moral-Theologie entfernet werden“.133 Das ließ sich die Tiroler Regierung (seit 1805 bayerisch und genau so staatskirchlich orientiert) so wenig bieten wie das nach wie vor von der Aufklärung ———— 130
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In diesem Jahr mäßigte Großherzog Leopold auch seine kirchenpolitischen, nicht aber antikurialistischen Maßnahmen im Zusammenhang mit Problemen zwischen der römischen Kurie und der toskanischen Regierung, die auf Grund „häretischer“ Nonnen eines Konventes in Prato aufgekommen waren. Hermann Zschokke: Die theologischen Studien und Anstalten der katholischen Kirche in Österreich. Wien, Leipzig 1894, S. 66. Albert Gasser: Vom Versuch in Meran zum Beginn in Chur 1807. In: Michael Durst und Albert Gasser: 200 Jahre Priesterseminar St. Luzi und Studium theologicum / Theologische Hochschule Chur 1807- 2007. Lindenberg 2007, S. 61- 66. Ebenda, S. 62.
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bestimmte Innsbrucker Seminar, das die Meraner Anstalt als „Winkelschule“ bezeichnete. 1807 wurden Regens und Alumnen sehr gewaltsam über die bündnerische Grenze gebracht.134 Für ein Tridentinisches Seminar war in Österreich und Bayern wie damals in den meisten katholischen Staaten Europas kein Platz. Es war als Institution am Ende der Frühen Neuzeit genau wie die traditionelle kirchliche Universität faktisch tot bis auf kümmerliche Reste (die zum Teil sogar nur auf Grund von Paritätsvereinbarungen in konfessionellen Mischgebieten überlebten). Es gab praktisch keinerlei universitäre Priesterausbildung mehr, sondern nur noch die in staatlich dominierten, innerlich von der Aufklärung beherrschten Seminaren.
Zusammenfassung und Ausblick ins 19. Jahrhundert Das Konzil von Trient hat das Priesterseminar wirklich beinahe wortwörtlich „erfunden“. Nicht nur Anlass, sondern auch wichtigster Grund war die Notlage, die akuter Priestermangel in der Seelsorge verursachte. Mit diesem Hauptgrund verbunden war die durch die Herausforderungen der Reformation besonders dringlich gewordene Absicht, die Ausbildung der Priester qualitativ, in der damaligen Situation besonders intellektuell zu verbessern. Natürlich hat die Institution Seminar dennoch eine Vorgeschichte gehabt, aber kaum unmittelbare Vorformen im Spätmittelalter. Eher noch hatten die Lektorenschule der ausgehenden Spätantike und die Kathedralschulen (ausschließlich in ihrer frühmittelalterlichen Form) – freilich nur bis zu einem gewissen Grade – Ähnlichkeit mit der durch das Seminardekret des Konzils am 15. Juli 1563 begründeten Institution. Das Tridentinische Seminar sollte kein Monopol für die Ausbildung der Weltgeistlichen begründen. Dies bedeutete aber nicht, dass man nicht eine für die Zukunft dauerhaft geplante Einrichtung schaffen wollte.135 Diese sollte ein Hauptweg der zukünftigen Ausbildung der Säkularkleriker sein, aber dem Konzil lag nicht daran, die bisherigen anderen Wege zu versperren. Absolut fern war den Vätern von Trient die Absicht, Priesteramtskandidaten von der Universität fernzuhalten. Im Gegenteil, die Universitäten, die ja bewährte ———— 134
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Albert Fischer: Das Priesterhaus in Meran 1801-1807. Ergebnis einer späten tridentinischen Umsetzung und intensiver Bemühungen des Churer Episkopats um eine diözesaneigene Bildungsstätte. (Schlern-Schriften. 350.) Innsbruck 2010, S. 106-107. Im Konzilsdekret war sogar ausdrücklich vom „ständigen Seminar für die Diener Gottes (Dei ministrorum perpetuum seminarium )“ die Rede. Conciliorum Decreta, a.a.O. (wie Anm. 21), S. 121 (Zeile 3633/34).
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Institutionen der Kirche waren, wurden von den Konzilsvätern nicht geringer eingeschätzt als die neuen Seminare. Allerdings erwartete man auch von ihnen eine Reform, nicht nur der Theologischen, sondern auch der Artistischen Fakultäten, da letztere für die Ausbildung der Mehrheit der Priester wichtiger waren. Dass die frühneuzeitlichen Universitäten keine für das Zeitalter der Katholischen Kirchenreform weniger guten Priester hervorbrachten als die Seminare, belegt z.B. für das Erzbistum Köln sehr eindrucksvoll Kaspar Ulenberg (1548-1617), der Student, Professor und Rektor der Kölner Universität war und nie ein Priesterseminar besucht hat.136 Nach der eindeutigen Konzeption des Konzils von Trient sollte die Seminarausbildung die enge Verbindung des Bischofs mit seinen Priestern fördern. Dies geschah auch in der Realität, aber nicht überall, vor allem dort nicht, wo (manchmal ungeweihte) Fürstbischöfe die Diözesen regierten oder die Bischöfe die Seminare einem Orden, vor allem der Gesellschaft Jesu, bzw. einer Priesterkongregation – so häufig in Frankreich – überließen. Einen ganz wichtigen Teil des Trienter Seminardekrets stellte für die Umsetzung in die kirchliche Praxis die Finanzierungsfrage dar. Ziel war, Personen aus der Schicht der Armen und völlig Mittellosen, die ja die Mehrheit in der Christenheit darstellte, den Weg zum Priestertum zu ermöglichen, indem die Kosten des Unterhalts der neugeschaffenen Institution von den Diözesen aufzubringen seien. Das Problem war, wie die Bistümer diese Mittel beschaffen sollten. In den auf das Konzil folgenden zwei Jahrhunderten wurde das Ziel nie aus den Augen verloren, das Problem aber nur äußerst unvollkommen gelöst. Die Finanzierungsschwierigkeiten und ihre unterschiedlichen (Teil-)Lösungen waren durchaus einer der Gründe für die Uneinheitlichkeit der Struktur der einzelnen Seminare. Die tatsächliche Gründung der Seminare, die es rein theoretisch in jeder Diözese geben sollte, erfolgte in sehr ungleicher räumlicher Verteilung. Man kann mit nur geringer Übertreibung sagen, in den Ländern, in denen ihre Existenz für die Kirche am notwendigsten war, entstanden die wenigsten Priesterseminare. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (also zu dem Zeitpunkt, als sich in weiten Teilen des katholischen Europa das Priesterseminar erst wirklich als Institution etablieren konnte und in Deutschland eine neue bischöfliche Gründungswelle noch andauerte) gerieten sowohl die Katholischen Universitäten wie das Tridentinische Seminar in eine Existenzkrise. Diese wurde weit ———— 136
Joseph Solzbacher: Kaspar Ulenberg. Eine Priestergestalt aus der Zeit der Gegenreformation. (Katholisches Leben und Kämpfen im Zeitalter der Glaubensspaltung. 8.) Münster 1948. – Heinz Finger: Der Seelsorger und Hochschullehrer Kaspar Ulenberg. In: Der Kolumbapfarrer Kaspar Ulenberg und die Geschichte der Kolumbapfarre. (Libelli Rhenani. 20.) Köln 2007, S. 8 -124.
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weniger durch unmittelbare intellektuelle Auswirkungen der Aufklärung verursacht, sondern durch die massive Einwirkung des Staatskirchentums. Sie bestand darin, dass die Universität als Einrichtung der Kirche wie als sich selbst verwaltende Korporation ihre Bedeutung verlor, intellektuell verflachte 137 und dass das Tridentinische Seminar in weiten Teilen Europas absolut konträr, ja kontradiktorisch zu seinen Ursprüngen von einer bischöflichen Ausbildungsstätte für Säkularkleriker zu einer staatlichen Institution für Priesterbeamte gewandelt wurde. Dabei hatte sich die Krise der Katholischen Universitäten schon im 17. Jahrhundert angekündigt. Im 18. Jahrhundert wurden sie einschließlich der Theologischen Fakultäten in vielen europäischen Ländern der staatlichen Indienstnahme unterworfen. Die Auswirkungen für die Kirche waren dieselben wie bei den Priesterseminaren.138 In der Frühen Neuzeit hat das Tridentinische Priesterseminar eine sehr große Rolle für die Ausbildung der Säkularkleriker gespielt. Diese war aber an Bedeutung nicht mit der noch größeren der Priesterseminare des 19. und 20. Jahrhunderts zu vergleichen. Der Bedeutungszuwachs lag zum großen Teil am Ausfall der Universitäten für die Priesterausbildung von dem in Deutschland freilich nicht die Rede sein konnte. Hier blieben die nun staatlichen Universitäten weitgehend zuständig.139 Das eigentlich neuzeitliche Seminar nach Aufklärung und Revolution war nicht in demselben Sinne tridentinisch wie das hier behandelte der Frühen Neuzeit. Dieses Seminar war auf tridentinischen Grundlagen aufgebaut, ging aber weit über das hinaus, was die Väter jenes Konzils anstrebten. Es war nämlich nicht einfach tridentinisch, sondern sogar „tridentinistisch“.140 Es war einem idealen Priesterbild verpflichtet, das auf das Konzil von Trient zurückging, aber die dort vorgegebenen Normen nicht einfach erfüllte, sondern deutlich übertraf. ———— 137
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Roy Porter: Die wissenschaftliche Revolution und die Universitäten. In: Geschichte der Universität in Europa. Hrsg. von Walter Rüegg. Bd. II. München 1996, S. 425 - 499, besonders S. 443 - 448. In Lateinamerika verloren die Seminare tridentinischer Prägung und die Theologischen Fakultäten der rund ein Dutzend unter der spanischen Herrschaft gegründeten Universitäten zu Beginn des 19. Jahrhunderts – soweit sie überhaupt überlebten – ebenfalls jede echte Funktion für eine sinnvolle Priesterausbildung. Vordergründig war dies eine Folge der Unabhängigkeitskriege, die eigentliche Ursache lag aber wohl letzlich in denselben geistesgeschichtlichen Entwicklungen wie in Europa. Norbert Trippen: Die katholisch-theologischen Fakultäten Deutschlands im 19. Jahrhundert zwischen staatlichem Anspruch und kirchlichem Mißtrauen. In: Der Kulturkampf in Italien und den deutschsprachigen Ländern. [Il „Kulturkampf “ in Italia e nei paesi di lingua tedesca, dt.] Hrsg. von Rudolf Lill und Francesco Traniello. (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient. 5.) Berlin 1993, S. 299 - 320. Den Begriff „Tridentinismus“ hat Guiseppe Alberigo bereits vor dreißig Jahren in die Forschung eingeführt. Ders.: Du Concile de Trente au Tridentinisme. In: Irénikon 54 (1981), S. 192-210.
Priesternachwuchs zwischen Überschuss und Mangel. Zur Auswahl von Priesteramtskandidaten in Deutschland um 1935 von Erwin Gatz †
Alle westlichen Industrieländer erleben seit Jahren dramatische Einbrüche bei der Zahl der Priesterweihen mit ihren Folgen für die Seelsorge. Angesichts dessen ist ein Rückblick auf die Geschichte des Priesternachwuchses in Deutschland interessant. Dieser war hier in den 30er Jahre des 20. Jahrhunderts so zahlreich, dass viele Diözesen eine Auswahl unter den Bewerbern treffen und damit faktisch einen Numerus clausus einführen mussten. Sie reaktivierten sogar manche seit langer Zeit nicht mehr besetzte und entbehrlich gewordene Seelsorgestellen für die überzähligen Neupriester. Andere beurlaubten sie zum Dienst in Bistümern, in denen es einen Mangel an Geistlichen gab.1 Dennoch mussten sie manche Bewerber abweisen, weil einfach keine Stellen für sie verfügbar waren. Über die Zahl der Theologiestudierenden an den deutschen Universitäten und Hochschulen, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fast ausschließlich den Priesterberuf anstrebten, wie auch der Priesterweihen sind wir seit dem 19. Jahrhundert gut informiert.2 Daraus ergibt sich: Nach dem tiefen Einschnitt der Säkularisation, die mit der Aufhebung der katholischen Universitäten auch die Priesterausbildung getroffen hatte, war die Zahl der Priester seit der Neuordnung der Diözesen und der Hochschulen wieder konsolidiert. Von Priestermangel konnte jedenfalls keine Rede sein, zumal nach der Aufhebung der Klöster viele ehemalige Ordensgeistliche für die Pfarrseelsorge zur Verfügung standen. Die Zahl der Priesterweihen blieb bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts stabil, doch zeigen sich innerhalb dieses Zeitraumes durchaus Höhen und Tiefen. Sie waren durch die jeweilige Großwetterlage, näher hin durch politische und mehr noch durch innerkirchliche Rahmenbedingungen bedingt, die oft eng miteinander verzahnt waren. Der
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Im Jahr 1933 waren z.B. 35 und im Jahr 1935: 43 Kölner Diözesanpriester zum Dienst in anderen Bistümer freigestellt. – Freundliche Mitteilung von Dr. Joachim Oepen, Köln. Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. I: Hochschulen, 1. Teil: H. Tritze, Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820-1944 (Göttingen 1987). – Weihestatistiken bis 1993 in: E. Gatz (Hg.), Priesterausbildungsstätten der deutschsprachigen Länder zwischen Aufklärung und Zweitem Vatikanischen Konzil. Mit Weihestatistiken der deutschsprachigen Diözesen (Freiburg u.a. 1994) 241279.
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erste Einbruch zeigte sich um 1840 nach der kirchlichen Maßregelung des unter den Studierenden hoch angesehenen, ja verehrten Bonner Dogmatikers Georg Hermes (1835) und dem Kölner Kirchenstreit mit der Verhaftung des Erzbischofs Clemens August von Droste zu Vischering (1837). Daraufhin ging die Zahl der Studierenden und der Weihen nicht nur im Erzbistum Köln, sondern in ganz Preußen spürbar zurück.3 Nach der Wiederbesetzung des erzbischöflichen Stuhles mit Johannes von Geissel (1845) stieg sie dann aber wieder an. Das hing auch damit zusammen, dass die Bistümer nunmehr auf Drängen der römischen Kurie die ländlichen Bildungsreserven durch die Schaffung von Knabenkonvikten bzw. -seminaren erschlossen. Nach dem Ende der staatlichen Kirchenhoheit in Preußen (1840) und seit den Freiheitsgarantien der preußischen Verfassung (1848/50) erlebte die Kirche dann einen allgemeinen Aufbruch. Das betraf auch den Priesternachwuchs.4 Ungleich gravierender war der Einbruch nach dem Ersten Vatikanischen Konzil mit den Auseinandersetzungen um das Unfehlbarkeitsdogma und dem Kulturkampf, der in Preußen zum weitgehenden Zusammenbruch der Priesterausbildung führte. Die Stimmung war dem Priesternachwuchs damals abträglich und viele Kandidaten wanderten in andere deutsche Bundesländer, vor allem nach Bayern, oder ins Ausland ab. Die Krise war aber keineswegs auf Preußen mit seinen harten Kulturkampfgesetzen beschränkt, sondern auch in Süddeutschland und in Österreich fiel die Zahl der Weihen stark ab. Das änderte sich erst wieder nach der Beilegung des Kulturkampfes und der Änderung der erstarrten Großwetterlage unter Papst Leo XIII., der der Kirche den Weg zum sozialen Engagement und damit zu neuen Aufgaben wies. Die Zahl der Weihen stieg seitdem so an, dass auch die Hochindustrialisierung mit dem rapiden Anwachsen der Großstädte und der Entstehung neuer Agglomerationen keine Probleme für den Ausbau neuer Gemeinden und für ihre Besetzung mit Seelsorgern auslöste. Im Erzbistum Köln wurden z.B. im Jahrzehnt von 1905 bis 1914 bei einer Katholikenzahl von über 3 Millionen im Jahresdurchschnitt 82,2 Priester geweiht. Während des Ersten Weltkrieges, in dem 110 Kölner Theologen fielen und 12 vermisst wurden, aus dem aber auch 367 zurückkehrten, fiel die Zahl der Weihen natürlich zurück. Sie lag von 1915 bis 1919 immerhin noch bei einem Mittel von 37,2 pro Jahr. Die eigentliche Überraschung erfolgte nach dem Krieg, als die Mehrzahl der Theologen trotz des demoralisierenden Kriegs-
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Diese Schwankungen sind in zwei Diagrammen bei E. Gatz (Anm. 2) 248f. dargestellt. Zur Gesamtentwicklung vgl. E. Gatz (Hg.), Der Diözesanklerus (Freiburg u.a. 1995).
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erlebnisses das Studium mit dem Ziel des Priesterberufes wieder aufnahm. Ihre Zahl war so groß, dass einige Jahre lang nicht alle Bewerber in den Bonner Theologenkonvikten untergebracht werden konnten. Von 1921 bis 1924 wurden in Köln 504, d.h. im Jahresdurchschnitt 126 Priester für das Erzbistum geweiht. Seitdem ging die Zahl aber wieder zurück. Während 1914: 164 Theologen ihr Studium begonnen hatten, waren es 1924 nur 100. Dies empfand man in Köln als so bedenklich, dass nun eine Werbung für den Priesterberuf einsetzte, wie es sie vorher so nicht gegeben hatte, da es ohnehin genug Bewerber gab. Eine Voraussetzung dafür bildete jene Erklärung Papst Pius’ X. aus dem Jahr 1912, wonach die Prüfung durch den zuständigen Bischof das entscheidende Kriterium für die Feststellung eines Priesterberufes sei. Noch bevor die Berufswerbung richtig zum Tragen kam, setzte jedoch in den nordwestdeutschen Bistümern ein erneuter, in dieser Dimension unerwarteter Andrang zum Priesterberuf ein. 1935 notierte der damalige Kölner Regens Hermann Joseph Hecker in der Seminarchronik5: „Seit 2-3 Jahren wird es immer schwieriger, für die neugeweihten Priester eine Anstellung in der Seelsorge zu finden, weil die finanzielle Leistungsfähigkeit der Kirchengemeinden sehr gesunken ist.6 Manche erhalten eine Stelle ohne einen eigenen Haushalt und wohnen im Pfarrhaus oder in einer klösterlichen Anstalt7; andere werden in fremden Bistümern untergebracht; nicht wenige erhalten nur vorübergehende Beschäftigung von kürzerer oder längerer Dauer. Wegen der Schwierigkeit der Anstellung wird seit Ostern 1934 die Zahl bei der Annahme von Theologiestudierenden durch das Erzbischöfliche Generalvikariat erheblich eingeschränkt.“ Dieses Problem betraf nicht nur das Erzbistum Köln, sondern weite Teile Deutschlands, vor allem den Nordwesten. Daher debattierte die Konferenz der Direktoren deutscher Theologenkonvikte auf ihrer Tagung vom 1. bis 3. Oktober 1935 in Paderborn über die Kriterien für die Auswahl der Kandidaten. An dem Treffen nahmen Direktor Prof. Joseph Serres (Collegium Albertinum, Bonn), Ordinariatsrat Emanuel Tinschert (Breslau), Direktor Dr. Max ten Hompel (Collegium Leoninum, Paderborn), Direktor Dr. Ernst Reckers (Collegium Leoninum, Bonn), Direktor Dr. Franz Schmäing (Collegium Borromäum, Münster), Direktor Wilhelm Sedlmeier (Wilhelmsstift Tübingen) und Regens Dr. Paul Arendt (Braunsberg) teil.
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Zit. von N. Trippen, Das Kölner Priesterseminar im 19. und 20. Jahrhundert (Siegburg 1988) 164. Bis zur Einführung der Diözesankirchensteuer 1950 wurden die Pfarrseelsorger durch die Kirchengemeinden besoldet. Im Erzbistum Köln führten die Priester dagegen im Allgemeinen gleich seit ihrer ersten Anstellung einen eigenen Haushalt.
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Das Protokoll hat sich im Historischen Archiv des Erzbistums Köln unter der Signatur CR 8 B 23 erhalten. Danach referierte am 2. Oktober Dr. Schmäing. Er führte aus: „Im Jahre 1931 scheint zuerst in Paderborn ein Bedenken aufgestiegen zu sein, ob der immer zahlreicher werdende Nachwuchs in der eigenen Diözese restlich untergebracht werden könnte. Herr Direktor ten Hompel versuchte damals, einen Teil seiner Theologen in anderen Diözesen unterzubringen. Es gelang ihm das in den Diözesen Breslau, Osnabrück und Meissen, alle anderen deutschen Diözesen mussten bereits ablehnen, weil sie genügend Nachwuchs hatten. Ein ähnlicher Versuch, der im folgenden Jahr von Münster aus gemacht wurde, wurde überall abgewiesen. In den Jahren 1932-1934 stieg die Zahl der Kandidaten in allen Diözesen sehr stark an. Neun Bistümer, Augsburg, Freiburg, Mainz, Köln, München-Freising, Münster, Paderborn, Rottenburg und Trier hatten Überangebote bis zu 250 % der Durchschnittszahl, die übrigen, von denen Auskunft eingegangen ist, nämlich Bamberg, Breslau, Eichstätt, Ermland, Hildesheim, Osnabrück und Würzburg, hatten zwar eine größere Zahl von Anmeldungen, aber keinen Überschuss an Kandidaten. (Fulda und Speyer haben nicht geantwortet). In der Erwartung, dass der Zugang im folgenden Jahre wieder nachlassen würde, suchte man sich zunächst so zu helfen, dass man einen strengeren Maßstab bei der Auswahl anlegte und die überschüssige Zahl der Tauglichen auf das nächste Jahr zurückstellte. Inzwischen wandte sich der Bonifatiusverein an Österreich, erhielt auch in einigen Diözesen die Zusicherung, dass reichsdeutsche Theologen angenommen werden könnten. Ein Theologe, der daraufhin von Münster nach Salzburg ging und fest angenommen wurde, ist vor einigen Wochen nach Deutschland zurückgeschickt [worden] mit der Begründung, reichsdeutsche Neupriester seien wegen der politischen Verhältnisse in Österreich z. Zt. nicht tragbar.8 Zur selben Zeit (1932) streckte ein Studienrat Bers aus Siegburg die Fühler nach Frankreich aus, indem er einen ausführlichen Artikel über den Theologenmangel in Frankreich und den Überfluss in Deutschland veröffentlichte und ihn 90 französischen Bischöfen mit der Bitte um Äußerung zusandte. Sechs davon antworteten ablehnend, weil sie keinen Mangel hätten. Die übrigen 84 antworteten nicht. Sie hatten Mangel, wollten aber keine deutschen Theologen.“
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Dies bezog sich auf die in Österreich im Gegensatz zu Deutschland eingeführte Katholische Aktion mit dem Abschied vom traditionellen Vereinskatholizismus, um dessen Erhalt die deutschen Katholiken noch rangen, ferner um die seit 1933 eingeführte Diktatur des Ständestaates. – Frdl. Mitteilung von Prof. Dr. Maximilian Liebmann, Graz.
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Als sich 1932 in Münster 150 Bewerber meldeten, wurde nur die Hälfte angenommen, ein Teil der Übrigen nach Südamerika, ein anderer in die Nordischen Missionen vermittelt.9 Die Bistümer, aber auch einzelne Persönlichkeiten versuchten jedenfalls, allen qualifizierten Interessenten den Weg zum Priestertum zu ermöglichen. Schmäing berichtete dazu: „1. Herr Prof. Schmidlin beabsichtigte, ein Weltpriester-Missionsinstitut zu gründen, konnte aber damit nicht durchdringen.10 Der Plan scheiterte an prinzipiellen und persönlichen Schwierigkeiten. 2. Herr Rektor Zimmermann vom Hilfswerk für Spätberufene in Driburg richtete 1933 im Ständehaus zu Paderborn ein Konvikt ein, das zunächst für seine Leute aus Driburg bestimmt war, 1934 aber auch andere Kandidaten aufnahm.11 Die aufgenommenen Theologen sollten vor allem der Seelsorge von Auslandsdeutschen zugeführt werden.12 Der Bestand des Konviktes an Theologen betrug 1933: 7, 1934: 30 und 1935: 43. Fünf davon fahren diesen Herbst zum weiteren Studium nach Kanada, die übrigen sollen größtenteils nach Chile und Argentinien, wenige nach Basel. Die Verbindung mit den ausländischen Bischöfen wird durch den Vorstand des Konviktes (Präses Schnepper) hergestellt und hat bisher wenig Schwierigkeiten gezeigt. 3. In Münster wurde Herr Rektor Tertilt vom Missionskloster der Schwestern vom Guten Hirten gebeten, sich der in Münster abgewiesenen, aber geeigneten Theologen anzunehmen. Dieselben erhielten 1933 von ihm zweimal wöchentlich asketische Vorträge; eine notwendige theologische Erziehung aber war wegen Fehlens eines geeigneten Hauses noch nicht möglich. Zu Ostern 1935 wurde ein Konvikt im Jünglingsheim errichtet. Die Zahl der aufgenommenen Kandidaten ist 22, davon 12 aus dem Jahrgang 1933, 6 von 1934 und 4 von 1935. Für alle Kandidaten ist bereits ein Bischof gefunden, der sie übernehmen will. Einige gehen nach
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E. Gatz (Anm. 2) 161. Joseph Schmidlin (1879 - 1944) war Begründer der katholischen Missionswissenschaft und seit 1914 o. Professor dieser Disziplin an der Theologischen Fakultät Münster. 1934 wurde er vom NS-Regime zwangspensioniert. Seit 1935 befand er sich in einem gespannten Verhältnis zu Bischöfe und Missionsoberen. – J. Dörmann, Schmidlin, in: BBKL 9 (1995) 436 - 443. 1922 hatte Bernhard Zimmermann in Belecke (Krs. Arnsberg) erstmals in Deutschland den Anfang zur systematischen Förderung spätberufener Weltpriester gemacht. 1928 verlegte er seine Gründung nach Bad Driburg, wo er Neubauten für das Studienheim St. Klemens und das damit verbundene Privatgymnasium schuf. – E. Gatz, Diözesanklerus (Anm. 4) 161f. Nach dem Weltkrieg und dem Verlust großer Gebiete mit deutschsprachiger Bevölkerung fand die Seelsorge an den Auslandsdeutschen neue Aufmerksamkeit. – E. Gatz (Hg.), Kirche und Muttersprache (Freiburg u.a. 1992) 89-103.
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Dänemark, die meisten nach Brasilien. Alle erhalten neben dem Theologiestudium Unterricht in der betreffenden Landessprache. 4. Hier soll auch der ,Gemeinschaft von den hl. Engeln‘ gedacht werden, obwohl es sich dabei nicht um Weltpriester, sondern um eine Kongregation mit einfachen Gelübden handelt.13 Bischof Geyer (früher Missionsbischof im Sudan) gründete dieselbe schon 1926 in Godesberg. Der Zweck der Kongregation ist die seelsorgliche Betreuung der Auslandsdeutschen. Die aufgenommenen Theologen studierten in Bonn. Seit 1934 ist der Sitz der Kongregation nach Banz bei Bamberg verlegt worden und die Alumnen studieren in Bamberg. Die Gemeinschaft zählt z.Zt. 50 Theologen. Eine Untersuchung über die Zahl des Klerus im Ausland und den Bedarf an deutschen Theologen und Geistlichen ergibt folgendes Bild14: 1. Europa: Österreich und Frankreich nimmt wegen der politischen Verhältnisse keine Deutschen an, obwohl Mangel an Klerus besteht. Dasselbe gilt bisher noch für Polen. England hat selbst Überfluss an Klerus. In Schottland könnten vielleicht einige Wenige Unterkunft finden. Die Tschechoslowakei hat viel Bedarf an Geistlichen, verlangt aber für alle das Indigenat. Für Auslandsdeutsche wäre eine besondere Seelsorge in ganz Südosteuropa dringend notwendig, wird aber bis jetzt kaum irgendwo von den Regierungen gestattet. Man hofft, mit Hilfe einer Einwirkung des Hl. Stuhles eine allmähliche Besserung und ein Nachlassen des Widerstandes zu erreichen. 2. Amerika: Für die Auslandsdeutschen braucht Kanada etwa 25 deutsche Geistliche. Die Übernahme derselben bietet keine Schwierigkeit. USA hat Überfluss an Priestern, auch der Bedarf für die Auslandsdeutschen geht zurück, weil viele deutsche Gemeinden eingegangen sind. Die Bischöfe von Argentinien sind bereit, 30-40 deutsche Theologen (zum Teil für die Auslandsdeutschen) unterzubringen. Brasilien steht mit den oben erwähnten Instituten von Münster und Paderborn in Verbindung und kann damit seinen Bedarf, soweit Auslandsdeutsche in Frage kommen, decken. Doch hat es großen Mangel an einheimischen Priestern. Dasselbe gilt für Chile, Ekuador, Bolivien, Honduras, Paraguay und Uruguay.“
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Zu Bischof Xaver Geyer (1879-1943) und seiner Gründung: E. Gatz (Hg.), Kirche und Muttersprache (Anm. 12) 101f. Über die damalige Situation der deutschsprachigen Seelsorge in den einzelnen Ländern berichtet B. Kleinschmidt, Auslandsdeutschtum und Kirche, 2 Bde. (Münster 1930).
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Schmäing bezweifelte, dass der damalige Andrang sich fortsetzte, da die kleineren Geburtsjahrgänge aus der Zeit des Weltkrieges bald zum Abitur kämen. Auch rechnete er mit dem Ende der Freistellung der Priesteramtskandidaten vom Arbeits- und Militärdienst. Dann könnten alle geeigneten Bewerber und auch die vorläufig Zurückgestellten doch noch angenommen werden. In der sich anschließenden Aussprache kamen die nur wenig voneinander abweichenden Kriterien und Modalitäten bei der Annahme in den einzelnen Bistümern zur Sprache. Als gewichtig wurden das Urteil der Religionslehrer, als unzuverlässig dagegen das der Heimatpfarrer eingeschätzt. Hier stellt sich nun die Frage nach den Gründen für diesen ungewöhnlichen Andrang zum Priesterberuf. Schmäing hatte in seinem Referat bemerkt, dass die Priesteramtskandidaten damals großenteils aus den Reihen von Neudeutschland und den Marianischen Kongregationen hervorgingen. Dieser Zustrom ist aber auch im Zusammenhang der Entwicklung des deutschen Katholizismus während der Weimarer Republik zu sehen, die ihn aus der früheren Marginalisierung herausführte und in die Regierungsverantwortung einbezog. Zugleich fielen mit der grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche durch die Weimarer Reichsverfassung bei weiter bestehender freundschaftlicher Zusammenarbeit alle noch bestehenden gesetzlichen Einschränkungen für das kirchliche Leben.15 Innerhalb dieser Vorgaben kam es in Deutschland zu zwei für den Priesternachwuchs wichtigen Aufbrüchen. Das war einerseits die Jugendbewegung, die viele katholische Jugendliche – allerdings mit deutlichen regionalen Unterschieden – erfasste 16, und die Liturgische Bewegung.17 Die ersten, noch bescheidenen Anfänge der katholischen Jugendbewegung gingen in die Zeit vor dem Weltkrieg zurück. Sie unterschied sich deutlich von den seit dem 19. Jahrhundert bestehenden Jugendvereinen und Kongregationen, die eng an die Pfarreien angebunden waren und von Priestern geleitet wurden. Von den Bünden der katholischen Jugend schuf sich Quickborn 1919 auf Burg Rothenfels sein Zentrum. Das Leben der örtlichen Gruppen bestand aus Gesang, Erzählung und Lesung, Diskussion und Gebet, ferner aus Wanderungen, Sport und Laienspiel. Seit 1920 wurde Romano Guardini die prägende Figur für den Quickborn. Im Gegensatz zu dem elitären Quickborn erfassten die katholischen Jugend- und Jungmännervereine ihre Mitglieder vornehmlich aus handwerklichen Berufen (1929: 387.000 Mitglie-
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Dazu zuletzt: F. Raabe, Die Katholische Kirche und ihre Verbände in der Zeit der Weimarer Republik, in: E. Gatz (Hg.), Laien in der Kirche (Freiburg u.a. 2008) 193-220. Dazu: E. Gatz, Priester und Jugendbewegungen, in: RQ 104 (2009) 286-296. Dazu: Th. Maas-Ewerd, Liturgie und Pfarrei (Paderborn 1969).
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dern). Der Bund Neudeutschland wandte sich dagegen an Gymnasiasten und warb für „eine neue Lebensgestaltung in Christus“. An der Spitze aller Jugendbünde standen zwar Laien. Sie wurden jedoch von Geistlichen begleitet. Die Bünde waren ein städtisches Phänomen, rekrutierten sich aus der Mittelschicht und vermittelten ihren Mitgliedern eine starke religiöse Prägung. So gingen denn allein aus dem Bund Neudeutschland bis 1934 250 Priester und 750 Theologiestudierende hervor.18 Der Priesternachwuchs kam also, jedenfalls in Nordwestdeutschland, vornehmlich aus den Städten. Die Jugendbewegung erhielt zusätzliche Bedeutung, indem sie sich mit der Liturgischen Bewegung verband, sich an deren Spitze setzte und ihr zu großer Breitenwirkung in die Gemeinden hinein verhalf. Die Auswirkungen der Jugend- und der Liturgischen Bewegung auf den Priesternachwuchs waren jedenfalls außerordentlich. Doch Schmäing hatte in seinem Referat bereits die Befürchtung geäußert, dass die Jugendbünde durch das NSRegime aufgelöst werden könnten, denn das Reichskonkordat konnte sie letztlich nicht davor schützen. Die Jugendseelsorge und -arbeit wurde zudem durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (1935) und die vom NS-Regime veranlassten Massenwanderungen wie z.B. durch den Reichsarbeitsdienst betroffen. Auf die Zahl der Theologiestudierenden wirkte sich das allerdings bis zum Sommersemester 1939 noch nicht aus, denn die Jugendbewegung wirkte nach.19 Nach Kriegsausbruch wurden viele Seminaristen vorzeitig geweiht – in Köln gab es daher 1939: 114 Weihen – bevor sie zur Wehrmacht eingezogen wurden. Nach den ersten großen militärischen Siegen konnten die Studierenden 1940 sogar vorübergehend ihr Studium fortsetzen, doch seit dem Beginn des Russlandfeldzuges 1941 wurden sie nahezu vollständig in die kämpfende Truppe eingegliedert. 1941 wurden in Köln 34 Priester geweiht. Danach sank die Zahl der Weihen bis zum Kriegsende drastisch ab (1942-1945: 18, d.h. 4,5 pro Jahr). Im Rückblick erweist sich die katholische Jugendbewegung als ein ausgesprochen fruchtbares Phänomen der Zwischenkriegszeit, die in Verbindung mit der Liturgischen Bewegung atmosphärisch weit über die Erdrosselung der Jugendverbände durch das NS-Regime nachwirkte. Ihre Bedeutung für die kirchliche Großwetterlage und damit auch für den Priesternachwuchs war offenkundig. Alle Rekrutierungskrisen des hier untersuchten Zeitraumes resultierten ebenfalls aus der jeweiligen kirchlichen Großwetterlage nach der Maßregelung des Bonner Dogmatikers Georg Hermes und den Auseinan-
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F. Henrich, Die Bünde katholischer Jugendbewegung (München 1968) 211. E. Gatz, in: W. Evertz (Hg.), Im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche. 100 Jahre Priesterausbildung im Collegium Albertinum (Siegburg 1992) 326.
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dersetzungen um das Unfehlbarkeitsdogma. Sie wurden überwunden durch neue Ansätze der kirchlichen Arbeit nach dem Fortfall der staatlichen Kirchenhoheit und nach der Erstarrung während des Kulturkampfes durch die Option für den Sozialen Katholizismus. Die gleiche Beobachtung lässt sich auch in der jüngeren Vergangenheit seit dem Verfall der katholischen Lebenswelt mit ihrem klaren Normenbestand beobachten, wie er seit etwa 1960 einsetzte. Der 1939 geborene Aachener Priester Karl Kerschgens schilderte diese folgendermaßen20: „Im christkatholischen Glauben und Wertesystem des rheinischen Katholizismus in einer Bergarbeitergemeinde im Landkreis Aachen bin ich aufgewachsen. Die Kirche war in dieser Gemeinde der geistige und gesellschaftliche Mittelpunkt. Ein Pfarrer – später zum Dechanten ernannt – und zwei Kapläne entfalteten einige Aktivitäten und beherrschten das Dorfgeschehen. Das Votum des Pfarrers, mich nach der Volksschule aufs Gymnasium zu schicken, räumte bei meinen Eltern das letzte Zögern weg. Als Ministrant und später Lektor, volksnah auch Vorbeter genannt, war ich in das liturgische Geschehen voll integriert. Auch auf dem neusprachlichen Gymnasium waren das Schulgebet in gemischtkonfessionellen Klassen und der wöchentliche Schulgottesdienst selbstverständlich. Über die Religionsstudienräte wurde nicht nur Glaubenslehre, sondern auch Philosophie als integraler Bestandteil des Religionsunterrichts einschließlich der Lebensphilosophie vermittelt. Die Naturwissenschaften waren dagegen völlig unterentwickelt. Der Religionsunterricht und somit die Theologie waren für mich fast die einzige intellektuelle Herausforderung, und das Priesteramt schien mir die höchste persönliche Herausforderung zu sein. Dazu kam das hohe Ansehen der Kirche und ihrer Ämter, die sie verleihen konnte.“ Diese katholische Lebenswelt hatte sich nach den Einbrüchen während der NS-Zeit in der Nachkriegszeit noch einmal erholt, verblasste dann aber allmählich. Dass dies für den Priesternachwuchs Folgen haben musste, liegt auf der Hand. Die heute so sehr im Mittelpunkt stehende Debatte über die Zölibatsverpflichtung spielte übrigens bis in die Nachkriegszeit keine zentrale Rolle.
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K. Kerschgens, in: G. Denzler (Hg.), Lebensberichte verheirateter Priester. Autobiographische Zeugnisse zum Konflikt zwischen Ehe und Zölibat (München-Zürich 1989), 162f.
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Eine kurze Geschichte der Ausbildung katholischer Theologen in Deutschland von Eric W. Steinhauer
1. Einleitung Norbert Trippen hat sich in seinem wissenschaftlichen Werk immer wieder mit der Geschichte der Priesterausbildung beschäftigt.1 Auch seine Bonner Habilitationsschrift, die dem Konflikt von Theologie und Lehramt im Modernismus gewidmet ist, berührt Fragen der akademisch veranstalteten Theologie.2 Theologen und ihre wissenschaftliche Ausbildung sind ein faszinierendes Thema, denn in der Formierung künftiger Funktionseliten, um es einmal soziologisch zu formulieren, werden gesellschaftliche und innerkirchliche Konflikte besonders markant sichtbar. Dies wird auch der nachfolgende kurze Überblick zur Geschichte der Theologenausbildung in Deutschland zeigen. Er ist als Vergewisserung in einer sich anbahnenden neuen Umbruchsphase zu verstehen, die mit den Stichworten Berufungskrise und Religionspluralität eine kirchliche Konzentrationsbewegung einerseits und eine Etablierung neuer Ausbildungsstrukturen vor allem für islamische Theologie andererseits umschreibt. Betrachtet man die theologischen Ausbildungsstätten in Deutschland, so fällt eine bunte organisatorische Vielfalt kirchlicher und staatlicher Ausbildungseinrichtungen auf.3 Bei den Priesterseminaren zeigt sich zudem, dass ———— 1
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Vgl. etwa Trippen (Hrsg.), Das Kölner Priesterseminar im 19. und 20. Jahrhundert, Siegburg 1988 (mit mehreren Beiträgen aus der Feder des Jubilars); ders, Zur Geschichte des Kollegium Albertinum in Bonn 1885-1903, in: Evertz (Hrsg.), Im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche – 100 Jahre Priesterausbildung am Collegium Albertinum, Siegburg 1992, S. 109 -169 (= Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 176 [1974], S. 172- 227); ders., Umbrüche in den Priesterseminaren während der Jahre 1965-1980, in: Kock-Blunk (Hrsg.), Geist und Humor. Festschrift für Raimund Blanke, Köln 2007, S. 123-127 (= PastBl. 60 [2007], S. 186-188). Vgl. Trippen, Theologie und Lehramt im Konflikt : die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus im Jahre 1907 und ihre Auswirkungen in Deutschland, Freiburg 1977. Siehe zu diesem Themenkomplex auch Trippen, Die katholisch-theologischen Fakultäten Deutschlands im 19. Jahrhundert zwischen staatlichem Anspruch und kirchlichem Mißtrauen, in: Lill, Traniello (Hrsg.), Der Kulturkampf in den deutschsprachigen Ländern, Berlin 1993, S. 299- 320; ders., Wahrheit und Historie. Kirchliches Lehramt und Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Altermatt, Hürten, Lobkowicz (Hrsg.), Moderne als Problem des Katholizismus, Regensburg 1995, S. 204- 221. Vgl. die Übersichten bei Nobel, Die wissenschaftliche Ausbildung der Priesterkandidaten in der lateinischen Kirche, Hamburg 2008, S. 377- 407; Steinhauer, Die Lehrfreiheit katholischer Theologen an den staatlichen Hochschulen in Deutschland, Münster 2006, S. 10-14 sowie bei Congregatio de Institutione Catholica (Hrsg.), Index – universitates et alia instituta studiorum superiorum ecclesiae
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die Klerikerausbildung auch ein innerkirchliches Politikum sein kann. Gerade konservative Gruppierungen in der Kirche streben oft eigene Ausbildungseinrichtungen an. Damit einher geht eine kritische Distanz zu einer als zu liberal empfundenen katholischen Hochschultheologie. Sowohl die organisatorische Vielfalt der kirchlichen Ausbildungsstätten als auch die Reserviertheit konservativerer Kreise gegen staatliche Fakultäten haben historische Gründe. Sie stehen in engem Zusammenhang zur Geschichte der Priesterausbildung in Deutschland, die vor allem im 19. Jahrhundert Anlass zu kirchenpolitischen Kämpfen geboten hat und für das Staat-Kirche-Verhältnis sowie für die Stellung und Funktion der staatlichen Fakultäten bis heute bedeutsam ist.4 Auch die Ausbildung der Religionslehrer an den staatlichen Universitäten und theologischen Fakultäten ist historisch gewachsen. Die zunehmende Professionalisierung der Lehrerausbildung bedeutete für die Kirche in Deutschland eine große Zahl akademisch ausgebildeter Theologen, die keine Kleriker sind. Das ist eine recht neue Situation. Beim Abschluss der heute noch geltenden großen Konkordate der Weimarer Republik, die mit Ausnahme der neu errichteten Erfurter Fakultät für alle katholisch-theologischen Fakultäten immer noch gültig sind, gab es keine Laientheologen. Und erst recht keine Theologinnen!
2. Die Geschichte der Priesterausbildung Obwohl die Theologie zu den Gründungsdisziplinen der abendländischen Universitäten gehört, ist eine geregelte theologische Ausbildung als Voraussetzung für das Priesteramt eine kirchengeschichtlich junge Erscheinung. Zwar gab es schon immer theologisch hoch gebildete Kleriker, die auch akademische Grade von Universitäten besaßen. Bei den doctores war das allerdings meist der doctor iuris, da er im Gegensatz zum theologischen Doktorat attraktivere Karrieremöglichkeiten in der kirchlichen Hierarchie eröffnete.5 Die große Masse der Säkularkleriker hatte demgegenüber kein universitäres Studium, sondern bloß eine Art Lehre bei einem Pfarrer absolviert.6 Eine solche Lehre ————
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catholicae, Roma 2005, S. 303- 312. Von historischem Interesse ist Weber, Die wissenschaftlichen Ausbildungsinstitute für den theologischen Nachwuchs in Deutschland und Österreich, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 9 (1968), S. 97-162. Vgl. Baldus, Katholische Kirche und Wissenschaft, in: Gorschenek (Hrsg.), Katholiken und ihre Kirche, München 1976, S. 283-285; König, Wesen und Aufgabe einer katholischen Universität heute, in: ders. (Hrsg.), Wesen und Aufgabe einer katholischen Universität, Düsseldorf 1984, S. 142- 144. Vgl. Gatz, Zur Situation des Säkularklerus im 18. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Der Diözesanklerus, Freiburg [u.a.] 1995, S. 27f.
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sah so aus, dass ein junger Mann als „Stift“ bei einem Pfarrer im Pfarrhaus Wohnung nahm und gleichsam handwerksmäßig die pastoralen und liturgischen Kenntnisse und Verrichtungen für den Pfarrberuf erlernte.7 Hatte er ausgelernt, stellte er sich seinem Bischof vor und wurde nach Ablegung eines Weiheexamens zum Priester geweiht.8 Diese Form der Ausbildung war bis zum Beginn der Neuzeit die übliche Form der Weltpriesterausbildung. Mit dem Aufkommen der Reformation wurde der damit einhergehende niedrige Bildungsstand des Klerus zum Problem.9 Die evangelischen Theologen als Verkünder der neuen Lehre hatten in der Regel ein Universitätsstudium abgeschlossen.10 Zudem kam es in der Reformationszeit zu einer vermehrten Gründung von Hochschulen in den einzelnen Territorialstaaten.11 Auf eine einfache Formel gebracht, kann man die Reformationsbewegung in ihrer Zeit auch als Bildungsbewegung verstehen, denn die von ihr geforderte unmittelbare Begegnung mit dem Wort Gottes in der Heiligen Schrift setzt, soll sie denn fruchtbar sein, Bildung und Studium, setzt eigenes ———— 6
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Nach Oediger, Über die Bildung der Geistlichen im späten Mittelalter, Leiden [u.a.] 1953, S. 66f. besuchten um 1500 bis 1520 nur etwa 30 bis 50 % der Kleriker eine Universität. Von diesen erwarben aber nur wenige das Bakkalaureat, den niedrigsten akademischen Grad der damaligen Zeit. Nach Scheller, Art. „Seminar“, in: LThK1 (Lexikon für Theologie und Kirche, 1. Aufl., Freiburg 1930 -1938) IX, Sp. 457f. haben im Mittelalter nur 1 % der Priester an einer Universität studiert. Für das Bistum Bamberg ist zwischen 1400 und 1556 mit einem Immatrikulationsgrad der Geistlichen von 28 % auszugehen, vgl. Kist, Die Matrikel der Geistlichkeit des Bistums Bamberg 1400-1556, Würzburg 1965, S. XX. Vgl. zur vortridentinischen Ausbildung auch Griesl, Lücken in unserer priesterlichen Seminarerziehung, in: ders, Pastoralpsychologische Studien, Innsbruck [u.a.] 1966, S. 234f. Vgl. Garhammer, Priesterbildung zwischen Seminar und Universität, in: ders. (Hrsg.), Unnütze Knechte? – Priesterbild und Priesterbildung, Regensburg 1989, S. 30; ders., Art. „Priesterseminar – II. Historisch“, in: LThK³ (Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg u.a. 1993-2002) VIII, Sp. 580; Scheller, Art. „Seminar“, in: LThK1 IX, Sp. 457; Wieh, Art. „Priesterausbildung, Priesterbildung“ in: LThK³ Bd. VIII, Sp. 570; Wolf, Priesterausbildung zwischen Universität und Seminar, in: RQ (Römische Quartalschrift) 193 (1988), S. 218, 229, 232. Vgl. Schröer, Die Kirche in Westfalen vor der Reformation, Bd. 1, Münster 1967, S. 202f. Die zu beherrschenden Kenntnisse schildert Wolf, Die Priesterausbildung zwischen Universität und Seminar, in: RQ 193 (1988), S. 218, 229 plastisch: „Daß man beim ... Weiheexamen kaum mehr verlangen konnte als Grundkenntnisse in liturgischem Gesang, die Fähigkeit, die liturgischen Bücher an der rechten Stelle aufzuschlagen, und wenigstens so viel Lateinkenntnisse, um nicht „in nomine patria et filia et spiritus sancti“ taufen zu müssen, liegt auf der Hand.“ Vgl. Bitterli, Das Priesterseminar, Essen 2006, S. 7; Garhammer, Art. „Priesterseminar – II. Historisch“, in: LThK³ VIII, Sp. 580; ders., Seminaridee und Klerusbildung bei Karl August Graf von Reisach, Stuttgart [u.a.] 1990, S. 20f. Die Universitätswissenschaft wurde mehr und mehr eine kritische Instanz gegenüber der kirchlichen Lehrverkündigung und Praxis, vgl. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, 11. Aufl. Tübingen 1957, § 74 c, S. 279. Als Beispiele seien angeführt die 1527 gegründete Universität Marburg und die 1607 gegründete Universität Gießen, vgl. Mirbt, Die katholisch-theologische Fakultät zu Marburg, Marburg 1905; Wolgast, Art. „Universität“, in: TRE (Theologische Realenzyklopädie Berlin 1976ff.) XXXIV, S. 358-362.
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intellektuelles Bemühen voraus.12 Demgegenüber war das damalige katholische Glaubensleben nicht selten durch eine mitunter magisch verstandene Sakramentenpraxis und eine sich darum rankende Volksfrömmigkeit geprägt, die für das religiöse Leben eine fromme (passive) Teilnahme an den kirchlichen Kulthandlungen für ausreichend erachtete.13 Eine intellektuelle Durchdringung des Glaubens war nicht heilsnotwendig. Es genügte, das zu glauben, was die Kirche glaubt (fides implicita), auch wenn man diesen Glauben im Einzelnen gar nicht kannte und nachvollziehen konnte. Von daher war die Rolle des Priesters weniger eine katechetische, sondern eine mehr kultische. Er musste die Sakramente gültig verwalten, mehr nicht. Dazu genügte das rein technische Wissen aus dem herkömmlichen „Pfarrstift“ voll und ganz. Mit dem Aufkommen der Reformation aber rückten die theologische Reflexion und auch die kontroverstheologische Abwehr der neuen Bewegung mehr und mehr in den Vordergrund. Der herkömmliche Säkularkleriker war von seiner Ausbildung her darauf nicht vorbereitet. Wollte die katholische Kirche der Herausforderung durch die Reformation gewachsen sein, war eine Reform der Inhalte und der Organisation der Priesterausbildung unumgänglich. Das Konzil von Trient (1545-1563), das als katholische Reaktion auf die Anfragen der Reformation einberufen wurde, erließ daher in seiner 23. Sitzung das bedeutende Dekret Cum adulescentium aetas zur Priesterausbildung. Jedem Bischof war darin die Einrichtung eines Priesterseminars für seine Diözese vorgeschrieben. Das Konzil wollte die Seminare aber nicht als Konkurrenz zu den gelehrten Universitätsstudien etablieren, wie dies später oft behauptet wurde.14 Aus den Konzilsverhandlungen, die erst seit der Öffnung der vatikanischen Archive durch Papst Leo XIII. im Jahre 1881 für die historische und theologische Forschung zugänglich sind, ging hervor, dass das Konzil ursprünglich sogar ein reguläres Universitätsstudium für die künftigen Kleriker vorgesehen hatte.15 Lediglich aus Kostengründen wurde diese Modalität der Priester———— 12
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Zur Rolle der Universität für den Protestantismus Garhammer, Priesterbildung zwischen Seminar und Universität, a.a.O. (Fn. 7), S. 27-29. Vgl. Heim, Das Wesen des evangelischen Christentums, 4./5. Aufl., Leipzig 1929, S. 65ff. Wenngleich diese Schrift aus apologetischer Tendenz das Bild der Catholica in starken Farben zeichnet, trifft Heim doch einen wahren Kern der mittelalterlichen Frömmigkeit, vgl. Nocke, Allgemeine Sakramentenlehre, in: Schneider (Hrsg.), Handbuch der Dogmatik, Bd. 2, Düsseldorf 2000, S. 204f., Vorgrimler, Neues Theologisches Wörterbuch, Freiburg [u.a.], 2000, Art. „Sakrament“, S. 542, 543f. Vgl. Garhammer, Priesterbildung zwischen Seminar und Universität, a.a.O. (Fn. 7), S. 30-32; May, Die Ausbildung des Weltklerus in Deutschland, in: ThQ (Theologische Quartalschrift) 144 (1964), S. 183f. Vgl. Wolf, Priesterausbildung zwischen Universität und Seminar, in: RQ 193 (1988), S. 218, 230.
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ausbildung fallen gelassen. Das Priesterseminar sollte weniger begüterten Studenten, die sich kein Universitätsstudium leisten konnten, eine solide theologische und pastorale Ausbildung vermitteln.16 Die Lehrer an diesen Seminaren mussten aber einen akademischen Grad besitzen, also ein Universitätsstudium aufweisen.17 Die Trienter Regelung, ein Seminar zur wissenschaftlichen Ausbildung in jedem Bistum zu errichten, wurde jedenfalls in Deutschland nie richtig umgesetzt.18 Gleichwohl wurde in der weiteren Rezeption des Trienter Seminardekrets das „tridentinische Seminar“ meist als echt katholisches Leitbild der Priesterausbildung ausgegeben, vor allem gegenüber der als zu „verweltlicht“ geltenden Ausbildung an den Universitäten. Als frühes Gegenmodell zu dem tridentinischen Vollseminar, in dem sowohl die wissenschaftliche als auch die pastorale Ausbildung vollständig absolviert wurde, kann aber das Modell des münsterischen Generalvikars Franz von Fürstenberg gelten, der die künftigen Priester an der 1773 gegründeten staatlichen Landesuniversität in Münster studieren ließ, während die geistlich-pastorale Formung im Priesterseminar erfolgte.19 Die weitere Geschichte der Priesterausbildung in Deutschland blieb gleichwohl geprägt von dem Konflikt zwischen Seminarund Universitätsausbildung, der durch die missverständliche Interpretation des Trienter Seminardekrets als eines Dokumentes gegen eine universitäre Priesterausbildung hervorgerufen wurde.20 Die Auseinandersetzung um den ———— 16 17
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Vgl. Venard, in: Alberigo (Hrsg.), Geschichte der Konzilien, Düsseldorf 1993, S. 364. Schon von daher ist es abwegig, aus dem Trienter Seminardekret eine Ablehnung theologischer Universitätsstudien herauszulesen, vgl. Wolf, Priesterausbildung zwischen Universität und Seminar, in: RQ 193 (1988), S. 218, 231. Vgl. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts V, Wien [u.a.] 1969, S. 330- 336; Winkler, in: Lenzenweger, u.a. (Hrsg.), Geschichte der katholischen Kirche, 3. Aufl., Graz [u.a.] 1995, § 122, S. 386. Zur Situation im Bistum Münster beispielhaft Becker-Huberti, Die tridentinische Reform im Bistum Münster, Münster 1978, S. 188ff. Insgesamt hat das „Trienter Modell“ die Erwartungen wohl nicht erfüllt, vgl. Vernard, in: Alberigo (Hrsg.), Geschichte der Konzilien, a.a.O. (Fn. 16), S. 375f. Man darf hier aber nicht vorschnell ein Staat-Kirche-Verhältnis heutiger Prägung unterstellen, denn der Staat, der die Universität in Münster unterhielt, war das Fürstbistum Münster und damit ein geistliches Territorium. Bemerkenswert ist die Entscheidung von Fürstenbergs aber dennoch, denn an der Universität studierten auch die künftigen nicht-klerikalen Beamten, Juristen und Mediziner. Er stellte damit die künftigen Priester in das geistige Umfeld der damaligen Gesellschaft und sprach sich so gegen eine abgesonderte Priesterausbildung allein im Seminar aus. Zur von Fürstenbergschen Regelung vgl. Gatz, Münster – 1. Theologische Fakultät der Universität Münster, in: ders. (Hrsg.), Priesterausbildungsstätten der deutschsprachigen Länder zwischen Aufklärung und Zweitem Vatikanischen Konzil: mit Weihestatistiken der deutschsprachigen Diözesen, Rom [u.a.] 1994, S. 156; ders., Die Entstehung des Diözesanklerus, in: ders. (Hrsg.), Der Diözesanklerus, a.a.O. (Fn. 5), S. 49ff. spricht von einem „Modellcharakter“ für das deutsche System der Priesterausbildung an Universität und (Pastoral-) Seminar.
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rechten Ort der wissenschaftlichen Priesterausbildung erreichte im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt.21 War der Staat daran interessiert, die künftigen Geistlichen an den Universitäten auszubilden, um sie nicht von den geistigen Strömungen der Zeit abzukoppeln, ein Motiv, das heute insbesondere bei dem Wunsch, islamische Religionslehrer an staatlichen Hochschulen studieren zu lassen, wieder ganz massiv geltend gemacht wird, gab es ein kirchliches Interesse genau gegenteiliger Richtung. Frömmigkeit und Rechtgläubigkeit galten hier mehr als eine Auseinandersetzung mit den Fragen der Gegenwart. Beispielhaft für die zuletzt genannte Position sei hier der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877) angeführt, der 1851 in seinem Bistum die alleinige Seminarausbildung durchsetzte und damit die Schließung der Katholisch-Theologischen Fakultät Gießen erreichte, die erst 1830 mit kirchlicher Zustimmung für das Studium der Priester des Bistums Mainz errichtet worden war.22 Ketteler äußerte seine Ansicht über den „Wert“ universitärer Studien deutlich und unmissverständlich: Bei der Ausbildung der Priester hat die Kirche von jeher der Wissenschaft nur die zweite Stelle angewiesen, die erste aber der Erziehung zu einem wahrhaft priesterlichem Leben, zu einem Leben der höchsten sittlichen Reinheit, zu einem Leben voll Selbstverleugnung, Entsagung und Aufopferung. ... Die höchste Wissenschaft ist an sich nicht im Stande, eine Seele zu bekehren. Dazu gehört vor allem die Gnade Gottes, und diese wird nur mit dem Priester sein, der zuerst mit dem Beispiel und dann mit dem Worte lehrt.23 ———— 20
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Vgl. hierzu etwa Hegel, Organisationsformen der diözesanen Priesterausbildung in Deutschland, in: Corsten, u.a. (Hrsg), Die Kirche und ihre Ämter und Stände [FS-Frings], Köln 1960, S. 645- 666; Pimmer-Jüsten, Autonomia im kanonischen Recht, Würzburg 1995, S. 54- 59; Solte, Die deutschen katholisch-theologischen Fakultäten im Konflikt um die päpstliche Unfehlbarkeit, in: Kästner, u.a. (Hrsg.), Festschrift für Martin Heckel zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 1999, S. 252- 254. Vgl. Garhammer, Priesterbildung zwischen Seminar und Universität, a.a.O. (Fn. 7), S. 34 -46; ders., Seminaridee und Klerusbildung bei Karl August Graf von Reisach, a.a.O. (Fn. 9), S. 220 - 228; Gatz, Von der Beilegung des Kulturkampfes bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, in: ders. (Hrsg.), Der Diözesanklerus, a.a.O. (Fn. 5), S. 129- 132; ders., Die Vorverhandlungen zur Gründung der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Straßburg (1898-1902), in: RQ 77 (1982), S. 86-129; Hausberger, Sieben oberhirtliche Stellungnahmen zur Ausbildung des Klerus an den staatlichen Universitätsfakultäten Deutschlands aus dem Jahr 1899, in: Becker, Chrobak (Hrsg.), Staat, Kultur, Politik [FS Albrecht], Kallmünz 1992, S. 273- 285; Strötz, Kleruserziehung, Hamburg 2003, S. 97-104, 123 -140 et passim. Vgl. Gundel, Art. „Gießen, Universität“, in: TRE XIII, S. 263f.; Lösch, Die katholisch-theologischen Fakultäten zu Tübingen und Gießen (1830-1850), in: ThQ 108 (1927), 159-208; Scharfenecker, Die katholisch-theologische Fakultät Gießen (1830-1859), Paderborn [u.a.] 1998, S. 310-354; Vigener, Die katholisch-theologische Fakultät in Gießen und ihr Ende, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins NF 24 (1922), S. 28 - 96; Wolf, Priesterausbildung zwischen Seminar und Universität, in: RQ 193 (1988), S. 226ff.
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Für Bischof Ketteler stellten die Universitätsstudien ein Übel dar: Wenn dennoch aus dieser ganz verwerflichen Bildungsweise ausgezeichnete Priester hervorgegangen sind, so ist das nur durch außerordentliche Hilfe Gottes geschehen.24
Diese Argumentationslinie war in kirchlichen Kreisen des 19. Jahrhunderts Gemeingut. Besonders deutlich findet sie sich in den Schriften des Kirchenhistorikers Augustin Theiner (1804-1874) 25 und des früheren Eichstätter und späteren Münchener (Erz-)Bischofs Karl August Kardinal Graf von Reisach (18001869).26 Nach Theiner haben die Alumnen an der Universität „alle christliche Elemente bis auf den letzten Funken ... verloren.“ 27 An der Universität habe sich der Zeitgeist „unter der Sonne der gottvergessenen Wissenschaft und der ungezügelten Freiheit ... eine bleibende und stets wachsende Herrschaft gegründet ...“ 28 Diese wenigen Zitate mögen genügen, um die kirchliche Aversion gegen eine staatliche Theologenausbildung zu verdeutlichen.29 Die Geschichte der Priesterausbildung in Deutschland wurde von dem Grundkonflikt „kirchliche Ausbildung“ und/oder „staatliche Universität“ aber nicht nur in der Vergangenheit geprägt.30 Er ist auch heute noch wirksam in der Kritik „konservativer“ kirchlicher Kreise gegen die „liberalen Staatstheologen“ an den Universitäten.31 Der Rückzug dieser Gruppen aus den staatlichen Hochschulen in kirchliche Seminare spricht hier eine klare Sprache.32 Aber auch in der Alternative staatliche Fakultät und kirchliche Hochschule, die das ———— 23 24
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Zitiert nach Pfülf, Bischof von Ketteler (1811-1877), Bd. 1, Mainz 1899, S. 236. Zitiert nach Holzammer, Die Bildung des Clerus in kirchlichen Seminarien oder an Staatsuniversitäten, Mainz 1900, S. 27. Hier vor allem die Schrift: Geschichte der geistlichen Bildungsanstalten, Mainz 1835. Vgl. auch Beinert, Universitätstheologie und Kirche, in: StdZ (Stimmen der Zeit) 211 (1993), S. 727f. Vgl. Garhammer, Seminaridee und Klerusbildung bei Karl August Graf von Reisach, a.a.O. (Fn. 9), S. 75-189. Theiner, Geschichte der geistlichen Bildungsanstalten, Mainz 1835, S. 82f. Theiner, Geschichte der geistlichen Bildungsanstalten, a.a.O. (Fn. 27), S. 371f. Instruktiv Heiner, Theologische Fakultäten und Tridentinische Seminarien: ein Wort zur Aufklärung und Verständigung, Paderborn 1900. Auf S. 62- 83 setzt er sich mit der Frage auseinander, ob und inwiefern die Universität eine „Gefahr“ für die künftigen Priester darstellen kann und plädiert für ein Universitätsstudium. Von einer solchen „Gefahr“ geht etwa noch Perugini, Inter Sanctam Sedem et Borussiae Rempublicam sollemnis Conventio seu Concordatum, in: Apollinaris 5 (1932), S. 50f. aus. Vgl. auch Herkströter, Wissenschaftsfreiheit und Theologie, Diss. Hannover 1996, S. 127-138, der in seiner historischen Darstellung allerdings einen ideologiekritisch-marxistischen Blickwinkel einnimmt. Vgl. Kriele, Aktuelle Probleme des Verhältnisses von Kirche und Staat, in: IKZ Communio 19 (1990), S. 551- 553; Nientied, Subkulturen, in: HK (Herder Korrespondenz) 44 (1990), S. 404; Ruh, Kein Grund zum Rückzug, in: HK 49 (1995), S. 293f. Kritisch dazu Listl, Die staatskirchenrechtlichen Implikationen im „Fall Küng“, in: ders., Kirche im freiheitlichen Staat : Schriften zum Staatskirchenrecht und Kirchenrecht, Bd. 2, Berlin 1996, S. 618.
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ganze geltende Konkordatsrecht etwa im Preußenkonkordat durchzieht 33, schwingt der Konflikt um den richtigen Ausbildungsort der künftigen Priester mit.34 Für die kirchliche Seite ist die Geschichte der Priesterausbildung von dem ambivalenten Bemühen gekennzeichnet, entweder Anschluss an die geistigen Strömungen der Zeit zu finden oder sich ihnen in ghettohafter Abschottung grimmig entgegenzustellen. Durch das vom Zweiten Vatikanische Konzil eingeleitete aggiornamento, das Aufnehmen der Probleme und Anfragen der „Welt“ in den geistlichen Raum der Kirche, wurde eher versucht, die Theologie mit den anderen Wissenschaften in einen Dialog zu bringen. Das Beispiel der neuen Erfurter Fakultät, die erst nach Zögern der zuständigen römischen Stellen in die staatliche Universität integriert werden konnte 35, zeigt freilich, dass es auch hier innerhalb der Kirche unterschiedliche Standpunkte gibt. Bedenkenswert ist aber auch, dass der Wissenschaftsrat in seiner jüngsten Empfehlung zur künftigen Entwicklung der Theolo———— 32
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Zu denken wäre hier an das Priesterseminar des Neokatechumenalen Weges in Berlin sowie an das Priesterseminar der Priesterbruderschaft St. Petrus in Wigratzbad. Vgl. Art. 12 Abs. 2 Preußenkonkordat. Die heute in Deutschland anzutreffende organisatorisch vielgestaltete Ausbildungslandschaft geht auch auf diese alten Konfliktlinien zurück, vgl. Baldus, Art. „Hochschulen, kirchliche“, in: EvStL³ (Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., Stuttgart 1987) I, Sp. 1275 f.; Hollerbach, Art. „Theologische Fakultäten“; in: StL7 (Staatslexikon, 7. Aufl., Freiburg u.a. 1985-1995) V, Sp. 461. Hier gab es ein ungewöhnlich breites publizistisches Echo, vgl. im Einzelnen (in chronologischer Reihenfolge): Deckers, Wider die Tradition. Das Philosophisch-Theologische Studium in Erfurt soll nicht Universitätsfakultät werden, in: FAZ vom 31. August 1998; Drobinski, Der Vatikan lehnt eine theologische Fakultät an der Uni Erfurt ab. Misstrauen gegen „Staatstheologen“. Rom bevorzugt eine Hochschule in kirchlicher Trägerschaft gegen den Wunsch der Ortskirche, in: SZ vom 4. September 1998; Zewell, In Erfurt sollte etwas Neues entstehen, in: Rheinischer Merkur vom 11. September 1998; Löwenstein, Die moderne Lösung für Erfurt, in: Deutsche Tagespost vom 12. September 1998; Deckers, Wird die kirchliche Studienstätte Teil der Hochschule? In Erfurt scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen, in: FAZ vom 25. September 1998; Honnigfort, Ohrfeige aus Rom. Vatikan duldet keine Katholische Fakultät in Erfurt, in: FR vom 1. Oktober 1998; Frank, Wortkarge Abfuhr aus dem Vatikan. Warum Kirchenfürsten nicht wünschen, dass der Staat an der Universität Erfurt Theologie lehrt, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 15. Oktober 1998; Reiser-Fischer, Am Dom, gleich neben dem Kreuzgang. Die Zukunft des Philosophisch-Theologischen Studiums in Erfurt wird im Vatikan sehr heiß diskutiert, in: Thüringer Allgemeine vom 4. November 1998; Facius, Geraten die Erfurter Theologen ins Abseits? Der Vatikan lehnt eine Einbindung der katholischen Hochschule in die neugegründete Universität ab, in: Die Welt vom 16. November 1998; Deckers, Die Kirche öffnet die Tür einen Spalt. Doch eine katholische Fakultät in Erfurt?, in: FAZ vom 29. März 1999; Wiarda, Das Kreuz mit der Freiheit. Die Kirche redet mit, wenn staatliche Hochschulen Theologen einstellen. Aber darf sie auch entscheiden, was gelehrt wird?, in: SZ vom 30. März 1999; Meesmann, Rauchsignale aus dem Vatikan. Der Papst und die katholische Fakultät in Erfurt, in: FR vom 15. April 1999; Glotz, Wir brauchen die Theologie, in: Die Welt vom 30. Juli 1999. Siehe dazu auch Glotz, Theologie und Universität. Zur Rolle theologischer Forschung und Lehre an der Universität von heute, in: Thierse (Hrsg.), Religion ist keine Privatsache, Düsseldorf 2000, S. 326-329; Deckers, Theologie im Osten. Die Universität Erfurt hat wieder eine katholische Fakultät, in: FAZ vom 20. November 2002.
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gien und religionsbezogenen Wissenschaften in Deutschland gerade die Interdisziplinarität erneut angemahnt hat.36
3. Die Geschichte der Religionslehrerausbildung Die Geschichte der theologischen Studien ist fast ausschließlich eine Geschichte der wissenschaftlichen Bildung und Ausbildung des Klerus.37 Der Laie als studierter Theologe ist eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts.38 Zwar kennt die Kirchengeschichte immer wieder Laientheologen39, doch war einem Laien ein grundständiges theologisches Studium lange Zeit verwehrt.40 Die Anfänge einer wissenschaftlichen theologischen Ausbildung von Laien in neuerer Zeit liegen in der Religionslehrerbildung.41 Dabei sind ———— 36
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Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, Bonn 2010 (= WR-Drs. 9678- 10), S. 67. So konnte der Münchener Dogmatiker Michael Schmaus, Überlegungen zur kirchlichen Entfaltung des Laienstandes, in: ders./Schlette/Gössmann, Theologie im Laienstand, München 1966, S. 40 noch im Jahre 1966 feststellen: „Es wäre für uns ein ungewohntes Bild, einen Laien, sei es ein Mann oder eine Frau, auf einem theologischen Lehrstuhl zu sehen.“ Vgl. Werners, Der Laientheologe, in: HdPTh. (Handbuch der Pastoraltheologie, Freiburg 1964-1972) IV, S. 587-590. Vgl. die Aufzählung bekannter Persönlichkeiten bei Karrer, Von Beruf Laientheologe?, Freiburg 1970, S. 20f. Vgl. Schmitz, Art. „Theologiestudium – I. Begriff “, in: LThK³ IX, Sp. 1456. Bohr, Art. „Theologiestudenten“, in: HdPTh. VI, S. 568 will erst für die zweite Hälfte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts von Laientheologen im eigentlichen Sinn sprechen, die nicht „bloß“ Religionslehrer sind, sondern ebenso als Volltheologen ausgebildet wurden wie die Priesteramtskandidaten. Eine Promotion in katholischer Theologie wurde in Deutschland erst in den fünfziger Jahren möglich, vgl. Karrer, Vom Beruf Laientheologe?, a.a.O. (Fn. 39), S. 25. Eine Habilitation war auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil noch umstritten, vgl. Neumann, Kirchenrechtliche Stellungnahme, inwieweit Nichtordinierte zur Habilitation an Katholisch-Theologischen Fachbereichen zugelassen oder als Professoren an sie berufen werden können, in: Rahner (Hrsg.), Zur Reform des Theologiestudiums, Freiburg [u.a.] 1969, S. 99-124; Steinmüller, Kirchen- und staatskirchenrechtliche Probleme der Laienhabilitation an Katholisch-Theologischen Fakultäten in der Bundesrepublik Deutschland, ebendort, S. 111ff.; o.V., Zur „Laienhabilitation an Fakultäten“, in: HK 22 (1968), S. 478- 481. Erst seit 1979 ist durch die Apostolische Konstitution Sapientia Christiana die Möglichkeit von Nichtklerikern, Theologieprofessoren zu sein, universalkirchlich anerkannt worden, vgl. Mette, Art. „Laientheologe/Laientheologin“, in: LThK³ VI, Sp. 607, 608 sowie ausführlich Rieger, Communiter sint sacerdotes, Essen 2005. Im Bereich der deutschen Bischofskonferenz war die Laienhabilitation seit 1968 für sog. Brückenfächer und 1972 auch für die übrigen Fächer möglich, freilich auch hier als Ausnahme, vgl. Schmitz, Das Nihil obstat des Diözesanbischofs, in: AfkKR (Archiv für katholisches Kirchenrecht) 170 (2001), S. 65. Von daher gilt kirchenrechtlich bis heute ein Regel-AusnahmeVerhältnis zugunsten ordinierter Dozenten an den theologischen Fakultäten, kritisch dazu Hünermann, Communiter sint sacerdotes, in: ThQ 176 (1996), S. 124 - 126; Puza, Fakultätenrecht im Wandel?, in: ThQ 176 (1996), S. 148f. Zur theologischen Problematik von Laientheologen, vgl. Portillo, Gläubige und Laien in der Kirche, Paderborn 1972, S. 192- 200.
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in historischer Perspektive zwei Bildungswege auseinander zu halten: Die Ausbildung der Volksschullehrer und die Ausbildung der Lehrer für die Höheren Schulen.42 Die historische Entwicklung der Religionslehrerausbildung hängt eng mit der allgemeinen Geschichte der Lehrerausbildung und des Religionsunterrichts zusammen. Der Religionsunterricht, wie wir ihn heute kennen, hat sich erst nach der Reformation entwickelt. In den Schulen ist er im Laufe des 18. Jahrhunderts üblich geworden, als eigenes Fach gar erst im 19. Jahrhundert.43 Zwar gab es in schulischen Einrichtungen immer auch religiöse Unterweisung. Diese fand aber im gesamten Unterricht statt, da die Kirche meist Schulträgerin war, und bildete kein eigenes Unterrichtsfach neben anderen. Erst als der Staat die Kirche aus ihrer Rolle im Schulwesen verdrängte, entstand ein eigenständiger Religionsunterricht.44 Im Zusammenhang mit dem Religionsunterricht kam es zu vielen Konflikten zwischen Staat und Kirche. Während die Kirche natürlicherweise bestrebt war, auf den Religionsunterricht Einfluss zu nehmen, wollte der Staat diesen Unterricht als Veranstaltung in seiner Verantwortung verstanden wissen. Heute gilt er in der Sprache des Staatskirchenrechts wie die Theologischen Fakultäten als eine res mixta, eine gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche.45 Dies äußert sich vor allem in Personalfragen. Da nämlich die kirchliche Glaubensverkündigung von Rechts wegen Sache des Bischofs und der Priester war, mussten Religionslehrer daher grundsätzlich eine kirchliche Beauftragung zum Religionsunterricht, eine missio canonica erhalten.46 Das ist auch heute noch so.47 Im Bereich der Volksschulen konnte sich die konfessionelle Ausrichtung einzelner Einrichtungen als Bekennt———— 41
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Vgl. Hellmuth, Die missio canonica, in: AfkKR 91 (1911), S. 467; Karrer, Art. „Laientheologe“, in: HdPth. VI, S. 298f.; Keller/Nell-Breuning, Das Recht der Laien in der Kirche, Heidelberg 1950, S. 6872; Mette, Art. „Laientheologe, Laientheologin“, in: LThK³ VI, Sp. 608; Nastainczyk, Der Laientheologe, in: KatBl. 90 (1965), S. 1; Riedel-Spangenberger, Art. „Laientheologie“, in: LKStKR (Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, Paderborn u.a. 2000-2004) II, S. 678f.; Zumkley, Die Geschichte des theologischen Studiums der Laien in der Diözese Münster, Prüfungsarbeit an der Pädagogischen Hochschule Münster I, Münster 1963, S. 31-41. Zu den unterschiedlichen Ausbildungsgängen vgl. Baur, Art. „Religionslehrer“, in: Wörterbuch zum Religionsunterricht, Freiburg 1976, S. 185f.; Leimgruber, Art. „Religionslehrerausbildung, Religionslehrerfortbildung, Religionslehrerweiterbildung“, in: LexRP (Lexikon der Religionspädagogik, NeukirchenVluyn 2001) II, Sp. 1692-1697. Vgl. Langer, Religionsunterricht, in: NHThG (Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe, München 1991) IV, S. 403. Vgl. Biemer, Art. „Religionsunterricht – I. Religionspädagogisch“, in: StL7 Bd. IV, Sp. 840; Maier, Staat – Kirche – Bildung, in: ders., Schriften zu Kirche und Gesellschaft, Bd. 2, Freiburg [u.a.] 1984, S. 69. Vgl. von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl., München 2006, S. 210.
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nisschulen sogar bis in die Gegenwart halten. Die höheren Schulen waren demgegenüber schon früh überkonfessionell. Daneben gab es zwar auch weiterführende Schulen in kirchlicher Trägerschaft, die aber zahlenmäßig keine große Rolle spielten. Sie waren meist so genannte „Kleine Seminare“ und gehörten damit wieder in den Bereich der Priesterausbildung.
3.1 Die Ausbildung der Volksschullehrer Für die Volksschulen war eine akademische Lehrerausbildung lange Zeit unüblich. Da die Lehrtätigkeit an diesen Schulen als quasi handwerkliche Wissensvermittlung angesehen wurde, genügte zuerst eine Hospitation von wenigen Wochen und eine zureichende Allgemeinbildung, um Lehrer werden zu können.48 Die Parallele zur vorreformatorischen Priesterausbildung ist offensichtlich. Mit der Zeit wurde die Lehrerausbildung für diese Schulen professionalisiert. In Lehrerseminaren und pädagogischen Akademien wurde ein einheitlicher Ausbildungsstandard geschaffen.49 Dabei wurden neben fachdidaktischen Aspekten nun auch verstärkt genuin erzieherische Fragen angesprochen. Aus den Pädagogischen Akademien haben sich dann die Pädagogischen Hochschulen entwickelt.50 In diesem institutionellen Rahmen vollzog sich auch die Lehrerausbildung. ———— 46
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Vgl. Flatten, Art. „Missio canonica“, in: LPäd. (F) (Lexikon der Pädagogik, Freiburg 1952-1955) III, S. 166 sowie ausführlich Künzel, Die „Missio Canonica“ für Religionsleherinnen und Religionslehrer, Essen 2004, S. 5 -13. Wegen der engen Verbindung zwischen religiöser Unterweisung und dem kirchlichen Lehramt wurde eine Theologieausbildung von Laien und erst recht eine wissenschaftlich-theologische Tätigkeit oft als problematisch angesehen, vgl. Nastainczyk, Der Laientheologe, in: KatBl. (Katechetische Blätter) 90 (1965), S. 1-10; Schlette, Probleme der so genannten Laientheologie, S. 58f. Vgl. Huber, Der Religionslehrer im Spannungsfeld zwischen kirchlichem und staatlichem Recht, Linz 1995, S. 175ff.; Rees, Der Religionsunterricht und die katechetische Unterweisung in der kirchlichen und staatlichen Rechtsordnung, Regensburg 1986, S. 108ff.; Riedel-Spangenberger, Sendung in der Kirche, Paderborn [u.a.] 1991, S. 88ff. Vgl. Blankertz, Die Geschichte der Pädagogik, Wetzlar 1982, S. 127; Wende, Die pädagogische Akademie als Hochschule, Berlin [u.a.] 1931, S. 3 - 9 et passim; ders., Grundlagen des preußischen Hochschulrechts, Berlin 1930, S. 213- 217. Vgl. Ederer, Um die Lehrerbildung, in: StdZ 155 (1954/1955), S. 422-424; Peters, Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen 1955-1980, Frankfurt am Main [u.a.] 1996, S. 47ff., der den Prozess der Verwissenschaftlichung der Lehrerausbildung gut darstellt. Tenorth, Lehrerberuf und Lehrerbildung, in: Jeismann, u.a. (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3, München 1987, S. 252255. Vgl. Stock, Art. „Pädagogische Hochschule“, in: LPäd. (F) III, S. 262f. Zur konfessionellen Ausrichtung dieser Hochschulen Broermann, Das Recht der Pädagogischen Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1961, S. 76-87.
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Bis in die siebziger Jahre hinein war der Religionsunterricht vornehmlich biblisch-kerygmatisch geprägt.51 Es ging um die Präsentation abfragbaren Glaubenswissens.52 Diese Art des Unterrichts prägte auch die Lehrerausbildung. Sie blieb hinsichtlich der wissenschaftlichen Durchdringung des Stoffes deutlich hinter dem universitären Theologiestudium zurück. Im Zuge der Verwissenschaftlichung der Lehrerausbildung durch die Eingliederung der Volksschullehrerbildung in die Universitäten und der damit einhergehenden Auflösung der Pädagogischen Hochschulen fand die Lehrerbildung Anschluss an das fachliche Niveau der theologischen Fakultäten. Zeitgleich vollzog sich auch innerhalb der katholischen Religionspädagogik ein Paradigmenwechsel weg von der rein positiven Vermittlung von Glaubenswissen hin zu einer mehr begründenden Form des Unterrichts, die von der Lebenswirklichkeit der Schüler statt von abstrakten Formeln ausging.53 Diesem Ansatz kam ein universitäres Studium entgegen. Mit dem Zulauf von angehenden Religionslehrern erhielten die theologischen Fakultäten faktisch eine andere Ausbildungsrichtung. Die von den Konkordaten vorausgesetzte Funktion der Geistlichenausbildung war jetzt neben der Lehrerbildung nur noch eine von mehreren Aufgaben dieser Fakultäten.
3.2 Die Ausbildung der Lehrer für die Höheren Schulen Im Gegensatz zu den Volksschullehrern wurden die Lehrer für die Höheren Schulen schon immer an den Universitäten ausgebildet. Kam bei den Volksschullehrern zu Didaktik und Pädagogik erst im Laufe der Zeit auch eine wissenschaftliche Ausrichtung ihrer Ausbildung, so verlief dieser Weg bei den Lehrern der Höheren Schulen geradezu umgekehrt. Hier stand lange Zeit allein das wissenschaftliche Fachstudium im Vordergrund, während Didaktik und Pädagogik erst allmählich Eingang in die Studienpläne fanden. Für den Religionsunterricht an den Höheren Schulen bedeutete das freilich, ———— 51 52
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Vgl. Langer, Religionsunterricht, in: NHThG IV, S. 403, 404f. Vgl. Miller, Art. „Konzeptionen des Religionsunterrichts“, in: HRPG (Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 1986) II, S. 432ff. Vgl. Langer, Religionsunterricht, in: NHThG IV, S. 403, 406f.; Wegenast, Art. „Schule“, in: HRPG I, S. 154, 159f. Dieser Ansatz wird auch „Korrelationsprinzip“ genannt, vgl. Hilger, Art. „Korrelationsdidaktik“, in: LexRP I, Sp. 1106- 1111. Dabei werden die Lebenswirklichkeit der Schüler und die kirchliche Lehre in Beziehung zueinander gesetzt. Die kirchliche Lehre soll möglichst von den Erfahrungen der Schüler ausgehend entwickelt werden. Zum katholischen Religionsunterrichts nach dem Zweiten Vatikanum und den neuen religionspädagogischen Ansätzen Werbick, Heutige Herausforderungen an ein Konzept des Religionsunterrichts, in: ADBK (Arbeitshilfen der Deutschen Bischofskonferenz) Nr. 111, S. 35-76.
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dass er nur von theologischen Universitätsabsolventen gegeben werden konnte. Da Nichtkleriker ein solches Studium praktisch erst nach 1945 aufnehmen konnten, dominierten im Bereich der Höheren Schulen lange Zeit Geistliche als Religionslehrer.54 Mit Öffnung der theologischen Fakultäten auch für Laienstudenten ist der „geistliche Studienrat“ mehr und mehr in den Hintergrund getreten und heutzutage nahezu verschwunden.55
4. Künftige Entwicklungen Sowohl bei der Priester- wie auch bei der Religionslehrerausbildung hat sich im Laufe der Zeit ein wissenschaftliches Studium an einer staatlichen Hoch———— 54
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Vgl. Hellmuth, Die missio canonica, in: AfkKR 91 (1911), S. 618; Helmreich, Religionsunterricht in Deutschland, Hamburg 1966, S. 127-133; Riedel-Spangenberger, Sendung in der Kirche, a.a.O. (Fn. 47), S. 84f.; Voll, Handbuch des bayerischen Staatskirchenrechts, München 1985, S. 122. Das Theologiestudium wurde zuerst in Münster für Laien geöffnet; aber erst nach dem Krieg konnte man in größerem Umfang von Laientheologen reden, die als Religionslehrer für die Höheren Schulen das Staatsexamen anstrebten, vgl. Schlette, Probleme der so genannten Laientheologie, in: Schmaus/ders./Gössmann, Theologie im Laienstand, München 1966 S. 54; Schmaus, Überlegungen zur kirchlichen Entfaltung des Laienstandes, in: ders./Schlette/Gössmann, Theologie im Laienstand, a.a.O., S. 43f. Nach Karrer, Von Beruf Laientheologe?, a.a.O. (Fn. 39), S. 21ff. begann das Laienstudium der Theologie mit drei Studentinnen in Münster unter Mitwirkung des von 1933-1946 dort lehrenden Dogmatikers Michael Schmaus. Zu den Einzelheiten der für Deutschland richtungsweisenden Entwicklung in Münster vgl. Zumkley, Die Geschichte des theologischen Studiums der Laien in der Diözese Münster, a.a.O. (Fn. 41), S. 38- 42. Zum Aufkommen von Laien als Religionslehrer an Höheren Schulen nach dem Zweiten Weltkrieg siehe Karrer, Laientheologen in pastoralen Berufen, Mainz 1974, S. 24: „In dem Maße, als sich der Priestermangel im Religionsunterricht an den Höheren Schulen bemerkbar machte, wurden die Laien als Religionslehrer zugelassen, vorerst nur in den unteren Klassen und dann sukzessive auch auf den höheren Schulstufen.“ Vgl. auch Karrer, Von Beruf Laientheologe?, a.a.O. (Fn. 39), S. 47-51. Die Kommission für Erziehung und Schule der Deutschen Bischofskonferenz freilich sieht in dem Dokument „Die Spiritualität des Religionslehrers“ vom 1. September 1987, DtBis. (Die Deutschen Bischöfe) Nr. 6, S. 13 im Verschwinden des Priesters aus der Schule eine Entfremdung von Schule und Pfarrgemeinde. Vgl. zu diesem Ablöseprozess Gleissner, Art. „Religionslehrer“, in: HdPTh. VI, S. 457f. Dort findet sich auch der Begriff „geistlicher Studienrat“. Das Verschwinden der geistlichen Studienräte war von der kirchlichen Hierarchie in der vorkonziliaren Zeit durchaus nicht gewünscht, vgl. den bei Karrer, Von Beruf Laientheologe?, a.a.O. (Fn. 39), S. 25f. genannten Beschluss der Bayerischen Bischöfe vom 12./13. März 1952 über die Religionslehrer an den Schulen: „1. An jeder Schule soll ein geistlicher Religionslehrer hauptamtlich für die Erteilung des lehrplanmäßigen Religionsunterrichts angestellt werden ... 5. ... Die Konferenz rät den Laien dringend von privatem Voll- und Berufsstudium der Theologie ab ...“ Deutlich ist auch die Formulierung bei Fischer, Art. „Katechet“, in: LThK² (Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Freiburg 1957-1967) VI, Sp. 33f.: „Der Priester bleibt die ideale Vollform des Katecheten“, und damit auch des Religionslehrers. Diese Haltung der Hierarchie hat sich erst mit den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils geändert. In GS (Gaudium et Spes) 62 und GE (Gravissimum Educationis) 10 wird ein Theologiestudium der Laien begrüßt, vgl. Mette, Art. „Laientheologie/Laientheologin“, in: LThK³ VI, Sp. 607, 608.
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schule als regulärer Ausbildungsweg herausgebildet. Bei der Priesterausbildung freilich wurden schon Gegenbewegungen angesprochen. Auch die stark rückläufige Zahl von Priesteramtskandidaten ist eine ernste Anfrage an das bestehende Ausbildungssystem. Erwähnt sei nur die vorübergehende Stilllegung der Katholisch-Theologischen Fakultäten in Bamberg und Passau.56 Aber auch Veränderungen in der Lehrerausbildung wirken sich auf die theologischen Institute an den Hochschulen aus. Einerseits werden neue Standorte eröffnet, so in Hamburg und Halle-Wittenberg.57 Andererseits findet in Nordrhein-Westfalen eine Konzentration der mit dem Effekt statt, dass etwa die Katholisch-Theologische Fakultät Bonn keine Lehramtsstudiengänge mehr anbietet. Der Wissenschaftsrat hat angesichts der stark rückläufigen Studierendenzahlen ebenfalls eine Konzentration der Standorte und bei den Fakultäten zugleich eine Profilschärfung und stärkere Interdisziplinarität gefordert.58 Mit gewisser Sorge beobachtet der Wissenschaftsrat Abwanderungstendenzen gerade von jungen Priesteramtskandidaten an rein kirchliche Ausbildungsstätten.59 In Zukunft wird entscheidend sein, wo die Kirche selbst den Ort der wissenschaftlichen Theologie sieht. Ein Blick in die Geschichte der Theologenausbildung zeigt hier eine gewisse Erwartung des Staates an die Kirche, sich theologisch nicht in einen kirchlichen Binnenraum zurückzuziehen. Diese Erwartung hat nichts von ihrer Aktualität verloren; sie wird in der aktuellen Diskussion um die Integration des Islam in das staatliche Schul- und Hochschulwesen als politisch wichtig erachtet.60 Auf der anderen Seite könnten die alten Konfliktlinien um die Kirchlichkeit staatlicher Theologenausbildung neu aufbrechen. Das unter dem Titel „Kirche 2011 – ein notwendiger Aufbruch“ am 4. Februar 2011 veröffentlichte Memorandum katholischer Theologieprofessoren zeigt einen tiefen ———— 56
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Vgl. Zusatzprotokoll vom 19. Januar 2007 zum Bayerischen Konkordat vom 29. März 1924, GVBl. Bayern 2007, S. 351. Vgl. Art. 7 Abs. 2 des Vertrages zwischen dem Heiligen Stuhl und der Freien und Hansestadt Hamburg vom 29. November 2005, in: GVBl. (Gesetz- und Verordnungsblatt) Hamburg 2006, S. 435, sowie die Vereinbarung zwischen dem Land Sachsen-Anhalt und dem Bistum Magdeburg über die Errichtung eines Instituts für Katholische Theologie und ihre Didaktik an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg vom 24. Februar 2003, in: Amtliche Mitteilungen des Bistums Magdeburg 2003/3, Nr. 37. Vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, a.a.O. (Fn. 36), S. 64. Vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, a.a.O. (Fn. 36), S. 61f. Vgl. ausführlich dazu Janke, Institutionalisierter Islam an staatlichen Hochschulen, Frankfurt am Main 2005; Ott, Ausbildung islamischer Religionslehrer und staatliches Recht, Berlin 2009, sowie Heinig, Wie das Grundgesetz (vor) Theologie an staatlichen Hochschulen schützt, in: Der Staat 48 (2009), S. 616.
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Dissens zwischen der Amtskirche und nicht geringen Teilen der Professorenschaft.61 Der Dissens trifft auf eine Situation rückläufiger Studierendenzahlen für das Fach Katholische Theologie. Zugleich wird in Berichten von Rechnungshöfen ein Rückbau theologischer Einrichtungen empfohlen.62 Das könnte von der Amtskirche zum Anlass genommen werden, durch ein Entgegenkommen bei den Einsparwünschen der staatlichen Seite die im Wesentlichen von im Staatsdienst stehenden Theologen getragene Kirchenkritik einfach institutionell zu beantworten und einen Rückbau der theologischen Fakultäten zugunsten eigener kirchlicher Einrichtungen einzuleiten. Hier schließt sich der Kreis. Die historischen Arbeiten des Jubilars zur Priesterausbildung und zu den Konflikten zwischen kirchlichem Lehramt und wissenschaftlicher Theologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert haben nichts an Aktualität eingebüßt. Die von ihm behandelten Themen werden die Kirche und die akademische Theologie auch im 21. Jahrhundert weiter beschäftigen.
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Der Text des Memorandums ist u.a. hier zu finden: http://www.memorandum-freiheit.de. Etwa im Bericht des Bayerischen Rechnungshofes aus dem Jahr 2002, S. 8 (http://www. orh.bayern.de/files/Jahresberichte/2002/Jb2002kurz.pdf). Für andere Länder ließen sich entsprechende Beispiele leicht vermehren.
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Seelsorgepolitik für eine versöhnte Zukunft. Karol Wojtyla / Papst Johannes Paul II., Julius Döpfner und Joseph Höffner 1965-1987 von Karl-Joseph Hummel
Das II. Vatikanische Konzil bot jenseits aller Beratungen in den zahlreichen Kommissionen und in der Konzilsaula eine einzigartige Gelegenheit, neue persönliche Beziehungen zu knüpfen, zu Menschen zum Beispiel, von denen man bis dahin durch politische Grenzen oder ideologische Schranken getrennt war. Durch solche vertrauensbildende Kontakte und Gespräche am Rande der Kirchenversammlung entstanden neue transnationale katholische Kommunikationsnetzwerke, deren Wirken mit oft weitreichenden Folgen verbunden war. Die deutsch-polnischen Beziehungen in den ereignisreichen Jahren 1965 bis 1987 sind dafür ein besonders aussagekräftiges Beispiel. Unter dem Gesichtspunkt der bilateralen politischen Beziehungen handelt es sich bei den beiden Jahrzehnten nach 1965 für die Bundesrepublik Deutschland um eine Zeit wichtiger deutschlandpolitischer und ostpolitischer Veränderungen, die immer auch die deutsch-polnischen Beziehungen tangierten. Polen übernimmt in diesen Jahren eine europäische Vorreiterrolle bei der Überwindung des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa, an der deutsche Katholiken besonderen Anteil genommen haben. Aus katholisch-deutscher Sicht umfassen die Jahre 1965 bis 1987 die Amtszeit der beiden Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Julius Döpfner (1965-1976) und Joseph Höffner (1976-1987). Auf polnischer/vatikanischer Seite soll das Engagement Karol Wojtylas näher betrachtet werden, von seiner Zeit als Erzbischof von Krakau (1964 -1978) bis zu seinen beiden Deutschlandbesuchen als Papst Johannes Paul II. (1978- 2005) in den Jahren 1980 und 1987.
I. 1965: Der Briefwechsel 1965 luden die polnischen Bischöfe Amtsbrüder aus 57 Ländern ein, ein Jahr später zur Millenniumsfeier der Christianisierung nach Polen zu kommen. An die deutschen Bischöfe erging am 18. November 1965 eine besondere Einladung, die den unerwarteten Satz enthielt, der nicht nur die deutschen Bischöfe, sondern aus unterschiedlichen Gründen auch die Gläubigen in beiden
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Ländern und die politische Öffentlichkeit in Bonn, wie in Ost-Berlin und Warschau aufhorchen ließ: „In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung und bitten um Vergebung. Und wenn Sie, deutsche Bischöfe und Konzilsväter, unsere ausgestreckten Hände brüderlich erfassen, dann erst können wir wohl mit ruhigem Gewissen in Polen auf ganz christliche Art unser Millennium feiern.“ 1 Die polnische Einladung stellte die deutschen Bischöfe vor eine schwierige Situation, in der vor allem Improvisation gefragt war. Wegen einer organisatorischen Panne bei der Postzustellung standen für eine Reaktion faktisch nur wenige Stunden zur Verfügung, in denen ohne inhaltliche Vorbereitung, quasi aus dem Stand heraus, eine Antwort formuliert und beschlossen werden musste. Umgehend beauftragte Kardinal Döpfner, der neue Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz 2, den Berliner Bischof Alfred Bengsch mit dem Entwurf eines Antwortschreibens, das der Görlitzer Weihbischof Gerhard Schaffran ergänzte und überarbeitete.3 Darin wurde im Wortlaut auf die polnische Einladung Bezug genommen: „Furchtbares ist von Deutschen und im Namen des deutschen Volkes dem polnischen Volke angetan worden. Wir wissen, dass wir die Folgen des Krieges tragen müssen, die auch für unser Land schwer sind. [...] So bitten auch wir zu vergessen, ja wir bitten zu verzeihen. Vergessen ist eine menschliche Sache. Die Bitte um Verzeihung ist ein Anruf an jeden, dem Unrecht geschah, dieses Unrecht mit den barmherzigen Augen Gottes zu sehen und einen neuen Anfang zuzulassen. [...] Mit brüderlicher Ehrfurcht ergreifen wir die dargebotenen Hände.“ 4 ———— 1
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Botschaft der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Brüder in Christi Hirtenamt vom 18. November 1965, in: Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz, Bd. 1: 1965 -1968, Köln 1998, S. 1-24, hier S. 18. Der Brief ist auch abgedruckt bei Otto B. Roegele, Versöhnung oder Haß? Der Briefwechsel der Bischöfe Polens und Deutschlands und seine Folgen. Eine Dokumentation, Osnabrück 1966, S. 104 -118. Siehe auch Piotr Madajczyk, Annäherung durch Vergebung. Die Botschaft der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Brüder im Hirtenamt vom 18. November 1965, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 40 (1992), S. 223 - 240; Theo Mechtenberg, Briefwechsel polnischer und deutscher Bischöfe 1965. Die Reaktion der Machthaber in der DDR, in: Deutschland Archiv 28 (1995), S. 1146 - 1152. Julius Kardinal Döpfner wurde am 3.12.1965 in Rom als Nachfolger des Kölner Kardinals Josef Frings zum neuen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz gewählt. Siehe dazu Karl-Joseph Hummel, Der Heilige Stuhl, deutsche und polnische Katholiken 1945 -1978, in: Archiv für Sozialgeschichte 45 (2005), S. 165 - 214, hier S. 195 - 206. Gruß und Antwort der deutschen Bischöfe an ihre polnischen Brüder im Hirtenamt vom 5. Dezember 1965, in: Dokumente (vgl. Anm. 1), S. 25 - 34, hier S. 26, 27 und 29. Der Brief ist auch abgedruckt bei O. B. Roegele, Versöhnung (vgl. Anm. 1), S. 96 -103.
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Das Thema der deutsch-polnischen Versöhnung war dem Erzbischof von München und Freising durchaus vertraut. Döpfner (1913-1976) war bereits als Berliner Bischof (1957-1961) einer der Wortführer in der erinnerungskulturellen Vergangenheitsdebatte gewesen. Seine Predigt „Friede zwischen Polen und Deutschland“ zum Hedwigsfest am 16. Oktober 1960 in St. Eduard (Berlin-Neukölln) war der erste Versuch, dabei den Blick von den Konflikten der Vergangenheit auch auf die Aufgaben für eine gemeinsame Zukunft zu lenken, der aber noch keine bemerkenswerte öffentliche Wirkung erreichte. Döpfner betonte damals, es könne nicht Aufgabe eines Bischofs sein, politische Pläne zu entwickeln, gleichwohl stieß er mit seiner Predigt weitreichende politische Entwicklungen an, als er dem deutschen Volk dringend riet, sich drei Punkte einzuprägen: „1. Krieg als Mittel zur Neuordnung des Verhältnisses zwischen Polen und Deutschen scheidet von vorneherein aus. [...] 2. Das deutsche Volk kann nach allem, was in seinem Namen geschehen ist, den Frieden nur unter sehr großen Opfern erlangen. [...] Beide Völker müssten völlig darauf verzichten, sich gegenseitig Untaten vorzurechnen [...]. 3. Für die Zukunft ist die Gemeinschaft der Völker und Staaten wichtiger als Grenzfragen.“ 5 Die deutschen Bischöfe waren auch 1965 bestrebt, „Vergebung“ und „Verzeihung“ möglichst von der „Politik“ zu lösen: Die Bereitschaft zu gemeinsamem Gebet, zu caritativer Unterstützung und gegenseitigen Besuchen war 20 Jahre nach Kriegsende ohne Zweifel gewachsen. Für politische Zugeständnisse wie etwa die Zustimmung zu einer kirchlichen Neuordnung in den Oder-Neiße-Gebieten, die Anerkennung eines Heimatrechts der Polen dort oder eine klare Festlegung in der Grenzfrage fühlten sie sich weder zuständig noch kompetent. Genau diese politischen Zugeständnisse, zumindest eine verlässliche Aussage in der Grenzfrage, hatten die polnischen Amtsbrüder – unausgesprochen, selbstverständlich – allerdings erwartet. Bereits in den wenigen Monaten zuvor, im Herbst 1965, hatte sich in der Gleichzeitigkeit von Festhalten an alten Positionen und dem Willen zu einem besseren Neuanfang die komplexe Vielfalt und Störanfälligkeit des deutsch-polnischen Verhältnisses gezeigt. Die Polnische Bischofskonferenz hatte am 1. September 1965 in einem Hirtenbrief zum 20. Jahrestag des Aufbaus „polnischen Kirchenlebens in den West- und Nordgebieten“ an die Neuorganisierung des kirchlichen Lebens durch Kardinal Hlond erinnert. Die dabei verwendete national-polnische Rhetorik veranlasste Kardinal Döpfner zu der seinerseits provozierenden Feststellung, es bestehe leider die ———— 5
Die Predigt wird zitiert nach: Wort aus Berlin. Rundfunkansprachen und Predigten des Bischofs von Berlin Julius Kardinal Döpfner, Bd. 2, Berlin 1961, S. 98 -104.
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Gefahr, dass der polnische Episkopat kirchliche und nationale Gesichtspunkte zu stark identifiziere. Döpfner versuchte in der Folgezeit vergeblich, im persönlichen Gespräch mit Primas Wyszyński in Rom die Wogen wieder zu glätten; die Meinungsverschiedenheiten über die Oder-Neiße-Grenze und den Anspruch Polens auf die deutschen Ostgebiete erwiesen sich zu diesem Zeitpunkt weiterhin als unüberbrückbar. Das Verhältnis der beiden Kardinäle verbesserte sich in den kommenden Jahren nur langsam und war immer wieder in der Gefahr, zurückgeworfen zu werden. Eine Analyse des Briefwechsels zwischen dem Primas und dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz 6 fünf Jahre nach der polnischen Versöhnungsouvertüre macht deutlich, warum das deutsch-polnische Verhältnis zunächst sogar belasteter war als zuvor, warum die Enttäuschung über die ausgebliebene „politische“ Antwort der deutschen Bischöfe dauerhaft anhielt und warum der menschliche Abstand zwischen dem Primas und Julius Döpfner nicht nur mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Generationen, denen beide angehörten, zu erklären ist. Die Erwartung, dass mit dem bischöflichen Briefwechsel alle Probleme des deutsch-polnischen Verhältnisses auf einmal hätten gelöst werden können, wäre nicht sehr realistisch gewesen. Andererseits ist aber auch richtig, dass die deutsch-polnische Annäherung ohne die spektakuläre römische Aktion mit Sicherheit noch schwieriger geworden wäre. Es entsprach durchaus dem Charakter der Entwicklung der vorangegangenen zwei Jahrzehnte seit 1945, dass in den deutsch-polnischen Beziehungen für die kleinen Schritte vorwärts einzelne Menschen verantwortlich waren, Pilger und Wallfahrer, „Menschen der Versöhnung“7, nicht Organisationen oder die Diplomatie. Karol Wojtyla, seit Januar 1964 Erzbischof von Krakau, stand mit seiner Überzeugung: „Nur durch solche Pilger- und Sühnefahrten und andere Bußwerke können wir von Gottes Barmherzigkeit die Annäherung der Völker und Religionen erhoffen“ 8, nicht allein. Die Wallfahrt, die 34 deutsche Katholiken, Mitglieder von Pax Christi, vom 19. bis 24. Mai 1964 ———— 6
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Siehe dazu Hansjakob Stehle, Der Briefwechsel der Kardinäle Wyszyński und Döpfner im deutschpolnischen Dialog von 1970 -1971, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), S. 536 -553. Tadeusz Mazowiecki in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Deutschen Nationalpreises am 14.6.2001. Text im Internet: http://www.nationalstiftung.de/pdf/4_2_ Mazowiecki.pdf (Stand: 4.3.2011). Namentlich nannte Mazowiecki Anna Morawska, Mieczyslaw Pszon, Jan Jozef Lipski, Stanislaw Stomma, Wladyslaw Bartoszewski, Karl Dedecius, Marion Dönhoff, Lothar Kreyssig, Günter Särchen und Reinhold Lehmann. Wojtyla an Günter Särchen, 14.12.1964, Zentralarchiv des Bischöflichen Ordinariats Magdeburg (ZBOM) GS II.
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nach Auschwitz unternahmen, bedeutete im Hinblick darauf einen Durchbruch. Erzbischof Wojtyla begrüßte jeden Einzelnen persönlich mit einem Händedruck und versicherte, „dass durch diese Begegnung eine neue Zeit begonnen habe und die polnischen Katholiken bereit seien, einen neuen Geist der Versöhnung herzustellen.“ 9 Von den „Grundlagen der Normalisierung“ zur „Normalisierung“ und dann zur „Verständigung“ war es ein weiter Weg. Das Wort „Versöhnung“ wird in einem gemeinsamen politischen Dokument der deutsch-polnischen Beziehungen erstmals im November 1989 auftauchen.10 In deutlichem Kontrast zu den deutsch-französischen Beziehungen 11 gab es 1965 zwischen Polen und Deutschen lediglich einen Handelsvertrag (1963), aber noch kein „Freundschaftsabkommen“, wenn man das am 6. Juli 1950 geschlossene Görlitzer Abkommen einmal außer Acht lässt, in dem die beiden volksdemokratischen Bruderstaaten DDR und Polen die Staatsgrenze an der Oder und an der Lausitzer Neiße festgelegt hatten. Zwischen dem Kriegsende und dem Kniefall Willy Brandts vor dem Warschauer Ghettodenkmal am 7. Dezember 1970 lagen immerhin 25 Jahre, in denen kein Bundeskanzler Warschau besucht hatte. Die ersten Botschafter wurden erst 1972 ausgetauscht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es auch kirchlicherseits in Deutschland wie in Polen eine große Bandbreite von Standpunkten gab, unterschiedliche Interessen, Positionen und Einflussmöglichkeiten. Ohne die Initiative des Breslauer Kardinals Kominek (1903-1974), der 1965 die wesentlichen Teile des polnischen Vergebungs-Briefes verfasst hatte, und ohne dessen Unterstützung durch den Krakauer Kardinal Wojtyla (1920-2005) hätte Primas Wyszyński (1901-1981) die Einladung an die deutschen Bischöfe wahrscheinlich nicht mit der ausgestreckten Hand der Vergebung ausgesprochen; in ähnlicher Weise lässt sich auch auf der deutschen Seite beobachten, wie persönliche Erfahrungen und Einstellungen das Engagement für eine Ver———— 9
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Siehe dazu Arkadiusz Stempin, Das Maximilian-Kolbe-Werk. Wegbereiter der deutsch-polnischen Aussöhnung 1960 -1989 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte [VKZG]), Reihe B: Forschungen, Bd. 107), Paderborn u.a. 2006, S. 92- 99, Zitat S. 97. Der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl verabredeten in ihrer Gemeinsamen Erklärung vom 14.11.1989 in einem von 78 Punkten: „Gemäß dem tiefen und seit langem bestehenden Wunsch ihrer Völker werden beide Seiten bei der Entwicklung gemeinsamer, zukunftsorientierter Beziehungen danach streben, die Wunden der Vergangenheit durch Verständigung und Versöhnung zu heilen, sie werden das gegenseitige Vertrauen festigen und gemeinsam eine bessere Zukunft gestalten.“ Vgl. Michael Kißener, Boten eines versöhnten Europa? Deutsche Bischöfe, Versöhnung der Völker und Europaidee nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Heinz Duchhardt/ Malgorzata Morawiec (Hrsg.), Die europäische Integration und die Kirchen. Akteure und Rezipienten (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beihefte, Bd. 85), Göttingen 2010, S. 53 -72.
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besserung der Beziehungen zu Polen beeinflussten.12 So entwickelte sich etwa zwischen Karol Wojtyla und den beiden Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Döpfner und Höffner über die Jahre in vorsichtigen Schritten, aber jeweils von beiden Seiten aus und stetig, eine belastbare, schließlich freundschaftliche persönliche Beziehung.
II. Vatikanische Ostpolitik 1965-1976 Als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz hatte Kardinal Döpfner nicht nur mit der Aufarbeitung der historischen Belastungen zu kämpfen, sondern auch mit den aktuellen Irritationen, die von der neuen vatikanischen Ostpolitik ausgingen, wie sie Papst Paul VI. und sein „Außenminister“ Agostino Casaroli für richtig hielten. Zwischen der Deutschen Frage und den deutsch-polnischen Konfliktfeldern bestand selbst dann ein unmittelbarer Zusammenhang, wenn man versuchte, die politischen Angelegenheiten und die Fragen der Seelsorge voneinander zu trennen. Der Vatikan stand bei den meisten dieser Probleme vor einer dreidimensionalen Schwierigkeit: er musste die ihm von Polen und Deutschland vorgetragenen, meist gegensätzlichen Wünsche berücksichtigen, die möglichen Auswirkungen vatikanischer Entscheidungen auf deren gegenseitige Beziehungen beachten und die Folgen für das jeweilige deutsch-vatikanische bzw. polnisch-vatikanische Verhältnis in die Entscheidungsfindung einbeziehen. Nur selten konnten die Vorstellungen beider Seiten gleichzeitig erfüllt werden wie im Oktober 1966, als Dieter Sattler, deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl, erfuhr, Erzbischof Bengsch von Berlin könne beim nächsten Konsistorium zum Kardinal ernannt werden, wenn „gleichzeitig ein Pole den Roten Hut erhält. [...] Erzbischof Kominek steht wohl nicht mehr auf der Kandidatenliste, wohl der Erzbischof von Krakau.“ 13 Tatsächlich wur———— 12
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Auf deutscher Seite waren neben den beiden Vorsitzenden Döpfner und Höffner und, als treibender Kraft, dem Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Josef Homeyer, z.B. die Bischöfe Stimpfle (Augsburg), Hengsbach (Essen), Volk (Mainz), Moser (Stuttgart-Rottenburg) und Weihbischof Tewes (München und Freising) besonders engagiert. Notiz des Berliner Generalvikars Walter Adolph nach einem Gespräch mit dem Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl, Dieter Sattler, vom 24.10.1966, in: Martin Höllen, Loyale Distanz? Katholizismus und Kirchenpolitik in SBZ und DDR – Ein historischer Überblick in Dokumenten, Bd. 3: 1966 bis 1990, hier 1. Teilband: 1966 bis 1976, Berlin 1998, Dok. 592, S. 33. Siehe auch ebd., S 63f.
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den Karol Wojtyla und Alfred Bengsch am 26. Juni 1967 gemeinsam in das Kardinalskollegium aufgenommen.14 Bengsch hatte bereits im Herbst 1966 auf ein politisches Junktim aufmerksam gemacht, das sich wenige Jahre später – wenn auch in umgekehrter Richtung – in einem Dominoeffekt auswirken sollte: „Sollten in der DDR Schritte erforderlich sein, so wäre mit zu überprüfen, ob nicht auch in den polnisch besetzten Gebieten zugleich eine wenigstens vorläufige Lösung gefunden werden kann. Es erscheint mir notwendig, daß bei allen Überlegungen beide Gebiete im Blick behalten werden, dies schon deshalb, weil ja die Bundesrepublik für beide Gebiete auf die Geltendmachung ihrer konkordatär festgelegten Rechte verzichten müßte.“ 15 Nach einer Unterredung im vatikanischen Staatssekretariat hatte Bengsch diesen Gedanken sogar als offiziellen Vorschlag unterbreitet: Sollte sich die Möglichkeit ergeben, in den polnischen Westgebieten Apostolische Administratoren einzusetzen, „halte ich es für notwendig, dasselbe gleichzeitig in den ostdeutschen Jurisdiktionsgebieten zu tun. [...] Auch ich würde eine Änderung für die ‚DDR‘ allein nicht befürworten. [...] Wenn aber in den westpolnischen Gebieten Administratoren eingesetzt werden, ergibt sich eine andere Lage.“ 16 Als daraufhin „offenbar in den Bonner Ministerien unnötige Unruhe hervorgerufen“ wurde, schrieb Bengsch im April 1967 an Nuntius Bafile, er sei auch mit einer anderen Regelung einverstanden. „Wichtig ist nur, wie mir scheint, daß alles, was nicht mehr von den westdeutschen Ordinarien veranlaßt oder getragen werden kann, von der Autorität des Heiligen Stuhles veranlaßt oder getragen wird.“ 17 Nach 1969 spielte die Vertragspolitik der sozial-liberalen Bundesregierung Brandt/Scheel dem Vatikan das damals entscheidende Argument zu, in Bezug auf die Gebiete östlich der Oder und Neiße einen wichtigen Schritt weiterzugehen. Nach Unterzeichnung und Ratifizierung des Warschauer Vertrags 18 reagierte Rom binnen drei Wochen – und errichtete vier neue polnische Diözesen.19 In einer vatikanischen Erklärung 20 wurde zur Be———— 14 15 16
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Kominek wurde 1973 zum Kardinal ernannt. Bengsch an Bafile, 31.10.1966, S. 4, Diözesanarchiv Berlin (DAB) V/5-7-1. Promemoria im Anschluss an die Unterredung von Bengsch im Vatikanischen Staatssekretariat am 28.2.1967, S. 3, DAB V/5-7-1. Bengsch an Bafile, 18.4.1967, DAB V/5-7-1. Der Vertrag wurde am 7.12.1970 unterzeichnet und am 17.5.1972 vom Deutschen Bundestag ratifiziert. Über die Neuordnung der kirchlichen Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Grenze entschied der Heilige Stuhl am 28.6.1972. Vgl. dazu Rudolf Morsey, Die Haltung der Bundesregierung zur vatikanischen Ostpolitik in den früheren Ostgebieten des Deutschen Reiches 1958 -1978, in: Karl-Joseph Hummel (Hrsg.), Vatikani-
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gründung auf pastorale Notwendigkeiten hingewiesen. In Rom hieß es damals, man beabsichtige weiterhin keine endgültigen Regelungen vor einem noch zu schließenden Friedensvertrag zu treffen, aber eine vatikanische Reaktion auf die Ratifizierung des Warschauer Vertrages sei unausweichlich notwendig gewesen, schließlich könne man in Rom nicht deutscher sein als die Deutschen selbst. Die vor dieser Entscheidung nicht konsultierte Deutsche Bischofskonferenz tat sich freilich schwer, gerade diese Begründung als ausschlaggebend zu akzeptieren.21 Kardinal Döpfner erklärte am 29. Juni 1972 vor der Presse: „Der Hl. Stuhl übt seit langem die Praxis, dass die Änderungen von Bistumsgrenzen erst erfolgen, nachdem in völkerrechtlich definitiver Weise neue Staatsgrenzen feststehen, andererseits muss die Kirche bei der Festlegung von Bistumsgrenzen vor allem pastorale Erwägungen berücksichtigen, wie es lt. Presseerklärung des Hl. Stuhles auch bei der Neuregelung der Diözesen in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße der Fall gewesen ist. Die Deutsche Bischofskonferenz respektiert die aufgrund pastoraler Motive erfolgte Entscheidung des Hl. Stuhles. Zudem weiß sie um die Belastungen, denen sich der Hl. Stuhl in dieser Frage seit fast drei Jahrzehnten ausgesetzt sah. Nunmehr ist die Lage entstanden, die es nach Meinung des Hl. Stuhles nicht mehr erlaubt, sich weiterhin dem verständlichen Drängen der polnischen Bischöfe und Katholiken zu versagen. [...] Die Deutsche Bischofskonferenz hofft schließlich, dass der am Ende des 2. Vatikanums begonnene Dialog zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen sich nunmehr frei entfalten kann.“ 22 Kritiker dieser Entscheidung wiesen darauf hin, dass die vatikanische Neuregelung nur die Anpassung im Westen Polens vorgenommen, die „übrigen Grenzen“ Polens aber nicht berücksichtigt habe. Corrado Bafile, seit 1960 Apostolischer Nuntius in Deutschland, versicherte, bei ihm fänden die Kritiker Respekt und Anteilnahme. Gleichzeitig warb er um Verständnis für den Heiligen Stuhl, der verpflichtet sei, zunächst und vor allem die Seelsorge optimal zu gewährleisten. Von polnischer Seite seien in den vergangenen ———— 20
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sche Ostpolitik unter Johannes XXIII. und Paul VI. 1958-1978, Paderborn u.a. 1999, S. 31-78, hier S. 75. Die vatikanische Verlautbarung zur Neuordnung der Gebiete östlich von Oder und Neiße vom 28.6.1972 hat sich folgerichtig ausdrücklich auf den deutsch-polnischen Vertrag bezogen. Die Dokumentation „Die kirchenrechtliche Neuordnung in den Oder-Neiße-Gebieten“ (EuropaArchiv, Folge 16, 1972, D 384-386) enthält die Verlautbarung des Vatikans vom 28.6.1972, die Erklärung des Leiters des vatikanischen Pressesaales Federico Alessandrini vom 28.6.1972, die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 28.6.1972 und die Erklärung von Kardinal Döpfner namens der Deutschen Bischofskonferenz vom 29.6.1972. Vgl. dazu auch das Interview von Kardinal Boleslaw Kominek in „Tygodnik Powszechny“ vom 26.8.1973, Nr. 34. Druck: Amtsblatt der Erzdiözese Freiburg, 28.7.1972, Nr. 91, S. 92f.
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Jahren immer wieder schwere Vorwürfe erhoben worden, Rom lasse sich zu sehr von politischen Erwägungen leiten und ablenken. „In der Tat“, schrieb der Nuntius, „wäre es für die polnischen Katholiken unverständlich gewesen, wenn der Heilige Stuhl sich in der neuen Situation länger geweigert hätte, den polnischen Bischöfen in ihrem Willen zur inneren Festigung der Kirche beizustehen. Das jetzt entstandene Mißverständnis bezüglich der päpstlichen Anordnung besteht hauptsächlich darin, daß die Errichtung der neuen Diözesen und die Ernennung der Bischöfe als ein Akt nicht so sehr kirchlicher oder pastoraler als vielmehr politischer Natur aufgefaßt wird, d.h. als politische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Eine solche Auffassung ist jedoch nicht gerechtfertigt. Der Heilige Stuhl hat mit seiner Anordnung keine Anerkennung politischer Art ausgesprochen: das wäre auch gar nicht seine Aufgabe gewesen. Der Heilige Stuhl hat vielmehr eine Maßnahme kirchlicher Natur in einer Angelegenheit seiner Zuständigkeit getroffen und sich dazu erst entschieden, nachdem die Grenzlinie an der Oder-Neiße zwischen den beteiligten Staaten als unverletzlich erklärt worden war.“ 23 Auf den Vorwurf, der Heilige Stuhl habe zwar die Bistumsgrenzen an die Oder-Neiße-Grenze angepasst, in Bezug auf die „Diözesen, die an den übrigen Grenzen Polens liegen,“ aber nichts dergleichen getan, antwortete Bafile: „Demgegenüber ist geltend zu machen, daß derartige Probleme sich nicht mittels schematischen Vorgehens lösen lassen, unabhängig von den realen Bedürfnissen der Seelsorge. Es ist doch so: während für die Gebiete jenseits der Oder-Neiße seit Jahren eine Neuordnung der Diözesen nachdrücklich verlangt wurde, liegt ein ähnliches Anliegen betreffs der Gebiete entlang der übrigen polnischen Grenzen im allgemeinen nicht vor. Außerdem sind in den Gebieten jenseits dieser letztgenannten Grenzen die gegenwärtigen Verhältnisse nicht gerade günstig für eine neue Organisierung der Seelsorge.“ 24 Die Neuregelung in Polen hatte eine wichtige Signalwirkung für die Politik der vielen kleinen Schritte der vatikanischen Ostpolitik der 1970er Jahre in der DDR. Mit der in der Verlautbarung vom 28. Juni 1972 errichteten Apostolischen Administratur Görlitz, die aus dem Gebiet der Erzdiözese Breslau ausschied, hatte der Vatikan erstmals in einem kirchenrechtlichen Akt von der Deutschen Demokratischen Republik Kenntnis genommen. Nach dem Inkrafttreten des Grundlagenvertrags im Sommer 1973 25 verstärkte sich der Druck auf den Vatikan und die katholischen Bischöfe. Nun ———— 23
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Corrado Bafile, Apostolische Nuntiatur in Deutschland, Bonn-Bad Godesberg 31.7.1972, 7 Seiten (Archiv der Kommission für Zeitgeschichte (AKZG), Sammlung Osterheld), S. 2. Ebd., S. 5.
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wollte die DDR auch kirchenpolitisch als souveräner Staat behandelt werden. Dabei ging es erstens um die Forderung nach einer vollständigen kirchenrechtlichen Trennung der Kirche in den beiden Teilen Deutschlands, zweitens um die Errichtung einer Diözese auf dem Gebiet der DDR, drittens um die Einrichtung einer eigenen Bischofskonferenz und schließlich viertens um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der DDR zum Vatikan. In einem ersten Schritt ernannte Papst Paul VI. am 14. Juli 1973 die Bischöflichen Kommissare von Erfurt, Schwerin und Magdeburg, Hugo Aufderbeck, Heinrich Theissing und Johannes Braun, zu Apostolischen Administratoren und den Bischöflichen Kommissar von Meiningen, Karl Ebert, zum Weihbischof von Erfurt.26 Dadurch wurde „die Jurisdiktion der Ordinarien von Fulda, Würzburg, Paderborn, Hildesheim und Osnabrück für ihre in der Deutschen Demokratischen Republik gelegenen Diözesananteile suspendiert.“ 27 Der zweite Schritt, die Errichtung der Berliner Bischofskonferenz, sollte 1976 erfolgen. Kardinal Döpfner sah darin eine klare Verschiebung des Status quo in Richtung einer kirchenrechtlichen Anerkennung der DDR, blieb mit seinen Bemühungen, dies zu verhindern, aber erfolglos. Nach dem überraschenden Tod Kardinal Döpfners am 24. Juli 1976 wählte die Deutsche Bischofskonferenz am 22. September 1976 Joseph Kardinal Höffner zu ihrem neuen Vorsitzenden. Der Heilige Stuhl nahm terminlich gerade noch Rücksicht auf die Bundestagswahl am 3. Oktober 1976, ließ sich danach aber nicht davon abhalten, die Berliner Ordinarienkonferenz am 26. Oktober 1976 in die „Berliner Bischofskonferenz“ umzuwandeln. Die offizielle Begründung lautete: „Die Errichtung der Berliner Bischofskonferenz entspricht Bedürfnissen, die kirchlicher Natur sind.“ 28 In der knappen Stellungnahme der deutschen Bischöfe hieß es dazu mit einem deutlich resignativen Unterton: „Die Deutsche Bischofskonferenz versteht diese kirchenrechtliche Verselbständigung der Berliner Ordinarienkonferenz nicht als Trennung, sondern sie weiß sich mit ihren bischöflichen Mitbrüdern in der DDR auch fernerhin eng verbunden. [...] Die seelsorglichen Erwägungen, die den Heiligen Stuhl veranlaßt haben, die genannte Maßnahme zu treffen, sind in der heute vom Presseamt des Heiligen Stuhls ———— 25
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Am 21.12.1972 unterzeichneten Egon Bahr und Michael Kohl in Ost-Berlin den Grundlagenvertrag. Der Bundestag ratifizierte den Vertrag am 11.5.1973, die Volkskammer am 13.6.1973. Siehe die Meldung in KNA, Das Portrait, Nr. 28 - 31, 24.7.1973. Bengsch an die Regierung der DDR, 23.7.1973, DAB V/5-7-2. Erklärung des Apostolischen Stuhls vom 26.10.1976. Abdruck in: Gerhard Lange u.a. (Hgg.), Katholische Kirche Sozialistischer Staat DDR. Dokumente und öffentliche Äußerungen 1945-1990, Leipzig 1992, S. 281- 283.
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veröffentlichten Erklärung dargelegt. Die Deutsche Bischofskonferenz verweist auf diese Erklärung.“ 29
III. Deutschland, Polen und der Vatikan 1965 -1973 Neben Boleslaw Kominek gehörte vor allem Karol Wojtyla 1965 zu den polnischen Bischöfen, die intern dafür geworben hatten, dass der polnische Vergebungs-Brief zustande kam. Zurück in Polen hatte sich Wojtyla wie alle Unterzeichner dafür bei staatlichen Stellen zu rechtfertigen, die diese Erklärung von ausländischem Boden aus, in der Polen Deutsche um Vergebung baten, wo es nichts zu vergeben gab, für Kompetenzanmaßung, Landesverrat und Beeinträchtigung polnischer Interessen hielten. Die polnische Propaganda hatte sich damals als ein Element ihrer Kampagne einen „Offenen Brief“ der Arbeiter der Sodafabrik in Krakau ausgedacht, der am 22 Dezember 1965 in der Tageszeitung „Krakowska Gazeta“ erschien. Die Arbeiter äußerten in diesem Schreiben ihre tiefe Enttäuschung darüber, dass die Bischöfe im Namen des polnischen Volkes Erklärungen abgegeben hätten, zu denen sie nicht befugt gewesen seien. Besonders enttäuscht seien sie über die Unterschrift von Wojtyla, der „während der NaziOkkupation ein Arbeiter unserer Fabrik“ 30 gewesen sei. In seinem Antwortschreiben, das damals nur in der Untergrundpresse zirkulierte, erklärte Wojtyla: „Als wir während der Okkupation zusammen arbeiteten, hat uns vieles verbunden, vor allem die Achtung vor den Menschen, vor dem Gewissen, der Individualität und der sozialen Würde. Das habe ich überreichlich von den Arbeitern bei Solvay gelernt; diese grundlegenden Prinzipien aber kann ich in dem offenen Brief nicht entdecken.“ Und außerdem sei es in einer so langen und verwickelten Geschichte, wie sie Deutschland und Polen verbinde, undenkbar, dass die „Menschen nicht Grund haben, sich gegenseitig um Verzeihung zu bitten.“ 31 Bei seiner Vorladung am 1. Februar 1966 wies Wojtyla die Einschätzung zurück, es handele sich bei dem Vergebungs-Brief um ein politisches Dokument und bezeichnete die Botschaft als „großes, erfolgbringendes Werk. [...] Die deutschen Bischöfe wurden gezwungen, sich zur Schuld zu bekennen. Dies ist ein Ausdruck dessen, dass sich die Deutschen überhaupt zu ———— 29
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Presseerklärung der Deutschen Bischofskonferenz vom 26.10.1976, Druck: M. Höllen, Loyale Distanz? (vgl. Anm. 13), Dok. 832, S. 395f. Zitat in: George Weigel, Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II., Paderborn 2002, S. 187f. Ebd., S. 188.
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den an der polnischen Nation begangenen Verbrechen bekannten. Dies hat niemand im Laufe der ganzen 20 Jahre geschafft. Wir spielten die Rolle eines Beichtvaters, so wie wir das im Beichtstuhl mit dem Sünder tun.“ 32 In diesen Wochen gab der protestantische deutsche Außenminister Gerhard Schröder (CDU) dem deutschen Botschafter beim Hl. Stuhl die Weisung: „Ich bitte Sie, bei Ihren Gesprächen das besondere Interesse Deutschlands an einem gerechten Ausgleich mit den Völkern Osteuropas, vor allem mit dem polnischen Volk, zum Ausdruck zu bringen. Für jede Hilfe in dieser Richtung sind wir dem Hl. Stuhl dankbar.“ 33 Polen stand von da an und für die nächsten 25 Jahre mit hoher Priorität auf der politischen Tagesordnung in Deutschland. Die vatikanische Entscheidung von 1972, vier neue polnische Diözesen einzurichten, hatte eine lange währende Hängepartie zugunsten der polnischen Wünsche entschieden. Der polnische Primas warb in einem persönlichen Brief an Kardinal Döpfner dafür um Verständnis, wich in der Sache aber keinen Zentimeter mehr zurück: „Wir verstehen die Trauer der deutschen Katholiken, die aus polnischen Gebieten stammen, die Trauer, die durch die letzten päpstlichen Entscheidungen verursacht wurde. Mit der Zeit wird dieser Schmerz nachlassen. Ich spreche Ew. Eminenz mein Mitgefühl aus zu den Unannehmlichkeiten, die Ew. Eminenz von einigen eigenen Gläubigen erfahren hat. [...] Wenn man sagt, dass den deutschen Umsiedlern ein Schaden zugefügt wurde, dann muss man auch daran denken, dass unsere Landsleute und unsere Umsiedler aus dem Osten noch größeres Leid erduldet haben. Daran müssen sowohl die Politiker wie auch die deutschen Katholiken denken. [...] Mögen Ew. Eminenz des brüderlichen Gedenkens im Gebet und meiner Verehrung versichert sein.“ 34 Der polnische Primas bedankte sich insbesondere auch für eine öffentliche Äußerung Kardinal Döpfners in seiner Funktion als Präsident von Pax Christi anlässlich des Empfangs einer siebenköpfigen ZNAK-Delegation 35 am 13. Juni 1972 in München: „Zweifellos hat diese öffentliche Erklärung Ew. Eminenz dem Hl. Vater die Regelung der kirchlichen Beziehungen in den betreffenden Diözesen erleichtert.“ 36 ———— 32
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Zitiert nach Wolfgang Grycz, Geheime Dokumente geben Aufschluß: Die Versöhnungsbotschaft der polnischen Bischöfe – und die Quittung des Staates, in: Ost-West-Informationsdienst des Katholischen Arbeitskreises für zeitgeschichtliche Fragen (1995), Nr. 187, S. 58 -72, hier S. 65. Schröder an Sattler, 21.3.1966, in: Michael F. Feldkamp (Hrsg.), Die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zum Heiligen Stuhl 1949-1966. Aus den Vatikanakten des Auswärtigen Amts. Eine Dokumentation, Köln u.a. 2000, Dok. 215, S. 506 -509, Zitat S. 506f. Schreiben vom 26.8.1972, AKZG, Vatikanische Ostpolitik, Sammlung Hummel.
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Vom 23. bis 27. Oktober 1973 besuchte Kardinal Döpfner in Begleitung des Sekretärs der Deutschen Bischofskonferenz erstmals Polen.37 Die Reise habe, resümierte die KNA, spürbar gemacht, „dass zwischen der Kirche in Polen und Deutschland keine Eisbarrieren mehr stehen. Sie ließ erfahren, dass im katholischen Polen der innige Wunsch besteht zu guter Nachbarschaft, zur Überwindung der Vergangenheit und dass auch das Verständnis zu finden ist für die Sorgen der Kirche in Deutschland, insbesondere auch für die Millionen Deutschen, die ihre Heimat verloren haben.“ 38
IV. 1977: Die erste Polenreise Kardinal Höffners Primas Wyszyński war sehr daran gelegen, den neuen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz bald nach seiner Wahl in Polen begrüßen zu können, um mit ihm eine ganze Liste anstehender Probleme zu besprechen. Anlässlich der Erinnerungsfeierlichkeiten zu Ehren des Hl. Adalbert, der 997 im Land der Pruzzen den Märtyrertod gefunden hatte, reiste Kardinal Höffner vom 23. bis 27. April 1977 erstmals nach Polen.39 Höffner besuchte bei dieser Gelegenheit auch das Kloster Niepokalanow, in dem Maximilian Kolbe bis zu seiner Verhaftung gelebt hatte, das Vernichtungslager Auschwitz und in Krakau Karol Wojtyla. Das ohnehin kritische Medienecho 40 auf diese Reise wäre sicher noch negativer ausgefallen, wäre die Öffentlichkeit damals über den Verlauf der Gespräche genauer informiert worden. Der Sekretär der Deutschen Bi———— 35
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Die polnische Laien-Organisation ZNAK (1956 -1976) entstand auf der Grundlage des „Klubs der katholischen Intelligenz“. Im Sejm wurde die Gruppe u.a. durch Stanislaw Stomma oder Tadeusz Mazowiecki repräsentiert. Wyszyński stand mit dieser Ansicht nicht allein. „Als Stimulans hat auch eine Rede Döpfners gewirkt, in der auf eine Lösung gedrängt wurde“, schrieb die FAZ am 29.6.1972 in einem Bericht aus Rom. Die Deutsche Tagespost berichtete am 30.6.1972: „In kirchlichen Kreisen Bonns wird vermutet, dass sich Erzbischof Casaroli, der vatikanische ‚ Außenminister‘, durch die Ansprache des Präsidenten des deutschen Zweiges der internationalen Pax-Christi-Bewegung, Julius Kardinal Döpfner beim Empfang der polnischen ZNAK-Gruppe am 13. Juni in München zu der jetzt getroffenen Neuordnung der ehemaligen deutschen Ostgebiete ermutigt fühlte.“ Die Wallfahrt führte auf Einladung des Primas, des Erzbischofs von Krakau und der Polnischen Bischofskonferenz nach Warschau und Gnesen, nach Posen, zum Grab der Hl. Hedwig in Trebnitz, nach Breslau und Krakau. Nach Auschwitz wurde Döpfner von Karol Wojtyla begleitet. Über das Marienheiligtum Tschenstochau führte die Reiseroute zurück nach Warschau. So Oskar Neisinger in einer ausführlichen Reportage, in: KNA, Die Reportage, Nr. 10, 31.10.1973, S. 1- 4. Die Reise führte nach Warschau, Gnesen, Tschenstochau, Auschwitz, Breslau und Trebnitz.
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schofskonferenz empfand zwar „insgesamt Herzlichkeit und Offenheit“ auf polnischer Seite, spürte aber auch „verdeckten Argwohn und eigenartige Penetranz in der Durchsetzung eigener Meinungen, die doch ein gewisses Misstrauen verrät.“ 41 Den Vorschlag von Prälat Homeyer, den Reisebericht allen Bischöfen zuzustellen, machte sich der Vorsitzende rücksichtshalber nicht zu eigen und notierte auf dem Vermerk: „a) ein allen Bischöfen übersandter Bericht ist publik b) deshalb nur einen ‚harmlosen‘ Auszug zusenden c) ausführlicher kann der mündliche Bericht auf der nächsten Sitzung des Ständigen Rates sein d) Dankesbrief an Primas und Bischöfe.“ 42 Die Gespräche der Bischöfe kreisten bei diesem Besuch zunächst um eine ganze Reihe von Einzelproblemen der Seelsorge 43 in beiden Ländern, der Kriegsgräberfürsorge, sowie der Heimatvertriebenen 44 und ihrer Verbände.45 Kardinal Höffner überbrachte die Bitte des Ratsvorsitzenden der EKD Claß, die katholische Kirche in Polen möge auf die evangelische Kirche einwirken, um diese von der intensiven Zusammenarbeit mit der kommunistischen Regierung abzubringen.46 Der Primas bedauerte seinerseits sehr, dass in den deutschen Medien so wenig adäquat über die Kirche in Polen im allgemeinen und seine Person im speziellen berichtet werde, und verwies dabei „ein wenig bitter“ auf negative Berichte in der Deutschen Soldatenzeitung „vor etwa 20 Jahren“. Die Berichte in KNA seien nicht präzise, häufig sogar falsch und würden außerdem nicht einmal in der Kirchenpresse in wünschenswertem Maße veröffentlicht. Im Februar 1977 seien im „Rheinischen Merkur“ – alle unter ———— 40
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Das Medienecho wurde durch den innenpolitischen Streit um die Ostpolitik bestimmt. Wortführer waren der Presse-Korrespondent Gert Baumgarten, Klaus Bednarz im Evangelischen Sonntagsblatt und der Deutschlandfunkjournalist Heribert Schwan. Kardinal Höffner wurde vorgeworfen, er habe statt „der tiefen Kluft zwischen Polen und Deutschen“ „tiefe Verbundenheit“ empfunden und es an einer „spontanen Geste demonstrativer Brüderlichkeit“ wie z.B. einer Äußerung zur Westgrenze Polens vermissen lassen. Sein Aufenthalt in Auschwitz habe lediglich 25 Minuten gedauert; außerdem habe er es versäumt, sich in das dortige Gedenkbuch einzutragen. Vgl. dazu KNA, Informationsdienst, Nr. 19, 5.5.1977: Höffner in Polen: Missdeutungen. Vermerk Dr. Homeyers, 28.4.1977, AKZG, Vatikanische Ostpolitik, Sammlung Hummel. Handschriftliche Anmerkung Kardinal Höffners auf dem Vermerk Dr. Homeyers. Z.B. um Probleme der polnischen Priester in der deutschen Seelsorge, um deutschsprachige Gottesdienste in Polen, um eine Besuchserlaubnis für einen katholischen oder evangelischen Geistlichen für den inhaftierten ehemaligen Gauleiter Erich Koch. Z.B. um Status und Kompetenz des polnischen Delegaten in Deutschland und um die Zuständigkeit der Apostolischen Visitatoren. Der Primas nannte als Beispiel, die Bischöfe von Danzig und Ermland hätten Angst, am 29.6.1977 zu der Seligsprechung der Dorothea von Montau nach Münster zu kommen, weil dort auch eine Ansprache von Herbert Czaja vorgesehen sei. Zu einer rein kirchlichen Veranstaltung würden die Bischöfe selbstverständlich kommen. Der Primas hielt dies für aussichtslos.
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Pseudonym – drei Aufsätze über die Kirche in Polen erschienen, die schlicht falsch seien, zwei von Jürgen Wahl, einer von Reinhold Lehmann. Der Primas trug noch zwei weitere dringende Bitten vor. Zunächst: Die Deutsche Bischofskonferenz möge eine Gelegenheit suchen, zu betonen, dass die polnischen Bischöfe als erste einen Beitrag zur Versöhnung geleistet hätten. „Dies hält man für notwendig, da der Antwortbrief der deutschen Bischöfe auf das Versöhnungsschreiben des polnischen Episkopates während des Konzils sehr schwach gewesen sei und dies noch immer im Volk (und im Episkopat!) lebendig sei.“ Zweitens: Offenbar ernsthaft zu einem Gegenbesuch in der Bundesrepublik Deutschland entschlossen, bat der Primas „insbesondere für eine solche Einladung unbedingt einen religiösen Anlass zu finden, um seitens der Regierung keinerlei Mißdeutungen aufkommen zu lassen.“ Die größten Differenzen zeigten sich in dem Bereich der finanziellen und wirtschaftlichen Unterstützung. Weihbischof Dabrowski lehnte es rundweg ab, zu einzelnen Projekten des Europäischen Hilfsfonds Stellung zu nehmen, und verbat sich, dass die Ostpriesterhilfe von P. Werenfried van Straaten an den polnischen Bischöfen vorbei Projekte fördere. „Manche Pfarrer zitterten bereits, von der Ostpriesterhilfe eine Zusendung zu erhalten, da dies Verfolgung seitens der Behörden bedeute.“ Die polnischen Bischöfe stellten schließlich einen für die deutsche Seite wenig schmeichelhaften Vergleich der Lage der beiden Kirchen an: Die Situation der Kirche in Polen sei zunehmend durch Erscheinungen des Säkularismus beeinflusst wie Alkoholismus, Abtreibungen und Ehescheidungen, die eine „ungleich größere Gefahr“ darstellten als der Kommunismus. Der Eindruck, den polnische Studentenseelsorger bei einem Besuch in Deutschland gewonnen hätten, sei aber noch viel besorgniserregender: „Ist der Klerus in Deutschland nicht zu sehr verbeamtet, gesichert? Wird noch genügend gebetet? Sieht er noch die fundamentalen Aufgaben der Seelsorge: Glauben zu erwecken, Anbetung, Christusnachfolge, Marienfrömmigkeit? Sind das seine Anliegen bei Religionsunterricht, Katechese, bei den Hausbesuchen, bei der Verbandsarbeit, bei der Bildungsarbeit?“ 47 Abschließend fand man in dem Entwurf einer gemeinsamen Erklärung „Ein Wort zu Europa“ wenigstens einen wichtigen Punkt, in dem man übereinstimmte. Der Primas schlug vor, diesen Entwurf während der Bischofssynode im Oktober 1977 in Rom weiter zu erörtern. ———— 47
Homeyer notierte an dieser Stelle nachdenklich: „Müsste nicht über diese Fragen bei uns mehr nachgedacht werden?“ Vermerk Dr. Homeyer, 28.4.1977, AKZG, Vatikanische Ostpolitik, Sammlung Hummel.
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V. 1978: Der Besuch des Primas 1978 plante Karol Wojtyla, gemeinsam mit Mutter Teresa und dem Münchener Kardinal Joseph Ratzinger am 85. Katholikentag, der unter dem Motto: „Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben“ vom 13. bis 17. September 1978 in Freiburg stattfand, teilzunehmen, und in der „Nacht des Wachens“ über Geistliche Berufe zu sprechen.48 Nach verschiedenen organisatorischen Anläufen wurde der ursprünglich parallel zum Katholikentag geplante erste Besuch einer polnischen Bischofsdelegation in der Bundesrepublik Deutschland schließlich auf den 20.-25. September 1978 festgelegt. Wojtyla zog seine Zusage für Freiburg daraufhin wieder zurück. Die polnischen Bischöfe legten Wert darauf, dass es sich bei ihrem ersten Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland um eine Pilgerreise handele. „Wir sind eine Delegation des polnischen Episkopats, die einen Gegenbesuch der Deutschen Bischofskonferenz abstattet. Wir kommen hierher ohne alle politischen Absichten.“ 49 Dieser Besuch war unter protokollarischen Gesichtspunkten eine große Geste. Die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Wenn der Primas von Polen, ein Kirchenmann von europäischem Rang, eine Symbolfigur für geistigen Widerstand gegen ideologische Unfreiheit, einen offiziellen Besuch bei der Kirche des deutschen Nachbarlandes im Geiste christlicher Versöhnung abstattet, dann setzt er eine unübersehbare Marke auch in der politischen Geschichte unserer beiden Völker.“ 50 Primas Wyszyński hatte von 1945 bis zu diesem Tag Polen ausschließlich verlassen, um den Vatikan und Italien zu besuchen, und kam jetzt bei seiner ersten „Auslandsreise“ ausgerechnet in die Bundesrepublik Deutschland. Bei der Reisedramaturgie hatten beide Seiten peinlich genau darauf zu achten, dass dieser Besuch zu einem Besuch des Primas wurde. Der Erzbischof von Krakau, der seit dem Tod von Kardinal Kominek 1974 immer deutlicher die Rolle des Meinungsführers in der Gruppe der jüngeren polnischen Bischöfe übernommen hatte, musste sich in diesen Tagen bewusst im Hin———— 48
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Unter den Teilnehmern in Freiburg war der Vorsitzende der katholischen Vereinigung Znak Stanislaw Stomma; Bischof Jerzy Stroba (Stettin / Kamin) war einer der Zelebranten beim Abschlußgottesdienst. Polen und Bayern. Ansprache Kardinal Wyszyńskis im Münchener Dom am 23.9.1978, in: Stimmen der Weltkirche (Begegnungen der Konferenz des polnischen Episkopats mit der Deutschen Bischofskonferenz in Deutschland im September 1978. Dokumentation der Predigten und Ansprachen) 4 (1978), S. 43f., Zitat S. 44. Zitiert nach Oskar Neisinger, Stefan Cardinal Wyszyński – Karol Cardinal Wojtyla. Begegnungen in Deutschland, Würzburg 1978, S. 91.
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tergrund halten. Insofern erscheint sein Anteil im Rückblick geringer, als er tatsächlich gewesen ist. Auch dieser Besuch begann zunächst noch in den alten Bahnen. Die vertrauten Themen der Vergangenheit wirkten immer noch wie eine nicht abgelöste Hypothek.51 Ohne das Vorbild Kardinal Döpfners wäre damals wahrscheinlich noch keine neue Qualitätsstufe der deutsch-polnischen (Kirchen-)Beziehungen erreicht worden. Kardinal Wojtyla erinnerte verschiedentlich an den Verstorbenen, der „Gott auf dem Wege der Annäherung an die Kirche in Polen und an unser Volk suchte, nach den Schreckenserfahrungen des Zweiten Weltkrieges.“ 52 „Unsere Kirchen haben die Pflicht“, so Primas Wyszyński, „das Zusammenleben und die Zusammenarbeit der Nationen auf den Grundprinzipien der christlichen Sittenlehre aufzubauen. Man kann nicht immer in die Vergangenheit zurückblicken, obwohl man sich ihrer erinnern muss, um keine Fehler zu wiederholen.“ 53 Kardinal Höffner äußerte seine „tiefe Hoffnung und Überzeugung, dass der Besuch des Primas von Polen bei uns in Deutschland der Ausgangspunkt für eine neue Epoche in unseren Beziehungen und für Europa ist.“ 54 „Der Herr möge unseren Völkern die Kraft schenken, an der Erneuerung Europas im Geist der Frohbotschaft Christi mitzuwirken, damit Europa – und zwar das ganze Europa, das bis zum Ural reicht – erkennen möge, was ihm zum Heile dient.“ 55 In Fulda nahmen die polnischen Bischöfe – zusammen mit einem Vertreter der Französischen Bischofskonferenz – als erste ausländische Delegation an einer Sitzung der Deutschen Bischofskonferenz teil. Kardinal Wojtyla bekräftigte: „Wir sind uns dessen bewusst, dass wir als Hirten der Kirche ———— 51
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Die Gespräche drehten sich immer noch um die Pflege deutscher Kriegsgräber und allgemein der deutschen Gräber in Polen, um die Möglichkeit zu deutschsprachiger Seelsorge, um gemeinsame Wallfahrten, um das Problem der Kirchenglocken oder die Zusammenarbeit katholischer Wissenschaftler und Theologen aus beiden Ländern sowie um die „facultates specialissimae“, die Sonderbefugnisse für Kardinal Hlond, die angeblich von den Päpsten Johannes XXIII. und Paul VI. gegenüber Primas Wyszyński erneuert worden waren. Karol Wojtyla, Unser gemeinsamer Weg. Predigt im Dom von München, 24. September 1978, in: Begegnung der Konferenz des Polnischen Episkopats mit der Deutschen Bischofskonferenz in Deutschland im September 1978, in: Stimmen der Weltkirche 4 (1978), S. 50. Primas Wyszyński in einer Presseerklärung Europa: neues Bethlehem für die Welt vom 25.9.1978, ebd., S. 63. Kardinal Höffner in der Abschlusserklärung Brückenbau zwischen Polen und Deutschland vom 25.9.1978, ebd., S. 62. Empfangende und Gebende. Wort von Kardinal Joseph Höffner bei der Schlussandacht im Dom zu Fulda am 21.9.1978, ebd., S. 13.
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in besonderer Weise zu künftiger, wesentlich neuer Gestaltung der Beziehungen beitragen können.“ 56 Die Begegnung „möge der Erneuerung im Geiste des Evangeliums dienen; der Festigung in der Wahrheit, in der Liebe – der Heilung der Wunden, die eine ältere oder eine jüngere Vergangenheit geschlagen hatte.“ 57 Wojtyla war überzeugt: „Wir sind heute da, um durch die vielen Jahrhunderte hindurch zu unserem gemeinsamen ‚Anfang‘ zu gelangen. [...] Ich habe die Hoffnung, dass die Begegnung einen regeren und auch tieferen Austausch der Güter in Gang setzen wird, welche das Leben unserer Kirchen und unserer christlichen Völker formen. [...] Ich bin überzeugt, dass dies zur Gestaltung eines neuen Antlitzes Europas und der Welt beitragen wird zur nahenden Jahrhundert- und Jahrtausendwende.“ 58 „Wir haben es hier mit dem seltenen, vielleicht in der Bundesrepublik in dieser Form einmaligen Fall zu tun, dass von den Kirchen ohne direkte Einmischung, doch in Wahrnehmung ihres Auftrags, zu den Lebensfragen unseres Volkes Stellung zu nehmen, Impulse von zukunftsträchtiger Wirksamkeit ausgingen.“ 59 Für den Erfolg dieses Besuchs war entscheidend, dass es erstmals gelang, nicht mehr hauptsächlich auf die Vergangenheit fixiert miteinander zu sprechen, sondern auf den zukunftsgerichteten Auftrag der Kirche in beiden Ländern hinzuweisen und deutlich zu machen, dass die Gestaltung der Zukunft wichtiger ist als der Streit um die Vergangenheit. „Dieses ‚ Zeichen‘ – das wage ich in aller Bescheidenheit zu sagen“, kommentierte Prälat Homeyer, eine der treibenden Kräfte der deutschpolnischen Versöhnung, „ist auch das Ergebnis der jahrzehntelangen Bemühungen seitens der Kirche in Deutschland.“ 60 Kardinal Höffner sagte dem polnischen Primas damals bereits vor einem offiziellen Beschluss der Deutschen Bischofskonferenz in einem Dankschreiben für den Besuch in Deutschland, „der ohne Zweifel eine neue Phase in den Beziehungen unserer Episkopate und Länder markieren wird“ 61, ———— 56
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Ein neues Antlitz Europas,. Ansprache von Karol Wojtyla am 22. September 1978 in Köln, ebd., S. 30f., hier S. 31. Auf den Fährten der Sendung. Predigt von Kardinal Karol Wojtyla, Erzbischof von Krakau, in der Bonifatiusgruft von Fulda am 21. September 1978, ebd., S. 16f., hier S. 17. Ein neues Antlitz Europas,. Ansprache von Karol Wojtyla am 22. September 1978 in Köln, ebd., S. 30f., hier S. 31. Theo Mechtenberg, Deutschland – Polen: Die Öffentlichkeitswirksamkeit der EKD-Denkschrift im Vergleich zum Briefwechsel der katholischen Bischöfe 1965, in: Ost-West-Informationsdienst (1996), Nr. 189, S. 41-50, Zitat S. 41. Josef Homeyer in einem privaten Brief an Franz Alt, 4.10.1978, AKZG, Vatikanische Ostpolitik, Sammlung Hummel. Höffner in einem Brief an Wyszyński, 25.10.1978, AKZG, Vatikanische Ostpolitik, Sammlung Hummel.
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zu, die Ausweitung und Vertiefung der gegenseitigen Kontakte zu seinem persönlichen Anliegen zu machen. Der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz setzte in seiner Sitzung vom 20. November 1978 eine Anregung, die Kardinal Wojtyla im September 1978 in Fulda gemacht hatte, um und berief den Vorsitzenden der Kommission Weltkirche, Bischof Franz Hengsbach von Essen, und Bischof Moser von Rottenburg als Mitglieder in eine Gemeinsame Kontaktgruppe mit der Konferenz des polnischen Episkopats, die in den kommenden Jahren, von der Öffentlichkeit meist unbemerkt, eine ganze Reihe der umstrittenen Fragen einer diskreten Lösung näher gebracht hat.62 Nur wenige Wochen nach dem Besuch in Deutschland – am 16. Oktober 1978 – wurde Kardinal Wojtyla zum Papst gewählt. Die Pilgerreise von 1978 markierte so auch in weltkirchlicher Sicht nicht nur ein Ende, sondern zugleich einen in dieser Form völlig unerwarteten Anfang einer grundlegend neuen Phase vatikanischer Politik, deren Gestaltung der neue Papst sich selbst vorbehielt. Der neue Kardinalstaatssekretär Erzbischof Casaroli hatte Außenminister Genscher schon kurz nach dem Amtsantritt des polnischen Papstes gesagt: „Herr Minister, wir brauchen uns jetzt über die Fragen, über die wir uns in der Vergangenheit gestritten haben, nicht mehr zu streiten. Bei diesem Papst werden Sie immer recht bekommen.“ 63
VI. Geglückte und gestörte Kommunikationen in den 1970er Jahren Auf die Kritik an seiner 1. Polen-Reise 1977 64 antwortete Kardinal Höffner in einem Interview mit dem „Rheinischen Merkur“: „Es ist in den vergangenen Jahren mehr geschehen, als man öffentlich kundmachen konnte. [...] Mit keiner anderen Kirche bestehen so viele Kontakte wie mit der Kirche in Polen. Aus keinem anderen Land gibt es so viele Besuche von Bischöfen und Priestern bei uns wie aus Polen. Und in kein anderes Land reisen so viele Bischöfe und Priester wie von hier nach Polen. Dies ist nur ein Punkt, über den bisher in der Öffentlichkeit nicht gesprochen wurde.“ 65 ———— 62
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Im März 1980 hat diese Ständige polnisch-deutsche Bischofskommission ihre Arbeit aufgenommen und unter Leitung von Bischof Hengsbach (Essen) und Erzbischof Stroba (Posen) bis 1985 elfmal getagt. Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 289. Vgl. dazu oben Anm. 40. Interview mit dem Rheinischen Merkur vom 6.5.1977. – Vgl. dazu: Bernd Ammermann, Für deutsch-polnische Aussöhnung durch Schaffung einer Infrastruktur persönlicher Kontakte (Infor-
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Tatsächlich hatte es in den 1970er Jahren neben den individuellen Kontakten der „Menschen der Versöhnung“ und den Besuchen der Bischöfe eine erstaunliche Zunahme der deutsch-polnischen Kontakte auf den verschiedensten Kommunikationsebenen und in den verschiedensten Formen gegeben. Karol Wojtyla wurde damals zu einem von kirchlicher wie von politischer Seite immer stärker gesuchten Gesprächspartner. Eine Begegnung mit dem Erzbischof von Krakau gehörte sozusagen zum Pflichtprogramm eines Polenbesuchs. Neben den sich weiterhin auf den Weg machenden Einzelgruppen von Wallfahrern 66 gab es z.B. 1975 die erste gemeinsame deutsch-polnische Wallfahrt 67, 1976 von Augsburg aus die erste Diözesanwallfahrt.68 Seminaristen 69, Diakone und Regenten verschiedenster Priesterseminare 70 nahmen untereinander Kontakt auf und besuchten sich. Die Theologischen Fakultäten in Mainz, München oder Lublin luden gegenseitig zu Gastvorlesungen ein. Die Universität Mainz verlieh 1977 anlässlich ihrer 500 -jährigen Gründungsfeier Erzbischof Wojtyla die Ehrendoktorwürde.71 Anschließend unternahm Kardinal Volk 72 eine mehrtägige Vortragsreise, zu der ihn Universitäten und der Erzbischof von Krakau eingeladen hatten. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken informierte sich auf verschiedenen Reisen nach Polen aus erster Hand 73 und lud die polnische ZNAK-Gruppe 74 wiederholt in die Bundesrepublik Deutschland ein. ————
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mation über ein gemeinsames Seminar in Breslau), in: Informationsdienst des katholischen Arbeitskreises für zeitgeschichtliche Fragen e.V. (1973), Nr. 63, S. 71 - 73, hier S. 73: „Um auf dem Weg der Annäherung Fortschritte zu machen, müssen den offiziellen politischen Beziehungen viele kleine Verbindungen und Kontakte folgen. Die noch bestehenden gegenseitigen Vorurteile und Klischees lassen sich am besten durch Erfahrung bei persönlichen Begegnungen abbauen. Es ist wichtig, dass Informationen, Eindrücke und Wertungen offizieller Besucher und Delegationen, die uns die Massenmedien vermitteln, durch eine Infrastruktur persönlicher Kontakte ergänzt werden. Solche Kontakte ermöglichen es, die beiderseitigen konkreten Lebensbedingungen durch Erfahrung kennenzulernen, Verständnis für die gesellschaftlich bedingte Lebenssituation des anderen zu gewinnen und die eigene Position des Selbstverständnisses kritisch zu überdenken.“ Kardinal Höffner kündigte z.B. in einem Brief an Wyszyński vom 14.1.1980 eine Pilgergruppe aus Kleve an. AKZG, Vatikanische Ostpolitik, Sammlung Hummel. Die Predigt auf der ersten gemeinsamen Hedwigs-Wallfahrt nach Andechs am 5.6.1975 hielt Kardinal Döpfner. Vom 6.-13.6.1978 fand die erste Diözesanwallfahrt aus München und Freising statt. Im September 1974 fuhr der ehemalige Sekretär von Kardinal Höffner, Ulrich Zurkuhlen, mit Seminaristen aus dem Collegium Johanneum, Ostbevern nach Breslau. Im April 1974 kündigte Kardinal Höffner in einem Brief an Karol Wojtyla eine Reise von Diakonen des Kölner Priesterseminars nach Polen an. Wojtyla nutzte die Reisegelegenheit damals auch zu einem Höflichkeitsbesuch bei Kardinal Höffner in Köln. Vgl. dazu den Korrespondentenbericht: Kardinal Volk dankte Polen für Glaubenszeugnis. Von Vortragsreise tief beeindruckt. Theologenkontakte verstärkt, in: KNA, Korrespondentenbericht (KNA-W 40 - 510/77), 6.12.1977.
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Seit Bamberg 1966 wurde zu jedem Katholikentag eine hochrangige Delegation polnischer Katholiken eingeladen. Ab 1972 veranstaltete die ZNAKGruppe zusammen mit Pax Christi jährlich ein gemeinsames Informationsseminar. Ursprünglich für 1976, dann 1978 lud der Klub der Katholischen Intelligenz das Zentralkomitee der deutschen Katholiken nach Polen ein.75 Die finanzielle Unterstützung reichte von Einzelspenden 76 über die Gründung des Maximilian-Kolbe-Werks 1973 und die Unterstützung kirchlicher Baumaßnahmen 77 bis zur Dotierung eines Stipendienprogramms 78 für einen Studienaufenthalt polnischer Studenten in Paris und der Einrichtung des Europäischen Hilfsfonds, der von Wien aus auch eine ganze Reihe von größeren Projekten in Polen finanziell ermöglichte. Jubiläen – ein 50jähriges Priesterjubiläum 79 ebenso wie die 900 Jahr-Feier der Abtei Tyniec80 oder die Feier des 1000. Geburtstags von Kaiser Otto III. 1980 81 – schufen jeweils willkommene Anlässe zu Einladungen, die freilich an der Willkür der ———— 73
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Z.B. im März 1971 oder im April 1973. Vgl. dazu den Bericht von Dr. Albrecht Beckel zu seiner Polenreise (25.2. - 3.3.1971) auf der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken am 19.3.1971, Anlage zum Protokoll, 7 S. – Vgl. den Bericht zur Reise von Dr. Vogel, Dr. Beckel, Dr. Kronenberg vom 11.-14.4.1973, in: ZdK-Mitteilungen, Nr. 35, 17.4.1973, S. 2. Vgl. dazu Anm. 35. In einem Vorbereitungsgespräch wurde schnell deutlich, dass dahinter als eigentlicher Gastgeber Kardinal Wojtyla in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Laienkommission der Polnischen Bischofskonferenz stand. Vgl. dazu einen Vermerk von Dr. Lissek für Generalsekretär Dr. Kronenberg vom 24.8.1978: Betr.: Einladung nach Polen. Archiv Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Kardinal Höffner spendete für verschiedene Zwecke: 1972 ermöglichte er polnischen Missionaren in Südamerika die Heimreise nach Polen, 1974 unterstützte er den Bau der Kathedrale in Kattowitz, 1974 den Kauf eines Kleinbusses für das Priesterseminar in Danzig-Oliva. Kardinal Wojtyla erbat 1975 Studienmaterial für das Studium der Theologie der Familie. 1978 erreichte Höffner die Bitte aus Krakau, 8 namentlich genannten Philosophieprofessoren mit je 300 DM die Teilnahme am Weltkongress der Philosophen in Düsseldorf zu ermöglichen. Anlässlich des Besuchs der polnischen Bischöfe 1978 spendete die Deutsche Bischofskonferenz für den Bau eines Priesterseminars in Warschau. Das von Karol Wojtyla angeregte, 1969 gegründete „Werk für europäische Partnerschaft“ hat bis 1990 vom Auswärtigen Amt insgesamt 2 Millionen DM erhalten. Am 19.9.1974 kam Karol Wojtyla anlässlich des 50-jährigen Priesterjubiläums des kanonischen Visitators der katholischen Polen in Deutschland, Prälat Edward Lubowiecki, nach München und zelebrierte gemeinsam mit Kardinal Döpfner im Karmeliterkloster Heilig Blut auf dem Gelände des ehemaligen KZ Dachau eine Versöhnungsmesse. Wojtyla sprach Kardinal Döpfner bei dieser Gelegenheit seinen persönlichen Dank für dessen Einsatz für Versöhnung und Frieden aus. Zum Zeichen einer gewachsenen persönlichen Verbundenheit wohnte Wojtyla bei diesem Aufenthalt in München im Erzbischöflichen Palais. Kardinal Wojtyla verband diese Einladung mit einer persönlichen Einladung Kardinal Höffners nach Krakau. Höffner musste sich aber durch Weihbischof Plöger vertreten lassen. Kardinal Höffner lud am 11.1.1979 den polnischen Primas ein, 1980 zur Feier des 1000. Geburtstages von Kaiser Otto III. nach Kleve und Aachen zu kommen.
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polnischen Paßbehörden scheitern konnten.82 Eine breitere Öffentlichkeit wurde über Medienveröffentlichungen 83, Vorträge und Predigten erreicht. Die deutsch-polnische Kommunikationsgeschichte der 1970er Jahre ist aber nicht nur linear positiv verlaufen. Das Verhältnis von Bundeskanzler Helmut Schmidt zu Karol Wojtyla und Joseph Höffner und die „Schulbuchdiskussion“, die der bayerische Kultusminister Hans Maier 1979 losgetreten hatte, zeigen beispielhaft, dass sich aus persönlichen wie sachlichen Gründen immer wieder Komplikationen und Belastungen ergeben konnten. Zunächst zu Helmut Schmidt: Nach der ersten Audienz für Bundeskanzler Helmut Schmidt bei Papst Paul VI. am 25. März 1977 kam es zu einem ungewöhnlichen Medienscharmützel, das mittelfristig auch Auswirkungen auf die deutsch-polnischen Beziehungen haben sollte. Zunächst erschienen auf Regierungssprecher Klaus Bölling zurückgehende Presseberichte, die nahe legten, der Papst habe gegenüber dem Bundeskanzler seine Wertschätzung für die Bemühungen der SPD zum Ausdruck gebracht, die katholische Soziallehre zu verwirklichen. Staatsminister Wischnewski versuchte zwar in der Fragestunde des Bundestags, die dadurch entstandene Aufregung mit der Interpretation zu dämpfen, Bölling habe „keine offizielle Erklärung abgegeben, sondern einige erläuternde Worte gesagt“ 84, der Vatikan sah sich aber – in Rom 85 und über die Bonner Nuntiatur – zu außergewöhnlichen Reaktionen veranlasst und erklärte: Es sei zwar nicht üblich, Angaben über den Inhalt von Privataudienzen zu machen. Man könne allerdings „wohl ———— 82
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Die polnische Militärmission verweigerte z.B. Bischof Hengsbach das Einreisevisum, als er am 15.10.1972 am Jahrestag der Seligsprechung von Maximilian Kolbe in Auschwitz teilnehmen wollte. Vgl. KNA, Westdeutscher Dienst, Nr. 232, 17.10.1972. Kardinal Döpfner nahm z.B. am 21.10.1971 in der polnischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechne“ zur Mitschuld der Deutschen am Nationalsozialismus Stellung. – Der Katholische Arbeitskreis Entwicklung und Frieden veröffentlichte im September 1977 eine Dokumentation der deutsch-polnischen Versöhnungsschritte in den 1970er Jahren: Reinhold Lehmann (Hrsg.), Verständigung und Versöhnung mit Polen. Dokumente zum Beitrag der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland (1970 -1977), Bonn 1977, 101 S. – Vor der spektakulären Reise des Papstes in seine polnische Heimat an Pfingsten 1979 schrieb Höffner einen Namensartikel im „Rheinischen Merkur“ über das Apostolische Sendschreiben „Rutilans Agmen“, das der Papst vor seiner Pilgerreise an den Primas gerichtet hatte. Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, 23. Sitzung, 21.4.1977, Frage 146, S. 1521 - 1523. – Der Informationsdienst der KNA meldete am 31.3.1977, der Kanzler-Besuch sei, „wie zuverlässig bekannt wurde“, „gegenüber ursprünglichen Plänen etwas zurückgestuft worden“, nachdem von deutscher kirchlicher Seite darüber informiert worden war, dass „manche von der SPD zu verantwortenden Gesetze“ der katholischen Soziallehre widersprechen. Vgl. die Erklärung des Leiters des Pressesaales P. Romeo Panciroli, in: KNA, Dokumentation, Nr. 16, 1.4.1977.
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davon ausgehen“, dass in dieser Audienz aus mehrfachen Gründen die katholische Soziallehre angesprochen wurde. „Mit Sicherheit“ habe der Heilige Vater aber „die Verwirklichung der katholischen Soziallehre nicht mit politischen Parteien in Verbindung gebracht.“ 86 1977 suchte die SPD aus verschiedenen Gründen den Kontakt zur katholischen Kirche zu intensivieren. Wahlanalysen hatten gezeigt, dass katholische Wähler durch die SPD ansprechbar waren. Außerdem setzte die Bundesregierung in den dramatischen Wochen der Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer auf alle erreichbaren parteiübergreifenden Gemeinsamkeiten. Am 28. September 1977 nahm Helmut Schmidt am traditionellen „Michaelsempfang“ des Katholischen Büros in Bonn teil.87 Als der Bundeskanzler für November 1977 eine Polenreise plante, informierte Prälat Wöste, der Leiter des Katholischen Büros, im Auftrag von Kardinal Höffner Kanzleramtsminister Schüler ausführlich über die letzte Reise des Kardinals und unterbreitete Vorschläge, wofür der Bundeskanzler sich gegebenenfalls einsetzen könnte, z.B. beim Jugendaustausch.88 Der politische Ertrag der Reise hielt sich damals in Grenzen. Für Helmut Schmidt ist dieser Besuch in Polen aber aus einem ganz anderen Grund nachhaltig negativ besetzt. Noch nach Jahrzehnten zeigte er sich darüber ungehalten, dass ein von ihm gewünschtes Treffen mit Karol Wojtyla in Krakau damals nicht zustande gekommen war. Er fühlt sich dadurch so gekränkt, dass er die Tatsache mehrfach schriftlich und mündlich festgehalten hat. Der Besuch in Krakau war auf Rat des Wiener Kardinals Franz König in das Reiseprogramm des Bundeskanzlers aufgenommen worden. Dann habe der damalige Erzbischof von Krakau es „vorgezogen“, erinnert sich Schmidt, „statt eines von mir vorgeschlagenen ‚zufälligen‘ Treffens in seiner Kathedrale mich durch einen hohen Geistlichen begrüßen zu lassen“, „um nicht unnötig Konflikte mit der Regierung in Warschau heraufzubeschwören.“ 89 In seinem Dankesbrief an Primas Wyszyński deutete Schmidt nur ———— 86
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Vgl. die Erklärung der Apostolischen Nuntiatur in Bonn-Bad Godesberg, in: KNA, Dokumentation, Nr. 15, 1.4.1977. Kardinal Höffner wandte sich direkt an den Bundeskanzler mit den Worten: „Gott stehe Ihnen, Herr Bundeskanzler, bei, menschliches Leben zu schützen und weiterer Gewalt Einhalt zu tun.“ In: KNA, Aktueller Dienst Inland, Nr. 226, 29.9.1977. Am 15.12.1977 führte Schmidt ein Informationsgespräch mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Für den 20.2.1978 lud er eine Delegation deutscher Bischöfe in den Kanzlerbungalow ein. Den nächsten Vorschlag für ein Gespräch im März 1980 lehnten die katholischen Bischöfe unter Hinweis auf bald anstehende Landtags- und Bundestagswahlen ab, im Mai 1980 traf sich der Bundeskanzler mit dem Ratsvorsitzenden der EKD und Kardinal Höffner aber noch unter strenger Geheimhaltung im Kölner Gürzenich. Das Gespräch fand am 1.9.1977 statt. Staatssekretär Schüler informierte seinerseits am 16.12.1977 Prälat Bocklet, den Nachfolger Wöstes als Leiter des Katholischen Büros in Bonn.
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an, dass das Treffen in Krakau nicht zustandegekommen war: Ich verbinde meinen Dank an Sie „mit meinem Gruß an Herrn Kardinal W., dessen Dom ich in Krakau besucht habe.“ 90 Der Bundeskanzler tat sich auch später schwer mit Karol Wojtyla. Beispielsweise konnte er dessen Haltung als Papst Johannes Paul II. in der Frage der Empfängnisverhütung nicht verstehen. Der Papst sei für seine Argumente unzugänglich geblieben, obwohl er ihm im persönlichen Gespräch mehrere Male versucht habe, „den Circulus vitiosus zwischen Bevölkerungsexplosion, Unterentwicklung und Massenelend zu erklären.“ 91 Das zweite Beispiel einer gestörten Kommunikation betrifft mit dem bayerischen Kultusminister und Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Hans Maier, ausgerechnet einen der engagiertesten Vertreter der Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen. Maier hatte nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag in einem Spiegel-Interview 92 im Dezember 1979 darauf bestanden, dass in allen Karten in Schulbüchern dort, wo politische Grenzen eingezeichnet sind, die Grenzen des Reiches vom 31. Dezember 1937 markiert werden, um deutlich zu machen, dass über die gegenwärtige staatsrechtliche Zugehörigkeit von z.B. Breslau oder Königsberg friedensvertraglich noch nicht entschieden sei. Seine Kritiker forderten dagegen, er solle sich der Empfehlung der deutsch-polnischen Schulbuchkommission anschließen und „von den gegenwärtigen Realitäten aus(zu)gehen.“ 93 Wegen dieses „Grenzstreits“ waren die polnischen Katholiken auf dem Berliner Katholikentag (4.- 8. Juni) 1980 erstmals nach 15 Jahren nicht mit führenden Repräsentanten vertreten.
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Vgl. dazu Helmut Schmidt, Weggefährten. Erinnerungen und Reflexionen, Berlin 1996, S. 375 - 382; Hartmut Soell, Helmut Schmidt 1969 bis heute. Macht und Verantwortung, München 2008, S. 816 818; Helmut Schmidt, Fritz Stern, Unser Jahrhundert. Ein Gespräch, München 2010, S. 257- 259. Brief vom 26.11.1977. Nach der Wahl des polnischen Papstes gratulierte der Bundeskanzler sowohl Johannes Paul II. als auch dem polnischen Staats- und Parteichef Gierek. Schmidt, Weggefährten (vgl. Anm. 89), S. 378-381. „Das Reich besteht weiter“, in: Der Spiegel 51, 17.12.1979, S. 35- 37. Als Empfehlung zitiert, in: Ebd., S. 35.
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VII. 1980: Höffners zweite Polenreise Vom 11. bis 15. September 1980 reiste die bis dahin prominenteste bischöfliche Pilgergruppe aus Deutschland zum ersten gemeinsamen Treffen der beiden Bischofskonferenzen nach Polen.94 Die deutsche Delegation kam als erste große Delegation aus dem Westen nach den August-Streiks von Werft-Arbeitern an der Ostseeküste, die den Anstoß zu dem Systemwandel gegeben haben, der schließlich das Ende der Volksrepublik Polen bewirken sollte. Bei einem Arbeitsessen am 27. Juli 1980 in Castel Gandolfo, das der Vorbereitung des für November 1980 angekündigten Papstbesuches in Deutschland galt, hatte Papst Johannes Paul II. die Reise der deutschen Bischöfe „sehr begrüßt“ und hinzugefügt, er hoffe sehr, dass man in der leidigen „Grenzfrage“ eine Verständigung erreiche. Die beiden Sekretäre, Weihbischof Bronislaw Dabrowski und Prälat Homeyer, vereinbarten in ihren Vorgesprächen abweichend, den Komplex „Grenzfrage“ bei dem Besuch 1980 zunächst noch auszusparen und erst 1981 in einem ausführlichen Gespräch – z.B. in Rom – zu erörtern. Johannes Paul II. sah in der Grenzfrage „letztlich eine politische Frage“. Er erinnerte aber die deutsche Seite nachdrücklich an „die Angst der Polen vor den Deutschen und vor den Russen, den beiden großen Nachbarn, aufgrund der tragischen polnischen Geschichte“.95 Für die polnische Seite war es nach wie vor erklärungsbedürftig, wie man das Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen ohne die Wiederherstellung der Grenzen von 1937 erreichen könnte. Kardinal Höffner notierte in einem Vermerk für Prälat Homeyer auf den Reiseunterlagen: „Ich habe die Unterlagen ‚Warschauer Vertrag‘ durchgesehen. Das Ganze ist kein Ruhmesblatt kluger Politik. Meine Eindrücke finden Sie in dem beiliegenden Text ‚Die Oder-Neiße-Grenzlinie vor dem Gewissen des Bischofs.‘ 96 Als Homeyer in seinen Vorgesprächen auf den ———— 94
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Mitglieder der Delegation aus dem Kreis der Bischöfe waren: Kardinal Joseph Höffner, die Kardinäle Hermann Volk und Josef Ratzinger, Erzbischof Saier, sowie die Bischöfe Franz Hengsbach, Eduard Schick und Georg Moser. Vgl. den Pressebericht der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, 25.9.1980, Punkt 4. Weltkirchliche Fragen, S. 10. Den Bericht für die Vollversammlung erstattete der Vorsitzende der Kommission Weltkirche, Bischof Franz Hengsbach, Essen. Zitat aus dem Protokoll der Vorbesprechung für den Papstbesuch am 27.7.1980 in Castel Gandolfo. Note Dr. Homeyers für den Vorsitzenden, 28.7.1980, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980, 8. Notiz Höffners an Dr. Homeyer, 9.9.1980, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Deutsch-polnisches Bischofstreffen 11.-15.9.1980. Der erwähnte „Text“ konnte bisher nicht ermit-
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Friedensvertragsvorbehalt aufmerksam machte, der aus dem Art. 4 des Warschauer Vertrags zu entnehmen sei, erfuhr er von seinem polnischen Gesprächspartner zu seiner Überraschung: „Dies sei weder dem Primas noch den polnischen Bischöfen und noch weniger dem polnischen Volk bekannt. Dort sei man tatsächlich der Überzeugung gewesen, der Warschauer Vertrag sei ein definitiver Friedensvertrag. [...] Wenn die polnischen Bischöfe nunmehr von einem Friedensvertragsvorbehalt aus dem Munde deutscher Bischöfe hören würden, wären diese äußerst erschreckt.“ 97 Nach diesen vorbereitenden Klärungen stand das Treffen der beiden Bischofskonferenzen ganz ausdrücklich im Zeichen der europäischen Zukunftsperspektive, die der Papst auch in Castel Gandolfo noch einmal thematisiert hatte.98 Rudolf Hammerschmidt, der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, sagte nach der Rückkehr, Sinn der Reise sei es gewesen, über alle Belastungen aus der Vergangenheit hinweg in die Zukunft zu blicken.99 „Wir haben uns immer wieder darin bestärkt“, erklärte Höffner bei der abschließenden Pressekonferenz, „dass wir nicht vergessen dürfen, was an Schrecklichem und Unmenschlichem geschehen ist, dass wir aber auch den Blick nicht ausschließlich zurückwenden dürfen. Die Aufgabe der Zukunft liegt vor uns, sie lautet: Europa im Geiste Jesu Christi erneuern.“100
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telt werden. Vgl. auch den Bericht „Jenseits der Grenzfrage: der Polenbesuch der deutschen Bischöfe“, in: Herder Korrespondenz 34 (1980), S. 543 - 544. Vermerk Dr. Homeyers, 4.9.1980, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Deutschpolnisches Bischofstreffen 11. - 15.9.1980. Bei dem Arbeitsessen am 27.7.1980 in Castel Gandolfo betonte der Heilige Vater „nachdrücklich“ die Notwendigkeit, dass die Kirche in Deutschland und Polen zur Re-Christianisierung Europas aufrufe, wie es der polnische Primas 1978 in seiner Ansprache in Köln so eindrucksvoll dargelegt habe. Die beiden Episkopate sollten diese Aufgabe erkennen und mit hoher Priorität aufgreifen. Dazu gehörten Überlegungen zu gemeinsamen Projekten in Missionsländern, eine engere Zusammenarbeit in der Hilfe für die nordische Diaspora, die Intensivierung der bilateralen Kontakte zwischen Priesterseminaren und die Förderung von Jugendwallfahrten. In Polen wurde aufmerksam registriert, dass Kardinal Höffner in der Todeszelle Maximilian Kolbes mit einem Rückblick begonnen hatte und zum Abschluss der Reise noch einmal betonte, er habe „schmerzlich empfunden, was im Namen unseres Volkes dem polnischen Volke und vielen Menschen aus allen europäischen Nationen angetan wurde. Wir haben darum gebetet, dass aus der Kraft des Verzeihens der Friede wachsen möge.“ In: Abschlusspresseerklärung von Kardinal Höffner am 15.9.1980 in Warschau, zitiert nach der Anlage in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Pressebericht der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz 1980, 18/80, 25.9.1980.
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VIII. 1980: Diplomatische Verstimmungen Nach seiner dritten Papstaudienz – am 9. Juli 1979 bei Papst Johannes Paul II.101 – äußerte Helmut Schmidt auf die Frage nach einem Besuch des Heiligen Vaters in Deutschland in einem Interview mit dem „Rheinischen Merkur“ seine feste Überzeugung, dass „alle Deutschen, auch diejenigen, die nicht Katholiken sind, mit großer menschlicher Neugierde, mit großer menschlicher Anteilnahme einen solchen Besuch begrüßen würden, und dass dies jedenfalls für die Bundesregierung gelten würde.“ 102 Die dann im Verlauf des zweiten Halbjahres 1980 eingetretene nachhaltige Verstimmung, die das Verhältnis des Bundeskanzlers zum Papst und zum Kölner Kardinal gleichermaßen beschädigte, war nach dieser Einlassung nicht unbedingt zu erwarten. Zunächst führte der Hirtenbrief der deutschen Bischöfe zur Wahl des Deutschen Bundestags am 5. Oktober 1980, der am 21. September in allen Gottesdiensten verlesen werden sollte, zu einer öffentlichen Kontroverse zwischen den deutschen Katholiken und der Bundesregierung. Helmut Schmidt fühlte sich von der „ganz unangemessenen“ Kritik an der hohen Staatsverschuldung „persönlich im Vertrauen auf Höffners Fairneß enttäuscht und verletzt“ und hielt den Hirtenbrief für eine Wahlkampfhilfe „in penetranter Weise“ zugunsten von Franz Josef Strauß.103 „Eine andere Quelle des Ärgers in dieser Sache“ war für Helmut Schmidt Kardinal Höffner selbst, mit dem „die Zusammenarbeit deutlich schwieriger“ gewesen sei als mit Kardinal Döpfner.104 Die damit verbundene atmosphärische Trübung hielt an, zumal, so Helmut Schmidt, Kardinal Höffner meinte, „mich brieflich“ „nebst ausführlicher Begründung“ in einer Frage der katholischen Soziallehre „belehren zu sollen“, in der Schmidt glaubte, sich gar nicht geäußert zu haben.105 Dazu kamen ungewöhnlich schwierige protokollarische Fragen 106 bei der Vorbereitung des für November 1980 angekündigten Papstbesuchs, an denen auch der päpstliche Reisemarschall Erzbischof Marzinkus seinen Anteil hatte. Marzinkus habe, so lautete der Vorwurf, „im Vorfeld des Papstbesuches in erheblichem Maße zu Verwirrung und Ärger über den von ihm vor———— 101
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Die 2. Papstaudienz hatte 1978 anlässlich der Amtseinführung bei Papst Johannes Paul I. stattgefunden. Rheinischer Merkur vom 20.7.1979. Vgl. dazu auch Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.6.1979. Schmidt, Weggefährten (vgl. Anm. 89), S. 382 - 384. Ebd., S. 381 - 384. Ebd., S. 382f. Vgl. dazu die Glosse „Nicht bis zur Erde“, in: Der Spiegel 43, 20.10.1980, S. 15.
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geschlagenen protokollarischen Ablauf und über das Gesamtprogramm“ beigetragen, weil er „einen für die Bundesfinanzen außerordentlich aufwendigen Vorschlag für die Ausgestaltung des Papstbesuches“ gemacht habe, der von Bundespräsident Carstens sogleich abgelehnt worden sei.107 Die entscheidende Frage im staatlichen Protokoll war, ob der Papst „offizieller Gast eines Verfassungsorgans“ sein würde. Die apostolische Reise beanspruchte, entsprechend der Ankündigung von Papst Johannes Paul II. selbst, „einen ausschließlich pastoralen und religiösen Charakter“.108 Erzbischof Marzinkus hatte in einer Vorbesprechung ausdrücklich erklärt: „Der Heilige Vater besucht die Kirche in Deutschland und macht einen Höflichkeitsbesuch beim Staatsoberhaupt. Im gesamten Programm muß deshalb deutlich werden, dass es sich um einen pastoralen Besuch handelt.“ 109 Sekretär Homeyer war im Unterschied dazu der Auffassung, der Papst müsse „wohl auf jeden Fall als ‚Staatsgast‘ behandelt werden, einmal wegen der Souveränität des Apostolischen Stuhls, aber auch wegen der Sicherheit (und der Kosten). M. W. war der Papst bisher in allen Ländern Staatsgast. Dies kann aber wohl nur Rom entscheiden.“ 110 Bis wenige Wochen vor dem Besuch blieben diese und andere Fragen in der Schwebe: Müsste Papst Johannes Paul II. den Bundeskanzler aufsuchen? Müsse der Bundeskanzler in die Nuntiatur bzw. an einen anderen Ort kommen, den der Papst vorschlagen könnte? Dürften kirchliche Vertreter bei der Begrüßung des Heiligen Vaters zusammen mit den staatlichen Repräsentanten das Rollfeld betreten? Am 15. Oktober 1980 war das offizielle Programm immer noch nicht vorgestellt worden. Der Deutschen Bischofskonferenz schien schließlich „angesichts des Abwägens der beiden Möglichkeiten, entweder die Medien (und alle Mitarbeiter) zu verärgern und eine Flut von Spekulationen auszulösen, oder aber Bischof Marzinkus zu verärgern, [...] letzteres das geringere Übel zu sein, so unangenehm auch dies wahrlich ist.“ 111 ———— 107 108
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Schmidt, Weggefährten (vgl. Anm. 89), S. 381. Papst Johannes Paul II., Grußwort auf dem Flughafen Köln-Bonn am 15. November 1980, in: Papst Johannes Paul II. in Deutschland, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 25, Bonn 1980, S. 12 15, hier S. 13. Vermerk Dr. Homeyer über eine Vorbesprechung mit Erzbischof Marzinkus am 26./27.7.1980, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980, 6. Vermerk Dr. Homeyer für den Vorsitzenden, 11.7.1980, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980, 6. Vermerk Dr. Homeyer, 15.10.1980, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980, 6.
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Nach außen blieben die Beziehungen Bundesregierung / Bischofskonferenz von diesen Problemen unberührt. Kardinal Höffner lud den Bundeskanzler zu allen Begegnungen mit dem Papst ein und bedankte sich mit den Worten: „Es liegt mir daran, Ihnen persönlich und im Namen der Deutschen Bischofskonferenz zu danken für die Einladung des Heiligen Vaters nach Deutschland auch seitens der Bundesregierung. Ganz besonders danke ich Ihnen für Ihr verständnisvolles Entgegenkommen bei der Gestaltung des Staatsbesuchs, aber auch für alle Hilfen seitens der Bundesbehörden während des Pastoralbesuches.“ 112 Ein Schreiben des Protokollchefs des Auswärtigen Amtes an den Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz lässt ahnen, wie angespannt die diplomatischen Nerven in Wirklichkeit gewesen sein müssen: „Für meine Mitarbeiter und mich war das Mitwirken an diesem großen Besuch nicht nur eine ehrenvolle protokollarische und organisatorische Herausforderung, die dem Ereignis entsprechend alle protokollarische Routine sprengen und eigene Maßstäbe setzen musste. Sie war, bedingt durch die eindrucksvolle Persönlichkeit des hohen Gastes, seine menschliche und moralische Ausstrahlung, auch für uns alle eine Bereicherung. [...] Mit Ihrer freundlichen Kooperation und dank der Umsicht ihrer Mitarbeiter ist es uns gelungen, den pastoralen und den staatlichen Teil des Besuchs, die beiden Parallelen, so harmonisch miteinander zu verbinden, dass sie sich nicht, wie in der geometrischen Theorie, erst im Unendlichen, sondern in der lebendigen religiösen und politischen Wirklichkeit unseres Landes überschnitten haben. Dies darf uns, nach so manchen unnötigen und unerfreulichen Begleiterscheinungen bei der Vorbereitung des Besuchs, doch mit Genugtuung erfüllen. Ich selbst hatte an dem Erfolg des Besuches im Grunde meines Herzens nie gezweifelt, wenngleich ich genau so aufrichtig gestehen muß, dass mich in Anbetracht der vielen und unerwarteten Schwierigkeiten mitunter der Kleinmut heimsuchen wollte.“ 113 Das Problem wurde schließlich pragmatisch gelöst: Die Reise des Heiligen Vaters galt offiziell als Pilgerreise, die zeitweise den Charakter eines ———— 112
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Kardinal Höffner an Bundeskanzler Helmut Schmidt, 5.12.1980, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980, 11. Graf Finckenstein an Dr. Homeyer, 18.12.1980., in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980, 11. Am 24.10.1980 hatte Graf Finckenstein geschrieben: „Besonders gefreut hat mich Ihr Brief aber als, wie Sie bescheiden bemerken, ‚kleines Zeichen des Verständnisses‘ für unsere Probleme. Ich bin sicher, dass wir sie in einer Weise lösen werden, die der Bedeutung des Besuches des Hl. Vaters in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur gerecht, sondern die diesen Besuch für uns alle und die deutsche Bevölkerung auch zu einem großen, unvergesslichen Erlebnis machen wird.“ In: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980, 8/9.
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Staatsbesuchs annahm. Bundespräsident Carstens erwies dem Gast mit dem Empfang auf dem Flughafen Köln/Bonn und der Verabschiedung in München eine ganz besondere protokollarische Geste. Der Papst unterbrach seine Pilgerreise auf Einladung des Bundespräsidenten für einen Staatsempfang auf Schloss Augustusburg. Dort kam es auch zu einem persönlichen Gespräch zwischen dem Papst und dem verspätet eintreffenden Bundeskanzler. Zur Vorbereitung dieses Treffens hatte das Vatikanische Staatssekretariat zunächst in einem üblichen Promemoria Einschätzungen der aktuellen politischen Positionen Helmut Schmidts erhalten.114 Einige Tage später erinnerte Kardinal Höffner an die nach der Audienz bei Papst Paul VI. aufgetretenen Informationsprobleme und regte an, „ob nicht der Heilige Vater zu Beginn des Gespräches mit dem Kanzler vereinbaren kann, jetzt und später nichts über das Gespräch verlauten zu lassen. Vermutlich würde sich der Kanzler dann daran halten.“ 115 Es ist nicht bekannt geworden, ob der Papst diesen Hinweis aufgenommen und umgesetzt hat, aber immerhin fühlte Helmut Schmidt sich im Rückblick trotz seiner kritischen Bemerkungen „durch die Gottergebenheit und Warmherzigkeit“ des Papstes fasziniert und empfand „menschliche Sympathie“.116
IX. 1980: Der erste Papstbesuch von Johannes Paul II. in Deutschland Die Erwartungen der Deutschen an den ersten Papstbesuch (15.- 19. November 1980) nach fast 200 Jahren waren geteilt. Es gebe, schrieben die Bischöfe in einem Hirtenwort, „viel entschiedenen Glauben, zuversichtliche Hoffnung und große Liebe und Hingabe“ in Deutschland, man könne aber auch eine gewisse „Müdigkeit“ nicht übersehen, die „geistige Luft“ sei dem ———— 114
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Zunächst erhielt das Staatssekretariat noch einmal die Einschätzung, die für die Papstaudienz vom 9.7.1979 erstellt worden war. Am 10.11.1980 übersandte das Sekretariat informell eine weitere Einschätzung nach Rom, die im Katholischen Büro entstanden war, die Prälat Bocklet aber nicht weitergeleitet wissen wollte: Mir scheint, dass die Aufzeichnungen von 1979 „objektiver sind als die anderen Hinweise, die in vielen Teilen ich nicht für ausgewogen halte und deren Inhalt ich nicht teilen kann.“ In: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980 Allgemein, 11. Dr. Homeyer schrieb begleitend an den Vatikandiplomaten Dr. Ender: „Wenn Du es für sinnvoll und richtig hältst, kannst Du dies Promemoria ja ggf. Msgr. Lajolo oder dem Heiligen Vater selbst zuleiten.“ In: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980, 10/1. Note Dr. Homeyer an Dr. Ender, Vatikanisches Staatssekretariat, 14.11.1980, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980, 6. Schmidt, Weggefährten (vgl. Anm. 89), S. 380; vgl. auch Helmut Schmidt, Die Deutschen und ihre Nachbarn. Menschen und Mächte II, Berlin 1990, S. 467ff.
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Glauben und seiner Verwirklichung immer weniger förderlich.117 Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken sah in wichtigen Lebensfragen eine wachsende Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Kirche und dem allgemeinen gesellschaftlichen Wertbewusstsein, teilte aber die Hoffnung der Bischofskonferenz auf einen neuen missionarischen Aufbruch, auf eine „aufweckende Erinnerung“.118 Der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz schrieb dem Heiligen Vater noch wenige Tage vor dem Besuch in einem persönlichen Brief, dass ihn in den acht Jahren als Sekretär „nichts mehr bedrängt [habe] als die zunehmende Erkenntnis, dass die Kirche in Deutschland im ganzen zwar wohlgeordnet und durchaus eifrig bemüht ist, aber die Begeisterung zur Evangelisierung vermissen lässt. [...] Dass Ihr Besuch und Ihr Wort die Kirche in Deutschland wachrütteln und zur ‚ersten Liebe‘ zurückführen möge, ist gewiß nicht nur Gegenstand meines inständigen Betens.“ 119 Der Eindruck einiger – deutscher wie ausländischer – Medienvertreter, vor diesem Besuch eine im Vergleich zu anderen Papstreisen ungewöhnliche Reserve beobachtet zu haben, deckte sich mit internen Beurteilungen. Tatsächlich hielt sich die Begeisterung vor allem bei den Geistlichen zunächst in Grenzen. Prälat Homeyer ermahnte deshalb in einem Schreiben alle überdiözesan tätigen Priester eindringlich, sich intensiver für die geistige und geistliche Vorbereitung einzusetzen. „Gewiß wird Sie Ihre Fantasie die geeigneten Wege finden lassen.“ 120 „Sehr viele Bischöfe“, schrieb der Sekretär der Bischofskonferenz an Kardinal Höffner, hätten den Besuch zwar begrüßt, sich dann aber nicht mit persönlichem Interesse, Überzeugung und Energie für eine intensive geistliche Vorbereitung eingesetzt. „Diese Erfahrungen dürften aber auch zeigen, wie dringend notwendig der Papstbesuch war.“ 121 Der „Spiegel“ dehnte auf der Grundlage einer detaillierten Meinungsumfrage die Gleichgültigkeitsthese sogar auf die Mehrzahl der Deutschen aus: „Die aufwendig inszenierten fünf Papst-Tage in Deutschland werden das Fest einer Minderheit sein. [...] Nur jeder dritte Bundesbürger ———— 117
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Hirtenwort der deutschen Bischöfe zum Besuch des Heiligen Vaters in Deutschland, Fulda 25. September 1980, in: Amtsblatt der Erzdiözese Freiburg 30, 14.10.1980, S. 471-474. Das organisierte Laienapostolat in Deutschland – Erfahrungen und Erwartungen. Bericht an Johannes Paul II. anlässlich seines Deutschlandbesuchs, in: Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Hrsg.), Berichte und Dokumente 44, Bonn 1981, S. 4 -13, hier: S. 8, 13. Dr. Homeyer in einem Brief an Johannes Paul II., 11.11.1980, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980, 12. Schreiben von Dr. Homeyer, 13.10.1980, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980, 3. Vermerk Dr. Homeyers für den Vorsitzenden, 22.11.1980, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980.
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begrüßt es, daß Johannes Paul II. nach Deutschland kommt. Jeder zehnte ist dagegen, und den meisten (57 Prozent) ist der Besuch des Papstes gleichgültig.“ 122 Nach dem Besuch sahen die Meinungsumfragen deutlich anders aus. 4% der Bundesbürger hatten den Papst persönlich erlebt, 84% hatten zumindest eine seiner Stationen im Fernsehen verfolgt. 59% der in einer Repräsentativumfrage Befragten fanden es nun gut, dass der Papst nach Deutschland gekommen war. Von den befragten Katholiken waren 73% der Meinung, der Besuch sei ein großes Ereignis gewesen, das den Glauben und die Einheit der Kirche stärke. Als Papst Johannes Paul II. am Ende des sonntäglichen Angelus-Gebets am 10. August 1980 seinen Besuch in Deutschland angekündigt hatte, hatte er genau dieses Ziel als vorrangiges Ziel benannt: „Ich möchte in besonderer Weise die Brüder und Schwestern im Glauben stärken.“ 123 Der Papst wollte – wie bei seiner ersten öffentlichen Predigt nach dem Konklave oder an Pfingsten 1979 in Warschau – auch den Gläubigen in Deutschland Mut machen: In Anspielung an das Motto des Berliner Katholikentags (4.- 8. Juni 1980) – „Christi Liebe ist stärker“ – sagte er, er empfinde eine Herausforderung dazu, der stärkeren Liebe Christi Raum zu geben [...]. Nur der Glaube daran [...] kann uns die Unbefangenheit geben, gegenüber Gleichgültigkeit, Resignation, Ratlosigkeit, Lebensangst und Zynismus die unverkürzte Botschaft des Evangeliums zu vertreten [...]. Dann werden zwar nicht wie mit einem Schlag alle Probleme verschwinden, aber es wächst wieder der Mut, sich auf den Weg zu machen.“ 124 Mit solchen „frohen Botschaften“ nahm der Heilige Vater viele Menschen spontan für sich ein und kippte damit auch in Deutschland die skeptische Stimmung deutlich zu seinen Gunsten. Johannes Paul II. hatte sich mehrfach persönlich in die Programmplanung eingeschaltet und sich auf ein im Grunde unzumutbares 5 TageMammutprogramm in Köln, Bonn, Schloss Augustusburg in Brühl, Osnabrück, Mainz, Fulda, Altötting und München eingelassen, das neben den großen Gottesdiensten an den einzelnen Stationen auf das Gespräch mit speziellen Zielgruppen ausgerichtet war. In klug ausgewählten örtlichen Schwerpunktprogrammen predigte er zu aktuellen Themen: in Köln über ———— 122 123
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Zuviel für zu wenige, in: Der Spiegel 46, 10.11.1980, S. 71. Zitiert nach: Hirtenwort der deutschen Bischöfe zum Besuch des Heiligen Vaters in Deutschland, Fulda 25. September 1980, in: Amtsblatt der Erzdiözese Freiburg 30, 14.10.1980, S. 471- 474, hier S. 471. Papst Johannes Paul II., Ansprache an das Zentralkomitee der deutschen Katholiken im Priesterseminar in Fulda am 18. November 1980, in: Papst Johannes Paul II. in Deutschland (vgl. Anm. 108), S. 146 - 148, hier S. 148.
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Ehe und Familie, in Osnabrück über Diaspora, in Fulda über das Laienapostolat, in Mainz über die soziale Frage, in München zu der Jugend. Dazu kamen die Ansprachen und Gespräche mit repräsentativen Gruppen der deutschen Kirche: Mit 6.000 Wissenschaftlern und Studenten im Kölner Dom, mit der Kolpingfamilie in Köln, mit Behinderten und Vertretern der kirchlichen Hilfswerke in Osnabrück, mit Vertretern der Arbeiterschaft in Mainz, mit der Deutschen Bischofskonferenz und den Vertretern der Laien in Fulda, mit Ordensleuten und Theologen in Altötting, schließlich mit Künstlern und Publizisten, sowie mit Alten und Behinderten in München. Hinter der charismatischen Persönlichkeit des Seelsorgers Johannes Paul II. traten alle politischen Themen oder die Agenda der deutschpolnischen Besuchsreisen der letzten Jahre deutlich zurück. Ganz ohne politische Stellungnahmen kam aber auch dieser Besuch nicht aus. Bundespräsident Karl Carstens hatte den Papst bereits in seiner Begrüßungsrede auf dem Köln/Bonner Flughafen auf die deutsche Teilung angesprochen.125 „Unser Land ist geteilt. Aber das deutsche Volk hält an der Einheit der Nation fest. Vielfältig und zahlreich sind die Verbindungen zwischen den Deutschen in den beiden Teilen des Landes.“ 126 Als Ghostwriter dieser Rede darf Horst Osterheld vermutet werden, von September 1976 bis April 1980 Leiter der Zentralstelle für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz und anschließend Abteilungsleiter im Bundespräsidialamt. Osterheld hatte, wie aus seinen eigenen Aufzeichnungen hervorgeht, seit dem Besuch der polnischen Bischöfe in der Bundesrepublik Deutschland 1978 gute persönliche Kontakte zu dem damaligen Erzbischof von Krakau und dessen Sekretär geknüpft. In seiner Einstellung zu den kommunistischen Staaten, schreibt Osterheld, habe sich Papst Johannes Paul II. von Paul VI. unterschieden. Papst Paul VI. sei davon ausgegangen, daß der Kommunismus noch stärker werde und dass es vor allem darauf ankomme, die kirchlichen Strukturen im Ostblock zu erhalten, auch wenn dafür mit Kompromissen bezahlt werden müsse. „Johannes Paul II. indessen wußte, daß dies der falsche Weg war und die Kirche bereit sein müsse, auch Verfolgung zu erleiden und Opfer zu bringen. Er hatte mehr Vertrauen in die Kraft des Glaubens – und er sah die Brüchigkeit des kommunistischen Systems. Wie rasch das dann zusammenbrach, nur 10 ———— 125
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Bei seiner Ankunft am 15.11.1980 wurde Papst Johannes Paul II. von Bundespräsident Prof. Dr. Karl Carstens, von Kardinal Höffner, dem Apostolischen Nuntius Guido del Mestri, sowie den beiden Bundesministern Hans Dietrich Genscher und Josef Ertl begrüßt. Karl Carstens, Begrüßung des Heiligen Vaters auf dem Flughafen Köln-Bonn am 15. November 1980, in: Papst Johannes Paul II. in Deutschland (vgl. Anm. 108), S. 11f., hier S. 11.
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Jahre nach Beginn seines Pontifikats, wird auch er nicht erwartet haben – obwohl er selbst einige Voraussetzungen dafür geschaffen hat.“ 127 Der Papst antwortete dem Bundespräsidenten mit einem Selbstzitat aus seiner Ansprache von Castel Gandolfo vom 10. August 1980, er wolle durch seine Pilgerreise „die gesamte große deutsche Nation ehren, deren Geschichte auf so enge Weise mit der Geschichte des Christentums und der Kirche verbunden ist und zutiefst von der christlichen Tradition geprägt wurde“ 128, und schloss mit dem Segenswunsch: „Gott segne alle Deutschen in der Welt! Gott beschütze die Bundesrepublik Deutschland!“ 129 Bei seiner Verabschiedung spendete er seinen Segen „allen Bürgern Ihres Landes [...], darin eingeschlossen auch alle Ihre deutschen Brüder und Schwestern, die jenseits der Grenzen Ihres Landes leben.“ 130 Johannes Paul II. hatte sich, wie von Erich Mielke befürchtet, tatsächlich auf die Seite derer gestellt, die die deutsche Frage offen halten wollten. Für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, das bereits am 6. November 1980 sowohl über den genauen Programmablauf als auch über die Texte der päpstlichen Ansprachen verfügte, war es „offensichtlich“, dass der Papst „die reaktionären Kräfte der BRD unterstützt, die für das sogenannte Offenhalten der deutschen Frage eintreten.“ 131 Das Thema „Katholische Kirche in der DDR“ wurde damals weder in interne Überlegungen der Deutschen Bischofskonferenz einbezogen noch in den Medien behandelt. Kardinal Höffner hatte den Vorsitzenden der Berliner Bischofskonferenz, Gerhard Schaffran, zum Papstbesuch eingeladen und für die Stationen Köln und Fulda auch eine Zusage erhalten, die im Sekretariat interessanterweise auf einer Liste „Teilnahme ausländischer Bischöfe“ vermerkt wurde.132 Die Berliner Bischofskonferenz sprach in einem Hirtenbrief am 29. Oktober 1980 davon, die bevorstehende Pilgerfahrt in ———— 127
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Horst Osterheld, Der Kampf gegen die Zerreißung deutscher Bistümer an der innerdeutschen Grenze – Bericht eines Beteiligten. Erstdruck: KNA, Ökumenische Information, Nr. 9, 20.2.1991, S. 10 -15. Zitiert nach der von Karl-Joseph Hummel kommentierten Fassung in: Ulrich Schlie (Hrsg.), Horst Osterheld und seine Zeit (1919 -1998), Wien 2006, S. 187-198, hier S. 198. Ebd., S. 13. Ebd., S. 15. Papst Johannes Paul II., Abschiedswort auf dem Flughafen München-Riem am 19. November 1980, in: Papst Johannes Paul II. in Deutschland (vgl. Anm. 108), S. 200- 205, hier S. 203. Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium für Staatssicherheit. Der Minister, Berlin 6.11.1980, Politisch-operative Maßnahmen im Zusammenhang mit der Reise von Papst Johannes Paul II. in die BRD vom 15. bis 19. November 1980, 2 S., 3 S. Anlage, VVS MfS 000858/80. „Bischof Gerhard Schaffran, Berliner Bischofskonferenz zugesagt. Köln, Fulda, kommt per PKW, Unterkunft lediglich in Fulda 17./18. für sich und seinen Sekretär Kaulich. Weitere Mitteilungen an Heinz D. Thiel.“ In: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1980, 7.
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sechs deutsche Diözesen sei „ein Ereignis der Weltkirche und hat darum auch für uns Bedeutung. [...] Was hat der Papst mit seiner Pilgerfahrt nach Mitteleuropa vor? Welche gesamtkirchlichen Anliegen drängen ihn? Was will er damit uns sagen?“ 133 Formeller Anlass der Papstreise war der 700. Todestag von Albertus Magnus, der am 15. November 1280 verstorben war und in Köln begraben liegt. „Er war einer der größten Geistesmenschen im 13. Jahrhundert. Er hat wie kaum ein anderer das ‚Netz‘ geknüpft, das Glaube und Vernunft, Gottesweisheit und Weltwissen miteinander verbindet.“ 134 Der Papst ehrte mit Albertus Magnus aber nicht nur den Wissenschaftler. „In ihm ehre ich zugleich den Genius des deutschen Volkes, ehre ich vor allem die katholische Kirche dieses Landes, die wie in der Vergangenheit bis in unsere Tage ein hoch angesehenes und lebendiges Glied der Weltkirche geblieben ist.“ 135 Das uneingeschränkte – „wie in der Vergangenheit bis in unsere Tage“ – aus dem Munde des ehemaligen Erzbischofs von Krakau, in dessen Diözese das Vernichtungslager Auschwitz lag und der freiwillig zum Zwangsarbeiter in Polen wurde, um der wahrscheinlichen Deportation ins Reich zu entgehen, überraschte in seiner Eindeutigkeit. Aufmerksame Beobachter erinnerten sich aber, dass der Papst schon bei seinem Besuch in Auschwitz 1979 zur Versöhnung gemahnt hatte ohne den Namen der Nation zu nennen, die für den dort begangenen Völkermord die Verantwortung trägt. „Erlaubt mir, dass ich sie nicht nenne. Wir stehen an einem Ort, an dem wir von jedem Volk und von jedem Menschen als Bruder denken wollen. Und wenn in dem, was ich gesagt habe, auch Bitterkeit war, meine lieben Brüder und Schwestern, habe ich das nicht gesagt, um irgendjemanden anzuklagen. Ich habe das gesagt, um zu erinnern. [...] Ich spreche im Namen aller, deren Rechte irgendwo auf der Welt missachtet und vergewaltigt werden.“ 136 In seiner Rede beim Empfang des Bundespräsidenten auf Schloss Augustusburg in Brühl knüpfte der Papst noch einmal an diesen Gedanken an, als er bemerkte: „Mit besonderer Freude hebe ich die wachsende Ver———— 133
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Hirtenwort der Bischöfe der Berliner Bischofskonferenz vom 29.10.1980. Abdruck in: Gerhard Lange u.a. (Hgg.), Katholische Kirche Sozialistischer Staat DDR. Dokumente und öffentliche Äußerungen 1945 -1990, Leipzig 1992, S. 297- 300. Papst Johannes Paul II., Predigt zum Thema Ehe und Familie auf dem Butzweiler Hof in Köln am 15. November 1980, in: Papst Johannes Paul II. in Deutschland (vgl. Anm. 108), S. 16 -22, hier S. 21. Papst Johannes Paul II., Grußwort auf dem Flughafen Köln-Bonn am 15. November 1980, in: Papst Johannes Paul II. in Deutschland (vgl. Anm. 108), S. 12 -15, hier S. 13. Johannes Paul II. am 7.6.1979 in Auschwitz, zitiert nach: Stark im Glauben. Johannes Paul II. in Polen, Kevelaer 1979, S. 128f. Vgl. auch den Bericht „Besinnungstage der polnischen Nation“ von Jürgen Hoeren, in: Rheinischer Merkur vom 15.6.1979.
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ständigungsbereitschaft zwischen Ihren Bürgern und dem polnischen Volk hervor. Hierbei gebührt bekanntlich auch den Bischöfen und Katholiken in beiden Ländern ein nicht geringes Verdienst. In allen leidvollen Beziehungen zwischen den Völkern gilt der Grundsatz: Nicht das Aufrechnen des gegenseitig sich zugefügten und erduldeten schweren Unrechts und Leids, sondern allein der Wille zur Versöhnung und die gemeinsame Suche nach neuen Wegen friedlichen Zusammenlebens können für die Völker den Weg in eine bessere Zukunft ebnen und gewährleisten.“ 137 Diese weite Perspektive drängte die bilateralen deutsch-polnischen Beziehungen etwas in den Hintergrund. Vor seinem Rückflug aus München kam der Papst doch noch darauf zu sprechen und verabschiedete sich mit der persönlichen Ermahnung: „Ich werde Euch liebe Brüder sehr dankbar sein, wenn Ihr Euch weiterhin darum bemüht, diese Kontakte noch zu vertiefen. Dabei haben wir die Geschichte der Kirche und der Christenheit dieser Nation in ihrer tausendjährigen Dimension vor Augen, in der das Leben ihrer Bürger oft nicht leicht gewesen ist. Diese Nation ist Euch von der göttlichen Vorsehung als unmittelbarer östlicher Nachbar gegeben worden.“ 138
X. Solidarität und Stagnation 1980-1987 Als Bundespräsident Karl Carstens am 24. Dezember 1981 Kardinal Höffner zu dessen 75. Geburtstag gratulierte: „Ihre Kontakte mit dem polnischen Episkopat haben mitgeholfen, das polnische und das deutsche Volk miteinander zu versöhnen. Auch dafür danke ich Ihnen.“ 139, hatten sich die Rahmenbedingungen der deutsch-polnischen Beziehungen innerhalb kurzer Zeit grundlegend verändert. Am 13. Mai 1981 war Papst Johannes Paul II. bei einem Attentat in Rom schwer verletzt worden, wenige Tage später, am 28. Mai 1981, verstarb in Warschau Primas Wyszyński. Die Auseinandersetzungen um soziale Reformen und politische Freiheit in Polen, die zunächst zur Gründung der freien Gewerkschaft „Solidarität“ führten, hatten sich binnen kurzem zu einer Protestbewegung großer Teile des polnischen Vol———— 137
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Papst Johannes Paul II., Ansprache beim Empfang des Bundespräsidenten im Schloß Augustusburg, Brühl, am 15. November 1980, in: Papst Johannes Paul II. in Deutschland (vgl. Anm. 108), S. 39 44, hier S. 40f. Papst Johannes Paul II., Abschiedswort auf dem Flughafen München-Riem am 19. November 1980, in: Papst Johannes Paul II. in Deutschland (vgl. Anm. 108), S. 200 - 205, hier S. 202. Bulletin. Hrsg. v. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 124, 29.12.1981.
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kes ausgeweitet, der die Regierung am 13. Dezember 1981 nur noch durch die Ausrufung des Kriegsrechts Herr zu werden glaubte. Die persönliche Bedrohung vieler politisch engagierter polnischer Katholiken, zu denen oft jahrelang gewachsene Verbindungen bestanden, an Leib und Leben und die damit einhergehende katastrophale Versorgungskrise führten bei den deutschen Katholiken zu einer in diesem Ausmaß einmaligen Solidaritätswelle und intensiven Gebets- und Solidargemeinschaft. Die deutschen Katholiken spendeten „Hunderte Millionen Mark“ 140 und unterstützten darüber hinaus das polnische Volk in zahllosen Einzelinitiativen mit Lebensmitteln und Hilfsgütern. Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend rief für den 22. Dezember 1981 zu einem Schweigemarsch mit einem anschließenden Bittgottesdienst im Kölner Dom auf, den sowohl das Zentralkomitee der deutschen Katholiken als auch die Deutsche Bischofskonferenz und ihr Vorsitzender Kardinal Höffner unterstützten. Hans Maier, damals Vorsitzender des ZdK, beschwor Bundesregierung, Bundestag und politische Parteien, Polen in seinem Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung nicht allein zu lassen. „Von uns ist jetzt nicht nur die Solidarität des Gebetes und der helfenden Tat gefordert, sondern auch die Solidarität der entschiedenen politischen Stellungnahme.“ 141 Kardinal Höffner erinnerte daran, dass durch die verbrecherische Politik Hitlers Deutschland vor mehr als 40 Jahren entscheidend daran mitgewirkt hatte, dass sich das polnische Volk in Unfreiheit befindet. Wir stehen deshalb in der hohen moralischen Verpflichtung, dem polnischen Volk bei seinem Einsatz um Freiheit und Selbstbestimmung jede nur mögliche Hilfe zu geben.“ 142 Im Vergleich dazu reagierte die Bundesregierung auf die Entwicklung in Polen abwartend und taktierend. Kardinal Höffner zögerte nicht, seine Kritik in einem Gespräch mit Helmut Schmidt über „die Lage in Polen aus politischer, caritativer und humanitärer Sicht“ am 28. Januar 1982 persönlich vorzutragen. Zur Abstimmung seiner Position mit dem Vatikan schrieb der Kardinal an Nuntius Guido del Mestri: „Mit der Mehrheit der deutschen Bevölkerung bin ich persönlich nicht wenig betroffen über die die Lage in Polen betreffenden Äußerungen von Bundeskanzler Schmidt. Dabei denke ———— 140
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Josef Homeyer beim Festakt zum 40. Jahrestag des Briefwechsels der polnischen und deutschen Bischöfe von 1965 am 21.9.2005 in Fulda, in: Pressemitteilungen der Deutschen Bischofskonferenz, 21.9.2005. Hans Maier, Erklärung zur Situation in Polen am 13. Januar 1982, in: Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Hrsg.), Berichte und Dokumente 49, Bonn 1983, S. 37. Erklärung der deutschen Bischöfe zu Polen und Mittelamerika, 4. März 1982, in: Pressedienst der Deutschen Bischofskonferenz, Anlage 2 zum Pressebericht der Frühjahrsvollversammlung.
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ich an seine Äußerung am 13. Dezember 1981 während seiner Begegnung mit dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker, dass er mit diesem betroffen sei über die leider notwendig gewordene Maßnahme der Warschauer Regierung, weiter an die wiederholten Äußerungen der Bundesregierung, es handele sich um eine ‚innerpolnische Angelegenheit‘, über die Interpretation des Jalta-Abkommens durch den Bundeskanzler im Zusammenhang mit der Lage in Polen, an seine wiederholte Distanzierung von den Sanktionen der US-Regierung und nicht zuletzt an den wiederholten Hinweis des Bundeskanzlers, er orientiere sich bei der Beurteilung der Lage in Polen an der Haltung des Heiligen Vaters und an der katholischen Kirche in Polen. Ich sehe mich verpflichtet, dem Herrn Bundeskanzler [...] meine und der deutschen Bevölkerung Enttäuschung über seine Haltung und Äußerungen der Bundesregierung gegenüber der Lage in Polen zum Ausdruck zu bringen. [...] Es liegt mir natürlich sehr daran, in dieser Frage auch im Sinne des Heiligen Vaters zu handeln.“ 143 Die verschärfte politische Lage in Polen stand auch im Zentrum des Düsseldorfer Katholikentags im Mai 1982, an dem nach der Überwindung etlicher Reiseschwierigkeiten auch der neue polnische Primas Josef Glemp teilnehmen konnte. Nach zwei Kurzaufenthalten – 1979 während des Papstbesuches und 1981 zur Beerdigung des Primas – reiste Kardinal Höffner vom 3. bis 5. Juni 1982 zu seinem dritten Arbeitsbesuch nach Polen. Die polnischen Bischöfe hatten vorab eine Liste mit dringend benötigten Medikamenten und medizinischen Geräten übermittelt. Die deutschen Katholiken hatten in einer Sonderkollekte für Polen 24 Millionen DM gesammelt. Der Deutsche Caritasverband lieferte zwischen Dezember 1981 und Mai 1982 11.455t Lebensmittel nach Polen. Allein diese Zahlen belegen, wie vorrangig in diesen Monaten die materiellen Fragen in Polen gewesen sind. Im Verlauf der Beratungen im Juni 1982 spielte der Plan eines privaten Landwirtschaftsprogramms mit einer Größenordnung von 5 Milliarden DM in fünf Jahren eine wichtige Rolle. Kardinal Höffner hat sich dafür bei der Bundesregierung, bei verschiedenen Außenministern der Europäischen Gemeinschaft und beim amerikanischen Präsidenten Reagan persönlich, aber im Ergebnis ohne Erfolg eingesetzt. Die Gespräche der deutschen und polnischen Katholiken gerieten in den 1980er Jahren dann in eine „Phase der Bewährung“ (Homeyer). Die politi———— 143
Schreiben des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz an den Apostolischen Nuntius, 25.1.1982, AKZG, Vatikanische Ostpolitik, Sammlung Hummel. Vgl. dazu die Meldung der Süddeutschen Zeitung vom 29.1.1982.
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sche, wirtschaftliche und soziale Krise in Polen verschob die Agenda in einem erheblichen Maß. Verständlicherweise konzentrierten sich die polnischen Katholiken in ihrem Überlebenskampf zunächst einmal verstärkt auf sich selbst. Der Kontakt der deutschen Bischöfe zu dem neuen Primas musste sich erst entwickeln. In der Grenzfrage, die zu einer Art Lackmustest der Verständigung geworden war, gab es keine Fortschritte. Die deutschen Bischöfe sahen sich nicht legitimiert, einen förmlichen Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete zu erklären, die polnischen Bischöfe waren sehr zurückhaltend, das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in Bezug auf die deutsche Einheit zu unterstützen. Die bilateralen Beziehungen erwiesen sich in diesen Jahren aber als belastbar. Man unterstützte sich, wo man sich unterstützen konnte, und mußte an den wunden Punkten den eigenen Standpunkt nicht verschweigen. Am 10. Oktober 1982 reiste Kardinal Höffner mit 9 weiteren Bischöfen zur Heiligsprechung Maximilian Kolbes nach Rom. Höffner predigte bei einem gemeinsamen Dankgottesdienst im Petersdom. Die Delegation nahm auch an dem Gottesdienst auf dem deutschen und polnischen Gefallenenfriedhof in Monte Cassino teil, den der polnische Episkopat angeregt hatte. Anlässlich des 20. Jahrestags des Austauschs der Vergebungsbotschaften trafen sich die Bischöfe, die sich damals zu einer außerordentlichen Synode in Rom aufhielten, am 7. Dezember 1985 zu einer Eucharistiefeier in der Titelkirche von Primas Glemp Santa Maria Trastevere. In seiner Einführung erinnerte Höffner an Kardinal Döpfner (1970): „Die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland wünscht entschieden, dass alle, die in jenen Gebieten östlich der Oder und Neiße wohnen, dort in Frieden und Sicherheit leben können und dass niemand jetzt und in Zukunft ihnen einen Zwang auferlegt.“ 144 Höffner stellte aber auch noch einmal klar: „Weil das Verständnis für dieses Grundbedürfnis des polnischen Volkes bei uns allgemein verbreitet ist, hoffen wir auch, dass die polnischen Mitbrüder uns verstehen, wenn wir eine solche Erklärung nicht vermischen wollen und können mit einer Stellungnahme zur Frage einer noch ausstehenden abschließenden Friedensordnung für unser Land als Ganzes und für den ganzen gespaltenen europäischen Kontinent. Eine solche herbeizuführen oder für überflüssig zu erklären, steht nicht in der Macht der Kirche.“ 145 ———— 144
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Der Text der Einführung ist in einer zweisprachigen Broschüre mit den liturgischen Texten und Liedern enthalten. Eucharistiefeier in der Kirche Santa Maria Trastevere 7. Dezember 1985, 18.00 Uhr, S. 10 -14, hier S. 10. Ebd., S. 10f.
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Der letzte Besuch Kardinal Höffners in Polen vom 25. bis 27. August 1986 stand erneut unter pastoraler Perspektive und beschäftigte sich mit den Möglichkeiten, Europa neu zu evangelisieren.
XI. 1987: Zweiter Papstbesuch von Johannes Paul II. in Deutschland Anlass für den 2. Besuch von Papst Johannes Paul II. in der Bundesrepublik Deutschland vom 30. April bis 4. Mai 1987 waren die Seligsprechung der Karmelitin Sr. Teresia Benedicta vom Kreuz, Edith Stein, in Köln und des Jesuiten P. Rupert Mayer in München. Das weitere Besuchsprogramm entstand unter Berücksichtigung verschiedener vatikanischer und deutscher Vorschläge: Der Papst selbst hatte den Wunsch geäußert, das Grab Kardinal von Galens in Münster zu besuchen. Johannes Paul II. zählte die Marienfrömmigkeit – „Maria, die Königin der Heiligen“ – und die Heiligenverehrung unter die vorrangigen Anliegen eines Christen. Es war deshalb naheliegend, von Münster zum Wallfahrtsort Kevelaer zu pilgern, an dem 1987 auch der Marianische Weltkongress stattfand. Die dem Papst erklärtermaßen wichtige Begegnung mit dem Zentralrat der Juden wurde für Köln eingeplant. Bischof Stimpfle hatte den Papst gebeten, das neu gebaute Augsburger Priesterseminar einzuweihen. In Augsburg fand auch ein ökumenischer Gottesdienst statt. Eine Einladung nach Speyer wurde berücksichtigt, weil es sich dabei um eine wichtige Station im Leben von Edith Stein handelte. Insgesamt besuchte der Papst in knapp 100 Stunden 11 Städte in Deutschland. Dieser zweite Besuch des Papstes galt also nicht wie 1980 der katholischen Kirche in der Bundesrepublik generell, sondern ausgewählten Ortskirchen. Das allgemeine Interesse an Papst Johannes Paul II. hatte seit 1980 erkennbar nachgelassen, auch wenn er gerade als Persönlichkeit „hierzulande immer noch beträchtliches Ansehen und viel Sympathie [genießt], auch über den Kreis der praktizierenden Katholiken hinaus. Man schätzt den Papst als Anwalt der Menschenrechte gegenüber allen politischen Systemen, registriert zustimmend seine Bekenntnisse zur Ökumene, bewundert seinen ungeheuren persönlichen Einsatz“, schrieb die Herder Korrespondenz im Vorfeld.146 Die Mehrzahl der Medienvertreter war sich aber mit der „Zeit“ einig: „Von der ‚verkrampften Vorfreude‘, der Premieren-Stimmung ist ———— 146
Ulrich Ruh, Der Papst und die Deutschen, in: Herder Korrespondenz 41, Heft 4, April 1987, S. 149 -151, hier S. 150.
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diesmal kaum etwas zu spüren – weder am Rhein noch in Rom.“ 147 Das Medienphänomen Johannes Paul II. wurde dennoch selbst von den Medien aufmerksam wahrgenommen, die dies lieber vermieden hätten. Der „Spiegel“ verstieg sich im Hinblick auf das außergewöhnliche Interesse sogar zu der Formulierung „allgemeine Mobilmachung“. Der Vatikan stand auch während der Vorbesprechungen für den Besuch 1987 auf dem Standpunkt: „Der Heilige Vater führt keinen Staatsbesuch in Deutschland durch. [...] Er ist aber bereit, anlässlich seines Pastoralbesuchs je ein Gespräch mit dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler zu führen.“ 148 Die Pilgerreise 1987 wurde zu einem beeindruckenden religiösen Fest. Das Rahmenthema „Ihr werdet meine Zeugen sein“ – zugleich Wahlspruch des gastgebenden Essener Bischofs Franz Hengsbach – war immer präsent, wurde von der Verschiedenheit der Einzelthemen jedoch immer wieder in den Hintergrund gedrängt. Die Zuhörer bei den insgesamt 22 Ansprachen dieser Reise konnten sich den mit charismatischer Überzeugungskraft, wenn auch weitgehend monologisch vorgetragenen Positionsbeschreibungen in der Frage der Abtreibung, der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit, des Miteigentums an den Produktionsmitteln, von Familie und Europa nicht entziehen. „Die Reden des Papstes waren markante Zeugnisse des kirchlichen Lehramts. [...] Sie waren konkret bis zum Schmerzhaften; niemand konnte ausweichen. Sie markierten die Schnittpunkte, an denen Gesellschaft und Kirche miteinander ins Gespräch kommen müssen.“ 149 Bedingt durch die Seligsprechungen von zwei Glaubenszeugen des Dritten Reiches war das Thema „Vergangenheit“ auch bei dieser Pastoralreise präsent. Bei der Begrüßung des Hl. Vaters, vor der Seligsprechung der Karmelitin Edith Stein am 1. Mai 1987, erwähnte Kardinal Höffner aus gutem Grund den polnischen Franziskanerpater Maximilian Kolbe als das Paradebeispiel für den erfolgreichen Abschluss jahrzehntelanger deutsch-polnischer Bemühungen.150 ———— 147 148
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Hansjakob Stehle, Schatten der Vergangenheit, in: Die Zeit vom 17.4.1987. Vermerk von Prälat Schätzler, Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, nach einem Gespräch mit P. Tucci und Dr. Ender am 19.9.1986 in Rom, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Papstbesuch 1987, Allgemeiner Briefwechsel vor dem Papstbesuch. Hans Maier, Bericht zur Lage. Vor der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken am 15./16.Mai 1987, in: Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Hrsg.), Berichte und Dokumente 65, Bonn 1987, S. 3. Karl-Joseph Hummel, Stärkung im Glauben, Ermunterung zu Engagement, Ermutigung für die Zukunft – Die Pastoralreisen Papst Johannes Pauls II. in die Bundesrepublik Deutschland 1980, 1987 und 1996 (Deutsch und Übersetzung ins Polnische), in: Pontifex Brückenbauer Budowniczy pomostów. Auszüge der Reden und Predigten von Johannes Paul II. während seiner drei apostolischen Reisen nach Deutschland: 1980, 1987, 1996. Hrsg. von der Delegatur der Deutschen Bi-
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Bereits 1960 hatte Franz Wosnitza, der frühere Generalvikar von Kattowitz, seinem ehemaligen Mitarbeiter Boleslaw Kominek den Vorschlag gemacht, gegenseitig die Heiligsprechung der beiden KZ-Märtyrer Pater Kolbe und Edith Stein zu fördern. Kardinal Wojtyla hatte 1978 in München über „Unser(en) gemeinsame(n) Weg“ gepredigt: „Wenn die Kirche einmal die Schwester Benedikta vom Kreuze auf die Altäre erheben wird, worum der deutsche Episkopat, von polnischen Bischöfen unterstützt, sich bemüht, so werden sie beide: Maximilian Kolbe und Edith Stein, uns allen, Polen und Deutschen, zurufen, von demselben Ort des Märtyrertodes, den sie erlitten haben, ohne voneinander zu wissen: ‚Wollet doch des Evangeliums Christi würdig leben!‘ Die bewegende Kraft dieses Rufes wird dann noch viel mächtiger sein.“ 151 Bei seinem ersten Papstbesuch hatte Johannes Paul II. dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz eine Reliquie von P. Kolbe als Geschenk der Weltkirche an die deutschen Katholiken überreicht. 1982 betete Kardinal Höffner in der Todeszelle des Seligen Maximilian Kolbe, „dessen baldige Heiligsprechung als Märtyrer wir erhoffen“ 152, und unterzeichnete mit dem polnischen Episkopat ein gemeinsames Gesuch, Maximilian Kolbe als Märtyrer heiligzusprechen. „Wir wollen uns gemeinsam für die Erneuerung Europas im Geist Jesu Christi des Gekreuzigten einsetzen. Möge Europa mithelfen, die Botschaft der Liebe und der Gerechtigkeit in der Welt zu verwirklichen.“ 153 Nach fast vier Jahrzehnten war das Ziel nun endlich erreicht: „Wie der Märtyrer von Auschwitz, Maximilian Kolbe, Fürsprecher bei Gott ist für die Versöhnung von Polen und Deutschen, so möge die Märtyrerin von Auschwitz, Edith Stein, Fürsprecherin sein für die Versöhnung zwischen Juden und Deutschen.“ 154
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schofskonferenz für die polnischsprachige Seelsorge in Deutschland, Hannover 2010, S. 154 -198, hier S. 182 - 190. Karol Wojtyla, Unser gemeinsamer Weg, Predigt im Dom von München, 24. September 1978, in: Begegnung der Konferenz (vgl. Anm. 52), S. 51. Gebet Kardinal Höffners am 5. Juni 1982 in Auschwitz, in: Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.), Deutschland und Polen. Kirche im Dienst der Versöhnung, Bonn 1996, S. 75. Ebd. Joseph Kardinal Höffner, Grußwort an den Heiligen Vater vor der Eucharistiefeier im Stadion Köln-Müngersdorf am 1. Mai 1987, in: Predigten und Ansprachen von Papst Johannes Paul II. bei seinem Pastoralbesuch in Deutschland sowie Begrüßungsworte und Reden, die an den Heiligen Vater gerichtet wurden. 30. April bis 4. Mai 1987, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 77, Bonn 1987, S. 22f., hier S. 23.
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XII. Versöhnte Zukunft Papst Johannes Paul II. würdigte bei der Generalaudienz in Rom am 28. November 1990 in einem polnischen Grußwort die Bemühungen der deutschen und der polnischen Kirche um Versöhnung als einen bedeutenden Beitrag zum Wiederaufbau einer „moralischen Einheit Europas“. Die „prophetische“ Botschaft von 1965 sei ein Pionierschritt für die Aussöhnung in Frieden und Gerechtigkeit gewesen.155 Es war nicht zufällig, dass mit Karol Wojtyla, Julius Döpfner und Joseph Höffner drei Bischöfe zu zentralen Ansprechpartnern im deutschpolnischen Kommunikationsnetzwerk wurden, die unter kirchlichen wie weltlichen Gesichtspunkten international dachten und handelten. Ihre konsequente Orientierung an Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit, ihr konsequentes Eintreten für unverzichtbare Grundwerte – kam es gelegen oder ungelegen – und ihr Verständnis von der universalen Gültigkeit der Menschenrechte trugen entscheidend zu den Paradigmenwechseln bei, die für die Fortschritte auf dem Weg der Versöhnung so unverzichtbar waren wie der gute Wille. Ohne den Perspektivwechsel von den Belastungen der Vergangenheit zu den konkreten Hoffnungen für eine bessere Zukunft, von einem nationalstaatlich geprägten Denken zu europäischen Gemeinsamkeiten und von einem deutschen und polnischen Katholizismus zu einem nachkonziliaren Verständnis von Weltkirche wäre dies nicht gelungen. Dafür bedurfte es aber einer engen persönlichen Abstimmung, die ohne eine belastbare Vertrauensbasis schwer vorstellbar ist. Diese Basis musste erst geschaffen werden. Die paradoxen Begriffe „Seelsorgepolitik“ und „pastoraler Staatsbesuch“ deuten die damit verbundenen Schwierigkeiten an. Beide Seiten wurden nicht müde, von einer „Pilgerfahrt“ zu sprechen, wenn sie als Avantgarde der politischen Versöhnung agierten und politische Wirkung erzielten ohne dass sie damit politische Absichten verbunden hätten. Seelsorgepolitik war ohne Politik nicht zu haben, aber das Ziel der Seelsorgepolitik war die Seelsorge. Weder die deutschen noch die polnischen Bischöfe waren zu politischen Äußerungen befugt oder dafür kompetent. Allein schon aus diesem Grund sind „alle politisierenden Missdeutungen [...] gewissermaßen Entstellungen.“ 156 Papst Johannes Paul II. widmete dem Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft zeitlebens große Aufmerksamkeit. Karol Wojtyla sprach ———— 155 156
Vgl. KNA, Aktueller Dienst Vatikan, Nr. 277, 29.11.1990. Julius Döpfner in einer Notiz für ein Interview über den Briefwechsel von 1965, in: Erzbischöfliches Archiv München, KDA 43/1966, Millenniumfeiern in Polen.
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schon 1978 von der bevorstehenden Jahrtausendwende. Zur Vorbereitung auf das Jahr 2000 forderte er dann als Papst von den Katholiken eine „Reinigung des Gedächtnisses“, um die Spuren der Gegenwart Gottes in unserer Zeit besser erkennen zu können. Die Anerkennung schuldhafter Verfehlungen aus der Vergangenheit trage dazu bei, unser Gewissen angesichts heutiger Verwicklungen zu schärfen und jedem den Weg der Versöhnung zu öffnen.157
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Vgl. das Apostolische Schreiben „Tertio Millennio Adveniente“ vom 10.11.1994 und die Verkündigungsbulle des Großen Jubiläums des Jahres 2000 „Incarnationis Mysterium“ vom 29.11.1988.
Am Ende des pianischen Zeitalters – Katholische Kirche in Deutschland im letzten Lebensjahr Papst Pius’ XII. Eine Momentaufnahme von Heinz Hürten
Dass mit der Wahl des Kardinals Angelo Roncalli zum Papst im Herbst des Jahres 1958 eine neue Epoche der Kirchengeschichte angebrochen sei, ist ein kaum in Zweifel zu ziehender Grundbestand unseres öffentlichen Bewusstseins. In den einhundertzweiundzwanzig Jahren zuvor hatten drei Päpste den Namen Pius getragen, unter deren Vorgängern seit 1775 weitere drei. Ihre Reihe war viermal unterbrochen worden, in der Lebenszeit Pacellis durch das lange Pontifikat Leos XIII. und das viel kürzere Benedikts XV., aber ihre Nachfolger hatten jeweils wieder den Namen Pius angenommen. Dabei kam dem Namen Pius an sich keine bestimmte Symbolik oder Programmatik zu. Der Humanist Enea Silvio de Piccolomini hatte 1458 nach seiner Wahl erstmals den Namen des Märtyrers Pius aus dem 2. Jahrhundert angenommen, weil er mit der Übernahme dieses Namens in Anlehnung an die von Vergil stammende Figur des Pius Aeneas die Trennung des neugewählten Pius von seinem ziemlich weltlichen Vorleben als Aenaes deutlich machen wollte, andere Pius-Päpste hatten andere Gründe für die Wahl ihres Namens (wie Pius III. die Verwandtschaft), und Pius XII. hatte den seinen gewählt, weil er sich (trotz seiner entscheidenden Förderung durch Benedikt XV.) in der Tradition Pius’ X. und Pius’ XI. sah. Für ihn war dieser Papstname nicht zufällig oder äußerlich begründet, sondern als Verpflichtung auf seine Vorgänger, die diesen Namen getragen hatten. Dass Roncalli den seit Jahrhunderten nicht mehr von einem Papst geführten Namen Johannes annahm, konnte noch nicht sicher als Anzeichen für ein Abrücken von der Tradition des zwölften Pius, für einen Aufbruch zu Neuem gedeutet werden, das dann sehr rasch mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil seinem epochalen Ausdruck fand. Aber auch die Nachfolger Johannes’ XXIII. in den folgenden fünf Jahrzehnten knüpften nicht wieder an die Tradition des Namens Pius an. Dass sie bislang ungebrauchte Kombinationen von Namen schufen oder solche annahmen, die schon lange außer Gebrauch gekommen waren, macht den Wandel deutlich. Offenbar erschien den in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gewählten Päpsten der Name Pius nicht mehr als sachliches Programm für ihr eigenes Pontifikat
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und die Träger dieses Namens galten ihnen nicht mehr als normative Vorbilder. Waren somit im Jahre 1958 der Abbruch der pianischen Tradition schon angedeutet und für Klerus und Volk andere Orientierungen und Impulse zu erwarten, mag es reizvoll sein, einmal den Blick auf das kirchliche Leben zu richten, wie es bis dahin in dem begrenzten Raum Deutschlands, dem Pius XII. immer besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte, Gestalt angenommen hatte, und zwar nicht auf der Ebene der Theologie oder des Kirchenrechts, nicht einmal auf jener der praktischen Pastoral, sondern der alltäglichen Aktivität von Geistlichen und Laien zur Gestaltung der Welt, die Pius XII. wie kein anderer von ihnen angemahnt hatte. Das Jahr 1958, in dessen Herbst Pius XII. starb, war das letzte in der Kirchengeschichte, das noch nicht im Zeichen des Zweiten Vatikanischen Konzils stand. Seit dessen Ankündigung am 25. Januar 1959 wurde dieses zum zentralen Thema der innerkirchlichen Diskussion wie der öffentlichen Aufmerksamkeit, die andere Sachbereiche zurücktreten ließen. Dieses letzte Jahr der vorkonziliaren Zeit hatte für den deutschen Katholizismus, ja für die politische Öffentlichkeit des Landes mit einem Paukenschlag begonnen: Die Katholische Akademie in Bayern hatte es unter ihrem jungen Direktor Dr. Karl Forster gewagt, eine erstrangig besetzte Tagung zum Thema „Katholische Kirche und demokratischer Sozialismus“ zu veranstalten. Bemühungen hochgestellter kirchlicher Kreise, die Tagung noch im letzten Augenblick zu verhindern, waren dank der Loyalität, die der zuständige Münchner Erzbischof Josef Kardinal Wendel der Akademie entgegenbrachte, nicht zum Ziel gelangt.1 Seit je war die Unvereinbarkeit von katholischer Glaubensüberzeugung und sozialdemokratischer Ideologie ein Grundsatz der Kirche gewesen. Die Enzyklika „Quadragesimo anno“ hatte ihn 1931 eingeschärft, und im Bundestagswahlkampf von 1957 hatte der Bischof von Münster dessen unveränderte Geltung betont. Die Münchner Tagung war nicht darauf angelegt gewesen, die Geltung dieses Satzes zu erschüttern, vielmehr war es um eine Klärung der Positionen gegangen, in deren Verlauf die Elemente marxistischer Doktrin, die von der Sozialdemokratie noch mitgeschleppt, aber nur ———— 1
Belege für die folgenden Ausführungen, die im Einzelnen aufzuführen hier jeden Rahmen sprengen würde, finden sich in dem alsbald zu erwartenden abschließenden Band der Reihe „Akten deutscher Bischöfe zur Lage der Kirche 1945 bis 1960“. Der hier gebotenen Beitrag führt Überlegungen weiter, die ich unter dem Titel „Deutscher Katholizismus unter Pius XII.: Stagnation oder Erneuerung“ in: Franz-Xaver Kaufmann und Arnold Zingerle (Hg.), Vatikanum II und Modernisierung. Paderborn u.a. 1996, S. 53-65 vorgetragen habe.
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noch von einer Minderheit in der Partei als verbindlich betrachtet wurden, weit weniger als das wirksame Hindernis für eine Begegnung mit der Kirche diagnostiziert wurden als das liberale Kirchenverständnis der SPD, das der Kirche jenes „Mitsein“ in der Gesellschaft verwehrte, das sie um ihres Auftrags willen für unverzichtbar hielt. Eben dieses „Mitsein der Kirche in der Gesellschaft“ war ein Element der Lehre Pius’ XII. gewesen, der die consecratio mundi als wesentliche Aufgabe der Laien gelehrt hatte. So konnte die Münchner Tagung nicht jene Annäherung der Kirche an die Sozialdemokratie bringen, die manche befürchteten, sie hatte vielmehr der auf der Suche nach neuen Orientierungen begriffenen Partei die Positionen deutlich gemacht, welche die Kirche für sich gewahrt wissen wollte. Das Godesberger Programm der SPD, das im folgenden Jahr beschlossen wurde, hat diesen Anspruch noch nicht hinreichend anerkannt. Auch hat die Münchner Tagung im Wahlverhalten der Katholiken keine Epoche gemacht; aber sie hatte daran erinnert, dass Dinge im Wandel waren, die einmal die sichere Hut, welche die Kirche bei CDU und CSU gefunden hatte, in Frage stellen könnten. Auf der anderen Seite war hier deutlicher als gewohnt der generelle Anspruch betont worden, den die Kirche auf Anhörung, Mitgestaltung, eben „Mitsein“ im Prozess der gesellschaftlichen Selbstorganisation erhob. Dies war weit mehr als formelle Sicherung ihres innerstaatlichen, rechtlichen Status, wie er mehr oder weniger befriedigend in den Konkordaten umschrieben war, sondern der Anspruch der Kirche, sich als „Lebensprinzip der menschlichen Gesellschaft“ auszuwirken, wie Pius XII. dies bezeichnet hatte, also Mitwirkung, Mitsprache bei allen Entscheidungen, die der Gesellschaft ihr Gesicht geben. Dieses Aufgabenfeld war unübersehbar groß, und es mochte sich fragen, ob die Kräfte der Kirche stark genug waren, um es zu bestellen. Solche Besorgnisse konnte die Erinnerung an die Auseinandersetzungen bei der vorangegangenen Bundestagswahl erregen. Trotz der eindeutigen kirchlichen Position zugunsten der C-Parteien hatten einige prominente Katholiken, die als solche in der Kirche Achtung und Anhänger besaßen, sich öffentlich für eine von kirchlichen Direktiven unbeeinflusste Freiheit der Stimmabgabe ausgesprochen und damit den politischen Führungsanspruch der Bischöfe in Frage gestellt. Die im gleichen Jahr anlaufenden Auseinandersetzungen um die Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Trägerwaffen zeigten wiederum, dass die Haltung der Bischöfe, die das von manchen erwartete Nein vermissen ließen, nicht von allen verstanden und hingenommen wurde. War der kirchliche Gestaltungsanspruch noch deutlicher
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als früher zutage getreten, so zeigte sich der deutsche Katholizismus weniger als früher bereit, politisch als geschlossene Einheit zu wirken. Die schwindende Führungskraft der Bischöfe hatte sich bereits in den Jahren zuvor bemerkbar gemacht, als in der Bundesrepublik aus Protest gegen die zur Sozialdemokratie tendierende Einheitsgewerkschaft „Deutscher Gewerkschaftsbund“ wieder Christliche Gewerkschaften entstanden waren. Die Bischöfe hatten von den Arbeitern keinen Wechsel zu den Christlichen Gewerkschaften verlangt, aber deutlich genug gezeigt, auf welcher Seite ihre Sympathien lagen. Aber ihre Position blieb weithin unverstanden und unbeachtet, ja es gelang ihnen nicht einmal, einen wichtigen Gegenspieler aus dem Jesuitenorden auszuschalten. Dieser betreute eine Gruppe von christlich-sozialen Arbeitern, die im Deutschen Gewerkschaftsbund verblieben waren, und bildete somit einen moralischen Anhalt für alle Arbeiter, die nicht zu den Christlichen Gewerkschaften übergehen wollten. Bischöfliche Interventionen zur Abberufung dieses Geistlichen bis hinauf zum General des Jesuitenordens hatten nichts erreicht. Stieß der Einfluss des Episkopats schon innerkirchlich auf Grenzen, so waren die Erfolgsaussichten für kirchliche Interventionen in der säkularen Gesellschaft noch weniger garantiert, für den Bereich der DDR schlechthin nicht gegeben. Im gewählten Berichtsjahr 1958 waren in der Bundesrepublik Deutschland die Auseinandersetzungen um die Sonntagsarbeit in der Stahlindustrie und anderen industriellen Sektoren (Papier, Zement) noch nicht bis zum Ende durchgefochten. Obwohl die Sonntagsruhe durch das Grundgesetz geschützt war, hatte der Gesetzgeber immer schon in begrenztem Umfang Ausnahmen aus technisch zwingenden Grünen zugelassen. Der technische Fortschritt erlaubte nun in einigen Branchen, vorab der Stahlindustrie, erhebliche Arbeitszeitverkürzungen unter der Voraussetzung der „gleitenden Arbeitswoche“, einer vollkontinuierlichen Produktionsweise, die keine Sonntagsruhe mehr erlaubte. Die Tarifpartner hatten im Lande NordrheinWestfalen schon im Jahr zuvor sich auf die Einführung dieser neuen Arbeitszeitregelung geeinigt und eine zeitliche befristete Ausnahmegenehmigung dafür erhalten. Unzählige Verhandlungstage mit Vertretern der Regierungen und der Sozialpartner mussten die kirchlichen Repräsentanten auf sich nehmen, um der Ausweitung dieser Regelung entgegenzutreten und der drohenden Zerstörung des Sonntags zu wehren, ihre Bemühungen blieben auch 1958 ohne durchschlagenden Erfolg. In direkte Konfrontation mit der Bundesregierung geriet die Kirche durch die Pläne zur Einführung eines zweiten deutschen Fernsehens. Auch
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in diesen langwierigen Streitigkeiten konnte die Kirche ihr Ziel, im Fernsehen keine Werbung zuzulassen, am Ende nicht erreichen. Nicht immer waren die Ergebnisse des kirchlichen Engagements so bescheiden. Bei der im Vorjahr abgeschlossenen Familienrechtsreform hatte die Kirche manche ihrer Vorstellungen durchsetzen können, und bei der nun anhebenden Diskussion um die Neuordnung der Sozialhilfe gelangen im Laufe der kommenden Jahre erhebliche Erfolge; die Subsidiarität der Hilfe durch die öffentliche Hand wurde zu einer Grundnorm des deutschen Sozialrechts. Aber 1958 beherrschte noch die Sorge vor drohendem Etatismus und Gefährdung der christlichen Liebestätigkeit die Gemüter. Bei der Novellierung des Personenstandsgesetzes im Jahre 1957 war der Kirche nur ein begrenzter Erfolg beschieden gewesen. Das aus dem Kulturkampf stammende Verbot für einen Geistlichen, eine Ehe vor der standesamtlichen Trauung einzusegnen, war erhalten geblieben, obwohl man wie in Österreich in einer solchen Vorschrift eine verfassungswidrige Einschränkung der Religionsfreiheit sehen konnte. Nur die Strafsanktion war fortgefallen. Die Aussichten von der Novellierung des Personenstandsgesetzes einmal zur Aufhebung der obligatorischen Zivilehe zu gelangen, waren dahin. Ein Anstoß, dessen Wirkungen noch nicht eingeschätzt werden konnte, aber alle Erwartungen übertraf und bis heute in seiner Wirksamkeit ungebrochen ist, kam vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Ursprünglich gegründet als Instrument zur Organisation der regelmäßigen „Generalversammlungen der deutschen Katholiken“, war es 1952 neu errichtet worden als der vom Willen der Bischöfe getragene Zusammenschluss aller apostolisch wirkenden Laienorganisationen. Nach Besetzung der Sachreferate für Kultur, Soziales und Staatsbürgerliches sowie mit einem Außenamt versehen, war es von 1956 an voll aktionsfähig geworden. Auf einer Arbeitstagung der um die Referate entstandenen Arbeitskreise im April dieses Jahres 1958 in Saarbrücken war unter einer Fülle von Anregungen und Vorschlägen im Arbeitskreis „Internationale Arbeit“ bei den Erfahrungsberichten der Verbände die Rede davon gewesen, „dass vor allem konkrete Hilfsaktionen sich für die internationale Arbeit sehr fördernd auswirken“. So kam es zu dem Wunsch, „dass über spontane Einzeltaten hinaus von seiten des Zentralkomitees darauf hingewirkt werde, dass die bestehende große Not bei allen katholischen Christen in der Bereitschaft zu persönlichem Opfer eine Antwort finde“. (Man dachte an Verzichte auf eine Mahlzeit in der Woche oder einen Stundenlohn, aber auch an eine generelle „Einschränkung des hohen Lebensstandards“). Das Problem sollte im Arbeitskreis „eingehender behandelt und Wege für eine weitere und dauernde Hilfsaktion gesucht
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werden“. Dieses im Bericht des Arbeitskreises erst vage umschriebene Projekt nahm rasch klare Konturen an. Als die Hauptkommission der Fuldaer Bischofskonferenz im Juni 1958 darüber beriet, war aus der vagen Hilfsaktion bereits ein „Fastenopfer“ geworden, dessen Zweck „Entwicklungshilfe“ lautete. Die Bischöfe griffen den Vorschlag auf und verlangten vom Zentralkomitee konkrete Maßnahmen zur Vorbereitung. Bei der traditionellen Plenarkonferenz der deutschen Bischöfe in Fulda im August 1958 unterließ Kardinal Frings bei der Eröffnung den üblichen Bericht über die Situation der Kirche in Deutschland und trug stattdessen in bewegenden Worten, die von der Nüchternheit seiner sonstigen Berichterstattung deutlich abstachen, den Plan eines Bischöflichen Hilfswerks „Misereor“ vor, der auf der Grundlage der von der Saarbrücker Tagung ausgegangenen Initiative für ein außergewöhnliches Fastenopfer erarbeitet worden war. Die Konferenz stimmte dem Vorschlag zu, das neue Unternehmen „Misereor“ als ein von den Bischöfen getragenes Werk zu errichten und zu einer dauernden Institution „gegen Hunger und Aussatz in der Welt“ auszubauen. Damit war mehr erreicht, als in Saarbrücken zunächst angeregt worden war; im folgenden Jahr formell gegründet und praktisch realisiert, wurde es zu einem unerwarteten Erfolg. Die einlaufenden Spenden übertrafen alle Erwartungen und hielten sich ständig in imponierender Höhe, von 1959 bis 1977 waren es 1128 Millionen. Damit waren nicht nur früher unmögliche Hilfsmaßnahmen möglich geworden: der deutsche Episkopat errang neues Ansehen, nicht zuletzt unter den Bischöfen der Missionsländer, was sich wiederum günstig auf seine spätere Position im Vatikanischen Konzil auswirkte. Die „Fastenaktion Misereor“ blieb zudem kein Solitär. Sie erwies die Möglichkeit zu großen Sammelaktionen, wie sie später in „Adveniat“ und „Renovabis“ realisiert wurden, ohne den Dauererfolg von „Misereor“ zu beeinträchtigen. Ein Erfolg wie jener der Fastenaktion Misereor war wohl nur möglich durch die dichte Organisation von Episkopat und Laienverbänden, die auf der einen Seite durch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, auf der anderen durch die regelmäßigen Konferenzen der Bischöfe gewährleistet war. Für die Gewichtsverteilung unter diesen beiden Gruppen dürfte die Entstehungsgeschichte von Misereor eine gewissen Aufschluss bieten: Entstanden aus einer spontanen Laieninitiative, war es nach der Entscheidung der Fuldaer Bischofskonferenz zum „bischöflichen Werk Misereor“ geworden. Damit hatte das geplante Fastenopfer sicherlich die optimale Organisationsform gefunden, die seinen Erfolg sicherte, aber von der ursprünglichen Initiative der Laien wissen nur noch die Historiker.
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Die Effektivität des Episkopats zu dieser Zeit beruhte ohne Zweifel zu einem erheblichen Teil auf seiner dichten Kooperation in den Konferenzen der westdeutschen und der bayerischen Jurisdiktionsträger und der alljährlichen Fuldaer Plenarkonferenz aller deutschen Ordinarien. Die im Druck vorliegenden Protokolle dieser Tagungen, die nur die Beschlüsse, nicht die Diskussionen wiedergeben, zeigen eine solche Fülle von Tagungsordnungspunkten, dass diese in der knappen Zeit, die der Konferenz eingeräumt war, ohne große Debatten erledigt worden sein müssen. Die Bischöfe müssen durch dieses Tagungsverpflichtungen erheblich belastet gewesen sein, zumal wenn man voraussetzt, dass sie die ihnen zugegangenen Unterlagen durchgearbeitet haben. Der alljährlichen Plenarkonferenz legten die Bischöflichen Hauptstellen wie alle anderen von den Bischöfen errichteten Institutionen Jahresberichte vor, hinzu kamen regelmäßige und aus aktuellem Anlass entstandene Schreiben des Zentralkomitees und seiner Referate. Die umfänglichsten Texte stammten hingegen meist aus dem Katholischen Büro in Bonn, der Repräsentanz des Episkopats bei der Bundesregierung und dem Bundestag. Eine „ganz kurze Übersicht“ über die Bundesgesetze, die von dem Katholischen Büro im Jahre 1958 bearbeitet, auf ihre Übereinstimmung mit katholischen Prinzipien und Interessen, eben im Sinne des „Mitseins“ der Kirche mit der Gesellschaft geprüft wurden, umfasst immerhin fünf Druckseiten und zählt über zwanzig Gesetzgebungsvorhaben auf, die im kirchlichen Interesse beobachtet und mitgestaltet wurden. Der Bericht, den das Katholischen Büro im Vorjahr über seine Aktivitäten zur Mitgestaltung des Familienrechtsänderungsgesetzes geliefert hatte, beansprucht den Raum von mehr als zehn Druckseiten und stellt damit noch nicht einmal das Maximum einlässlicher Berichterstattung dar. Die Gefahr, dass die Führungsspitzen der Kirche in Deutschland in einer Flut von Papieren ihrer unterstellten Dienststellen und Organe erstickten – oder sich darum nicht kümmerten, ist wohl nicht zu verkennen gewesen. Seit einer Reihe von Jahren waren Überlegungen im Gange, die Fuldaer Bischofskonferenzen durch die Einführung von Kommissionen mit begrenztem Auftrag zu reorganisieren; auch die Einrichtung eines ständigen Sekretariats wurde erörtert (und von anderen entschieden abgelehnt). Aber es kam zu keiner durchgreifenden Reform. Hier hat erst das Konzil Wandel geschaffen. Sind die Gegenstände, welche die Bischöfe auf ihren Konferenzen behandelten, in aller Regel aktueller Natur, aus praktischem Regelungsbedarf entstanden, lassen sie gleichwohl einiges von dem Zeithorizont erkennen, in dem die Akteure lebten. Dieser erscheint politisch wie sozial einigermaßen stabil. Der Ost-West-Gegensatz erscheint unverrückbar; die Not der Hei-
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matvertriebenen immer noch groß, aber im Schwinden begriffen; die durch Krieg und Nachkriegszeit neu entstandene Diaspora stellt große Probleme, die aber auch, wenigstens zu einem Teil, zunehmend beherrscht werden; die Daten statistisch messbarer Kirchlichkeit sind nicht durchweg günstig, werden aber noch nicht als Bedrohung der bestehenden Lage empfunden; eine Gefährdung des Wohlstands und der sozialen Ordnung wird nicht erkennbar. Einschneidende Veränderungen in Kirche oder Gesellschaft werden nicht verlangt. Das Zweite Vatikanische Konzil mit seinen Reformen liegt noch jenseits aller Denkmöglichkeit wie der „Wind des Wandels“, der zehn Jahre später die politische und soziale Ordnung der Bundesrepublik Deutschland in Frage stellte. Vor diesem Hintergrund besaß die Frage nach der Erlaubtheit der studentischen Mensur, welche die Bischöfe in hohem Maße bewegte, einen heute kaum mehr verständlichen Rang. Es war die Frage, ob die von den studentischen Korporationen eingeführten Veränderungen bei den üblichen Zweikämpfen noch die Bestrafung der Teilnehmer mit der Exkommunikation rechtfertigte, oder die Mensur zu einem nahezu harmlosen Spiel geworden war, das auch seinen Zusammenhang mit unchristlichen Ehrbegriffen verloren hatte. Dass zehn Jahre später die Seelsorge an Studenten vor anderen Problemen stand, ist nicht einmal im Ansatz zu erkennen. Von Karl Marx schien keine Gefährdung für Gesellschaft und Kirche mehr auszugehen; der Wandel in der SPD konnte eine solche Auffassung nur bestätigen. Die Stabilitäten, die das Jahr 1958 noch zu kennzeichnen schienen, erwiesen sich rasch als wenig dauerhaft. Papst Johannes XXIII. entsprach im Stil seines Auftretens, im Verzicht auf einzelne Attribute seiner Würde, den Wünschen mancher Zeitgenossen. Seine große Enzyklika „Pacem in terris“ (11. April 1963), die sich an alle Menschen guten Willens wandte, gab der alten Rolle des „padre commune“ geschärftes Profil. Das Konzil schuf Neues, das mit seinen Entscheidungen so intensiv begrüßt wurde, als ob man sie lange ersehnt habe, und machte damit einen Wunsch nach Veränderungen in der Kirche sichtbar, den in solchem Umfang niemand zu prognostizieren gewagt hatte. So hat die Kirche in wenigen Jahren Züge angenommen, die früher weniger hervortraten, und alle Bemühungen, den Prozess der Umgestaltung zurückzudrehen, werden einen innerkirchlichen Zustand nach Maßgabe des Jahres 1958 nicht wieder herstellen können. Insofern erscheint es gerechtfertigt, dieses Jahr als das letzte des pianischen Zeitalters zu bezeichnen.
Diplomatenausbildung des Heiligen Stuhles. 300 Jahre – von der „Accademia degli ecclesiastici nobili“ zur „Pontificia Accademia ecclesiastica“. Versuch eines historischen Einstiegs* von Hans-Joachim Kracht
Die Diplomatie des Heiligen Stuhles kann sich auf eine über Jahrhunderte reichende Tradition durch jeweils eigens beauftragte Legaten oder Legationen berufen.1 Die ersten Apostolischen Nuntiaturen entstanden nach derzeitigem Forschungsstand im Pontifikat Gregors XIII. (1502-1565-1572 1585), der selbst als Päpstlicher Legat „a latere“ u.a. in Spanien wirkte. Ständige Nuntien gab es von 1579 bis 1873 – nach einem ersten 1571 gescheiterten Versuch – in Luzern in der Schweiz, in Graz in der Steiermark 1580 bis 1621 und 1580 bis 1789 Köln in Deutschland.2 Es sollte noch einige Zeit vergehen – wohl auch um weitere praktische Erfahrungen einzuarbeiten – bis Camillo Borghese – Paul V. (1552-1596-1605-1621) konkrete „Handlungsanweisungen“ für Diplomaten des Heiligen Stuhles vorlegen konnte.3 Bis zur Gründung eines eigenen Bildungsinstitutes für künftige ———— *
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Frau DR. PAMELA SANTONI – Chiusi-Città – und den Herren PROF. DR. REIMUND HAAS sowie PROF. DR. HEINZ FINGER – Köln – danke ich aufrichtig für sachdienliche Hinweise und bereitwillig gewährte kompetente Hilfen. In diesen Dank schließe ich die Leiter(innen) und Mitarbeiter(innen) der (Erz-)Bistumsarchive ausdrücklich ein. Siehe dazu: WALF, KNUT, Die Entwicklung des päpstlichen Gesandtschaftswesens in dem Zeitabschnitt zwischen Dekretalenrecht und Wiener Kongreß (1159-1815), München 1966. – BLET, PIERRE, Histoire de la représentation diplomatique du Saint Siège: des origines à l'aube du XIXe siècle. Préface du cardinal A. Casaroli. (Collectanea Archivi Vaticani, 9), Città del Vaticano 1982. – immer noch wichtig: PIEPER, ANTON, Zur Entstehungsgeschichte der ständigen Nuntiaturen, Freiburg anders: Münster 1894. - DEL RE, NICCOLÒ, Mondo vaticano. Passato e presente. Città del Vaticano 1995, 449-53. – im Folgenden: DEL RE, Mondo vaticano. – deutsche Fassung: BORDFELD, ELMAR (BEARB.), Vatikanlexikon, Augsburg 1998, 178- 81. (nicht seitengleich – teilweise problemat. Übersetzungen). – im Folgenden: Del Re / BORDFELD, Vatikanlexikon. Zu Gregor XIII. siehe: A. BORROMEO: Enciclopedia dei Papi – im Folgenden: EP III, 180 - 202. (UMFANGR. LIT.) – G. SCHWAIGER: LEXIKON FÜR THEOLOGIE UND KIRCHE – [im Folgenden: LTHK] 4 ( 31995) 1021. (LIT.). – H. JEDIN (ED.), Handbuch der Kirchengeschichte – im Folgenden: HKG, IV, 456, 489, 521s., 525ss., 579s., 598ss.; V, 38, 253 u. passim REG. (LIT.). – Neuestens: KOLLER, ALEXANDER (ED.), Kurie und Politik. Stand und Perspektiven der Nuntiaturberichtsforschung, (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 87), Tübingen 1998. Zu Paul V. siehe: V. REINHARDT: EP III, 277-92. (UMFANGR. LIT.). – G. SCHWAIGER: LTHK 7 ( 31998) 1523s. (LIT.). – H. JEDIN (ED.), HKG, IV, 530, 547, 567, 571, 576, 595, 597, 599, 651ss., 656, 681; V, 27s., 340 u. REG. (LIT.). – GIORDANO, SILVANO (ED.), Le Istruzioni generali di Paolo V ai diplomatici pontifici 1605 - 1621. 3 Voll., Tübingen 2003.
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päpstliche Diplomaten von der Basis her sollten noch einmal hundert Jahre vergehen.
I. Von der Gründung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Der den politischen Problemen seiner Zeit nicht sonderlich gewachsene aber für soziale Fragen aufgeschlossene Clemens XI. – Giovanni Francesco Albani (1649-1690-1700-1721) – und Abt Pietro Garagni gründeten 1700/1 in Rom die „Accademia dei Nobili Ecclesiastici“ (Akademie für adlige Kleriker).4 Die Rollen, die dabei der bekannte und beliebte Oratorianer Sebastiano Valfrè als intellektueller und geistlicher „Initiator“ sowie der emeritierte Bischof Matteo Gennaro Sibilia von S. Marco in Kalabrien als erster Präsident von 1701-04 spielten 5, blieben und bleiben – wegen in Zeiten der Schließung verloren gegangener und heute wenig überschaubarer Archivbestände – nur schwer zu klären.6 Seinen ersten Sitz fand das neue Bildungsinstitut im „Palazzo Gabrielli a Monte Giordano“ (heute: Palazzo Taverna). Im selben Jahre setzte er eine Kardinalskommission ein, die sich mit Fragen der chinesischen Kultur zu beschäftigen hatte. Die Ergebnisse gingen 1707 in die Bulle „Ex illa die“ von Clemens XI. ein. Im Jahre 1703 unterstellte Clemens XI. die Akademie seiner unmittelbaren Aufsicht und wies ihr am 2. Juni 1706 eigene Räume im alten „Palazzo ———— 4
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Zu Clemens XI., der erst nach dreitägiger Weigerung seine Wahl annahm, siehe: ST. ANDRETTA: EP III, 405-20. (UMFANGR. LIT.). – G. SCHWAIGER: LTHK 2 (31994) 1224s. (LIT.). – H. JEDIN (ED.), HKG, V, 60ss., 146ss., 364s., 410ss., 430s. und REG. (LIT.). Sebastiano Valfrè OR (1629 -1710) – 15.7.1834 Seligsprechung durch Gregor XVI. – über den Oratorianer aus Piemont siehe: C. GASBARRI: Bibliotheca Sanctorum 12 (1969) 929ss. (LIT.). – H.M. STAMM: LTHK 10 (32001) 526. (LIT.). – Matteo Gennaro Sibilia (†1709) – 1701-04 Präsident „Accademia degli ecclesiastici nobili“ 1704 resigniert – Bischof San Marco – Italien. siehe dazu: SAVINO, PAOLO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951, Città del Vaticano 1951. (LIT. u. FOTOS). – im Folgenden: SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951. passim. Konsultationen des Archivs der „Pontificia Accademia Ecclesiastica“ ergaben keine neuen Erkenntnisse. Freundliche Auskunft des derzeitigen Präsidenten Erzbischof BENIAMINO STELLA vom 24.1.2011. – siehe dazu: SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951. – ferner: MARTINI, A., La diplomazia della Santa Sede e la Pontificia Accademia Ecclesiastica: LA CIVILITÀ CATTOLICA – [im Folgenden: CIV. CATT.] 102 II (1951) 372- 86. (LIT.). - DEL RE, Mondo vaticano, 18s. – DEL RE / BORDFELD, Vatikanlexikon, 2s. – DEL RE, NICCOLÒ, La Curia romana. Lineamenti storico giuridici, 4. ediz. aggiornata ed accresciuta. Città del Vaticano 1998. – Selbst das LEXIKON FÜR THEOLOGIE UND KIRCHE (3. Aufl., nur Erwin Gatz, in Bd. 1 (Freiburg 1993), 280) bietet nur schwer auffindbare u. wenig aussagekräftige Hinweise. Das Internet – Vatikanseiten (www.vatican.va) und Wikipedia (www.wikipedia.org) – füllt diese Lücken nicht. – Eine – mir bisher nicht zugängliche – Darstellung römischer Akademien findet sich bei: NEGRO, SILVIO, Seconda Roma 1850 - 1870, Vicenza 1966.
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Severoli“ an der Piazza della Minerva 74 als ständigen Sitz zu. An diesem Umzug nahmen bereits je ein Student aus Westfalen und dem Rheinland teil. Es gilt als gesichert, dass die ersten Lehrinhalte stark von der in der Gesellschaft Jesu entwickelten und der 1599 approbierten „Ratio Studiorum“ abhängig waren.7 Lehrplantheorie und -praxis dieser von Benediktinern oder Jesuiten übernational geleiteten Ritter- oder Adels-Akademien – „Collegium nobilium“ – waren im damaligen „Europa“ über Grenzen von Konfessionen und Territorien hinweg aufeinander abgestimmt. Nur ein Beispiel: 1711 Ritterakademie der Benediktiner von Ettal: „Theologie, Rechtswissenschaft, neuere(n) Sprachen, gleichfalls Geographie mit Globuskunde, Genealogie, Heraldik, Zeichnen, Architektur“.8 Im Zentrum der „Ewigen Stadt“ leistete die schon in ihren Anfängen übernational anerkannte Bildungseinrichtung mit wechselndem und trotz mehrerer Schließungen bis heute gewachsenem Erfolg ihren anspruchsvollen Dienst für die Kirche aus und in vielen Nationen dieser Welt. Am 26. April 2001 verwies der Kardinalstaatssekretär und Kardinalprotektor der „Pontificia Accademia ecclesiastica“ Angelo Sodano 9 in seiner Festpredigt zum Dankgottesdienst zur 300-Jahrfeier der Päpstlichen Diplomatenakademie im Petersdom erneut auf das Desiderat einer kritisch-historischen Darstellung dieses Institutes hin. Es ist wegen seiner Aufgabenstellung nicht zu vergleichen mit anderen Päpstlichen Akademien, wie etwa der Päpstlichen Akademie für Archäologie, für Theologie oder der Wissenschaften.10 Seit ihrer Gründung genoss die Akademie volle Unterstützung und uneingeschränkte Anerkennung des Gründerpapstes Clemens XI. Der Papst und seine Mitstreiter konnten nicht ahnen, dass aus den Reihen der Absolventen der Akademie künftige Päpste, Kardinäle – darunter an der Kurie auch Nichtpriester – sowie neben vielen Titular-Erzbischöfen als Nuntien auch „residierende“ Bischöfe hervorgehen würden. ———— 7
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Siehe dazu das bis heute wertvolle Standardwerk: DOLCH, JOSEF, Lehrplan des Abendlandes. Zweieinhalbtausend Jahre seiner Geschichte, Ratingen 31971 u.ö., 179, 240ss., 292s. – zur „Ratio Studiorum“ siehe: ST. CH. KESSLER: LTHK 8 (31999) 842s. (QUELLEN/LIT.). DOLCH, Lehrplan des Abendlandes, 292. Sodano, Angelo (1927-1991 - 2006 - X) L’ OSSERVATORE ROMANO, 29.6.1991, 6. (BIOGR./ FOTO). – im Folgenden: L’ OSS. ROM. 1991 ss. passim. – ANNUARIO PONTIFICIO 1991ss. passim. – im Folgenden: ANN. PONT. – F. KALDE: LTHK 7 ( 31998) 1168. (LIT.). – Neuestens siehe: ZANARDI LANDI, ANTONIO / VIAN, GIOVANNI MARIA (EDD.), Singolarissimo giornale. I 150 anni dell’„Osservatore Romano“, Torino / Londra 2011. – Ansprachen und Predigten des Papstes sowie der Kurienkardinäle werden im Normalfall in der nächsten Tagesausgabe dieser Zeitung publiziert. – Offiziöse Übersetzungen erscheinen dann baldmöglichst in den Wochenausgaben. Siehe dazu: DEL RE, Mondo vaticano, 15ss. – Del Re / BORDFELD, Vatikanlexikon, 12ss.
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Nur 20 Jahre nach der Gründung – am Ende der Amtszeit des zweiten Präsidenten, wohl geistiger Autor eines ersten nicht überlieferten Konzeptes – des Missionspriesters Pier Francesco Giordanini (1657-1720)11 hatten mehr als 150 „Akademiker“ ihre qualifizierte Ausbildung abgeschlossen. Fast ein Drittel seines Lebens stand der begnadete Erzieher im Dienst der Akademie. Zu den etwa 153 Studenten seiner Amtszeit – also etwa 10 pro Jahr – gehörten: der gebürtige Koblenzer und spätere Osnabrücker Weihbischof und Apostolische Vikar des Nordens Johann Hugo von Gärtz (16841716), dem kein längeres Wirken beschieden war, sowie ein aus dem Bistum Trier stammender nicht genau zu identifizierender Karl Freiherr von Waldbott zu Bassenheim.12 Die „Geschäftsführung“ der Akademie war – für die damalige Zeit pädagogisch fortschrittlich – einem gewählten nicht unter 30 Jahre alten „Superior“ – später „Dekan“ genannt – anvertraut. Grundsätze für eine Wahl waren „umfassendere Erfahrung, Begabung und kirchliche Gesinnung“. Das zahlenmäßige Verhältnis von ausgesuchten Professoren und Studenten ließ methodische und didaktische Probleme in den Hintergrund treten: Qualität sollte vor Quantität gehen. Mit dem Tod von Clemens XI. und des ökonomisch und kulturell versierten Verwaltungsexperten Giuseppe Renato Kardinal Imperiali 13 – von ———— 11
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Giordanini, Pier Francesco, Missionar vom hl. Vinzenz (CM) – *15.1.1657 Saluzzo – †11.11.1720 Rom – 22.3.1679 Eintritt Kongregation der Missionen – wirkte in Pavia, Florenz u. Rom. Benedikt XIV. schätzte ihn wegen seiner theologischen und pastoralen Kompetenzen, die den Ordensmann auch als wissenschaftlichen Autor weit und für längere Zeit bekannt machten. A. BUGNINI: Enciclopedia Cattolica – im Folgenden: EC: 6 (1951) 434. (LIT.). – SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951. Johann Hugo von Gärtz *15.8.1684 Koblenz – [Deutschland] – †25.12.1716 Osnabrück (?) - 1707 Eintritt Rom Alumne Nr. 53 „Accademia degli ecclesiastici nobili“ unter Präsident Giordanini Francesco (1657-1720) - Präsident 1704-1720 – Studium – Philosophie- Theologie – 23.2.1709 Priesterweihe Rom – anders: Trier – 7.2.1715 Titular-Bischof Dorylaëum und Weihbischof Osnabrück (Clemens XI.) – 15.2.1715 Apostolischer Vikar des Nordens – 31.3.1715 Bischofsweihe Bonn. SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951. passim. – M. F. FELDKAMP: GATZ, ERWIN (ED.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1648-1803, Berlin 1990, 143. (LIT./BILD). Im Folgenden: GATZ (ED.), Bischöfe 1648. Karl Freiherr von Waldbott zu Bassenheim: SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 17011951. passim. – Kleruskartei – DOHNA, SOPHIE MATHILDE GRÄFIN ZU, Die ständischen Verhältnisse am Domkapitel zu Trier vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Trier 1960, 163. – Freundliche Auskunft Bistumsarchiv Trier, DR. MARTIN PERSCH, vom 6.12.2010. Giuseppe Renato Kardinal Imperiali (1651-1690 -1737) – S. TABACCHI: Dizionario Biografico degli Italiani – [im Folgenden: DBI] 62 (2004) 305ss. (UMFANGR. LIT.). Alle im Folgenden angegebenen Daten sind entnommen: EUBEL, CONRADUS ET ALII, Hierarchia Catholica Medii [et Recentioris] aevi: sive, Summorum Pontificum, S[anctae] R[omanae] E[cclesiae] Cardinalium [...] E Documentis Tabularii Praesertim Vaticani Collecta, Digesta, Edita., 9 Voll., Patavii [Padua]: Typis Librari „Il Messaggero di S[an] Antonio“, 1952- 2002. – hier: [Vol. 6] (1958) A pontificatu Clementis Pp. XII
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1702 bis 1736 Protektor der Akademie – begannen für die Einrichtung wirtschaftlich angespannte Zeiten. Zu den über achtzig Studenten während der Präsidentschaft des Missionspriesters Pellegrino De Negri (1721-1728) gehörten Kleriker mit ganz unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen 14: Für sie alle – nicht nur für die Historiker unter ihnen – hatte die offizielle Heiligsprechung des bis heute umstrittenen Reformpapstes Gregor VII. (1025?-1073-1085) am 28. September 1728 durch Benedikt XIII. sicher Wirkungen über das festliche liturgische Geschehen hinaus (Jansenismus – Frankreich). Dem an der Universität Salzburg vorgebildeten späteren Regensburger Domkapitular Hermann Adam Ludwig Joseph Anton Gottfried Graf von und zu Freien-Seyboldsdorf (1711-1741) spendete Benedikt XIII. am 22. Dezember 1725 in seiner Privatkapelle die Priesterweihe. Maximilian Joseph Anton Graf von Trauner-Freiherr von Adlstetten zum Haus auf Furth und Malgersdorf, Herr zu Witzmannsperg (1704-1775) aus dem Erzbistum München-Freising wurde nach Ausbildung am Jesuitenkolleg in Siena und nach den römischen Studien Domkanoniker in Freising und Geheimrat des Fürstbischofs. Der erste deutsche Kardinal aus dem Kreis der Akademieabsolventen wurde 1761 der 1706 in Wiesenfeld geborene und als regierender ————
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(1730) usque ad pontificatum Pii VI (1799) per R[EMIGIUS] RITZLER et P[IRMINUS] SEFRIN. – [Vol. 7] (1968). A pontificatu Pii Pp. VII (1800) usque ad pontificatum Gregorii Pp. XVI (1846) per R[EMIGIUS] RITZLER et P[IRMINUS] SEFRIN. – im Folgenden: HC. – BERTON, CHARLES, Dictionnaire des cardinaux, contenant des notions générales sur le cardinalat, la nomenclature complète, par ordre alphabiotique, des cardinaux de tous les temps et de tous les pays [...] Paris: J.-P. MIGNE 1857. – FAKSIMILE AUSGABE: Gregg International Publishers Limited, Westmead-Franborough-Hants 1969 England – OFFSETDRUCK: Anton Hain KG, Meisenheim / Glan – Deutschland. – im Folgenden: MIGNE (ED.), DC. – Für die neuere Zeit: ANNUARIO PONTIFICIO – im Folgenden: ANN. PONT. und L’OSSERVATORE ROMANO – im Folgenden: L’OSS. ROM. Hier darf verwiesen werden auf das im Manuskript abgeschlossene und demnächst in mehreren Bänden in Köln erscheinende Lexikon der Kardinäle 1058 - 2010 von HANS-JOACHIM KRACHT unter Mitarbeit von PAMELA SANTONI - Erzbischöfl. Diözesan- und Dombibliothek, „Libelli Rhenania Nr. 41“. Siehe dazu: G. MICCOLI: BSS 7 (1966) 294-379. (LIT.). – BLUMENTHAL, UTA-RENATE, Gregor VII. Papst zwischen Canossa und Kirchenreform, Darmstadt 2001. Seyboldsdorf, Hermann Graf von und zu: *- get. 19.11.1711 Tumeltsham – Ried / Innkreis / Oberösterreich – damals: Bistum Passau – †21.10.1741 – 19.1.1725 Zeugnis Universität Salzburg: einige Jahre Studium „mit größtem Erfolg“ – 1725 Eintritt Rom Nr. 224 „Accademia degli ecclesiastici nobili“ (Benedikt XIII.) unter dem Präsidenten 1721 - 28: Missionspriester Pellegrino de Negri (*um 1700?) – 13.12.1725 Subdiakon – 22.12.1725 Diakon – 22.12.1725 Priesterweihe Città del Vaticano Päpstl. Privatkapelle durch Benedikt XIII. – 12.10.1726 Aufschwörung als Domkapitular Regensburg. SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951. passim. – Freundliche Auskunft Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg (BZAR) BZAR – BDK 7161, fol. 208ss., PRÄLAT DR. PAUL MAI, vom 7.12.2010.
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Bischof von Speyer am 20. April in 1770 Bruchsal verstorbene Franz Christoph Reichsfreiherr Hutten von Stolzemberg.15 Größere Breitenwirkung im Bildungsbereich erzielte der gebürtige Kölner Hermann Johannes Joseph Hartzheim SJ (1694-1767), der sich als Historiker, Autor und vor allem als Reformpädagoge einen Namen machte. Nach Studium in seiner Heimatstadt mit Abschluss als „Magister Artium“ trat er am 3. Mai 1712 in die Gesellschaft Jesu ein, machte sein Noviziat in Trier und lehrte dann in Luxemburg Geschichte sowie deutsche Literatur. Seit 1719 als Student und Dozent an der Universität Mailand für Griechisch und Hebräisch trat er 1727 in Rom als Student Nr. 251 in die „Accademia degli ecclesiastici nobili“ ein. Seit 1730 lehrte er als Professor Theologie an der Universität Köln. Als Leiter des Dreikönigs-Gymnasiums führte er von 1735 bis 1759 Deutsch und Naturwissenschaften in den Lehrplan ein und starb am 17. Januar 1767 als Domprediger.16 ———— 15
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Zu von Hutten siehe: HC, VI, 23, 385 u. passim REG. (LIT.). – MIGNE (ED.), DC, 1094. – H. AMMERICH: GATZ, (ED.), Bischöfe 1648, 199s. (LIT./FOTO). – BERTONE, TARZISIO, Il Governo della Chiesa nel pensiero di Benedetto XIV, Roma 1977. Zu Hartzheim siehe: SOMMERVOGEL, CARLOS, Bibliothèque de la Compagnie de Jésus, 9 Voll., Brüssel-Paris 21890 -1900, Vol. 4, 126-32. (Schriften). – KOCH, LUDWIG SJ, Jesuiten-Lexikon, Paderborn 1934, 770s. (LIT.). – J. BECKMANN: LTHK 4 ( 11932) 835. (LIT.). – B. SCHNEIDER SJ: Neue Deutsche Biographie 8 (1969) 16s. (LIT.). – R. LILL: LTHK 4 ( 21932) 835. (LIT.). – ST. CH. KESSLER: LTHK 4 ( 31995) 1203. (LIT.). – KUCKHOFF, JOSEPH, Die Geschichte des Gymnasiums Tricoronatum. (Veröffentlichungen des Rheinischen Museums in Köln. Bd. 1), Köln 1931, 536- 73 u. 604ss. (LIT.). – MEUTHEN, ERICH, Die alte Universität (Kölner Universitäts- Geschichte 1). Köln 1988, 383s. (LIT.). – SIEBEN, HERMANN JOSEPH, Hermann Joseph Hartzheim (1694-1763): CÜPPERS, SEBASTIAN (ED.), Kölner Theologen. Von Rupert von Deutz bis Wilhelm Nyssen, Köln 2004, 264-83. (LIT.). Trauner, Maximilian Joseph Anton Graf von: *14.2.1704 – Passau (?) – Erzbistum MünchenFreising – †27.4.1775 – Grab Dom Freising Domherrengruft unter Stephansaltar – 15.6.1721 niedere Weihen – Dom Freising durch Weihbischof Johann Sigmund Freiherr von Zeller (1653-16291729) – 15.6.1721 Kanoniker Freising (Innozenz XIII.) – Studium Siena – Jesuiten-Kolleg – Philosophie – Theologie – Rechtswissenschaften – 1725 Eintritt Rom Nr. 236 „Accademia degli ecclesiastici nobili“ (Benedikt XIII.) unter dem Präsidenten 1721-28: Missionspriester Pellegrino de Negri – 1729-32 Kanoniker Augsburg (Benedikt XIII.) – 1729-74 Pfarrer Bockhorn – 25.7.1740 Domkapitular Freising – 1756-75 Kustos Domstift Freising – 1772 Geheimer Rat von Fürstbischof Johann Sigmund Freiherr von Welden (1727-1769-1788). SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951. passim. – GATZ (ED.), Bischöfe 1648, passim. – GÖTZ, ROLAND, Das Freisinger Domkapitel in der letzten Epoche der Reichskirche (1648 -1802/03), Studien und Quellen zu Verfassung, Personen und Wahlkapitulationen (Münchener theologische Studien I: Historische Abteilung 37), St. Ottilien 2003, 387s. (LIT.). – Freundliche Auskunft Archiv Erzbistum München und Freising, DR. PETER PFISTER, vom 13.12.2010. Beroldingen, Joseph (Anton Siegmund) Freiherr von: *9.9.1738 St. Gallen – † 22.1.1816 Hildesheim – Förderer von Literatur und Wissenschaft – 1758 Eintritt Rom Alumne Nr. 506 (Clemens XIII.) „Accademia degli ecclesiastici nobili“ unter Präsident Pier Matteo Marchese Onorati – 1758 Domherr Speyer – Hofkammerpräsident und Oppositionsführer gegen Fürstbischof Damian August von Limburg-Styrum (1721-1770 -1791) – 1771 zugleich Domherr Hildesheim – 1790 Propst Reichstift
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Die Missionspatres, denen kurz nach der Gründung die Direktion des Instituts übertragen war, gaben 1739 ihre Tätigkeit auf. In den Jahren 174462 betreute Präsident Pier Matteo Marchese Onorati 119 Studenten unter den Päpsten Benedikt XIV. und Clemens XIII. Das dem Gedankengut der „Aufklärung“ nahe stehende aus St. Gallen stammende Brüderpaar der Freiherren Joseph [Anton Siegmund] (1738-1816) und Franz Cölestin (1740-1798) von Beroldingen hinterließ kulturgeschichtliche Spuren in mehreren Domkapiteln von Süddeutschland bis nach Hildesheim. Der von Benedikt XIV. ernannte Prädident der Jahre 1763/4 Innocenzo Gorgoni OSB (1708-1763-1774) Titular-Erzbischof von Emesa – konnte in seiner Amtszeit nur fünf Absolventen zum Abschluss führen – darunter keinen „Ausländer“.17 Nach seiner Wahl zum Nachfolger Petri als Clemens XIII. versuchte der aus Venedig stammende Jesuitenfreund Carlo Rezzonico Kardinal della Torre (1693-1737-1758-1769) – im Jahre 1714 als 21-jähriger mit Nr. 112 ————
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Odenheim/ Bruchsal – Kontakte zu: Johann Kaspar Lavater (1741-1801) – Eulogius Schneider (1756 -1794) – Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) – später: hl. Clemens Maria Hofbauer (1751-1820). – SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951. passim. – KUNERT, WERNER, Domherren aus der Schweiz [...]: KUHN, ELMER L./MOSER, EVA / REINHARDT, RUDOLPH / SACHS, PETRA (EDD.): Die Bischöfe von Konstanz, Vol. 1: Geschichte, Friedrichshafen 1988, 263s. – HERSCHE, PETER, Die deutschen Domkapitel im 17. und 18. Jahrhundert, Vol. 1: Einleitung und Namenslisten, Bern 1984, passim. – Freundliche Auskunft Archiv Bistum Augsburg, DR. ERWIN NAIMER vom 6.12.2010. – DYLONG, ALEXANDER, Das Hildesheimer Domkapitel im 18. Jahrhundert, Hannover 1997, 417, Nr. 156. (LIT.). – Freundliche Auskunft Archiv Bistum Hildesheim, GABRIELE VOGT M.A., vom 7.2.2011. MOELLER BERND / JAHN, BRUNO (EDD.), Deutsche Biographische Enzyklopedie der Theologie und Kirchen [DBETH], 2 Voll., München 2005, 125. Beroldingen, Franz Cölestin Freiherr von: *11.10.1740 St. Gallen – † 8.3.1798 Walshausen – Naturforscher – Geologe – Mineraloge – 1758 Eintritt Rom Alumne Nr. 507 (Clemens XIII.) „Accademia degli ecclesiastici nobili“ unter Präsident Pier Matteo Marchese Onorati – Domkapitular Hildesheim – Domkapitular Osnabrück – Archidiakon Elze. – SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951. passim. – GÜMBEL: ADB 2 (1875) 506s. – KUNERT, WERNER, Domherren aus der Schweiz [...]: KUHN, ELMER L./ MOSER, EVA / REINHARDT, RUDOLPH / SACHS, PETRA (EDD.): Die Bischöfe von Konstanz, Vol. 1: Geschichte, Friedrichshafen 1988, 263s. – HERSCHE, PETER, Die deutschen Domkapitel im 17. und 18. Jahrhundert, Vol. 1: Einleitung und Namenslisten, Bern 1984, passim. – Freundliche Auskunft Archiv Bistum Augsburg, DR. ERWIN NAIMER vom 6.12.2010. – DYLONG, ALEXANDER, Das Hildesheimer Domkapitel im 18. Jahrhundert, Hannover 1997, 400, Nr. 140. (LIT.). – Freundliche Auskunft Archiv Bistum Hildesheim, GABRIELE VOGT M.A., vom 7.2.2011. – MOELLER BERND/ JAHN, BRUNO (EDD.), Deutsche Biographische Enzyklopedie der Theologie und Kirchen [DBETH], 2 Voll., München 2005, 125. Gorgoni, Innocenzo OSB: *20.4.1708 Galatina – †1.9.1774 Rom – 24.3.1731 Priesterweihe als Mitglied des Ordens des hl. Benedikt – 2.5.1746 Bischof Penne-Atri – Italien (Benedikt XIV.) – 8.5.1746 Bischofsweihe – 13.2.1755 resigniert – 17.2.1755 Titular-Erzbischof Hemesa – 1763 Präsident „Accademia degli ecclesiastici nobili“ – 1764 emerit. Präsident. SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951. passim.
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selbst Student der Akademie –, die entstandenen Probleme zu lösen.18 Schließlich jedoch entschied er, die Institutstätigkeit vorübergehend einzustellen, um diese – wie ein ungenannter zeitgenössischer Chronist berichtet – unter schon bald erhofften, günstigeren Umständen wieder aufnehmen zu können. Der kulturell interessierte Papst ernannte 1763 auf Vorschlag von Giovanni Francesco jun. Kardinal Albani (1720-1747-1803) Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) zum Präfekten der „antiquità“, der Altertümer der Stadt Rom. Trotz allem – die Akademie blieb unter Clemens XI. elf Jahre geschlossen. In den Jahren 1763 bis 1775 blieben darum die Ämter des Kardinalprotektors und des Präsidenten unbesetzt. Ein verantwortungsloser Verwalter brachte sich in den Besitz der verbliebenen Güter. Das Gebäude mit dazugehörigem Grundbesitz wurden zu einer Art öffentlicher Unterkunft genutzt. Einige „Untermieter“ eigneten sich alle Gebrauchsgegenstände an, die eigenen Bedürfnissen dienten. Zuletzt überließ der „Verwalter“ Zimmer und Räumlichkeiten Privat- sowie Geschäftsleuten zur Nutzung. Die Akademie verkam immer „schlimmer – ich sage nicht – zu einem Wirtshaus, sondern zu einem Dreckloch“, schreibt der Chronist. Im über viermonatigen Konklave von Oktober 1774 bis Februar 1775 19 stellte man sich auch die Frage der Wiedereröffnung der Akademie. Der als Pius VI.20 gewählte Giovanni Angelo Kardinal Braschi (1742-1773-17751799) ließ das Institut im November des Heiligen Jahres 1775 wieder eröffnen, legte geänderte Statuten vor und ernannte Pater Paolo Antonio Paoli, General-Prokurator der Kongregation „Madre di Dio in Campitelli“, zum Präsidenten (1775-78). Im Folgejahr besuchte der Nachfolger Petri persönlich die Akademie. Zudem entstand während seines Pontifikates der Brauch, dass ein Student jeweils am 18. Januar – Fest der „Kathedra Sancti Petri Apostoli Romae“ (Stuhlfeier Petri) – vor dem Papst eine kurze Ansprache hielt. ———— 18
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Zu Clemens XIII. siehe: HC, VI, 8, 19-24, 330 u. passim REG. (LIT.). – L. CAJANI /A. FOIA: EP III, 461-75. (UMFANGR. LIT.). – G. SCHWAIGER: LTHK 2 ( 31994) 1226. (LIT.). – SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951. passim. – A. BUGNINI: EC 6 (1951) 434. (LIT.). – JEDIN (ED.), HKG, V, 516ss., 626 - 31 u. REG. (LIT.). Am über viermonatigen Konklave vom 5.10.1774 - 15.2.1775 nahmen 44 von 55 Kardinälen teil. Die Höfe der Bourbonen präsentierten ihr „Veto“ gegen Giovanni Carlo Kardinal Boschi (1715-1766 1788). Unterstützt von allen „Zelanti“ ging Giovanni Angelo Kardinal Braschi aus der einstimmigen Wahl als Pius VI. hervor. – siehe dazu: PIAZZONI, AMBROGIO M., Storia delle elezioni pontifice, Casale Monferrato 2003, 221-28 u. REG. (LIT.). [im Folgenden: PIAZZONI, Elezioni pontifice.]. Zu Pius VI. siehe: HC, VI, 29-38 u. passim REG. (LIT.). – M. CAFFIERO: EP III, 492-509. (UMFANGR. LIT.). – J. GELMI: LTHK 8 ( 31999) 326s. (LIT.). – PELLETIER, GÉRARD, La théologie e la politique du Saint-Siege devant la Révolution française (1789-1799). Ècole Française de Rome 2004. (LIT.).
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Aus dem der Zwangspause folgenden Studienjahr 1776 gingen gleich vier künftige Kardinäle hervor: Der frühere Nuntius in Wien Antonio Gabriele Conte di Severoli (1757-1816-1824), Giovanni Battista Conte Marazzani Visconte (1755-1826-1829), Luigi Ascanio Marchese Ercolani (1758-1816-1825) und der im damaligen Europa bekannte Diplomat Ercole Marchese Consalvi (1757-1800-1824).21 Pius VI. erwies sich in vielen Bereichen als Förderer der Akademie – allem voran ihrer wirtschaftlichen Stärkung. Mit Päpstlichem Breve vom 17.12.1777 verordnete er nach Aufheben der Gemeinschaft der Regularkanoniker vom hl. Antonius von Vienne – Frankreich und dem MalteserOrden integriert: alle der aufgelösten Kanonikergemeinschaft gehörenden und im Kirchenstaat gelegenen Güter werden Eigentum der Akademie. Weil der hl. Antonius, Abt und Einsiedler (251-356) 22 – auch „der Große“ genannt – Patron der untergegangenen Gemeinschaft war, ernannte der Papst den vielverehrten Heiligen „propter dictam unionem bonorum“ (wegen besagter Güterübertragung) auch zum Patron der Akademie. Mit diesen Schenkungen begann eine gedeihliche Periode für das Institut. Im März 1778 besuchte Pius VI. persönlich zum zweiten Mal die Bildungseinrichtung. Dabei traf er auch außer seinem Neffen Romualdo Conte Braschi de Onesti (1753-1786-1817) weitere Studenten, die später den Kardinalspurpur erhielten.23 Zu ihnen gehörte u.a. der künftige Nuntius in Köln. ———— 21
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Siehe dazu: REGOLI, ROBERTO, Ercole Consalvi. Le scelte per la Chiesa. (Editrice Pontificia Università Gregoriana), Roma 2006. Antonios, Abt und Einsiedler - siehe zu ihm: F. CARAFFA / A. RIGOLI / M. CIRMENI BOSI: Bibliotheca Sanctorum 2 (1962) 106 -36. (LIT.). – G. J. M. BARTELINK: LTHK 1 (31993) 786ss. (LIT.). Braschi Onesti, Romualdo Conte – Neffe von Pius VI. – Cesena – (1753-1786-1817) – 1780 Präfekt Apostolischer Palast- Sekretär „Breven“ – 1784 Groß-Prior Rom – Hospital-Orden vom hl. Johannes Baptist von Jerusalem – OSI – Ritter Jerusalemitaner (Souveräner Malteser-Orden) – 1786 Kardinaldiakon (Pius VI.) Titelkirche S. Nicola in Carcere – 1802-17 nach fünfjähriger Vakanz Protektor Päpstl. „Accademia degli ecclesiastici nobili“. HC, VI, 35, 51s. u. passim REG. (LIT.). – MIGNE (ED.), DC, 598. Vidoni-Soresina, Pietro jun. Marchese – Cremona – (1759-1816 -1830) – 1785 Apostolischer VizeLegat Ferrara – 1790 Relator Kongregation: Consulta – 1801 Apostolischer Delegat Ancona – 1806 Gouverneur Pesaro – 1806 Apostolischer Delegat Urbino – 1816 Kardinaldiakon (Pius VII.) Titelkirche S. Nicola in Carcere. HC, VII, 12, 46 u. passim REG. (LIT.). – MIGNE (ED.), DC, 1614. Pacca, Bartolomeo Marchese sen. – Benevent – (1756 -1801-1844) – 1786-94 Apostolischer Nuntius Deutschland – Köln – 1794 Portugal – Lissabon – 1801 Kardinaldiakon (Pius VII.) Titelkirche S. Silvestro in Capite – 1818 Kardinalpriester S. Lorenzo in Lucina – 1818 Kardinalbischof Frascati. HC, VI, 192; VII, 7 u. passim REG. (LIT.). – MIGNE (ED.), DC, 1305- 42. (LIT.). Cesarei de Leoni, Francesco Conte – Perugia – (1757-1817-1830) – 1809 Dekan Rota Romana – 1816 Kardinal „in pectore“ (Pius VII.) – 1817 publiziert. HC, VII, 13 u. passim REG. (LIT.). – MIGNE (ED.), DC, 649. (LIT.).
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Einige Jahre später (1783 unter Nr. 592) studierte an der Akademie auch Annibale della Genga (1760-1829), der 1823 als Leo XII. die Kathedra Petri bestieg. 1785 kam es dann zur Errichtung einer Apostolischen Nuntiatur in Bayern/München (mit „Nuntiaturstreit“ und Emser Kongress 1786), die bis 1934 bestand und zu der dann 1920/25 die für das Reich in Berlin hinzukam. Die erste römische Republik und Revolten in Italien von 1798 bis 1803 hatten auch für das Päpstliche Bildungsinstitut ernste Konsequenzen: Übergriffe und Zwangsmaßnahmen, die zu erneuter Schließung für fünf Jahre führten. Die erste Republik in Rom 1798 und der Papst in französischer Gefangenschaft konnten nicht folgenlos bleiben. Am 10. Februar 1798 nahmen die Franzosen Rom ein und proklamierten fünf Tage später die Republik. Pius VI. wollte sich nicht ergeben und wurde am 20. Februar nachts aus Rom verschleppt. Es ging über Siena nach Florenz in die Karthause bis Ende März 1799 und weiter über Parma, Piacenza, Turin, am 30.4.1799 nach Briançon, Grenoble und am 13. Juli 1799 schliesslich zum Sterbeort Valence. Die Positionen des Kardinalprotektors und des Präsidenten der Akademie blieben darum von 1798 bis 1802 vakant. Kardinalprotektor war von 1802 bis 1817 der Papstneffe Romualdo Braschi-Onesti (1753-1786-1817) – wie schon berichtet – selbst Absolvent der nun von ihm zu fördernden Akademie.
II. Vom 19. Jahrhundert bis zur Umbenennung als „Pontificia Accademia ecclesiastica“ Zur Wiedereröffnung 1803 entschied Mauro Gregorio Barnabà Chiaramonti OSBCas als Pius VII.24: Die kirchliche Einrichtung führt normale Lehrveranstaltungen für Theologie und Rechtswissenschaft ein. Sie erhielt das Privileg, jedes Jahr der „La Sapienza“-Universität, die der Aufsicht des KardinalKämmerers unterstand, zwei Studenten vorzuschlagen, ein Doktorat entwe————
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Morozzo de Bianze della Rocca, Giuseppe Maria Conte – Turin – (1758 -1816 -1842) – 1802 Apostolischer Nuntius Florenz – 1807 Sekretär Kongregation: Bischöfe u. Regularen – 1816 Kardinalpriester (Pius VII.) Titelkirche S. Maria degli Angeli alle Terme. HC, VII, 11, 42, 287, 365 u. passim REG. (LIT.). – MIGNE (ED.), DC, 1253-56. (LIT.). – SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951, passim. Zu Pius VII. siehe: HC, VI, 34; VII, 3-16 u. passim REG. (LIT.). – PH. BOUTRY: EP III, 509-29. (UMFANGR. LIT.). – R. AUBERT: LTHK 8 ( 31999) 327ss. (LIT.). – JEDIN (ED.), HKG, III/2, 226; V, 205, 548, 635; VI/1 59-132 u. passim REG. (LIT.). – CALZOLARI, MONICA / GRANTALIANO, ELVIRA (EDD.), Lo Stato Pontificio tra Rivoluzione e Restaurazione. Istituzioni e archivi 1789 -1870, Roma 2003.
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der in Theologie oder in Rechtswissenschaft zu erwerben. Die Maßnahmen zeigten die schon länger erhoffte Wirkung. Der aus Süditalien stammende Bartolomeo Pacca sen. (1756-1801-1844) brachte für die Position als Kardinalprotektor von 1820 bis 1844 beste Voraussetzungen mit. Er hatte sich – 1778/9 selbst ehemaliger Student an der Akademie – als Diplomat und anerkannter Kulturpolitiker in Europa einen Namen gemacht und galt im Konklave 1830/31 als „papabile“.25 Von Kontakten etwa zum Philosophen und Schriftsteller Johann Gottfried Herder (1744-1803) „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ oder des „Neuhumanisten“ Wilhelm von Humboldt (1767-1835), der von 1802 bis 1808 in Rom wirkte, ist bisher nichts bekannt. Im Jahr 1829 konnte darum Leo XII. mit Paccas Unterstützung neue Statuten vorlegen, in die eigene – wenig positive – Erfahrungen als Diplomat eingingen, auch wenn seit dem „Wiener Kongress“ der „geborene“ Doyen des diplomat. Korps eines Staates stets der Apostolische Nuntius ist. Mit Beginn seines Pontifikates richtete Giovanni Maria Conte MastaiFerretti (1792-1840-1846-1878) als Pius IX.26 – besorgt über die schwachen Leistungen des Instituts – eine besondere Kardinalskommission ein und erteilte ihr den Auftrag, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, der Akademie bessere Wege zu eröffnen. Die Kardinäle entschieden zunächst, das Institut wiederum für eine unbestimmte Zeit zu schließen. In den Jahren der Umbrüche 1847 bis 1850 blieben darum aus politischen Gründen die Ämter des Kardinalprotektors und des Präsidenten unbesetzt. Am 24. November 1848 suchte Pius IX. Zuflucht in Gaeta. An Papstvertreibungen hatte man sich in Rom seit 1798, 1808 und 1814 gewöhnt. Zu dieser Zeit wirkte der aus Aachen stammende Diplomat Alfred von Reumont (1808-1887) als Legationssekretär in Rom.27 Zum Ende des akademischen Jahres 1847 erhielten alle Studenten das Abschlussdiplom, das zwar einem berufsqualifizierenden „Staatsexamen“, einem akademischen Grad aber nur bedingt vergleichbar war. Zu ihnen gehörte der künftige deutsche Kurienkardinal: Gustav Adolf Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst wurde am 26. Februar 1823 in Roten———— 25
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Zu Pacca siehe: V. E. GIUNTELLA: EC 9 (1952) 493s. (LIT./FOTO). – B. BLISCH: BBKL 6 (1993) 1405s. (LIT.). – JEDIN (ED.), HKG, V, 505s.; VI/2, 9 u. passim REG. (LIT.). Zu Pius IX. siehe: HC VII, 31; VIII, 3-23 passim REG. (LIT.). – G. MARTINA: EP III, 560-75. (LIT.). – R. AUBERT: LThK 8 ( 31999) 330. (LIT.). – JEDIN, ED.), HKG, VI/1, 477-796 u. REG. (LIT.). – CALZOLARI, MONICA /GRANTALIANO, ELVIRA (EDD.), Lo Stato Pontificio tra Rivoluzione e Restaurazione. Istituzioni e archivi 1789-1870, Roma 2003. Zu Reumont siehe: JEDIN, HUBERT, Alfred von Reumont (1808 -1887): Rheinische Lebensbilder 5 (1973) 95 -112. (LIT.).
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burg an der Fulda geboren. Er war der jüngere Bruder des späteren bayrischen und dann preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzlers Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819-1894 -1901). Nach Besuchen von Gymnasien in Ansbach und Erfurt studierte er zunächst Rechtswissenschaften an der Universität Bonn, ging dann zum Philosophie- und Theologiestudium nach Breslau und – gefördert vom künftigen Kardinal Melchior Freiherr von Diepenbrock (1798-1850-1853) – an die Universität München. Zu dem dort wirkenden Ignaz von Döllinger (1799-1890) als seinem akademischen Lehrer hielt er sein ganzes Leben Kontakte. 1846/7 ging er nach Rom als Alumne Nr. 532 an die „Accademia degli ecclesiastici nobili“ – sicher mit Zustimmung von Pius IX. – und zählte damit zu den gut zehn Studenten und Kommilitonen des künftigen Kardinals Raffaele Monaco La Valletta (1827-1868-1896) unter Präsident Giovanni Battista Rosani (18431847). 1848 begleitete der deutsche Prinz Pius IX. nach Gaeta und empfing dort im folgenden Jahr die Priesterweihe. Den 1850 zum Päpstlicher Geheimkämmerer Ernannten berief der Papst 1857 zum Kanoniker am Petersdom, Groß-Almosenier, Thronassistenten sowie am 13. November 1857 zum Titular-Erzbischof von Edessa. Eine gute Woche später erteilte er persönlich dem 34-jährigen Adligen die Bischofsweihe. Aber schon nach wenigen Jahren kam es zu ersten und ernsten Konflikten an der Kurie. Eine Ursache war sicher das 1863 wohl vom Prinzen veranlasste Grußtelegramm von Pius IX. an die „Münchener Gelehrtenversammlung“. Zudem erteilte er zwei Jahre später dem in Rom gefeierten ungarischen Komponisten und Pianisten Franz von Liszt (1811-1886) die niederen Weihen und nahm ihn damit in den Klerikerstand auf. Am 22. Juni 1866 nahm Pius IX. Gustav Adolf Prinz zu HohenloheSchillingsfürst in das Kardinalkollegium auf und wies ihm die in Vatikannähe gelegene Titelkirche S. Maria in Traspontina zu. Wenige Tage später spendete der Neukreierte dem aus der Nähe von Tivoli stammenden künftigen Kardinal Angelo Di Pietro (1828-1893-1914) in Rom die Bischofsweihe. Als Teilnehmer am I. Vatikanischen Konzil (1869/70) war der Kardinal Gegner der Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen der Glaubens- und Sitten-Lehre, blieb daher wie die meisten der „Minoritätsbischöfe“ der Abstimmung fern und beugte sich nach der Verkündigung des Dogmas. Nach dem auf unbestimmte Zeit vertagten Ende des Konzils am 20. Oktober 1870 zog er sich nach Deutschland auf den Familiensitz Schloss Schillingsfürst zurück und setzte sich für eine Versöhnung zwischen Kirche und Staat im Kulturkampf ein. Die Tatsache, dass der Prinz wie die Mehr-
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zahl seiner Mitstudenten der Akademie weder residierender Bischof noch Apostolischer Nuntius geworden war, nutzte Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) zu dem Affront, den Sympathisanten des italienischen Nationalstaates als Botschafter beim Heiligen Stuhl vorzuschlagen. Pius IX. lehnte diesen Plan jedoch umgehend ab. Zu dieser Zeit bestanden 14 Vertretungen beim Heiligen Stuhl – vornehmlich aus europäischen Ländern. Im Jahre 1876 kehrte Kardinal Hohenlohe nach Rom zurück. Selbstverständlich nahm er im Februar 1878 an dem sehr kurzen Konklave teil, aus dem der ihm wohlbekannte Gioacchino Pecci als Leo XIII. hervorging. Der „belohnte“ seinen mehr als zehn Jahre jüngeren Mitkardinal, indem er ihn zum Erzpriester der Patriarchal-Basilika Santa Maria Maggiore und ein Jahr später zum Kardinalbischof von Albano ernannte. Prinz zu Hohenlohe verzichtete 1884 auf das Bistum und zog es vor, in Rom zunächst die Titelkirche S. Callisto und ein Jahr später als Kardinalprotopriester S. Lorenzo in Lucina zu übernehmen. Der große Förderer von Kunst und Künstlern lebte – als „liebenswürdige“ Persönlichkeit von Zeitgenossen hochgeschätzt – zuletzt in der Villa d'Este in Tivoli. Er starb am 30. Oktober 1896 und fand seine letzte Ruhestätte auf dem in der Vatikanstadt gelegenen „Campo Santo Teutonico“.28 Das Jahr 1848 brachte für Papst und Kirchenstaat tiefgreifende Veränderungen. In den Räumlichkeiten der Akademie fand während dieser Zeit das Kriegs- und Marine-Ministerium der römischen Republik seinen Sitz. Die französischen Besatzungstruppen beschlagnahmten – wie auch von anderen Einrichtungen des Heiligen Stuhls – beachtliche Vermögenswerte. Im Jahre 1850 – das sonst übliche „Heilige Jahr“ feierte man nicht – konnte die Akademie schließlich mit angenommener Neuorientierung und breiter spezialisierter Zielsetzung die ihr ursprünglich zugewiesenen Aufgaben wieder aufnehmen. Längere Romaufenthalte von „Kulturträgern“ u.a. der berühmte Rom-Historiker Ferdinand Gregorovius (1821-1891) und der schon genannte Franz von Liszt veränderten auch die geistige Ansicht der „Ewigen Stadt“. Nach dem von Pius IX. verfügten Neuordnen mit angepassten Lehrinhalten verfolgte die Einrichtung ein neues klar umschriebenes Ziel mit Praxisbezug: Qualifizierte Ausbildung der jungen Kleriker für den diplomatischen Dienst beim Heiligen Stuhl oder für administrative Tätigkeit ———— 28
Zu Hohenlohe siehe: HC, VIII, 17, 43, 47, 49, 51, 256 u. passim REG. (LIT.). – J. GRISAR: LTHK 5 ( 11933) 102. (LIT.). – S. FURLANI: EC 6 (1951) 1457. (LIT.). – M. WEITLAUFF: LTHK 5 ( 31996) 213s. (LIT.). – WEBER, Kardinäle, II, 473s., 714s. u. passim (UMFANGR. LIT.). – SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951, passim. – JEDIN (ED.), HKG, VI/1, 512, 730s.; VI/2, 37s., 65. u. passim REG. (LIT.).
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an der Römischen Kurie sowie im Kirchenstaat. Als verpflichtende Voraussetzung war festgelegt: ein Doktorat in Theologie und im (Kirchen)-Recht. Die Studenten hatten nun ein dreijähriges Studium der Diplomatie und Fremdsprachen zu absolvieren. Die geplante Förderung des Aufbaus der englischen Hierarchie zeigte sich auch in der Auswahl der über siebzig Studenten unter Akademiepräsident Giuseppe Cardoni (1802-1850-1873). Die aus dem deutschen Sprachraum stammenden Adeligen Leopold August Clemens Hubert Graf von Spee (1818-1882) und Christian Rudolf Alexander Josef Jacob Freiherr von Obercamp SJ (1825-1905) trafen daher auf „englische“ Kommilitonen an der Akademie, die in der Zukunft noch bedeutende Rollen als „Multiplikatoren“ für die Akademie übernehmen sollten.29 Der in Gloucester in England geborene Gründer der Missionsgesellschaft vom hl. Joseph von Mill Hill und künftige Kardinal Herbert Alfred Vaughan hatte in Belgien und England bei Jesuiten und Benediktinern studiert, kam 1851 nach Rom und trat 1852 unter Nr. 879 in die Akademie ein. 1854 empfing er in Lucca die Priesterweihe und wirkte seit 1855 in Ware am ———— 29
Spee, Leopold August Clemens Hubert Graf von: *29.1.1818 Düsseldorf – † 23.11.1882 Aachen (?) – Grab Angermund – 11.4.1847 Priesterweihe Erzbistum Köln – 11.4.1847 Vikar Giesenkirchen – beurlaubt – 9.1852 Eintritt Rom Nr. 878 „Accademia degli ecclesiastici nobili“ (Pius IX.) – Dr. theol. – Konsultor Kongregation: „Propaganda Fede“ – Päpstl. Geheimkämmerer (Leo XIII.) – 2.9.1854 Kaplan Köln-Rath – 4.11.1856 Pfarrer Bensberg – 25.11.1863 Stiftsherr Aachen – MilitärSeelsorger schleswig-holsteinischer Krieg. SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701-1951. passim. – HISTORISCHES ARCHIV DES ERZBISTUMS KÖLN (AEK) – PERSONALKARTEI – NACHLASS GEISSEL – TOTENZETTEL. Obercamp, Christian Rudolf Alexander Josef Jacob Freiherr von SJ: *24.1.1825 Karlsruhe – † 8.5.1905 – 1838 Adoption durch den Diplomaten Karl August von Obercamp – katholische Erziehung – 1839 Karlsruhe Lyzeum – 1843 Studium Universitäten München und Berlin – Rechtswissenschaften – 1848 Eintritt Staatsdienst – 1849 Exerzitien Altötting – 1850 Universität Philosophie – Theologie – 9.1852 Eintritt Rom Nr. 881 „Accademia degli ecclesiastici nobili“ (Pius IX.) – 26.3.1853 Priesterweihe Rom für Erzbistum München-Freising – 17.2.1855 Geschäftsführer München – „Ludwig-Missions-Verein“ – 1860 München Assessor Ehegericht – 9.1861 Assessor Metropolitangericht – 1863 Päpstl. Geheimkämmerer (Pius IX.) – 1865 Erzbischöfl. Rat – 26.3.1868 -1.12.1885 Domkapitular München – 3.12.1883 Eintritt Gesellschaft Jesu – (Jesuiten) – SJ – St. Andrä – Kärnten – Thyrnau – Innsbruck. SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 17011951. passim. – MONACHIUM SACRUM: 500 Jahre Münchener Frauenkirche. Festschrift zur 500 Jahr-Feier der Metropolitankirche Zu Unserer Lieben Frau in München. Band I: Kirchengeschichte, SCHWAIGER, GEORG (ED.), München 1994, 539. (LIT.). – Freundl. Auskunft Archiv Erzbistum München und Freising, DR. PETER PFISTER vom 13.12.2010. Zu Vaughan siehe: HC, VIII, 36 u. REG. (LIT.). – K. HOFMANN: LTHK 10 ( 11938) 511. (LIT.). – A. PIOLANTI: EC 12 (1954) 1044s. (LIT./FOTO). – BELLENGER / FLETCHER, Princes, 122, 133 - 45, 150s., 178. (LIT.). – SCHOFIELD, NICHOLAS / SKINNER, GERARD, The English Cardinals, London 2007. – JEDIN (ED.), HKG, VI/2, 145ss., 290. (LIT.). Zu Howard of Norfolk siehe: HC, VIII, 22 passim u. REG. (LIT.). – T. C[OOPER]: DNB 22 (1909) 874s. (LIT.). – WEBER, Kardinäle, II, 474s. u. passim. (LIT.). – BAXTER, England's cardinals, 82- 85. (LIT.). – BELLENGER /FLETCHER, Princes, 113, 133s., 177. (LIT.).
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„St. Edmund College“. Von 1861 bis 1865 führten Missionsreisen ihn nach Panama, Kolumbien, in die Vereinigte Staaten von Amerika sowie nach Südamerika. Seit 1865 baute er die Missionsgemeinschaft vom hl. Joseph von Mill Hill auf und blieb bis 1903 ihr Oberer. 1872 von Pius IX. zum Bischof von Salford erteilte ihm der künftige Kardinal Henry Edward Manning (1808-1875-1892) die Bischofsweihe. Seit 1892 wirkte er als Erzbischof von Westminster und trug wesentlich zum Bau der Kathedrale bei. Leo XIII. berief ihn am 16. Januar ins 16.1.1893 Kardinalskollegium und wie ihm als Titelkirche Ss. Andrea e Gregorio al Monte Celio zu. Der Kardinal starb am 19. Juni 1903 in London und wurde in S. John in Mill Hill bestattet und 2005 in die Westminster-Kathedrale überführt. Der ebenfalls in England an der Universität ausgebildete künftige Kardinal Edward Henry Howard of Norfolk (1829-1877-1892) verließ ebenfalls – zwar nur für kürzere Zeit – Europa und trug zum Aufbau der Kirche in Indien bei. Unter Pius IX. in die Akademie eingetreten war er nach seiner Priesterweihe zunächst in der Seelsorge in Rom tätig, ehe er als Konsultor der Kongregation „Propaganda Fede“ – Abteilung für orientalische Riten – als Päpstlicher Gesandter in Goa Verhandlungen zwischen Briten und Portugiesen zur Errichtung einer Kirchenprovinz führte. Wegen schwerer Erkrankung kehrte der Kardinal 1888 von Rom nach England zurück und starb am 16. September 1892 in Brighton. Im Konklave vom 18. bis 20. Februar 1878 wählten die Kardinäle einen weiteren ehemaligen Studenten Nr. 812 der Akademie mit praktischer Erfahrung als Nuntius in Belgien Gioacchino Vincenzo Kardinal Conte Pecci (1810-1853-1878-1903) als Leo XIII. zum Papst.30 Der ehemalige Schüler des Jesuitenkollegs von Viterbo und promovierte Theologe der Universität „La Sapienza“ in Rom forderte zwar mehr Zuverlässigkeit bei der intellektuellen Vorbereitung der künftigen Diplomaten und verlangte in regelmäßigen Abständen öffentliche Diskussionen der schriftlich vorgelegten Arbeiten. Schon bald nach seiner Wahl hatte Leo XIII. erneuerte Statuten vorgelegt. Ein Öffnen der Akademie – über den englischen Sprachraum hinaus – für nicht abendländische Kulturen sollte aber noch länger auf sich warten lassen. Zwischen dem von Leo XIII. nach Rom einberufenen I. PlenarKonzil für Lateinamerika vom 28. Mai bis 9. Juli 1899, an dem über fünfzig Bischöfe teilnahmen, und der „Accademia degli ecclesiastici nobili“ lassen ———— 30
Zu Leo XIII. siehe: HC, VII, 303; VIII, 13, 24 - 42 passim REG. (LIT.). – F. MALGERI: EP III, 57592. (LIT.). – O. KÖHLER: LTHK 6 ( 31997) 828ss. (LIT.). – JEDIN (ED.), HKG, VI/2, 3- 28 u. REG. (LIT.). – PAZOS / RICARDO, El Concilio Plenario de América Latina, Madrid 2002. passim REG. (LIT.).
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sich jedoch keine direkten Verbindungen nachweisen, sieht man einmal ab von Kardinalstaatssekretär Mariano Rampolla del Tindaro (1843-18871913). Daran hatte auch der dem Papst sicher nahe stehende und von ihm zum Kardinal kreierten Joseph Hergenröther (1824-1879-1910) 31 nichts ändern können. Zwei renommierte Päpstliche Diplomaten, die mit dem veränderten römischen Umfeld bestens vertraut waren und zum Kardinalat aufstiegen, hatten nach vorliegenden Zeugnissen aus wenig erkennbaren Gründen keine Kontakte zur Akademie. Der Humanist und römische Arztsohn mit breitem Bildungsansatz Carlo Luigi Morichini (1805-1852-1879) sowie der im Staatsekretariat von Führungskräften bestens vorbereitete Giovanni Brunelli (1795 -1853-1861)32 kamen in der Vorbereitung ihrer möglichen Nachfolger nicht zum Zug. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts während der Präsidentschaft seit 1898 des künftigen Kardinals Raffaele Merry del Val y Zuleta (1865-1903-1930) – künftigem Kardinalstaatssekretär von Pius X. – und seiner Nachfolger kamen auch wieder einige deutschsprachige Studenten an die Akademie. Einer von ihnen hat seine Aufnahme wohl eindeutig seiner adligen Herkunft zu verdanken: Johann Rudolph Graf von Westphalen OSB (1868-1951). Zwei weitere Akademieabsolventen – Paul Maria Baumgarten (1860 -1948) und Hubert Beda Bastgen OSB (1876-1948) – konnten sich dagegen als Historiker ihres geplanten „Wirkungsfeldes“ profilieren.33 ———— 31
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Zu Hergenröther siehe: HC, VIII, 28 passim u. REG. (LIT.). – A. BIGLMAIR: LTHK 4 ( 11932) 976. (BIBL./LIT.). – C. TESTORE: EC 6 (1951) 1415s. (LIT.). – A. BIGLMAIR: LTHK 5 ( 21960) 245s. (BIBL./LIT.). – S. A.: BBKL 2 (1990) 746s. (UMFANGR. LIT.). – M. WEITLAUFF: LTHK 4 ( 31995) 1437s. (LIT.). – GRANDERATH, Geschichte des Vatikanischen Konzils, 3. Voll., – Verzeichnis der Teilnehmer: Vol. I, 463-509. REG. (LIT.). – AUBERT, Vaticanum I., Mainz 1965. passim u. REG. (LIT.). – SCHATZ, Vatikanum I., I-III, Paderborn 1992/94. passim u. REG. (LIT.). – VATICAN ARCHIVES, An inventory and guide to historical documents of the Holy See, BLOUIN, FRANCIS X. JUN. et al. (EDD. ), Oxford University Press, New York 1998. (LIT.). – PASTOR, GP, VI, 539, 568, 576 passim u. REG. (LIT.). – JEDIN (ED.), HKG, VI/1, 548, 554, 690, 695; VI/2, 289, 328s. REG. (LIT.). Zu Morichini siehe: HC, VII, 284; VIII, 11s., 43, 48, 79, 153 passim REG. (LIT.). – MIGNE (ED.), DC, 1249. – R. U. MONTINI: EC 8 (1952) 1291. (LIT.). – DE MARCHI, Nunziature apostoliche dal 1800 al 1956, 54. – WEBER, Kardinäle, II, 489ss. u. passim. (LIT.). – GRANDERATH, Geschichte des Vatikanischen Konzils, 3. Voll., – Verzeichnis der Teilnehmer: Vol. I, 463- 509. REG. (LIT.). – AUBERT, Vaticanum I., Mainz 1965. passim u. REG. (LIT.). – SCHATZ, Vatikanum I., I-III, passim u. REG. (LIT.). Zu Brunelli siehe: HC, VII, 367; VIII, 12, 47 u. passim REG. (LIT.). – L. PÁSTOR: DBI 14 (1972) 555s. (UMFANGR. LIT.). – DE MARCHI, Nunziature apostoliche dal 1800 al 1956, 237. – WEBER, Kardinäle, II, 444s. u. passim. (LIT.). Westphalen, Johann Rudolph Graf von – ON: Pater Johannes OSB *5.8.1868 Laer – Meschede – † 16.6.1951 Haus Kannen – Münster – Grab Gerleve – Abteifriedhof – 16.7.1923 Eintritt Benediktiner-Abtei St. Benediktsberg – Vaals / Niederlande – 8.12.1897 Priesterweihe Limburg – 1.3.1898
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Als Präsident mit einer der längsten – fast dreißig-jährigen – Amtszeit wirkte Titular-Erzbischof Giovanni Maria Zonghi (1847-1914-1941). Das Konklave vom 31. August bis 3. September 1914 wählte Giacomo Marchese della Chiesa (1854-1914-1914-1922) im Jahre seiner Kardinalskreierung als Benedikt XV.34 zum Nachfolger des hl. Petrus. Für die Akademie war das erneut ein Glücksfall, denn der Gewählte kannte die Einrichtung seit 1879 als Student Nr. 963 aus eigener Erfahrung. Er lehrte später als enger Mitarbeiter von Mariano Kardinal Rampolla del Tindaro (18431887-1913) als Professor für Diplomatie und ihre Tätigkeitsfelder. Zu wenig beachtet blieb sein Aufruf zum Frieden an die Mächtigen Europas. ————
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Kaplan Dernbach – 7.6.1900 Oberlahnstein – 16.7.1901 Hadamar – 1.11.1902 beurlaubt: Eintritt Rom Alumne Nr. 1034 (?) „Accademia degli ecclesiastici nobili“ unter Raffaele Merry del Val y Zuleta (1865-1903 -1930) – Präsident von 1898-1903 – Päpstl. Hauskaplan – Monsignore (Pius X.) – 1.9.1904 Expositus Neuhäusel – 16.7.1923 zum Ordenseintritt beurlaubt – 28.9.1927 feierl. Profeß OSB – nach Auflösung der Abtei (ca. 1945) zunächst 18 Monate bei Verwandten in Fürstenberg / Westf. – Montabaur – Krankenhaus Barmherzige Brüder – 1949 Haus Kannen. Zu Westphalen siehe: Personalakte u. Schematismen Limburg – Freundl. Auskunft 6.12.2010 Diözesanarchiv Limburg von Frau IRIS JUNG. – Archiv Benediktinerabtei Gerleve – Sign. AG 83. – Freundl. Auskunft 27.12.2010 von P. BARTHOLOMÄUS DENZ OSB. Baumgarten, Paul Maria: *25.7.1860 Rittershausen – † 29.12.1948 Neuötting – Theologe – Historiker – 1890 Eintritt Rom Alumne Nr. 995 „Accademia degli ecclesiastici nobili“ unter dem künftigen Kardinal Francesco di Paola Satolli (1839 - 1895 - 1910) Präsident von 1886 -91 – 1894 Priesterweihe – 1901 Päpstl. Hausprälat – Kommilitone von Raffaele Kardinal Merry Del Val. CH. WEBER: LTHK 2 ( 31994) 93. – WEBER, CHRISTOPH (ED.), Die römische Kurie um 1900. Ausgewählte Aufsätze von PAUL MARIA BAUMGARTEN, eingeleitet und mit einem Werkverzeichnis, Köln 1986. – AEK – PERSONALKARTEI. Bastgen, Hubert – ON: Pater Beda OSB: *21.8.1876 Cochem – †4.5.1946 Abtei Schäftlarn / München – Studium Trier Philosophie – Theologie – 31.3.1900 Priesterweihe Trier – Kaplan Neuwied - Studium 1902 Universität Bonn - Theologie - Geschichte - 1904 Universität Berlin – Geschichte – 3.8.1906 Breslau – Dr. theol. – 21.9.1907 Berlin – Dr. phil. – 1907 Eintritt – Rom – Alumne Nr. (1056) – „Accademia degli ecclesiastici nobili“ unter Präsident Francesco Sogaro MCCI (1903-1912) – 1908 Rom S. Apollinare Dr. iur. can. – Kommilitone von Clemente Kardinal Micara (1879-1946 -1965) – 1910 Habilitation Straßburg – Privatdozent – 1916-18 „Sondergesandter der Deutschen Reichregierung und des Heiligen Stuhls“ Bulgarien – Sofia – Zar Ferdinand von Bulgarien – 1920 Rom – Privatgelehrter – Forschungstätigkeit im Vatikanischen Archiv – 1932 Eintritt Benediktinerabtei Schäftlarn – 15.11.1937 feierliche Profess als Pater Beda. Zu Bastgen siehe: HAAS, REIMUND, Hubert Bastgen (1876-1946) und seine Forschungen aus dem Vatikanischen Archiv: Römische Quartalsschrift 88 (1993) 156 - 86. (UMFANGR. LIT.). – HAAS, REIMUND: BBKL 18 (2001) 152 - 57. (UMFANGR. LIT.). – HAAS, REIMUND, Matthias Erzberger, Hubert Bastgen und die kirchenpolitischen Pläne für eine katholische Kirchenunion mit Bulgarien (1916 -1918): Ostkirchliche Studien 55 (2006), 218- 258. – „Mikrofiche-Studienausgabe“ der Werke von Hubert Bastgen, Verlag Hänsel-Hohenhausen, Egelsbach 1990/3. Zu Benedikt XV. siehe: HC, IX, 12, 14 - 19 u. passim REG. (LIT.). – G. DE ROSA: EP, III, 608 - 17. (UMFANGR. LIT.). – G. SCHWAIGER: LTHK 2 ( 31994) 209s. (LIT.). – JEDIN (ED.), HKG, VII, 22ss., 40 - 51 u. REG. (LIT.). – A. MARTINI: La nota di Benedetto XV ai capi delle nazioni belligeranti (1. Agosto 1917): CIV. CATT. 113/4 (1962) 417 - 29.
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Kreative Denkanstöße und schließlich eine den veränderten Zeitverhältnissen mehr angepasste „neue Philosophie“ erhielt die Akademie von den beiden folgenden Päpsten. Pius XI. – Ambrogio Damiano Achille Ratti (1857-1921-1922-1939) als Wissenschaftler weltweit anerkannt und erster Apostolischer Nuntius in Polen 35 – aber selbst nicht Absolvent der Akademie – bestimmte am 8. September 1937, der jeweilige Kardinalstaatssekretär habe „pro tempore“ das Protektorat dieser nicht nur für ihn wichtigen Bildungseinrichtung zu übernehmen. Eugenio Pacelli (1876-1929-1939-1958) Pius XII.36 – selbst nicht an der Akademie ausgebildet – entwickelte schon vor 1939 auf solider Basis eigener diplomatischer und kirchenpolitischer Erfahrungen sowie seinem Wirken als Professor für Diplomatie von 1934-39 ein neues zeitgemäßeres Konzept „intellektueller und sozialer Bildung“ sowie Mitbeteiligung. 1936 reisten auf seine Bitte hin die (künftigen) Kardinäle Michael von Faulhaber (1869-19211952), Adolf Bertram (1859-1919-1945), Karl Joseph Schulte (1871-19211941), Konrad Graf von Preysing (1880-1946-1950) und Clemens August Graf von Galen (1878-1946-1946) zum Erarbeiten eines Entwurfs für Enzyklika 1937 „Mit brennender Sorge“ von Pius XI. Die beiden Letztgenannten waren seit Pacellis Münchner und Berliner Zeit seine besonderen Vertrauten. Das Institut war schon länger auch für den Nichtadel zugänglich und so änderte der Papst den Namen in „Pontificia Accademia ecclesiastica“ (im Volksmund: Päpstliche Diplomaten-Akademie). Er setzte Zeichen: Am 29.10.1939 erteilte er in Rom dem künftigen ersten chinesischen und nichteuropäischen Kardinal Thomas Tian Geng Xin - auch: Tien Ken-Sin SVD (1890-1946-1967) die Bischofsweihe.37 ———— 35
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Zu Pius XI. siehe: HC, IX, 19, 25, 27, 36, 247, 266 u. passim REG. (LIT.). – F. MARGIOTTA BROGLIO: EP, III, 617- 632. (LIT.). – J. GELMI: LTHK 8 ( 31999) 335ss. (LIT.). – JEDIN (ED.), HKG, VII, 25s., 53, 79, 519. REG. (LIT.). Zu Pius XII. siehe: J. GELMI: LTHK 8 ( 31999) 337s. (LIT.). – F. TRANIELLO: EP III, 632 - 45. (UMFANGR. LIT.). – PONTIFICIO COMITATO DI SCIENZE STORICHE (ED.), Pio XII. L’uomo e il Pontificato (1876-1958), Libreria Editrice Vaticana, Città del Vaticano 2008. – Ausstellung: Braccio di Carlo Magno 4.11.2008 - 6.1.2009. (UMFANGR. LIT.). – VIAN, GIOVANNI MARIA (ED.), In difesa di Pio XII., Venezia 2009. (LIT.). – PAGANO, SERGIO / CHAPPIN, MARCEL / COCO, GIOVANNI (EDD.), I fogli di udienze del cardinale Eugenio Pacelli, Segretario di Stato, Vol. I (1930), (Collectanea Archivi Vaticani 72), Città del Vaticano 2010. REG. (LIT.). – JÄHRL. BIBLIOGRAFIE: ARCHIVUM HISORIAE PONTIFICIAE, 1 (1963) ss. Tian Geng Xin, Thomas SVD – [Tien Ken-Sin] *24.10.1890 – anders: 27.9. – Changtsiu – Shandong – Apostolisches Vikariat Yangku – [China] - † 24.7.1967 Jiayi – Taipeh – Grab Kathedrale Taipeh – Taiwan – Priesterseminar Yenchowfu – China – Philosophie – Theologie – 9.6.1918 Priesterweihe Yenchowfu – 1918-39 Pastorales Wirken Mission Yangku – 8.3.1929 Eintritt „Societas Verbi Divini“ – Gesellschaft des göttlichen Wortes (Verbiten – Steyler Missionare) – SVD – Steyl – Hol-
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III. Vom 250-jährigen Bestehen bis zum Jahrtausendwechsel Als äußeres Zeichen für sein persönliches Interesse dürfte auch zu werten sein: Das Amt des Kardinalprotektors war in den Jahren 1944 bis 1958 nicht besetzt. In seinem Glückwunschschreiben zur 250-Jahrfeier der Akademie vom 14. April 1951 an den Präsidenten Paolo Savino (1894-1980) sprach Pius XII. vom Bildungsziel einer „intellektuellen Kultur“, von „bekennender Wahrheit, gelebter Gerechtigkeit und vergeudeter Nächstenliebe“ sowie von der „Kenntnis des kurialen Stils und den Eigenheiten unter den Völkern“. Die kirchlichen und diplomatischen Wissenschaftsdisziplinen sollten dazu ihren notwendigen Beitrag leisten. Johannes XXIII. – Angelo Guiseppe Roncalli (1881-1953-1958-1963) selbst nicht Absolvent der Diplomatenakademie, aber anerkannter Apostolischer Nuntius in Ost und West 38 – sorgte sich um eine innerkirchlich und international anerkannte Akzeptanz dieser Bildungseinrichtung und um eine umfangreiche Restaurierung der Räumlichkeiten. Unter seinem Pontifikat trat schon zwei Jahre nach seiner Priesterweihe in Köln ein Deutscher 1960 ein, der sowohl eine Karriere als päpstlicher Diplomat als auch als Bischof bzw. Erzbischof in Deutschland große Breitenwirkung bis in die Medienwelt hinein erlangte, Johannes Dyba.39 ————
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land – 2.2.1931 Erste Gelübde – 7.3.1935 Ewige Gelübde – 2(3).2.1934 Apostolischer Präfekt Yangku (Pius XI.) – 11.7.1939 Titular-Bischof Ruspe u. Apostolischer Vikar Yangku (Pius XII.) – 29.10.1939 Bischofsweihe Rom durch Pius XII. (Eugenio Pacelli) – 10.11.1942 Apostolischer Vikar Tsingtao (Pius XII.) – 18.2.1946 Kardinalpriester (Pius XII. – 32.) Titelkirche S. Maria in Via – erster chinesischer und nicht-europäischer Kardinal - 11.4.1946 Erzbischof Peking-Beijing (Pius XII.) – 1951 Ausweisung China durch kommunist. Regime – Asyl: Vereinigte Staaten von Amerika – USA – Europa – 16.12.1959 - 66 Apostolischer Administrator Taiwan – Formosa-Taipeh (Johannes XXIII.) – 1962-65 Teilnahme II. Vatikan. Konzil (Johannes XXIII. – Paul VI.) – 25./26.10.1958 Teilnehmer Konklave: Wahl: Johannes XXIII. – 19.- 21.6.1963 Teilnehmer Konklave: Wahl: Paul VI. ANN. PONT. 1946, 62* u. REG. (mit Wappen). – L’ OSS. ROM. 24./25.7.1967, 2. (NEKR./ FOTO). – R. MALEK: LTHK 10 ( 32001) 19s. z.T. mit anderen Daten. (LIT.) – PIO XII. L’uomo e il Pontificato (1876 1958). (UMFANGR. LIT.). – ALBERIGO (ED), Conc. Vaticano II. – II. Vatikan. Konzil, I-IV, passim REG. (LIT.). – FLECKNER, JOHANNES, Thomas Kardinal Tien, (Studia Instituti Missiologici Societatis Verbi Divini, Nr. 16), [Steyl-]Nettetal u. St. Augustin 1975. Zu Johannes XXIII. siehe: F. TRANIELLO: EP, III, 646 - 657. (LIT.). – G. ALBERIGO: LTHK 5 ( 31996) 952ss. (LIT.). – JEDIN (ED.), HKG, VII, 101s., 390, 535, 604. REG. (LIT.). – G. ALBERIGO, Giovanni XXIII, profezia nella fedeltà, Brescia 1978. – NIKODIM, Johannes XXIII, Ein unbequemer Optimist, Zürich 1978. – ITAL. ÜBERS. Roma 1983. – JATTA, BARBARA (ED.), Governatorato dello Stato della Città del Vaticano. 1919-2009. Ottanta Anni dello Stato della Città del Vaticano, Città del Vaticano 2009. [im Folgenden: JATTA (ED.), Ottanta Anni Stato Vaticano, LIT.]. Dyba, Johannes, *15.9.1929 Berlin – *23.7.2000 Fulda – Grab Fulda Dom – 2.2.1959 Priesterweihe Köln durch Joseph Kardinal Frings (1887-1910 -1942-1978) – 1960 Eintritt unter Nr. 1333 Rom „Pontificia Accademia Ecclesiastica“ Präsident Giacomo Testa (1909 -1959 -1962) TitularErzbischof Eraclea d’Europa – Kommilitonen: 1331. Zur Georg – Görlitz – Titular-Erzbischof
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Paul VI. – Giovanni Battista Montini (1897-1958-1963-1978) – vierter Papst 40 – der 1921-26 als Student einen Teil seiner Ausbildung an diesem Institut genoss, formulierte auch ein Lernziel der Akademie neu: „Experten für Menschlichkeit“. Johannes Paul II. – Karol Józef Wojtyła (1920-1967-1978- 2005) zeigte – wohl auf Hinweis seines Erzbischofs, des ehemaligen Akademie-Studenten Adam Stefan Stanisław Kardinal Sapieha (1876-1946-1951) 41 und eigener Studien in Rom – besonderes Interesse an Aufgabenstellung und Arbeitsweise des Instituts: regelmäßige Besuche und Empfänge waren für ihn Selbstverständlichkeiten.42 In seinem Pontifikat wirkten 6 Präsidenten als ————
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Sesta – Apostolischer Nuntius – Präsident „Pontificia Accademia Ecclesiastica“ – 1334. Martino, Renato Raffaele (1932- 2003 - ???) Salerno – Italien – Apostolischer Nuntius – Titular-Erzbischof Segerme – Kardinal – 1341. Re, Giovanni Battista (1934 - 2001 - ???) Brescia – Italien – Kardinal – 25.8.1979 Titular-Erzbischof Neapolis Proconsulari (Johannes Paul II.) – 25.8.1979 Apostolischer Pro-Nuntius Gambia – Liberia u. Apostolischer Delegat Guinea – Sierra Leone – 13.10.1979 Bischofsweihe Köln durch Agostino Kardinal Casaroli (1914 - 1937 - 1985- 1998) und Joseph Kardinal Höffner (1906-1932- 1962-1987) – 4.6.1983 Bischof Fulda – Erzbischof „ad personam“ (Johannes Paul II.) – 4.9.1983 Amtsantritt – 30.11.1990 Militärbischof Bundesrepublik Deutschland. – E. GATZ: GATZ, ERWIN (ED.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945-2001. Ein biographisches Lexikon, Berlin 2002, 156ss. (LIT./FOTO). Zu Paul VI. siehe: G. M. VIAN: EP, III, 657-74. (UMFANGR. LIT.). – V. CONZEMIUS: LTHK 7 ( 31998) 1524ss. (LIT.). – JEDIN, (ED.), HKG, VII, 35, 90s., 107, 113, 116, 216, 423, 586 u. REG. (LIT.). – JATTA (ED.), Ottanta Anni Stato Vaticano, LIT. Sapieha-Kodeński, Adam Stefan Stanisław Bonfatiusz Józef *14.5.1876 Schloß Krasiczyn / Diözese Przemysl – [Polen] – † 23.7.1951 Kraków-Krakau – Grab Kathedrale Wawel – beim Stanisław-Altar – Studium 1886 Polen Lwow – „Wyźszym“ Gymnasium – Kraków – „Jagielloński“ Universität – Philosophie – Theologie – Rom – Päpstl. „Gregoriana“ Universität – 1.10.1893 Priesterweihe Rom – durch den künftigen Kardinal Jan Dukla Maurycy Pawel Kniaz Puzyna de Kozielsko (1842-19011911) – 1893-97 Seelsorge Diözese Lemberg – Professor Priesterseminar – 10.7.1896 Dr. phil et theol. – 1897- 98 Rom – Alumne Nr. 1014 Päpstl. „Accademia degli ecclesiastici nobili“ (Leo XIII.) – für Spezial-Ausbildung von Diplomaten des Heiligen Stuhles (Diplomatie – Fremdsprachen – Verwaltungs- u. Kirchenrecht) – Kommilitone: der spätere Kardinal Camillo Caccia-Dominioni (1877-1935 -1946) – 23.9.1897 - 27.10.1910 Vize-Rektor – 1902 Kanoniker Kathedral-Kapitel Lemberg – 23.2.1906 Päpstl. Hauskaplan – 27.11.1911 ernannter Bischof Kraków-Krakau (Pius X.) – 17.12.1911 Bischofsweihe Apostolischer Vatikan. Pallast Sixtinische Kapelle durch Pius X. – 28.10.1925 Erzbischof Kraków-Krakau bei Erhebung zur Metropolitan- Erzdiözese – 18.2.1946 Kardinalpriester (Pius XII. – 29.) Titelkirche S. Maria Nuova al Palatino e S. Francesca Romana – 1.11.1946 Priesterweihe Kraków – Kapelle erzbischöfl. Palast des künftigen Kardinals und Papstes Karol Józef Wojtyła (1920 - 1967-1978 - 2005) – 2.4.1950 Priesterweihe Kraków – des künftigen Kardinals Franciszek Macharski (1927-1979 –XXX). L’ OSS. ROM. 26.7.1951 (NEKR./ FOTO). – ANN. PONT. 1946, 49* u. REG. (mit Wappen). – SAVINO, La Pontificia Accademia Ecclesiastica 1701- 1951. passim. Zu Johannes Paul II. – Wojtyła, Karol Józef (1920-1967 - 1978 - 2005) siehe: ANN. PONT. 1968ss. – M. BRAY: EP, III, 681- 97. (LIT.). – E. GATZ: LTHK 5 ( 31996) 979s. (LIT.). – WEIGEL, GEORGE, Witness to hope. The biography of Pope John Paul II., New York 1999. – ITALIEN. ÜBERSETZUNG: WEIGEL, GEORGE, Testimone della Speranza. La vita di Giovanni Paolo II. Protagonista del secolo, trad. PARIZZI, MASSIMO / LAZZARI, CARLA / DAL PRA, ELENA / MAZZA, ANDREA Milano 1999. –
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Vorgesetzte von weit über 200 Studenten aus allen Teilen der Welt, unter denen Italiener über keine Mehrheit mehr verfügten. In der 300-jährigen Geschichte der Akademie zeichneten bis zum Jahre 2000 insgesamt 36 Präsidenten für die Ausbildung der etwa 1750 Studenten verantwortlich. Die Präsidenten waren überwiegend Italiener – nur wenige „Ausländer“; zwei Deutsche bekleideten in der Neuzeit dieses wichtige Amt.43 Bei den über hundert aus dem deutschen Sprachraum stammenden Studenten verlief die Entwicklung anders. Einige gehörten zu den Ersten überhaupt; seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gehörten deutsche Muttersprachler jedoch eher zu den Ausnahmen. Die Kardinalprotektoren (Anhang I.), die Präsidenten (Anhang II.) und die dem deutschen Sprachraum entstammenden Studenten der Akademie (Anhang III) sind im folgenden Anhang an diese Einführung in tabellarischen Übersichten aufgeführt, um die Möglichkeit zu eröffnen durch weitere „biographische“ Studien auch neue Einsichten zur Geschichte der Einrichtung zu gewinnen. Hochgestecktes Bildungsziel der „Akademie“ blieb stets, junge Kleriker im „römisch-kulturellen“ Umfeld optimal für den diplomatischen Dienst beim Heiligen Stuhl – Staatssekretariat und Apostolische Nuntiaturen – in aller Welt vorzubereiten. Wachsende Qualitätsansprüche bestimmen Inhalte und Methoden der Ausbildung. Die Absolventen mit abgeschlossenem akademischen Studium (in der Regel wenigstens ein Doktorat) und praktischer Seelsorgserfahrung genießen heute eine international anerkannte Spezialausbildung für Diplomaten. Studiendisziplinen sind Verwaltungs- und Kirchen————
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DEUTSCHE ÜBERSETZUNG: WEIGEL, GEORGE, Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II. Eine Biographie, übers. von GOLDMANN, CHRISTINA / HOF, WILFRIED / NICOLAI, KARL / PROß-GILL, INGRID, Paderborn / München / Wien / Zürich 2002. – JATTA (ED.), Ottanta Anni Stato Vaticano, LIT. Als ehemalige deutschsprachige Studenten des Instituts wurden Präsidenten: Rauber, Karl-Josef: *11.4.1934 Nürnberg – Deutschland – 28.2.1959 Priesterweihe – Mainz – 1964 Student Nr. 1365 „Pontificia Accademia ecclesiastica“ – 18.12.1982 Titular-Erzbischof Iubaltiana (Johannes Paul II.) – 18.12.1982 Apostolischer Pro-Nuntius Uganda – 6.1.1983 Bischofsweihe – 22.1.1990 Präsident „Pontificia Accademia ecclesiastica“ (Johannes Paul II.) – 16.3.1993 Apostolischer Nuntius Schweiz und Liechtenstein – 25.4.1997 Apostolischer Nuntius Ungarn u. Republ. Moldawien – 22.2.2003 Apostolischer Nuntius Belgien und Luxembourg – 18.6.2009 emerit. Apostolischer Nuntius Belgien – 24.7.2009 emerit. Apostolischer Nuntius Luxembourg. QUELLEN: Ann. Pont. – L’Oss. Rom. Zur, Georg: *15.2.1930 Görlitz – Deutschland – 10.10.1955 Priesterweihe – 1960 Student Nr. 1331 „Pontificia Accademia ecclesiastica“ – 5.2.1979 Titular-Erzbischof Sesta (Johannes Paul II.) – 5.2.1979 Apostolischer Pro-Nuntius Malawi u. Zambia – 24.2.1979 Bischofsweihe – 3.5.1985 Apostolischer Nuntius Paraguay -13.8.1990 Apostolischer Pro-Nuntius Indien – 13.8.1990 Apostolischer Pro-Nuntius Nepal – 7.12.1998 Präsident „Pontificia Accademia ecclesiastica“ (Johannes Paul II.) – 29.1.2000 Apostolischer Nuntius Russ. Föderation – 8.10.2002 Apostolischer Nuntius Österreich – 26.7.2005 emerit. Apostolischer Nuntius Österreich. QUELLEN: Ann. Pont. – L’Oss. Rom.
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recht, Diplomatie, ihre (Rechts-) Geschichte sowie mindestens zwei Fremdsprachen zusätzlich zur Muttersprache und zum Italienischen. Die Frage, ob man das Institut der „Pontificia Accademia ecclesiastica“ nach Skizzierung ihrer 300-jährigen Geschichte als „Akademie“ oder als „Kolleg“ bezeichnen kann, bleibt aber weiterhin offen.
Anhang I: Diplomatenakademie – Kardinalprotektoren 1702-2000 Nr. Amtszeit Name 1. 1702-37 Imperiali, Giuseppe Renato 2. 1737 - 44 Firrao, Giuseppe sen.
3. 1744 - 63 Colonna de Sciarra, Girolamo jun. OSI 4. 1775- 80 Caraciolo-Santobono, Giovani Costantino 5. 1781- 98 Archinto, Giovanni
6. 1802- 17 Braschi-Onest, Romualdo 7. 1817- 20 Litta Visconti Arese, Lorenzo
Lebensdaten Herkunft 1651-1737 Oria, Franca-villa 1670-1744 Castel Luzzi 1708 -1763 Sciarra
1715-1780 Neapel 1736-1799 Mailand
1753-1817 Cesena 1756-1820 Mailand
8. 1820 - 44 Pacca, Bartolomeo sen.
1756-1844 Benevent
9. 1844 - 47 Acton, Charles Januarius Edward
1803-1847 Neapel
10. 1850 - 66 Altieri, Ludovico
1805-1867 Rom
11. 1867- 76 Patrizi-Naro, Costantino 12. 1877- 83 Luca De, Antonio Saverio 13. 1884 - 96 Monaco La Valetta, Raffaele 14. 1896-02 Ledóchowski, Mieczyslaw Halka Graf von
1798-1876 Siena
15. 1902-14 Ferrata, Domenico
1805-1883 Bronte 1827-1896 L´Aquila 1822 -1902 Gorki
1847-1914 Monte Fiascone
Ämter, Päpste Erzdiözese Brindisi, Clemens XI.
Diözese Bisignano, 1733 - 40 Kardinalsstaatssekretär, Clemens XII. 1756 - 63 Kamerlengo, Benedikt XIV. General-Auditor Apost. Kammer, Clemens XIII. 1770 Präfekt Apost. Palast, 1781 Präfekt Riten- Kongregation, Pius VI. Alume PAE 1778/9, 1800 Kamerlengo, Pius VII. 1814- 18 Präfekt Propanda Fidei, 1818 - 20 Kardinalvikar Rom, Pius VII. Alumne PAE 1778/9, 1814 - 24 Kamerlengo, Pius VIII. Alumne PAE 1823 - 27, GeneralAuditor Apost. Kammer, Gregor XVI. 1855 Sekretär „Memoriali“, 1857- 67 Kamerlengo, Pius IX. Sekretär Kongregation S. Uffizio, Pius IX. Vizepräfekt der PAE 1840 - 45, Präfekt Studienkongregation, Leo XIII. Alumne PAE 1846/47, GroßPönitentiar, Leo XIII. Alumne PAE 1843/4, Präfekt der Propaganda Fidei und OstkirchenRiten, Leo XIII. Nr. 17 Anh. II., Präfekt von Kongregationen, 1914 Kardinalstaatssekretär, Benedikt XV.
300 Jahre Diplomatenausbildung des Heiligen Stuhles 16. ????-37 Bislet(t)i, Gaetano
1858 -1937 Veroli
17. 1937- 39 Pacelli, Eugenio
1876-1958
18. 1939 - 44 Maglione, Luigi
1877-1944
19. 1958- 61 Tardini, Domenico Michele Giuseppe 20. 1961- 69 Cicognani, Amletto Giovanni 21. 1969 -79 Villot, Jean-Marie
1877-1944
1905 -1979
22. 1979-91 Casaroli, Agostino
1914-1998
23. 1991
1885-1973
Sodano, Angelo
*1927
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Alumne PAE 1879/80, 1915 Präfekt Kongregation Seminare / Universitäten, 1932 Großkanzler Gregoriana, Pius XI. Rom 1930- 39 Kardinalstaatssekretär, Pius XI. Casoria, 1939- 1941 Kardinalstaatssekretär, Neapel Pius XII. Rom 1958- 61 Kardinalstaatssekretär, Johannes XXIII. Faenza 1969 -79 Kardinalstaatssekretär, Paul VI. Clermont 1969 -79 Kardinalstaatssekretär, Paul VI., Johannes Paul I., Johannes Paul II. Castel San 1979-90 Kardinalstaatssekretär, Giovanni, Johannes Paul II. Piacenza Asti 1991- 2006 Kardinalstaatssekretär, Johannes Paul II., Benedikt XVI.
Anhang II: Diplomatenakademie – Präsidenten 1701-2000 Nr. Amtszeit Name, Vorname 1. 1701-1704 Sibilia, Matteo Gennaro 2. 1704-1720 Giodanini, Francesco 3. 1721-1728 Negri De, Pellegrino
4. 1729-1739 Giannini, Tommaso 5. 6. 7. 8.
1739-1742 1742-1744 1744 -1762 1763 -1764
Fromaliani, D. Girolamo Conte Granelli, Angelo Onorati, Pier Matteo Marchese Gorgoni, Innocenzo OSB
9. 1775 -1798 Paoli, Paolo Antonio 10. 1802 -1814 Brenciaglia, Vincenzo 11. 1814 -1843 Sinibaldi, Giovanni Giacomo
12. 1843-1847 Rosani, Giovanni Battista 13. 1850-1873 Cardoni, Giuseppe 14. 1873-1875 Mobili, Venanzio 15. 1875-1878 Agnelli, Odoardo
Lebensdaten Status / Ämter; Studentenzahl, Papst †1709 Bischof S. Marco in Calabria; 30, Clemens XI. 1657-1720 Missionspriester, 153; Clemens XI. Missionspriester; 85, Clemens XI. Innozenz XIII., Benedikt XIII. Missionspriester; 78, Benedikt XIII. Clemens XII, Benedikt XIV. 27, Benedikt XIV., Clemens XII. 23, Benedikt XIV. 119, Benedikt XIV., Clemens XIII. 1708 -1774 Tit.-Erzbischof Emesa; 6, Clemens XIII. Religiose der Kongregation der Mutter Gottes; 151, Pius VI. Päpstl. Haus-Prälat; 36, Pius VII. 1766 -1843 Tit.-Erzbischof Tamiathis; 140, Pius VII., Leo XII., Pius VIII., Gregor XVI. 1787-1851 Tit.-Bischof Eritrea; 15, Gregor XVI., Pius IX. 1802-1873 Tit.-Bischof Edessa; 72, Pius IX. †1875 Tit.-Bischof Thebae; 3, Pius IX. 1813 -1878 Tit.-Bischof Troas; 3, Pius IX.
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16. 1878- 84/85 Schiaffino, Placido OSB Oliv 17. 1884 -1885 Ferrata, Domenico 18. 1885-1886 Sepiacci, Luigi OSA 19.
1886-1891 Satolli, Francesco di Paolo
20. 1892-1894 Guidi, Augusto 21. 1895 -1998 Castracane degli Antelminelli, Filippo 22. 1898 -1903 Merry de Val y Zuleta, Raffaele
23. 1903 -1912 Sogaro, Fancesco MCCI 24.
1912-1941 Zonghi, Giovanni Maria
25.
1941-1959 Savino, Paolo
26.
1959-1962 Testa, Giacomo
27.
1962-1969 Paro, Gino
28.
1969-1970 Pappalardo, Salvatore
29. 30.
1970-1975 Pirozzi, Felice 1974-1975 Enrici, Domenico
31 1975-1985 Zacchi, Cesare 32.
1985-1990 Rigali, Justin
33. 1990-1993 Rauber, Karl-Josef
34.
1993-1998 Montalvo Higuera, Gabriel
35.
1999-2000 Zur, Georg
1829 -1889 Tit.-Bischof Nissa, 1885 Kardinal; 14, Leo XIII. 1847-1914 Tit.-Erzbischof Thessaloniki, 1896 Kardinal; 5, Leo XIII. 1835 -1893 Tit.-Erzbischof Callinicum, 1891 Kardinal; 1, Leo XIII. 1839 -1910 Tit.-Erzbischof Lepanto,1895 Kardinal; 23, Leo XIII. 1838 -1900 Tit.-Erzbischof Nicea; 4, Leo XIII. 1850 -1899 Tit.-Erzbischof Edessa; 13, Leo XIII. 1865 -1930 Tit.-Erzbischof Nicaea, 1903 Kardinalstaatssekretär; 22, Leo XIII. 1839 -1912 Tit.-Erzbischof Amida , Apost. Vikar Zental Afrika – Sudan; 29, Pius X. 1847-1941 Tit.-Erzbischof Colossae; 102, Pius X., Benedikt XV., Pius XI., Pius XII. 1894-1980 Tit.-Bischof Caesarea, Weihbischof Neapel; 147, Pius XII. 1909-1962 Tit.-Erzbischof Erclea d´Europa; 24, Johannes XXIII. 1910-1988 Tit.-Erzbischof Isauria; 66, Johannes XXIII., Paul VI. 1910-1988 Erzbischof Palermo, 1973 Kardinal; 11, Paul VI. 1908-1975 Tit.-Erzbischof Gratina; 61, Paul VI. 1909-1997 Tit.-Erzbischof Ancusa, N. in verschieden Ländern 11, Paul VI. 1914-1991 Tit.-Erzbischof Maura; 97, Paul VI./ Johannes Paul II. *1935 Erzbischof Saint-Louis, Kardinal; 40, Johannes Paul II. *1934 Tit.-Erzbischof Giubalziana, N. Belgien/Luxemburg; 25, Johannes Paul II. 1930-2006 Tit.-Erzbischof Celene, N. USA; 61, Johannes Paul II. *1930 Tit.-Erzbischof Sesta, N. Österreich; 12, Johannes Paul II.
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Anhang III: Diplomatenakademie – Deutschsprachige Studenten 1701-1964 44 Lfde Nr. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26.
Eintritts-Nr. 3. 12. 14. 35. 40. 53. 54. 55. 58. 71. 73. 79. 93. 102. 142. 157. 159. 177. 196. 210. 213. 214. 216. 220. 223. 224.
Name, Vorname Thile, Arnold Sonnemann, Friedrich Heerden, Johannes Hermann Mervelt, Baron Maximilian Pechmann, Baron Maximilian Gaertz, Johannes Hugo Scherimann, Basilius Bevern, Baron Franziskus Pilati, Baron Joseph Schelt, Baron Friedrich Walbot Bassenheim, Baron Carl Boeselager, Baron Wilhelm Herding, Baron Ernst Dietz, Alfons Sierstorpff, Baron Franziskus Brenzer, Tobias Eck, Graf Leopold Bocholtz, Baron Arnold Nirschke, Franziskus Böselager, Baron Ferdinand Sierstorpff, Baron Peter Sierstorpff, Baron Joseph Pilati, Baron Leopold Droste, Baron Leopold Keller, Baron Adam Seiboltsdorf, Graf Hermann
EintrittsJahr 1701 1702 1702 1704 1706 1707 1707 1707 1707 1709 1709 1710 1712 1712 1716 1718 1718 1720 1721 1724 1724 1724 1724 1725 1725 1725
Herkunft Münster Köln Münster Münster Wien Mainz Basel Münster Wien Köln Trier Köln Münster Mainz Köln Würzburg Salzburg Hildesheim Mainz Köln Köln Köln Wien Wien Köln Regensburg
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Schwierig für eine Identifizierung der in diesem Verzeichnis genannten adligen Studenten sind die Vornamen, weil in den lokalen Quellen bei ähnlichen Lebensdaten häufig mehrere genannt werden. So erwies sich das Standardwerk über die Deutschen in Rom für das Ermitteln gesuchter biographischer Daten hier nicht als ergiebig: NOACK, FRIEDRICH, Das Deutschtum in Rom, 2 Voll, Berlin/Leipzig 1927 (Lit.) – Auch BRILL, ANTON, Reisen in Italien. Die Kulturgeschichte der klassischen Italienreise vom 16. Bis 19. Jahrhundert 1989 auch wenig hilfreich. Ferner seinen zur Identifizierung der Genannten genannt: AMRHEIN, AUGUST, Reihenfolge der Mitglieder des adeligen Domstiftes zu Würzburg, Würzburg 1889: Archiv des Historischen Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg, Voll 32 und 33 – MERKLE, SEBASTIAN, Die Matrikel der Universität Würzburg, München/ Leipzig 1922 – Klerikerdatenbank des Diözesanarchivs Würzburg, begründet von WEIß, LUDWIG, bearbeitet von KANDLER, NORBERT / WISSEN, RENATE u.a. – JANSSEN, JOSEPH / LOHMANN, FRIEDRICH WILHELM, Der Weltklerus in den Kölner ErzbistumsProtokollen. Ein Necrologium Coloniense 1661-1825, Köln 1935/36. 3. Nachdruck mit einem Vorwort von REIMUND HAAS, Karlhuld 2009.
Hans-Joachim Kracht
994 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70.
227. 228. 236. 240. 243. 246. 247. 251. 270. 271. 272. 276. 277 278. 280. 298. 305. 311. 331. 338. 339. 346. 347. 348. 361. 362. 363. 369. 376. 390. 394. 395. 396. 398. 399. 407. 415. 425. 438. 457. 458. 478. 479. 480.
Leerodt, Graf Franziskus Seeau, Graf Carl Trauner, Graf Maximilian Fechenbach, Baron Johannes Philipp Metternich-Wolff, Baron Carl Hutten, Baron Christoph Migazzi, Graf Kaspar Hartzheim, Johannes Joseph Droste, Baron Ferdinand Westrem, Baron Theodor Scheneiz, Baron Philipp Mauchenheim Bechtholsheim, Baron Philipp Mauchenheim Bechtholsheim, Baron Johannes Ernst Zobel Giebelstadt, Baron Johannes Poellnitz, Baron Karl Sierstorpff, Baron Franziskus Leigheim, Graf Leopold Blumagen, Baron Hermann Manderscheidt Blankenheim, Graf Clemens Nimpitsch, Graf Georg Zobel Giebelstadt, Baron Franziskus Horde, Baron Friedrich Homeyer, Franziskus Schmitz Strasoldt, Graf Anton Herberstein, Graf Carl Bodmann, Baron Georg Zinzendorf, Graf Wenzeslaus Limburg-Styrum, Baron August Adelmann, Franziskus von Guttenberg, Dietrich Baron von Wuertzburg, Joseph Baron von Wuertzburg, Christoph Baron von Sierstorff, Theodor Baron von Auber, Carl Baron von Hasfeld, Gottfried Baron von Althan, Armand Baron von Wessel, Bartholomäus Graf von Lerchenfeld, Carl Baron von Hutten, Franziskus Markgraf von Erthal, Franziskus Baron von Matuska, Johannes Graf von Langental, Joseph Baron von Fanken, Franziskus Baron von
1725 1725 1725 1726 1726 1726 1727 1727 1729 1729 1729 1730 1730 1730 1730 1732 1733 1734 1736 1737 1737 1738 1738 1739 1740 1740 1740 1741 1742 1742 1743 1743 1743 1743 1743 1744 1745 1745 1748 1752 1752 1755 1755 1755
Köln Linz München Würzburg Köln Speyer Trient/Wien Köln Köln Hildesheim Köln Würzburg Würzburg Würzburg Würzburg Köln Graz Wien Köln Breslau Würzburg Köln Münster Mainz Graz Regensburg Regensburg Wien Köln Münster Würzburg Würzburg Würzburg Köln Köln Köln Wien Breslau München Speyer Würzburg Breslau Mainz Köln
300 Jahre Diplomatenausbildung des Heiligen Stuhles 71. 72. 73. 74. 75. 76. 77. 78. 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98. 99. 100.
503. 504. 505. 506. 506. 531. 532. 870. 874. 878. 881. 900. 908. 909. 938. 975. 995. 1023. 1027. (1034.) (1035.) (1041.) (1056.) (1071.) (1106.) (1164.) (1185.) 1331. 1333. 1365
Wildenstein, Ferdinand Graf von Schilder, Franziskus Baron von Solms, Xaver Graf von Beroldingen, Joseph Baron von Beroldingen, Franziskus Baron v. Rotberg, Carl Baron von Rotberg, Heinrich Baron von Hohenlohe, Gustav Prinz von Spaur, Ludwig Graf von Spee, Leopold Graf von Obercamp, Rudolf Freiherr von Braunschweig, Edmund Baron von Bellegarde, Heinrich Graf von Leiningen, Emidius Graf von Galen, Berhard Graf von Wagner, Georg Graf von Baumgarten, Paul Maria (von) Walderdorf, Franziskus Graf von Ortenburg-Tambach, Eberhard Graf von Schmitz, Hubert Corvinius, Stephan Leo von Westfalen. Johannes Graf von Bastgen, Hubert Auersperg, Heribert Prinz von Bayern, Georg Prinz von Wuestenberg, Bruno Heim, Bruno Zur, Georg Dyba, Johannes Rauber, Karl-Josef
1758 1758 1758 1758 1758 1775 1775 1847 1850 1852 1852 1857 1859 1859 1870 1870 1890 1898 1899 1902 1902 1902 1907 1912 1925 1939 1942 1960 1960 1964
995 Salzburg Köln Münster Konstanz Konstanz Speyer Speyer Rottenburg Köln Köln München Paderborn Wien Rottenburg Münster Rottenburg Köln Regensburg Bamberg Köln Wien Limburg Trier Breslau München Köln Basel Görlitz Berlin Mainz
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Hans-Joachim Kracht
Barthold Georg Niebuhr als Gesandter Preußens in Rom (1816-1823) von Rudolf Lill
Der große Althistoriker, zuvor Finanz- und Reformpolitiker in Berlin, Barthold Georg Niebuhr (Kopenhagen 1776 - Bonn 1831) war von 1816 bis 1823 preußischer Gesandter am päpstlichen Hof 1, d.h. beim Papst in dessen doppelter Funktion als Oberhaupt der katholischen Kirche und als Souverän des Kirchenstaates. Preußen hatte seit 1747 (nach der Eroberung Schlesiens) eine bescheidene, bis 1795 nebenamtlich verwaltete Vertretung in Rom, welcher von 1802 bis 1808, d.h. bis zur Auflösung des päpstlichen Staates durch Napoleon, Wilhelm von Humboldt vorgestanden hatte.2 Schon dieser hatte 1806 den Titel eines Gesandten erhalten. 1814, als auf dem Wiener Kongress der Kirchenstaat wiederhergestellt wurde, war der Legationsrat von Ramdohr von Berlin nach Rom geschickt worden. Doch erst der nicht aus dem diplomatischen Dienst kommende, doch durch seine Vorlesungen und Bücher über römische Geschichte (zwei Bände, Berlin 1811 - 1812) für Rom prädestiniert erscheinende Niebuhr war der erste Gesandte im vollen Sinne; mit einem Legationssekretär, den er selbst aussuchen konnte: zunächst den Philologen Brandis, dann 1817 den mehr historisch und kirchlich-liturgisch als diplomatisch versierten Christian Carl Josias (v.) Bunsen, der 1823 - 28 sein Nachfolger war.3 Schon diese Auswahl der Personen zeigt, dass es in Rom damals mehr zu forschen und zu sammeln als zu verhandeln gab. Niebuhrs Hauptaufgabe in Rom, der er sich aber wegen Berliner Verzögerungen erst 1820/21 voll widmen konnte 4, bestand jedoch in den Verhandlungen um die Neuregelung der katholischen Kirchenverhältnisse in ———— 1
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3
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Barthold C. Witte: Der preußische Tacitus, 1979, 131-134. Gerrit Walther, in: NDB 19 (1999), 219ff. – Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 I 2 1960, 442 - 449. Carl Mirbt, Die preußische Gesandtschaft am Hofe des Papstes, 1890. Franciscus Hanus, Die preußische Vatikangesandtschaft 1747-1920, 1954. – Rudolf Lill, in: Deutsche diplomatische Vertretungen beim Hl. Stuhl. Hrsg. von der deutschen Botschaft beim Hl. Stuhl, 22003, 29 - 44. – Humboldt war in Rom auch für den Landgrafen-Großherzog von Hessen akkreditiert. Seine Berichte nach Darmstadt, die mit denen nach Berlin inhaltlich weitgehend übereinstimmen, wurden von Eckhardt G. Franz ediert: Italien im Bannkreis Napoleons [...], 1989. Christian C. J. von Bunsen, Aus seinen Briefen und eigener Erinnerung geschildert von seiner Witwe. Deutsche Ausgabe von Friedrich Nippold, Bd. I, 1868. E. Foerster, Chr. C. J. v. Bunsen, Diplomat. Mäzen und Vordenker [...], s.a. das in Anm. 10 zitierte Buch von Jürgen Krüger. Niebuhr, Briefe. Neue Folge 1816 -1830, hrsg. von Eduard Vischer, Bd. I, 1981.
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Rudolf Lill
Preußen, welche durch dessen Gebietserwerbungen infolge der Säkularisation und des Wiener Kongresses erforderlich geworden war. Dahinter stand das Problem der Integration großer katholischer Regionen, des Rheinlandes und Westfalens, in den evangelisch geprägten Staat. Konkret ging es um die Neuumschreibung, teils Neugründung der Bistümer, um die Wahl resp. die Ernennung der Bischöfe und die Errichtung der Domkapitel, d.h. um Entscheidungen, welche nach der Auflösung einer eigenständigen deutschen Kirchenverfassung (Reichskirche) infolge der Säkularisation nur der Papst vornehmen konnte, sowie um die Finanzierung der Bistümer und Bistumseinrichtungen, die nun der Staat zu übernehmen hatte 5 und im Rahmen der konservativen Staats- und Gesellschaftsdoktrin durchaus übernehmen wollte. Friedrich Wilhelm III., der eigentlich sparsam, etatistisch und evangelisch dachte, und seine Regierung wollten dabei freilich von der Suprematie, welche ihr Staat traditionell über die evangelischen Kirchen ausübte, möglichst viel auf die prinzipiell auf ihrer Unabhängigkeit bestehende katholische Kirche übertragen.6 Der erst vierzigjährige Niebuhr hatte auf weitere politische oder finanzpolitische Verwendung in Berlin gehofft und fühlte sich vom konservativeren Staatskanzler Hardenberg abgeschoben. Am vormodern-monumentalen Rom (damals ca. 150.000 Einwohner, darunter ca. 7.000 Geistliche) hatte er vieles auszusetzen: Die Stadt war ihm zu barock; zu laut und zu teuer. Seine Stimmung hellte sich auf, als er mit seiner Gattin 1817 in den nahe beim Kapitol gelegenen Palazzo Savelli umziehen konnte, welcher um 1520 in das antike Marcellus-Theater hineingebaut worden war: ein Beispiel für jene die Antike einbeziehende Kontinuität des „neuen“ Rom der Renaissance und des Barock, welche der Gesandte eigentlich ablehnte.7 Obwohl er erst recht vom traditionellen Kirchentum wenig hielt, verstand er es, wie schon Humboldt, gute persönliche Beziehungen zum Kardinalstaatssekretär Ercole Marchese Consalvi (1757-1824, Staatssekretär 1800-1806, 1814-1823) her———— 5
6
7
Aufgrund der reichsrechtlichen Säkularisation von l803, bei der den geistlichen Institutionen als partieller Ersatz für ihre immense Vermögensverluste staatliche Leistungen für die eigentlich kirchlichen Zwecke zugesagt worden waren: Harm Klueting (Hrsg.), 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss [...], 2005. Walter Wendland, Die Religiosität und die kirchenpolitischen Grundsätze König Friedrich Wilhelms III., 1908. Karl Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei I, 1927 (Neudruck 1967). Walter Lipgens, Ferdinand August Graf Spiegel und das Verhältnis von Kirche lind Staat 1789 -1935, 2 Bde., 1965. Über die Konsequenzen der römischen Verhandlungen Niebuhrs für die Bischofswahlen und besonders für das Erzbistum Köln: Norbert Trippen, Das Domkapitel und die Erzbischofswahlen in Köln 1821-1929 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte Bd. 1), 1972. Franz J. Bauer, Rom im 19. und 20. Jahrhundert. Konstruktion eines Mythos, 2009, Kap. I.
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zustellen. Auch Papst Pius VII. (Luigi Barnaba Graf Chiaramonti, geb.1742, Papst 1800-l823) war dem Autor der römischen Geschichte sehr gewogen. Eine klassizistische Grundstimmung schuf Gemeinsamkeiten. Der Papst und sein Staatssekretär waren wegen ihrer humanistischen Bildung und wegen des Widerstandes, den sie gegen Napoleons Expansionspolitik geleistet hatten, über die Konfessionsgrenzen hinaus angesehen. Zwar vertraten auch sie die damals aufkommende Doktrin päpstlicher Suprematie über die gesamte Kirche und benutzten gerade die Neuordnung der kirchlichen Strukturen zu deren Durchsetzung.8 Aber sie verbanden sie mit „aufgeklärtem Absolutismus“ und mit vielseitiger Förderung des Antiken-Studiums (Ausgrabungen, Museen etc.).9 1817-1822, also während Niebuhrs römischem Aufenthalt, ließen sie die Antiken-Museen im vatikanischen Palast erheblich bereichern („Museo Chiaramonti“) und durch den „Braccio nuovo“ erweitern, in dem besonders kostbare Statuen und Büsten gemäß den klassizistischen Grundsätzen ihre bis heute beeindruckende Aufstellung fanden. In Rom lebte damals eine internationale Gesellschaft von Künstlern und Gelehrten. Niebuhr hatte zunächst viel Zeit, und er nutzte sie gut. Er nahm seine Studien wieder auf und kümmerte sich sehr um die deutschen Künstler, besonders die Nazarener, so Peter Cornelius und Friedrich Overbeck, und um die noch ganz unorganisierten Protestanten in Rom; 1819 erreichte er die Entsendung eines Gesandtschaftspredigers, womit die Geschichte der deutschen evangelischen Gemeinde in Rom begann.10 Um seine offizielle Stellung nicht zu kompromittieren, ließ er auf diesem Gebiet aber Bunsen den Vortritt. In dessen Wohnung (Palazzo Astalli) hatte auch zum Reformationsjubiläum 1817 der erste evangelische Gottesdienst in Rom stattgefunden. Beide bemühten sich auch um die feste Anlage des Friedhofs für die Nicht-Katholiken (bei der Cestius-Pyramide), welche 1824 erreicht wurde. Vor allem sondierte Niebuhr die Stimmung der Kurie, und seine Berichte trugen mit dazu bei, dass 1818 in Berlin unter maßgeblicher Beteiligung ———— 8
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Rudolf Lill. Die Macht der Päpste, 2006 (erw. ital., Ausgabe Il potere dei papi. Dall'età moderna ad oggi, Roma / Bari 2008), Kap. III. Ders., in: Zerfall und Wiederbeginn [...], Festschrift f. F. Jürgensmeier, 2002, 473- 482. Vgl. die historischen Einleitungen in: Wolfgang Helbig, Führer durch die öffentlichen Sammlungen klassischer Altertümer in Rom, 4. Aufl. von Hermine Speier, 4 Bde., 1963 - 1972. Öffentlicher evangelischer Kult war im päpstlichen Rom eben so wenig zugelassen wie katholischer in exklusiv evangelischen Staaten. Friedrich Noack, Das deutsche Rom, 1912, 144 -147 u.ö., ders., Das Deutschtum in Rom, 1927, Nachdruck 1974 (Bd. II). Ernst Schubert, Geschichte der deutschen evangelischen Gemeinde in Rom 1819-1928, 1930. Jürgen Krüger, Rom und Jerusalem. Kirchenbauvorstellungen der Hohenzollern im 19. Jahrhundert, 1995. Arnold und Doris Esch. Anfange und Frühgeschichte der deutschen evangelischen Gemeinde in Rom. QFIAB 75 (1995), 366 - 426. – Über den Friedhof: The Protestant Cemetery in Rome, ed. by A. Minniti/P. Vian, Roma 1989.
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Rudolf Lill
des Königs selbst eine Grundsatzentscheidung wegen der anstehenden Fragen fiel. Preußen wollte diese weiterhin einvernehmlich regeln, aber nicht, wie Bayern ein Jahr zuvor, ein Konkordat schließen, wie es der Papst wünschte. Die Ergebnisse sollten vielmehr in autonomen Rechtsakten beider Seiten festgehalten werden, damit der preußische Standpunkt der Souveränität des Königs auch in Kirchensachen gewahrt bliebe. Aber zunächst wollte man die Verhandlungen der südwestdeutschen Staaten mit Rom abwarten, welche 1818 eingeleitet wurden. Dabei stellte sich jedoch bald heraus, dass das eigentlich auch in Berlin gewünschte Recht zur Nomination der Bischöfe, welches der König von Bayern 1817 erhalten hatte, für nichtkatholische Fürsten in Rom nicht zu erlangen war.11 1817-1819 führte Niebuhr, mit Zustimmung seiner Regierung, Verhandlungen für den Kanton (Republik) Genf mit dem Hl. Stuhl (vertragliche Vereinbarung 1819), in denen er für seine eigentliche Aufgabe viel lernte. Im April/Mai 1820 erließen dann Friedrich Wilhelm III. und, ihm folgend, Staatskanzler Fürst Hardenberg die Weisung für die Aufnahme der Verhandlungen in Rom.12 Die zunehmend restaurative Gesamtstimmung bestärkte den Willen zu kirchenpolitischer Stabilisierung und ebenso die königliche Bereitschaft zu finanzieller Großzügigkeit. Niebuhr verhandelte mit Kardinal Consalvi selbst, der sich alle wichtigen Geschäfte vorbehielt. Das konnte er (trotz seiner Konzentration auf administrative Reformen im Kirchenstaat, welche dann am wachsenden reaktionären Widerstand gescheitert sind), weil er klar dachte, sehr konzentriert arbeitete und seine noch kleine Behörde gut überschauen konnte.13 ———— 11
12
13
Zusammenfassende Darstellung der römischen Verhandlungen deutscher Regierungen in den Jahren 1816 -1827: Rudolf Lill, in: Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. von Hubert Jedin, Bd. VI 1 (1971). Kap. 7. Nur mit Österreich, der größtenteils katholischen Präsidialmacht des Deutschen Bundes von 1815, brauchte der Hl. Stuhl keine solchen Verhandlungen zu führen, weil es dort keine radikale Säkularisation und infolgedessen keine Umwälzung der Kirchenverhältnisse gegeben hatte. Als einziger deutscher Staat war Österreich in Rom durch einen Botschafter vertreten, der dort (zusammen mit den Vertretern Frankreichs und Spaniens) zur obersten Schicht des diplomatischen Corps gehörte. Alois Hudal, Die österreichische Vatikanbotschaft 1806 - 1918. 1952. Friedrich Engel-Janosi, Österreich und der Vatikan, I (1958). – Anlässlich des Besuchs von Kaiser Franz I. fand 1819 die erste Ausstellung aller in Rom wirkenden deutschen Künstler statt, an deren Organisation Niebuhr führend beteiligt war. Ernst Rudolf Huber/ Wolfgang Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jhdt. [...], Bd. 1 (1973). 199 - 203. Über Consalvi, dem deutscherseits schon Leopold v. Ranke eine gründliche Studie gewidmet hatte (Sämtliche Werke Bd. 41/42, Leipzig 1877/78): Richard Wichterich, Sein Schicksal war Napoleon [...], 1951. Alessandro Roveri, in: Dizionario Biografico ltaliano, Bd. 28 (1983). 33 - 43, R. J. Martin, Cardinal Consalvi, Leuven 1981. Über das damalige päpstliche Staatssekretariat, in dem nur ca. 20
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Im März 1821 konnten Consalvi und Niebuhr die Verhandlungen beenden. Ihre Ergebnisse wurden in der päpstlichen Bulle De salute animarum (16. Juli 1821) zusammengefasst, deren amtlicher Übersetzung der König von Preußen Gesetzeskraft verlieh. Sie errichtete die Kirchenprovinzen Köln mit den Suffragan-Bistümern Trier, Münster; Paderborn und Gnesen-Posen mit Kulm und bestätigte die exemte Stellung der Bistümer Breslau und Ermland. Das napoleonische Bistum Aachen (seit 1802) wurde aufgehoben und Köln eingegliedert, für Berlin, Brandenburg und Pommern (mit ganz wenigen katholischen Gemeinden) eine von Breslau abhängige Delegatur errichtet.14 Die Domkapitel der westlichen Bistümer und Breslaus erhielten erneut das in der reichskirchlichen Tradition stehende Bischofswahlrecht; aber die Ernennung der Pröpste wurde stets, die der Kanoniker in den sog. päpstlichen Monaten, d.h. in der Hälfte jeden Jahres, an königliche Nomination gebunden. Zudem ermahnte ein gleichzeitig erlassenes Breve die Domkapitel zur Wahl von Kandidaten, welche dem König „nicht minder genehm“ waren. Damit war zwar nicht ein positives Nominationsrecht, wohl aber ein negatives Ausschließungsrecht begründet; die Kurie kam so weit entgegen, wie sie es gegenüber einem nicht-katholischen Souverän für möglich hielt. Für die südwestdeutschen Staaten erging ebenfalls 1821, für Hannover 1824 eine ganz ähnliche päpstliche Entscheidung. In Gnesen, Ermland und Kulm blieb es jedoch bei der aus der polnischen Tradition stammenden königlichen Nomination; Freiheit der Bischofswahlen wurde bekanntlich eine der Hauptforderungen der bald aufgekommenen „katholischen Bewegung“.15 Nicht Friedrich Wilhelm III., sondern erst sein Sohn und Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. (seit 1840) ist ihr entgegengekommen. Die ebenfalls in der Bulle De salute animarum vereinbarte finanzielle Ausstattung der Bischöfe und der Diözesen 16 sollte nach einer Übergangszeit auf Einkünfte aus Grundbesitz übergehen; aber wie in Bayern ist auch in Preußen diese Zusage, welche zu größerer Unabhängigkeit der Kirche geführt hätte, nicht ausgeführt worden. Es blieb bei Zahlungen aus der Staatskasse, mit denen sich aber, auch weil sie gut bemessen waren, die Kirchenoberen durchaus zufrieden gaben. Eine Kirche, die sich nur aus Beiträgen ———— 14
15 16
Personen arbeiteten (davon 18 Geistliche, sämtlich Italiener): Lajos Pásztor, La Segreteria di Stato e il suo archivio 1814 -1833 (Päpste und Papsttum. hrsg. von Georg Denzler, Bd. 23 I und II), 1984. Jakob Torsy, Geschichte des Bistums Aachen 1802 - 1814, 1940. – L. Jablowski. Geschichte des fürstbischöfl. Delegaturbezirks Berlin [...]. 2 Bde., 1929. Vgl. die in Anm. 6 zitierte exemplarische Studie von Norbert Trippen, 1972. Hermann Müssener, Die finanziellen Ansprüche der katholischen Kirche an den preußischen Staat aufgrund der Bulle De salute animarum. 1926.
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ihrer Mitglieder unterhält, konnten beide Seiten sich damals noch weniger vorstellen als heute. Im Jahrzehnt nach 1821 konnten die vakanten Diözesen besetzt werden; da die zur Wahl berechtigten Kapitel noch nicht bestanden, ernannte der Papst die ersten Bischöfe auf Vorschlag der Regierung. Für alle in der Bulle nicht geregelten Bereiche blieb die staatliche Kirchenhoheit bis 1840 bestehen. Friedrich Wilhelm IV. hat dann alsbald auch für die Diözesen mit polnischer Bevölkerung Bischofswahlen zugelassen und diese generell mit größerer Freiheit ausgestattet.17 Aber die Kirchenorganisation von 1821 und die Grundsätze ihrer Finanzierung haben, abgesehen von den Gebietsabtretungen im Osten nach dem Ersten Weltkrieg, bis zum Konkordat, welches das republikanisch gewordene Preußen 1929 mit Pius XI. (Nuntius Pacelli) geschlossen hat, komplett bestanden, großenteils auch darüber hinaus, teils sogar bis heute. Dass Consalvis und sein Werk also ein Jahrhundert lang Bestand haben würde 18, konnte Niebuhr nicht voraussehen. Aber er konnte zufrieden sein, und seine Auftraggeber wie seine Partner waren es auch. Die Republik Genf hatte ihn 1819 zum Ehrenbürger ernannt, nun erhielt er den Roten Adlerorden 2. Klasse. Sehr geärgert hatte ihn allerdings, dass Fürst Hardenberg (vom Kongress der fünf Großmächte in Laibach, einem Nachfolger des Wiener Kongresses kommend) im März 1821 persönlich in Rom erschien und die mehr formelle Schlussverhandlung mit Consalvi führte; freilich in einer Weise, die der Gesandte minutiös vorbereitet hatte. Niebuhr ist noch bis zum Frühjahr 1823 auf dem römischen Posten geblieben, obwohl er sich einsam fühlte. Aber die inzwischen in Berlin durchgesetzte Reaktion gefiel ihm ebenso wenig wie die römischen Zustände, die er ebenfalls skeptisch betrachtete. Denn einerseits glaubte er, dass eine so traditionale Institution wie die katholische Kirche nicht mehr lange bestehen werde; andererseits sah er, wie an der römischen Kurie gegen die aufgeschlosseneren „Politicanti“ um Consalvi die auf autoritäre Defensive zielen———— 17
18
Rudolf Lill, Die Beilegung der „Kölner Wirren“ 1840 -1842. 1962. – Die Studie von N. Trippen (Anm. 6, 15) weist jedoch am Beispiel Kölns auf, dass und wie die Wahlen auch weiterhin aus Berlin und seit dem dortigen partiellen Nachgeben zunehmend aus dem Vatikan beeinflusst worden sind. Das gilt auch für die Verhandlungen, welche Consalvi im Jahrzehnt nach 1815 mit anderen deutschen Staaten geführt hatte. Georg Franz-Willing, Die bayerische Vatikangesandtschaft 18031934, 1965. Seinen bayerischen Kollegen Kasimir v. Häffelin, einen der Aufklärung verbundenen Prälaten (seit 1819 Kardinal) hat Niebuhr sehr geschätzt. Eduard Hegel, Die kirchenpolitischen Beziehungen Hannovers, Sachsens und der norddeutschen Kleinstaaten mit der römischen Kurie 1800 -1846, 1934. – Zu Südwestdeutschland (Oberrheinische Kirchenprovinz Freiburg) s. die gute Zusammenfassung von Wolfgang Müller in: DHGE 19 (1981), Sp.55 - 62.
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den „Zelanti“ erstarkten, welche sich nach dem Tod Pius’ VII. (20. August 1823) durchgesetzt und die ultramontane Konzentration eines ganzen Jahrhunderts eingeleitet haben. Von solchen Zuspitzungen hat Niebuhr nichts gehalten, doch immerhin begrüßt, dass im nahen Neapel 1821 ein erster Aufstand gegen die bourbonische Monarchie durch Truppen Österreichs unterdrückt wurde. Er dachte weiterhin reformistisch, aber zunehmend antirevolutionär. Zu den wenigen prominenten Gästen Niebuhrs aus dem fernen Preußen hatte der Freiherr von Stein gehört, welcher vom Dezember 1820 bis zum April 1821 in Rom war.19 Ende 1822 konnte Niebuhr dann noch seinen König, der an einem weiteren Kongress der Monarchen in Verona teilgenommen hatte, durch Rom führen; doch Friedrich Wilhelm III. interessierte sich wenig für Kunstwerke und Ruinen. Er gewährte aber seinem Gesandten den erbetenen, dauerhaften Urlaub. Niebuhr unternahm noch eine Reise nach Neapel und kehrte im Juni 1823, also zwei Monate vor dem Tod Pius’ VII., nach Berlin zurück. Seiner Freundin Dore Hensler schrieb der eben 47-jährige (2. Juni 1823): „Ein großer Abschnitt meines Lebens ist zu Ende; vielleicht ist es der letzte, der von nun an beginnt.“ Zwar war „der wissenschaftliche Ertrag der sieben römischen Jahre [...] überraschend gering“: zwei Abhandlungen für die Berliner Akademie.20 Aber Niebuhr hatte in Rom umfangreiche antiquarische Forschungen für die Überarbeitung seiner beiden früheren Bände sowie die Vorbereitung des dritten Bandes seiner „Römischen Geschichte“ durchgeführt. In Berlin wurde Niebuhr in den Staatsrat berufen. Der König behandelte ihn freundlich, und erst recht tat das der Kronprinz, der die ihm von Niebuhr 1814 erteilten Lektionen in Finanzwissenschaften und Geschichte nie vergessen hatte. Nun gehörte Niebuhr einige Zeit zu den Künstlern und Wissenschaftlern, die „immer wieder “ vom späteren Friedrich Wilhelm IV. eingeladen wurden.21 Doch insgesamt war ihm Berlin zu reaktionär geworden, aus dem Staatsrat schied er schon 1825 wieder aus. Niebuhr und seine Gattin wählten als Wohnort Bonn. Vom Sitz der ersten gingen sie an den der dritten der neuhumanistisch fundierten preußischen Universitäten, an ———— 19 20 21
Alfred Hartlieb v. Wallthor. Der Freiherr vorn Stein in Italien, 1971. Vgl. Witte,S. 121f. Walter Bußmann. Zwischen Preußen und Deutschland. Friedrich Wilhelm IV., 1990, 80. – Der Kronprinz entwickelte damals sein für einen Hohenzollern singuläres Interesse an Rom und an der Geschichte des frühen Christentums. welches er dann in engem Kontakt mit Niebuhrs römischem Nachfolger Bunsen und mit dem rheinischen Italien-Historiker Alfred (v.) Reumont vertieft und u.a. in Kirchenbauten in Berlin und Potsdam (Friedenskirche!) konkretisiert hat. Krüger, Rom und Jerusalem, Kap. II.
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der Niebuhr seit 1825 als assoziiertes Mitglied Vorlesungen hielt.22 Im rheinländischen Deutschland war er der römischen Antike näher als im ostelbischen. Rom und Rom-Erinnerungen haben Niebuhr nach Bonn und schließlich auch über seinen Tod hinaus begleitet. Denn in Bonn hat er seine „Römische Geschichte“ zu Ende gebracht (2. Auflage der ersten beiden Bände 1828, 1830, 3. Band postum 1832). Und auf Bonns Altem Friedhof ließ der preußische Kronprinz ihm und seiner Gattin, die ebenfalls 1831 starb, durch Karl Friedrich Schinkel und Christian D. Rauch ein Denkmal errichten, welches sein direktes Vorbild im Grabmal eines römischen Ehepaars in den Vatikanischen Museen hatte; Rauch hatte von 1805 bis 1818 in Rom studiert und gearbeitet. Und Niebuhrs antikisierendes Marmorporträt, welches heute im Festsaal der Bonner Universität steht 23, schuf 1834 der Deutsch-Römer Emil Wolf. Er gehörte, wie zuvor schon Rauch, zum Kreis um den großen Klassizisten Bertel Thorvaldsen, welcher 1824ff. das imposante Grabmal Pius VII. (in St. Peter) und ein sehr persönliches Porträtdenkmal für Consalvi (in dessen Kardinaldiakonie S. Maria ad martyres, d.h. im Pantheon) geschaffen hatte. Der gleiche römische Stil und die gleiche römischklassizistische Gesinnung sprechen also bis heute aus den Denkmälern der drei Männer, die um 1820 über die Integration der römischen Kirche in den preußischen Staat erfolgreich verhandelt haben.
———— 22 23
Max Braubach, Kleine Geschichte der Universität Bonn 1818-1968, 1968, Kap. III. Die zweite dortige Büste ist die W. v. Humboldts, sodass die neuhumanistische Fundierung der Universität bestens dokumentiert ist. Aber das Wissen darum schwindet: Bei einer Veranstaltung im Bonner Festsaal musste ich feststellen, dass prominente Mitglieder des Bonner Historischen Seminars aus der Schule Klaus Hildebrands nicht wussten, wen die dortigen Büsten darstellen.
Der Vatikan. Ein „Staat des Grundgesetzes“? Gedanken zu Gewaltenteilung und Hierarchie, angeregt durch die Verfassung, die Papst Pius XI. seinem Stadtstaat 1929 gab von Franz Norbert Otterbeck∗
Unter dem Datum vom 7. Juni 1929 erschien in einem Supplement zu den Acta Apostolicae Sedis die „Legge fondamentale della Città del Vaticano“, erlassen durch den Staatsgründer, Papst Pius XI. Das Grundgesetz ordnet an, dass Legislative, Exekutive und Justiz des Vatikanstaates vom Papst ausgeübt werden.1 Das entspricht nicht deutscher demokratischer Kultur. Ist der Vatikan dennoch ein Staat des Grundgesetzes? Diese Frage sei im Folgenden in kontextueller Perspektive erwogen. Beantworten kann man sie dann zügig.
I. Der deutsche Ausdruck Grundgesetz entspricht dem italienischen legge fondamentale oder auf Latein: die lex fundamentalis. „Staat des Grundgesetzes“ wurde gern als epitheton für die Bonner Republik verwendet, also den deutschen Kernstaat im Westen, der von 1949 bis zur Deutschen Einheit vom 3. Oktober 1990 erfolgreich von Bonn aus regiert wurde.2 Der verehrte Jubilar ist tief im Westen verwurzelt und kann, neben Vielem, auf sehr erhebliche Beiträge zur rheinischen Kirchengeschichte zurückblicken. Monumental sind seine Biographien über Kardinal Frings und Kardinal Höffner. Beide Kölner Kardinäle der Nachkriegszeit standen dem Staat des Grundgesetzes nahe und mithin auch der Wertordnung der freiheitlichsten Verfassung, die Deutsch———— ∗ 1
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Der Verfasser, Dr. iur. utr., LL.M. oec., lebt und arbeitet als Rechtsanwalt und Publizist in Köln-Deutz. Im Original: „ACTA APOSTOLICAE SEDIS, SUPPLEMENTO PER LE LEGGI E DISPOSIZIONI DELLO STATO DELLA CITTÀ DEL VATICANO, CITTÀ DEL VATICANO PONTIFICATO DI S. S. PIO XI – ANNO VIII, N. I – Legge fondamentale della Città del Vaticano (7 giugno 1929), PIO PP. XI: Di Nostro moto proprio e certa scienza, colla pienezza della Nostra sovrana autorità, abbiamo ordinato ed ordiniamo quanto appresso, da osservarsi come legge dello Stato: 1. Il Sommo Pontefice, Sovrano dello Stato della Città del Vaticano, ha la pienezza dei poteri legislativo, esecutivo e giudiziario. [...].“ Die Bezeichnung der westdeutschen Verfassung als ‚Grundgesetz‘ wählten die im Juli 1948 in Koblenz versammelten Ministerpräsidenten, um den provisorischen Charakter der Staatsgründung zu demonstrieren. Vgl. H.P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, 2. Aufl. Stuttgart 1980, S. 610.
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land je kannte. Kann es vor diesem Hintergrund sinnvoll sein, einen Vergleich zwischen „Grundgesetz“ (Bonn) und „Grundgesetz“ (Vatikan) überhaupt ins Auge zu fassen? Die Differenz springt doch sofort ins Auge und könnte unüberbrückbarer kaum sein. Der Rechtshistoriker wird aber aufmerken, wenn er nur liest, dass es eine Verfassungsurkunde für den Stato della Città del Vaticano überhaupt gibt. Das Dokument von 1929 wurde 2001 durch Papst Johannes Paul II. durch einen anderen Text ersetzt.3 Es ist also heute nur noch, anders als unser Grundgesetz, von historischer Qualität. Aber auch heute hat „der Vatikan“ (als Staat) eine eigene Verfassung, wenngleich er sie so nicht nennen will. Hier ist zunächst daran zu erinnern, dass Vatikanstaat und Heiliger Stuhl keineswegs identisch sind. Beide Institutionen haben zwar eine gemeinsame Spitze, den Nachfolger Petri. Im Vatikanstaat amtiert der Papst sogar als Souverän, während er im Petrusamt eingebunden ist in seinen Dienst. Der Papst ist nicht der Souverän der Kirche, denn das ist Jesus Christus allein. Die Kirche ist soziologisch zwar eine universale Körperschaft, theologisch aber als Volk Gottes zugleich Corpus Christi mysticum.4 Nur in seinem Staat agiert der Papst so ähnlich wie ein absoluter Monarch. Er übt diese Funktion aber nicht als absoluter Monarch aus, sondern er hat dem Vatikanstaat eine Verfassung gegeben. Dieses verfassungsgeschichtliche Detail ist die Nachricht, über die wir nachdenken wollen. Der Vatikanstaat, auf winzigem Territorium, vereinigt so in sich Qualitäten des Absolutismus wie des Konstitutionalismus zugleich. Ernst Rudolf Huber, der Vater des ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden, befürwortete in seiner epochalen Verfassungsgeschichte 5 die Annahme, dass dem so gen. „Bismarckreich“, speziell aber Preußen als dem darin systemdominanten Verfassungsstaat seit 1850, der Rang eines „systemgerechten Modells verfassungspolitischer Selbstgestaltung“, zwischen dem Prinzip ‚rex legibus solutus est‘ (das ist kein mittelalterlicher Rechtssatz) und der heute gültigen Auffassung vom parlamentarisch regierten Rechtsstaat, verfassungsgebunden und demokratisch, doch wohl zukomme. Ernst-Wolfgang Böckenförde, den auch manche Theologen gern zitieren, widersprach in seiner Modernen Verfassungsgeschichte 6; Bismarck ———— 3
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Die neue Legge fondamentale vom Christkönigsfest 2000 trat am 22. Februar 2001 in Kraft. Es ist, wie das Vorgängerdokument, inzwischen im Internet einsehbar unter www.vaticanstate.va: stato e governo, legislazione e normativa. Vgl. Pius XII., Enz. Mystici corporis vom 29. Juni 1943. E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, Stuttgart 1963, insb. S. 3 -11. E.-W. Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 -1914), 2., veränd. Aufl. Königstein / Ts. 1981 (Hg. E.-W. Böckenförde), S. 146 -161.
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gehöre zwar sozusagen noch zum ancien régime, aber der Durchbruch zur Freiheit war nicht mehr aufzuhalten, auch wenn diesen erst die Weimarer Verfassung von 1919 gewagt habe. (Deren Staatskirchenrecht gilt übrigens heute noch, da weder 1949 noch 1990 an Mehrheiten für einen Laizismus zu denken war.) Böckenförde meint, die konstitutionelle Monarchie sei nur der Versuch gewesen, der Entscheidung zwischen Monarchie und Volkssouveränität durch Kompromisse und „juristische Konstruktionen“ auszuweichen.7 Huber seinerseits führt die Polemik gegen den Konstitutionalismus nicht nur auf Carl Schmitt zurück, den Vater aller politischen Theologie 8, sondern er sieht dafür ältere Vorbilder, hochkonservative Kreise in Preußen 9, für die Bismarck bereits ein Verräter wider das Preußenherz war. Das Grundgesetz des Vatikanstaates markiert also innerhalb des so aufgerissenen Spektrums der Verfassungsordnungen, die seit der amerikanischen Unabhängigkeit aufkamen, eine Mittellage zwischen Absolutismus und Konstitutionalismus, die freilich strikt vom Staatszweck sui generis der Vatikanstadt geprägt ist.
II. Der zeitgenössische Beobachter wird aber staunen, dass noch nicht einmal der ‚Staat des Papstes‘ den Ideen von „vor“ 1789 anhängt. Das lässt aufhorchen, bedarf aber noch einiger Erörterung. Pius XI. hatte sich, vorbereitet durch seinen Vorgänger Benedikt XV., den Gesetzgeber des von 1917 bis 1983 gültigen Kirchenrechts, für bewusste Diskontinuität zum Kirchenstaat entschieden, dessen letzter regierender Souverän, der Sel. Pius IX., den Untertanen keine Verfassung zuerkannte. Pius IX. war der letzte „papa re“ (Papst-König), aber wegen der Ereignisse um 1860/70 dann auch der erste universale Hirte auf dem Stuhle Petri, der nicht mehr durch seine „zeitliche“ Herrschaft, den eigenen Staat, gebunden war. Pius XI. wird von einer kurzatmigen Geschichtsschreibung mitunter allzu nah an Mussolini herangerückt 10 (mit mehr Recht könnte man sagen, dass Bismarck der deutsche Vorläufer des Generalissimus Franco war), aber er setzte sich, auch als die ———— 7 8
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Ebd., S. 147. Zu Schmitt siehe den kurzen Überblick von Barbara Zehnpfennig in Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1991, S. 542 - 547, mit Bibliographie in Auswahl. E.R. Huber, a.a.O., S. 10f. Vgl. Gerhard Besier, Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland. Die Faszination des Totalitären, München 2004, S. 162-168.
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Zeit der Lateranverträge gekommen war, nicht wieder als Papst und König in Szene, sondern verkündete das alleinige Königtum Christi. Denn sogar das noch im 19. Jahrhundert inflationär vermehrte Kaisertum, als einstmals sakrale Überhöhung des Königsheils, hatte damals bereits nahezu weltweit abgedankt. (Heute ist die Kaiseridee sogar nur noch in der Figur des japanischen Tenno präsent, der seit Hiroshima als ‚Symbol‘ seines Staates dient.) Modernisierung in der Kirche vollzieht sich notwendig retardierend, in Schüben, aber letztlich nur selten überraschend.11 Der Papst steht freilich nicht „unter“ dem Grundgesetz seines Kleinstaates. Wie der König der bayrischen Verfassung von 1818 fügt sich der Inhaber des Apostolischen Stuhls „quoad usum“ dem Verfassungsgesetz ein, während er doch „quoad substantiam“ über der Verfassung steht.12 Der Papst ist aber im Vatikanstaat, anders als der König der Belgier 13, nicht nur Staatsorgan sondern tatsächlich Souverän. Das vatikanische Grundgesetz kennt auch keinen Katalog von Grundrechten; und auch die Neufassung von 2001 knüpft nicht an die Charta der Menschenrechte der Europäischen Union an. Aber selbst dieses marginale Staatsleben inmitten blühender Gärten und bezaubernder Museen folgt einem Ordnungsgedanken; und nicht täglich wechselnden Launen eines Despoten. Deshalb gibt es sogar ein vatikanisches Arbeitsamt. Die speziellen Eigenheiten der Vatikanstadt gestatten uns keine willkürliche Harmonisierung. Das vatikanische Bürgerrecht beispielsweise kann vom Papst verliehen und entzogen werden. Geburt oder Abstammung begründen keinen Anspruch auf Staatsbürgerschaft. Staatsbürger sind immer nur wenige. Aber der Vatikanstaat hat ein Staatsvolk und ein Staatsgebiet. Er ist ein echter Staat im Sinne abendländischer Rechtsüberzeugungen 14, wenn auch ein Staat per se ganz ohne diplomatische Beziehungen, abgesehen von einigen vertraglichen Regelungen, insbesondere mit Italien. Das Diplomatische Korps, das den Papst umgibt, ist beim Heiligen Stuhl akkreditiert; und der eigene diplomatische Dienst des Papstes vertritt das Kirchenoberhaupt und die Weltkirche bei den Regierungen. Nur nebenbei ist der Papst „auch“ Staatsoberhaupt. Warum war dann die Schaffung des Vatikanstaates 1929 ———— 11
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Sogar die moderne Gewissensfreiheit, deren falsches Verständnis auch heute noch energisch bekämpft werden müsste, hat älteste christliche Wurzeln. Vgl. Leo XIII. Brief Annum ingressi sumus vom 19. März 1902 (zum 25-jährigen Pontifikatsjubiläum), insb. Nr. 21- 24. Vgl. E.-W. Böckenförde (Fn. o. 6), S.148. Ebd., S. 149. Vgl. Otto Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. Baden-Baden 1987, S. 193: Die Allgemeine Staatslehre müsse aber jeder Organisation, die keine Herrschaft über einen bestimmten, fest umrissenen Teil der Erdoberfläche ausübt, die Anerkennung als Staat versagen.
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aus Sicht seines Gründers so dringend erforderlich? Staatsoberhaupt muss der Papst sein, um nirgendwo Staatsangehöriger oder sogar „Untertan“ zu sein. Ein Papst als Untertan der Könige von Italien? Das war eine groteske Vorstellung, die auch nicht durch einseitige Garantiezusagen der Savoyer, wie 1871 unternommen, hinreichend hätte gemildert werden können. Zugleich ist der staatstheoretische Minimalismus, den Pius XI. betrieb, der große Sprung nach vorn gewesen, zur Auflösung der Römischen Frage. Denn gerade weil dieser Staat nur eine Winzigkeit umfasst, wie Papst Paul VI. noch 1965 vor der UNO betonte 15, kann er glaubwürdig außerhalb aller Konflikte der Mächte stehen. Der Papst ist seit 1929 definitiv keine „Macht des alten Europa“ mehr, sondern er leistet Dienst an den Gewissen. Da auch heute noch der Papst von niemandem gerichtet werden kann, wie es schon der Hl. Gregor VII. um 1075 formulierte, öffnet der winzigste Staat der Welt als solcher ein kleines Fenster zum Himmel, das daran erinnert, dass kein Staat absolut ist, der „Kirchenstaat“ am wenigsten. So ergibt sich zwar keine bruchlose Harmonie zwischen den Idealen der Revolution von 1789 in Paris (und noch weniger mit den „Idealen“ des Jahres 1793) und der römisch-vatikanischen Kleinstaaterei. Aber es ist doch hinter den gravierenden Konflikten zwischen 1789 und 1929 eine gemeinsame Rückbesinnung auf ältere Werte zu erahnen, welche die alte Kirche und den modernen Staat mehr verbinden als es im Zeitalter des Absolutismus den Anschein hatte. Fazit: Pius XI. verpasst „seinem“ Staat begrifflich eine Art von Gewalten„Teilung“, wenn diese auch letztlich in seiner Hand wieder zusammenläuft. Schüler lernen auch heute brav, dass die Demokratie sich durch Gewaltenteilung auszeichne. Oder mit E.R. Huber gesagt: „Eine nicht nur formal, sondern substanziell gewaltenteilende Verfassung aber setzt voraus, dass kein Verfassungsorgan, auch nicht die gewählte Volksvertretung, in den Alleinbesitz der politischen Macht eingewiesen werden darf, sondern dass die politische Macht zwischen mehreren gleichberechtigten Verfassungsfaktoren aufgespalten sein muss.“ 16 Das ist beim Stato della Città del Vaticano nicht der Fall. Aber auch Huber schränkt ein: Nirgends in der Realität werde mit rigorosem Doktrinarismus eine absolute Gewaltentrennung durchgeführt. Immer gebe es auch „gewaltenverbindende Momente“.17 Das Wenige was man im Umfeld der facebook Kultur aber noch vom Staatsleben mitbe———— 15
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Paul VI. Au moment de prendre, Ansprache vor den Vereinten Nationen vom 4. Oktober 1965: Insegnamenti di Paolo VI., Bd. III (1965), Vatikanstadt 1966, S. 507 - 516. E.R. Huber, Die Bismarck’sche Reichsverfassung im Zusammenhang der deutschen Verfassungsgeschichte, in: E.W. Böckenförde (Hg.), o. Fn. 6, S. 171 - 205 (186). Ebd., S. 187.
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kommen mag, zwischen blackberry und i-phone, sieht aber auch in Berlin oder Brüssel mitunter nach Gewaltensalat aus. Das Kabinett beschließt die Reform irgendeiner Norm. Das geht in der Regel schon so über die Sender als ob der Beschluss der Bundesregierung bereits übermorgen im Bundesgesetzblatt stehe. Viele Bürger nehmen auch kaum noch wahr, dass es im Bundestag eine ernstzunehmende Willensbildung in der Gesetzgebung gebe. Nur selten werden Abstimmungen „freigegeben“, sonst herrscht Disziplin. Sind nicht auch im Staat des Grundgesetzes die Gewalten heimlich zu sehr verschränkt? Nur dass man nicht so genau weiß, welche „große Hand im Hintergrund“ die Gewalten zusammenführt, die fürs Publikum noch getrennt marschieren? Jüngere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts atmen einen Geist, der nicht nur die üblichen Verdächtigen, nicht nur Verschwörungstheoretiker unterschiedlicher couleur, danach fragen lässt, ob da nicht längst ein einheitlicher politischer Wille die Nation auf ein bestimmtes Erziehungsprogramm hin ausrichten wolle. Das Christentum hat sich mühsam den demokratischen Ideen im Staatsaufbau geöffnet.18 Aber es enthält immer auch Staatskritik; und das darf auch in der bewährten Demokratie des Grundgesetzes gelten.
III. Was verbindet die Römische Frage von vor 1929 mit der Deutschen Frage von 1989? Das ist nicht die Tatsache, dass West-Berlin eingemauert war, wie es die Vatikanischen Gärten (samt Bahnhof) heute noch sind. Die vatikanischen Tore unter dem Wappen von Pius XI. sind ja nicht für alle offen. Sondern beide Fragen waren, nicht nur, aber auch, Fragen nach dem Rechtsverhältnis von Weltanschauung und Politik, Religion und Recht. Kardinal Meisner kann ein Lied davon singen, und tut es nicht selten, wie es Frommen in der „Zone“ erging. Nicht nur fromme Journalisten sind in diesen Tagen, mehr als in seinen frühen Jahren in Köln, geneigt, ihm beizupflichten, dass „unser Staat“ heute weniger denn je offen ist für das Wort, das die Kirche kritisch an die Träger der Macht zu richten hat. Sie hat es übrigens stets auszurichten, gelegen wie ungelegen. Obwohl der Vatikanstaat strukturell alles andere ist als eine „Republik der Freiheit“, so ist dieser aus der Erdoberfläche ausgestanzte winzige Rest, frei unter den Himmeln, als solcher ein Denkmal der Freiheit, „an sich“ wie „für uns“. ———— 18
Vgl. Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 8. Aufl. Kevelaer 1983, S. 253-256.
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Dazu ist noch einiges zu erläutern. Wer in einem bekannten onlineLexikon unter „Papstname“ nachsucht, der wird finden, dass dort aktuell nur die „Pius-Päpste“ einzeln vorgestellt werden. Denn dieser häufigste Name der letzten 200 Jahre ist wieder im Gespräch. Man behauptet dort auch, schon Pius II., der sich diesen Namen 1458 gab, habe damit auf „Pi(etr)o“ anspielen wollen, Petrus also. „Pio Nono“, der Neunte, wurde schon zu Lebzeiten als zweiter Petrus verehrt, im italienischen Volk beliebt wie keiner vor ihm; und nach ihm nur Pius X. Man muss an die enorme Popularität, die im Mitleid mit Pius VI. 1799 begann, bewusst erinnern. Denn mancher Theologe tut heute so als sei es Aufgabe des jüngsten Konzils gewesen, mit den Pius-Pontifikaten zu „brechen“. In Wahrheit hat es die Leistungen derselben verewigt. Hier interessiert uns besonders Pius XI., als ein Staatsgründer und Knotenlöser: Denn im Jahr 1929 gelang ihm die Lösung der Römischen Frage, die zum Dreh- und Angelpunkt für Pius IX. geworden war, als er 1870 zum Gefangenen im Vatikan wurde, wegen der nationalen Einigung Italiens. Der Hl. Papst Pius X., Vorbild aller modernen Nachfolger seither, baute eine tragfähige Brücke vom 9. zum 11. Pius, indem er das geistliche Profil des „universalen Hirten“ schärfte. Pius XI. knüpfte überdies auch an die diplomatische Weitsicht von Benedikt XV. an. Als „einziger Sieger“ des I. Weltkriegs hatte dieser den Vatikan supranational positionieren können, nicht neutral, aber überparteilich. Das Konklave von 1922 war das langwierigste im 20. Jahrhundert. Letztmalig schienen Eiferer und Politiker im Heiligen Kollegium sich gegenseitig zu blockieren, wie es im 18. Jahrhundert so typisch war. Doch der Kompromisskandidat aus Mailand überzeugte bald alle. Nach dem Bericht von Kardinal Mercier aus Belgien begründete Achille Ratti seine Namenswahl so: „Pius bedeutet Frieden!“ Der Name als Programm.19 Die Antrittsenzyklika führte es aus: Pax Christi in regno Christi. Pius XI. wollte den Frieden Christi im Reiche Christi anfeuern. Ein fernes Echo fand er in diesen Tagen im Logo des Weltjugendtages für Madrid 2011: Eine Communio der christlichen Königswürde, versammelt unter dem Kreuz. Basis für alle diese Anstrengungen wurde aber die Gründung jenes kleinsten Staates, der mit den Lateranverträgen bewusst als Minimum konzipiert ist, um das Maximum des pastoralen Auftrags für den ganzen Erdkreis zu garantieren. Bewähren musste sich der Kleinstaat schon bald, als die deutsche Wehrmacht exakt auf seiner Grenze patrouillierte.20 ———— 19 20
Carlo Confalionieri, Pius XI. Aus der Nähe gesehen, Aschaffenburg 1958, S. 23. Den III. Weltkrieg hat nach Meinung mancher das katholische Programm im 20. Jahrhundert verhindert; und niemand sonst: Einige Römer ahnten zwar den kommenden ‚Triumph Mariens‘ (vgl.
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Man kann wohl kaum katholisch empfinden ohne Betonung der Kontinuität in aller Veränderung, wie wir es vom Seligen Kardinal Newman gelernt haben. Pius XI. hat dafür etliche Beispiele gegeben. Das Abrücken von der Restitution des Kirchenstaates und stattdessen die Gründung der neuen Vatikanstadt: Das leuchtete manchem Kämpfer wider das Königreich Italien nicht ein. Aber genau so muss Petrus handeln, Anpassungen durchsetzen, um das Wesen des Katholizismus deutlicher hervortreten zu lassen. Das ist weit schwieriger als die bloße Repetition überlieferter Formeln, die beispielsweise den Reformierten heute kaum noch gelingt: Der Ablasshandel wurde vom Papst bereits 1519 beendet. Seither war nicht der ‚Ablass‘ sondern das Staatskirchentum die Hauptlast der Christenheit, bis zur Abdankung der meisten europäischen Monarchen 1918. Pius XI. hat das gesehen und die Chance genutzt. Seither gilt der „Primat des Geistes“ ausgreifender denn je, der uns im 21. Jahrhundert noch die Zivilisation retten wird, auch in Madrid.
IV. Mitunter wird aber gesagt, die Kirche müsse ihre Soziallehre auch auf ihr eigenes Innenleben anwenden, insbesondere das Prinzip der Subsidiarität. Das klingt plausibel. Denn auch die Kirche sei ja „Gesellschaft“. Warum sollen für sie dann Ausnahmen von der Christlichen Gesellschaftslehre gelten? Vielleicht trifft die Prämisse aber gar nicht zu. Die Kirche hat zwar Züge einer society, aber sie „ist“ möglicherweise im Wesentlichen etwas anderes. Wenn ich gelegentlich „Nachhilfe“ gab vor Existenzgründern, so prahlte ich bisweilen mit den drei oder vier lateinischen Vokabeln, die in der heutigen Rechtssprache noch üblich sind. „Hypothek“ ist ja griechisch; und würde in der ‚Bibel in gerechter Sprache‘ wohl mit Frühstücksdeckchen übersetzt, weil es „Unterlage“ heißt. Außerdem gibt es als Fremdwort im BGB, man wollte die ganze Pandektenwissenschaft eindeutschen, in der Fassung von 1896 wohl nur das Wort vom „Sequester“, schwierig zu übersetzen. Was unterscheidet das Collegium von der Societas? „Drei machen einen Verein.“ Das ist ein flottes Rechtssprichwort, tres faciunt collegium, kurz zu erläutern als die „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“. Die saßen bekanntlich auf der Straße und erzählten sich was. Da kam einer vorbei und fragt: „Was ist denn das?“ Dieser Passant repräsentiert die Öffentlichkeit, der ———— das Buch Fatima und Pius XII. von J.M. Höcht [1952] ) bereits im Heiligen Jahr 1950, aber für die Welt wohl noch nicht voll überzeugend.
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gegenüber die Drei, oder ein Trifolium („Kleeblättchen“), nämlich eine Körperschaft bilden. „Sie erzählten sich was.“ Das deutet die Satzungsautonomie der Körperschaft an, die sich eine nach innen verbindliche Ordnung gibt, etwa: Organe bestellt. Über den Vereinszweck schweigt das lustige Liedchen. Es geht wohl um das ‚Sichgruppieren‘ um ein Instrument der Klassik. Ähnliche Vereine gibt es auch für die „alte Messe“ oder den Heimatgedanken in Kervenheim oder sonst wo. Die sprichwörtlichen Chinesen hätten die Wahl gehabt, ihre Kooperation auch schlicht vertraglich zu regulieren, als Sozietät. Dann ist ‚das Haben‘ des Basses wohl ein vertragliches Pflichtengefüge zwischen dreien, die aber kein Verein sind. Zwei Chinesen allerdings können nur einen Vertrag über einen Kontrabass schließen und darüber verhandeln. Zwei sind aber kein Verein. Warum? Weil das keine Personenvielheit ist. „Drei“, das ist das logische Minimum von Vielen, denn „zwei“ sind nur ich und du.21 Societas sind also zwei oder mehr, die miteinander einen Vertrag haben. Kollegium ist „eine Person“ (im Rechtsverkehr), eine Körperschaft, deren Vielheit für die Außenwelt hinter dem gemeinsamen Willen aller verschwindet. Die Übergänge sind fließend, Namensgebungen mitunter irreführend. Die GmbH müsste mindestens „Gesellschaft mit beschränkter Haftung der Gesellschafter“ heißen; oder besser noch: Kapitalgenossenschaft, denn sie ist Genossenschaft, vulgo: Verein. Was hat das jetzt mit dem Vatikanstaat zu tun? Er ist weder Gesellschaft noch Verein, sondern „Stadt“ inmitten der ewigen Stadt. Stadt heißt hier auch, dass dieser Staat nicht ‚Kirche‘ ist, er kennt nicht einmal eine Staatsreligion. Eine Stadt gilt allerdings normalerweise als Gebietskörperschaft, also doch ‚Genossenschaft‘? In unserem Falle sind Staatsbürger tatsächlich nur ausgewählte „Genossen“ des Heiligen Vaters, die mit ihm und für ihn einen Zweck erfüllen, der wiederum vom Heiligen Stuhl abhängt. Wir erinnern uns, dass die Lateranverträge aus drei Hauptverträgen bestanden.22 Der eigentliche, bilaterale Vertrag des Papstes mit Italien begründete den Vatikanstaat, den Pius XI. dann ausgestaltete. Außerdem wurde ein Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Königreich vereinbart, das 1984 revidiert wurde. Als dritter Text trat eine Finanzkonvention hinzu. ———— 21
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Ich verkneife mir jedes kurzschlüssige Springen in Trinitätslyrik, kann hierzu aber nicht einmal auf den Dreifaltigkeitssonntag verweisen, an dem, so empfindet es der Laie, fast überall und fast immer falsch gepredigt wird, als hätte die Kirche nicht in XXI. Konzilien um ihre Doktrin mit Erfolg gerungen. Vgl. hierzu auch den kurzen, aber sehr lehrreichen Artikel ‚accords du Latran‘ im Dictionnaire historique de la papaute, Paris 1994. Der Verfasser, Francesco Margiotta Broglio, hat selber ein zweibändiges Werk zu Stato e confessione religiose (Florenz 1976/ 78) zusammengetragen.
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Kehren wir nach diesen illustrierenden Erwägungen also zum Ausgangspunkt zurück. In der heutigen Fassung lautet Art. 1 Abs. 1 des VatikanGrundgesetzes unverändert so: „Il Sommo Pontefice, Sovrano dello Stato della Città del Vaticano, ha la pienezza dei poteri legislativo, esecutivo e giudiziario.” Also: Der höchste Pontifex, Souverän des Staates der Vatikanstadt, hat die Fülle der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalten. (Absatz 2 regelt dann einige Befugnisse des Kardinalskollegiums für den Fall der Sedisvakanz.) Von „Gewaltenteilung“ kann also keine Rede sein, auch wenn die drei Begriffe, wie von Montesquieu 23 geprägt, als solche im Verfassungsdokument des Vatikanstaates akzeptiert werden. Wenn diese Gewaltenverknüpfung also darauf beruht, dem monarchischen Prinzip folgend, dass der Vatikanstaat den Zwecken des Heiligen Stuhles zu dienen hat, kirchlichen Zwecken, keinen Vereinszwecken, so schließt sich die Frage nach der Begründung dieser „Sonderstellung“ sofort an. Für die Ausübung zeitlicher Herrschaft duldet die Kirche die Demokratie nicht nur. Sondern seit einiger Zeit empfiehlt sie staatliche Organisationsformen, die eine politische Partizipation der Staatsbürger einschließen. Von vielen Seiten wird gefragt, warum das Prinzip der Partizipation nicht auch innerkirchlich zum Durchbruch kommen soll. Recht kurzschlüssig heißt es dann oft: Die Kirche ist nun mal keine Demokratie. Richtiger wäre wohl die Antwort: Die Kirche ist nicht der Vatikanstaat. Die Getauften sind dem Papst nicht „unterworfen“. Der Vatikan hat keine Gerichtsvollzieher. Die Schweizergarde schwärmt nicht weltweit aus, um die Schlafzimmer zu kontrollieren. Die Kirche lebt aus der geistlichen Verbundenheit ihrer Glieder mit Christus, dem einzigen Herrn der Kirche. Die vielen theologischen Implikationen dazu auszufalten, die aus diesem spirituellen Prinzip der Hierarchie folgen, das aber keinesfalls ein monarchisches Prinzip ist, sondern eine Gesamtverantwortung in der Nachfolge Christi, steht mir nicht zu. Man möge aber auch erwägen, ob inmitten einer offenen Gesellschaft, die auch wir Christen wollen, „Kirche“ überhaupt anders als in hierarchisch gebundener Form lebbar und erfahrbar ist. Gibt es überhaupt heute noch eine reale Möglichkeit „synodaler Prozesse“, die doch mehr leisten müssten, als den Ruf der „Welt“ in die heiligen Hallen zu tragen? Synode meint nicht „drei Chinesen ———— 23
Montesquieu, Esprit des lois, XI, 6. Die Idee der Gewaltenteilung ist durchaus älter; und wurde auch von John Locke bereits aktualisiert. Montesquieu hat hingegen bewusst das Element der Rechtsstaatlichkeit hinzugefügt, also die Jurisdiktion von Gesetzgebung und Verwaltung unterschieden. Vgl. auch Adolf Laufs zur Paulskirche, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 4. Aufl. Berlin 1991, S. 223 (234): In der Frankfurter Reichsverfassung war vorgesehen: „Rechtspflege und Verwaltung sollen getrennt und voneinander unabhängig seyn“.
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mit dem Kontrabass“. Muss also, folgerichtig, das Volk Gottes im Geistlichen sogar immer strenger Ordnung halten, im Zug der Zeit, je pluraler, je vielgestaltiger und toleranter (oder auch krank) die Kulturen „draußen“ werden? Hätten die Jesuiten mit „Diskursethik“ je die Gegenreformation erfolgreich prägen können? Mit diesen, den mainstream kontrastierenden Anfragen soll nicht jede römische oder kölnische Dummheit oder Misere, oder auch Bosheit, mit dem Mantel hierarchischer Liebe bedeckt werden, aber im Prinzip steht diese Frage im Raum: Wird es noch Demokratie im öffentlichen Leben geben können, sobald es nur mehr „Demokratie“ im geistlichen Leben gibt? Wahrscheinlich nicht. Die Hierarchie der Kirche könnte sich im 21. Jahrhundert als Rettungsanker der Demokratie im Staat bewähren. So verstanden ist der dem monarchischen Prinzip verpflichtete Vatikanstaat, neben Monaco der letzte dieser Art in Europa, aber anders als Monte Carlo, durch seine schlichte Existenz, weil er den Petrusdienst möglich macht, ein Ausrufezeichen „pro“ Bonner Grundgesetz, ein Staat ganz für die Freiheit.
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Kontrolle des Wissens? Kirche im Spannungsfeld zwischen Forschung und Zensur von Hubert Wolf
Am 22. Juni 1633 schwor Galileo Galilei in Rom der kopernikanischen Lehre feierlich ab. Er widerrief dabei seine auf naturwissenschaftliche Beobachtungen gestützte Ansicht, wonach nicht die Erde im Mittelpunkt des Universums steht, sondern sich als ein Planet unter anderen um die Sonne dreht. Unter dem Druck der römischen Glaubenswächter musste Galilei das heliozentrische Weltbild, das für ihn aus empirischen Gründen wahr war, der dogmatischen Wahrheit des Geozentrismus opfern.1 Die Szene der Abschwörung bildet auch den Höhepunkt von Bertolt Brechts Schauspiel „Leben des Galilei“. Im Palazzo des florentinischen Gesandten in Rom warten Galileis Schüler und seine Tochter auf den Ausgang des Prozesses. „Herr Galilei wird um fünf Uhr in einer Sitzung der Inquisition widerrufen. Es wird die große Glocke von Sankt Markus geläutet und der Wortlaut dann öffentlich verkündet werden.“ Galileos Schüler Andrea hofft, dass er nicht abschwören wird: „Sie werden ihn umbringen ... da er niemals widerruft.“ Und als der Klang der Glocke auch einige Minuten nach fünf Uhr noch nicht zu hören ist, bricht Jubel aus: „Er widersteht. Oh, wir Glücklichen! Er widerruft nicht! ... Jetzt beginnt wirklich die Zeit des Wissens. Das ist ihre Geburtsstunde ... In diesem Augenblick beginnt die Glocke von Sankt Markus zu dröhnen.“ Galileis Tochter, die bisher kniend gebetet hat, steht erleichtert auf: „Die Glocke ... ! Er ist nicht verdammt!“ Dann hört man die Stimme des Herolds: „Ich, Galileo Galilei, Lehrer der Mathematik und der Physik in Florenz, schwöre ab, was ich gelehrt habe, daß die Sonne das Zentrum der Welt ist und an ihrem Ort unbeweglich, und die Erde ist nicht Zentrum und nicht unbeweglich. Ich schwöre ab, verwünsche und verfluche mit redlichem Herzen und nicht erheucheltem Glauben alle diese Irrtümer und Ketzereien sowie überhaupt jeden anderen Irrtum und jede andere Meinung, welche der heiligen Kirche entgegen ist. Es wird dunkel.“ 2 Auch wenn Brecht manches Detail historisch nicht ganz korrekt wiedergibt, bringt er den Grundkonflikt zwischen Glauben und Wissen doch treffend ———— 1
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Zum Galilei-Prozess grundlegend Francesco BERETTA, Galilée devant le Tribunal de l’Inquisition. Une relecture des sources, Freiburg / Schweiz 1998. Bertolt BRECHT, Das Leben des Galilei, in: Gesammelte Werke Bd. 3, Frankfurt a. M. 1967, 1229 1354, hier 1328f.
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auf den Punkt. In der Szene, die der gerade geschilderten Abschwörung Galileis folgt, wird dieser Konflikt dann auch ausdrücklich thematisiert. Der Mathematiker sucht durch Beobachtung der Gestirne, durch Einsatz des gerade erfundenen Fernrohrs, kurz: durch empirisch-wissenschaftliche Methoden die Theorie des Kopernikus zu beweisen. Nicht mehr philosophische Deduktion ausgehend vom aristotelischen Modell der Wirklichkeit, sondern naturwissenschaftliche Induktion war Galileos Anliegen. Brecht lässt den Schüler Andrea feststellen, durch Galileos erzwungenen Widerruf seien von der Inquisition nicht nur irgendwelche wissenschaftlichen Theorien verboten worden, sondern das Recht und die Freiheit zu denken überhaupt, da es mit Gründen und Beweisen operiere. Glauben und Wissen, Offenbarung und Naturwissenschaft, Kirche und Forschung waren damit eindeutig für inkompatibel erklärt. Auch der Dauerstreit zwischen wissenschaftlicher Theologie und päpstlichem Lehramt schien dadurch ein für allemal entschieden. Lange war dieser ganze Themenkomplex in der katholischen Kirchengeschichtsschreibung geradezu tabu. Norbert Trippen war denn auch einer der ersten aus unserer Zunft, der dieses „heiße Eisen“ in seiner Bonner Habilitationsschrift anfasste, die 1977 unter dem sprechenden Titel „Theologie und Lehramt im Konflikt“ erschien und die sogenannte Modernismuskrise zum Gegenstand hatte.3 Diesem Grundkonflikt in größerer Perspektive in einem Beitrag in der Festschrift zum 75. Geburtstag Norbert Trippens weiter nachzugehen, soll der Versuch sein, dem Wegbereiter „liberaler“ katholischer Kirchengeschichtsschreibung im guten Sinne für seine damals mutige Studie Dank zu sagen im Sinne eines gratiam referre. Denn, was Brecht anspricht und am Beispiel des Galilei-Falles illustriert, läuft letztlich auf die Frage hinaus, mit welchen Gründen die katholische Kirche ein Wahrheitsmonopol beanspruchen kann. Genauer gefragt: Bezieht sich die Offenbarung, die in der Heiligen Schrift niedergelegt ist, nur auf Fragen des Glaubens im engeren Sinn? Oder erhebt sie einen umfassenden Anspruch auf alle Bereiche der Wirklichkeit und der Wissenschaft? Die katholische Kirche hat diese Frage zumindest bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil klar beantwortet: Die Kirche besitzt ein umfassendes Wahrheitsmonopol, das ihr durch Jesus Christus übergeben wurde. Er hat die katholische Kirche gestiftet, wie sie bis heute unverändert als Institution der Ewigkeit existiert. Da Wahrheit in Gott gründet, muss sie ebenso ewig und unveränderlich sein wie er selbst. Deshalb sind alle Wissenskulturen, die auf ———— 3
Norbert TRIPPEN, Theologie und Lehramt im Konflikt. Die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus im Jahre 1907 und ihre Auswirkungen in Deutschland, Freiburg i. Br. 1977.
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dem Prinzip der Entwicklung basieren, grundsätzlich zu verwerfen: Das gilt für den Protestantismus, der glaubt, die ewige Kirche durch Reform(ation) verändern zu können, genauso wie für die Physik Keplers, Kopernikus’ und Galileos, die die ewig im Mittelpunkt der Welt stehende Erde zu einem von vielen sich um die Sonne bewegenden Planeten machen. Das gilt für die Geschichtswissenschaft, die Grundsätze innergeschichtlicher Entwicklung und das Prinzip der Veränderung auch auf ewige kirchliche Institutionen wie das Papsttum anwendet. Das gilt für die Biologie, die sich im Gefolge Charles Darwins anmaßt, den Menschen in der Entwicklung der Arten als einen höheren Affen anstatt als Ebenbild Gottes und Krone der Schöpfung aufzufassen. Das gilt nicht zuletzt für alle „modernen“ Politik- und Gesellschaftskonzepte, die statt des Gottesgnadentums und der ewigen Begründung von Recht in der Transzendenz auf Volkssouveränität und Verfassungsentwicklung ohne Gottesbezug setzen. Aus der Perspektive der Kirche waren deshalb all diese Wissenskulturen vor das Tribunal der römischen Glaubenswächter zu stellen, waren ihre Schriften einer strengen Zensur zu unterwerfen.4 Bevor entscheidende Konflikte zwischen römischem Lehramt und modernen Wissenschaften anhand ausgewählter Beispiele dargestellt werden, soll das historische Koordinatensystem, innerhalb dessen sich diese Konflikte abspielten, skizziert werden. Dazu kommt zunächst das Phänomen der Zensur im frühneuzeitlichen Europa prinzipiell in den Blick, bevor die römischen Zensurbehörden und das Selbstverständnis römischer Zensoren vorgestellt werden.
———— 4
Vgl. zum Wahrheitsanspruch heute z.B. Walter KERN / Hermann Josef POTTMEYER / Max SECKLER (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie. Bd. 4: Traktat Theologische Erkenntnislehre, Schlussteil, Reflexion auf Fundamentaltheologie, Freiburg i. Br. 1988, 169. Zum Wahrheitsbegriff einer „wesenhaft ahistorischen Neuscholastik“ vgl. Oskar KÖHLER, Das Lehramt und die Theologie. Die Auffassung von Kirchengeschichte, in: Handbuch der Kirchengeschichte Bd. VI/2 (1985), 328- 334; zum Wahrheitsbegriff vgl. Hubert WOLF, „Wahr ist, was gelehrt wird“ statt „Gelehrt wird, was wahr ist“? Zur Erfindung des „ordentlichen“ Lehramts, in: Martin EBNER/Rudolf HOPPE / Thomas SCHMELLER (Hg.), Neutestamentliche Ämtermodelle im Kontext (Quaestiones Disputatae 239), Freiburg i. Br. 2010, 236- 259. Exemplarisch für die Unwandelbarkeit der Lehre der Kirche und die Ablehnung des Entwicklungsgedankens vor dem Konzil steht der sog. Modernisteneid, vgl. DH 3637- 3550, bes. 3549. Vgl. dazu Hubert WOLF / Judith SCHEPERS (Hg.), „In wilder zügelloser Jagd nach Neuem“. 100 Jahre Modernismus und Antimodernismus in der katholischen Kirche (Römische Inquisition und Indexkongregation 12), Paderborn 2009.
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I. Zensur in Kirchen und Staat Der Begriff „Zensur“ ist heute eindeutig negativ besetzt: Presse- und Meinungsfreiheit gelten als unhinterfragbare Grundrechte und unverzichtbare Menschenrechte. Die entsprechende Formulierung in den modernen europäischen Verfassungen und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland lautet daher: „Eine Zensur findet nicht statt.“ 5 Nicht selten wird dieses moderne Verständnis jedoch auf frühere Zeiten zurückprojiziert. Zensur wird dann meistens moralisierend und mit erhobenem Zeigefinger generell verurteilt. Zensoren sind die bösen „Täter“, während ihre „Opfer“, die indizierten Autoren, zu Helden des Kampfes für Freiheit und Menschenrechte stilisiert werden. Diese Sichtweise wird der historischen Wirklichkeit allerdings kaum gerecht. Im 16. und 17. Jahrhundert, als der „Index der verbotenen Bücher“ erfunden und die römischen Zensurkongregationen gegründet wurden, gehörte Zensur zu den selbstverständlichen und kaum hinterfragten Instrumentarien staatlicher und kirchlicher Ordnungspolitik.6 Der französische König nahm dieses Recht genauso anstandslos für sich in Anspruch wie der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, die verschiedenen Fakultäten der Universitäten ebenso wie evangelische Kirchenbehörden und katholische Bischöfe. Zensur stellte den „Normalzustand“ dar. Erst im Kontext der Aufklärung bekam Zensur einen negativen Klang. Gegen kirchliche und staatliche Kontrolle des Wissens im Interesse einer Systemstabilisierung ging es jetzt um Presse- und Meinungsfreiheit als Grundrechte der einzelnen Bürger. Und in der Tat dauerte es in Mitteleuropa bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, bevor Zensur schließlich abgeschafft wurde. In vielen Diktaturen der Welt gehört Zensur jedoch nach wie vor zur täglich geübten Praxis. Angesichts der Darstellung der Enthauptung von Geiseln durch Terroristen im Internet wird ———— 5 6
Art. 5 im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Vgl. allgemein Jesús Martínez DE BUJANDA, Die verschiedenen Epochen des Index (1550 -1615), in: Hubert WOLF (Hg.), Inquisition, Index, Zensur. Wissenskulturen der Neuzeit im Widerstreit (Römische Inquisition und Indexkongregation 1), Paderborn ²2003, 215 - 228; Hubert WOLF / Bernward SCHMIDT, Benedikt XIV. und die Reform des Buchzensurverfahrens. Geschichte und Rezeption von „Sollicita ac provida“ (Römische Inquisition und Indexkongregation 13), Paderborn 2010; Edoardo TORTAROLO, Zensur als Institution und Praxis im Europa der Frühen Neuzeit. Ein Überblick, in: Helmut ZEDELMAIER / Martin MULSOW (Hg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001, 277- 294. Zum Zensurbegriff Holger ARNING, Zensur und Zensuren. Kommunikationskontrolle in der Moderne, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 28 (2009) [im Druck]; Beate MÜLLER, Über Zensur: Wort, Öffentlichkeit und Macht. Eine Einführung, in: DIES. (Hg.), Zensur im modernen deutschen Kulturraum (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 94), Tübingen 2003, 1- 30.
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derzeit sogar in den westlichen Demokratien wieder über eine rigidere Medienkontrolle nachgedacht. Das frühe Christentum kannte Zensur von Anfang an.7 Die sukzessive Herausbildung des Kanons des Neuen Testaments führte dazu, dass bestimmte Bücher von der Kirche angenommen, andere jedoch verworfen wurden. Die Verfolgung von Häresie gehört zu den Hauptthemen der alten Kirchengeschichte. Das „Decretum Gelasianum“ 8 von 494 bietet erstmals so etwas wie einen Index verbotener Bücher mit sechzig Werken – allerdings noch ohne die Androhung von Sanktionen. Auch die mittelalterliche Kirche verurteilte regelmäßig Irrlehrer und ihre Bücher. Ihre Zahl blieb allerdings überschaubar. Genannt seien hier nur Petrus Abaelard, John Wyclif oder Jan Hus. Auch der jüdische Talmud wurde immer wieder verboten und verbrannt, so etwa in Paris 1242.9 Laien war es verboten, die Bibel selbst zu lesen, damit sie nicht durch die Lektüre mancher Passagen, wie etwa des Hohen Lieds der Liebe, auf „dumme Gedanken“ kamen. Die Erfindung des Buchdrucks und sein gezielter medienpolitischer Einsatz in der Reformation verlieh der Wissenskontrolle eine ganz neue Dimension. Gutenbergs bewegliche Lettern ermöglichten die rasche Verschriftlichung aller Arten von Wissen und machten dieses Wissen zugleich beinahe unbegrenzt reproduzierbar. Man brauchte nicht mehr Jahre, um im Skriptorium eines Klosters auch nur eine einzige Kopie eines Werkes durch mühsames Abschreiben von Hand herzustellen. Ideen und Gedanken, aktuelle Streitfragen und uralte Traktate, Postillen und die Heilige Schrift selbst waren plötzlich hunderttausendfach verfügbar. Die Reformation als medienpolitische Revolution wurde zum entscheidenden Katalysator für die Zensur, denn die nun entstehende literarisch-publizistische Öffentlichkeit und die damit verbundene grenzüberschreitende Kommunikation der „Intelligenz“ provozierten ein existentielles Kontrollbedürfnis der alten Autoritäten. Zwar hatte man in Rom bereits 1501 die Gefahren des Buchdrucks für das kirchliche Wissensmonopol erkannt und die Bischöfe zur Kontrolle des explodierenden Buchmarktes durch Präventivzensur und nachträgliche Verdammung bereits gedruckter Bücher aufgefordert; zwar hatte man 1520 das Urteil gefällt, Luthers Schriften seien in gewohnter Weise dem Feuer zu ———— 7
8 9
Vgl. den knappen Überblick bei Joseph HILGERS, Der Index der verbotenen Bücher, Freiburg i. Br. 1904; ferner immer noch unübertroffen Franz Heinrich REUSCH, Der Index der verbotenen Bücher Bd. 1, Bonn 1883 (ND Aalen 1967), 8 - 64. DH 350- 354. Zu den Verboten der einzelnen Autoren: Petrus Abaelard 1140/41, vgl. DH 721-739; John Wyclif 1377, vgl. DH 1121-1139, DH 1151-1195; Jan Hus 1415, vgl. DH 1418. Zum Talmud vgl. Hubert WOLF, Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher, München 22006, 15.
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übergeben, und die Durchführung dem weltlichen Arm überlassen – aber die Umsetzung funktionierte nicht mehr. Luthers Ideen wie der Buchdruck überhaupt breiteten sich weiter unkontrolliert aus. Erst Anfang der vierziger Jahre scheint man in Rom das Medium Buch als das eigentliche Erfolgsgeheimnis der Reformation, die inzwischen die Existenz der katholischen Kirche selbst bedrohte, entdeckt zu haben. 1542 wurde daraufhin die „Heilige Römische und Universale Inquisition“ gegründet, 1571 die Indexkongregation. Zu deren Hauptaufgaben gehörte – in der Sprache der Zeit ausgedrückt – zu verhindern, dass sich „gesunde“ Katholiken mit dem protestantischen Virus ansteckten und dadurch diese Pest auch bei ihnen zum Ausbruch käme. Neben der persönlichen Begegnung von Protestanten und Katholiken sah man als Hauptinfektionsweg das Buch an. Deshalb kam es zur Erfindung des berühmt-berüchtigten Index der verbotenen Bücher, einer „schwarzen Liste“, in der all die Werke verzeichnet waren, die Katholiken bei Strafe der Exkommunikation nicht lesen durften. Der Buchmarkt sollte einer Totalkontrolle unterzogen werden. Kein Wissenschaftsbereich blieb ausgespart. Nicht selten reichte bereits ein protestantischer Verlagsort (wie Leipzig und Tübingen) für eine Indizierung. Der erste Index erschien 1559, der letzte 1948; er blieb gültig bis 1966.10
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Das hohe Selbstbewusstsein der römischen Zensurbehörden lässt sich anhand der Titelkupfer 11 der römischen Indexausgaben ikonographisch treffend veranschaulichen. Der weitestgehende Anspruch kommt zweifelsohne im Titelkupfer von 1711 zum Ausdruck und veranschaulicht die vermeintliche Souveränität der katholischen Kirche über alle Formen verschriftlichten Wissens. Ausgaben der Heiligen Schrift werden genauso wie medizinische, juristische, naturwissenschaftliche, belletristische, klassische, philosophische und theologische Literatur von einem alles versengenden Bannstrahl getroffen. Das Medium Buch ist so gefährlich, dass der brennende Scheiterhaufen die einzig adäquate Reaktion der kirchlichen Autorität zu sein scheint. Die Instanz, die hier über ganze Bibliotheken richtet und damit Wissen insgesamt kontrollieren will, ist die römische Kirche, repräsentiert durch die Apostelfürsten Petrus und Paulus. Eine solche „Superkompetenz“ einer religiösen Elite auf allen Wissensgebieten will gerechtfertigt sein. Daher steht hinter den Institutionen der römischen Zensur kein geringerer als der Heilige Geist selbst, die dritte Person der Dreifaltigkeit, die ewige, überzeitlich gedachte göttliche Wahrheit. Index und Inquisition als Organe der Römischen Kurie handeln im Namen und Auftrag des Papstes und damit in der Autorität der Apostelfürsten. Letztlich reflektieren deren Herzen aber lediglich den Strahl der ewigen göttlichen Wahrheit, lenken ihn auf das in Buchform geronnene Wissen und verzehren so die falschen gedruckten Wahrheiten.
II. Wissenschaft und Forschung im Konflikt mit Rom Bis 1998 war es fast unmöglich, näheren Aufschluss über die römischen Indizierungsverfahren gegen diese aus Sicht der Kirche gefährlichen gedruckten Wahrheiten zu erhalten. Die Archive der Inquisition und Indexkongregation gehörten zu den bestgehüteten Geheimnissen der römischen Kirche. Seit der Öffnung der Archive bieten sich der Forschung ungeahnte Möglichkeiten.12 Ein einmaliges Archiv neuzeitlicher Wissenskultur mit ———— 10
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Vgl. Hubert WOLF, Einleitung 1814-1917 (Römische Inquisition und Indexkongregation. Grundlagenforschung 1814-1917), Paderborn 2005, 15-20. Einen guten Überblick über die Titelblätter der verschiedenen Indexausgaben mit Abbildungen bieten Paolo RIMBALDI /Dante PATTINI (Hg.), Index Librorum Prohibitorum. Note storiche afforno a una Collezione, Arco 2008. Vgl. Joseph RATZINGER, Das Archiv der Glaubenskongregation. Überlegungen anlässlich seiner Öffnung 1998, in: WOLF (Hg.), Inquisition, Index, Zensur (wie Anm. 6), 215-228; Alejandro CIFRES, Das historische Archiv der Kongregation für die Glaubenslehre in Rom, in: Historische Zeitschrift
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negativem Vorzeichen kam zum Vorschein. Erstmals lassen sich die internen kurialen Diskussionen zur Kontrolle des Wissens, zur Überwachung von Forschung und Wissenschaft für jedes einzelne Buch rekonstruieren, erstmals kommen mit den Zensoren „Täter“ in den Blick. In einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Langzeitprojekt werden in Münster alle Buchzensurfälle von 1542 bis 1966 inventarisiert, alle Urteilsplakate ediert und alle Zensoren bio-bibliographisch erfasst. Ohne diese aufwendige Grundlagenforschung lassen sich einzelne Fälle kaum sachgerecht rekonstruieren.13 Im Rahmen dieses Beitrags sollen auf der Basis dieser Grundlagenforschung exemplarisch vier Zensurfälle aus den Bereichen Physik, Biologie, Literatur und Geschichte im Konflikt mit dem kirchlichen Lehramt vorgestellt werden.
1. Der Fall Galileo Galilei: Eine Absage an die moderne Physik Zunächst der Fall Galilei, der 1616 und 1633 in zwei Etappen verlief.14 1616 kam der Mathematiker noch einmal mit einem „blauen Auge“ davon. Allerdings bot die Zensur seiner Schriften Anlass zur Klärung einer prinzipiellen Frage: Bezogen sich die Aussagen der Heiligen Schrift und damit die Autorität des römischen Lehramtes nur auf den Bereich von Glauben und Moral? Oder enthielt die Bibel auch unveränderliche Wahrheiten auf dem Feld der Naturwissenschaften? ————
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268 (1999), 97- 106; Francesco BERETTA, Die frühneuzeitlichen Bestände des Archivs der Glaubenskongregation. Wesentliche Aspekte ihrer Geschichte und Forschungsperspektiven, in: Hubert WOLF (Hg.), Verbotene Bücher. Zur Geschichte des Index im 18. und 19. Jahrhundert (Römische Inquisition und Indexkongregation 11), Paderborn 2008, 181-208. Das Projekt besteht aus drei Säulen, der Edition der Bandi, die Aufarbeitung der Sitzungen der Inquisition und Indexkongregation sowie die Erstellung von Personenprofilen der Zensoren und Mitarbeiter der Kongregationen, einer Prosopographie. Bislang aufgearbeitet wurden das 19. Jahrhundert (1814- 1917) und das 18. Jahrhundert (1701-1813); siehe auch die Homepage des Projekts www.buchzensur.de. Die Rekonstruktion des Falles Galileo folgt Francesco BERETTA, Galileo Galilei und die römische Inquisition (1616- 1633), in: Hubert WOLF (Hg.), Inquisition, Index, Zensur (wie Anm. 6), 141-158; Vgl. ferner Francesco BERETTA, Galilée devant le tribunal de l’inquisition, Freiburg/ Schweiz 1998; Francesco BERETTA (Hg.), Galilée en procès, Galilée réhabilité? Saint-Augustin 2005; Ugo BALDINI, Bellarmino tra vecchia e nuova scienza: epistemologia, cosmologia, fisica, in: Gustavo GALEOTA (Hg.), Roberto Bellarmino. Arcivescovo di Capua, Teologo e pastora della Riforma cattolica Bd. 2, Capua 1990, 631-696; Richard J. BLACKWELL, Galileo, Bellarmin, and the Bible, Notre Dame u.a. 1991; Walter BRANDMÜLLER / Ingo LANGNER, Der Fall Galilei und andere Irrtümer, Augsburg 2006; William R. SHEA / Mariano ARTIGAS, Galileo Galilei. Aufstieg und Fall eines Genies, Darmstadt 2006. Eine Sammlung der Dokumente des Falls bei Sergio M. PAGANO (Hg.), I documenti del processo di Galileo Galilei (Collectanea Archivi Vaticani 21), Città del Vaticano 1984.
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Am 5. März 1616 verbot die Indexkongregation das Buch „De revolutionibus orbium coelestium“ des Nikolaus Kopernikus, das über sieben Jahrzehnte seit seinem ersten Erscheinen im Jahr 1543 unbehelligt geblieben war.15 Wie die römischen Akten belegen, hängt diese späte Verurteilung des Kopernikus und des von ihm vertretenen heliozentrischen Weltbildes entscheidend mit dem Verfahren gegen Galilei zusammen. Dessen Schriften waren nämlich 1615 durch einen Florentiner Dominikaner in Rom angezeigt worden. Durch den Einsatz des gerade erfundenen Fernrohrs war es Galilei nicht nur gelungen, die Phasen der Venus, vier Monde des Jupiter und die Sonnenflecken, sondern auch unzählige bislang unbekannte Sterne zu entdecken und so naturwissenschaftliche Beobachtungen zu machen, welche die Theorie des Kopernikus empirisch stützten. Um ein Strafverfahren gegen Galilei eröffnen zu können, musste die Inquisition aber zunächst die kopernikanische Lehre theologisch qualifizieren. Folgerichtig wurde das heliozentrische Weltbild am 24. Februar 1616 für häretisch erklärt.16 Dieser Beschluss, der zunächst nicht publiziert wurde, war von einschneidender Bedeutung und hätte eigentlich zur sofortigen Verhaftung des Angeklagten und seiner Verurteilung als Ketzer führen müssen. Dies war allerdings nicht so einfach, weil ein renommierter Theologe des Karmeliterordens, Paolo Foscarini, Anfang 1615 gleichzeitig mit Galilei eine theologische Verteidigungsschrift der Kopernikanischen Lehre publiziert hatte.17 Die Karmeliter versuchten die Verurteilung ihres Ordensbruders selbstredend zu verhindern. Andererseits hatte Foscarini den Streit zwischen helio- und geozentrischem Weltbild von der Ebene naturwissenschaftlicher Theorien bewusst auf die Ebene der Theologie und speziell der Exegese gehoben. Er hatte gefragt: Ist es nicht aufgrund des naturwissenschaftlichen Fortschritts notwendig geworden, die traditionelle Bibelauslegung der Kirche auf den engen Bereich des Glaubens zu beschränken und die Lehren der Kosmologie von ihr auszunehmen, die eben durch die natürliche Vernunft und ihre Hilfsmittel formuliert werden? Das Beispiel der aristotelischen Himmelsphysik zeige eindeutig, dass diese durch neue astronomische Beobachtungen und neue mathematische Beweisführungen (Keplersche Gesetze) überholt seien. ———— 15 16
17
Vgl. BERETTA, Galileo Galilei (wie Anm. 14), 141-158, hier 148-151. Altre Censure di preposizioni Galileiane, 24. Februar 1616, gedruckt in: PAGANO (Hg.), I documenti (wie Anm. 14), 99f. Wiederabdruck: Tommaso CAMPANELLA, Apologia per Galileo (Testi a fronte 42), hg. von Paolo PONZIO, Mailand 1997, 201 - 237.
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Exemplarisch stellte sich diese Frage bei der Auslegung des alttestamentarischen Buches Josua (10,12-14). Im Krieg der Israeliten gegen die Amoriter gebot Josua, nachdem er mit Gott Zwiesprache gehalten hatte: „Sonne bleib stehen über Gibeon und du, Mond, über dem Tal von Ajalon! Und die Sonne blieb stehen und der Mond stand still, bis das Volk an seinen Feinden Rache genommen hatte ... Die Sonne blieb also mitten am Himmel stehen und ihr Untergang verzögerte sich ungefähr einen ganzen Tag lang.“ Nimmt man diese Aussage wörtlich, dann ist sie ein eindeutiger Beleg dafür, dass die Sonne sich um die Erde bewegt, weil sie auf ihrem Weg stehen bleiben kann. In diesem Sinne haben die Kirchenväter diese Stelle auch stets ausgelegt. Dann aber widerspricht das heliozentrische Weltbild eindeutig der biblischen Offenbarung. Ein Widerspruch gegen das geozentrische Weltbild ist damit zugleich ein Widerspruch gegen den wahren Glauben. Oder aber – so Foscarini – es handelt sich im Buch Josua nur um zeitbedingte Formulierungen, die dem damaligen kosmologischen Kenntnisstand entsprachen und nichts mit dem eigentlichen Glaubensinhalt der biblischen Offenbarung zu tun haben. Dann muss man sie schlicht metaphorisch verstehen als Bild für die Allmacht Gottes, der zum Schutz seines Volkes Israel sogar die Natur beeinflussen kann. Die Frage Foscarinis wurde von Kardinalinquisitor Robert Bellarmin klar beantwortet. Für ihn ist auch die Kosmologie der Bibel Gegenstand des Glaubens. Weil Gott der Urheber der ganzen Heiligen Schrift ist, bilden alle ihre Inhalte Glaubensobjekte. Die Behauptung der tatsächlichen Wirklichkeit des heliozentrischen Weltsystems würde den heiligen Glauben schädigen. Daher ist die kopernikanische Lehre, wie es im entsprechenden Dekret von 1616 heißt, „falsch und widerspricht ganz und gar der Heiligen Schrift“.18 Foscarinis Buch wurde indiziert, der astronomische Traktat des Kopernikus mit der Auflage, anstößige Stellen zu verbessern, verboten, Galilei von Bellarmin dagegen lediglich ermahnt. Die Wirklichkeit des heliozentrischen Weltsystems dürfe er zwar nicht weiter behaupten, denn das sei Häresie. Es sei aber möglich, die kopernikanische Lehre als rein fiktive astronomische Hypothese anzunehmen, mit der man eventuell die Position der Sterne besser voraussagen könne, um damit den Seeleuten nachts auf dem Meer eine verlässlichere Orientierungshilfe an die Hand zu geben. Einen Anspruch auf ihre Geltung in der Wirklichkeit im Sinne einer These dürfe er jedoch daraus nicht ableiten.19 ———— 18 19
Indexdekret vom 5. März 1616, abgedruckt bei PAGANO (Hg.), I documenti (wie Anm. 14), 103. Vgl. BERETTO, Galileo Galilei (wie Anm. 14), 151.
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Galileo unterwarf sich dieser sophistischen Ermahnung umgehend. Fünfzehn Jahre ging das gut. 1633 jedoch kam es erneut zum Konflikt. Galileo legte seinen „Dialog über die beiden Weltsysteme“ vor, in dem er durch eine Analyse der Phänomene von Ebbe und Flut einen Nachweis für die Bewegung der Erde vorlegte. Zugleich versuchte er durch nebulöse Formulierungen diesen naturwissenschaftlichen Beweis als bloße Hypothese zu kaschieren und bat sogar Papst Urban VIII. um eine Druckerlaubnis für das Buch. Der Papst ließ sich täuschen. Ihm ging erst nach Erscheinen des Werkes seine wirkliche Brisanz auf: Trotz aller abschwächenden Behauptungen wurde hier nicht mehr nur hypothetisch, sondern mittels Tatsachenbeweis vom heliozentrischen Weltbild gesprochen. Denn wenn die Hypothese der Bewegung der Erde um die Sonne durch eine strenge Beweisführung das Phänomen von Ebbe und Flut erklären kann, dann ist dadurch im Sinne eines Beweises auch die Bewegung der Erde selbst bewiesen. Dieser Häresie musste Galileo abschwören. Von der Kirche wurde damit die Behauptung der Bewegung der Erde um die Sonne als Irrtum gegen den Glauben verurteilt. Im Fall Galilei erfolgte eine grundsätzliche Positionierung der Kirche in Bezug auf die Freiheit von Wissenschaft und Forschung: 1. Das Lehramt erklärte sich explizit nicht nur für den Bereich von Glauben und Sitte, sondern für alle Disziplinen, ausdrücklich auch für die Naturwissenschaften zuständig. Es begründete diesen Anspruch mit entsprechenden Aussagen der Heiligen Schrift, die eben nicht nur Glaubensaussagen, sondern zugleich auch letztverbindliche naturwissenschaftliche Aussagen beinhalten, an deren Wahrheit man nicht zweifeln dürfe, weil sie Gott selbst zum Urheber haben. 2. Indem das Lehramt sich dabei auf die ewige göttliche Wahrheit bezog, erklärte es seine Aussagen als prinzipiell unveränderlich. Eine Entwicklung oder Veränderung der kirchlichen Position war damit von vornherein ausgeschlossen, ein flexibler Umgang mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen unmöglich gemacht. 3. Eine eigenständige, von der Heiligen Schrift und dem Lehramt der Kirche unabhängige Forschung, gleichgültig ob im Bereich der Geistes- oder Naturwissenschaft, die dem Fortschrittsgedanken verpflichtet ist, konnte es somit aus der Sicht der Kirche nicht geben.
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2. Der „ausgefallene“ Fall Darwin: Evolution oder Schöpfung? Der Fall Galilei dominiert im kollektiven Gedächtnis das Bild der katholischen Kirche im Spannungsfeld von Forschung und Zensur weitgehend. Schließlich dauerte es bis zum Jahr 1992, bis Johannes Paul II. das römische Urteil gegen den Mathematiker aufhob und ihn rehabilitierte.20 In den Köpfen heutiger Menschen steht Galilei stellvertretend für Tausende von Forschern, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vor das Tribunal der Inquisition zitiert wurden, das durch eine unbarmherzige Zensur den wissenschaftlichen Fortschritt hemmte und den Index der verbotenen Bücher zu einem „Friedhof“ des Geisteslebens machte.21 Voller Enthusiasmus stürzten sich daher viele Forscher bei der Öffnung der Inquisitionsarchive auf dieses Thema. Man glaubte zahlreiche spannende Fälle ausgraben zu können, die in immer neuen Anläufen den Konflikt zwischen den sich entwickelnden Naturwissenschaften und dem unbeweglichen katholischen Lehramt in einer Art unendlicher Geschichte illustrieren würden. Allein: Diese Erwartungen wurden enttäuscht. Denn unter den Tausenden von Buchverboten aus vier Jahrhunderten findet man kaum 150 naturwissenschaftliche Titel.22 Neben Paracelsus (1596) und René Descartes (1663, 1720) fallen einem vor allem Sebastian Münsters „Geographia Universalis“ (1559, 1564), Gerhard Mercators „Atlas minor“ (1603), Francis Bacon (1668) und Thomas Hobbes (1703) ins Auge. Die eigentlich großen Namen Isaac Newton und vor allem Charles Darwin, die für den physikalischen und biologischen Fortschritt schlechthin stehen, sucht man jedoch vergeblich. Auch wenn die Untersuchung der umfangreichen Bestände zur Buchzensur noch nicht abgeschlossen ist, lässt sich doch eine Hypothese zur Erklärung dieses weitgehenden Fehlens naturwissenschaftlicher Werke auf dem Index aufstellen: In der Frühen Neuzeit gab es noch keine präzise ———— 20
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Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie vom 31. Oktober 1992; http://www.vatican.va/holy_father/ der Wissenschaften john_paul_ii/speeches/1992/october/documents/hf_jp-ii_spe_19921031_accademia-scienze _ge.html (Zugriff am 31.5.2010). Vgl. Johann Baptist SCHERER, Vierhundert Jahre Index Romanus. Ein Gang durch den Friedhof katholischen Geisteslebens nebst einer zeitgemäßen Betrachtung über Autorität und Freiheit, Düsseldorf o.J. [1957]. Dazu grundsätzlich Ugo BALDINI, Die römischen Kongregationen der Inquisition und des Index und der naturwissenschaftliche Fortschritt im 16. bis 18. Jahrhundert. Anmerkung zur Chronologie und zur Logik ihres Verhältnisses, in: WOLF (Hg.), Inquisition, Index, Zensur (wie Anm. 6), 229 278; ferner Ugo BALDINI / Leen SPRUIT, Catholic Church and modern Science. Documents from the Archives of the Roman Congregations of the Holy Office and the Index, Vol. I in 4 Teilbänden (Fontes Archivi Sancti Officii Romani 5), Roma 2009.
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Trennung zwischen den Disziplinen, die wir heute dem Fächerkanon der exakten Naturwissenschaften zuordnen (wie Physik, Geologie, Chemie, Biologie), und den „pseudonaturwissenschaftlichen“ Fächern wie Alchemie, Astrologie, Geomantie oder Goldmacherei. Inquisition und Indexkongregation haben diese mit schöner Regelmäßigkeit verboten, während man eigentliche naturwissenschaftliche Werke solange passieren ließ, wie sie ihre Ergebnisse lediglich als naturwissenschaftliche Hypothese vertraten und ausdrücklich keinen Zusammenhang zu den Bereichen von Glauben und Moral herstellten. Die Ermahnung Kardinal Bellarmins an Galileo aus dem Jahr 1616 scheint zum Leitprinzip römischer Zensur geworden zu sein. Indem man den Naturwissenschaftlern durch rigide Zensur ihre unliebsame pseudowissenschaftliche Konkurrenz vom Hals hielt, hat die katholische Kirche – so paradox es auch klingen mag – zumindest in Italien sogar zu einer indirekten Förderung des naturwissenschaftlichen Fortschritts beigetragen.23 Zwar konnten die römischen Zensoren durch die Anwendung der subtilen Unterscheidung zwischen Hypothese und These auf die Herausforderung durch die moderne Naturwissenschaft relativ flexibel reagieren, eine Versöhnung von Kirche und Moderne, von Glauben und Wissen, von Offenbarung und Naturwissenschaft war jedoch durch die Entscheidung von 1616 grundsätzlich blockiert. Denn hier hatte man nicht nur die ethischen oder religiösen Implikationen einer physikalischen Lehre verurteilt, sondern zugleich diese Lehre selbst. Noch einmal: Charles Darwin steht nicht auf dem „Index der verbotenen Bücher“. Seine Evolutionstheorie wurde als solche nie zum Gegenstand von Untersuchungen in Rom.24 Sobald aber jemand Darwins Entwicklungsgedanken in Zusammenhang mit dem christlichen Schöpfungsglauben zu bringen versuchte, schritten die Glaubenswächter umgehend ein. Als Beispiel sei hier der Fall des amerikanischen Theologen John Zahm angeführt, der 1896 ein viel gelesenes Buch mit dem sprechenden Titel „Evolution and Dogma“ vorlegte.25 ———— 23
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Dazu Ugo BALDINI, The Roman Inquisition’s condemnation of astrology. Antecedents, reasons and consequences, in: Gigliola FRAGNITO (Hg.), Church, censorship and culture in early modern Italy, Cambridge u.a. 2001, 79 - 110. Vgl. Hubert WOLF (Hg.), Register 1814- 1917 (Römische Inquisition und Indexkongregation. Grundlagenforschung 1814- 1917), 41. Hier findet sich lediglich ein Eintrag zu dessen Großvater Erasmus Darwin aus dem Jahr 1817. Wiederabdruck: John Augustine ZAHM, Evolution and Dogma (The American Catholic Collection). With an introduction by Thomas J. SCHLERETH, New York 1978. Zur Herausforderung der Evolutionstheorie für die Theologie vgl. Jaqcues GADILLE u.a. (Hg.), Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas (1830- 1914) (Die Geschichte des Christentums 11), Freiburg i. Br. 1997, 433 - 439, zu Zahm 436f. Das Thema Evolution und Theologie ist weiterhin aktuell. Im Jahr 2009 wurde hier-
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Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Ausweglosigkeit der Situation vieler katholischer Schüler und Studenten in den USA. Im Biologieunterricht bekamen sie Darwins Lehre von der Entwicklung der Arten als bewiesene Tatsache beigebracht und mussten die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich, wollten sie ihre Reifeprüfung bestehen, als wissenschaftliche Wahrheit vertreten. Als Katholiken waren sie jedoch verpflichtet, die Lehre Darwins entschieden abzulehnen und den Menschen als Krone der göttlichen Schöpfung aufzufassen – zumal ihnen im Religionsunterricht der biblische Schöpfungsmythos als historischer Bericht vorgestellt wurde, nach dem Gott in genau sieben Tagen Welt und Mensch erschaffen hatte. Entweder die katholischen Schüler entschieden sich dafür, moderne Menschen zu sein, dann mussten sie Darwins Wissenskultur folgen und mit dem Glauben ihrer Väter brechen, oder sie hielten am biblischen Schöpfungsglauben fest, wurden dadurch aber in ihrer modernen Umwelt zu Außenseitern. Um den katholischen Jugendlichen in ihrem Dilemma zu helfen, schlug Zahm eine Synthese zwischen Darwinscher Evolutionsbiologie und biblischem Offenbarungsglauben, von „Evolution and Dogma“ vor. Dazu las er den ersten Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,3) evolutionistisch: In den sieben Tagen der Schöpfung sieht er eine aufsteigende Entwicklung am Werk, die von der Entstehung des Meeres und des Festlandes über die Entwicklung der Pflanzen, Vögel und Meerestiere bis hin zum Auftreten der Landtiere und schließlich des Menschen reicht. So gesehen könnte sich – so Zahm – Gottes Schöpfungswille durchaus in der Form der Entwicklung der Arten Ausdruck verliehen haben, weshalb kein grundsätzlicher Widerspruch zwischen Schöpfungsglauben und Evolutionsbiologie bestehen müsse. Dieser Fall wirbelte in Rom viel Staub auf. Eigentlich war man fest entschlossen, diese gefährliche Synthese von Glaube und Wissen zu unterbinden und Zahms Werk auf den Index zu setzen. Eine Intervention amerikanischer Bischöfe, die um das Ansehen der katholischen Kirche in den USA im Falle einer Indizierung fürchteten, hat allem Anschein nach eine öffentliche Verurteilung verhindert. Offenbar konnten im ausgehenden 19. Jahrhundert (kirchen-)politische Opportunitätsgründe die rigorose Anwendung der „wahren“ Lehre in ihre Schranken verweisen.26 ————
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zu an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom ein Symposion veranstaltet, vgl. dazu Ulf von RAUCHHAUPT, Darwin an der Schwelle; http://www.faz.net/- 00mx8h und die Homepage der Konferenz http://www.evolution-rome2009.net/ (Zugriff am 22.6.2010). Vgl. Mariano ARTIGAS u.a., Negotiating Darwin. The Vatican Confronts Evolution 1877-1902, Baltimore 2006, 124 - 202, hier unter dem Titel „Americanism and Evolutism“ eine ausführliche Darstellung des Falles Zahm. Vgl. WOLF (Hg.), Register (wie Anm. 24), 171.
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Andererseits landete aber 1934 einer der Chefideologen der nationalsozialistischen Bewegung, Alfred Rosenberg, mit seinem 1930 erschienenen „Mythus des 20. Jahrhunderts“ auf dem Index.27 Seine Vergötzung der arischen Rasse aufgrund ihrer angeblichen biologischen Überlegenheit, die in der besonderen Qualität ihres Blutes gründe, wurde von Rom entschieden verworfen. Für jemanden, der theologisch von der Einheit des Menschengeschlechts ausging, was nichts anderes heißt, als dass alle Menschen von Adam und Eva abstammen, konnte es selbstverständlich keine qualitativen Unterschiede zwischen den Rassen geben: Alle Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht und ihrer Religion sind gleichermaßen Kinder Gottes. Der Rassismus als Sozialdarwinismus wurde daher von Rom verworfen. Hitlers „Mein Kampf“, der von der Römischen Inquisition zwischen 1934 und 1937 ebenfalls ausführlich untersucht wurde, kam nur deshalb nicht auf den Index, weil sein Autor sich als legale staatliche Obrigkeit dem Zugriff der Zensurbehörden von vornherein entzog. Denn nach katholischer Staatslehre war man als Katholik der Regierung zu striktem Gehorsam verpflichtet: „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen“ (Röm 13, 1-2). Das Heilige Offizium und Pius XI. wichen deshalb der Entscheidung aus; mehrmals vertagte man sich, zuletzt „sine die“, auf unbestimmte Zeit.28
3. Onkel Toms Hütte: Revolutionsbuch oder gute Lektüre? Mit dem Hinweis auf die katholische Staatslehre als Grund für die Nichtindizierung von Hitlers „Mein Kampf“ ist bereits das Themenfeld Staat, Politik und Gesellschaft in den Blickpunkt geraten. Denn selbstredend gerieten nicht nur naturwissenschaftliche Werke ins Visier der römischen Zensur. Vielmehr spielten auch zahlreiche Publikationen, die neue Gesellschaftsmodelle, Staatsordnungen und Wirtschaftslehren propagierten, in Indexkongre———— 27
28
Vgl. Dominik BURKARD, Häresie und Mythus des 20. Jahrhunderts. Rosenbergs nationalsozialistische Weltanschauung vor dem Tribunal der Römischen Inquisition (Römische Inquisition und Indexkongregation 5), Paderborn 2005; DERS., Alois Hudal – ein Anti-Pacelli. Zur Diskussion um die Haltung des Vatikans gegenüber dem Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 59 (2007), 61 - 89; WOLF, Index (wie Anm. 9), 239f. Dazu Hubert WOLF, Pius XI. und die „Zeitirrtümer“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), 1 - 42.
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gation und Inquisition eine wichtige Rolle. So wurde etwa John Stuart Mills „Principles of Political Economy“ als kapitalistisches Wirtschaftslehrbuch umgehend verboten (1856).29 Die großen kommunistischen beziehungsweise sozialistischen Entwürfe sucht man jedoch auf dem Index vergeblich. Einen Fall Karl Marx oder Friedrich Engels hat es nicht gegeben.30 Hier lässt sich eine Beobachtung aus dem Bereich der Naturwissenschaften auch auf gesellschaftswissenschaftliche Theorien übertragen. Offenbar kamen nämlich die „Chefideologen“ selbst meistens nicht in den Blick der Glaubenswächter, dafür aber zahlreiche Popularisierungen oder gar belletristische Werke, in denen man eine falsche Staats- und Gesellschaftsordnung zu finden glaubte. Als Beispiel sei hier „Onkel Toms Hütte“ angeführt. Bislang wusste niemand, dass dieser Roman in Rom überhaupt untersucht worden war, weil die Kurie nur Verurteilungen, nicht aber Freisprüche publizierte.31 Eine in Florenz erschienene italienische Übersetzung des Werks von Harriet Beecher Stowe,32 in dem es um die Befreiung der amerikanischen Sklaven geht, wurde 1852 in den Kirchenstaat eingeschmuggelt und ging der Inquisition ins Netz. Ein Indizierungsverfahren begann. Der Gutachter machte kurzen Prozess mit dem Buch: Das Werk ist von einer Frau geschrieben. Schlimm genug! Überdies von einer Ketzerin. „Die Stowe bekennt sich der methodistischen Religion schuldig!“ 33 Also könnten in dem Buch nur protestantische Häresien stehen: „Sie verspritzt das typische Gift des evangelischen Irrtums!“ Aus der falschen Theologie müssten aber automatisch eine falsche Staatslehre und Gesellschaftstheorie resultieren. Eigentliches Thema des Buches sei daher nicht die amerikanische Sklavenbefreiung. Die Sklaven stehen für den Gutachter nur als Chiffre für die Unterdrückung der Menschen durch die absolutistischen Herrscher in Europa und speziell den Papst als Stellvertreter Christi auf Erden. Deshalb rufe das Werk zu Umsturz und Revolution auf und müsse unbedingt verboten werden. Der Papst, gerade aus dem Exil zurückgekehrt, in das ihn die Revoluti———— 29 30
31 32 33
Vgl. WOLF (Hg.), Register (wie Anm. 24), 104. Das Thema Sozialismus und Kommunismus wurde im Heiligen Offizium überraschenderweise im Vorfeld von Rerum novarum in Auseinandersetzung mit den Werken von Edward McGlynn und Henry George geführt. Dazu grundlegend Sabine SCHRATZ, Das Gift des alten Europa und die Arbeiter der neuen Welt. Zum amerikanischen Hintergrund der Enzyklika Rerum novarum (1891) (Römische Inquisition und Indexkongregation 15), Paderborn 2010, v. a. 343 - 376. Zum Fall insgesamt WOLF, Index (wie Anm. 9), 155 - 186. Harriet BEECHER STOWE, Il Tugurio dello Zio Tom. Romanzo americano, Florenz 1852. Einige Bemerkungen über das Werk „Onkel Toms Hütte“ o. D.; Archivio della Congregazione della Fede (ACDF) Sanctum Officium (SO) Censurae Librorum 1853, Nr. 21. Danach das Folgende.
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on des Jahres 1848 getrieben hatte, litt unter einer verfolgungswahnartigen Revolutionsangst. Und genau diese nahm der Gutachter geschickt auf. Alles was auch nur entfernt nach Reform oder Freiheit klang, roch damals in Rom nach Schwefel. Nach diesem klaren Votum wäre das Schicksal von „Onkel Toms Hütte“ entschieden gewesen, wenn es nicht in der Indexkongregation zu einer heftigen Auseinandersetzung um dieses Gutachten gekommen wäre. Schließlich beauftragten die Kardinäle einen Zweitgutachter, der die Argumente des ersten Zensors geschickt ad absurdum führte.34 Das Thema des Buches – so sagte er – sei ausschließlich die Befreiung der Sklaven, die von arroganten Sklavenhaltern unmenschlich wie Tiere gehalten würden. Da aber alle Menschen nach katholischer Überzeugung Geschöpfe und Ebenbilder Gottes sind, seien alle Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe als solche zu behandeln. Die Lehre der Kirche von der Einheit des Menschengeschlechtes verlange geradezu einen katholischen Einsatz für die Sklavenbefreiung. Dafür habe sich auch der Vorgänger des jetzigen Papstes, Gregor XVI., feierlich ausgesprochen. Also vertrete die Autorin, wenngleich Frau und Protestantin, in diesem Punkt die rechte katholische Lehre. Von protestantischem Gift, also Häresie, und Revolution, also Putschaufruf im Kirchenstaat, könne keine Rede sein. Der Erstgutachter habe das Buch überhaupt nicht gelesen, sondern seine eigenen Ängste in es hineinprojiziert. Daher dürfe man das Buch nicht nur nicht verbieten, sondern sollte es sogar zur katholischen Pflichtlektüre machen. Dieser Gutachter setzte sich durch. „Onkel Toms Hütte“ wurde freigesprochen. Dieses Beispiel zeigt: Die römischen Zensurbehörden waren kein gleichgeschalteter Apparat. Man stritt heftig um die Wahrheit. Und Freisprüche waren gar nicht so selten. Echte Revolutionäre wie etwa Heinrich Heine, die den Aufruf zum Umsturz mit ätzender Kritik an der Kirche verbanden, landeten jedoch regelmäßig auf dem Index.35 Dass manche Formulierungen aus den „Reisebildern“ einen Indexgutachter auf die Palme brachten, braucht nicht zu verwundern: Heine, in Trient angekommen, flüchtet aus der Sommerhitze in den kühlen Dom und schreibt: „Man mag sagen was man will, der Katholizismus ist eine gute Sommerreligion. Es lässt sich gut liegen auf den Bänken dieser alten Dome, man genießt dort eine kühle Andacht, ein heiliges Dolce far niente.“ Den Beichtstuhl macht er lächerlich ———— 34
35
Gutachten Fania Da Rignanos vom 23. November 1853; ACDF Index Protocolli 117 (1852-1853), 533r- 543r. Vgl. dazu Hubert WOLF / Wolfgang SCHOPF / Dominik BURKARD / Gisbert LEPPER, Die Macht der Zensur. Heinrich Heine auf dem Index, Düsseldorf 1998.
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„als Häuschen aus braunem Holze für die Notdurft der Gewissen“.36 Dass ein derartig „verdorbener Autor“, der die Kirche schmäht, auch zur Revolution aufruft, ergibt sich für den Zensor von selbst. Eine falsche Auffassung von Glaube und Kirche führt automatisch eben auch zu gesellschaftspolitischen Irrtümern.
4. Geschichte versus Dogma Zu einem grundsätzlichen Konflikt des kirchlichen Lehramts kam es auch mit der Geschichtswissenschaft, die im 19. Jahrhundert zur Leitwissenschaft im protestantisch dominierten Deutschland avanciert war.37 Die Historiker waren überzeugt, zeigen zu können „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke). Zahlreiche biblische und kirchliche Texte galten ihnen als „Märchen“ und bloße Mythen. Dogma und Geschichte gingen von zwei einander widersprechenden Paradigmen aus. Das Lehramt behauptete die Unveränderlichkeit kirchlicher Institutionen und Lehren. Für die Geschichtswissenschaft war dies geradezu undenkbar, denn jedes Phänomen dieser Welt ist dem geschichtlichen Wandel unterworfen und entwickelt sich innerhalb der Geschichte fort. Geschichtliche Wahrheit und Wahrheit des Glaubens standen sich wieder einmal unversöhnlich gegenüber. Während die römische Zensur allgemeinhistorische Werke in der Regel passieren ließ, gerieten Bücher, die zentrale kirchengeschichtliche Themen historisch-kritisch angingen, sofort ins Visier. Hier ist an erster Stelle der „Papst“ des deutschen Historismus, der preußische Historiker Leopold von Ranke zu nennen. Seine „Päpste“ landeten nach einem komplizierten Verfahren 1842 und nach heftigen innerkurialen Auseinandersetzungen vor allem deshalb auf den Index, weil er vom „historischen Primat“ sprach.38 Der Historiker wies nämlich nach, dass der Primat des römischen Papstes, der ihn zum absoluten Herrscher der ganzen Kirche machte, selbst das Ergebnis einer ———— 36
37
38
Heinrich HEINE, Sämtliche Schriften, hg. von Klaus BRIEGLEB, 6 Bde., hier Bd. 2: Reisebilder (Reise von München nach Genua), München 1976, 346. Zum Historismus allgemein Gangolf SCHRIMPF / Josef KERN, Art. Historismus, in: LThK³ 5 (1996), 169 -171; Thomas NIPPERDEY, Historismus und Historismuskritik heute, in: DERS., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 18), Göttingen 1976, 59 -73. Zu Historismus und Buchzensur vgl. Ulrich MUHLACK, Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung des Indexverfahrens gegen Rankes Papstgeschichte, in: Hubert WOLF/Dominik BURKARD / DERS., Rankes Päpste auf dem Index. Dogma und Historie im Widerstreit (Römische Inquisition und Indexkongregation 3), Paderborn 2003, 167- 201. Vgl. WOLF/BURKARD / MUHLACK, Rankes Päpste (wie Anm. 37), 82.
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langen historischen Entwicklung war. Von einer Einsetzung des Juridiktionsprimates durch Christus könne daher keine Rede sein. Dieser sei vielmehr Folge einer rigiden Machtpolitik der römischen Bischöfe. Und so wie er sich irgendwann historisch entwickelt habe, könne er auch wieder verschwinden. Die katholische Dogmatik hielt hingegen den päpstlichen Primat für ein ewiges Wesensmerkmal der Kirche von Anfang an, der keinerlei geschichtlicher Entwicklung unterliege. Mit historischen Methoden könne der Protestant Ranke das Geheimnis der Kirche ohnehin nicht erschließen. Auch andere Historiker wurden, sobald sie historisch-kritische Methoden auf kirchliche Personen oder Institutionen anwandten, umgehend indiziert. Genannt sei hier nur der bekannte preußische Geschichtsschreiber Ferdinand Gregorovius, den der römische Bannstrahl im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gleich mehrfach traf.39 Als 1874 seine „Geschichte der Stadt Rom“ auf dem Index landete und sein Name auf den großen Verbotsplakaten an den römischen Hauptkirchen auftauchte, hielt er die Indizierung für die beste Werbung für sein Buch: „Jetzt macht auch der Papst für mich Reklame.“ 40 Zum größten Konflikt zwischen Dogmatik und Geschichtswissenschaft wurde aber die Dogmatisierung des Jurisdiktionsprimats und der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870.41 Hier wurde als „ein von Gott geoffenbartes Dogma“ definiert: „Wenn der römische Bischof ex cathedra spricht ..., dann vermag er dies durch göttlichen Beistand, der ihm im seligen Petrus verheißen ist, mit jener Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Entscheidung einer Glaubens- und Sittenlehre ———— 39
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Folgende Werke Gregorovius’ wurden verboten: Ferdinand GREGOROVIUS, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. Vom V. Jahrhundert bis zum XVI. Jahrhundert, 8 Bde., Stuttgart 1859 - 1872. Vgl. Bando der Indexkongregation vom 5. Februar 1874, in: Hubert WOLF (Hg.), Römische Bücherverbote. Edition der Bandi von Inquisition und Indexkongregation 1814 -1917 (Römische Inquisition und Indexkongregation. Grundlagenforschung I: 1814 -1917), Paderborn 2005, 369f. Ferdinand GREGOROVIUS, Le Tombe dei Papi. Prima traduzione italiana rivista e accresciuta dall’autore, Rom 1879. Vgl. Bando der Indexkongregation vom 27. Juni 1881, in: ebd., 420 - 422. Ferdinand GREGOROVIUS, Atenaide. Storia di una imperatrica bizantina. Versione dal tedesco di Raffaele Mariano, Rom 1882. Vgl. Bando der Indexkongregation vom 10. Juli 1882, in: ebd., 427f. Ferdinand GREGOROVIUS, Nelle Puglie. Versione dal tedesco di Raffaele Mariano, con noterelle di viaggio del traduttore, Florenz 1882. Vgl. Bando der Indexkongregation vom 10. Juli 1882, in: ebd., 429f. Ferdinand GREGOROVIUS, Römische Tagebücher, hg. und kommentiert von Hanno Walter KRUFT / Markus VÖLKEL, München 1991, 337. Vgl. Roger AUBERT, Vaticanum I, Mainz 1965; Klaus SCHATZ, Vaticanum I, 1869 - 1870, 3 Bde., Paderborn 1992 - 1994.
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ausgestattet haben wollte.“ Und zwar „ex sese non autem ex consensu ecclesiae“.42 Dieses neue Dogma stieß seinerzeit auf heftigen Widerstand. Der Tübinger Theologe Johannes Evangelist von Kuhn brachte die Stimmung vieler gebildeter Katholiken auf den Punkt, als er fragte: „Ist es möglich, bis zum 18. Juli [1870] etwas für unwahr, und von da an für wahr zu halten?“ 43 Vier Fünftel der in Rom auf dem Konzil anwesenden deutschen Bischöfe sprachen sich mit Verve gegen diese Definition aus. Zwei Drittel aller Konzilsväter waren jedoch für die Dogmatisierung. Die vor allem historisch begründeten Argumente der Anhänger der Minorität konnten sich nicht durchsetzen. Besonders deutlich wurde in diesem Zusammenhang der Rottenburger Bischof Carl Joseph von Hefele, der darauf beharrte, der Papst könne an sich und als solcher nicht unfehlbar sein, wenn sich historisch nachweisen ließe, dass mindestens einmal in der Geschichte ein römischer Papst in einer zentralen Glaubensfrage geirrt habe. Hefele fand den fehlbaren Papst in Honorius I., der im 7. Jahrhundert in der Frage nach dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Willen nachweislich eine häretische Position eingenommen habe, indem er den menschlichen Willen negierte. Hefele legte sich deshalb fest: „Etwas was an sich nicht wahr ist, für göttlich geoffenbart anzuerkennen, das tue wer kann, non possum.“ 44 Historische Wahrheiten hatten aber auf dem Ersten Vatikanum keine Chance. So erklärte einer der profiliertesten Führer der Majorität, Kardinal Henry Edward Manning, zu Hefeles Ausführungen lapidar, er möge zwar historisch recht haben, aber dann müsse eben „das Dogma die Geschichte überwinden“.45 ———— 42
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Dogmatische Konstitution „Pastor Aeternus“ über die Kirche Christi vom 18. Juli 1870, in: DH 3050 - 3075, hier 3074. Das Zitat stammt aus einem Autograph Kuhns. Dazu Hubert WOLF, Ketzer oder Kirchenlehrer? Der Tübinger Theologe Johannes von Kuhn (1806 - 1887) in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 58), Mainz 1993, 348. Weiterführend auch Hubert WOLF, Indem sie schweigen, stimmen sie zu? Die Tübinger Katholisch-Theologische Fakultät und das Unfehlbarkeitsdogma, in: DERS. (Hg.), Zwischen Wahrheit und Gehorsam. Carl Joseph von Hefele (1809 - 1893), Ostfildern 1994, 78 - 101. Schreiben Hefeles an Döllinger vom 10. August 1870, in: Johann Friedrich von SCHULTE, Der Altkatholizismus. Geschichte seiner Entwicklung, inneren Gestaltung und rechtlichen Stellung in Deutschland, Gießen 1887, 220 - 223, hier 222. Dieses Wort will Ignaz von Döllinger aus dem Munde Mannings vernommen haben. Vgl. August Bernhard HASLER, Pius IX. (1846 - 1878), päpstliche Unfehlbarkeit und 1. Vatikanisches Konzil. Dogmatisierung und Durchsetzung einer Ideologie (Päpste und Papsttum 12), Stuttgart 1977, 346; Hubert WOLF, Der Historiker ist kein Prophet. Zur theologischen (Selbst-)Marginalisierung der katholischen deutschen Kirchengeschichtsschreibung zwischen 1870 und 1960, in: DERS. (Hg.), Die katholisch-theologischen Disziplinen in Deutschland 1870 - 1962. Ihre Geschichte, ihr Zeitbezug
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Die römische Kirche ist mit ihrem Vorhaben einer Totalkontrolle des Buchmarkts gescheitert. Das vornehmste Medium neuzeitlicher Wissenskultur und die modernen Wissenschaften entzogen sich letztlich dem Zugriff der Glaubenswächter. Schon rein logistisch war es nicht möglich, alle Publikationen auch nur zu erfassen, geschweige denn zu beurteilen. Die Kirche brauchte lange – genauer: bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil –, um die Eigenständigkeit und Autonomie weltlicher Sachbereiche zu akzeptieren und damit eine grundsätzliche Freiheit von Forschung und Lehre in nichttheologischen Bereichen zuzugestehen. Und wie endet schließlich Brechts „Leben des Galilei“? Galilei lebt als Gefangener der Inquisition in der Nähe von Florenz. Dort erhält er Besuch von Andrea, einem seiner Schüler, der seine letzte Schrift, die „Discorsi“, an der Inquisition vorbei aus Italien herausschmuggelt. Der Coup gelingt, das Buch bleibt unentdeckt. Nachdem Andrea die Grenze passiert hat, ruft er zurück: „Wir wissen bei weitem nicht genug, Giuseppe. Wir stehen wirklich erst am Beginn.“ 46 Auch die Erforschung des Konflikts zwischen Lehramt und Theologie, Geistes- und Naturwissenschaften ist über erste Anfänge nicht hinausgekommen. Die neuen Quellen im Archiv der Glaubenskongregation bieten in der Tat viele Möglichkeiten, auf den Spuren Norbert Trippens unser Wissen über dieses Spannungsfeld beträchtlich zu erweitern.
————
46
(Programm und Wirkungsgeschichte des II. Vatikanums 3), Paderborn 1999, 70 - 93, hier 71. Zur Entwicklung der sog. Honoriusfrage vgl. Georg KREUZER, Die Honoriusfrage im Mittealter und in der Neuzeit (Päpste und Papsttum 8), Stuttgart 1975. Bertolt BRECHT, Das Leben des Galilei, in: Gesammelte Werke Bd. 3, Frankfurt a. M. 1967, 12291354, hier 1345.
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Schriftenverzeichnis Norbert Trippen Bearbeitet von Reimund Haas und Harald Horst
1964 Artikel: Surius, Laurentius OCarth, in: LThK Bd. 9 ( 21964), Sp.1193
1971 Ein Brief an Augustin Theiner in Rom aus Anlaß des Streites um die Kölner Erzbischofswahl 1864/66, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 173 (1971), S. 210-218
1972 Das Domkapitel und die Erzbischofswahlen in Köln 1821-1929 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte, 1), Köln – Wien 1972 (= Theologische Dissertation Universität Bonn) Artikel: Hüsgen (Heusgen), Johann, Domdechant und Generalvikar in Köln, in: Neue Deutsche Biographie Bd. 9 (1972), S. 745f.
1973 Johann Wilhelm Frenken (1809-1887), in: Rheinische Lebensbilder 5 (1973), S. 113133
1974 Was dürfen wir von der Weiterbildung für den pastoralen Dienst erwarten?, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Köln, Osnabrück 26 (1974), S. 50-56 Zur Geschichte des Collegium Albertinum in Bonn 1885-1903, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 176 (1974), S. 172-227
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Schriftenverzeichnis
1975 Severin Corsten, Gisbert Knopp, Norbert Trippen (Hrsg.), Festschrift Eduard Hegel zum 65. Geburtstag, 28. Februar 1976 (Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, 177), Bonn 1975 darin: Fakultät und Erzbischof. Der Konflikt um den Bonner Kirchenhistoriker Heinrich Schrörs im Jahre 1907, S. 231- 262 Zur Wiederbegründung des Kölner Domkapitels vor 150 Jahren, in: Kölner Domblatt. Jahrbuch des Zentral-Dombau-Vereins 40 (1975), S. 205-212
1976 Albert Ehrhard – Ein "Reformkatholik"? – Briefe deutscher und österreichischer Bischöfe und Theologen an den Präfekten der Indexkongregation, Andreas Kardinal Steinhuber SJ, in den Jahren 1902/03, in: Römische Quartalschrift 71 (1976), S. 199-230 Aus dem Tagebuch eines deutschen Modernisten. Aufzeichnungen des Münchener Dogmenhistorikers Joseph Schnitzer aus den Jahren 1901-1913, herausgegeben und erläutert von Norbert Trippen unter Mitarbeit von Alois Schnitzer, in: Georg Schwaiger (Hrsg.), Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Zum Streit um Reformkatholizismus und Modernismus, Göttingen 1976, S. 139 -222 Norbert Trippen, Wilhelm Mogge (Hrsg.), Ortskirche im Dienst der Weltkirche. Das Erzbistum Köln seit seiner Wiedererrichtung im Jahre 1825. Festgabe für die Kölner Kardinäle Erzbischof Joseph Höffner und Alterzbischof Josef Frings, Köln 1976, 21977 darin: Das Erzbistum Köln, seine Bischöfe und die katholische Kirche in Deutschland von 1825 bis 1975, S. 9-24 Antwort auf die Herausforderung der Zeit. Köln – Ausgangspunkt und Zentrale katholischer Verbände und Vereine in Deutschland, S. 25-34
1977 Theologie und Lehramt im Konflikt. Die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus im Jahre 1907 und ihre Auswirkungen in Deutschland, Freiburg – Basel – Wien 1977 (= Habilitationsschrift an der Universität Bonn)
Schriftenverzeichnis
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1978 Politische Sammlung und sozialer Aufbruch. Am Beispiel der Katholiken nach der Säkularisation im 19. Jahrhundert, in: Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben. 85. Deutscher Katholikentag vom 13. September bis 17. September 1978 in Freiburg, Paderborn 1978, S. 241-256
1979 Entwicklungen im Klerus seit 1914, in: Hubert Jedin, Konrad Repgen (Hrsg.), Die Weltkirche im 20. Jahrhundert (Handbuch der Kirchengeschichte, 7), Freiburg – Basel – Wien 1979, S. 338-355 Das politische Engagement katholischer Priester in der jüngeren deutschen Geschichte, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Köln, Osnabrück 31 (1979), S. 4 -12 „Zwischen Zuversicht und Mutlosigkeit“. Die Görres-Gesellschaft in der Modernismuskrise 1907-1914, in: Saeculum 30 (1979), S. 280- 291 Die Gründung des Historischen Vereins für den Niederrhein in ihrem historischen Umfeld, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 182 (1979), S. 24- 45 Das Kölner Dombaufest 1842 und die Absichten Friedrich Wilhelms IV. von Preußen bei der Wiederaufnahme der Arbeiten am Kölner Dom. Eine historische Reflexion zum Domfest 1980, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 182 (1979), S. 99 -115 Norbert Trippen (Hrsg.), Sonderheft: Zur Stellung der Alten und zur Bewertung des Alters in verschiedenen Kulturen, in: Saeculum 30 (1979), Heft 4
1980 Erzbistum, Erzbischof und Domkapitel im 19. Jahrhundert, in: Arnold Wolff, Toni Diederich (Hrsg.), Das Kölner Dom-Jubiläumsbuch 1980, Köln 1980, S. 155-166 Gottesdienst und Volksfrömmigkeit im Kölner Dom während des 19. Jahrhunderts, in: Hugo Borger (Hrsg.), Der Kölner Dom im Jahrhundert seiner Vollendung, Bd.
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Schriftenverzeichnis
2: Essays zur Ausstellung der Historischen Museen in der Josef-HaubrichKunsthalle Köln 16. Oktober 1980 bis 11. Januar 1981, Köln 1980, S. 182-198 Die Erneuerung des Ständigen Diakonats im Gefolge des II. Vatikanischen Konzils, in: Josef G. Plöger, Hermann J. Weber (Hrsg.), Der Diakon. Wiederentdeckung und Erneuerung seines Dienstes, Freiburg – Basel – Wien 1980, 21981, S. 83 -103
1981 Artikel: Gallitzin (Amalia von), in: Dictionnaire d'Histoire et de Géographie Ecclésiastiques Bd. 19 (1981), Sp.867-870
1982 Gesellschaftliche und politische Auswirkungen der Modernismuskrise in Deutschland, in: Albrecht Langner (Hrsg.), Katholizismus und philosophische Strömungen in Deutschland, Paderborn – München – Wien – Zürich 1982, S. 59 -103
1983 Päpstlicher Antimodernismus und staatliches Plazet, in: Dieter Albrecht, Hans Günter Hockerts, Paul Mikat, Rudolf Morsey (Hrsg.), Politik und Konfession. Festschrift für Konrad Repgen zum 60. Geburtstag, Berlin 1983, S. 257-280 Der Neuanfang des katholischen Lebens in Deutschland nach der Säkularisation, in: Pietismus und Neuzeit. Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 9 (1983), Schwerpunkt: Kirche und Frömmigkeit im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, S. 12-31
1984 Der heilige Karl Borromäus und die Reform der Seelsorge nach dem Konzil von Trient. Zum 400. Todestag des Heiligen am 3. November 1984, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Köln, Osnabrück 36 (1984), S. 322-329
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1985 Heinrich Schrörs (1852-1928), in: Rheinische Lebensbilder 10 (1985), S. 179-198 Das Kölner Priesterseminar in den Jahren 1933-1945, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 188 (1985), S. 197-223
1986 Aus der Geschichte lernen. Die Bedeutung der Kirchengeschichte für kirchliches Leben und pastorale Praxis, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Köln, Osnabrück 38 (1986), S. 322-325 Der Bischof im Zeitalter der Industrialisierung, des Nationalismus und der Weltkriege (1885 -1945), in: Peter Berglar, Odilo Engels (Hrsg.), Der Bischof in seiner Zeit. Bischofstypus und Bischofsideal im Spiegel der Kölner Kirche. Festgabe für Joseph Kardinal Höffner, Köln 1986, 21988, S. 397- 427
1987 Artikel: Modernismus, in: Staatslexikon Bd. 3 ( 71987), Sp. 1201-1204
1988 Norbert Trippen (Hrsg.), Das Kölner Priesterseminar im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift zur Feier des 250jährigen Bestehens am 29. Juni 1988 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, 22), Siegburg 1988 darin: Aus der Kölner Seminargeschichte seit 1801, Kap. I-VI, S. 25-179
1990 Aus der Chronik der Pfarrei St. Ursula in Köln über die Kriegsjahre 1942-1945 von Paul Fetten, ausgewählt und vorgestellt von Norbert Trippen, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 192/193 (1990), S.149 -181 Artikel: Hartmann (Felix von), archevêque de Cologne, in: Dictionnaire d'Histoire et de Géographie Ecclésiastiques Bd. 23 (1990), Sp. 449- 453
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1991 „Einer sät, und ein anderer erntet“. Ein Blick auf die europäische Kirche der Gegenwart aus der Perspektive der angelsächsischen Missionare des 7./8. Jahrhunderts, in: Karl Hillenbrand, Medard Kehl (Hrsg.), Du führst mich hinaus ins Weite. Erfahrungen im Glauben – Zugänge zum priesterlichen Dienst. Freundesgabe für Georg Mühlenbrock, Würzburg 1991, S. 365-372 Kardinal Frings, Essen und das Ruhrgebiet, in: Das Münster am Hellweg 44 (1991), S. 55-65 Das Schicksal der westdeutschen Bischofsstädte im Winter 1944/45, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 194 (1991), S. 189-200 Das Elend der Nachkriegsjahre und der Wiederaufbau des Kölner Domes. Die Weihnachtsbriefe des Kölner Erzbischofs Kardinal Frings an Papst Pius XII. 19451949, in: Kölner Domblatt. Jahrbuch des Zentral-Dombau-Vereins 55 (1991), S. 135-154 Leben und Überleben im Dritten Reich. Kirche und Katholizismus in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Wie im Himmel, so auf Erden. 90. Deutscher Katholikentag in Berlin 23. bis 27. Mai 1990, Dokumentation II, Paderborn 1991, S. 1581-1593
1992 Le facoltà cattoliche di teologia in Germania nel XIX secolo tra pretese dello Stato e diffidenza della Chiesa, in: Rudolf Lill, Francesco Traniello (Ed.), Il „Kulturkampf “ in Italia e nei paesi di lingua tedesca (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, 31), Bologna 1992, S. 389-420 [vgl. 1993: Die katholisch-theologischen Fakultäten Deutschlands ...] Interkonfessionelle Irritationen in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland, in: Karl-Dietrich Bracher, Paul Mikat, Konrad Repgen, Martin Schumacher, Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, S. 345-377 Zur Geschichte des Collegium Albertinum in Bonn 1885-1903, in: Wilfried Evertz (Hrsg.), Im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche. 100 Jahre Priesterausbildung im Collegium Albertinum (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, 26), Siegburg 1992, S. 109-169 [Nachdruck aus Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 176 (1974), S. 172-227]
Schriftenverzeichnis
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Fakultät und Erzbischof. Der Konflikt um den Bonner Kirchenhistoriker Heinrich Schrörs im Jahre 1907, in: Wilfried Evertz (Hrsg.), Im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche. 100 Jahre Priesterausbildung im Collegium Albertinum (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, 26), Siegburg 1992, S. 171-203 [Nachdruck aus Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 177 (1975), S. 232-262] Die Kölner Innenstadt in der Not der Nachkriegsjahre 1945-1948. Aus der Chronik der Pfarrei St. Ursula in Köln von Paul Fetten, ausgewählt und vorgestellt von Norbert Trippen, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 195 (1992), S. 176-202 Die Persönlichkeit des späteren Bischofs Vogt als Kölner Generalvikar, in: Geschichte im Bistum Aachen 1 (1992), S. 96-103
1993 Der Wandel der Seelsorge in der Geschichte der Kirche, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Köln, Osnabrück 45 (1993), S. 227-234 Die katholisch-theologischen Fakultäten Deutschlands im 19. Jahrhundert zwischen staatlichem Anspruch und kirchlichem Mißtrauen, in: Rudolf Lill, Francesco Traniello (Hrsg.), Der Kulturkampf in den deutschsprachigen Ländern (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, 5), Berlin 1993, S. 299320 [vgl. 1992: Le facoltà cattoliche di teologia in Germania ...] Rudolf Peifer, Den Menschen ein Angebot. Erinnerungen eines Seelsorgers, Köln – Graz 1993 [Vorwort, Bearbeitung des Textes und Herausgabe] Artikel: Hoeffner (Joseph), cardinal archevêque de Cologne, in: Dictionnaire d'Histoire et de Géographie Ecclésiastiques Bd. 24 (1993), Sp. 728-730 Artikel: Antimodernisteneid, in: LThK Bd. 1 ( 31993), Sp. 761
1994 Josef Kardinal Frings, in: Jürgen Aretz, Rudolf Marrey, Anton Rauscher (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 7, Mainz 1994, S. 143-160 Wiederabdruck in: Stefan Volberg, Norbert Trippen, Frings, Köln 1998, S. 93-113 Artikel: Borromäusenzyklika, in: LThK Bd. 2 ( 31994), Sp. 600
1046
Schriftenverzeichnis
1995 Wahrheit und Historie. Kirchliches Lehramt und Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Urs Altermatt, Heinz Hürten, Nikolaus Lobkowicz (Hrsg.), Moderne als Problem des Katholizismus (Eichstätter Beiträge, 28 – Abt. Philosophie und Theologie, 6), Regensburg 1995, S. 204-221 Erzbischof Frings und der Neubeginn kirchlichen Lebens in Köln 1945, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 66 (1995), S. 151-168 Joseph Teusch (1902-1976), in: Rheinische Lebensbilder 15 (1995), S. 223-246 Wiederabdruck: Joseph Teusch (1902-1976). Eine Broschüre aus der Schriftenreihe des Joseph-Teusch-Werkes, Bad Neuenahr-Ahrweiler 1996 Artikel: De salute animarum, in: LThK Bd. 3 ( 31995), Sp. 46f. Artikel: Fendt, Leonhard, in: LThK Bd. 3 ( 31995), Sp. 1230 Artikel: Floß, Heinrich Joseph, in: LThK Bd. 3 ( 31995), Sp. 1332f. Artikel: Frings, Josef, Kard., in: LThK Bd. 4 ( 31995), Sp. 159 Artikel: Geissel, Johannes v., Kard., in: LThK Bd. 4 ( 31995), Sp. 367f.
1996 Norbert Trippen, Horst Patenge (Hrsg.), Bausteine für eine lesende Kirche. Borromäusverein und katholische Büchereiarbeit. Festgabe für Erich Hodick, Mainz 1996 darin: 150 Jahre katholische Büchereiarbeit. Von der Gründung des Borromäusvereins 1845 bis zu seiner Neustrukturierung 1995, S. 36-52 Josef Kardinal Frings (1887-1978). Persönlichkeit eines Konzilsvaters, in: Klaus Wittstadt, Wim Verschooten (Hrsg.), Der Beitrag der deutschsprachigen und osteuropäischen Länder zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Leuven 1996, S. 67- 85 [Nachdruck von 1994: Josef Kardinal Frings, in: Jürgen Aretz, Rudolf Marrey, Anton Rauscher (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 7, Mainz 1994, S. 143160] Artikel: Höffner, Joseph, Kard., in: LThK Bd. 5 ( 31996), Sp. 198
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Artikel: Frings, Josef, in: Biographisches Lexikon des KV, Teil 4, Vierow 1996, S. 39- 42
1997 Die Kölner Erzbischöfe in ihrer Auseinandersetzung mit den geistigen, politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen des 19. Jahrhunderts, in: Toni Diederich, Norbert Trippen, Wolfgang Herborn (Hrsg.), Das Erzbistum Köln, Heft 4: Das 19. Jahrhundert, Kehl 1997, S. 11-30 Wahl und Erhebung des Dr. Josef Frings zum Erzbischof von Köln 1942, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 68 (1997), S. 167 -189
1998 Johannes Kardinal von Geissel (1796-1864), in: Katholische Akademie Speyer, Archiv des Bistums Speyer (Hrsg.), Erzbischof Johannes von Geissel und Bischof Nikolaus von Weis. Anwälte der Menschen in schwieriger Zeit (Schriften des Diözesan-Archivs Speyer, 21), Speyer 1998, S. 37-58. Ludger Honnefelder, Norbert Trippen, Arnold Wolff (Hrsg.), Dombau und Theologie im mittelalterlichen Köln. Festschrift zur 750-Jahrfeier der Grundsteinlegung des Kölner Domes und zum 65. Geburtstag von Joachim Kardinal Meisner (Studien zum Kölner Dom, 6), Köln 1998 darin: Das Kölner Domfest 1948. Rückbesinnung auf die mittelalterlichen Wurzeln in der Not der Gegenwart, S. 349-366. Josef Kardinal Frings, in: Stefan Volberg, Norbert Trippen, Frings, Köln 1998, S. 93-113
1999 Josef Kardinal Frings (1887-1978), in: Lebensbilder aus dem Kreis Neuss, Bd. 4, Neuss 1999. S. 134-149 Erzbischof Josef Frings im ersten Jahr seiner bischöflichen Wirksamkeit in Köln 1942/43, in: Wolfgang Altgeld u.a. (Hrsg.), Menschen, Ideen, Ereignisse in der Mitte Europas. Festschrift für Rudolf Lill zum 65. Geburtstag, Konstanz 1999, S. 171-191
1048
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2000 Die Integration der heimatvertriebenen Priester in Westdeutschland nach 1945, in: Reimund Haas, Karl Josef Rivinius, Hermann-Josef Scheidgen (Hrsg.), Im Gedächtnis der Kirche neu erwachen. Studien zur Geschichte des Christentums in Mitteleuropa. Festgabe für Gabriel Adriányi zum 65. Geburtstag (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte, 22), Köln – Weimar – Wien 2000, S. 265-281 Kardinal Frings, der deutsche Episkopat und die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa nach 1945, in: Ursula Nothelle-Wildfeuer, Norbert Glatzel (Hrsg.), Christliche Sozialethik im Dialog. Zur Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Lothar Roos, Grafschaft 2000, S. 145-156 Papst Johannes XIII. und Kardinal Frings, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 71 (2000), S. 145-156 Artikel: Schnitzler, Joseph, in: LThK Bd. 9 ( 32000), Sp. 194 Artikel: Schrörs, Heinrich, in: LThK Bd. 9 ( 32000), Sp. 271 Artikel: Spiegel, Ferdinand August, in: LThK Bd. 9 ( 32000), Sp. 838f. Artikel: Surius, Laurentius, in: LThK Bd. 9 ( 32000), Sp. 1140f. Artikel: Teusch, Joseph, in: LThK Bd. 9 ( 32000), Sp. 1370f.
2001 Wie können wir als Christen auf das vereinte Europa Einfluss nehmen? in: Akademische Monatsblätter (KV) 113 (2001), Heft 1, S. 3-7 Hubert Jedin und das Zweite Vatikanische Konzil, in: Heribert Smolinsky (Hrsg.), Die Erforschung der Kirchengeschichte. Leben, Werk und Bedeutung von Hubert Jedin (1900-1980) (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 61), Münster 2001, S. 87-102 Hubert Jedin e il concilio Vaticano II, in: Cristianesimo nella storia 22 (2001), S. 355-374 (italienische Fassung des vorigen Titels)
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1049
Von den „Fuldaer Bischofskonferenzen“ zur „Deutschen Bischofskonferenz“ 1945-1976, in: Historisches Jahrbuch 121 (2001), S. 304-319
2002 Die Beziehungen des Menschen zu Gott und seinen Mitmenschen, in: Akademische Monatsblätter (KV) 114 (2002), Heft 4, S. 4-7 Die ersten Bischofsjahre von Kb Kardinal Frings am Ende des II. Weltkrieges (1942-1945), in: Akademische Monatsblätter (KV) 114 (2002), Heft 6, S. 4-7 Josef Kardinal Frings und Konrad Adenauer, in: Historisch-Politische Mitteilungen. Archiv für Christlich-Demokratische Politik 9 (2002), S. 63-72 Die Kölner Kartause in der Zeit der Reformation. Zum 900. Todesjahr des hl. Bruno am 6. Oktober 2001, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 2005 (2002), S. 9-15
2003 Josef Kardinal Frings (1887-1978), Band 1: Sein Wirken für das Erzbistum Köln und die Kirche in Deutschland (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, 94), Paderborn – München – Wien – Zürich 2003
2004 Die Anfänge der Partnerschaft der Erzbistümer Köln und Tokyo 1954-1964, in: Geschichte der Kirche in Japan. Zum 50jährigen Bestehen der Partnerschaft der Erzdiözesen Köln und Tokyo (Libelli Rhenani, 7), Köln 2004, S. 179-192 Das Erzbistum Köln und der Historische Verein für den Niederrhein, in: Historischer Verein für den Niederrhein 1854-2004. Festschrift zum 150jährigen Bestehen (Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, 207), Pulheim 2004, S. 343-358
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2005 Josef Kardinal Frings (1887 -1978), Band 2: Sein Wirken für die Weltkirche und seine letzten Bischofsjahre (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, 104), Paderborn – München – Wien – Zürich 2005 „Den richtigen Berater haben“. Joseph Ratzinger als Vertrauter von Kardinal Frings und Mitgestalter des II. Vatikanischen Konzils, in: Akademische Monatsblätter (KV) 117 (2005), Heft 6, S. 10f.
2006 Die Förderer der ersten Jesuiten in Köln: Johannes Gropper und die Kartäuser, in: Heinz Finger (Hrsg.), Die Anfänge der Gesellschaft Jesu und das erste Jesuitenkolleg in Köln (Libelli Rhenani, 17), Köln 2006, S. 35-38 Giovanni Battista Montini/ Paul VI. und der deutsche Episkopat, insbesondere die Kardinäle Frings und Döpfner, in: Hermann J. Pottmeyer (Hrsg.), Paul VI. und Deutschland. Studientage Bochum, 24.-25. Oktober 2003 (Publicazioni dell´Istituto Paolo VI, 27), Brescia 2006, S. 17-33 Die Bischofsweihe von Dr. Josef Frings am 21. Juni 1942, in: Kölner Domblatt. Jahrbuch des Zentral-Dombau-Vereins 71 (2006), S. 270-278 Joseph Ratzinger als Mitgestalter des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio 35 (2006), S. 241-244 Eduard Hegel†, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 209 (2006), S. 7-12
2007 Umbrüche in den Priesterseminaren während der Jahre 1965-1980, 1. in: Ulrich Kock-Blunk (Hrsg.), Geist und Humor. Festschrift für Raimund Blanke, Köln 2007, S. 123-127, 2. in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Köln, Osnabrück 60 (2007), S. 186 -188 Joseph Höffners Weg zum christlichen Sozialwissenschaftler, in: 100. Geburtstag von Joseph Kardinal Höffner (1906 -1987). Eine Dokumentation (Drei-KronenReihe, 22), Köln 2007, S. 109-121
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Zwischen Studienbegegnungen und Weltjugendtag, in: Matthias Kopp (Hrsg.), Und plötzlich Papst. Benedikt XVI im Spiegel persönlicher Begegnungen, Freiburg u.a. 2007, S. 229-232 Kardinal Frings, in: St. Elisabeth-Krankenhaus, Caritas-Akademie Köln Hohenlind, 1932 -2007. Festschrift zum 75-jährigen Bestehen, Köln 2007, S. 30 - 33 Die Anfänge des „Kölner Modells“ 1945 -1947, in: Diözesanrat der Katholiken im Erzbistum Köln (Hrsg.), dioezesanratpunktde. 60 Jahre Engagement für Kirche und Gesellschaft. Eine Chronik des „Kölner Modells“ 1946 - 2006, [Köln 2007], S. 7-11
2008 Josef Höffners erste römische Eindrücke 1926 und seine Priesterweihe 1932, in: Siegfried Schmidt (Hrsg.), Rheinisch – Kölnisch – Katholisch. Festschrift für Heinz Finger zum 60. Geburtstag (Libelli Rhenani, 25), Köln 2008, S. 333-339 Il cardinale e il Professore. Quando Joseph Ratzinger era consigliere dell´arcivescovo di Colonia Josef Frings negli anni del Vaticano II, in: L´Osservatore Romano 11.10.2008, S. 6f. Geniale Zusammenarbeit zweier großer Kirchenmänner beim Vatikanischen Konzil, in: L´Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 42, 12.10.2009, S. 6f.
2009 Joseph Kardinal Höffner (1906-1987), Bd. 1: Lebensweg und Wirken als christlicher Sozialwissenschaftler bis 1962 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, 115), Paderborn – München – Wien – Zürich 2009 Die Gründung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach 1960-1963, in: Gerhard Rehm (Hrsg.), Adel, Reformation und Stadt am Niederrhein. Festschrift für Leo Peters (Studien zur Regionalgeschichte, 23), Bielefeld 2009, S. 353-363 Joseph Ratzinger … wurde vor 50 Jahren Professor, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln und Osnabrück 61 (2009), S. 156f.
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Joseph Ratzinger … wurde vor 50 Jahren Professor, in: Das Studienjahr 2008/09 an der Katholisch-Theologischen Fakultät Bonn. Korrespondenzblatt der Freunde und Förderer, Bonn 2009, S. 8f.
2010 Liturgische Erfahrungen vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Beispiele im Erzbistum Köln, in: Jürgen Bärsch, Winfried Haunerland (Hrsg.), Liturgiereform vor Ort. Zur Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in Bistum und Pfarrei (Studien zur Pastoralliturgie, 25), Regensburg 2010, S. 131-143 Artikel: Höffner, Joseph, in: Biographisches Lexikon des KV, Teil 7, Essen 2010, S. 59-61 Joseph Höffners Freiburger Studienjahre 1937-1939, in: Nils Goldschmidt, Ursula Nothelle-Wildfeuer (Hrsg.), Freiburger Schule und Christliche Gesellschaftslehre. Joseph Kardinal Höffner und die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, 59), Tübingen 2010. S. 57 68 Die Kölner Dompfarre im 19. und 20. Jahrhundert, in: Kölner Domblatt. Jahrbuch des Zentral-Dombau-Vereins 75 (2010), S. 178-201
Autorenverzeichnis Offizial Prälat Dr. Günter Assenmacher, Erzbischöfliches Offizialat, KardinalFrings-Str. 12, 50668 Köln Prof. Dr. Jürgen Bärsch, Katholische Universität Eichstätt-Ingoldstadt, Theologische Fakultät, Pater-Philipp-Jeningen-Platz 6, 85072 Eichstädt Prof. Dr. Winfried Becker, Max-Matheis-Str. 46, 94036 Passau Dr. Hendrik Breuer, Buschstr. 56, 53113 Bonn Dr. Josef van Elten, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, Gereonstr. 2-4, 50670 Köln Prof. Dr. Heinz Finger, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln mit Bibliothek St. Albertus Magnus, Kardinal-Frings-Str. 1-3, 50668 Köln Apostolischer Protonotar Prof. Dr. Erwin Gatz† Prof. Dr. Manfred Groten, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Abteilung für Rheinische Landesgeschichte, Am Hofgarten 22, 53113 Bonn Prof. Dr. Reimund Haas, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, Gereonstr. 2-4, 50670 Köln Prof. Dr. Ulrich von Hehl, Universität Leipzig, Historisches Seminar, Beethovenstr. 15, 04107 Leipzig Dr. Ulrich Helbach, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, Gereonstr. 2-4, 50670 Köln Prof. Dr. Norbert Henrichs, Im Luftfeld 80, 40489 Düsseldorf Dipl.-Theol. Harald Horst, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln mit Bibliothek St. Albertus Magnus, Kardinal-Frings-Str. 1-3, 50668 Köln
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Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Heinz Hürten, Schwanenstr. 1a, 85049 Ingolstadt Dr. Karl-Joseph Hummel, Kommission für Zeitgeschichte, Forschungsstelle Bonn, Adenauerallee 19, 53111 Bonn Prof. Dr. Michael Klöcker, Werderstr. 37, 50672 Köln Prof. Dr. Gisbert Knopp, Graf-Zeppelin-Str. 36, 53757 St. Augustin Dr. Hans-Joachim Kracht, Via Ascanio 17, I-53043 Chiusi Città (Siena) Prof. Dr. Rudolf Lill, Eintrachtstr. 112, 50668 Köln Dr. Wolfgang Löhr, Wolfsittard 33b, 41179 Mönchengladbach Pfarrer Dr. Paul Meisenberg, Worringer Straße 57, 42119 Wuppertal Prof. Dr. Hannsgeorg Molitor, Oberstr. 39, 41066 Mönchengladbach Prof. Dr. Dr. h. c. Rudolf Morsey, Blumenstr. 5, 67435 Neustadt/Weinstraße Dr. Joachim Oepen, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, Gereonstr. 2-4, 50570 Köln Dr. Franz Norbert Otterbeck, Thusneldastr. 38, 50679 Köln Prof. Dr. Leo Peters, Gartenstr. 26a, 41334 Nettetal Prof. Dr. Engelbert Plassmann, Robert-Koch-Str. 16, 44801 Bochum Prof. Dr. Josef Pilvousek, Universität Erfurt, Katholisch-Theologische Fakultät, Nordhäuser Str. 93 Kirchenbibliotheksdirektor a. D. Hermann-Josef Reudenbach, Körnerstr. 20, 52064 Aachen Prof. Dr. Karl Josef Rivinius SVD, Arnold-Janssen-Str. 30, 53757 St. Augustin
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Prof. Dr. Stefan Samerski, Ludwig-Maximilians Universität München, Katholisch-Theologische Fakultät, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Priv.-Doz. Dr. Hermann-Josef Scheidgen, Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn, Katholisch-Theologische Fakultät, Regina-PacisWeg 1a, 53133 Bonn Dr. Gerhard Schettler, Nordring 38, 50259 Pulheim Dr. Norbert Schloßmacher, Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn, Berliner Platz 2, 53103 Bonn Prof. Dr. Siegfried Schmidt, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln mit Bibliothek St. Albertus Magnus, Kardinal-Frings-Str. 1-3, 50668 Köln Prof. Dr. Wolfgang Schmitz, Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Universitätsstr. 33, 50931 Köln Dombaumeisterin Prof. Dr. Barbara Schock-Werner, Roncalliplatz 2, 50667 Köln Dr. Herman H. Schwedt, Via G. Carducci 3A, I-43039 Salsomaggiore (Parma) Dr. Eric W. Steinhauer, Universitätsbibliothek Hagen, Universitätsstr. 23, 58097 Hagen Dr. Michael P. Vollert, Holunderweg 15, 53359 Rheinbach Pfarrer Klaus-Peter Vosen, St. Maria in der Kupfergasse, Schwalbengasse 1, 50667 Köln Prof. Dr. Hubert Wolf, Westfälische Wilhelms-Universität, Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, Johannisstr 8-10, 48143 Münster
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Das ausführliche Personenregister finden Sie im Download-Bereich auf unserer Website www.boehlau-verlag.com unter dem Buchtitel bzw. der Buchnummer.